Die Reise nach Kettari
Schönen Tag noch, Sir Nachtalptraum«, rief Melifaro mit einem Lächeln, das seine Gesichtszüge beinahe gesprengt hätte.
»Gute Nacht, Sir Tagesschreck.«
Melifaro sah mich einen Moment verwirrt an und nickte dann begeistert.
»Hoho, gar kein so schlechter Witz! Hast du dir den selbst ausgedacht?«
»Nein, den hab ich von Lonely-Lokley.«
»Ach, komm«, meinte Melifaro und lachte los.
Wir saßen im Fressfass. Mein Kollege aß nach einem harten Tag zu Abend, und ich frühstückte vor einer nicht minder anstrengenden Nacht. Gleich würde ich im Büro sitzen, die berauschenden Frühlingsdüfte einatmen, die durchs halb geöffnete Fenster drangen, und mich nur zu bald mit Lonely-Lokleys therapeutischen Atemübungen beschäftigen müssen. Was die anging, war Sir Schürf -der Mann, der niemals lachte - Spezialist.
Frühling ist keine gute Zeit, um gebrochene Herzen zu heilen. Also war auch ich nicht der glücklichste Mensch. Wenn Melifaro mich etwas länger gekannt hätte, wären ihm meine sarkastischen Untertöne nicht entgangen. Sündige Magister - ich war noch nicht mal ein halbes Jahr in Echo! Erstaunt schüttelte ich den Kopf.
»Was ist los?«, fragte Melifaro interessiert.
»Nichts. Ich hab nur daran gedacht, wie lange ich mich nun hier herumtreibe. Im letzten halben Jahr ist wirklich kaum etwas passiert und dennoch ...«
»... hast du in dieser Zeit viele Existenzen ruiniert«, beendete Melifaro meinen Satz. »Welche Zukunftspläne hast du eigentlich?«
»Nichts Spezielles. Auf die Dauer werdet ihr sowieso alle nach meiner Pfeife tanzen.«
»Sir Juffin hat mich gebeten, dir zu sagen, dass du nicht immer alles so ernst nehmen sollst«, meinte Melifaro. In seiner Stimme lag ein gewisser Neid.
»Will er mir schon wieder ein unbekömmliches Abenteuer aufdrücken? Da macht er sich falsche Hoffnungen: Ich kann alles verdauen!«, rief ich streitlustig.
Innerlich aber jauchzte ich vor Freude. Dass Sir Juffin mir eine unlösbare Aufgabe aufhalsen wollte, war genau das, wonach ich mich seit Monaten sehnte.
Melifaro seufzte. »Er will dich unter vier Augen sprechen. Auf seiner Stirn steht ein furchtbares Geheimnis. Ich glaube, du wirst vielen entlaufenen Magistern die Kehle durchbeißen müssen - und ich werde vermutlich mein Leben lang nur ein ahnungsloser Beobachter eurer heillosen Intrigen bleiben.«
»Na dann geh ich mal ins Haus an der Brücke. Heillose Intrigen? Das klingt sehr verheißungsvoll.«
»Was ist, willst du nicht aufessen? Du brennst wohl darauf, an die Arbeit zu gehen, Sir Nachtantlitz?«
»Ich will weder aufessen noch bezahlen«, sagte ich leichthin und schlüpfte in meinen Todesmantel. »Ich bin so Furcht erregend, dass ich mir alles erlauben kann.«
Mit diesen Worten verschwand ich. Melifaro hätte sieher noch stundenlang plaudern können, doch mich erfüllte inzwischen eine merkwürdige Mischung aus Hoffnung und Neugier.
Sir Juffin schnupperte an seinem Krug Kamra, nickte zufrieden und goss sich etwas ein.
»Um mal was Neues auszuprobieren, hab ich die Kamra nicht aus dem Fressfass, sondern aus dem Dicken Mann in der Kurve kommen lassen. Ich wollte nämlich erfahren, wie die Frau unseres guten Sir Lukfi ihren Lebensunterhalt verdient. Es hat sich gezeigt, dass sie das gar nicht schlecht macht. Bist du schon mal in ihrem Gasthaus gewesen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Das ist schlimm, wenn nicht gar unkollegial. Die Wirtin dort ist doch die Ehefrau unseres Mitarbeiters Penz. Also sind wir quasi moralisch verpflichtet, ab und an bei ihr einzukehren. Aber setz dich, Max. Von mir aus hättest du gern in Ruhe zu Ende essen können. Offen gesagt verstehe ich dich nicht: Du ziehst die Arbeit anscheinend kulinarischen Genüssen vor.«
»Sie sind gut informiert«, stöhnte ich. »Sie wissen wirklich alles über mich. Sogar, was ich auf dem Teller liegen lasse.«
»Ich weiß nicht alles, Max - nur das Wichtigste. Aber jetzt muss ich mal ernsthaft mit dir reden. Ich will dich mit einem neuen Fall überraschen.«
»Na endlich«, sagte ich erwartungsfroh und fischte in meiner Tasche nach dem Päckchen Zigaretten, das ich mir zum Glück durch die praktische Ritze zwischen den Welten hatte angeln können, die sich unter meinem Kopfkissen befand.
Das pädagogische System von Sir Maba Kaloch lässt sich so zusammenfassen: Es gibt viele kleine Zuckerbrote und weit und breit keine Peitsche. Und dieses System funktioniert bestens. Der Geschmack des hiesigen Tabaks widerte mich an, und ich befasste mich tagsüber fast nur damit, Zigaretten aus meiner alten Heimat zu organisieren, ohne mir den Kopf darüber zu zerbrechen, wie das eigentlich funktionierte.
»Von Anfang hat hatte ich diese Aufgabe für dich reserviert«, begann Juffin. »Aber ich dachte, wir würden viel mehr Zeit brauchen, bis du dich an unsere Welt gewöhnt hättest. Inzwischen hat sich allerdings herausgestellt, dass du dich wunderbar eingelebt hast.«
»Das sehe ich auch so«, meinte ich und nickte bekräftigend.
»Tja«, sagte Juffin und zuckte die Achseln, »dein Tempo ist mir geradezu unheimlich. Und obwohl ich seit langem weiß, wie flink du bist, staune ich noch immer. Aber ich bin überzeugt, du schaffst es. Auch der Moment ist günstig. Eine kleine Reise ans Ende der Welt ist genau das, was du jetzt brauchen kannst, stimmt's?«
»Juffin«, bat ich leise, »spannen Sie mich nicht länger auf die Folter. Sie haben mich so neugierig gemacht, dass mir der Kopf schwirrt.«
»Ich will dich nicht auf die Folter spannen, Max. Ich warte bloß, bis du dich gesetzt und dir noch etwas Kamra genommen hast. Mach es dir bequem, rauch eine Zigarette und sei auf eine lange und komplizierte Geschichte gefasst.«
»Ich liebe lange und komplizierte Geschichten, Sir.«
»In meiner Heimatstadt Kettari geht etwas Merkwürdiges vor.«
Mir klappte die Kinnlade runter. So einen Anfang hatte ich wirklich nicht erwartet. Juffin lächelte verständnisvoll.
»Deine Kenntnisse der Geografie des Vereinigten Königreichs scheinen mir nicht besonders sattelfest.«
»Sir, Sie brauchen meine Eigenliebe nicht zu schonen -die lasse ich immer zu Hause. Und von der hiesigen Geografie habe ich absolut keine Ahnung.«
Juffin nickte und breitete eine Karte aus, die ich fasziniert studierte. Die hiesige Kartografie ist eine Kunst für sich. Mit dem kurz geschnittenen Nagel seines rechten kleinen Fingers tippte mein Chef auf einen kleinen Fleck, der irgendwo im Westen in den Bergen lag.
»Das ist Kettari. Und hier ist Echo, siehst du?«, meinte er und zeigte mit dem Fingernagel auf einen anderen Fleck am unteren Kartenrand. »Das ist nicht allzu weit, aber auch nicht nah. Weißt du, was dieses runde Zeichen hier bedeutet?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Dass sich die Bewohner der Stadt vor allem mit Kunsthandwerk beschäftigen. Seit eh und je ist Kettari für seine Teppiche berühmt. Auch in meiner Jugend waren sie unnachahmlich, obwohl es auf der Welt damals viel mehr hübsche Dinge gab als heute. So schöne Teppiche wie dort werden noch immer nirgendwo sonst gefertigt. Natürlich gibt es zwischen Echo und Kettari rege Handelsbeziehungen, denn hier schätzt man Luxuswaren.«
»Der große bernsteinfarbene Teppich in Ihrem Wohnzimmer ist aus Kettari, stimmt's?«
»Richtig. Wie bist du darauf gekommen?«
»Am Rand ist Made in Kettari eingestickt«, meinte ich lachend. Juffin lachte natürlich auch.
»Jetzt aber genug, Junge. Willst du meine Geschichte überhaupt hören?«
»Selbstverständlich«, rief ich, schenkte mir Kamra nach und bemühte mich um eine konzentrierte Miene. »Bitte erzählen Sie weiter!«
»Vor einigen Dutzend Jahren ist in Echo die Sitte aufgekommen, in großen Karawanen nach Kettari zu reisen. Das ist bequem, und darum hat sich keiner über diese Neuerung gewundert. Schon damals fiel mir auf, dass jede Karawane von einem Mann aus Kettari geführt wurde, doch wenn sich meine Landsleute etwas dazuverdienen wollen - so dachte ich -, sollte ich sie daran nicht hindern. Natürlich wollten nicht alle zum Einkäufen mit einer großen Karawane unterwegs sein und für die Dienste eines Führers bezahlen. Manche Tölpel aus der Hauptstadt allerdings konnten den Weg nach Kettari allein nicht finden, kehrten unverrichteter Dinge zurück und verbreiteten das Gerücht, die Stadt sei zerstört. Man sollte darüber nicht staunen: Es gibt viele Tröpfe, denen jede Behauptung recht ist, um ihre Dummheit zu bemänteln. Solche Vorfälle überzeugten die hiesigen Händler, der Obolus für den Karawanenführer sei das kleinere Übel. Schließlich will niemand seine Zeit oder sein Hab und Gut verlieren und zum Gespött aller werden.«
»Einigermaßen aufgeweckte Erwachsene haben also den Weg nach Kettari nicht finden können?«, fragte ich erstaunt. »Sind die Straßen hier wirklich so schlecht?«
»Gute Frage, Max. Schon viele haben darüber gestaunt, wie es möglich war, den Weg zu verfehlen. Die Grafschaft Schimara ist nicht die am weitesten entfernte Provinz und Kettari beileibe kein Dorf. Die Karawanenführer haben die Schwierigkeiten mancher Reisender damit erklärt, dass viele Kleinstädte rund um Kettari in der Traurigen Zeit zerstört wurden. Da diese Städtchen wirtschaftlich von den Provinzsitzen der zahlreichen Orden abhängig waren, hatte es keinen Sinn, sie nach Auflösung der Orden wieder aufzubauen. Die Karawanenführer berichteten auch von zerstörten Straßen. Das fand ich schon damals überaus seltsam. Ich habe noch nie davon gehört, dass in der Traurigen Zeit Straßen zerstört wurden. Warum hätte man das tun sollen? Allerdings gab es mal einen lustigen Vorfall mit dem Großen Magister des Ordens vom Geheimen Kraut, der übrigens ein naher Verwandter von Sir Melifaro ist. Nachdem er Echo verlassen hatte, hatte er das Gefühl, er werde verfolgt, und hat daraufhin die Straße so verschoben, dass sie direkt in den Himmel führte. Das war kein schlechter Anblick: Man fuhr so vor sich hin und merkte plötzlich, dass die Straße in die Wolken zielt. Ich habe dem Großen Magister Nuflin Moni Mach vorgeschlagen, die Straße zu lassen, wie sie war, aber damals war er noch nicht so nachgiebig wie heute und hat darauf bestanden, sie reparieren zu lassen. Das Ganze ist übrigens nicht irgendwo in der Grafschaft Schimara passiert, sondern am Rande der Provinz Echo. Darum hab ich sehr über die zerstörten Straßen gestaunt, von denen die Karawanenführer berichteten. Dann dachte ich mir, den Führern sei immer zu trauen gewesen - warum soll man ihnen also nicht weiter glauben? Schließlich kehren unsere Händler reich mit Teppichen beladen aus Kettari zurück, und auch sie beklagen sich über den erbärmlichen Zustand der Straßen. Die Teppiche sehen eigentlich stets prächtig aus, und die Reisenden berichten immer von der Schönheit und dem Reichtum meiner Heimatstadt. Ich weiß nicht recht: In meiner Erinnerung war Kettari nie ein blühendes kulturelles Zentrum. Aber manchmal ändert sich ja etwas -mitunter sogar zum Besseren.«
»Und wie lange, Sir Juffin, waren Sie nicht mehr in Kettari?«
»Sehr lange. Und ich bezweifle, dass ich je zurückkehren werde. Dort habe ich keine Freunde oder Verwandten - also gibt es für mich weder Verpflichtung noch Bedürfnis, der Stadt einen Besuch abzustatten. Und sentimental bin ich ebenso wenig wie du. Aber darum geht es auch gar nicht. Ich empfinde so etwas wie ein Tabu: Ich weiß, dass ich nicht nach Kettari reisen darf. Und nach meiner Erfahrung ist so ein Tabu das Einzige, was zählt. Kennst du dieses Gefühl, Max?«
Gedankenverloren spielte ich mit einer Zigarettenkippe.
»Ich glaube, ich weiß, wovon Sie reden. Tabus haben große Kraft. Ich habe allerdings manchmal Probleme, sie von banalen paranoiden Gedanken und Gewohnheiten zu unterscheiden, die einem den ganzen Tag durch den Kopf gehen. Das verstehen Sie doch, oder?«
»Natürlich. Am wichtigsten ist es, seine Gefühle klar zu spüren. Aber zurück zur Sache. Vor ein paar Jahren ist mir eine merkwürdige Geschichte passiert. In mein Büro kamen zwei flüchtige Verbrecher. Der eine rief laut, sie müssten unbedingt den Ehrwürdigen Leiter sprechen. Der andere schwieg und musterte die ganze Zeit einen Punkt an der Wand. Die beiden waren durch den Teil des Hauses an der Brücke spaziert, in dem die Stadtpolizei untergebracht ist, und dort wegen einer Kleinigkeit in Arrest genommen worden. Ihnen war die Flucht gelungen, was mich bei dem ganzen Chaos in Bubutas Behörde nicht wundert. Einer der Entflohenen - ein Mann namens Moti Fara - war mein Landsmann. Genau wie ich war er seit Jahren nicht in Kettari gewesen, seit Beginn der Epoche des Gesetzbuchs oder sogar länger. Dann aber war er in eine schwierige Lage geraten und hatte gedacht, seine Heimatstadt sei kein schlechter Ort, um sich vor der Stadtpolizei von Echo zu verstecken. Also war er mit seinem Kameraden nach Kettari gereist, und dabei hatten die beiden sich verirrt.«
»Ist das die ganze Geschichte?«, fragte ich etwas überrascht. »Vielleicht ist Ihr Landsmann etwas beschränkt?«
»Den Eindruck hat er mir nicht gemacht«, stellte Juffin trocken fest. »Nach meiner bescheidenen Einschätzung wäre Sir Moti klug genug gewesen, den Weg in seine Heimatstadt zu finden. Aber es hat einfach nicht klappen wollen, und die beiden sind nach Echo zurückgekehrt und haben sich dem Kleinen Geheimen Suchtrupp gestellt, um sich nicht weiter verbergen zu müssen. Als sie um ein Treffen mit mir baten, hat meine Neugier mir nicht erlaubt, abzulehnen. Schließlich haben die Leute hier selten solche Ideen.«
»Oft haben sie noch viel seltsamere Ideen«, murmelte ich.
»Eigentlich hast du Recht«, meinte Juffin und lächelte. »Doch wir aus Kettari sind eher praktisch veranlagt. Aber lass dich nicht ablenken - das Interessanteste kommt erst.«
»Verzeihen Sie, Juffin. Ich bin heute etwas schlecht gelaunt.«
»Allerdings! In letzter Zeit bist du so schlecht gelaunt, dass es wehtut, dich nur anzusehen«, sagte mein Chef seufzend, erhob sich, kam zu mir und zog mich überfallartig am Ohr. Das war so unangenehm, dass ich nervös loskicherte. Als ich mich beruhigt hatte, stellte ich fest, dass die schlechte Laune verschwunden war. Sogar mein gebrochenes Herz schien genesen.
»Du hast dir eine Atempause verdient«, sagte Juffin und legte mir seine Pranke auf die Schulter. »Das ist mein kleines Geschenk für dich. Eigentlich müsstest du all diese Dinge allein durchstehen, aber Ausnahmen bestätigen die Regel. Zudem bin ich diesmal ganz besonders auf deine Nase angewiesen. Alles klar?«
Ich nickte schweigend und genoss, dass der lähmende Schmerz in der Brust, der so lange mein treuer Begleiter gewesen war, verschwunden war. Juffin setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und fuhr fort: »Mein Landsmann schien zu Tode erschrocken und versicherte wiederholt, Kettari sei zerstört und liege in Ruinen. Sein Begleiter war völlig durcheinander und musste ins Irrenhaus gebracht werden, wo er die ganze Zeit schwieg. Moti Fara hingegen machte auf mich einen ganz klaren Eindruck. Er sagte mir, zwei Jahre im Gefängnis Nunda - denn genau die drohten ihm - seien nichts dagegen, dass seine geliebte Heimatstadt nicht mehr existiere. Dann machte mein patriotischer Landsmann diese Geste hier ...«, sagte Juffin und tippte sich mit dem Zeigefinger zweimal an die Nase, »... und prophezeite mir, ich würde ihn - falls er fliehen sollte - nicht verfolgen, weil wir Landsleute seien. Dieses Nasenpochen ist unsere Lieblingsgeste. Sie bedeutet, dass sich zwei vernünftige Menschen immer verständigen können. Ich war so gerührt,
dass ich ihn am liebsten sofort freigelassen hätte, doch leider hatten Bubutas Leute schon herausgefunden, dass er bei mir war. Das sind wahre Patrioten!«
Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen, so mörderisch ironisch klang die Stimme meines Chefs.
»Aber weiter im Text, Max. Einige Tage später kam wieder eine mit Teppichen beladene Karawane aus Kettari zurück, und erneut gab es einige Leute, die davon schwärmten, wie prächtig meine Heimatstadt blühe. Eigentlich hätten mich diese Nachrichten beruhigen und davon überzeugen sollen, dass meine beiden geflohenen Landsleute sich verirrt haben und in einer der zerstörten Kleinstädte rings um Kettari gelandet sein mussten. Aber eine innere Stimme sagte mir, so einfach sei die Sache nicht. Und wenn ich ein Problem länger als einen Tag wälze, ist das ein klares Zeichen dafür, dass etwas nicht stimmt. Nur wenn die Dinge einigermaßen im Lot sind, schlafe ich ruhig. So ein Wesen bin ich. Bei dir ist's genauso, stimmt's?«
Juffin lächelte, goss mir noch eine Tasse Kamra ein und berichtete weiter: »Zu allem Überfluss schickte mein Landsmann mir obendrein Briefe. Das Wappen des Königlichen Gefängnisses Nunda steht mir bis heute vor Augen. Ich musste für Motis Korrespondenz sogar eine eigene Schublade einrichten, damit seine vielen Briefe nicht zwischen andere Unterlagen gerieten. Inhaltlich unterscheiden sich die Briefe kaum. Am besten, du schaust dir mal einen an. Er steht natürlich auf Papier, weil Gefangene keine sich selbst beschriftenden Tafeln benutzen dürfen. Aber soweit ich weiß, kommst du mit Papier klar.«
Juffin öffnete eine Schatulle, nahm ein quadratisches Blatt heraus und gab es mir. Neugierig begann ich, die stark nach rechts geneigte Handschrift zu lesen:
Siz Ehrwürdiger Leiter,
ich fürchte, Sie haben mir keinen Glauben geschenkt, doch die Stadt Kettari ist wirklich untergegangen. Außer Ruinen steht dort nichts mehr. Ich habe mich nicht verirrt, denn ich kenne meine Heimat wie meine Westentasche. Ich erinnere mich an sieben Wacharibäume am Stadttor - die Bäume stehen noch, das Stadttor nicht. Nur ein Haufen Steine und Reste der Steinmetzarbeiten des alten Kwawa Ulon sind übrig geblieben.
Ich gab Juffin den Brief zurück. Mein Chef drehte ihn gedankenverloren in den Händen und legte ihn wieder in die Schatulle.
»Dann ist er gestorben, der arme Pechvogel. Über ein Jahr ist das schon her. Dies hier nun ist sein letzter Brief, der sich ein wenig von den anderen unterscheidet. Auch für seine Korrespondenz gilt die Regel: Je später, desto interessanter.«
Erneut reichte er mir ein quadratisches Blatt, und wieder las ich die mir nun schon bekannte Handschrift.
Sir Ehrwürdiger Leiter,
wieder habe ich mich entschlossen, Ihnen ein wenig Zeit zu rauben. Ich hoffe, dass Sie meine Briefe überhaupt bekommen. Heute Nacht konnte ich wieder nicht schlafen. Immer wieder musste ich an die Trümmer des Stadttors denken, die ich neben den Bäumen entdeckt hatte. Und ich erinnerte mich daran, wie lange Sacho und ich zwischen den Ruinen herumgeirrt sind. Bestimmt hat er dabei den Verstand verloren - und ich das Gedächtnis. Bis jetzt war ich überzeugt, dass wir die Stadt sofort verlassen hatten, heute Nacht aber habe ich mich daran erinnert, dass wir in den Ruinen sogar mein Haus gefunden haben. Und Sacho sagte, ich würde mich unnütz auf regen: Hier stünden doch überall prächtige Häuser, schräg gegenüber sei ein herrlicher Park, und überall würden glückliche Menschen spazieren gehen. Aber ich entdeckte nichts davon. Und als mein Freund dorthin lief, wo er viele Spaziergänger zu sehen glaubte, suchte ich lange nach ihm. Manchmal hörte ich fremde Stimmen, aber aus so großer Entfernung, dass ich nichts verstand. Nur einmal bekam ich mit, dass vom alten Sheriff Machi Ainti die Rede war, und staunte sehr darüber: Schließlich ist dieser Mann schon dreihundert fahre tot, starb also zu einer Zeit, da selbst meine Eltern noch nicht geboren waren. Jedenfalls sagte jemand, der alte Sheriff werde zurückkehren und die Ordnung wiederherstellen. Dann fand ich meinen Freund Sacho. Er saß auf einem Stein, weinte und antwortete nicht auf meine Fragen. Ich nahm ihn an der Hand, und wir kehrten nach Echo zurück. Sir Ehrwürdiger Leiter, denken Sie bitte nicht, dass ich hier etwas zusammenfabuliere. An diese Details konnte ich mich erst heute Nacht wieder erinnern, und ich zweifle sehr, dass mir nun alles präsent ist, was uns dort geschah. Ich bitte Sie, Sir: Versuchen Sie herauszufinden, was in Kettari los ist. Ich habe das Städtchen immer geliebt und meine kleine Schwester dort zurückgelassen. Wenn ich aus dem Gefängnis komme, was bald der Fall sein wird, will ich sie unbedingt finden.
Mit diesen Worten endete der Brief. Das kleine Stück Papier hatte offenbar nicht gereicht, alle Gedanken des unglücklichen Mannes aufzuzeichnen.
»Woran ist er eigentlich gestorben?«, fragte ich.
»Gute Frage. Alles ging sehr schnell. Er war bei herrlichem Wetter spazieren, als plötzlich der Blitz einschlug. Von dem armen Mann blieb nur ein Häufchen Asche. Dann donnerte es, und ein Wolkenbruch prasselte nieder. Zwei Dutzend Tage regnete es ununterbrochen, und das Erdgeschoss des Gefängnisses stand unter Wasser. Damals sind über ein Dutzend Gefangene geflohen. Nunda ist nämlich nicht so gut bewacht wie Cholomi. Weißt du, Max - von Anfang an war ich geneigt, meinem Landsmann zu glauben. Sein Gedächtnisverlust ist nur ein Zeichen dafür, welch enormer Macht er sich gegenübersah. Wie stark mag er sich erschreckt haben, um die Erinnerung zu verlieren? Seit dem letzten Brief und seinem merkwürdigen Tod bin ich sicher, dass er mich auf die Spur einer der seltsamsten Geschichten gebracht hat, die ich je ... Hast du eine Frage, Max?«
»Ja. Gibt es - von Abenteuern und Ängsten Ihrer unglücklichen Landsleute abgesehen - etwas, wovon Sie mir noch nicht erzählt haben?«
»Bravo, Max. Deine Intuition funktioniert einwandfrei - auch wenn sie gar nicht nötig ist, denn ich wollte dir sowieso davon berichten. Es gibt eigentlich nichts Besonderes, keine heiße Spur, nur eine kleine Beobachtung. Weißt du, ich hatte solche Zweifel, dass ich mir die Teppiche, die aus Kettari kamen, genau ansah. Ich würde meinen Kopf verwetten, dass sie ein wenig nach Verbotener Magie gerochen haben - auch wenn sie ohne solche Magie hergestellt worden sein mögen. Seltsam: Bisher konnte ich Magie selbst an Menschen spüren, die - wie du - bis über beide Ohren in einer mysteriösen Sache steckten, ohne es zu merken. Aber dass auch Gegenstände derart magisch aufgeladen sein können, ohne offensichtliche Zeichen dieser Aufladung zu zeigen, ist mir neu.«
Ich zuckte die Achseln. »Und das Haus von Sir Maba Kaloch? Es ist doch von Magie umgeben, damit man es nicht finden kann! Und es ist doch wohl ein lebloser Gegenstand - oder hab ich da schon wieder etwas missverstanden?«
»Nein, du hast völlig Recht. Außerdem hast du mir bestätigt, dass ich die beste Lösung für dieses kleine, aber interessante Problem gefunden habe.«
»Nämlich?«
Trotz meiner Frage wusste mein Herz die Antwort bereits und machte einen Freudensprung. Juffin nickte gedankenverloren.
»Erraten, Max - du schließt dich einer Karawane nach Kettari an und findest heraus, wie der Hase läuft. Schlimmstenfalls bringst du dir nur einen neuen Teppich mit. Du musst deine Wohnung ja noch einrichten. Wenn mich schon ein Tabu daran hindert, selbst in meine Heimat zu fahren, kannst wenigstens du es versuchen. Das macht keinen Unterschied.«
»Wieso nicht? Ich bin zwar bereit, diese Reise für Sie zu machen, aber besonders nützlich werde ich nicht sein.«
»Woher willst du das denn wissen? Geheimnisse offenbaren sich am liebsten Neulingen - vor allem Glückspilzen wie dir. Wir älteren, erfahrenen Leute bleiben besser zu Hause und machen uns Gedanken. Ich bin schon vor längerer Zeit zu dem Schluss gekommen, dass dieser Fall wie geschaffen für dich ist. Ich hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass du so schnell reif dafür wärst. Na ja, andererseits glaube ich nicht, dass der Einsatz besonders gefährlich wird.»
»Ach nein? Als Sie mich ins Gefängnis Cholomi schickten, um mit dem kurzbeinigen Gespenst aufzuräumen, waren Sie sich auch gewiss, dass ich alles rasch lösen würde. Und was ist daraus geworden?«
»Na was schon? Du hast alles bravourös erledigt - wie ich es prophezeit hatte.«
»Fast hätte ich alles verdorben - sogar zweimal nacheinander.«
"Fast zählt nicht, Max. Du musstest schnell handeln und hast einige Entscheidungen darum etwas nervös getroffen. Für jemanden, der damals erst hundert Tage in unserer Welt gelebt hat, ist das völlig normal - findest du nicht?«
»Melifaro hat sich eine nette Geschichte über mich ausgedacht. Er sagt, ich sei ein entlaufener rebellischer Magister, der sein Gedächtnis verlor, als er einen Schlag auf den Kopf bekommen hat. Sind Sie sicher, dass es nicht so war, Sir?«
Diese Hypothese brachte Juffin zum Lachen. Ich wartete kurz und fuhr dann fort: »Sie wissen doch, dass ich gegen Gefahr nichts einzuwenden habe - besonders dann nicht, wenn ich monatelang Bürodienst geschoben habe. Aber erklären Sie mir bitte, warum Sie davon ausgehen, die Reise sei ungefährlich. Haben Sie keine dunklen Ahnungen?«
Juffin nickte ernst.
»Ahnungen habe ich schon - und mehr als das. Über Kettari habe ich schon mit Sir Maba Kaloch gesprochen. Er weiß über die ganze Sache Bescheid, hat aber seine eigene Meinung über die Situation, wie du dir wahrscheinlich bereits gedacht hast. Er hat mich beruhigt und gemeint, was auch immer dort passiert sei, bedrohe den Rest der Welt nicht, und man solle sich daher lieber mit heiteren Dingen befassen. Selbstverständlich hat Maba Kaloch sehr eigene Ansichten darüber, was heitere Dinge sind. Außerdem ist der alte Mann von der Idee begeistert, dass du hinfährst. Ich wüsste gern, warum. Wie auch immer - ich möchte alle Details dieser Geschichte erfahren, für die ich mich stets mehr interessiert habe, als es meine Pflicht gewesen wäre. Und ich habe jetzt einen exzellenten Grund, dein nicht besonders leichtes Leben noch schwerer zu machen. Was sagst du dazu?«
»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll. Wer ist eigentlich dieser alte Sheriff von Kettari? Dieser Machi Ainti, von dem im letzten Brief Ihres Landsmanns die Rede war? Sie waren doch auch mal Sheriff dort. Haben Sie sich etwa unter anderem Namen in Echo eingeschlichen, Sir?«
»Ich? Unsinn! Ich war Sir Machis Nachfolger, und eine Zeit lang war der alte Herr sogar mein Chef. Wenn man dich in dreihundert Jahren fragt, wer eigentlich Juffin Halli war, und du Lust haben solltest, diese Frage zu beantworten, dann erzähl von mir das Gleiche, was ich dir über Machi berichten könnte. Übrigens hat mich der Alte nicht aus einer anderen Welt abschleppen müssen. Nur wir zwei sind echte Sonderlinge.«
Fragend sah ich Sir Juffin an. Hatte also Machi Ainti ihm all die wunderbaren Dinge beigebracht, die man als Unsichtbare oder Wirkliche Magie bezeichnet? Mein Chef nickte bestätigend. Er wusste, welche Frage mir auf der Zunge lag. Unser tiefes gegenseitiges Verständnis jagte mir einen Schauer über den Rücken.
»Ich kann nur ergänzen, dass der alte Mann vor dreihundert Jahren verschwand. Na ja, eigentlich hat er Kettari verlassen und mir zum Abschied gesagt: »Jetzt bist du an der Reihe, Juffin. Und versuch ja nicht, dich per Stummer Rede bei mir zu melden - davon würdest du nur Kopfweh kriegen.- Machi ist immer sehr schweigsam gewesen - ganz anders als ich. Mit mir hast du wirklich einen guten Vorgesetzten erwischt, Max - bedank dich dafür bei den Dunklen Magistern.«
»Das tu ich jeden Tag. Die Leute in meiner Umgebung können das kaum mehr ertragen«, meinte ich und lachte. »Wann soll ich eigentlich reisen, Juffin?«
»Alle vierundzwanzig Tage bricht eine Karawane nach Kettari auf. Wenn ich mich nicht irre, zieht die nächste in vier Tagen los. Ich hoffe, bis dahin sind wir mit allem fertig.«
»Mit allem? Ich dachte, die Vorbereitungen wären erledigt.«
»Wir haben noch nicht mal damit angefangen! Übrigens fährst du nicht allein - und darüber lasse ich nicht mit mir reden. Das ist keine Laune von mir, sondern entspricht den Vorschriften.«
»Ich beklag mich ja gar nicht. Mit wem soll ich denn fahren?«
»Zunächst würde ich gern deinen Vorschlag hören.«
»Ich bin ein Gewohnheitstier. Wenn ich irgendwo hinfahren soll, dann nur mit Lonely-Lokley. Ich war schon mal mit ihm unterwegs, und das hat mir sehr gefallen. Aber wer wird hier den Verbrechern Angst einjagen, wenn wir die Stadt verlassen?«
»Keine Sorge, Max«, meinte Juffin lächelnd. »Du hast mich noch nicht im Einsatz erlebt. Vielleicht verjüngt mich das etwas - in eurer Gesellschaft bin ich nämlich ziemlich eingerostet. Und Kofa Joch muss auch ein wenig wachgerüttelt werden.«
»Wirklich?«, fragte ich leicht verärgert. »Ich wäre nie auf die Idee gekommen, Sie müssten sich verjüngen. Aber wie ich sehe, sind Sie damit einverstanden, dass Sir Schürf mich begleitet.«
»Wie sollte es anders sein? Ich hätte Lonely-Lokley ohnehin zu deinem Partner bestimmt und wollte nur herausfinden, ob du von selbst darauf kommen oder im Dunkeln tappen würdest. Du hast es geschafft - Glückwunsch!«
»Vermutlich müssen wir getarnt reisen. Schließlich kennt ganz Echo Sir Schurfs Gesicht, und bestimmt möchte niemand in Gesellschaft zweier Geheimagenten unterwegs sein«, meinte ich und sah Juffin fragend an. »Na, hab ich noch immer Recht?«
»Bis jetzt schon. Erzähl mir, was dir zu diesem Auftrag noch so durch den Kopf geht.«
»Ich bin recht unauffällig«, stellte ich mit Nachdruck fest. »Aber was Schürf anlangt, können wir nur hoffen, dass Sir Kofa sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit verändern kann.«
»Jetzt aber nicht mehr.«
Verwirrt sah ich meinen Chef an und begriff.
»Ach so, jetzt hab ich nicht mehr Recht.«
»Allerdings nicht«, meinte Juffin ausgesprochen belustigt. »Du bist wirklich bescheiden, Max. Wenn wir mit jemandem Probleme haben, dann mit dir, mein Junge. Anscheinend bist du kein so guter Beobachter. Schürf sieht zwar - den Magistern sei Dank! - nicht besonders angenehm aus, aber in der Stadt gibt es Tausende, die ihm ähneln. Man muss nur seine Haarfarbe ändern, ihm etwas anderes als seinen geliebten weißen Lochimantel zum Anziehen geben und ihm die Handschuhe wegnehmen. Dann wirst selbst du ihn nicht mehr erkennen. In Echo gibt es schließlich viele groß gewachsene Männer.«
»Umso besser. Aber warum sollte es mit mir Probleme geben? Hab ich so ein ungewöhnliches Gesicht?«
»Leider ja. Oder hast du in Echo schon jemanden getroffen, den man für deinen Bruder oder deine Schwester halten könnte?«
Bedauernd zuckte ich die Achseln. »Ehrlich gesagt habe ich mich bisher nicht mit solchen Kleinigkeiten befasst.«
»Du bist ein seltsamer Vogel. Aber darum geht es nicht. Sir Kofa kann dein Gesicht nach Belieben ändern - das Problem aber liegt in deinem Akzent.«
»Hab ich denn Ak ...«, begann ich und verstummte errötend.
»Natürlich. Aber du merkst es nicht. Die halbe Stadt weiß, dass nur Sir Max - der Träger des Todesmantels -so merkwürdig redet. Du wirst sofort erkannt, egal, wie du dich vermummst. Und deine Stumme Rede ist manchmal kaum zu verstehen.«
»Was soll ich tun? Soll ich mich als stumm ausgeben?«
»Unsinn - Stumme beherrschen die Stumme Rede doch besser als alle anderen! Aber cool bleiben, Max -wir machen aus dir eine schicke Dame. Du wirst staunen.«
»Eine Dame? Schick? Aus mir?«, fragte ich verdattert.
»Was gibt es da zu staunen? Sir Kofa wird an deinem Gesicht und deiner Stimme arbeiten, und wir lassen dir eine Perücke machen - wo ist das Problem?«
»Dann bin ich in dieser Saison die Hauptlachnummer im Haus an der Brücke. Juffin, verraten Sie mir bitte, was für eine Frau sich aus mir machen lässt.«
»Eine groß gewachsene, dünne Frau mit breiten Schultern. Männern wird das vermutlich nicht sehr gefallen«, stellte Juffin ungerührt fest. »Aber das ist nur für Lonely-Lokley ein Problem, denn er muss mit einer nicht eben hübschen Gattin reisen.«
»Gattin? Sie machen Witze, oder?«, rief ich und hätte beinahe losgeheult.
»Was ist mit deinem Gehirn los, Max?«, fragte mein Chef kühl. »Natürlich werdet ihr euch als Ehepaar ausgeben. Nach Kettari fährt man nun mal meist zu zweit und verbindet das Angenehme mit dem Nützlichen: den Kauf eines Teppichs mit einem Urlaub. Wenn in der Karawane eine Frau mit deinem Akzent unterwegs ist, denken alle, sie sei deine Landsmännin. Warum sollte ein anständiger Herr aus Echo nicht eine Frau aus den Leeren Ländern heiraten? Hier mag man Exotik. Ihr werdet also keinen Verdacht auf euch lenken. Jetzt sieh mich bitte nicht so an - was gibt es denn da zu sorgen?«
Das konnte ich selbst nicht erklären. Natürlich regten sich in mir sofort seltsame Vorurteile: Wenn ein Mann Frauensachen trägt, stimmt was nicht mit ihm. Eigentlieh aber war Kleidung kein Problem, weil sich Frauen und Männer in Echo so ähnlich anzogen, dass ich sie mitunter kaum unterscheiden konnte.
»Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Es ist einfach nicht hübsch.«
»In diesem Bereich gibt es weder hübsch noch unhübsch. Ah, guten Abend, Sir Kofa«, sagte Juffin. Ich drehte mich um. In der Tür stand Kofa Joch, der Meister des Verhörs und unübertreffliche Virtuose des Maskierens. In den Händen hielt er ein großes Paket.
»Dieser nette Junge will keine Frau werden«, sagte Juffin mit hoher Stimme. »Was meinen Sie, Kofa? Sollen wir ihn zwingen, klein beizugeben, oder sollen wir ihn erst höflich bitten?«
Kofa schenkte uns ein gönnerhaftes Lächeln und legte das Paket auf Juffins Schreibtisch.
»Wollen Sie mich etwa jetzt schon in eine Frau verwandeln?«, fragte ich erschrocken. »Dürfte ich vorher vielleicht noch einen Spaziergang machen?«
Das Gefühl, das ich gerade verspürte, ähnelte der ohnmächtigen Hilflosigkeit, die ich stets beim Zahnarzt empfand. Auch dort wollte ich schnellstmöglich verschwinden und am nächsten Tag wieder vorbeischauen.
»Du hast genug Spaziergänge gemacht«, meinte Juffin boshaft. »Max, jetzt beruhige dich. Du ziehst dich doch nur um - wie zum Karneval. Den kennst du doch, oder?«
»Ja, ja«, murmelte ich. »Damals war ich sechs und bin als Häschen gegangen.«
Meine Kollegen quietschten vor Vergnügen.
»Als Häschen! Im Karneval! In den Leeren Ländern!«,
prustete Sir Kofa. »Max, denken Sie manchmal eigentlich nach, bevor Sie reden?«
Ich konnte mich nicht mehr beherrschen und lachte auch ein wenig.
»Na schön, schießen Sie los, Sir Kofa. Ich habe tatsächlich keine große Erfahrung mit Karneval. Also ...«
»Warum nicht gleich so!«, rief Juffin und reichte mir eine Tasse Kamra. »Die Panik eben hättest du dir wirklich schenken können. Hast du etwa gedacht, wir hätten dich in eine echte Frau verwandeln und dir die entsprechenden ehelichen Pflichten auferlegen wollen?«
»Ihnen ist alles zuzutrauen!«
»Unsinn, Junge! Es ist gar nicht so leicht, aus einem Mann eine Frau zu machen - und umgekehrt. Theoretisch ist das zwar möglich, doch weder Kofa noch ich verfügen über solche magischen Kräfte. Sir Maba Kaloch könnte es wahrscheinlich, obwohl ... Na ja - warum eigentlich nicht? Ich vermute, auch Lady Sotova wäre dazu in der Lage. Aber Lonely-Lokley würde seine Frau nie gegen eine magere, breitschultrige Barbarin tauschen. Den Magistern sei Dank - bei Frauen kennt sich unser Sir Schürf gut aus.«
»Was reden Sie da für einen Unsinn, Sir Juffin?«, fragte Kofa Joch mit der Empfindlichkeit des beleidigten Profis. »Warum eine magere, breitschultrige Frau? Wir machen ein hübsches, nettes Mädchen aus ihm - Sie werden sehen!«
Er begann, das auf dem Tisch abgelegte Paket auszupacken. Erschrocken sah ich eine rote Fransenperücke auftauchen. Anscheinend war das meine zukünftige Frisur. Juffin bemerkte meinen Gesichtsausdruck, winkte ab und kicherte erneut.
»Wir haben uns entschieden, die Sache früher in Angriff zu nehmen, damit Sie Zeit genug haben, sich an Ihr neues Aussehen und Ihre neue Rolle zu gewöhnen, Sir Max«, erklärte Kofa Joch sanftmütig. »Ich habe mich schon oft als Frau verkleidet. Sie erinnern sich doch noch an unser erstes Treffen im Fressfass? Sehen Sie, Frauen haben einen anderen Gang und andere Manieren und reagieren anders als Männer. Vier Tage sind zwar wenig, aber Sie lernen ja sehr schnell. Und wenn Sie es bis dahin nicht schaffen, werden Sie eben eine etwas seltsame Dame sein. So was gibt es schließlich auch. Und keine Panik: Alle äußeren Veränderungen sind von kurzer Dauer. Sir Juffin - wie lange braucht er für die Reise nach Kettari? Das muss ich wissen.«
»Lassen Sie mich überlegen ... Der Hinweg dauert drei Tage. Die Karawane bleibt normalerweise sechs bis acht Tage in der Stadt. Das könnte für Max und Sir Schürf aber zu knapp sein. In diesem Fall müssten sie bleiben und vierundzwanzig Tage auf die nächste Karawane warten. Dazu kommt der Rückweg. Ja, Kofa, ich glaube, Ihr Zauberspruch sollte achtundvierzig Tage Vorhalten - auch wenn Max dadurch recht lange in Frauenkleider schlüpfen muss.«
»Achtundvierzig Tage?«, fragte ich deprimiert. »Und wenn wir früher zurückkehren? Was tu ich dann?«
»Weiterarbeiten. Was macht es schon für einen Unterschied, ob eine Frau oder ein Mann den Todesmantel trägt«, meinte Juffin und zuckte die Achseln. »Du wirst schon sehen: Es wird dir noch gefallen!«
»Ich kann mir die Begeisterung von Melifaro gut vorstellen. Er wird mich sicher auslachen.«
»Warum glaubst du eigentlich, dass dich irgendwer aus-
lachen wird?«, fragte Juffin. »Wie kommst du darauf? Ist das ein alter Aberglaube aus deiner früheren Heimat?«
Ich nickte verlegen. »Hält man solche Sachen in Echo denn nicht für lächerlich?«
»Sir Kofa hat dir doch gerade erzählt, dass er regelmäßig als Frau auftritt. Hast du je Witze darüber gehört? Von Melifaro vielleicht?«
»Nein ...«
Ich musste zugeben, derlei nie mitbekommen zu haben. Über den Appetit von Sir Kofa machte fast jeder Witze, doch es wäre ein Affront gewesen, seine Auftritte als Frau zu verspotten - immerhin gehörten solche Verkleidungen zu seinen Dienstpflichten. Ich bekam Lust, im Frauengewand ein Kloster zu besuchen und mit den Nonnen ausgiebig zu plaudern.
»Na los, ziehen Sie sich aus«, befahl mir Sir Kofa. »Mit Ihrer Figur werden wir ein paar Probleme haben. Also fangen wir damit an. Für Ihr Gesicht brauche ich höchstens eine Minute.«
»Soll ich mich etwa ganz ausziehen?«, fragte ich verwirrt.
»Natürlich«, brummte Juffin geringschätzig. »Warum fragst du? Bist du noch nie bei einem Heiler gewesen?«
»Zum Glück so gut wie nie. Ich habe Angst vor ihnen.«
»Wovor kann man sich bei Heilem denn ängstigen?«, fragte Sir Kofa erstaunt. »Sie helfen uns dabei, uns mit unserem Körper zu befreunden, und haben deshalb ein sanftes Wesen. Der Umgang mit ihnen ist doch ein echter Genuss!«
»Dann kennen Sie die Heiler in meiner Heimat schlecht. Die schnippeln ihre Patienten am liebsten auf und kommen dann zu dem Schluss, es sei besser, sie zu begraben, als sie wieder zusammenzuflicken.«
»Aus was für einer Gegend stammst du nur!«, rief Juffin einmal mehr erstaunt. »Na schön. Jetzt tu, wie dir geheißen. Und Sie, Sir Kofa, machen die Tür zu, damit kein böser Wind uns ungebetene Gäste ins Büro weht.«
»Dann würde die Welt wenigstens erfahren, wie der raue Alltag des Kleinen Geheimen Suchtrupps aussieht -und erzittern!«, rief ich belustigt und zog mich aus.
Stehend musste ich fast eine Stunde aushalten, während Sir Kofa die Luft um meinen Körper herum kräftig in Schwingungen versetzte. Zwar berührte er mich nicht, doch was ich empfand, war sehr angenehm - wie eine sanfte Massage.
»Das war's, Sir Max. Jetzt denken Sie sich bitte einen netten Frauennamen aus.«
Vorsichtig blickte ich an mir herab. Alles sah aus wie immer: Meine Hüften waren nicht breiter als zuvor, und Brüste hatte ich auch nicht.
»Das ist kein echter Frauenkörper«, sagte Sir Kofa lächelnd. »Das ist nur eine Illusion, und zwar eine ganz ausgezeichnete. Ziehen Sie sich an, dann verstehen Sie, was ich meine ... Aber das doch nicht!«
Verlegen warf ich meine Skaba über die Stuhllehne.
»Ich hab Ihnen ein paar hübsche Sachen mitgebracht. Die eleganten Frauen der Hauptstadt werden vor Neid erblassen. Na los, ziehen Sie das an - Sie werden staunen.«
Ich stöberte kurz in den farbenfreudigen Kleidern, entschied mich für eine dunkelgrüne Skaba und streifte sie rasch über.
»Ach!« Mehr brachte ich nicht heraus. Der dünne Stoff verhüllte die Kurven eines mir unbekannten weiblichen Körpers. Juffin sah Sir Kofa begeistert an.
»Fantastisch - viel besser, als ich erwartet hatte. Aber jetzt setzen Sie Ihre magische Prozedur bitte fort - eine nette Lady mit so furchtbaren Bartstoppeln ist ja unerträglich. Max - du solltest dich wirklich ab und an rasieren.«
»Das hab ich doch erst gestern getan«, sagte ich und strich mir übers Kinn. »Das sind doch keine Bartstoppeln. Sie machen wohl Witze?«
»Keine Panik, Max. Ab jetzt haben Sie solche Probleme nicht mehr«, stellte Sir Kofa fest und schmierte mir eine schwarze Paste ins Gesicht. »Dieses Mittel hält länger vor als nötig.«
»Das ist ja die schönste Neuigkeit seit Änderung der Gesetze zur kulinarischen Magie. Darf ich mich schon waschen, oder soll ich noch warten?«
»Worauf wollen Sie denn warten? Und warum wollen Sie sich überhaupt waschen?«, fragte Sir Kofa erstaunt.
Er setzte mir eine hellrote Perücke auf, deren Mähne mich im Nacken kitzelte.
»Ach, Sie sprechen von meiner Salbe? Die ist mit Ihren Bartstoppeln verschwunden. Ich bin schließlich Zauberer und kein Barbier. Und versuchen Sie bitte nicht, die Perücke abzunehmen - das wird Ihnen nur wehtun. Ab jetzt sind das Ihre echten Haare - jedenfalls für einige Zeit. Nun setzen Sie sich bitte hin. Sie sehen schon beinahe perfekt aus. Ich nehme nur noch eine letzte Veränderung vor.«
Ich musste eine fünfzehnminütige Gesichtsmassage über mich ergehen lassen. Besonders hart traf es meine Nase. Ich war überzeugt, sie wäre nun puterrot und geschwollen, und hatte sogar Tränen in den Augen, ertrug aber alles tapfer.
»Das wär's«, sagte Sir Kofa und seufzte erschöpft. »Juffin, gibt's bei Ihnen was Anständiges zu trinken? Ich hab lange nicht mehr so schwitzen müssen.«
»Kofa, das ist genial«, rief Sir Juffin begeistert, während er mich inspizierte. »Wer hätte das gedacht? Auch wenn diese nette Lady auf den Siegesplatz von König Gurig VII. ginge und laut erklärte, sie hieße eigentlich Sir Max, würden alle sie auslachen. Gleich bekommen wir etwas zu trinken - und nicht nur das: So ein Werk muss man richtig feiern. Max, zieh deinen Lochimantel an und betrachte das Meisterwerk im Spiegel. Es wird dir gefallen - das verspreche ich dir.«
Ich schlüpfte in einen sandfarbenen Mantel. Mir war mulmig. Wer würde mir aus dem Spiegel im Flur entgegenblicken?
»Das machen Sie falsch, Lady«, bremste mich Sir Kofa. »Frauen schließen den Lochimantel nie mit einer Stecknadel, sondern werfen ein Ende über die Schulter, denn das sieht eleganter aus. Aber jetzt gehen Sie mal auf und ab, Sir Max.«
Gehorsam trottete ich durchs Zimmer.
»Na ja, an seinem Gang müssen wir noch arbeiten, damit er nicht alles verrät. Und jetzt gewöhnen Sie sich an Ihr neues Äußeres. Danach werden wir ein wenig üben.«
»Und der Turban?«
»Den brauchen Sie nicht. Frauen mit so herrlichem Haar lassen den Kopf lieber unbedeckt - vor allem, wenn sie aus der Provinz sind. Und von dort stammen Sie, Lady,
wenn ich Sie so sprechen höre. Aber jetzt husch, husch zum Spiegel. Und ich erwarte Begeisterung. Juffin - wie sollen wir das Mädchen nennen?«
»Das soll das Mädchen selbst bestimmen«, meinte mein Chef lächelnd. »Irgendwas muss der arme Bursche doch auch mal entscheiden. Was meinen Sie, Lady?«
»Marilyn Monroe«, rief ich und kicherte beinahe hysterisch.
»Was gibt es da zu lachen?«, fragte Juffin erstaunt. »Das ist ein hübscher Name. Er klingt ein wenig ausländisch, aber das ist gut so. Oder ist das vielleicht ein Schimpfwort?«
»Fast«, rief ich, um mich nicht in Erklärungen zu verstricken.
Mit pochendem Herzen ging ich in den Flur, näherte mich dem Spiegel, nahm allen Mut zusammen und richtete den Blick auf die im Laufe der Jahre matt gewordene Oberfläche. Neugierig sah mir eine hoch gewachsene, sympathische Lady entgegen, die mir sehr gefiel. Mich selbst entdeckte ich nicht.
Ich musterte das angenehme Gesicht auf der Suche nach einer wenigstens entfernten Ähnlichkeit. Von meinem alten Freund Max aber war nichts mehr zu sehen.
Ich ging ein paar Schritte und beobachtete mich weiter. Diese Frau machte einen etwas tollpatschigen Eindruck - das war nicht zu leugnen. Plötzlich fand ich die ganze Situation ausgesprochen lustig, zugleich aber wurde mir schwindelig. Als die elegante Lady im Spiegel fröhlich zu kichern begann, fürchtete ich, verrückt zu werden, und floh zurück ins Büro. Dort ließen meine älteren Kollegen schon die Gläser klingen.
»Es ist eine Sünde, Sir Lonely-Lokley eine so schöne Frau zu überlassen«, meinte ich traurig. »Er wird sie nämlich nicht zu würdigen wissen. Sie sind wirklich ein Genie, Sir Kofa. Ich liebe diese Frau - also mich.«
»Ach je, die Stimme hab ich ganz vergessen«, stöhnte Kofa. »Lady Marilyn - bitte trinken Sie das.«
Er gab mir ein kleines Glas blaue Flüssigkeit. Ich schnupperte misstrauisch daran, seufzte und stürzte das Getränk runter. Es schmeckte nicht schlecht, eher wie trockener, allerdings warmer Sherry.
»Haben Sie mir sonst nichts anzubie-«, begann ich, brach aber ab, denn nun war mir auch meine Stimme fremd. Nicht dass ich gezwitschert oder gequiekt hätte -ich hatte eine tiefe, aber zweifellos weibliche Stimme.
»Trinken Sie, Junge«, sagte Sir Kofa und reichte mir ein Glas Dschubatinischen Säufer. »Das brauchen Sie jetzt unbedingt.«
Nach ein paar Schluck fühlte ich mich kräftiger und heiterer und geriet in gehobene Stimmung. Da war er ja wieder, mein alter guter Bekannter Sir Max, das Nachtantlitz von Sir Juffin Halli, das sich für einige Zeit in ein rothaariges Mädchen verwandelt hatte.
»Man muss an deinen Manieren arbeiten«, seufzte Sir Juffin. »Noch ähnelst du eher einem Verrückten aus der Stadt als der Gattin eines anständigen Mannes.«
»An meinen Manieren? Moment mal!«
Ich sprang auf, stolzierte durchs Büro und wackelte dabei mit den Hüften. Dann zog ich einen Schmollmund.
»Gefällt Ihnen das, meine Herren?«
Sir Kofa schwieg verlegen.
»Was für ein schrecklicher Auftritt, Max«, sagte Sir Juffin unverblümt. »Machen die Frauen deiner Heimat das so?«
Ich setzte mich wieder. »Nicht alle», meinte ich und beruhigte mich ein wenig. »So benehmen sich nur sehr laszive Frauen. Und auch das nur von Fall zu Fall.«
»Jedenfalls war es schrecklich. Dafür, dass ich dich rechtzeitig aus deiner alten Heimat geholt habe, musst du mich wohl noch oft ins Wirtshaus einladen.«
»Rechtzeitig!? Hätten Sie das doch zehn Jahre früher getan!«
»Das wäre kaum vernünftig gewesen. Aber das erkläre ich dir ein andermal. Sind Sie wirklich müde, Sir Kofa?«, fragte Juffin unseren Meister des Verhörs mitleidig.
Kofa Joch kaute melancholisch an seiner Pirogge.
»Was denken Sie denn? Gut, dass ich so einen Zaubertrick nicht jeden Tag machen muss. Und jetzt soll ich dieser Lady auch noch Manieren beibringen ...«
»Das brauchen Sie nicht, Kofa. Das schaffen wir auch allein. Die Lage ist zwar fast hoffnungslos, aber ich hab eine Idee.«
»Sie sind ein kluger Mann, Juffin. Ohne ein Wunder werden Sie es kaum schaffen.«
»Gut. Sie und Kurusch können jetzt ein Nickerchen machen, und Max und ich gehen ein wenig spazieren. Los, Max ... Besser gesagt: Nach Ihnen, Lady Marilyn!«
»Ich werde kein Nickerchen halten, sondern speichern, was Sie gesagt haben«, meldete sich der kluge Vogel zu Wort. »Ich habe immer gewusst, dass Menschen seltsame Wesen sind, aber heute ist es wirklich besonders interessant.«
»Und ob!«, bestätigte Juffin lächelnd und strich über die zarten Federn des Buriwuchs. Dann verließen wir das Büro.
»Wohin fahren wir?«, fragte ich im A-Mobil.
»Hast du das noch nicht erraten? Ich kenne nur eine Dame, die fähig ist, aus dieser verrückten Frau eine Lady zu machen.«
••Fahren wir zur Burg Jafach?«, fragte ich. »Zu Lady Sotova?«
»Ja. Ich hab mich schon per Stummer Rede bei ihr gemeldet. Schließlich stammt auch sie aus Kettari, ist von dieser Sache also auch betroffen. Sie war erstaunlich schnell bereit, uns zu helfen. Das passt eigentlich nicht zu ihr. Anscheinend hat sie eine Schwäche für dich.«
»Das beruht auf Gegenseitigkeit.«
»Na prima. Also los, Lady Monroe, fahren wir!«
Lady Sotova begrüßte uns an der Tür des kleinen Pavillons, der ihr als Arbeitszimmer diente.
»Was für ein nettes Mädchen! Schade, dass sie nicht echt ist. So eine hätte ich gern als Mitarbeiterin«, sagte sie lächelnd und umarmte mich.
Ich war Lady Sotova gegenüber einmal mehr etwas verwirrt. Noch nie hatte mich jemand so herzlich willkommen geheißen wie diese mächtige Zauberin, die wie eine liebe Oma wirkte.
»Setz dich, Juffin. Weißt du noch, welche Kamra vor fünfhundert Jahren bei uns in Kettari im Alten Haus am Lustigen Platz gekocht wurde? Ich hab versucht, was Ähnliches zusammenzubrauen. Probier mal - es schmeckt dir bestimmt. Und für dich, mein Mädchen oder Bursche, hab ich etwas ganz Besonderes.«
Lady Sotova zog ein Fläschchen aus der Tasche ihres Mantels, das ziemlich alt wirkte.
»Das ist lecker und sehr nützlich - jedenfalls manchmal.«
»Hast du eine Wunderliche Hälfte destilliert, Sotova?«, fragte Juffin und schüttelte erstaunt den Kopf. »Seit dreihundert Jahren hab ich die nicht mehr getrunken!«
»Wozu auch?«, meinte Lady Sotova und lachte schallend. »Wenn du sie dreihundert Jahre nicht getrunken hast, hast du sie auch nicht gebraucht. Du, Max, setzt dich besser. Das ist bequemer. Und jetzt nimm!« Sie reichte mir ein Schnapsglas, in das sie die dunkle, klebrige Flüssigkeit gefüllt hatte, überlegte kurz und nickte dann: »Ja, eins reicht. Damit soll man nicht übertreiben.«
Gehorsam nahm ich das Glas und probierte. Es schmeckte sehr gut - beinahe wie Kachar-Balsam.
»Schau an, er trinkt«, meinte Juffin lächelnd. »Bei mir hätte er eine geschlagene Stunde lang wissen wollen, worum es sich handelt.«
»Er ist ein kluger Bursche«, stellte Lady Sotova fest. »Ich würde auch erst überlegen, ehe ich trinken würde, was du mir eingeschenkt hast, du alter Fuchs.«
Sir Juffin wirkte sehr zufrieden.
»Jetzt entspann dich ein wenig«, meinte die Wundergreisin zu mir. »Ich kann dir sagen, was ich dich hab trinken lassen. Das macht mir nichts aus. Weißt du, in der alten Zeit hat man die Wunderbare Hälfte den Verrückten zu trinken gegeben.«
»Vielen Dank, Lady Sotova«, sagte ich finster. »Sie haben mir wirklich eine Freude gemacht.«
»Hör mir doch erst mal zu, du Dummerchen«, meinte sie heiter. Ihre Gutmütigkeit schien unerschöpflich. »Die Verrückten bekamen das Zeug und benahmen sich plötzlich wieder normal. Das Getränk heißt -Wunderliche Hälfte«, weil es ihnen dazu dienen sollte, jene Hälfte ihrer Seele zu finden, die sich in der Dunkelheit verirrt hat. Es hat lange gedauert, ehe ein kluger Kopf feststellte, dass die Kranken nicht gesund werden, sondern nur geheilt scheinen, da ihre gequälten Seelen sich an einem unbekannten Ort aufhalten. Hast du das verstanden?«
Unentschieden wiegte ich den Kopf.
»Macht nichts. Du bist noch zu jung, aber irgendwann wirst du das begreifen. Jetzt schläfst du gleich ein wenig, und wenn du aufwachst, bist du derselbe Sir Max wie zuvor, wirst dich aber wie eine echte Lady benehmen. Du bleibst, wer du bist, aber die Leute werden glauben, sie hätten es mit jemand anderem zu tun. Ehrlich gesagt ist das kein gutes Getränk, mein Junge. Wenn Leute anders erscheinen wollen, sollen sie etwas dafür tun. All diese Wunder wirkenden Mixturen verwöhnen sie doch nur. Aber einmal - noch dazu bei einer so wichtigen Mission - kann ich eine Ausnahme machen. Ich glaube nicht, dass du lernen solltest, eine echte Frau zu sein - du bist auch ohne diese Fähigkeit ein guter Mann.«
»Vielen Dank, Lady Sotova. In der ganzen Welt sind Sie die Einzige, die mich liebt und lobt«, murmelte ich hingerissen und kämpfte schon mit den ersten Anzeichen von Müdigkeit.
»Jetzt schweig und schlaf. Alles wird gut. Weißt du: Wunder passieren im Schlaf - so ist das nun mal.«
Lady Sotova hüllte mich in eine Wolldecke und wandte sich an meinen Chef.
»Juffin, hast du etwas Zeit, damit wir uns in Ruhe unterhalten können? Du musst doch nicht schon weiter, oder?«
Ich sah meinen Chef gerade noch mit dem Zeigefinger zweimal an die Nase tippen, was in Kettari bekanntlich bedeutet, dass zwei vernünftige Menschen sich immer verständigen können.
Als ich erwachte, war es schon hell. Lady Sotova saß lächelnd neben mir und sah mich neugierig an.
«Max, du kannst wirklich lange schlafen«, sagte sie, und ihr Lächeln wurde noch breiter. »Wo hast du das gelernt?«
»Ich bin ein Naturtalent«, entgegnete ich prompt mit fremder, samtweicher Stimme.
Ich blickte mich um und merkte, dass ich mit Lady Sotova allein war. Hatte mich mein Chef im Stich gelassen? Bei ihm musste man mit allem rechnen.
»Wo ist Juffin?«
»Zu Hause oder im Dienst - keine Ahnung. Weißt du eigentlich, wie lange du geschlafen hast? Juffin und ich haben zwar ein wenig geplaudert, aber in all der Zeit hätten wir sogar die Entstehung des Universums klären können. Und das ist kein besonders spannendes Thema.«
»Wie lange hab ich denn geschlafen?«
»Über vierundzwanzig Stunden. Das ist wirklich erstaunlich.«
»Nicht schlecht. Juffin wird mir den Kopf abreißen.«
»Ich glaube nicht, dass der schreckliche Kerl dir in nächster Zeit irgendwas abreißen wird. Vertrau einer alten Prophetin.«
»Wie auch immer - ich muss los«, sagte ich hastig. »Morgen oder übermorgen reise ich ab. Wann genau, weiß ich nicht.«
»Natürlich musst du los«, nickte Lady Sotova. »Aber erst wäschst du dich, und dann bekommst du noch eine Tasse Kamra. Eigentlich hasse ich Küchenarbeit, aber für dich mache ich eine Ausnahme.«
Ich lächelte. »Sie verwöhnen mich.«
»Natürlich - irgendwer muss das doch tun. Das Bad ist unten. Bei mir ist alles, wie es sich in Echo gehört.«
»Und ich dachte, Ihr Bad läge in einer anderen Welt«, sagte ich und nahm die Treppe nach unten.
»Das eine schließt das andere nicht aus«, bemerkte sie vieldeutig.
Im Bad sah ich in den Spiegel. Lady Marilyn Monroe war nicht länger tollpatschig - dank Lady Sotova und ihrer Wunderlichen Hälfte. Ich selbst hatte an dieser Verwandlung nicht den geringsten Anteil.
Die Illusion schien so echt, dass ich mich fast panisch auszog. Unter der dünnen Skaba sah ich meinen Männerkörper, seufzte erleichtert und begann, mich zu waschen.
Tänzelnd kam ich aus dem Keller zurück. Wenn man länger als vierundzwanzig Stunden im Sitzen geschlafen hat und sich dennoch sehr gut fühlt, lässt sich das nur auf Magie höheren Grades zurückführen.
Die füllige grauhaarige Greisin, die zu den mächtigsten Menschen dieser Welt gehörte, erwartete mich am Tisch.
»Hier sind Kamra und Gebäck - mehr hab ich nicht. Aber du frühstückst ja ohnehin nicht gern üppig.«
Ich nickte. »Auch das wissen Sie?«
»Du bist noch zu jung, mein Lieber, um Geheimnisse vor mir zu haben.«
»Sie wissen offenbar alles über mich. Das ist ja bedrohlich.«
»Im Gegenteil - das ist sehr nett. Genau wie deine dunkle Vorgeschichte aus deiner - verzeih mir den Ausdruck - dummen Heimat.«
»Ich bin absolut Ihrer Meinung. Besonders, was die Dummheit anlangt. Lady Sotova, können Sie vielleicht mein gebrochenes Herz heilen? Juffin, dieser Sadist, sagt immer, ich müsse mit meinen Problemen allein zurechtkommen, aber ich schaffe es einfach nicht.«
»Was können das schon für Probleme sein!«, winkte meine Gesprächspartnerin ab. »Die sind doch wie Herbstschnee - kaum gefallen, schon geschmolzen. Man soll nicht immer in der Vergangenheit herumstochern und sich nicht ständig um die Zukunft sorgen. Heute ist dein Tag - also genieß ihn.«
Das waren zwar nur Worte, doch ich war so erleichtert wie neulich, als Sir Juffin mich am Ohr gezogen hatte.
Stimmt, mein Freund - was für Probleme hast du denn schon?, sagte ich mir. Dort, wo es dir schlecht ergangen ist, wohnst du nicht mehr und lebst stattdessen in einer der hübschesten Welten des Universums und hast mit lauter klugen und obendrein netten Leuten zu tun. Und da fällt dir nichts Besseres ein, als zu jammern? Du bist wirklich undankbar.
»Lady Sotova, Sie sind eine wunderbare Frau«, seufzte ich.
»Natürlich«, meinte die Alte und lächelte. »Außerdem war ich sehr hübsch, falls dich das interessiert.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte ich träumerisch. »Ich wäre gern Zeuge Ihrer fugend gewesen.«
»Willst du wirklich sehen, wie der verrückte Juffin mir nachgelaufen ist? Wie er mit einem Haftbefehl gewedelt hat, als ich mich weigerte, unsere Heimatstadt zu verlassen?«, kicherte Lady Sotova. »Das war ein tolles Theater. Na, solange wir Freundinnen sind, kann ich dir ja einiges zeigen.«
Sie ließ mir keine Zeit zu antworten, sondern sprang auf und bewegte die Hände ungemein schnell und energisch. Ich sah nur das stürmische Flimmern ihrer Arme.
»Und?«
Ich fühlte mich von all den Wundern total erschlagen und dachte schon, ich würde auf keine Zauberei mehr reagieren, doch dann sah ich plötzlich eine nicht gerade große, junge und hübsche Frau vor mir. Ich stierte sie an, und mir stockte der Atem. Die fantastische Lady Sotova klopfte mir begütigend auf die Schulter.
»Du bist hoffentlich nicht erschrocken?«
Schließlich begann ich wieder zu atmen und musterte das Wunder weiter unverwandt. Diese Frau hatte die atemberaubenden Kurven von Marilyn Monroe, deren Name ich so leichtfertig angenommen hatte. Lady Sotova war plötzlich eine knackige Brünette mit großen grünen Augen und schneeweißem Teint.
»Machen Sie das rückgängig, ehe ich mich vergesse«, bat ich und hätte vor Scham fast die Augen geschlossen. »Warum ...«
»Warum ich nicht immer so aussehe? Ach, Junge, wozu denn? Sollen alle jüngeren Magister des Ordens des Siebenzackigen Blattes nächtelang nur von mir träumen? Darauf lege ich keinen Wert, und um die armen Männer wäre es schade.«
Lady Sotova nahm langsam wieder ihr normales Aussehen an und wies dann nach draußen.
»Ich glaube, jetzt musst du wirklich zum Haus an der Brücke gehen.«
Die füllige Greisin legte mir lächelnd die Hand auf die Schulter. Ich nickte. Wir brauchten nichts mehr zu sagen: Ich hatte gerade ein Wunder geschenkt bekommen -und obendrein eine kleine Kostprobe von der großartigen Klugheit dieser Frau aus dem Orden des Siebenzackigen Blattes erhalten.
»Machen Sie sich keine Gedanken, Lady Marilyn -auch Sie sind hübsch und klug«, sagte Lady Sotova lachend. »Hauptsache, du genießt die kommenden Abenteuer, Max. Versprichst du mir das?«
»Ich verspreche es«, sagte ich tapfer.
In Gestalt von Lady Marilyn kehrte ich brav zum Dienst zurück. Unterwegs ging ich kurz zu einem Juwelier und spendierte meiner weiblichen Erscheinung ein paar Schmuckstücke. Die gute Marilyn sollte ja nicht leben wie ein Hund. Langsam begann ich mich mit der neuen Version meiner selbst zu befreunden.
Nach alter Gewohnheit betrat ich das Haus an der Brücke durch den Geheimeingang. Erst im Nachhinein begriff ich, dass ich damit gegen die Regeln verstoßen hatte, aber da war es schon zu spät. Glücklicherweise hatte niemand meinen Fehler bemerkt: Straße wie Korridor waren menschenleer.
Kaum erreichte ich unsere Hälfte des Hauses an der Brücke, meldete sich Sir Juffin per Stummer Rede.
»Schön, dass du endlich wach bist, Max - besser spät als nie. Ich kann es kaum erwarten, dich wiederzusehen, und bin sehr gespannt, was Lady Sotova aus dir gemacht hat. Lady Melamori ist einem sympathischen Giftmörder auf die Spur getreten. Das ist nichts Besonderes, aber ich kann sie bei so einem Abenteuer nicht allein lassen.«
»Da haben Sie Recht«, stimmte ich ihm zu.
Die Erwähnung von Lady Melamori freute mich. Und dass sie bei ihrem Chef in sicheren Händen war, natürlich auch.
»Ich weiß auch ohne dich ganz gut, was ich zu tun habe, Lady Max«, antwortete Juffin bissig. »Na schön, also Ende.«
Im Büro herrschten geradezu idyllische Zustände: Melifaro saß statuengleich im Schneidersitz auf dem Tisch. So ist er also, wenn er sich unbeobachtet fühlt, dachte ich belustigt. Als er mich - vielmehr: die sympathische Lady Marilyn - bemerkte, erhob sich das buddhagleiche Kunstwerk sofort, stieg von seinem Sockel und sah mich so begeistert an, dass ich schon glaubte, mein letztes Stündlein (und das von Lady Marilyn) habe geschlagen. In meinem Kopf formte sich binnen Sekunden ein verrückter Plan. Hauptsache, du genießt die kommenden Abenteuer, hatte Lady Sotova mir eingeschärft, und auf Ältere soll man hören.
»Was führt Sie zu mir, Unvergessliche?«, fragte Melifaro sehr höflich.
Lady Marilyn und ich beschlossen: Egal, was passiert -wir dürfen nicht zu früh in Gelächter ausbrechen.
»Zum Glück nichts Schlimmes, den Magistern sei Dank!«, begann ich und lächelte verlegen. »Mein Vater hat mich gebeten, herzukommen und einem gewissen Sir Max und einem weiteren Herrn, dessen Vater ein paar Bücher geschrieben haben soll, seine Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen. Ach ja, der zweite Herr heißt Mefiliaro.«
»Melifaro«, korrigierte mich das Tagesantlitz des Ehrwürdigen Leiters galant. »Unvergessliche, er steht vor Ihnen. Und jetzt verraten Sie mir bitte, wer Ihr Vater ist und wofür er sich bedanken will.«
»Ich fürchte, Sie sind auf meinen Vater nicht allzu gut zu sprechen, aber er verdankt Ihnen sein Leben. Ich heiße Lady Marilyn Boch.«
»Dann sind Sie die Tochter von General Bubuta?«, rief Melifaro verzückt. »Sündige Magister - warum bin ich Ihnen nicht schon früher begegnet?«
»Ich bin erst seit kurzem wieder in der Hauptstadt. Gleich nach meiner Geburt, die noch in die Traurige Zeit fiel, hat mein Vater mich zu seiner Familie in die Grafschaft Wuk geschickt. Wissen Sie, meine Mutter war nicht mit meinem Vater verheiratet, aber er hat sich dennoch stets um mich gekümmert. Und nach ihrem Tod hat der General seine Frau überredet, mich zu adoptieren. Mein Vater hat einen schwierigen Charakter - das weiß ich wohl -, doch er ist ein herzensguter Mensch.«
»Und er ist ungemein tapfer!«, ergänzte Melifaro begeistert. »Ihr Vater ist der echte Held des Krieges um das Gesetzbuch. Also hören Sie nur nicht auf irgendwelche dummen Gerüchte, Lady Marilyn. Ich persönlich schätze Ihren Vater enorm.«
Innerlich johlte ich vor Begeisterung. Sir Melifaro schätzte General Bubuta Boch enorm? Wie würde er mir später noch unter die Augen treten können, der Arme?
»Na ja, mein Vater ist nun mal grob, aber herzlich«, meinte Lady Marilyn und lächelte dabei erneut schüchtern. »Leider ist er noch immer krank.«
Das war allerdings wahr. Die Abenteuer mit der Pastete König von Bandscha hatten den skandalträchtigen General für längere Zeit gezwungen, seinen Posten ruhen zu lassen. Unverdrossen fuhr ich fort: »Aber mein Vater möchte nicht undankbar erscheinen. Deshalb hat er mich gebeten, Sir Max und Sie aufzusuchen.«
Ich grub in der Tasche meines Mantels nach einem meiner neuen Ringe und gab ihn Melifaro.
»Das ist für Sie, Sir Mufularo - als Zeichen der Freundschaft und Dankbarkeit.«
Melifaro betrachtete den Ring begeistert und versuchte gleich, ihn anzustecken. Leider hatte ich etwas kleinere Hände als er, und mein armer Freund schaffte es nur, das Schmuckstück auf den kleinen Finger zu schieben.
»Sagen Sie mir doch bitte, wo und wann ich Sir Max treffen kann«, fuhr Lady Marilyn träumerisch fort.
Melifaro wurde unruhig, und das war wirklich sehenswert. Er näherte sich mir, legte mir behutsam die Hand auf die Schulter, beugte sich vor und flüsterte mit geheimnisvoller Miene: »Wissen Sie, Unvergessliche, Sir Max ist nicht da, und ich glaube auch nicht, dass er bald vorbeischauen wird, aber das ist wohl auch besser so. Ich würde Ihnen nicht raten, diesen Mann zu treffen.«
Das wurde ja immer interessanter!
Sündige Magister, kann ich überhaupt mit dem Hollywoodhelden hier konkurrieren?, fragte ich mich. Er ist so aufgeregt.
»Warum das denn, Sir?«, fragte Lady Marilyn und versuchte, dabei möglichst naiv zu klingen. Sie ließ den Mund offen und klimperte mit den Wimpern.
»Er ist sehr gefährlich«, raunte Melifaro verschwörerisch. »Unser Sir Max ist ein seltsames Wesen. Vielleicht wissen Sie es ja noch nicht, aber er trägt sogar den Todesmantel. Können Sie sich das vorstellen, Unvergessliche?«
»Aber mein Vater hat gesagt ...«, begann ich.
»Ihr Vater ist sehr krank, Lady. Außerdem fühlt er sich Sir Max zu Dank verpflichtet. Ich bin sicher, dass er Ihnen ohne solche Umstände nicht erlaubt hätte, diesen seltsamen Mann zu treffen. Wissen Sie, Sir Max bringt ständig Menschen um, und zwar keinesfalls nur Verbrecher. Er kann sich einfach nicht beherrschen. Vor einigen Tagen erst hat er mit seinem giftigen Speichel eine nette Lady angespuckt, und dann hat sich herausgestellt, dass sie lediglich ein wenig unhöflich gewesen war.«
»Warum ist er daraufhin nicht im Cholomi-Gefängnis gelandet?«, fragte ich und versuchte mit aller Kraft, mein Lachen zu unterdrücken.
»Ach, glauben Sie mir etwa nicht, Lady? Das sind alles Intrigen von Sir Juffin Halli, unserem Ehrwürdigen Leiter. Sir Max ist sein Liebling und steht daher unter seinem besonderen Schutz. Wenn Sie wüssten, wie viele Unschuldige die beiden schon in diesem Büro verbrannt haben! Ich bin ein tapferer Mensch und mag das Risiko - darum bleibe ich hier. Aber meine Kollegen kündigen reihenweise.«
Melifaro legte sich wirklich ins Zeug, redete immer größeren Unsinn daher und vermochte sich nicht mehr zu bremsen. Ich verbarg den Mund hinter der Rechten und versuchte, lautlos zu lachen. Das klappte einigermaßen.
»Was ist los mit Ihnen, Unvergessliche?«, fragte Melifaro sichtlich bekümmert. »Habe ich Sie etwa erschreckt?«
Ich nickte schweigend. Etwas zu sagen, wäre über meine Kräfte gegangen, denn beinahe wäre ich vor Lachen geplatzt.
»Aber Lady, Sie sind hier beim Kleinen Geheimen Suchtrupp - der Organisation, die das Vereinigte Königreich in Angst und Schrecken versetzt. Hier passiert so einiges, doch Sir Max ist im Vergleich zu Sir Juffin Halli nur ein Grünschnabel.«
Aha, dachte ich - ich bin nicht nur grausam, sondern auch noch ein Greenhorn. Oh, Melifaro, dafür wirst du büßen! Wie kannst du diese Provinzlady nur so rücksichtslos reinlegen wollen?
»Ich bin der einzig Normale in diesem Stall«, sagte Melifaro und legte mir auch die zweite Hand auf die Schulter. »Warum sind Sie denn so nervös, Unvergessliche? Wir befinden uns in Echo, der Hauptstadt des Vereinigten Königreichs - gewöhnen Sie sich daran. Das Leben in einer Metropole hat aber auch angenehme Seiten. Und falls ich Sie betrübt haben sollte, mache ich meinen Fehler gern wieder gut. Erlauben Sie mir, Ihnen Echo bei Nacht zu zeigen, und ich lade Sie zu einem Abendessen ein, das Sie sonst nie bekommen würden. Was sagen Sie dazu?«
So ein Schürzenjäger, dachte ich verächtlich. Sündige Magister - ob Frauen wirklich auf so billige Tricks hereinfielen? Oder hatte er sich gedacht, für eine Lady aus der Grafschaft Wuk sei diese Schmierenkomödie Aufwand genug? Und gefiel ihm Lady Marilyn wirklich so sehr, oder probierte er an ihr nur aus, wie gewisse Flirttricks ankamen?
Ich schüttelte seufzend den Kopf.
»Das kann ich unmöglich annehmen, Sir - wir kennen uns ja gar nicht.«
»Ich habe Ihnen diesen Ausflug vorgeschlagen, damit wir uns kennen lernen«, meinte Melifaro und lächelte entwaffnend. »Ich werde brav sein - Ehrenwort! Und wir werden viel Spaß haben. Das verspreche ich Ihnen.«
Lady Marilyn und ich lächelten schüchtern.
»Na ja, wenn Sie versprechen, brav zu bleiben.«
»Natürlich! Gleich nach Sonnenuntergang hole ich Sie ab, Unvergessliche«, sagte Melifaro und sah verstohle zur Tür.
Tja, es wäre dumm, wenn ausgerechnet jetzt der potenzielle Konkurrent erscheinen würde. Nach Melifros Plan sollte die hübsche Lady Marilyn nun rasch verschwinden, damit ein Treffen mit Sir Max - dem Menschenfresser und Nachtantlitz des Ehrwürdigen Leiters vermieden wurde.
Ich erhob mich aus dem Besucherstuhl und trat an einen Schreibtisch.
»Sie müssen mich nicht abholen, Sir Fulumiaro. Am besten warte ich hier.«
»Was machen Sie denn da, Lady Marilyn?«, fragte Malifaro verwirrt.
Schweigend zog ich eine Schublade auf und nahm eine kleine Flasche heraus, in der noch ein Rest Kachar-Balsam war.
»Was soll denn das, Lady?«, fragte Melifaro ängstlich.
Ich riskierte ziemlich viel. Dieser friedliche Mann war ebenso gefährlich wie der Rest unserer Truppe. Sollte mich für einen entlaufenen Magister halten, der nach Echo zurückgekehrt war, konnte die Sache mit ein ernsten Auseinandersetzung enden. Doch den Magistern sei Dank: Die nette rothaarige Lady war über jeden Verdacht erhaben.
Schweigend nahm ich einen eher symbolischen Schluck aus der Flasche. Ich brauchte keine Stärkung - auch ohne Kachar-Balsam hätte ich die Welt aus den Angeln heben können. Aber Lady Marilyn und ich hatten einfach Lust auf etwas Leckeres.
»Lady Boch, dieser Platz gehört Sir Juffin Halli. Sie können doch nicht einfach so in seinen Sachen wühlen!«
Es tat wirklich weh, Melifaro anzuschauen.
»Ich schon«, sagte ich ruhig. »Wir Bewohner der Grafschaft Wuk dürfen in den Tischen fremder Leute wühlen. Manchmal finden sich dort interessante Dinge. Hast du eigentlich schon den dritten Band der Enzyklopädie deines Vaters verspachtelt?«
Melifaro wirkte verstört. Wahrscheinlich übertrieb ich ein wenig. Dabei wollte ich nicht mal mehr Rache nehmen.
»Was ist denn mit dir los, Mensch?«, fragte ich gönnerhaft. »Bist du noch nie beim Karneval gewesen?«
Der gesunde Menschenverstand Melifaros meldete sich, und das Tagesantlitz des Ehrwürdigen Leiters begann nervös zu kichern. In Erinnerung an unser Gespräch lachte ich herzlich mit.
Als Sir Juffin ins Zimmer kam, sah er uns Arm in Arm auf dem Fußboden sitzen. Wir kicherten inzwischen nur noch leise vor uns hin, weil wir keine Kraft mehr hatten, laut zu lachen.
»Max, du warst immer so romantisch«, seufzte mein Chef theatralisch. »Früher mochtest du nicht mal in den Stadtteil Rendezvous gehen. Und jetzt? Kaum hast du einen künstlichen Busen bekommen und vierundzwanzig Stunden in Gesellschaft der verrückten Lady Sotova verbracht, landest du schon in den Armen eines dir praktisch unbekannten Mannes.«
»Sir Juffin«, stöhnte Melifaro, »wenn Sie ihn so lassen, heirate ich ihn sofort - Ehrenwort!«
»Aber ich heirate Sie nicht. Sie haben mich betrogen«,
sagte ich kokett. »Ach, Juffin, wenn Sie mitbekommen hätten, was der hier alles erzählt hat!«
Melifaro und ich kicherten wieder los.
»Soll ich euch mit kaltem Wasser begießen?«, erkundigte sich Juffin ungerührt. »Was ist hier eigentlich passiert?«
»Nichts, wovon meine Mutter nichts wissen dürfte!«, rief ich, und Sir Juffin schloss sich unserem Kicherduett an.
Nach einer Viertelstunde kamen Melifaro und ich langsam zur Vernunft und begannen, Juffin abwechselnd die Details unseres Kennenlernens zu erzählen. Fairerweise muss ich erwähnen, dass Melifaro, was seine Dummheit betraf, nicht mit harschen Worten sparte.
»Lady Marilyn, du bist wirklich erfolgreich«, sagte mein Chef lächelnd. »Dabei hat dich die Aussicht, in eine Frau verwandelt zu werden, noch vorgestern schockiert.«
»Da wusste ich ja noch nicht, dass ich so hübsch würde«, sagte ich und wies mit dem Kopf auf Melifaro. »Übrigens hat er mich zum Abendessen eingeladen. Oder hast du es dir anders überlegt?«
»Mit einer so schönen Frau kann ich mich überall zeigen. Und wohin gehen wir danach? Zu mir oder zu dir?«, fragte Melifaro gelassen.
»Zu mir natürlich. Mein Papi ist zu Hause - General Bubuta Boch, falls du dich noch daran erinnerst. Er wird dir bestimmt von seinen Kriegserfolgen erzählen. Sir Juffin - habe ich heute Abend dienstfrei, oder haben Sie eine neue Mitarbeiterin namens Marilyn eingestellt? Was meint ihr, Jungs - wird mir der Todesmantel stehen?«
Meine weibliche Inkarnation war etwas leichfertiger als die männliche.
»Ich glaube, ein Spaziergang durch die Stadt kann Ihnen nicht schaden, Lady Marilyn. Sie müssen sich schließlich an Ihren neuen Namen gewöhnen und so. Und du, Melifaro, solltest den Blick nicht im Dekolletee dieser leichtlebigen Frau versenken. Sie geht übermorgen auf Hochzeitsreise mit Sir Lonely-Lokley.«
Melifaro pfiff verständnisvoll durch die Zähne.
»Ist es was Ernstes, meine Herren? Ich dachte ...«
»Was hast du denn geglaubt? Dass Max und ich aus Langeweile verrückt geworden sind? Natürlich ist es was Ernstes. Begleite also deine neue Freundin in die Stadt und pass auf, dass sie auf ihren neuen Namen reagiert und sich nicht verplappert.«
»Da sehe ich keine Gefahr«, meinte Melifaro. »Aber was ist das für ein Leben, Sir Juffin? Da trifft man ein nettes Mädchen, und dann erweist es sich als Ihr Nachtantlitz! Und heiratet obendrein Lonely-Lokley! Glauben Sie, mein Herz sei aus Stahl?«
»Daran habe ich keinen Zweifel«, meinte Juffin ungerührt. »Max ... also Lady Marilyn: Sir Schürf und ich erwarten dich morgen bei Sonnenuntergang. Wenn du zu Hause bist, pack deine Sachen. Und mach dir keine Gedanken über deine Viecher. Unsere Mitarbeiter stehen Schlange, um die Tiere pflegen zu dürfen.«
Ich ließ den Kopf hängen. Meine armen Katzen! Was war ich doch für ein nichtsnutziges Herrchen!
»Wahrscheinlich bekommt Ella bald Junge«, sagte ich wehmütig. »Das werden die zukünftigen Katzen des Königs sein. Allerdings frisst sie so viel, dass sie womöglich nicht trächtig ist, sondern einfach nur fett.«
»Max, deine Probleme möchte ich haben«, sagte Juffin müde. »Sir Melifaro, nehmen Sie diese hübsche Frau und ziehen Sie Leine. Ich hab noch ein Treffen mit einem Giftmörder.«
»Weißt du, Lady Marilyn, mit deinem netten Gesicht und den dummen Sprüchen des Nachtantlitzes bist du die ideale Frau für mich«, meinte Melifaro galant, als ich ins A-Mobil gestiegen war.
»Ich bin der ideale Mann - sofern Lonely-Lokley und ich die Reise überleben«, sagte ich lächelnd und riskierte eine Frage, die ich in meiner normalen Erscheinungsform nie zu stellen gewagt hätte: »Wie geht es Lady Melamori?«
»Sie murmelt im Schlaf deinen Namen, falls es dich interessiert. Ansonsten hält sie Monologe über die Vorzüge des Singledaseins. Ich wüsste wirklich gern, was zwischen euch vorgefallen ist. Mag Lady Marilyn nicht ein wenig klatschen?«
»Vielleicht. Aber es ist nichts Spektakuläres passiert. Das Schicksal hat unsere Verbindung geknüpft und uns dann verboten, uns wiederzusehen - wir haben uns nämlich im Stadtteil Rendezvous getroffen.«
»Tja, so geht das manchmal«, seufzte Melifaro mitleidig und fügte hinzu: »Aber wenn du weiter ein echtes Mädchen bleibst, lässt meine Mutter mich endlich heiraten. Denk darüber nach - so was hab ich noch keiner Frau angeboten.«
»Vielen Dank, aber fürs Familienleben bin ich noch zu jung. Und jetzt lass uns fahren - du schuldest mir noch was.«
Drei Stunden später parkte eine satte, zufriedene und leicht berauschte Marilyn ihr A-Mobil vor dem Haus von Lady Melamori. Marilyns Frauenherz hatte mir diese Idee eingegeben, und ich leistete keinen Widerstand. Ohne zu überlegen, meldete ich mich per Stummer Rede bei Lady Melamori.
»Ich bin's, Max. Schau mal kurz aus dem Fenster - ich steh vor deiner Tür.«
»Das darf ich doch nicht«, antwortete sie erschrocken. »Weißt du überhaupt, was du da tust? Wir dürfen uns nicht sehen, solange das Schicksal es verbietet.«
»Wenn ich mitten in der Nacht hier auf tauche, dann nicht, um deine Situation zu verschlechtern. Schau erst aus dem Fenster und entscheide dann, ob du mich reinlassen darfst oder nicht. Ich schwöre beim Lieblingspyjama von Sir Juffin, dass du es nicht bereuen wirst. So eine Überraschung kann dir niemand außer mir bereiten. Ich warte.«
Melamoris gesunde Neugier siegte über ihre Vorbehalte. Nach einer Minute sah ihre Nasenspitze aus dem Fenster.
»Wer sind Sie?«, fragte sie barsch. »Und wo ist Sir Max? Soll das ein Witz sein?«
»Natürlich, Unvergessliche«, sagte ich lächelnd. »Und ein sehr guter dazu, findest du nicht?«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Meine Liebe - versuch, mir auf die Spur zu treten, und deine Zweifel sind wie weggewischt. Worauf wartest du noch?«
Melamori zog ihre Hauspantoffeln an, stand Sekunden später hinter mir und seufzte nach kurzem Schweigen leise: »Max, was ist mit dir passiert?«
Ich sah mich um und stellte fest, dass ihre Lippen vor Angst blutleer waren.
»Bist du etwa verzaubert?«, setzte sie hinzu.
»Ja, aber nur, solange ich mit Lonely-Lokley verheiratet bin. Doch das muss unter uns bleiben, denn es ist ein schreckliches Geheimnis. Darf ich jetzt kurz zu dir reinkommen?«
»Ich glaube ja«, sagte Melamori und begann zu lächeln. »Aber erklär mir bitte, was hier vorgeht.«
»Natürlich. Gute Freundinnen finden doch immer Gesprächsstoff. Weißt du, mir ist längst klar, wie schwierig es für einen Mann und eine Frau ist, einfach nur befreundet zu sein. Zwei Frauen schaffen das viel eher. Übrigens heiße ich Lady Marilyn - ich denke, das macht die Sache für dich einfacher.«
»Einfacher?«
Wir gingen ins Gästezimmer. Plötzlich lachte Lady Melamori erleichtert.
»Setz dich, Marilyn. Nett, dass du gekommen bist. Ich wollte dich ohnehin unbedingt kennen lernen.«
»Weibliche Intuition ist eine große Kraft«, meinte ich und lächelte schelmisch. »Aber meine Intuition sagt mir auch, dass du ein Souvenir deines Großvaters Kima besitzt. Wir sollten es trinken. Wann, wenn nicht jetzt? Immerhin reise ich übermorgen ab.«
»Für immer?«, fragte sie ängstlich.
»Darauf brauchst du gar nicht erst zu hoffen. Nur für ein paar Dutzend Tage.«
»Und wohin?«
»Nach Kettari. Unseren Chef hat ein schwerer Anfall von Nostalgie gepackt, und ich soll ihm einen Sack Kiesel aus der Stadt seiner Kindheit bringen. Aber vergiss diese Geheimnisse, meine Liebe. Wenn ich trinke, werde ich gesprächiger und erzähle dir wirklich alles - Ehrenwort.«
»Marilyn, magst du einen Schicksalstropfen?«, fragte Melamori gelassen. Ich war so überrascht, dass ich zusammenzuckte.
»Einen Schicksalstropfen?! Den haben wir doch schon mal getrunken!«
»Mich würde interessieren, Marilyn, wo du so was hast trinken können«, antwortete Melamori kaltblütig wie immer. »Das ist ein seltenes Getränk.«
»Und wie«, bestätigte ich lächelnd und merkte erstaunt, dass mir ein Stein vom Herzen fiel. »Natürlich möchte ich so was trinken. Wer bin ich, dass ich mich einem Schicksalstropfen verweigern könnte?«
»Prima.«
Der alte Wein erwies sich als dunkel, fast schwarz. Auf dem Flaschenboden flimmerten bläuliche Funken.
»Das ist ein gutes Zeichen, Marilyn«, lächelte Melamori und klopfte mit dem Finger an den Flaschenhals. »Mein Opa Kima hat mir erzählt, diese Fünkchen erscheinen nur dann, wenn mit denen, die den Wein trinken ... wie soll ich sagen ... wenn mit ihnen alles in Ordnung ist. Verstehst du? Es ist also nicht schlecht oder gut, sondern in Ordnung.«
»Natürlich versteh ich das. Dafür hab ich allerdings ein anderes Wort: nicht »in Ordnung*, sondern 'echt*. Es hat mich immer erschüttert, wie wenige Leute authentisch sind. Hab ich mich verständlich ausgedrückt?«
»Marilyn - eins können Max und du wirklich gut: die richtigen Worte finden«, sagte Melamori nickend. »Schmeckt's?«
»Großartig!«
»Aber jetzt erzähl mir deine Geschichte. Wenn du willst, schwöre ich dir, darüber Stillschweigen zu bewahren.«
»Wozu brauche ich deine Schwüre? Du sollst mich nur anschauen und mir zuhören. Lady Marilyn und ich erzählen sehr gern.«
Ich berichtete ihr ausführlich von der ganzen Maskerade, deren prächtige Königin ich war. Das Finale bildete Melifaros Auftritt als düpierter Galan.
»Sündige Magister - ich hätte nicht gedacht, dass ich im Leben so viel würde lachen können«, keuchte Melamori und wischte sich die Tränen ab. »Der arme Melifaro hat wirklich kein Glück bei den Frauen. Lady Marilyn, hast du dir das alles auch gut überlegt? Wo findest du einen besseren Ehekandidaten?«
»Danke für den Hinweis - ich werd drüber nachdenken. Schau, es wird schon hell. Wann willst du eigentlich schlafen gehen?«
»Ach, ich kann ja mal zu spät zur Arbeit kommen. Ich sage Juffin einfach, dass ich dir einige kokette Tricks beigebracht habe.«
»Die könnte ich brauchen. Zumal im Hinblick auf meinen künftigen Gatten«, sagte ich und stand mühsam vom kleinen Sofa auf. »Aber jetzt gehe ich ins Bett, Melamori. Du solltest das auch tun. Besser zu wenig Schlaf als gar keinen.«
»Es kommt nicht darauf an, wie viel man schläft, sondern wie gut. Und heute werde ich pennen wie ein Stein. Sag Max bitte, dass es eine prima Idee war, vorbeigekommen zu sein.«
»Gern«, meinte ich gähnend und nickte ihr zum Abschied zu. »Guten ... Schlaf, Melamori.«
Übrigens hat auch Lady Marilyn in dieser Nacht geschlafen wie ein Stein, was meinem alten Bekannten Max selten geschieht. Dieses Mädchen hat einen herrlichen Schlummer - viel tiefer und ausdauernder als er.
Bei Sonnenuntergang ging ich zum Haus an der Brücke. Ich hatte eine große Reisetasche dabei, in der eine Flasche Kachar-Balsam, viel Kleidung und mein verzaubertes Kissen steckten. Egal, wohin es ging - nie würde ich ohne diesen »Stöpsel zwischen den Welten« (wie Maba Kaloch das Kissen genannt hatte) verreisen, denn es bot die einzige Möglichkeit, an meine geliebten Zigaretten zu kommen.
Sir Juffin unterhielt sich angeregt mit einem sonnengebräunten Blondschopf mittleren Alters im weißblauen Lochimantel. Der Bursche sah aus wie ein Trainer: Er hatte muskulöse Hände, gesundes Wangenrot und ein ausgezehrtes Gesicht, auf dem sich nie ein Lächeln zeigte. Ich wollte die beiden nicht stören und meldete mich deshalb per Stummer Rede bei meinem Chef.
»Sind Sie beschäftigt? Soll ich im Vorzimmer bleiben?«
»Aber nicht doch, Lady Marilyn«, rief Juffin und begrüßte mich lächelnd. »Hast du diesen Mann für einen Besucher gehalten, Max? Und wer hat uns eingeschärft, wir könnten auch mit dem Aussehen von Sir Schürf Probleme bekommen? Leute, ich kann euch beiden nur sagen: Ihr seid wirklich ein tolles Paar.«
»Du siehst wunderbar aus, Marilyn«, sagte der komplett veränderte Lonely-Lokley höflich, stand auf und half mir - sündige Magister! - fürsorglich beim Hinsetzen. »Sir Max, ich muss Sie leider bitten, Sie in den nächsten Wochen duzen zu dürfen, wie es sich zwischen Ehegatten gehört.«
»Sie können mich auch in weniger extremen Situationen duzen, Schürf.«
»Ich heiße jetzt Sir Glama Eralga. Selbstverständlich sollst du mich nur per Glama ansprechen, meine Liebe.«
»Können wir uns nicht jetzt noch normal anreden?«, fragte ich. »Der ständige Namenswechsel kann einen ja verrückt machen.«
»Sir Schürf hat leider absolut Recht«, bemerkte Juffin. »Je rascher du dich an deinen neuen Namen gewöhnst, desto besser. Bald hast du sowieso andere Probleme.«
Was das für Probleme sein würden, wollte ich nur zu gern wissen.
Neugierig musterte ich Lonely-Lokleys Hände. Erstmals sah ich sie ohne Fäustlinge und ohne die todbringenden zerrissenen Handschuhe, die ich bisher für seine eigentlichen Hände gehalten hatte. Theoretisch wusste ich zwar, dass sie nicht echt sein konnten, aber mein Herz war stärker gewesen als mein Verstand.
»Sündige Magister, was ist denn mit Ihren Händen los, Schürf... Glama?«
»Nichts Besonderes. Wenn du meine Handschuhe meinst - die sind im Reisegepäck. Du nimmst doch wohl nicht an, meine liebe Marilyn, dass jeder solche Handschuhe besitzt?«
»Natürlich nicht. Ich hab Sie ... dich bloß nie ohne gesehen.«
»Hallo, meine Schöne«, rief Melifaro von der Tür. »Na, willst du ein Mädchen bleiben? Und hast du über meinen Heiratsantrag nachgedacht? Meine Mutter wäre begeistert«, sagte er, kam ins Zimmer und lehnte sich an meinen Stuhl. »Oh, unser Loki-Lonki sieht auch viel besser aus. Nur bei mir gibt's nichts Neues.«
»Sir Melifaro, machen Sie sich bitte nicht an meine Frau heran«, sagte der im Gesicht völlig veränderte Schürf. »Und seien Sie so nett und lernen Sie meinen richtigen Namen, bis wir zurück sind. Wir kennen uns ja nicht erst seit gestern.«
Den größten Spaß an unserem Gespräch hatte Sir Juffin. Und das war sein gutes Recht - schließlich war er unser Chef.
»Ich hoffe, Juffin, Sie haben nichts dagegen«, sagte Sir Kofa beim Eintreten. Unser Meister des Verhörs, der zugleich mein persönlicher Kosmetiker und Visagist war, hatte auch diesmal ein großes Paket dabei. »Sie haben noch genug Zeit, den armen Jungs die Details ihrer Mission zu erklären. Ihr alle habt noch die ganze Nacht vor euch, und ich habe ungeheure Leckereien dabei.«
»Aber Sir Kofa! Hab ich mich je gegen nette Abende gewandt?«, meldete sich Juffin zu Wort. »Doch warum haben Sie das alles mitgeschleppt? Sie hätten doch einen Boten schicken können.«
»Von wegen! Bei dieser Delikatesse traue ich niemandem. Schuta Wach - ein Meister der alten Küche - ist gerade in Rente gegangen und kocht nur noch für sich. Doch als ich sieben Tschakata-Piroggen bei ihm bestellte, konnte er einfach nicht Nein sagen. Wir haben großes Glück - außer ihm kann das keiner in Echo.«
»Meinen Sie das ernst, Kofa?«, fragte Juffin sichtlich erregt.
»Und ob! Mit solchen Sachen soll man nicht scherzen.
Na, mein Mädchen, komm zu uns, ehe ich es mir anders überlege.«
Lady Melamori ließ sich nicht lange bitten.
»Guten Abend, Lady Marilyn«, sagte sie lächelnd und legte die Hand auf meine Schulter. »Nur schade, dass du morgen abreist.«
»Würden wir nicht abreisen, gäbe es keine Tschakata-Piroggen«, bemerkte ich philosophisch. »Alles hat seinen Preis.«
»Sie haben vergessen, den armen Sir Lukfi einzuladen«, sagte Lady Melamori vorwurfsvoll zu meinem Chef.
»Sie kränken mich, Lady«, widersprach Juffin. »Ich habe mich längst per Stummer Rede bei ihm gemeldet, aber er muss sich erst von seinen hundert Buriwuchen verabschieden.«
Das Umfallen eines Stuhls kündigte die Ankunft unseres Obersten Wissenshüters an.
»Guten Abend, meine Damen und Herren. Es ist sehr nett, dass Sie an mich gedacht haben. Dass Sie für alle diese Leckereien mitgebracht haben, Sir Kofa, zeigt, was für ein guter Mensch Sie sind. Guten Abend, Sir Max -Sie habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Oh, Sie haben ja eine neue Frisur. Ist die jetzt Mode?«
Melifaro hätte beinahe den Halt an meinem Stuhl verloren, Lady Melamori und ich tauschten einen erstaunten Blick, und Sir Kofa schrie vor Ärger sogar kurz auf. Sündige Magister!, dachte ich, wirkt die Tarnung etwa nicht mehr? Kann man mich jetzt doch sofort erkennen?
»Bleib ruhig, Max«, sagte Juffin beschwichtigend. »Und Sie, Sir Kofa, dürften erst recht nicht überrascht sein. Schließlich wissen Sie doch, dass Sir Lukfi alles sieht, wie es ist - nicht, wie es scheint. Wie sonst sollte er all seine Buriwuche auseinanderhalten können?«
»Sir Juffin ist wirklich ein scharfsinniger Mensch. Das habe ich schon immer gesagt«, mischte sich auch Kurusch ein. Juffin nickte zustimmend.
»Trotzdem ist es schade, denn ich halte dieses Mädchen für den Gipfel meiner Kunst und hatte geglaubt, selbst Sir Lukfi damit täuschen zu können«, sagte Kofa.
»Juffin, sind Sie sicher, dass es unter den Leuten aus Kettari keine so scharfsichtigen Menschen wie Sir Lukfi gibt?«, fragte ich erschrocken.
»Soweit ich weiß, gibt es in jenem Teil der Welt nur einen, der Kofas Maskerade durchschauen kann - den Sheriff der Insel Murimach. Und der beschäftigt sich damit, die Haare der Königlichen Iltisse zu zählen. Du kannst also beruhigt sein«, sagte Juffin und wandte sich an Lukfi Penz. »Hast du noch nicht bemerkt, dass unser Max ein Mädchen ist?«
»Ach, jetzt sehe ich, dass er viel längere Haare hat«, sagte Lukfi leichthin. »Gut, dass das keine neue Mode ist. So eine Frisur steht mir nämlich nicht besonders.«
Das spontane Fest gelang ausgezeichnet. Angesichts der Herzlichkeit, mit der Lonely-Lokley und ich verabschiedet wurden, hätte ich jeden Tag irgendwohin reisen mögen.
Sir Juffin opferte den Großteil der Nacht, um Lonely-Lokley und mir zu erzählen, welche Lebensgeschichte er sich für uns ausgedacht hatte. Es konnte ja sein, dass wir auf unserer Reise Neugierige trafen, die sich beim Abendessen über unsere Vergangenheit unterhalten wollten. Ehrlich gesagt hörte ich nur mit halbem Ohr hin, denn Lonely-Lokley war so zuverlässig, dass er nicht ein Wort von der Geschichte des Ehepaars Glama Eralga und Marilyn Monroe vergessen würde.
»Das klingt alles sehr hübsch, Juffin«, sagte ich und sah gedankenverloren in den rosigen Himmel. »Aber offen gestanden verstehe ich noch immer nicht, warum wir nach Kettari fahren.«
»Ehrlich gesagt: Als ich dich nach Cholomi geschickt habe, Max, habe ich dir einige wichtige Informationen vorenthalten. Aber diesmal ist es anders. Du weißt wirklich alles, was ich weiß. Ihr fahrt nach Kettari, damit ich Antwort auf zahlreiche Fragen bekomme. Aber wenn ich euch einen Rat geben darf: Wartet dort besser erst ein paar Tage ab, ehe ihr etwas unternehmt. Ihr solltet durch die Stadt spazieren und euch ein paar Teppiche kaufen. Vielleicht findet das Geheimnis ja zu euch. Ich weiß doch, dass du ein Glückspilz bist, Max. Und wenn nichts dergleichen passiert, müsst ihr eben versuchen, Kettari für einige Tage zu verlassen und dann zurückzukehren. Nur nichts überhasten! Haben wir uns verstanden? Ich hab das Gefühl, es wäre falsch, übereilt zu handeln. Aber jetzt ist es Zeit. Die Karawane bricht in einer Stunde auf. Ihr könnt noch ein Schlückchen nehmen.«
Mit diesen Worten reichte Juffin mir seine berühmte Flasche, und ich nahm genüsslich einen Schluck Balsam, der mich schon manches Mal geheilt hatte und mich auch von Morgenmüdigkeit und anderen Unannehmlichkeiten befreien konnte.
»Nimm, mein Lieber. Es ist auch noch was für dich drin«, sagte ich und reichte die Flasche an Lonely-Lokley weiter.
»Vielen Dank, Marilyn, aber das trinke ich nicht«, antwortete mein offizieller Freund und gegenwärtiger Ehemann.
»•Wie du willst, aber wir sind den ganzen Tag unterwegs.«
»»Es gibt Atemübungen, die schneller und effektiver von Müdigkeit befreien als dieses Gebräu«, sagte Lonely-Lokley.
»Kannst du mir die beibringen?«, fragte ich neidisch.
»Erst, wenn du alle Übungen gelernt hast, die ich dir gezeigt habe.«
»Die kann ich doch schon alle!«
»Denkst du! Wenn es gut läuft, beherrschst du sie in vierzig Jahren.«
»Oje! Aber wie unser Großer Magister Nuflin Moni Mach zu sagen pflegt: »Hoffentlich werde ich diesen Tag nicht erleben.- Na gut - gehen wir, mein Lieber.«
»Los, Leute«, sagte Juffin nickend. »Für Gespräche habt ihr Zeit genug, denn der Weg ist lang. Und bringt mir bitte etwas aus meiner Heimatstadt mit.«
Sir Lonely-Lokley setzte sich mit Schwung ans Steuer des A-Mobils.
»Vielleicht sollten wir die Plätze tauschen?«, meinte ich.
»Du hast eben Kachar-Balsam getrunken, Marilyn, und willst schon ans Lenkrad? Das geht nicht - das hab ich dir schon ein paar Mal gesagt. Meine Liebe, auf unserer Reise werden wir bestimmt noch oft die Plätze tauschen. Bist du eigentlich sicher, dass du dich dem Tempo der anderen anpassen kannst? Wenn wir alle überholen, stehen wir ohne Karawanenführer da. Natürlich wären die anderen darüber schockiert.«
»Schon gut«, meinte ich beschwichtigend. »Anders als unser alter Freund Max ist Lady Marilyn eine vorsichtige Dame. Ich werde mich am Riemen reißen.«
»Ist das ein neues Geheimritual?«, fragte Lonely-Lokley sichtlich interessiert.
»Ja. Ich kann es dir beibringen, Glama, aber das dauert mindestens hundertfünfzig Jahre«, meinte ich triumphierend. Lady Marilyn erwies sich als ebenso tückisch wie mein guter alter Bekannter Max.
Doch schon Sekunden später fürchtete ich, Lonely-Lokley könnte meinen Scherz missverstanden haben. Schuldbewusst lächelte ich ihn an und sagte: »Das war nicht ernst gemeint.«
»Das hatte ich mir schon gedacht. Aber du musst darauf achten, immer mit hoher Stimme zu sprechen, Marilyn. In ein paar Minuten reisen wir nicht mehr allein. Ich würde dir daher raten, auf solche Details zu achten.«
»Du hast Recht, Glama. Keine Sorge.«
Diese Reise mit Sir Schürf, dachte ich, wird meinen Charakter effektiver stählen als die Pädagogik der alten Spartaner.
Als ich ein Dutzend A-Mobile und eine Gruppe von Leuten erblickte, die allesamt reisefertig waren, besserte sich meine Laune. Als Kind war ich oft am Bahnhof, um abfahrenden Zügen nachzusehen, von denen ich glaubte, sie führen in eine andere Welt. Die Züge - so dachte ich -waren aus einer anderen Dimension gekommen und würden nun dorthin zurückkehren. Ich beneidete die Passagiere sehr, wenn sie ihr Gepäck - wie durch die beleuchteten Fenster zu sehen - im Abteil ausbreiteten.
Jetzt hatte ich das gleiche Gefühl wie damals - nur noch stärker. Anders als in meiner Kindheit jedoch träumte ich nicht mehr davon, meine Welt zugunsten einer anderen zu verlassen, sondern freute mich bereits auf die Rückkehr nach Echo. Als elegante Lady Marilyn ging ich ohne Zögern zu der kleinen Gruppe, und Sir Schürf folgte mir.
Minuten später lernten Lady Marilyn und ihr fürsorglicher Begleiter Glama den Karawanenführer Abora Wala kennen, einen nicht eben großen, vorzeitig ergrauten Brillenträger aus Kettari, der durchaus sympathisch wirkte. Wir zahlten ihm gleich acht Kronen, also die Hälfte dessen, was er für seine Dienste in Rechnung stellte. Den Rest sollte er erhalten, wenn wir heil auf dem Hauptplatz von Kettari angekommen waren. Der Rückweg sollte kostenlos sein.
Die nächste halbe Stunde stellten wir uns gegenseitig vor und gewannen erste Eindrücke von den Mitreisenden. Lady Marilyn schlug sich dabei ausgezeichnet. Nicht ein einziges Mal sprach sie mit tiefer Stimme und stets reagierte sie brav auf ihren Namen. Schließlich bat Herr Wala um unsere Aufmerksamkeit: »Ich glaube, wir sind komplett, meine Damen und Herrn. Also können wir starten. Ich fahre vor und hoffe, Sie akzeptieren meine Restaurantwahl. Ich habe nämlich große Erfahrung auf diesem Gebiet - das können Sie mir glauben. Sollte jemand Probleme bekommen, melde er sich bitte per Stummer Rede bei mir. Ich rate Ihnen davon ab, sich von der Karawane zu trennen. Sollten Sie es doch tun, versuchen Sie hinterher bitte nicht, die Reise zu reklamieren. Ich hoffe natürlich, dass es keine Komplikationen gibt. Und damit Gute Fahrt!«
Alle stiegen in ihr A-Mobil. Offen gestanden war ich dankbar, dass Lonely-Lokley mir verboten hatte, mich ans Steuer zu setzen. So nämlich konnte ich die Mosaikgehsteige von Echo und die kleinen Häuser entlang der Straßen bewundern. Ich liebte die Stadt schon so, dass mich der Abschied fast freute, da ich schon die süße Sehnsucht spürte, zurückzukehren.
Dann sah ich die sich vor der Stadt kilometerlang hinziehenden Obstgärten, an deren Stelle irgendwann Felder und Wälder traten. Ich war wie berauscht von all den neuen Eindrücken. Sir Schürf saß schweigend am Lenkrad. Auch in Gestalt von Sir Glama Eralga war er absolut leidenschaftslos. Ich hielt unsere Reise für eine gute Gelegenheit, meine Neugier zu stillen.
»Glama, schweigst du am Steuer lieber, oder magst du dich beim Fahren unterhalten?«, fragte ich vorsichtig.
»Gespräche mit dir, Marilyn, machen mir immer Spaß - genau wie mit meinem guten Freund Max«, antwortete Lonely-Lokley ruhig.
Sündige Magister - das klang ja geradezu herzlich! Täuschte ich mich, oder unterschied sich Sir Glama wirklich vom Schnitter des Lebensfadens?
»Wenn du eine Frage nicht beantworten willst, sag mir bitte Bescheid«, bat ich.
»Was bleibt mir anderes übrig?«, gab er zurück.
»Eigentlich wollte ich nicht über dich sprechen, mein lieber Glama, sondern über meinen Freund Lonely-Lokley.«
»Perfektes Timing, Lady Marilyn - das lobe ich mir. Und nun fragen Sie, Max. Hoffentlich kann ich Ihre Neugier stillen.«
Ich räusperte mich und begann: »Eines Tages fiel Ihr Name im Gespräch mit einem alten Magister, einem Freund Sir Juffins. Kaum hatte der Alte Ihren Namen gehört, nannte er Sie den Verrückten Fischer. Juffin hat dazu nur genickt; ich hingegen war verwirrt, denn ich würde Sie nie und nimmer für verrückt halten.«
»Wir kennen uns noch nicht lange, Marilyn - daher deine Verwunderung. Meine Lebensgeschichte ist - anders als die von Sir Max - kein Geheimnis.«
»Dann schießen Sie mal los«, sagte ich verlegen.
Ehrlich gesagt hatte mir der letzte Satz von Sir Schürf (oder auch von Sir Glama) einen ziemlichen Schrecken eingejagt. Erst hatte Lady Melamori, dann Sir Kofa eine Andeutung über meine dunkle Herkunft gemacht, und nun hieb Sir Schürf in dieselbe Kerbe! Sie alle spürten offenbar, dass etwas mit mir nicht stimmte. Kein Wunder - schließlich waren sie Geheimagenten. Eigentlich aber war das alles Juffins Schuld: Er hätte seinen Leuten nämlich längst reinen Wein einschenken müssen.
»Keine Sorge - ich habe nicht vor, Ihnen meinerseits Fragen zu stellen, Sir Max, denn ich weiß, dass dafür die Zeit noch nicht reif ist«, sagte Lonely-Lokley versöhnlich. »Übrigens solltest du deine Mimik besser kontrollieren, Marilyn, und dafür die Übungen, die ich dir gezeigt habe, wirklich jeden Tag machen.«
»Und zwar vierzig Jahre lang?«, fragte ich betrübt.
»Das kann ich dir nicht genau sagen. Vielleicht stellt sich der Erfolg ja schon früher ein.«
»Lassen wir meine Mimik mal auf sich beruhen, Glama. Erzählen Sie mir jetzt bitte Ihre Geschichte, Sir Lonely-Lokley.«
»Vor genau siebzehn Dutzend Jahren wurde ein Junge namens Schürf Novize im Orden der Löchrigen Tasse. Seine Familie war dem Orden eng verbunden und ließ
dem Jungen keine andere Wahl, aber damals war das ein durchaus beneidenswertes Los. Kaum sechs Dutzend Jahre später wurde der Novize zu einem Jüngeren Magister befördert und arbeitete seither als Fischexperte, war also Aufseher über die Löchrigen Aquarien des Ordens. Soweit ich weiß, hat Juffin Ihnen schon einiges über den Orden der Löchrigen Tasse erzählt, und das will ich nicht wiederholen.«
»Die Mitglieder des Ordens haben sich nur von den Fischen in den Aquarien ernährt und löchriges Geschirr benutzt, das Ihrer berühmten Tasse ähnelte, stimmt's?«
»Wenn man so will ... Jedenfalls erfüllte der Jüngere Magister Schürf Lonely-Lokley einige Jahre all seine Verpflichtungen aufs Beste.«
»Daran habe ich keinen Zweifel.«
»Das sollten Sie aber, Sir Max. Schließlich kennen Sie den Menschen, von dem ich rede, nicht. Ich habe selten einen so maßlosen, launischen und sentimentalen Kerl getroffen wie ihn. Das können Sie mir glauben, denn ich neige eher zu Unterals zu Übertreibungen. Die Ernährung der Magister des Ordens war der Selbstbeherrschung freilich nicht förderlich. Allerdings haben auch Mitglieder anderer alter Orden ungesund gelebt.«
Ich nickte. »Das hat mir Juffin auch erzählt. Ich wäre gern - wenigstens für kurze Zeit - Zeuge dessen gewesen, was in der berüchtigten Epoche der Orden los war.«
»Wenn Sie sich so für die Vergangenheit interessieren, kann ich Ihnen ein Gespräch mit Sir Kofa Joch empfehlen. Anders als ich ist er ein sehr talentierter Erzähler.«
»Unsinn«, meinte ich abwinkend. »Du machst das ganz prima, Glama. Fahr bitte fort.«
»Ich bin ein furchtbarer Erzähler, und so soll es auch sein. Aber Sie interessiert ohnehin weniger der Berichterstatter als das, was er zu erzählen hat«, stellte Lonely-Lokley ungerührt fest. »Ich habe schon gesagt, dass ich früher sehr ungestüm war. Diese Charaktereigenschaft erklärt vielleicht meine sinnlose Tat«, fuhr Schürf fort, unterbrach sich dann aber und blickte mit finsterer Miene auf die Straße.
»Welche Tat denn?«, fragte ich und platzte fast vor Neugier.
»Ich wollte innerhalb kürzester Zeit möglichst kräftig werden und habe deshalb das Wasser all der Aquarien ausgetrunken, auf die ich eigentlich hätte aufpassen sollen.«
Ich konnte mir das Lachen nicht verkneifen und sah Sir Schürf plastisch vor mir, wie er ein riesiges Aquarium nach dem anderen leer trank. Sündige Magister! Wie hatte er nur solche Flüssigkeitsmengen in sich hineinschütten können?
»Verzeih mir, Glama, aber das ist wirklich zu komisch«, kicherte ich etwas später schuldbewusst.
»Verstehe. Natürlich starben alle Fische, und der unbesonnene Jüngling Schürf bekam wirklich ungeheure Körperkräfte, konnte damit jedoch nicht umgehen. Das hätte späteren Generationen eine Lehre sein sollen. Es ist für mich schwierig, weitere Geschehnisse zu beschreiben, da ich nicht mehr weiß, was der dumme Jüngling nach Verlassen seines Ordens alles getrieben hat. Jedenfalls hat mir jemand den Spitznamen Verrückter Fischer verpasst. In der Epoche der Orden hat man sich noch schwer anstrengen müssen, um sich so einen Titel zu verdienen. Und niemand konnte mir verweigern, was ich haben wollte - egal, ob es sich um Frauen, Diener, Geld oder andere Dinge handelte, die mancher zum Glücklichsein braucht. Ich war besessen. An manchen Tagen fand ich Gefallen daran, Menschen zu ängstigen, an anderen zog ich es vor, sie umzubringen. Aber eigentlich fand ich es erniedrigend, unbescholtene Bürger zu töten, und träumte stattdessen davon, das Blut der Großen Magister zu saufen. Ich kam und ging, wie es mir passte, und vollbrachte Wunder, die ich bis heute nicht verstehe, aber die Kehle der Großen Magister blieb meinen Zähnen unerreichbar.«
»Sündige Magister, Schürf - wie konnten Sie so etwas tun?«
Ich wusste zwar, dass unser Lonely-Lokley nicht zu den größten Lügnern im Vereinigten Königreich gehörte, konnte diese Geschichte aber dennoch nicht glauben.
»Marilyn, du hast wieder vergessen, mich Glama zu nennen.«
Der belehrende Ton meines Begleiters erstickte all meine Zweifel an seiner Geschichte.
»Menschen ändern sich, oder?«, fragte ich leise.
»Manche ja«, stellte Lonely-Lokley gelassen fest. »Aber ich bin mit meiner Geschichte noch nicht fertig.«
»Das hatte ich mir fast gedacht.«
»Ich wollte noch mehr Kraft - mehr als alle Magister zusammen, deren Blut ich mir zu trinken ausgemalt hatte. Und eines Tages erschien der Verrückte Fischer in der Residenz des Ordens der Eisenhand, um eine der zwei mächtigen Hände zu rauben, die dort aufbewahrt wurden.«
»Sind das jetzt Ihre Handschuhe?«
»Na ja, eigentlich ist es nur mein linker. Den rechten bekam ich nach einem Kampf mit einem Jüngeren Magister des Ordens, der mich aufzuhalten versuchte und dem ich die Hand abhackte - vergessen Sie bitte nicht, wie ich damals genannt wurde«, fügte er entschuldigend hinzu.
»Abgehackt!?«
»Was gibt es da zu staunen? Im Vergleich zu den sonstigen Untaten, die ich damals beging, war das nicht schlimm.«
»Juffin hat mir mal erzählt, die Mitglieder des Ordens der Eisenhand seien besonders mächtig gewesen. Wurden Sie nicht verfolgt?«
»Wissen Sie - wenn man das Wasser von zwölf Dutzend Aquarien austrinkt, bekommt man eine Kraft, die für sechshundert Mitglieder meines Ordens hätte reichen sollen. Es war also nicht leicht, mich aufzuhalten. Und als ich die Ihnen bekannten Handschuhe trug, war ich noch gefährlicher. Aber irgendwann wurde selbst ich gestoppt.«
»Und wer hat das geschafft? Unser Juffin vielleicht?«
»O nein, Sir Juffin ist erst einige Zeit später in mein Leben getreten. Den Verrückten Fischer haben zwei Tote aufgehalten - die früheren Besitzer der von mir geraubten Hände nämlich. Schon in der ersten Nacht sind sie mir im Traum erschienen, und damals war ich im Schlaf noch fast schutzlos. Sie kamen, um mich mitzunehmen und in eine Art Fegefeuer zu schicken, in dem ich endlos hätte leiden müssen. Ich kann Ihnen das nicht genau erklären, denn ich kenne mich damit nicht gut aus, aber ich hoffe, Ihre Fantasie reicht, um sich vorzustellen, was mir damals drohte.«
»Zu den Magistern mit meiner Vorstellungskraft«, murmelte ich. »Nach diesen Worten werde ich nicht so bald schlafen können.«
»Das beweist mir, dass du meine Probleme annähernd verstehst, Marilyn«, sagte Sir Lonely-Lokley nickend. »In jener Nacht jedenfalls hatte ich großes Glück: Ein starker Schmerz ließ mich erwachen. Das alte Haus, in dem ich schlief, begann einzustürzen, und ein Stein war mir auf den Kopf gefallen. Vielleicht wunderst du dich, warum das Haus gerade in diesem Moment einzustürzen begann. Juffin kann dir bei Gelegenheit einige Details seiner misslungenen Jagd auf den Verrückten Fischer erzählen. Damals gab es den Kleinen Geheimen Suchtrupp noch nicht, aber Juffin hat manchmal persönliche Befehle des Königs oder des Ordens des Siebenzackigen Blattes erfüllt. Er hatte einen sehr einschüchternden Ruf, der sicher verdient war, doch mir hat der Freiwillige aus Kettari - wie man ihn damals nannte - das Leben gerettet. Ich schaffte es, das Haus zu verlassen, ohne zu begreifen, was los war. Mich beschäftigte nämlich ein anderes Problem: Mir war klar, dass der nächste Traum mein letzter wäre. Darum entschied ich mich, so lange wach zu bleiben, wie es nur ging, und dann Selbstmord zu begehen, um so der Rache der toten Magister zu entkommen. Ich hab es geschafft, fast zwei Jahre ohne Schlaf zu leben.«
»Was!?«
Jeder Satz von Sir Schürf versetzte mich in größeres Staunen.
»Fast zwei Jahre«, bestätigte Lonely-Lokley. »Dieser Zustand konnte allerdings nicht ewig dauern, denn ich war auch ohne meine Schlafprobleme gestört genug, und die Schlaflosigkeit hätte mich beinahe in ein Monster verwandelt. Damals hat Sir Juffin Halli - wie ich später erfuhr - jeden meiner Schritte verfolgt und auf den besten Moment gewartet ...«
»... um was zu tun?«
»Nein, Marilyn, er wollte mich nicht umbringen. Weißt du, in der Nacht, in der er mir das Leben rettete, das ich mir hatte nehmen wollen, sagte er mir - und Sir Juffin irrt sich selten! -, eine Fügung habe ihn auf mich aufmerksam gemacht. Und statt mich zu töten, hat er mich gerettet - einen Menschen, der ob seiner Taten eigentlich schon gerichtet war.«
»Sündige Magister - klingt das romantisch!«, seufzte ich.
»Stimmt. Natürlich hatte Sir Juffin das perfekte Timing: Er ist genau in dem Moment aufgetaucht, als ich wusste, dass meine Schlaflosigkeit langsam zu Ende ging, mein Leben also so gut wie vorbei war. Eigentlich habe ich mich damals aufs Sterben gefreut: Der Tod erschien mir als die beste Lösung. Und als mich der Freiwillige aus Kettari überraschte, empfand ich eine unvergleichliche Freude: Ich sollte im Kampf sterben, und das ist viel lustiger als Selbstmord.«
»Hast du gerade -lustiger« gesagt, Glama?«, fragte ich und dachte, ich hätte mich verhört.
»Ja. Anders als der gegenwärtige Lonely-Lokley liebte der Verrückte Fischer Spaß. Aber es gab keinen Kampf -Sir Juffin hat mich einfach in Tiefschlaf versetzt. Vermutlich war das für ihn nicht schwer, da ich ohnehin von der Sehnsucht nach Schlaf besessen war. Juffin stieß mich probeweise in die Arme des Todes und ließ mich kosten, wie es war, eine Ewigkeit ohnmächtigen Schmerzes zu erleben. Dann riss er mich wieder aus diesem Alptraum und erklärte, ich hätte nur eine Chance.«
»Nämlich?«
Ich kannte mich mit den Wundern dieser Welt noch nicht gut aus, doch die Kraft der hiesigen Alpträume hatte ich bereits am eigenen Leibe erfahren.
»Es war ganz einfach: Da alle den Verrückten Fischer suchten, musste ich ein anderer werden. Eine Metamorphose, wie wir zwei sie vor unserer Abreise durchgemacht haben, wäre zu wenig gewesen. Die toten Magister lassen sich nämlich nicht so leicht betrügen. Sir Juffin brachte mich an einen seltsamen Ort, gab mir ein paar Ratschläge und verschwand.«
»An was für einen Ort denn, Sir Schürf?«, fragte ich, und mein Herz hätte beinahe aufgehört zu schlagen.
»Keine Ahnung. Es ist unmöglich, sich an Dinge zu erinnern, die nicht wahrnehmbar sind.«
»Und welche Ratschläge hat er dir gegeben, Glama? Verzeih bitte meine Aufdringlichkeit, aber ich wüsste wirklich gern, was man einem Menschen in deiner Lage noch sagen konnte.«
»Nichts Besonderes. Er hat mir nur erklärt, wer ich bin und was ich tun sollte. Und er hat mir ein paar von den Atemübungen gezeigt, die ich dir beigebracht habe. Vergiss bitte nicht, dass ich damals über gewaltige Kräfte verfügte und imstande war, enorme Taten zu vollbringen. Juffin hat mir lediglich ideale Bedingungen dafür verschafft, meine Kräfte zu entwickeln. Ich weiß nur noch, dass ich mich dort einzig mit diesen Übungen beschäftigen konnte. Es war sogar unmöglich zu essen, zu schlafen oder zu denken. Zeit im herkömmlichen Sinn gab es dort auch nicht: Die Ewigkeit glich einem Moment - anders kann ich es nicht sagen. Ich habe nicht mal bemerkt, wann der "Verrückte Fischer starb. Der junge Mann, der ich mal war, war plötzlich einfach verschwunden, und an seine Stelle trat der Mensch, den du als Schürf Lonely-Lokley kennst. Ich stelle keine besonderen Ansprüche an meine neue Person. Sie soll mich nur nicht dabei stören, mich auf die wichtigen Dinge zu konzentrieren.«
»Unglaublich«, flüsterte ich. »Sündige Magister - wer hätte das gedacht!«
»Es klingt wirklich unfassbar«, stellte Sir Schürf ungerührt fest. »Eines Tages konnte ich den seltsamen Ort verlassen und nach Echo zurückkehren. Sir Juffin hatte viel Arbeit für mich: In der Endphase der Traurigen Zeit hatte ein Mensch mit meinen Händen übergenug zu tun. Irgendwann das Blut Großer Magister zu trinken, war längst kein Wunsch mehr, sondern Realität, doch das bereitete mir keine Gewissensbisse, da es meiner neuen Persönlichkeit egal war, ob ich tötete oder nicht. Verzeih, Marilyn, aber ich war nie ein guter Philosoph.«
Ich schwieg schockiert. Die vertraute Welt, in der ich mich schon so hübsch eingerichtet hatte, zerbrach vor meinen Augen. Wo war der unfehlbare, zuverlässige und unerschütterliche Sir Schürf geblieben? Und als was mochten sich meine übrigen Kollegen erweisen? Oder Sir Juffin Halli, der sich mir als zur Vernunft gekommener Freiwilliger aus Kettari präsentiert hatte? Was wusste ich über sie? Doch nur, dass sie nette Leute waren und es Spaß machte, mit ihnen Zeit zu verbringen. Welche Überraschungen mochten sie für mich noch in petto haben?
»Marilyn, meine Liebe, du solltest wieder mal die Atemübungen machen, die ich Sir Max beigebracht habe«, sagte mein Begleiter ruhig. »Man soll sich nicht über Sachen aufregen, die vor einer Ewigkeit passiert sind - und zwar nicht uns.«
»Da hast du vollkommen Recht, Glama«, pflichtete ich ihm brav bei und begann mit meiner Gymnastik. Nach zehn Minuten war ich wirklich total ruhig. Diese neue, fantastische Welt offenbarte mir allmählich ihre Geheimnisse, und das war die Hauptsache. Allerdings konnte ich froh sein, dass mir nicht alle meine Kollegen gleichzeitig ihr Schicksal gebeichtet hatten.
»Herr Abora Wala hat sich gerade per Stummer Rede bei mir gemeldet«, sagte Lonely-Lokley. »Die Karawane macht jetzt Mittagspause. Heute Morgen hast du dich großartig geschlagen, Marilyn - weiter so! Allerdings wollte ich schon lange sagen, dass Sir Max nach seinen Übungen beim Sprechen sehr laut atmet und nach Luft schnappt. Marilyn, du solltest intensiv an der Bekämpfung dieser Marotte arbeiten.«
»Das mach ich schon«, murmelte ich. »Aber klinge ich wirklich so furchtbar?«
»Es wird im Laufe der Zeit schon besser werden. Aber jetzt halten wir. Und damit wechseln wir auch das Gesprächsthema, einverstanden?«
»Sicher. Unser Karawanenführer hat übrigens ein gutes Zeitgefühl. Ich hab richtig Hunger.«
»Sir Wala hat kein Zeitgefühl. Er hält einfach nur vor den Restaurants, deren Wirte ihm für neue Gäste Provision zahlen.«
Ich lachte laut.
»Woher willst du das wissen, Glama?«
»Ich hab ihm beim Kennenlernen tief in die Augen geschaut.«
»Verstehe. Aber wie auch immer - diese Pause kommt genau zur richtigen Zeit. Ich hab einen Bärenhunger.«
»Na dann los«, meinte Lonely-Lokley und half mir ritterlich beim Aussteigen.
Das Mittagessen war so lala. Als künftiger Gourmet und Lieblingszögling von Sir Kofa Joch musste ich mich erst wieder an einfache Kost gewöhnen, und die Mitreisenden erwiesen sich als ausgesprochen banale, ja stinklangweilige Leute. Verwundert stellte ich fest, dass meine neue Heimat nicht vollkommen war. Aber ich glaube, in allen Welten können die Einheimischen ziemlich anstrengend sein. Von den Gesprächen mit so vielen schlichten Gemütern bekam ich Kopfschmerzen, aber zum Reisen gehören nun mal lausige Mahlzeiten und langweilige Unterhaltungen.
Nach dem Essen konnte ich Lonely-Lokley davon überzeugen, dass auch ich unser A-Mobil steuern durfte. Er hatte das eigentlich nicht riskieren wollen, weil sein gesunder Menschenverstand ihm nicht erlaubte, mir zu vertrauen, doch Lady Marilyn hatte ihn gar zu inständig darum gebeten!
Nach einer Stunde im Schneckentempo erntete ich ein Lob.
»Ich hätte nicht erwartet, dass du dich so gut beherrschen würdest», stellte mein strenger Begleiter beifällig fest.
Das war das unverhoffteste Kompliment, das ich je bekommen hatte.
»Warum staunst du eigentlich so sehr, Glama?«, fragte ich und zuckte die Luxusachseln von Lady Marilyn. »Wenn ich weiß, dass etwas verboten ist, kann ich mich daran halten.«
»Darum geht es nicht. Dieses A-Mobil fährt so schnell, wie sein Fahrer es wünscht, und unsere Wünsche entsprechen nicht immer dem, was erforderlich ist.«
»Im Ernst? Das ist ja ganz was Neues!«
»Wusstest du das etwa nicht?«, fragte Lonely-Lokley ehrlich erstaunt. »Ich dachte, du würdest deine kindische Geschwindigkeitssucht befriedigen wollen.«
»Na ja, ich dachte immer, ich wäre nicht so vorsichtig wie die anderen und könnte darum Höchstgeschwindigkeit fahren.«
»Genau das meinte ich, Marilyn, als ich dich nicht ans Steuer lassen wollte. Es gibt hier keine Höchstgeschwindigkeit. Alles passt sich den Wünschen des Fahrers an. Aber ich habe Ihre Selbstbeherrschung unterschätzt, Sir Max, und muss mich dafür wohl entschuldigen.«
»Unsinn, Glama. Ich wusste einfach nicht, wie es in dieser Gegend funktioniert.«
Ich seufzte und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Ziemlich viele seltsame Neuigkeiten für einen Tag!
»Hauptsache, du kannst dich beim Fahren beherrschen, Marilyn.«
Bis Sonnenuntergang fuhren wir schweigend weiter. Lonely-Lokley hatte offenbar sein Limit von dreihundert Worten pro Tag erschöpft, und ich fürchtete mich, weitere Fragen zu stellen. Eine Beichte täglich reichte mir völlig!
Die Nacht verbrachten wir in einem Motel. Der Karawanenführer ging in eine kleine Bar, in der Mau-Mau gespielt wurde, und brachte einige unserer Mitreisenden dazu, sich mit ihm zu messen.
»Auch das ist ein lohnendes Geschäft«, meinte Lonely-Lokley mit Blick auf unsere Karten spielenden Reisegefährten. »Dieser Wala übernachtet mit seiner Gruppe zweimal auf dem Hinweg nach Kettari und zweimal auf dem Rückweg, kassiert also viermal Provision. Ich glaube, unser Karawanenführer ist ein ziemlich reicher Mann.«
»Ob er obendrein noch ein Falschspieler ist?«
»Glaub ich nicht. Die Leute aus Kettari sind leidenschaftliche Spieler - das ist ihre Schwäche und zugleich ihre Stärke. Sie schrecken nicht davor zurück, die klügsten Einwohner von Echo beim Kartenspiel auszuplündern, aber ich denke nicht, dass sie dabei betrügerische Tricks anwenden. Und jetzt müssen wir ins Bett - der morgige Tag wird hart.«
»Sicher«, antwortete ich ohne rechte Überzeugung. Ob ich nach so einem Tag würde einschlafen können, war noch die Frage.
»Weißt du, Marilyn«, sagte Lonely-Lokley und kroch dabei unter seine Bettdecke, »wenn du nicht schlafen kannst, wäre es wohl keine tolle Idee, das Zimmer zu verlassen. Es sieht nicht gut aus, wenn hübsche verheiratete Frauen die Nacht allein in einer Bar verbringen. Andere könnten denken, dass mit uns etwas nicht stimmt.«
»Darauf wär ich nie gekommen! Ich darf keinen Nachtspaziergang machen? Ach du grüne Neune! Wenn sich komische Typen an Lady Marilyn heranmachten, müsste ich sie bespucken, und das würde meinen bescheidenen Vorstellungen von konspirativer Arbeit zuwiderlaufen.«
»Ich fürchte, ich muss dich erneut um Verzeihung bitten. Gute Nacht, Marilyn.«
Mein Begleiter schnarchte leise. Ich kroch unter meine Decke und begann zu grübeln. Nach unserem bemerkenswerten Gespräch hatte ich mancherlei zu bedenken. Auch konnte ich die Zeit nutzen, einige Zigaretten unterm Kissen hervorzuzaubern.
Bei Sonnenaufgang schlief ich endlich ein, doch schon eine Stunde später schob mir der makellos gekleidete Sir Schürf frische Brötchen und Kamra unter die Nase.
»Tut mir leid, Marilyn, aber wir fahren in einer halben Stunde. Du musst wahrscheinlich deinen Kachar-Balsam-Vorrat anbrechen.«
»Lieber nicht. Ich schlaf besser noch eine Runde im A-Mobil«, sagte ich und hob mühsam den schweren Kopf. »Aber vielen Dank für deine Fürsorge, Glama. Ich glaube, deine Frau darf sich glücklich preisen - ich meine Ihre echte Frau, Sir Schürf.«
»Das hoffe ich doch«, stellte Lonely-Lokley gelassen fest. »Weißt du, Marilyn, ich habe eine seltsame Neigung: Ob es sich nun um meine echte Frau handelt oder nicht - ich bringe euch beiden Kamra ans Bett.«
»Sündige Magister - ist das ein Scherz gewesen?«
»Nein, ich habe nur eine Tatsache festgestellt. Und wenn du dich noch waschen willst, solltest du dich beeilen.«
»Natürlich will ich das«, sagte ich und stürzte meine Kamra auf einen Zug herunter. Hunger hatte ich keinen.
Es gibt nichts Schlimmes, das nicht auch sein Gutes hätte: Ich setzte mich in den Fond unseres Wagens und schlief so fest, dass wir die eintönigen Ebenen im Westen von Uguland passierten, ohne dass ich etwas davon mitbekommen hätte.
Sir Schürf versuchte, mich zum Mittagessen zu überreden, doch ich meinte nur genervt: »Sag den Herrschaften, die Dame sei unpässlich.« Kaum hatte ich das gebrummt, landete ich wieder in einem wunderbaren Traum.
Kurz vor Sonnenuntergang erwachte ich - schon lange war ich nicht mehr so glücklich, ruhig und hungrig zugleich gewesen. Sir Lonely-Lokley merkte schnell, dass ich wach war.
»Ich hab ein paar Brötchen aus dem Restaurant mitgenommen, in dem wir gegessen haben«, meinte er. »Ich glaube, das war eine kluge Entscheidung.«
»Und wie, mein Hellseher!«, sagte ich dankbar. »Vorausgesetzt, die Dinger sind essbar.«
»Die hiesige Küche unterscheidet sich deutlich von der hauptstädtischen«, bemerkte Sir Schürf. »Doch man soll die Gelegenheit nicht verpassen, etwas Abwechslung in sein Leben zu bringen.«
»Ich bin da konservativ«, sagte ich mit vollem Mund. »Soll ich dich vielleicht am Steuer ablösen, Glama? Ich nehme an, du vertraust mir noch immer.«
»Natürlich. Du kannst gern ans Lenkrad, obwohl ich eigentlich nicht müde bin.«
»Man sollte aber nicht die Gelegenheit verpassen, etwas Abwechslung in sein Leben zu bringen - wenn du mir erlaubst, dich zu zitieren.«
Lady Marilyn machte es sich auf dem Fahrersitz bequem und zündete sich erst mal eine Zigarette an. Ich brannte darauf, die Ergebnisse meiner Nachtarbeit in Rauch aufzulösen. Sir Lonely-Lokley wirkte unruhig.
»Ich weiß nicht, woher die seltsame Neigung zu rauchen kommt, aber ich finde, man sollte sie vor fremden Augen verstecken. Was sich Sir Max als Träger des Todesmantels erlauben kann, darf die einfache Bürgerin Lady Marilyn bestimmt nicht.«
»Erstens bin ich eine Fremde, falls du dich noch daran erinnerst, und zweitens sieht uns jetzt doch niemand.«
»Jetzt nicht, aber in der Pause ...«
»Ich bin doch kein Idiot«, antwortete ich empört. »Sie glauben doch wohl nicht, dass ich vor anderen rauchen werde.«
»Vorbeugen ist besser als heilen. Außerdem solltest du daran denken, deine Kippen zu beseitigen, Marilyn«, sagte mein strenger Begleiter schnippisch und zuckte die Achseln. »Sei doch nicht immer gleich so eingeschnappt. Und vergiss bitte nicht, dass du mich duzen sollst. Außerdem bist du zurzeit eine Idiotin, kein Idiot. Daran solltest du wirklich denken.«
Ich lachte laut los. Unser Dialog war herrlich. Nachdem ich mich wieder beruhigt hatte, beseitigte ich sorgfältig meine Kippen. Sir Lonely-Lokley ist der Klügste aller Sterblichen, und ich bin ein leichtsinniger Dummkopf, der sich mit konspirativer Tätigkeit kaum auskennt.
Wir bezogen irgendwo in der Grafschaft Schimara Quartier, und unser cleverer Karawanenführer begann gleich wieder, Mau-Mau zu spielen. Sir Schürf und ich aßen etwas Exotisches, das für meinen Geschmack zu fett und zu scharf war, und gingen dann auf unser Zimmer.
Erstaunt stellte ich fest, dass nicht alle Bewohner des Vereinigten Königreichs in großen Räumen leben. Unser Quartier bot kaum mehr Platz als die Hotelzimmer meiner Heimat, und wir mussten uns ein Klappbett teilen. Verlegen sah ich Lonely-Lokley an.
»Sieht aus, als müssten wir Löffelchen machen, lieber Glama.«
»Das wird unbequem werden«, stimmte Sir Schürf mir widerwillig zu. »Aber da es nun mal sein muss, kann ich dich an meinen Träumen teilhaben lassen. Wenn man dicht beieinanderliegt, geht das ganz leicht.«
»Wie das?«, fragte ich überrascht. »Soll ich deine Träume miterleben, Glama? Das klappt schon deshalb nicht, weil Lady Marilyn den ganzen Tag geschlafen hat.«
»Wenn zwei Menschen einen Traum teilen, schlafen sie zugleich ein«, erklärte Schürf. »Ich schläfere dich ein und weck dich auch wieder. Im Voraus kann ich nicht genau sagen, wessen Traum wir sehen: deinen, meinen oder eine Art Mischtraum. Das hängt nicht von uns ab. Aber ich schätze, das ist eine gute Lösung, weil wir morgen nach dem Mittagessen Kettari erreichen sollen und beide dann lange wach bleiben müssen. Soweit ich mich erinnern kann, hat uns Sir Juffin gebeten, den Weg dorthin genau zu beobachten.«
»Stimmt. Hast du eigentlich angenehme Träume, Glama? Nach dem, was mir ein gewisser Lonely-Lokley neulich erzählt hat ...«
»Ich würde dir nie vorschlagen, meine Alpträume zu teilen, doch zum Glück haben die mich längst verlassen.«
»Ich hingegen kann für meine Träume nicht haften«, seufzte ich. »Manchmal passieren mir im Schlaf fast unerträgliche Dinge. Bist du eigentlich risikofreudig, Glama?«
»Es gibt ja kein Risiko, weil ich für das Aufwachen zuständig bin. Leg dich hin, Marilyn - wir sollten die kostbare Zeit nicht verplempern.«
Ich zog mich rasch aus und stellte erneut fest, dass mein Körper hager wie früher war und keinen Deut an die illusionäre Weiblichkeit der prächtigen Lady Marilyn erinnerte. Tja, jetzt musst du deinen Pyjama anziehen,
dachte ich belustigt. Du willst doch wohl nicht nackt durch die Träume deines Freundes Schürf geistern. Das wäre wohl etwas unhöflich.
»Am besten, unsere Köpfe berühren sich«, stellte Lonely-Lokley nüchtern fest. »Was das angeht, bin ich aber kein Könner.»
»Ach so«, sagte ich und schob pflichtbewusst meinen Kopf zu ihm rüber. »Es wird auch nicht leicht sein, einen blitzwachen Menschen wie mich einzuschl ...«
Ich beendete den Satz nicht, weil ich gähnen musste und dann sofort bereit war, die Träume meines Begleiters zu teilen.
Allerdings war ich der Vorführer unseres seltsamen kleinen Kinos. In dieser Nacht durchlebten wir meine Lieblingsträume: Wir sahen eine Stadt in den Bergen, deren einziges Verkehrsmittel eine Drahtseilbahn war; wir gingen durch einen großen Garten im englischen Stil, der immer menschenleer war,- wir saßen am Strand und blickten auf ein mächtig anrollendes, dunkles Meer.
Ich spazierte an diesen wunderschönen Plätzen herum und fragte meinen Begleiter immer wieder: »Ist es hier nicht herrlich?« - »Das ist es«, antwortete ein Mann, der seltsamerweise weder meinem Freund Schürf noch dem Verrückten Fischer oder Sir Glama Eralga - dem fiktiven Gatten der fiktiven Lady Marilyn - ähnlich war.
Bei Sonnenaufgang erwachte ich noch ruhiger und ausgeglichener als sonst.
»Vielen Dank für den wunderbaren Ausflug«, sagte ich und lächelte Lonely-Lokley an, der sich gerade die blaue Skaba von Sir Glama anzog.
»Ich muss mich bei dir bedanken, weil unsere Träume Sir Max gehörten. An so schönen Orten war ich noch nie.
Das hätte ich nicht mal in den kühnsten Träumen von Ihnen erwartet, Max.«
»Ich heiße doch Marilyn«, sagte ich lächelnd. »Sündige Magister, Lonely-Lokley - selbst Sie machen mitunter Fehler!«
»Manchmal lohnt sich das, um besser verstanden zu werden«, meinte Schürf ein wenig rätselhaft und ging sich waschen.
»Wie auch immer - ohne deine Hilfe hätte ich das nicht geschafft, Glama. Auf eigenen Wunsch hätte ich dort nicht hingeraten können«, rief ich ihm nach. Dann meldete ich mich per Stummer Rede in der Küche, damit der arme Lonely-Lokley kein Tablett zu schleppen brauchte.
Die Reise war von prächtigen Frühlingsmorgen und unendlichen Wäldern geprägt, von elend langen Mittagessen in abgelegenen Wirtshäusern, von stets gleich schlecht schmeckenden Gerichten und langweiligen Monologen von Reisegefährten, denen ich höchstens zehn Worte entgegnete. Ich fühlte mich zu wohl und ausgeglichen, um die Stille durch dummes Gerede zu stören.
»Wann erreichen wir eigentlich Kettari?«, fragte Lonely-Lokley, als wir endlich mit dem Mittagessen fertig waren. Herr Abora Wala zuckte gedankenverloren die Achseln.
»Das lässt sich nicht genau sagen. Ich schätze, wir brauchen noch eine bis anderthalb Stunden. Wissen Sie, in diesem Teil der Grafschaft Schimara sind nicht alle Straßen in gutem Zustand. Vermutlich müssen wir einen Umweg machen. Aber kommt Zeit, kommt Rat.«
»Tolle Antwort«, murmelte ich, als ich auf den Beifahrersitz kletterte. »Kommt Zeit, kommt Rat - ausgezeichnet! Noch nie bin ich so erschöpfend informiert worden.«
»Bist du nervös, Lady Marilyn?«
»Ich? Wie kommst du denn darauf? Das bin ich zwar oft, doch heute auf keinen Fall.«
»Aber ich«, gab Lonely-Lokley unerwartet zu.
»Sündige Magister - das hätte ich nicht für möglich gehalten.«
»Ich auch nicht, aber ...«
»Wir Menschen sind seltsame Wesen«, stellte ich fest. »Man weiß nie, was uns widerfährt.«
»Da hast du Recht, Marilyn«, sagte Sir Schürf nickend.
Ich musste wieder mal über meinen seltsamen Namen kichern, und wir fuhren weiter. Als Beifahrer hatte ich Gelegenheit, mir in aller Ruhe die Gegend anzuschauen und einen Vorgeschmack des Geheimnisses zu bekommen, das uns erwartete.
Die Landschaft wirkte ganz gewöhnlich, soweit sich das von einer Umgebung sagen lässt, die man zum ersten Mal sieht. Nach anderthalb Stunden war mir herzlich langweilig, und meine Aufmerksamkeit ließ deutlich nach. Dann aber bog unser Karawanenführer plötzlich von der Hauptstraße auf eine verdächtig schmale Piste ab.
Nach ein paar Minuten auf einer von Schlaglöchern zerfressenen Strecke bogen wir wiederum ab. Der neue Weg erwies sich als recht erträglich. Nach ein paar sanften Bodenwellen stieg er unerwartet steil an und machte dabei eine ziemlich gefährliche Kurve. Rechts sah ich einen Felsen, der mit bläulichem Gras bewachsen war, links gähnte ein Abgrund. Jetzt hätte ich Lonely-Lokley unter keinen Umständen am Steuer ablösen mögen. Verflixt -ich hatte tatsächlich Höhenangst!
Ich erinnerte mich der berüchtigten Atemübungen und probierte, meiner Angst dadurch Herr zu werden. Sir Schürf warf mir einen erstaunten Seitenblick zu, sagte aber keinen Ton. Nach einer halben Stunde war meine Angst überstanden, was freilich nicht den Atemübungen zu danken war. Vielmehr wand der Weg sich nun durch eine Schlucht, und das vermittelte mir ein seltsames Gefühl von Geborgenheit.
»Ich habe mich gerade per Stummer Rede bei Herrn Wala gemeldet. Er hat gesagt, wir brauchen noch eine bis anderthalb Stunden nach Kettari«, meldete Lonely-Lokley gelassen.
»Das hat er doch schon heute Mittag gemeint«, murmelte ich.
»Na ja, unter diesen Umständen wundert mich das nicht. Hier sieht es ziemlich merkwürdig aus, stimmt's?«
»Ziemlich? Sündige Magister, hier sieht es extrem merkwürdig aus! Soweit ich unseren Karawanenführer verstanden habe, nimmt er diesen Weg mehrmals im Jahr. Irgendwann sollte er doch wohl wissen, wie lange die Reise dauert.«
»Das sehe ich auch so.«
»Kommt Zeit, kommt Rat«, meinte ich grinsend. »Steht diese Devise womöglich auch auf dem Stadtwappen von Kettari? Na ja, was Juffin angeht, gilt sie eigentlich nicht. Am besten melde ich mich mal per Stummer Rede bei ihm. Wir können uns zwar noch keiner Ermittlungsergebnisse rühmen, aber ich will wenigstens über seinen Landsmann schimpfen.«
Also versuchte ich, Juffin Halli zu erreichen, doch das klappte zu meinem Erstaunen nicht. Es war wie damals, als ich in dieser Welt noch neu und unerfahren war und die Stumme Rede so schlecht beherrschte wie ein überforderter Erstklässler das Einmaleins. Irritiert schüttelte ich den Kopf und probierte es erneut. Nach dem sechsten erfolglosen Versuch meldete ich mich per Stummer Rede bei Lonely-Lokley, um auszuprobieren, ob ich mich überhaupt noch auf diesem Wege verständigen konnte.
»Hören Sie mich, Sir Schürf - oder Glama, wie man dich hier auch nennt, Liebster?«
»Langweilst du dich, Marilyn? Du solltest vielleicht ...«
»Ich kann Sir Juffin nicht erreichen!«, unterbrach ich ihn. »Kannst du dir das vorstellen?«
»Nein. Ich hoffe, das ist kein Scherz.«
»Zu den Magistern mit dir! Ich habe jetzt Besseres zu tun, als dumme Witze zu reißen. Versuch du lieber mal, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Vielleicht stimmt ja mit mir etwas nicht.«
»Na schön, übernimm das Steuer. Das muss ich unbedingt klären. Solche Dinge dürfen nicht passieren.«
»Stimmt«, nickte ich düster und setzte mich ans Lenkrad.
Inzwischen hatten wir die Schlucht verlassen und waren wieder ein gutes Stück gestiegen und erneut an eine zähnefletschende Kluft gelangt, die gleich rechts der Straße abfiel. Ich riss mich zusammen und konzentrierte mich auf den Weg, da ich Lonely-Lokley unmöglich gestehen konnte, Höhenangst zu haben. Lieber hätte ich uns beide umgebracht!
Mein Begleiter schwieg die nächsten zehn Minuten,
und ich wartete geduldig. Womöglich spricht er gerade mit Juffin, dachte ich. Natürlich spricht er mit ihm - und zwar ausführlich, wie es für ihn typisch ist. Dass es bei mir nicht klappt, passiert nun mal gelegentlich.
»Es herrscht Funkstille«, stellte Lonely-Lokley schließlich fest. »Ich habe nicht nur versucht, Sir Juffin zu erreichen. Außer ihm schweigen auch meine Frau, Kofa Joch, Melifaro, Lady Melamori und Polizeihauptmann Schichola. Ich habe allerdings kein Problem, Kontakt zum Karawanenführer aufzunehmen. Er hat mir aufs Neue bestätigt, dass wir in etwa einer bis anderthalb Stunden in Kettari sind. Ich glaube, ich sollte weiter versuchen, jemanden in Echo zu erreichen. Das ist wirklich eins der seltsamsten Abenteuer meines Lebens.«
»Zum Teufel!«
Mehr fiel mir nicht ein. Zum Glück richtete Lonely-Lokley seine Aufmerksamkeit nicht auf dieses fremde Wort. Ich hätte keine Lust gehabt, ihm zu erklären, was ein Teufel ist.
Einige quälende Minuten vergingen, und ich dachte kaum mehr an die Gefährlichkeit unserer Strecke. Jetzt, da ich mich mit Problemen herumzuschlagen hatte, die viel gravierender waren, erwies sich meine Höhenangst als eher dumme Angewohnheit.
»Ich hab es noch mal versucht. Alle haben geschwiegen - bis auf Sir Lukfi Penz, der sich sofort gemeldet hat«, verkündete Lonely-Lokley unerwartet. Er klang so ruhig, als würden wir uns übers Mittagessen unterhalten. »Im Haus an der Brücke ist alles in Ordnung. Das Problem liegt also bei uns. Du kannst dich jetzt mit Lukfi unterhalten. Ich glaube, Sir Juffin sitzt neben ihm.«
»Dieses Spiel nennt man Stille Post«, sagte ich und lachte erleichtert.
»Welches Spiel? Was redest du denn da?«
»Vergiss es und setz dich ans Steuer, mein Freund.«
Erneut tauschten wir die Plätze. Innerlich zitternd meldete ich mich bei Lukfi Penz, doch diesmal klappte alles bestens.
»Guten Tag, Lukfi. Ist Sir Juffin in der Nähe?«
»Guten Tag, Sir Max. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue, von Ihnen zu hören. Sir Schürf hat mir gesagt, Sie beide können niemanden außer mir per Stummer Rede erreichen. Finden Sie das nicht etwas seltsam?«
»Natürlich«, meinte ich und konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Tut mir leid, dass wir Ihnen so viele Probleme bereiten. Lukfi, übermitteln Sie Sir Juffin bitte wortgetreu, was ich Ihnen jetzt sage, und geben Sie mir seine Antwort möglichst genau wieder. Schaffen Sie das?«
»Natürlich, Sir Max. Und machen Sie sich keine Sorgen - Sie bereiten mir keine Probleme. Das ist für mich schmeichelhaft und ... interessant. Die Beteiligung am Gespräch zwischen Ihnen und Sir Juffin, meine ich.«
»Das freut mich, Sir Lukfi«, sagte ich und berichtete die wenigen, aber überaus seltsamen Ereignisse des Tages.
»Sir Juffin bittet Sie, Ihren Weg genau zu schildern -ab dem Zeitpunkt, als Sie von der Hauptstraße abgebogen sind.«
In aller Kürze beschrieb ich zuerst die schmale Ruckelpiste, dann die Straße in den Bergen, die bedrohlichen, mit Gras bewachsenen Felsen und die tiefe Kluft,
die mal links, mal rechts der Straße aufgetaucht war. Nach kurzem Überlegen fügte ich hinzu, der Karawanenführer habe uns auf die einfache Frage, wie weit es noch nach Kettari sei, seltsam nichts sagende Antworten gegeben.
«Sir Juffin lässt Ihnen ausrichten, Max, dass er fast vierhundert Jahre in Kettari gelebt und mehrmals ganze Räuberbanden durch die dortigen Wälder geführt hat. Er kennt jeden Stein im Umland und hat dort nie etwas gesehen, das dem ähnelt, was Sie gerade beschrieben haben«, berichtete Lukfi. »Er sagt außerdem ... Sündige Magister, das darf doch nicht wahr sein!«
Damit war die Verbindung unterbrochen. Ohne große Hoffnung versuchte ich, den Kontakt zu Sir Lukfi erneut herzustellen. Erwartungsgemäß klappte es nicht.
»Jetzt schweigt auch Lukfi Penz«, meldete ich Lonely-Lokley finster. »Sir Juffin hat die Geschichte unserer Reise gehört und ausrichten lassen, dass es rings um Kettari nichts von dem gibt, was wir gerade sehen. Dann hat er Lukfi noch gebeten, uns etwas zu sagen, was Penz erstaunt kommentierte, uns aber nicht mehr übermitteln konnte, weil die Verbindung zusammenbrach. Ich wüsste zu gern, was er uns sagen wollte.«
Lonely-Lokley zuckte schweigend die Achseln. Die Situation gefiel ihm gar nicht.
»Tja, jetzt müssen wir uns wohl Gedanken machen«, meinte ich. »Vergiss bitte nicht, mein lieber Glama, dass Lady Marilyn eine einfache, recht ungebildete Provinzlerin ist. Um von dem armen Sir Max gar nicht erst zu reden. Die beiden wissen also nicht mal die elementarsten Dinge, doch ich hoffe, den Herren Glama und Lonely-Lokley ist das kleine Einmaleins bekannt.«
»Musst du so aufgeblasen daherreden, Marilyn? Was willst du eigentlich sagen?«
»Donnerwetter - ich hab immer gedacht, ich könnte mich klar ausdrücken! Na schön, ich mach kein Theater mehr, sondern stell dir ein paar Fragen.«
»Gute Idee, Marilyn. Kann sein, dass du auf diese Weise wichtige Dinge erfährst, die mir unwichtig erscheinen.«
»Gut. Stimmt es, dass bei der Stummen Rede die Entfernung zwischen den Gesprächspartnern keine Rolle spielt?«
»Natürlich. Es kommt darauf an, den Menschen zu kennen, an den man sich wendet. Deinen Gesprächspartner kannst du selbst in Arwaroch erreichen - das ist kein Problem.«
»Gut. Nächste Frage: Gibt es Orte, an denen die Stumme Rede nicht funktioniert?«
»Im Cholomi-Gefängnis, aber das weißt du doch schon. Ansonsten habe ich noch nie von solchen Orten gehört. Es gibt natürlich Leute, die sich nicht per Stummer Rede verständigen können, aber uns beide betrifft das nicht.«
»Gut. Nächste Frage: Haben Sie je von einer Situation gehört, wie wir sie gerade erleben? Vielleicht auch in einer Legende, im Mythos, gerüchteweise oder im Scherz?«
»Bei uns im Orden hatten wir einen Spruch: Ein guter Zauberer erreicht auch das Jenseits. Das war natürlich ein Witz, denn im Jenseits kann man sich nicht per Stummer Rede melden. Und zum Glück haben wir viele Beweise dafür, dass unsere Kollegen am Leben sind.«
»Und was ist mit uns?«
»Ich bin gewöhnt, meiner Wahrnehmung zu trauen, und ich habe durchaus den Eindruck, lebendig zu sein.«
»Sündige Magister - natürlich lebst du, Glama, genau wie ich. Aber wir sitzen so richtig in der Patsche, und es wäre besser, gemeinsam einen Ausweg zu finden als allein. Das Jenseits muss nicht unbedingt ein Reich der Toten sein. Es gibt viele verschiedene Welten, Schürf - ich bin der beste Beweis dafür. Meine Heimat ist eigentlich auch eine Art Jenseits.«
»Ich weiß«, sagte Lonely-Lokley ruhig.
»Das wissen Sie? Woher? Hat Ihnen Juffin davon auf einem Seminar zum Thema Sir Max - das größte Naturwunder erzählt?«
»Es war viel einfacher. Ihre Geschichte über die Leeren Länder war sehr gut, und ich hatte lange keine Zweifel daran. Aber es hat mich misstrauisch gemacht, wie Sie atmen. Dazu kam noch die seltsame Bemerkung von Sir Juffin, unsere Magie wirke auf Sie anders als auf die übrigen Bewohner von Echo. Und dann Ihre Augenfarbe. Sie wissen doch, dass sie ständig wechselt?«
»Allerdings«, murmelte ich. »Das hat mir Lady Melamori schon gesagt.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass sie so aufmerksam ist. Doch der ständige Wechsel Ihrer Augenfarbe, Sir Max, ist wirklich recht auffällig. Aber keine Sorge: Die meisten Leute merken so was nicht. Auch ich hab Sie erst im Traum begleiten müssen, um das Changieren Ihrer Augenfarbe zu registrieren. Marilyn, du bist heute ja wirklich gesprächig! Aber ich möchte jetzt ohnehin nicht mehr über dich reden. Erklär mir lieber, worauf du mit deinen Fragen hinauswillst.«
»Ich will eigentlich nur erfahren, ob ich mich per Stummer Rede bei meiner Mutter melden kann, die - wie Sie offenbar wissen - in einer ganz anderen Welt lebt.«
»Natürlich können Sie das. Meiner Meinung nach allerdings ist die Kommunikation zwischen zwei Welten ein ungewöhnliches Ereignis - unsere Reise dagegen ist eine ganz normale Sache. Umso erstaunlicher, dass es uns nicht gelungen ist, mit Sir Juffin per Stummer Rede in direkten Kontakt zu kommen.«
»Diese Reise soll eine -normale Sache* sein, mein guter Glama? Von wegen! Wir fahren durch eine Gegend, die es laut Juffin gar nicht gibt, und ein Einheimischer kann uns nicht sagen, wann wir Kettari erreichen. Obwohl ich schon Erfahrungen mit dem Reisen zwischen den Welten habe, muss ich gestehen, dass mir solche Schwierigkeiten noch nicht begegnet sind.«
»Gut, machen wir es so: Sir Glama bleibt bei seiner Meinung und hält diese Reise weiter für eine ganz normale Sache, und Lady Marilyn kultiviert ihre Ängste. Ich halte es für klug, unsere Lage aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten.«
»Verstehe. Kommt Zeit, kommt Rat!«
»Du sprichst mir aus der Seele, Marilyn. Hast du nicht langsam den Eindruck, dass wir doch allmählich Kettari erreichen?«
»Der Weg ist jedenfalls deutlich erträglicher geworden, obwohl die Gegend weiter sehr öde wirkt. Vielleicht ist das da vorn ja schon die Stadtmauer?«
»Eben.«
»Bald dürften die sieben Wacharibäume und das Stadttor auftauchen, das noch Skulpturen aufweisen soll, die der alte Kwawa Ulon gefertigt hat«, meinte ich träumerisch. »Ich bin so aufgeregt, als wäre es nicht Juffins Heimatstadt, sondern meine. Was mag mich an Kettari so anziehen? Vielleicht vermisse ich meine Heimat ja doch ...«
»Elf«, sagte Lonely-Lokley plötzlich.
»Elf?«
»Das sind elf Wacharibäume - zähl selbst nach.«
Tatsächlich! Dabei hatte Juffin von sieben Bäumen gesprochen.
»Vielleicht hat sich ihre Zahl im Laufe der Zeit geändert«, meinte Lonely-Lokley achselzuckend.
»Glama, hast du ein Auge für die Natur?«
»Eigentlich schon. Warum?«
»Findest du nicht, dass die Bäume gleich aussehen?«
»Doch, doch! Und sie müssen sehr alt sein, denn solche Knoten am Stamm bilden sich erst nach fünfhundert Jahren.«
»Donnerwetter!«, rief ich und pfiff respektvoll durch die Zähne. »Und sieh dir das Stadttor an: wie neu! Nirgendwo sind auch nur die kleinsten Trümmer zu sehen! Alles ist einfach, aber geschmackvoll. Herzlichen Glückwunsch, mein Freund - wir haben Kettari erreicht. Kaum zu glauben.«
Lonely-Lokley zuckte die Achseln. »Früher oder später musste es so kommen. Warum freust du dich eigentlich so?«
»Keine Ahnung«, meinte ich ehrlich und betrachtete begeistert die kleinen Reihenhäuser.
Ikebana-Freunde hätten angesichts der Blumensträuße in den Fenstern einen Schreck bekommen. Ich dagegen war entzückt. Die Mosaiken auf den Gehwegen schimmerten angenehm golden. Die Luft war sauber und erstaunlich kühl, obwohl die Sonne den ganzen Tag geschienen hatte. Aber ich fror nicht, sondern fühlte mich wie von innen gereinigt, und ein Rausch der Nüchternheit erfasste mich.
»Was ist los?«, fragte Lonely-Lokley.
»Lady Marilyn hat sich verliebt«, antwortete ich lächelnd. »Sie ist einfach verrückt nach Kettari - genau wie ich. Schau dir nur dieses kleine, dreistöckige Häuschen an, Glama. Eine Schlingpflanze hat sich so um den Wetterhahn gewunden, dass er sich nicht mehr drehen kann. Und spürst du die wunderbar kristallklare Luft? Merkst du den Unterschied zu der stickigen Atmosphäre in den Bergen? Wer hätte das erwartet?«
»Mir gefällt es hier nicht«, brummte Lonely-Lokley.
»Wirklich nicht?«, fragte ich erstaunt. »Glama, mein Guter, du bist einfach zu müde, um die Stadt genießen zu können. Du brauchst Erholung. Wenn du willst, kannst du mich jede Nacht im Traum begleiten. Das hat dir doch gefallen, oder?«
»Stimmt, das war wunderbar, Marilyn - dein Vorschlag ist sehr großzügig.«
»Nicht der Rede wert. Du musst dem Karawanenführer nun die zweite und letzte Rate zahlen, mein Lieber. Wir haben nämlich den Marktplatz erreicht. Was meinst du, wo wir übernachten können? Am besten, weit weg von unseren Mitreisenden. Sollen sie denken, was sie wollen - nach uns die Sintflut.«
»Oh, du kennst diesen Ausdruck? Woher denn?«
»Was ist daran so erstaunlich?«, fragte ich zurück.
»Diese Devise war in den Türsturz des Gebäudes gemeißelt, in dem der Orden der Wasserkrähe residierte.«
»Die Ordensmitglieder müssen lustige Leute gewesen sein. Bei dem Namen kann ich leider nicht an Zauberkraft glauben.«
»Du versetzt mich immer wieder in Erstaunen, Marilyn. Was gefällt dir an dem Namen eigentlich nicht?«
»Ach, lassen wir das. Du musst dich jetzt mit Herrn Abora unterhalten«, sagte ich, weil ich Lonely-Lokley nicht erklären wollte, warum ich den Namen Wasserkrähe so lustig fand. »Ich schlage vor, dass wir nicht im Hotel übernachten, wo sowieso nur Touristen schlafen, sondern eine Wohnung mieten. Außerdem ist es besser, wenn unsere Ermittlungen keine Zeugen haben.«
»Sehr vernünftig«, sagte Lonely-Lokley und nickte anerkennend. »Ich glaube weiter, dass unser Karawanenmeister ein geriebener Kerl ist und uns für die Wohnungssuche einige gute Tipps geben könnte.«
»Der kann mich mal - um unsere Unterkunft kümmere ich mich persönlich. Jetzt geh bezahlen, und dann fahren wir. Ich liebe diese Stadt und glaube, binnen einer Stunde etwas Passendes für uns zu finden.«
»Wie du meinst«, brummte Lonely-Lokley achselzuckend. »Ich bin offenbar nur zum Bezahlen da.«
»Deshalb trägst du doch auch Handschuhe. Sieh mal, da vorn schimmert etwas - ich glaube, das ist ein Fluss. Mein Lieber - ich habe immer davon geträumt, an einem Fluss zu wohnen.«
Lonely-Lokley stieg ungeduldig aus, bezahlte unseren Führer, kam zurück und musterte mich von Kopf bis Fuß mit dem wachen Blick eines guten Psychologen, doch ich zuckte nur gelassen die Achseln. Sir Schürf setzte sich wortlos ans Steuer, und wir bogen in eine von mir bestimmte Gasse. Nach kaum einer Minute gelangten wir an eine Uferpromenade, von der aus kleine, hübsche Brücken zu sehen waren, die einander nicht ähnelten, aber dennoch wunderbar zusammenpassten. Dazwischen flimmerte der dunkle Fluss.
»Warum gefällt dir das alles bloß nicht, du alter Nörgler?-, seufzte ich versonnen. »Schau dir nur mal die Brücken an! Sündige Magister - weißt du zufällig, wie der Fluss heißt?«
»Keine Ahnung«, antwortete Lonely-Lokley ungerührt und zuckte erneut die Achseln. »Sieh doch auf der Karte nach, Marilyn.«
»Wir müssen hier unbedingt eine Wohnung finden«, sagte ich gedankenverloren. »Wenn wir dann nach Hause zurückkehren, wird mein Herz einmal mehr brechen.«
»Einmal mehr?«, fragte Lonely-Lokley interessiert. »Marilyn, meine Liebe, entschuldige, aber Sir Max hat mir keinesfalls den Eindruck eines Menschen mit gebrochenem Herzen gemacht.«
Ich nickte belustigt. »Das ist eine meiner schlimmsten Eigenschaften. Je schlechter es mir geht, desto besser sehe ich aus. Schon mehrfach hatte ich Probleme, mir in höchster Not bei Bekannten Geld zu leihen, weil ich dabei so glücklich wirkte, als ob ich gerade im Lotto gewonnen hätte. Niemand wollte mir glauben, als ich sagte, ich würde nur noch von trocken Brot und ungesüßtem Tee leben.«
»Auch solche Zeiten hast du mitgemacht?«
Der Umgang mit mir bedeutete für Sir Schürf ein wahres Gesichtsmuskeltraining. Jetzt zeigte sich auf seiner eben noch ungerührten Miene ein unbeholfenes, aber klares Erstaunen.
»Na ja, bisweilen. Aber zum Glück hat sich das ja geändert.«
»Das erklärt einiges«, meinte Lonely-Lokley nickend. »Es ist übrigens angenehm, mit dir zu tun zu haben -auch wenn du verrückt bist.«
»Tolles Kompliment - vielen Dank.«
»Ein Kompliment ist das nicht, sondern eine Tatsache. Aber vielleicht verstehst du ja manches anders.«
Ich seufzte. Wer wollte jetzt über Wortbedeutungen streiten? Mir war inzwischen ohnehin klar, dass Lonely-Lokley mir nicht hatte schmeicheln wollen.
»Ich wollte dich nicht beleidigen«, meinte Sir Schürf jetzt freundlich. »Aber normale Menschen eignen sich für unsere Arbeit nicht. Im Orden galt das Motto: »Ein guter Zauberer hat vor niemandem Angst - außer vor Wahnsinnigen.« Das ist zwar überspitzt, doch ich glaube, sogar Sir Juffin richtet sich nach dieser Devise, wenn er neue Mitarbeiter rekrutiert.«
»Schon gut«, winkte ich ab. »Ich bleibe, wer ich bin -egal, wie du mich einschätzt. Aber jetzt halt bitte an, Glama. Ich möchte aussteigen, ein wenig auf der Uferpromenade spazieren und mich unterhalten. Mein Herz hat mir geflüstert, dass die Leute hier den Wunsch verspüren, zwei reiche Touristen aus der Hauptstadt zu beherbergen. Keine Panik - ich weiß, dass ich eine Frau bin und Marilyn heiße. Also werde ich auch mit einigen netten älteren Frauen ein paar Takte plaudern.«
»Tu, was du nicht lassen kannst, Marilyn«, meinte Schürf und zuckte schon wieder die Achseln. »Schließlich dürfen wir beide nicht vergessen, dass Sir Max mein Vorgesetzter ist.«
»Was du nicht sagst!«, rief ich und konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. »Warte hier - ich bin gleich wieder da.«
Begeistert betrat ich die Promenade aus Bernstein. Durch meine dünnen Sohlen spürte ich die angenehme Wärme des gelben Steins. Ich fühlte mich plötzlich so leicht und glücklich, als würde ich gleich davonfliegen. Kettari war wunderschön - wie in meinem Lieblingstraum. Und auch ich empfand mich eher als Traumgestalt, nicht als Mensch aus Fleisch und Blut.
Mit Lady Marilyns beschwingtem Schritt verließ ich die Promenade, drang in das Gassengewirr ein und betrachtete mit ungebremstem Lächeln die alten Häuschen. Alte Promenade las ich auf einem Schild. Hier gefiel es mir wirklich!
Ach, Juffin, dachte ich, könnte ich Sie doch per Stummer Rede erreichen! Dann würde ich Ihnen sagen, dass ein fantastischer Mann wie Sie nur in einem wunderbaren Städtchen wie diesem Kettari hat geboren werden können. Aber ich werde sicher nicht vergessen, Ihnen das zu sagen, wenn wir uns Wiedersehen.
Ich malte mir so lebhaft aus, mit meinem Chef zu plaudern, dass ich beinahe eine alte Dame umgerempelt hätte. Zum Glück war sie trotz ihrer Jahre flink genug, im letzten Moment auszuweichen. Dann griff sie nach einer Türklinke und sah mich vorwurfsvoll an.
»Was ist mit dir los, Mädchen? Wo hattest du deine wunderschönen Augen?«
»Verzeihen Sie bitte«, sagte Lady Marilyn erschrocken. »Ich bin erst vor einer halben Stunde in diese Stadt gekommen, von der ich seit Kindertagen unendlich viel gehört habe. Ich hätte nie gedacht, dass es hier so schön ist. Darum war ich wie weggetreten - aber das ist sicher gleich vorbei.«
»Woher kommst du denn, Süße?«, fragte die alte Dame neugierig.
»Aus Echo«, meinte ich schuldbewusst.
Beichtet man Provinzstädtern, aus der Großstadt zu sein, schafft das eine merkwürdige Verlegenheit, als hätten die Gesprächspartner einander silberne Löffel gestohlen.
»Aber deine Aussprache ist alles andere als hauptstädtisch«, bemerkte die Alte aufmerksam. »Und aus dieser Gegend bist du auch nicht. Woher stammst du also, Mädchen?«
Lady Marilyn und ich mussten weiter lügen: »Ich wurde sehr weit von hier geboren - in der Grafschaft Wuk. Meine Eltern sind noch in der Traurigen Zeit dahin ausgewandert und haben sich dort recht gut eingelebt. Vor ein paar fahren habe ich einen Mann aus Echo geheiratet, doch meine Großmutter stammt aus Kettari. Daher mein Faible für die Stadt. Ich habe immer zu meinem Mann gesagt: «Glama, ich will einen Teppich aus Kettari." Aber natürlich wollte ich etwas ganz anderes: Ich wollte ...«
»Du wolltest ins Märchenland deiner Kindheit«, sagte die alte Frau und nickte verständnisvoll. »Und wie ich sehe, gefällt es dir bei uns sehr gut.«
»Gut ist gar kein Ausdruck! Könnten Sie mir zufällig helfen? Ich würde gern in dieser Gegend für ein paar Dutzend Tage eine Wohnung mieten, denn ich möchte nicht ins Hotel. Ist das in Kettari machbar?«
»Natürlich«, antwortete die alte Frau begeistert. »Sie können ein Stockwerk oder sogar ein ganzes Haus mieten. Aber ein Haus ist ziemlich teuer - selbst für kurze Zeit.«
»Toll! Ich muss nur jemanden finden, der etwas Passendes hat. Über den Preis werden wir uns schon einig.«
Bei diesen Worten tippte ich mir zweimal mit dem rechten Zeigefinger an die Nasenspitze.
»Herzlich willkommen, meine Liebe«, sagte die Alte lächelnd. »Du verdienst wirklich Rabatt. Denk dir - ich komme gerade von meiner Freundin zurück. Wir haben uns schon mehrmals darüber unterhalten, dass wir eigentlich beide im selben Haus wohnen sollten, da wir uns sowieso ständig besuchen. Das zweite Haus könnten wir dann an Gäste vermieten, um uns das eine oder andere leisten zu können. Aber bisher haben wir nur darüber geredet, ohne uns dazu aufzuraffen. Einige Dutzend Tage wären für den Anfang ganz wunderbar. In dieser Zeit können Rera und ich herausfinden, ob wir es unter einem Dach aushalten. Mein Haus ist ganz in der Nähe, und zwölf Tage kosten nur zehn Kronen.«
»O lala - das ist ja teurer als in der Hauptstadt!«
»Na schön, also acht. Aber dafür müssen dein Mann und du mir helfen, das Notwendigste in die Wohnung meiner Freundin zu bringen«, sagte die Alte resolut. »Viel ist es nicht, und ihr habt ein A-Mobil - also wird das nicht schwierig sein.«
»Das Notwendigste« erwies sich als so viel, dass der Umzug in sechs Etappen vonstattengehen musste. Aber wir nutzten die Zeit: Lady Charaja - wie unsere Vermieterin hieß - zeigte uns, wo wir frühstücken konnten und zu Abend essen sollten, und warnte uns etwa dreihundert Mal davor, mit den Bewohnern von Kettari Mau-Mau zu spielen. Das war wirklich nett von ihr.
Nachdem wir für zwei Dutzend Tage im Voraus bezahlt hatten, wünschte uns die glückliche alte Dame Gute Nacht und verschwand im Haus ihrer Freundin.
»Ich vermute, die alten Ladys werden die Nacht durchfeiern«, sagte ich. »Wir fahren jetzt nach Hause, Schürf. Seien Sie mir nicht böse, aber ich hab's satt, Sie ständig Glama zu nennen.«
»Tu, was du nicht lassen kannst - ich bleibe vorsichtig. Hauptsache, du machst in Gegenwart Fremder keinen Fehler.«
»In Gegenwart welcher Fremder denn? Unsere Mitreisenden sind längst in irgendwelchen heruntergekommenen Hotels gelandet und haben dafür vermutlich viel mehr zahlen müssen als wir. Macht dir meine Sorglosigkeit Angst, mein Freund?«
»Natürlich«, nickte Lonely-Lokley ungerührt. »Aber ich hatte von Anfang an damit gerechnet. Deshalb staune ich jetzt auch nicht. Hoffentlich bist du darüber nicht enttäuscht.«
»Ach was. Das gibt mir das Gefühl, alles in der Welt sei in bester Ordnung. Ihre Gelassenheit, Sir Schürf, ist ein Bollwerk meines seelischen Gleichgewichts. Also bleiben Sie am besten, wie Sie sind. Wir fahren jetzt nach Hause, waschen uns, ziehen uns um, gehen zum Abendessen und sehen danach weiter. Soweit ich mich erinnern kann, hat uns Juffin eine seltsame Instruktion gegeben: Wir sollen das Leben genießen und warten, bis uns ein Wunder begegnet.«
»Diese Instruktion hat Sir Juffin nicht uns, sondern Ihnen gegeben. Ich soll Sie hier bestmöglich vor Unannehmlichkeiten schützen.«
»Aber mein Herz flüstert mir, dass es in Kettari für mich keine Unannehmlichkeiten geben wird - auf keinen Fall.«
»Schauen wir mal«, meinte Lonely-Lokley und zuckte die Achseln. »Marilyn, bleib stehen. Wo läufst du denn hin? Das ist doch nicht unser Haus! Wir wohnen an der Alten Promenade 24 - schon vergessen?«
»Wie dumm von mir! Aber wie Sir Lukfi zu sagen pflegt: Manche Leute sind wirklich verwirrt.«
Das Bad befand sich im Keller - was das anging, waren sich alle Bewohner von Echo einig. Leider aber gab es dort keinen Luxus, sondern nur eine einzige Badewanne, und die sah genauso aus wie die Wannen meiner Heimat. Sir Schürf verzog angeekelt das Gesicht.
»Nach dieser langen Reise hatte ich mich ehrlich gesagt auf drei bis vier Wannen gefreut.«
Ich seufzte mitfühlend. »Bei Ihnen stehen sicher mindestens zwölf, Schürf. Aber da kann man nichts machen -du musst dich ans einfache Leben gewöhnen, Glama.«
»Zwölf? Achtzehn!«, meinte Lonely-Lokley empfindlich. »Und das ist nicht zu viel, wie ich finde.«
»Hoho!«, rief ich und nickte respektvoll. »Ich wüsste gern, ob einige davon Löcher haben.«
»Mit solchen Extravaganzen kann ich leider nicht dienen. Lady Marilyn, du kannst dich waschen gehen - ich warte so lange.«
Als ich nach einer Viertelstunde zurückkam, zog Sir Schürf erstaunt die Brauen hoch.
»Du hättest dich nicht so zu beeilen brauchen, meine Liebe. Oder wäschst du dich immer so schnell?«
»Meistens«, sagte ich lächelnd. »Dreist, was?«
»Jedem Tierchen sein Pläsierchen«, meinte Lonely-Lokley kühl. »Aber ich muss um Verständnis und um Verzeihung dafür bitten, dass ich mich nicht so schnell herrichten kann wie du.«
»Kein Thema«, winkte ich ab. »Ich weiß mich zu beschäftigen.«
Kaum war ich allein, packte ich mein Kopfkissen aus, schob die Hand darunter und wartete. Nach ein paar Minuten hatte ich die erste Zigarette geangelt, die allerdings schon zur Hälfte geraucht war. Ich drückte sie vorsichtig aus und legte sie in eine Schachtel, die ich zu diesem Zweck eingesteckt hatte. Sie hatte zwei Fächer: eins für Generäle - also für angerauchte Kippen - und eins für frische Zigaretten, auf die ich in letzter Zeit allerdings so selten gestoßen war, dass ich mich kaum noch an ihren Geschmack erinnerte. Na ja, eigentlich sollte ich mich nicht beklagen, denn das war besser als nichts. Die Monate, in denen ich nur den hiesigen Tabak hatte rauchen können, erschienen mir inzwischen als stille, aber heroische Leidenszeit.
Nach zwei Stunden entschied sich Sir Schürf endlich, aus dem Bad zu kommen. Unterdessen hatten sich bei mir vier Generäle - einer länger als der andere - gesammelt, und das war ein seltenes Glück. Meine Rechte lag schon zwanzig Minuten reglos unterm Kissen, doch ich wollte den Fischzug nicht abbrechen. Warum auch? Lonely-Lokley wusste ohnehin schon viel über mich - da konnte er ruhig auch von meinem Kissenhobby wissen.
»Dürfte ich erfahren, was du da treibst, Marilyn?«, fragte er höflich.
»Natürlich. Ich zaubere, so gut ich kann, und versuche, an die vertrauten Glimmstängel zu kommen. Das dauert zwar lange, ist dafür aber kostenlos. Die Gewohnheit ist eine tyrannische Gebieterin.«
»Sind diese Dinger etwa aus deiner Heimat?«
Ich nickte und versuchte, mich weiter zu konzentrieren. Sir Schürf sah sich die angerauchten Zigaretten misstrauisch an.
»Probier doch mal eine«, meinte ich generös. »Die schmecken wie euer Tabak - nur besser. Sie werden dir so gut gefallen, dass du nur noch für uns beide Zigaretten beschaffen willst.«
»Darf ich wirklich? Vielen Dank - das ist ja großzügig!«, rief Lonely-Lokley und nahm bescheiden den kürzesten General.
»Und? Schmeckt's?«, fragte ich neidisch.