Meine Rechte blieb unterm Kissen, weil ich mir geschworen hatte, erst zu rauchen, wenn ich mit dem öden Angeln fertig war.

»Dieser Tabak ist stärker, aber auch leckerer als der, den ich kenne«, stellte Sir Schürf beifällig fest, »fetzt verstehe ich, warum du immer ein so trauriges Gesicht hattest, wenn du dir hier eine Pfeife angezündet hast.«

»Hatte ich das?«, fragte ich lächelnd, zog eine Zigarette unterm Kissen hervor und meinte: »Schluss für heute. Sündige Magister - so eine hab ich hier noch nie geangelt.«

Kein Zweifel: Ich hielt einen Joint in der Hand. Ich wusste genau, wie solche Tüten aussehen und riechen.

»Mist - das war verlorene Liebesmüh.«

»Wieso? Gefällt dir diese Art Tabak etwa nicht?«

»Das kann man wohl sagen. Viele meiner Bekannten rauchen das Zeug, um sich zu entspannen, aber auf mich wirkt es ganz anders: Ich bekomme nur Kopfschmerzen. Na ja, wahrscheinlich bin ich nicht normal. Und Sie, Sir Schürf? Wollen Sie sich entspannen? Dann tauschen wir doch mal!«

»Klingt verlockend«, meinte Lonely-Lokley gedankenverloren. »Ich hab mich nie geweigert, neue Erfahrungen zu machen.«

»Willst du das Ding wirklich rauchen? Na gut - dann war meine Mühe nicht ganz umsonst. Vielleicht kannst du dich dadurch ja wirklich entspannen. Das wünsche ich dir von Herzen, Glama - schließlich gefällt es dir in Kettari nicht so gut wie mir.«

Ich gab ihm den Joint und zog genüsslich an seiner Kippe. Eigentlich wollte ich mir noch eine anzünden, entschied mich dann aber, hart zu bleiben. Du hast nur noch drei, mein Freund - sagte ich mir -, und der Abend liegt noch vor dir. Wie willst du sonst bis zum Schlafengehen auskommen?

Dieser Vorsatz hielt für den Moment, doch ich wusste, dass er nicht von Dauer wäre. Seufzend wandte ich mich an Lonely-Lokley.

»Na, mein Freund, geht's dir schon besser? Können wir jetzt essen gehen?«

Plötzlich klappte mir die Kinnlade runter. Bis jetzt fehlen mir die Worte, um mein damaliges Erstaunen zu beschreiben. Sir Schürf lächelte übers ganze Gesicht, und ich stöhnte auf.

»Dieses lustige Tütchen wirkt wahre Wunder«, kicherte er und zwinkerte mir zu. »Wenn du wüsstest, Max, wie witzig es ist, mit dir zu reden und dabei auf deine rote Perücke zu sehen!«

Sein Kichern ging in ein schallendes Lachen über, und ich hatte das Bedürfnis, mich zu bekreuzigen, wusste aber nicht, mit welcher Hand und in welcher Reihenfolge.

»Alles in Ordnung mit Ihnen, Schürf?«, fragte ich vorsichtig.

»Was guckst du denn so? Der Langweiler, der ich war, ist gerade spazieren, und wir gehen jetzt essen, aber begann er, unterbrach sich jedoch, weil er wieder kichern musste, und fuhr erst nach einer Weile fort: »... aber du musst den Mund wieder zumachen - sonst kannst du natürlich nicht essen. Das schaffst du, oder? Wenn du dich wirklich bemühst?«

»Toll!«, seufzte ich. »Und ich hatte schon gehofft, hier in Kettari hätte ich etwas Ruhe vor Scherzen a la Melifaro. Na schön, gehen wir. Vergiss bitte nicht, dass ich Marilyn heiße und du ...«

»Du glaubst doch wohl nicht, dass uns alle Einwohner von Kettari belauschen?«, fragte Lonely-Lokley spöttisch. »Dass sie nichts Besseres zu tun haben, als vor dem Fenster des Wirtshauses stehen zu bleiben, nur um herauszubekommen, wie wir uns gegenseitig nennen?« Er kicherte erneut. »Sündige Magister, Max - vor den Fenstern ist doch viel zu wenig Platz! Weißt du, wie viele Bewohner dieses grässliche Städtchen hat?«

»Keine Ahnung.«

»Ist ja auch egal. Auf jeden Fall ist es unterm Fenster zu eng«, meinte er und wieherte wie ein Pferd. »Na los, gehen wir. Ich war noch nie so hungrig. Und du, Marilyn, solltest nicht so mit dem Hintern wackeln. Sonst bekommst du Ärger mit den Männern. Aber vielleicht legst du es ja darauf an?«

»Ich bin gegen Ärger aller Art«, meinte ich verärgert. »Na los, gehen wir, du Naturwunder.«

»Ich? Ein Naturwunder? Sieh dich doch an!«, rief Lonely-Lokley und kugelte sich ausgiebig vor Lachen. Dennoch gelang es uns schließlich, die Wohnung zu verlassen.

Unterwegs kicherte Sir Schürf pausenlos. Er fand alles lustig: meinen Gang, die Gesichter der wenigen Passanten, die Wunder der hiesigen Architektur. Eigentlich konnte ich ihn verstehen. Nach meiner Einschätzung hatte er seit zweihundert Jahren nicht gelacht und endlich die Chance dazu bekommen. Er ähnelte einem Beduinen, der unvermutet in eine Schwimmhalle geraten ist. Es war angenehm, ihn dabei zu beobachten, wie er sein Glück genoss, doch ich hatte Angst, er würde vor lauter Freude Schluckauf bekommen. Was hatte ich bloß angerichtet! War das eine gute Tat gewesen oder die dümmste Aktion meines Lebens? Noch war diese Frage nicht zu beantworten.

»Was essen wir denn?«, fragte ich aufgeräumt und nahm an einem Tisch im Alten Haus Platz. Lady Sotova hatte das Lokal mal erwähnt.

»Egal! Es wird ohnehin nicht schmecken«, prophezeite Lonely-Lokley und kicherte erneut.

»Dann vereinfachen wir die Sache«, sagte ich, schloss die Augen und zielte mit dem Finger auf die Speisekarte. »Ich hab Nummer acht. Und du?«

»Eine super Methode, Entscheidungen zu treffen«, erklärte Sir Schürf und tat es mir nach. Wie zu erwarten, entgleiste sein Arm: Mein Glas fiel zu Boden, und er kicherte erneut. Ich seufzte. Ausgerechnet dieser Knilch sollte mich vor Unannehmlichkeiten schützen?

»Tja, ich muss es wohl noch mal versuchen«, meinte Sir Schürf, nachdem er sich leidlich beruhigt hatte. Weil er diesmal vorsichtiger war, landete sein Finger zwar auf der Speisekarte, durchbohrte sie aber auch - und das direkt neben Nummer dreizehn. Prompt wieherte der Bekiffte wieder los.

»Du hast aber Hunger«, meinte ich und lächelte so höflich wie distanziert. »Wem so ein Loch gelingt, der bekommt die doppelte Portion. Ich wünsche dir, dass es was Leckeres ist.«

»Vergiss es. Hier gibt's nichts Leckeres!«, rief Lonely-Lokley vergnügt und brüllte dem Kellner, der gerade vorbeikam, zu: »Quatsch Nummer acht und eine doppelte Portion Quatsch Nummer dreizehn - aber dalli, Amigo!«

»Du entpuppst dich als grausam«, meinte ich und sah dem davoneilenden Kellner nach. »Ich könnte mir vorstellen, ...«

»Nichts kannst du dir vorstellen! Gar nichts! Und das ist auch gut so! Jetzt schlagen wir uns den Bauch voll! Schau mal, wie dämlich der Kerl da vorn guckt. Aber deine Bestellmethode ist wirklich gut. Siehst du, was sie uns bringen?«

»Ja«, meinte ich kleinlaut und nickte verlegen.

Der Kellner stellte zwei schmale Gläser vor Lonely-Lokley hin, in denen sich etwas Weißliches befand, das an Schimmel, Honig und Rum zugleich erinnerte. Ich bekam einen großen Topf, der bis zum Rand mit Fleisch und Gemüse gefüllt war.

»Bringen Sie mir das Gleiche, aber zack, zack«, rief Lonely-Lokley und zeigte dabei auf meine Portion. »Und nehmen Sie diesen Quatsch im Doppelpack gleich wieder mit! Wir haben schon daran gerochen - das reicht vollkommen.«

»Eine Portion können Sie dalassen«, mischte ich mich ein. »Ich muss wissen, was für ein Zeug du dir da bestellt hast.«

»Probier ruhig!«, rief Lonely-Lokley so generös wie pampig und zuckte die Achseln. »Ich jedenfalls will für so einen Quatsch nicht mein Leben riskieren! Sündige Magister, Max, du bist wirklich lustig.«

Der Kellner sah uns erstaunt an, nahm eine Portion wieder mit und verschwand. Mit einer Mischung aus Ekel und Interesse stocherte ich in der weißlichen Substanz herum, schnupperte erneut daran und probierte dann ein wenig. Offenbar handelte es sich um Schmalz mit pikantem Käse, abgeschmeckt mit einem kleinen Schuss Rum.

»Ungenießbar!«, verkündete ich erschüttert. »So was sollte man Juffin als Geschenk mitbringen. Das ist die beste Therapie gegen Nostalgie.«

»Sofern wir den alten Fuchs noch mal zu Gesicht bekommen«, meinte Lonely-Lokley lächelnd. »Du hast große Erfahrung mit dem Reisen zwischen den Welten, stimmt's?«

»Eigentlich nicht.« Ich zuckte schuldbewusst die Achseln. »Aber warum fragst du? Früher haben dir meine Geschichten über die andere Welt nicht gefallen. Hast du etwa deine Meinung geändert?«

»Nicht meine Meinung, sondern mich. Das verstehst du offenbar nicht. Weißt du, der alte, langweilige Lonely-Lokley, mit dem du so lange zu tun hattest, hätte fantasievolle Berichte aus anderen Welten nicht gemocht -auch nicht, wenn es sich um die lautere Wahrheit gehandelt hätte. Aber ich bin nicht so dumm, das Offenkundige zu bestreiten. Sogar der unerträgliche Mann, der ich mal war, hätte dir irgendwann zugestimmt. Doch das alles ist eigentlich unwichtig, hab ich Recht?«

»Und wie!«, seufzte ich. »Dein Essen kommt. Guten Appetit, Glama.«

»Was für ein lustiger Name«, gackerte Schürf und explodierte erneut vor Lachen. »Wer sich so was nur ausdenkt!«

Er verschlang seine Portion und bestellte gleich eine neue. Ich dagegen nippte nur an meiner Kamra, die hier gar nicht so viel schlechter schmeckte als in Echo - egal, was Lady Sotova darüber denken mochte.

»Du bist gar nicht so verrückt, Max«, meinte Lonely-Lokley und lächelte schief. »Ich dachte, ich darf dich nicht aus den Augen lassen, damit du keine Dummheiten begehst«, fügte er hinzu und starrte einige Zeit auf die falschen Locken von Lady Marilyn. »Kaum schlägt Schürf mal über die Stränge, passt du auf wie ein Luchs. Du bist wirklich ein interessantes Wesen. Egal, was passiert - du kommst immer durch.«

»Das sehe ich anders«, meinte ich. »Aber du wirst schon Recht haben.«

»Das sollte ein Lob sein«, sagte Lonely-Lokley, und seine Miene hellte sich auf. »Solche Komplimente hat man sich noch in der Epoche der Orden gemacht. Ich weiß nicht, woher du kommst, aber ... Ach, dieses Gespräch ist langweilig, und ich muss das Glück beim Schopf packen.«

»Was meinst du damit, Glama?«

»Nichts Besonderes. Schlafen kann ich sowieso nicht. Also muss ich mich nach Unterhaltung umsehen. Wann bekomm ich noch mal die Chance, meine Pflichten leichten Herzens zu missachten?«

Erstaunt hob ich die Brauen und analysierte auf die Schnelle die Situation. Eigentlich wusste ich eine passable Rettung aus dieser riskanten Lage: Eine Bewegung meiner Linken, und Lonely-Lokley konnte sich als Däumling unter meiner Handfläche beruhigen. Andererseits: Wer war ich denn, diesem Mann die verdiente Entspannung zu verderben? Schließlich war er erwachsen, sogar etwas älter als ich - schlappe dreihundert Jahre. Und das Wichtigste: Er sollte wirklich besser nicht einschlafen, falls die Verstorbenen sich erneut entschließen sollten, nach dem Verrückten Fischer zu suchen ... Vielleicht würden sie ihn ja diesmal erwischen.

»Gehen Sie sich entspannen, Schürf«, sagte ich lächelnd. »Lady Marilyn und ich - wir schauen uns hier ein wenig um. Wer weiß, vielleicht riecht es irgendwo nach einem Geheimnis. Womöglich hab ich Glück.«

»Sie sind wirklich klug, Sir Max«, sagte Lonely-Lokley und betrachtete mich mit neuem Respekt. »Und was ist, wenn der Zaubertrick mit der linken Hand nicht funktioniert?«

Ich war es bereits gewohnt, mit Leuten zu arbeiten, die meine Gedanken lesen konnten, und begriff schnell, was er meinte.

»Der muss funktionieren. Sonst bin ich aufgeschmissen.«

»Das kannst du ja demnächst allen Verrückten sagen, die uns an den Kragen wollen.«

»Worauf du dich verlassen kannst«, erklärte ich vollmundig und stand auf: »Gute Nacht, mein Freund.«

»Tschüssikowski, Sir Max. Sag dem alten Langweiler Lonely-Lokley, er soll nicht auf mich warten. Er ist ein netter Kerl, aber ab und an übertreibt er kolossal.«

»Ganz deiner Meinung, Glama. Melde dich bitte per Stummer Rede, falls du in eine unangenehme Lage gerätst.«

»Ich? In eine unangenehme Lage geraten? Nie und nimmer! Jemand anderer vielleicht!«

»Schon gut, Glama, schon gut.«

Ich nickte ihm von der Türschwelle zu und ging nach Hause.

Zunächst kehrte ich ins Haus von Lady Charai zurück, das sich durch Zufall in eine Außenstelle des Kleinen Geheimen Suchtrupps verwandelt hatte. Ich setzte mich in einen Sessel, rauchte eine Zigarette und zwinkerte meinem Gegenüber im großen alten Spiegel zu: »Tja, Lady Marilyn - dein Mann hat dich verlassen. Ich hoffe, du bist entzückt.«

Mein neues Alter Ego jauchzte vor Glück. Lady Marilyn strotzte vor Gefühlen und wollte unbedingt sofort spazieren gehen, um die süße Luft von Kettari zu genießen. Sie hoffte, auf den Straßen der nächtlichen Stadt ein zu ihr passendes Abenteuer zu finden.

Ich dachte an die Metamorphose, die Lonely-Lokley vor Stunden durchlebt hatte. Zwar wusste ich nicht, wie das enden würde, doch das neue Image stand ihm. Hoffentlich schaffte er es, nicht in die Tinte zu geraten. Aber Unannehmlichkeiten waren beinahe programmiert. Ich zuckte die Achseln und beschloss, darüber nicht weiter nachzudenken - was geschehen war, war geschehen und ließ sich nicht rückgängig machen.

Jetzt hatten Lady Marilyn und ich ein kleines Problem: Ich wollte unbedingt durch Kettari bummeln, aber durfte eine so sympathische Frau wie ich nachts allein durch die Straßen ziehen?

»Ich habe eine ausgezeichnete Idee, meine Süße«, sagte ich zu meinem Spiegelbild. »Verkleide dich einfach als Mann! Das klingt verrückt, aber was bleibt uns übrig? Ich hoffe nur, Schürf hat einen Ersatzturban dabei.«

Rasch, aber gewissenhaft inspizierte ich die Reisetasche meines Kollegen und fand nicht nur die gesuchte Kopfbedeckung, sondern auch eine Stecknadel für meinen Lochimantel. Mehr brauchte ich nicht. Aber was sollte ich mit der illusionären Figur von Lady Marilyn machen? Sir Kofa hatte meine neue Gestalt wunderbar modelliert, leider aber keinen Busen zum Umschnallen vorgesehen. Ich seufzte bitter und zündete mir eine weitere Zigarette an. Wie sollte sich ein Mädchen in einen Jungen verwandeln? Ich brauchte eine neue Designidee.

Nach ein paar Minuten kam mir ein Gedanke, der zunächst absurd schien: Warum verhüllte ich die unpassende Figur nicht so, wie eine echte Frau es tun würde? Ich sollte nicht nur meinen illusionären Busen verstecken, sondern mir auch einige Lumpen um die Taille binden, da Frauen dort erfahrungsgemäß schmaler gebaut sind als Männer.

Zum Teufel - das musste ich ausprobieren! Ich war zwar nicht recht überzeugt, dass eine allein durch die nächtliche Stadt spazierende Frau per se in Gefahr war, doch ein doppelt getarnter Mann durfte sich gewiss sicherer fühlen als eine einfach getarnte Frau. Ziemlich verwirrend, das Ganze.

Nach einer halben Stunde sah ich vorsichtig in den Spiegel. Alles war mir ganz gut gelungen - besser als erhofft. Natürlich erinnerte mein Gegenüber bei weitem nicht an meinen guten Bekannten Max, aber es handelte sich bei ihm zweifellos um einen ganz normalen Jungen.

Ich dachte an das Kraut, das Lady Sotova mir vorgesetzt hatte und das Wunderbare oder Sonderbare Hälfte hieß (oder so ähnlich). »Du bleibst, wer du bist, aber die Leute werden glauben, sie hätten es mit jemand anderem zu tun«, hatte sie mir damals gesagt. Offenbar konnte ich inzwischen einfach als der erscheinen, der ich sein wollte. Umso besser!

Ehe ich das Haus verließ, schob ich kurz die Hand unters Kissen. Ein einziger General war eindeutig zu wenig für eine lange, sicher sehr abenteuerliche Nacht. Nach ein paar Minuten betrachtete ich verwirrt eine halb leere Zigarettenschachtel, auf der ein steifbeiniges Dromedar in die Ferne sah. Neun frische Kippen! Ich sandte einen dankbaren Blick zur Decke.

»Lieber Gott«, begann ich ehrfürchtig. »Erstens freue ich mich, dass es dich gibt, und zweitens bist du ein fantastischer Kerl und mein bester Freund.«

Dann öffnete ich die Tür und trat ins nachtkühle Kettari hinaus. Die Beine trugen mich wie von selbst auf die andere Uferseite. Ich ging über eine gut beleuchtete Steinbrücke und sah mir die Gesichter ihres drachenartigen Skulpturenschmucks an. In der Ferne lagen ein Labyrinth enger Gassen und da und dort der hell erleuchtete Klecks eines Platzes. Ich versuchte nicht mal so zu tun, als wäre ich mit meiner Mission beschäftigt, sondern genoss einzig den Spaziergang.

Die ganze Nacht zog ich durch Kettari und berauschte mich an der Luft und den neuen Eindrücken. Ich ging durch viele Straßen und trank in winzigen Imbissstuben, die die ganze Nacht geöffnet waren, einige Portionen Kamra und manch anderes Getränk. Unerschrocken öffnete ich fremde Gartentore, betrat dunkle Höfe, rauchte dort meine Zigaretten und betrachtete dabei den grünlichen Mond am schwärzlichen Himmel. Einmal trank ich etwas Wasser von einem Springbrunnen. In einem anderen Garten pflückte ich ein paar süßsauer schmeckende Beeren von einem kleinwüchsigen Busch, der -den Magistern sei Dank! - keine Ähnlichkeit mit dem Baum der Erkenntnis hatte.

Bei Sonnenaufgang fand ich mich an derselben Brücke wieder, an der meine nächtliche Reise begonnen hatte. Ich hätte die drachenartigen Gesichter küssen mögen, die mich so unerschrocken anstarrten, beschloss aber, mich zu beherrschen, denn das wäre vulgär gewesen und hätte eine falsche Note ins Finale dieser herrlichen Nacht gebracht. Und hier in Kettari wollte ich vollkommen erscheinen.

Darum ging ich gleich nach Hause, zog mich aus, rollte mich im Bett zusammen und schlief selig ein.

Gegen Mittag erwachte ich und fühlte mich, als hätte ich eine Spritze Kachar-Balsam bekommen und als würde die wohltuende Flüssigkeit nun durch meine Adern rollen. Ein tolles Gefühl!

Sir Lonely-Lokley war nicht zu Hause, und das machte mich etwas nervös. Ich spürte zwar keine Unruhe, aber eine gewisse Sorge, gemischt mit Neugier und Verantwortungsgefühl.

»Wie lange der wohl verschwunden bleibt?«, brummte ich. Nach einigem Überlegen meldete ich mich per Stummer Rede bei ihm.

»Sir Schürf, geht es Ihnen gut?«

»Durchaus. Ich bin allerdings beschäftigt. Lassen Sie uns später reden. Und seien Sie bitte nicht verärgert.«

»So, so - der Herr ist beschäftigt! Sieh mal einer an! Ich wüsste gern, womit«, sagte ich streitlustig halblaut vor mich hin. Aber das Problem war eigentlich erledigt: Sir Schürf war wohlauf, und mehr brauchte ich erst mal nicht zu wissen.

Meiner Hauptsorge ledig, beschloss ich zu frühstücken. Ich überlegte kurz und entschied, bei Tageslicht durchaus allein als Lady Marilyn durch Kettari spazieren zu können. Ich brauchte mich also diesmal nicht mit Verkleiden aufzuhalten.

Kurz darauf begeisterte eine elegant gekleidete Lady mit ihrem mächtigen Appetit die Wirtin einer kleinen Imbissstube.

Als Lady Marilyn satt war, machte sie einen Einkaufsbummel. Ich brauchte unbedingt einen Stadtplan von Kettari! Erstens konnte er mir nützlich sein, und zweitens üben Karten und Atlanten seit jeher eine magische Anziehung auf mich aus. Eigentlich hätte ich sie sammeln sollen, aber ich bin kein Typ dafür: All meine Sachen verschwinden stets in den dunkelsten Ecken der Wohnung oder bleiben bei Freunden liegen.

Ich kaufte mir also einen sorgfältig skizzierten Stadtplan von Kettari, nahm in einem kleinen, namenlosen Wirtshaus Platz, bestellte Kamra und schaute mir meine Neuanschaffung genau an. Ich machte mein Quartier ausfindig, die Brücke mit den drachenartigen Figuren, die Gaststätte Altes Haus am Lustigen Platz ... Ja, diesen Namen verdiente der Platz durchaus, wenn ich bedachte, wie Sir Schürf dort am Vortag getobt hatte.

Als ich meine Kamra ausgetrunken hatte, ging ich weiter. Ich war in die Brücken von Kettari verliebt und wollte mindestens zweihundert Mal den Mijer überqueren, den hiesigen Fluss also.

Ich ging über eine mit roten Ziegeln gepflasterte Brücke ans andere Ufer, bummelte ein wenig durch die Stadt und versuchte, die Orte aufzusuchen, die mich in der Nacht so begeistert hatten. Einmal mehr musste ich feststellen, dass Dunkelheit die Welt bis zur Unkenntlichkeit verändert: Ich entdeckte keine einzige Gasse wieder!

Dieser merkwürdige Umstand brachte mich dazu, etwas recht Seltsames zu tun. Ich betrat einen winzigen Laden, kaufte mir einen Bleistift und trug meinen Weg in den neu erworbenen Plan ein. Ich dachte, so wäre es leichter, ihn zu wiederholen und meine Eindrücke zu vergleichen.

Nachdem ich damit fertig war, sah ich mich im Laden um. Er stand voller Dinge, die so hübsch wie nutzlos waren, und sah aus wie viele Antiquitätenläden in der Altstadt von Echo, in denen ich normalerweise den Löwenanteil meines Gehalts ließ. Das Angebot des Ladens war ein einziger Appell an meine Verschwendungssucht, und ich sah kurz in die Manteltasche.

Sündige Magister! Ich fühlte mich fast wie ein Bettler: Unser gesamtes Reisegeld befand sich - in Tagesrationen aufgeteilt - in einem Beutel, den Lonely-Lokley am Gürtel trug. Noch gestern Abend hatte ich das für den besten Aufbewahrungsort gehalten ... Ich hatte höchstens zehn Kronen Kleingeld in der Tasche. Für jeden Bewohner der Hauptstadt wäre das ein Vermögen gewesen, aber nicht für mich. Beinahe dreißig Jahre bescheidenes Leben hatten nichts genutzt: Ich machte gerade eine Phase pathologischer Verschwendung durch. Ich spürte das wilde Bedürfnis, mit Geld um mich zu werfen, und bekam bei dem Gedanken an Rechnungen und an mein Budget Kopfschmerzen.

Ich beschimpfte mich, nannte mich mindestens dreißig Mal Dummkopf und kapitulierte dann. Nein, einen so hübschen Laden konnte ich unmöglich ohne Souvenir verlassen. Obendrein war mir ein zweiter Stadtplan von Kettari aufgefallen, der raffiniert auf Leder genäht war -ein echtes Kunstwerk!

»Was soll der denn kosten?-, fragte ich den Verkäufer, der mich die ganze Zeit beobachtet hatte.

»Für Sie nur drei Kronen«, antwortete der junge Mann frech.

Dieser Preis war unverschämt. Sachen, die noch aus der Epoche des Gesetzbuchs stammen, waren selbst in der Hauptstadt billiger zu haben!

»Das muss ich mir noch überlegen«, meinte ich und verzog das Gesicht. »Ich habe den Eindruck, eine Krone ist vollauf genug, und die bin ich bereit zu zahlen. Leichtsinn muss manchmal sein.«

Der Verkäufer musterte mich ungläubig. Ich machte die hiesige Lieblingsgeste und tippte mir zweimal mit dem rechten Zeigefinger an die Nasenspitze. Anscheinend war das die beste Lösung für alles, da die Situation wie gewünscht endete.

Ein paar Minuten später saß ich bereits in einer hübschen, gemütlichen Imbissstube, bestellte mir eine Portion Kamra und sah mir den neu erworbenen Stadtplan an.

Eigentlich habe ich nie zu den besonders aufmerksamen Leuten gehört, und hätte ich nicht die Angewohnheit, auf jedem Plan mein Quartier zu suchen, hätte ich sicher nichts gemerkt.

Aber was war los mit meinem Haus? Auf dieser Karte gab es gar keine Alte, wohl aber eine Erfrischende Promenade! Ich legte beide Pläne nebeneinander und verglich sie aufmerksam. Es gab noch viele andere Unstimmigkeiten, und erstaunt schüttelte ich den Kopf. Allem Anschein nach war der erste Stadtplan der richtige. Jedenfalls war ich mit ihm unterwegs gewesen und hatte dort meine Route eingetragen. Oder waren beide Karten nutzlos?

Ich trank rasch meine Kamra aus, steckte die geheimnisvollen Souvenirs ein und verließ den Imbiss. Aufmerksam las ich den Straßennamen Runde Gasse. Na bitte! Jetzt musste ich nur noch in meine Pläne schauen.

Diesmal hatte der neu erworbene Lederstadtplan Recht, denn er verzeichnete die Runde Gasse dort, wo sie war. Mein zuerst gekaufter Plan hingegen zeigte hier eine Siebenkräutergasse. Schöne Bescherung!

Offenbar bin ich dem Geheimnis schon auf der Spur, dachte ich niedergeschlagen und bedauerte sehr, wie rasch meine Urlaubsstimmung verflogen war. Und dieses Geheimnis sieht gar nicht gut aus, überlegte ich weiter. Sündige Magister! So ein kartografisches Chaos eignet sich für einen Tollpatsch wie mich ganz und gar nicht. So ein Rätsel ist was für Mister Sherlock Holmes. Doch der lebt nur in Büchern und kann alles - ich hingegen bin lebendig und dumm wie Brot. Bestimmt kennt sich selbst Lonely-Lokley mit solchen Stadtplänen besser aus als ich. Schürf aber hat zu stark am Joint gezogen und verprasst sein Geld in den Spelunken der Stadt. Allmächtiger Himmel - was treibst du mit mir?

Dem Himmel freilich war mein Gejammer egal. Nicht mal eine winzige Wolke erschien über den Trümmern meines Verstandes.

Ich sah auf, warf dem kaltherzigen Firmament einen bösen Blick zu und ging weiter.

Jetzt interessierte ich mich nur noch für Buchhandlungen und Antiquitätenläden. Überall kaufte ich Stadtpläne von Kettari und feilschte wie ein Löwe um den Preis. In meiner Not war ich zu allem fähig. Nur eins schaffte ich nicht: die Verkäufer davon zu überzeugen, mich dafür zu bezahlen, dass ich ihnen ihre Waren abnahm.

Bei Sonnenuntergang merkte ich, wie müde ich war. Ich sah mich um und stellte fest, dass ich vor einem Schild mit der Aufschrift Alt-Kettaii stand. Das Wirtshaus lag dort, wo die Hohe Straße und die Straße der Fischaugen sich trafen, und hatte darum zwei Eingänge. Die etwas weiter entfernte Tür schien der Haupteingang zu sein und war mit einer riesigen, ihren Schaumlöffel schwingenden Lady bemalt. Die Tür, vor der ich stand, gefiel mir sehr viel besser: Es handelte sich um eine normale Holztür, auf die die hiesige Traubensorte gezeichnet war. Forsch zog ich an der Klinke, doch die Tür blieb zu. Hoffentlich muss ich nicht zu der Menschenfresserin, dachte ich erschrocken und zog erneut.

Beim dritten Mal begriff ich, dass ich nicht ziehen, sondern drücken musste. Typisch: Ich kämpfe immer mit unbekannten wie bekannten Türen - eine Krankheit, die als unheilbar gilt.

Als ich mir endlich Eintritt verschafft hatte, kam ich in einen beinahe leeren Saal und nahm in einer Ecke Platz.

Von irgendwo hinter meinem Rücken erschien eine so fröhliche wie füllige Lady und überreichte mir ein dickes Buch. Ehrerbietig schüttelte ich den Kopf: So eine umfangreiche Speisekarte gibt es selbst in Echo eher selten.

»Bringen Sie mir bitte zunächst etwas Kamra«, bat ich.

»Ich glaube, ich brauche Zeit, um dieses dicke Buch zu studieren.«

»Sehr gern«, sagte die Kellnerin und lächelte freundlich. »Wünschen Sie noch etwas Stärkeres, Lady?«

»Wenn ich was Stärkeres trinke, schlafe ich sofort auf diesem bequemen Stuhl ein. Bringen Sie mir lieber was Erfrischendes.«

Mein Kachar-Balsam lag friedlich im Haus Nummer vierundzwanzig an der Alten Promenade, die ich nur auf sechs meiner elf Stadtpläne gefunden hatte. Diese Tatsache stimmte mich nicht gerade optimistisch.

»Ich empfehle Ihnen Kachar-Balsam«, sagte die sympathische Frau. »Seit dieses Getränk erlaubt ist, kaufen wir es in großen Mengen in der Hauptstadt. Kennen Sie die Eigenschaften dieses Balsams zufällig?«

»Allerdings«, antwortete ich mit Nachdruck.

Ich vermutete - um es mit Sir Juffin zu sagen -, in die hübscheste Imbissstube der Stadt geraten zu sein. Die dümmsten Bauern finden eben die dicksten Kartoffeln.

Die Frau verschwand, und ich studierte die Speisekarte. Nach einigen Minuten begriff ich, dass die Namen der Gerichte keine Informationen enthielten, sondern eine Art komplizierte abstrakte Poesie waren. Als die Kellnerin mit einem Gläschen Kachar-Balsam zurückkam, eröffnete ich ihr, ich wolle eine große Portion von etwas Leckerem, nicht notwendig Delikatem. Das Schmalz vom Vortag hatte mich vorsichtig gemacht.

In einem ausgiebigen Gespräch klärten wir, dass eine Portion Windküsse genau das Richtige für mich war, obwohl sie frühestens in einer halben Stunde fertig wären. Ich nickte entspannt. Es ist so leicht, mich glücklich zu machen!

Die Frau verschwand im aromatischen Küchendunkel, und ich trank Kachar-Balsam und fasste wieder Mut. Schon lange hatte ich Lust auf eine Zigarette. Ich musste nur herausfinden, ob ich mir erlauben konnte, hier eine zu rauchen.

Der Speisesaal war fast leer. Außer mir gab es nur einen Gast. Er saß am Fenster mit Aussicht auf einen Springbrunnen, dessen Wasser nicht gleich zu Boden fiel, sondern ein paar hübsche Spiralen drehte.

Das Gesicht des Unbekannten sah ich nicht, nur seinen Rücken, der über ein Spiel gebeugt war. Mit etwas Fantasie konnte man es für die hiesige Version von Schach halten: Die Figuren waren ähnlich, doch das Brett war dreieckig und dreifarbig.

Allem Anschein nach war der Mann so in seine intellektuellen Probleme vertieft, dass man in seiner Gegenwart nicht nur eine Zigarette aus einer anderen Welt rauchen, sondern auch einen Striptease machen konnte. Mit wegwerfender Handbewegung zündete ich mir eine Zigarette an. Wenn sich Lonely-Lokley in der berühmten Stadt Kettari vergnügen konnte, warum sollte ich es dann schlechter haben!?

Die Windküsse entpuppten sich als kleine Geflügelkoteletts. Nachdem ich mit ihnen fertig war, trank ich den wohltuenden Balsam leer und packte meine Trophäen aus. Erneut besah ich mir die elf Versionen von Kettari, die mir die Stadtpläne zeigten. Und welche Überraschung: Die Hohe Straße, die Straße der Fischaugen und das Wirtshaus Alt-Kettaii waren auf allen elf Karten eingetragen. Das erstaunte mich mehr als die vielen Unstimmigkeiten, die mir bisher aufgefallen waren.

Weil ich meinen Augen nicht traute, vertiefte ich mich erneut in die Beschriftung der Karten. Vielleicht war doch alles in Ordnung - nur die Fülle der Eindrücke hatte mich verwirrt? Aber nein: Die enormen Unterschiede, die ich gefunden hatte, existierten weiter.

Ich seufzte. Am besten sollte ich auf Lonely-Lokleys Rückkehr warten und ihm die Lösung des Problems zuschieben. Doch dazu musste ich es erstmal nach Hause schaffen. Und was würde ich tun, wenn sich die Alte Promenade nicht mehr an ihrem Platz befände?

»Quälen Sie sich nicht damit, Sir Max. Das ist ganz unwichtig. Übrigens haben Sie längst nicht alle unterschiedlichen Stadtpläne aufgetrieben.«

Ich war so überrascht, dass ich meine Kamra auf einen Satz austrank und mich dabei verschluckte. Der Schachspieler, dessen unauffällige Gegenwart ich bereits vergessen hatte, schaute mich so freundlich wie mitleidig an.

»An all dem sind nur die verflixten Brücken schuld«, sagte er so leichthin, als würde er von kleinen familiären Reibereien erzählen. »Ich kann sie einfach nicht in die richtige Reihenfolge bringen.«

Schweigend starrte ich den seltsamen Mann an. Hatte er wirklich »Sir Max« gesagt? Oder hatte ich mich nur verhört? Lady Marilyn war doch die echteste Illusion, das hübscheste Geschöpf von Sir Kofa Joch, unser aller Stolz!

Der Schachspieler lächelte schief unter dem roten Schnauzbart, stand auf und kam zu mir. Er hatte einen eigenartig federnden Gang und ein ebenso eigenartig unauffälliges Gesicht, das mir nicht bekannt vorkam. Seinen seltsamen Gang hingegen erkenne ich sicher noch in dreihundert Jahren wieder.

»Mein Name ist Machi Ainti«, sagte er sanft und setzte sich zu mir. »Ich bin der ehemalige Sheriff von Kettari. Wissen Sie jetzt, worum es sich handelt?«

Ich nickte schweigend. Das Herz schlug mir im Hals, und ich hätte die Stadt am liebsten mit Siebenmeilenstiefeln verlassen. Die Armlehnen knirschten unter dem Druck meiner geballten Finger.

»Locker bleiben!«, meinte Machi lächelnd. »Sie glauben gar nicht, Sir Max, wie lange ich auf dieses Treffen gewartet habe. Ich freue mich sehr, Ihnen endlich zu begegnen.«

Ich verstand nur Bahnhof. Dieser Mann wollte lange auf mich gewartet haben? Und sich freuen, mich endlich kennen zu lernen? Woher wusste er überhaupt, wer ich war? Meines Wissens stand Sir Juffin mit seinem Lehrer nicht in Briefkontakt.

»Na gut - falls Sie darauf bestehen, sich die ganze Zeit zu wundern, gehe ich wieder an meinen Tisch. Wenn Sie mit dem Staunen fertig sind, melden Sie sich bitte.«

»Sie brauchen nirgendwo hinzugehen. Ich habe mich schon beruhigt«, sagte ich und lächelte verlegen. »Natürlich kann derjenige, der dem ungemein klugen Juffin Halli so viel beigebracht hat, über alles auf der Welt Bescheid wissen.«

»Eine ausgezeichnete Antwort! Wissen Sie, ich habe mit Maba Kaloch gestritten ...«

»Oh, der ist auch hier?«

»Tja, wie soll ich sagen ... Im Moment anscheinend nicht. Aber bei Maba weiß man nie. Wie auch immer -er besucht mich manchmal. Wir haben über Sie gestritten und uns nicht einigen können. Ich hatte nicht geglaubt, dass Sie mal hier landen würden, und darum selbst einen Besuch bei Ihnen geplant. Und diese Idee wollte Maba Kaloch mir ausreden und behauptete, Sie würden innerhalb von ein, zwei Dutzend Tagen den Weg hierher finden. Dass es so schnell gehen würde, hatten wir beide nicht gedacht. Wissen Sie eigentlich, dass Sie ein Glückspilz sind?«

»Sir Juffin verkündet es mir regelmäßig. Was das anlangt, weiß ich freilich jede Menge Gegenargumente, aber die zählen nicht, wie ich vermute.«

»Richtig. Ihr Glückspilze seid einfach alle gleich. Aber dass Sie durch ein Wunder geboren worden sind, wissen Sie doch?«

Erstaunt schüttelte ich den Kopf. Bisher hatte ich nicht den Eindruck, meine Frühgeschichte sei allzu dramatisch gewesen.

»Details brauchen Sie nicht zu wissen. Glauben Sie mir ruhig! Ich habe übrigens das Gefühl, Sie würden jetzt gern eine Zigarette rauchen.«

Ich nickte. Das Problem war allerdings, dass meine Schachtel leer war und das Wunderkissen zu Hause lag.

»Maba hat Ihnen ein kleines Geschenk dagelassen und mich gebeten, Ihnen zu sagen, Sie würden alles so schnell lernen, dass Sie sich dieses Mitbringsel redlich verdient haben.«

Machi reichte mir eine volle Packung meiner Lieblingsmarke mit den drei goldenen Fünfen auf gelbem Hintergrund.

»Das ist ja eine tolle Überraschung!«, rief ich. »Sie haben Recht, Sir Machi - ich bin wirklich der größte Glückspilz des Universums.«

»Fast.« Mein Gesprächspartner nickte geistesabwesend. »Was kann ich Ihnen noch anbieten? Vielleicht etwas, das Ihre Nostalgie weckt? Fräulein Gelica!«

Die lächelnde Kellnerin tauchte erneut hinter meinem Rücken auf, stellte wortlos ein Tablett mit zwei Tassen auf unseren Tisch und verschwand still wie ein Schatten.

»Sie ist tatsächlich ein Schatten«, beantwortete Sir Machi meine nur in Gedanken gestellte Frage. »Aber ein sehr netter Schatten. Zufrieden?«

Schweigend betrachtete ich meine dampfende Tasse. Dieser Duft! Kamra ist natürlich was Feines, von dem ich viel trinken kann, aber das Aroma von Bohnenkaffee ist einfach unvergleichlich.

»Ich breche gleich in Tränen aus«, bekannte ich. »Sir Machi, ich stehe für immer in Ihrer Schuld.«

»In meiner Schuld stehen? Werfen Sie lieber nicht mit solchen Ausdrücken um sich. Das ist nicht ungefährlich - besonders in Ihrem Fall. Ihre Worte und Wünsche haben die rätselhafte Tendenz, in Erfüllung zu gehen. Ich glaube, auf diese Welt kommen lustige Zeiten zu, wenn Sie nicht bald alt und klug werden. Aber ich fürchte, weder Alter noch Klugheit drohen Ihnen in absehbarer Zeit.«

»Sündige Magister, Sir Machi - reden Sie immer in Rätseln?«

»Manchmal. Und in letzter Zeit schweige ich meist. Es bleibt Ihnen also nichts übrig, als zu leiden.«

»Gut, ich rauche jetzt eine Zigarette. Danach können Sie mit mir machen, was Sie wollen - ich bin mit allem einverstanden.«

»Tja, Ihr Spürsinn ist nicht allzu gut entwickelt. In dieser Situation hätte Juffin schon längst ein Dutzend Fragen gestellt, etliche Vorträge gehalten und mit dem Entwickeln von Hypothesen begonnen. Wollen Sie mir vielleicht gleich die entscheidende Frage stellen, um das geheimnisvolle Schicksal von Kettari zu klären?«

Ich zuckte die Achseln. »Ich weiß, dass ich im Moment eine schlechte Figur mache. Zwar bin ich nicht besonders schlau, aber so dumm auch wieder nicht, um Sie mit Fragen zu löchern. Sie erzählen mir sowieso nur, was Sie für notwendig halten - und das auch ohne Fragerei.«

»Großartig«, rief Sir Machi erfreut. »Ich kann Juffin nur beneiden. Es ist sehr angenehm, mit Ihnen zu tun zu haben.«

»Das finde ich auch. Aber früher war ich anders. Erst das gute Essen und Juffins Scherze haben aus mir einen Engel gemacht.«

»Juffins Scherze? Lustig! Früher war er der humorloseste Mensch von Kettari. Ich habe zweihundert Jahre gebraucht, ihm wenigstens ein Lächeln abzuringen. Das fiel zwar immer noch schief aus, aber er hat sich wenigstens darum bemüht.«

Ich sah meinen Gesprächspartner ungläubig an.

»Na ja, eigentlich habe ich Besseres zu tun, als hier zu sitzen und mit Ihnen zu plaudern. Glauben Sie etwa, Juffin war von Anfang an so alt, klug und lustig? Ach, Sir Max, wir sind beide Glückspilze: Ich kann niemandem mehr von meiner Jugend erzählen, und Sie werden so schnell reif, dass niemandem Ihre Dummheiten im Gedächtnis bleiben. Na schön, trinken Sie das seltsame Zeug, solange es warm ist. Wenn Sie Nachschub wollen, sagen Sie Bescheid - heute ist Ihr Tag. Ich muss meine Schuld wiedergutmachen. Beinahe hätte ich Sie mit den Stadtplänen von Kettari in den Wahnsinn getrieben. Ich hätte nie gedacht, dass Ihnen die Unterschiede auffallen würden.«

»Reiner Zufall! Ich habe einfach die dumme Angewohnheit, auf jedem Plan zuerst nach meiner Adresse zu suchen.«

»Und warum waren Sie so schnell gestresst? Ist das auch eine dumme Angewohnheit?«

»Genau. Hatten Sie mir nicht Nachschub versprochen?«

Wieder verstand ich nicht, woher die Kellnerin so plötzlich mit einem neuen Tablett auftauchte. Offenbar war sie wirklich ein Schatten.

»Na schön«, meinte ich und nahm genüsslich einen Schluck frischen Kaffee. »Wenn die Spielregeln es erlauben, möchte ich Ihnen jetzt eine Frage stellen: Was ist los mit Kettari?«

»Sie hatten von Anfang an den richtigen Verdacht«, sagte Machi, nahm meine Tasse, schnupperte daran und stellte sie mit Abscheu zurück. »Sind Sie sicher, dass Sie das vertragen? Haben Sie keine Angst, davon krank zu werden?«

Ich schüttelte den Kopf und fragte weiter: »Neben dieser Welt existieren also noch andere Welten, ja?«

»Natürlich. Ich weiß aber nicht genau, wie diese Parallelität organisiert ist. Kettari existiert tatsächlich nicht mehr. Wie Sie sehen, gibt es die Stadt zwar, aber nicht dort, wo sie sein sollte, und nicht so, wie sie früher ausgesehen hat.«

»Und die hiesige Bevölkerung?«, fragte ich und hielt den Atem an. »Die Leute hier scheinen ganz normal zu sein.«

»Das sind sie auch - abgesehen davon, dass sie seit einiger Zeit als gestorben zu gelten haben. In Ihrer Sprache gibt es dafür ein sehr hübsches Wort, das ich mir unbedingt merken sollte. Na ja, die Bewohner hier wissen längst nicht alles. So sind sie zum Beispiel überzeugt, im Vereinigten Königreich zu leben, und sie haben ja auch keinen Grund, daran zu zweifeln. Sehen Sie - diese Leute können immer überallhin fahren. Sie können auch Gäste einladen, haben ihre Besucher aber schon vor der Stadt zu empfangen, damit die nicht vom Weg abkommen. Die Straßen rund um Kettari befinden sich - wie hier jedes Kind weiß - seit der letzten Schlacht um das Gesetzbuch in einem erbärmlichen Zustand. Darum ist es auch empfehlenswert, beim Verlassen der Stadt ein Amulett bei sich zu tragen, zum Beispiel einen Schlüssel, der das Tor zwischen den Welten aufsperren soll.«

»Dann ist Kettari also eine ganz andere Welt - so wie meine Heimat?«

»Ganz so einfach ist es auch wieder nicht. Sie, Sir Max, sind an einem zwar seltsamen, aber realen Ort geboren, Kettari hingegen ... Wie soll ich Ihnen das erklären? Kettari ist der Anfang einer neuen Welt, die irgendwann real sein wird, gegenwärtig aber noch virtuell ist. Und weil Kettari ein Anfang ist, ist es ein Tummelplatz von Geheimnissen. Übrigens kann ich Ihnen einen Spaziergang vor die Stadt nur empfehlen. Für Sie ist so was absolut ungefährlich, und Sie können dabei einen Blick in die reale Leere ringsum werfen, ins Vakuum gewissermaßen.«

»Meinen Sie das ernst?«

»Unbedingt! Machen Sie das am besten gleich, aber gehen Sie allein.«

»Ich wurde sitzen gelassen und bin ohnehin Single.«

»Daran sind Sie selbst schuld. Und Sie haben noch Glück, dass Ihr Begleiter so ein starker Mann ist. Drogen aus einer Welt können in anderen Welten ganz unerwartete Auswirkungen haben. Erinnern Sie sich nur daran, was mit Ihnen passiert ist, als Sie einen Teller Rekreationssuppe verspeist haben! Übrigens geht es Ihrem Freund sehr gut - da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.«

»Mach ich doch auch nicht. Aber woher wissen Sie so viel über mich, Sir Machi?«

»Na ja, seit Sie in Juffins Leben getreten sind, sind Sie -um es etwas schlicht zu sagen - eine Art Enkelkind für mich. Aber unsere Beziehung ist wirklich beinahe familiär.«

Ich lächelte verständnisinnig.

»Das reicht für heute«, sagte Machi überraschend. »Sie machen jetzt einen Spaziergang vor die Stadt, und wenn Sie zurück sind, setzen wir das Familientreffen fort. Dann werden Sie mehr erfahren, als in Ihren armseligen Kopf geht.«

»Einverstanden.«

Eigentlich wusste ich nicht, ob mich das abrupte Ende des Gesprächs freuen oder ärgern sollte, aber ich brauchte eine Auszeit.

»Erklären Sie mir nur bitte, wie ich nach Hause komme. Ich meine - welcher meiner Stadtpläne ist zuverlässig?«

»Lügen tut keiner«, meinte Machi achselzuckend. »Es ist nur so: Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie die Stadt wirklich ausgesehen hat, und inzwischen hat es diverse Versionen von Kettari gegeben. Nur die Brücken halten die Bruchstücke meiner Erinnerung zusammen. Wissen Sie, ich musste Kettari neu errichten, weil die Stadt ausgelöscht wurde. Die Zerstörung war so radikal, dass kein einziger Zeuge überlebt hat.«

»War daran irgendein mächtiger Magister schuld?«, fragte ich verständnisvoll.

»Nicht irgendeiner, sondern einer der Größten. Sein Name war Lojso Pondochwa, der Große Magister des Ordens ...«

»... der Wasserkrähe«, unterbrach ich ihn und musste lächeln.

»Ich glaube kaum, dass Sie gelächelt hätten, wenn Sie ihm begegnet wären«, meinte Machi achselzuckend. »Lojso Pondochwa war ein Tier. Ich weiß bis heute nicht, wie Juffin Halli es geschafft hat, ihn zu besiegen. Aber vielleicht halte ich Juffin noch immer für jung und dumm -das denken Lehrer ja meist über ihre Schüler. Genau wie Eltern über ihre Kinder ... Na ja, Ihre Frage ist einfach zu beantworten. Das Alt-Kettari ist in allen Stadtplänen eingetragen, oder?«

»Stimmt.«

»Wie könnte es auch anders sein? Das war schließlich mein Lieblingslokal, als die Zeiten hier noch ruhig waren. Von hier aus können Sie gehen, wohin Sie wollen. Sie sollten sich aber an einem Stadtplan orientieren, in dem Ihr Haus eingetragen ist. Also los! Die Brücken werden Sie bringen, wohin Sie möchten. Und vergessen Sie nicht: Wenn Sie sich verlaufen, können Sie sich immer am Alt-Kettari orientieren.«

»Das klingt gut«, sagte ich. »Ich sollte nämlich langsam mal nach Lonely-Lokley sehen. Vielleicht ist er in eine Version von Kettari geraten, in der es die Alte Promenade nicht gibt.«

»Keine Panik. Ihr groß gewachsener Freund hat keine einzige Brücke überquert. Er hat nicht mal das Alte Haus verlassen.«

»Donnerwetter! Was treibt er denn da die ganze Zeit? Schlägt er sich etwa den Bauch voll?«

»Das wird er Ihnen schon selbst sagen. Lassen Sie solche Nebensächlichkeiten erst mal auf sich beruhen, Sir Max.«

»Was die Beschäftigung mit Nebensächlichkeiten angeht«, meinte ich lächelnd, »bin ich ein großer Spezialist und kann Ihnen da bei Interesse gern Nachhilfe geben. Ich danke Ihnen für den Kaffee und Sir Maba für die Zigaretten. Damit hätte ich nicht mal im Traum gerechnet.«

»Das war nur eine nette Geste«, sagte Machi bescheiden. »fetzt liegt es an Ihnen. Sie bekommen immer, was Sie wollen - früher oder später. Das ist eine gefährliche Eigenschaft, muss ich sagen. Aber Ihnen droht nichts -Sie werden sich schon herauswinden.«

»Ich bekomme immer, was ich will?«, fragte ich erstaunt.

Diese Einschätzung von Sir Machi hatte meiner Ansicht nach nicht das Geringste mit der Wirklichkeit zu tun.

»Genau. Aber vergessen Sie bitte nicht meine Einschränkung »früher oder später* - das ändert einiges, stimmt's?«

»Da haben Sie Recht«, seufzte ich.

Wir schwiegen beide. Ich überlegte, ob Sir Machi mit seiner Version des ewigen Themas »Max der Glückspilz« Recht haben mochte, und er beobachtete mich dabei mit einer Neugier, die meinem Ego schmeichelte.

»Ich kann mich also jederzeit von hier aus neu orientieren?«, fragte ich beim Aufstehen.

»Selbstverständlich. Gute Nacht, Lady Marilyn.«

••Was? Ach so, natürlich. Danke, dass Sie mich daran erinnert haben. Gute Nacht, Sir Machi.«

Ich trat auf die Straße, schlug den ersten Stadtplan auf, der mir in die Finger geriet, und ging nach Hause. Ich musste mich unbedingt beruhigen. Vor allem aber musste ich mich davon überzeugen, dass das Haus, in dem ich Quartier bezogen hatte, noch existierte.

Das bereitete mir keine Probleme. Die erste Brücke führte mich direkt nach Hause - genau wie Machi Ainti versprochen hatte. Anders als unser guter Bekannter Maba Kaloch hatte er keine Neigung, Neulinge zum Narren zu halten. Und das war ein Glück für mich.

Ich setzte mich in einen Schaukelstuhl und rauchte. Der unerwartete Zigarettenüberfluss hatte mich verschwenderisch werden lassen. Die Bedeutung all dessen, was Sir Machi gesagt hatte, ging mir langsam auf, doch ich zog es vor, so zu tun, als würde ich weiter im Dunkeln tappen. Mein Kopf brummte, und mir klangen die Ohren. Die Welt schien in Lichtpunkte zerstoben, und ich fühlte mich dem Zusammenbruch nahe.

»Max«, ermahnte ich mich, »ich mag dich sehr und kann ohne dich nicht leben. Also reiß dich zusammen, ja? Egal, was du sogar aus besten Quellen erfahren hast: Es gibt keinen Grund, verrückt zu werden.«

Erstaunlicherweise beruhigte mich diese Selbstermahnung, und ich ging mich waschen. Zwölf Liter kaltes Wasser auf einen hitzigen Kopf - diese Faustregel hilft gegen Überspannungen aller Art.

Danach setzte ich mich wieder in den Schaukelstuhl und rauchte eine weitere Zigarette. Erfreut stellte ich fest, dass das Wohnzimmer wieder aussah, wie es sich gehörte: Es gab keine flimmernden Lichtpunkte mehr, sondern nur vier Wände, Decke und Fußboden.

»Gut«, sagte ich mir, »jetzt kann ich gehen, wohin ich will. Zum Beispiel ins Alte Haus, um den verloren gegangenen Lonely-Lokley zu suchen. Oder vor die Stadtmauer, um die absolute Leere zu erfahren - oder welchen Namen man diesem Erlebnis sonst geben mag. Ich glaube, das erste Ziel wäre reizvoller, doch Sir Machi hat mir geraten, mit dem Ausflug zu beginnen. Also ...»

Mitten in diesem Monolog unterbrach ich mich und lächelte Lady Marilyn an, die mir aus einem alten Spiegel entgegensah. Dann erhob ich mich schwungvoll und verließ das Haus. Meine Beine trugen mich ohne mein Zutun in eine mir unbekannte Richtung, und ich entfernte mich weit vom Mijer und seinen Brücken.

Nach etwa vierzig Minuten erreichte ich die Stadtmauer. Sie war so Schwindel erregend hoch, als hätten die Einwohner von Kettari den Himmel erreichen wollen, es sich aber im letzten Moment anders überlegt.

Rasch - für meinen Geschmack zu rasch - fand ich das Stadttor. Offenbar war meine Angst stärker als meine Neugier, denn mich überkam langsam ein unheimliches Vorgefühl von Apokalypse.

Kaum hatte ich das Tor durchquert, glaubte ich, von einer Steilküste hinunter aufs Meer zu schauen. Doch dieser Eindruck hielt nur eine Sekunde an, denn im nächsten Moment sah ich mich schon den gewaltigen Wacharibäumen gegenüber, an denen wir bei unserer Ankunft vorbeigekommen waren. Der grüne Mond beleuchtete freundlich meinen Weg, und ich betrachtete ihn mit ehrlicher Dankbarkeit. Nie hätte ich gedacht, dass dieser ferne Himmelskörper mir einmal so viel bedeuten würde.

Ich ging eine breite Chaussee entlang - zweifelsohne den Weg, auf dem wir nach Kettari gelangt waren - und stellte fest, dass sich meine Stimmung stetig besserte. Meine kindischen Ängste verkrochen sich wieder in den dunklen Höhlen des Unterbewusstseins. Dort würden sie sicher nicht lange bleiben, doch vorläufig war ich sie los.

Ich hatte keine Ahnung, wie lange mein Spaziergang gedauert hatte, doch irgendwann merkte ich, dass es heller wurde. Dann hielt ich an und sah erschrocken zum Himmel. Es war doch kaum Mitternacht gewesen, als ich das Haus verlassen hatte ...

Hältst du dein Zeitgefühl wirklich für intakt, Freundchen?, fragte ich mich streng. Könnte das lange Gespräch mit Sir Machi Ainti nicht deine innere Uhr verwirrt haben? Schließlich wärst du unter all den Informationen, die er dir gegeben hat, fast zusammengebrochen.

Ich sah mich um, und mein Herz schlug mir bis zum Hals - aber eher aus Freude, nicht aus Angst: Direkt vor mir sah ich die Talstation einer Drahtseilbahn und weiter hinten ... die seltsame, fast menschenleere Bergstadt aus meinen Träumen. Eindeutig erkannte ich die Silhouette der Häuser und Türme, und auf einem Dach saß ein Wetterhahn. Die fantastische Stadt war sehr nah, und ich konnte die Drahtseilbahn benutzen, die in dieser Gegend ohnehin das einzige Transportmittel war. Als ich in der Kabine saß, hatte ich nicht mal Höhenangst! Eigentlich hatte ich vor gar nichts mehr Angst ...

Zehn Minuten später verließ ich die Gondel und trat auf eine enge Straße, die ich seit der Kindheit kannte. Ach, Melamori, dachte ich, hier sollten wir spazieren gehen, nicht im öden Echo. Muss ich so einen wunderbaren Ort ganz allein genießen? Ich kippe gleich aus den Latsehen - das ist wirklich zu viel des Guten. Aber natürlich wurde ich nicht ohnmächtig.

Ich kannte die Stadt besser als meinen Geburtsort und hatte den Eindruck, nach Hause zurückzukehren, denn diesmal war ich nicht im Traum, sondern bei vollem Bewusstsein hier gelandet.

Ich erinnere mich allerdings kaum an Einzelheiten dieses berauschenden Spaziergangs. Ich weiß nur, dass ich durch die ganze Stadt geschlendert bin, deren Namen ich nicht kannte. Der Ort war nicht völlig menschenleer: Ab und an traf ich einzelne Fußgänger, deren Gesichter mir bekannt vorkamen, und manche grüßten mich sogar mit kerniger Stimme, was mich nicht weiter wunderte.

Ich erinnere mich nur, irgendwann so müde gewesen zu sein, dass ich mich in ein Straßencafe setzte, wo ich gleich eine kleine Tasse türkischen Kaffee bekam. Einige Zentimeter über der Tasse hing ein Ast voller Pflaumen, die ich problemlos pflücken, aber auch hängen lassen und bewundern konnte. Ich griff nach einer Zigarette und schnippte gedankenverloren mit den Fingern. Sofort stieg grünlich schimmernder Rauch auf, und die Zigarette glühte. Ich zuckte die Achseln, als wäre es für mich die normalste Sache der Welt, eine Kippe so anzuzünden. Es ist eine Kleinigkeit, sich an Zauberei zu gewöhnen, doch solche Wunder sollten öfter geschehen.

Dann ging ich weiter und spazierte durch einen menschenleeren Park im englischen Stil. Sündige Magister -diesen Ort kannte ich doch aus meinem anderen Traum! Dann sah ich wieder elf Wacharibäume und das Stadttor und kehrte nach Kettari zurück.

Die Sonne stieg gerade über den Horizont, und ich merkte, dass ich so müde war, als ob mein Spaziergang Tage gedauert hätte. Vielleicht war ich ja wirklich so lange durch die Stadt gezogen? Aber egal - jetzt musste ich nach Hause gehen und schlafen. Sollte die Sonne machen, was sie wollte.

Im Gästezimmer erwartete mich Sir Schürf.

»Ich freue mich, dich gesund und guter Dinge zu sehen«, sagte er herzlich. »Als ich nach Hause kam, hab ich mich über deine Abwesenheit gewundert - immerhin sind wir hierher gereist, um ein Rätsel zu lösen. Aber am nächsten Tag ...«

»Am nächsten Tag? Sündige Magister, wie lange war ich denn fort?«

»Um diese Frage beantworten zu können, müsste ich wissen, wann du das Haus verlassen hast. Ich warte seit vier Tagen auf dich, aber ich war ja auch einige Zeit nicht da.«

»Auweia«, stöhnte ich. »Mit dem Schlafen wird es jetzt wohl nichts. Ich muss mich erst zurechtfinden. Wo ist die einzige Freude meines Lebens? Das nette kleine Fläschchen?«

»In deiner Reisetasche.«

»Schürf, das ist wirklich toll«, meinte ich und nahm einen kräftigen Schluck Kachar-Balsam, was meine Müdigkeit abrupt vertrieb. »Bist du überhaupt noch der gute alte Lonely-Lokley? Jetzt, wo du mich nicht mehr Lady Marilyn nennst, nicht mehr ständig wie ein Pferd wieherst und mich sogar weiterhin duzt? Bin ich vielleicht gestorben und ins Paradies gekommen?«

»Ich glaube, es wäre absurd, dich weiter Marilyn zu nennen. Und es wäre sinnlos, dich zu siezen, nachdem du schon Bekanntschaft gemacht hast mit ...«

»... einer sehr netten Ausgabe von Sir Schürf Lonely-Lokley«, sagte ich lächelnd. »So ist es auch besser. Das ewige Siezen ist mir schon lange auf die Nerven gegangen. Aber warum wäre »Lady Marilynabsurd?«

»»Sieh dich doch im Spiegel an, Max. Zum Glück kennt dich in Kettari kaum wer, und wir können die Stadt auch ohne Karawane verlassen. Denn nur so bleibt unser Inkognito gewahrt.«

Ich sah erstaunt in den Spiegel. Ein fremdes, verwirrtes und müdes Gesicht starrte mir entgegen. Nein, das war kein Fremder - das war ich selbst! Offenbar hatte ich fast vergessen, wie ich früher ausgesehen hatte.

»Furchtbar«, sagte ich angewidert. »Wem ähnele ich bloß? Mein Leben lang war ich sicher, ein sympathischer Typ zu sein, und jetzt? Wo ist das süße Gesicht von Lady Marilyn geblieben? Na ja, außer uns kennt sie ja fast keiner. Schürf, sag mir bitte, ob deine letzten Tage schön waren. Ich hätte mich per Stummer Rede bei dir melden sollen, aber ich dachte immer, du würdest gleich kommen.«

Lonely-Lokley zuckte ungerührt die Achseln.

»Ich weiß nicht, wo du gewesen bist, Max, aber ich habe mehrmals versucht, Kontakt zu dir aufzunehmen.«

»Und ...?«

»Absolut nichts, wie du dir denken kannst. Aber ich wusste, dass du lebst, weil ... Na ja, ich bin dir auf die Spur getreten. Das kann ich zwar nicht so gut wie Lady Melamori, aber zur Not schaff ich es schon. Die Spur eines Lebenden unterscheidet sich klar von der eines Toten. Was das anlangte, war ich beruhigt. Die Pflicht hat mich dazu gezwungen, obwohl ich wusste, dass ich mich nicht in deine Angelegenheiten einzumischen habe. Deine Fährte hat zur Stadtmauer geführt, aber dort habe ich gespürt, dass ich nicht weitergehen sollte. Es war ein sehr unangenehmes Gefühl, das ich nur ungern wieder erleben möchte. Jedenfalls wusste ich, dass mit dir alles in Ordnung ist.«

»Das tut mir leid für dich«, sagte ich aufrichtig. »Weißt du, wo ich war? Du kennst doch die Stadt meiner Träume? Die mit der Drahtseilbahn? Erinnerst du dich?«

Lonely-Lokley nickte phlegmatisch: »Du solltest aber nichts davon erzählen, Max. Ich habe das Gefühl, es wäre besser, wenn du schweigst. Klar?«

»Klar«, sagte ich und sah ihn erstaunt an. Dann kam mir ein anderer Gedanke. »Wieso eigentlich? Hast du etwa das gleiche unangenehme Gefühl wie am Stadttor?«

Lonely-Lokley nickte.

»Gut, ich werde schweigen wie ein Grab - Ehrenwort. Weißt du, ich muss jetzt etwas dösen. Ich hoffe, nach diesem Zaubertrank reichen mir zwei, drei Stunden, und dann erzählst du mir alles. Oder nein, sag's am besten jetzt - sonst sterbe ich vor Neugier: Was hast du die ganze Zeit getrieben? Ich meine eigentlich nicht dich, sondern den lustigen Mann, der sich so tatendurstig verabschiedet hat. Was hat er angestellt?«

Lonely-Lokleys Miene verfinsterte sich.

»Das ist kein Ruhmesblatt, Max. Er - also ich ... ich hab die ganze Zeit Mau-Mau gespielt. Das war sehr schön. Aber eigentlich wollte ich dich fragen, ob du noch Geld bei dir hattest, als wir uns trennten. Ich hab nämlich keins mehr.«

»Hast du alles verspielt?«, fragte ich und lachte so unbändig, dass ich mich auf den Boden setzen musste.

»Wirklich alles? Wie lange hast du denn gespielt? Ein Jahr? Zwei?«

»Zwei Tage und zwei Nächte«, meinte Lonely-Lokley kühl. »Aber eine Partie dauert nicht länger als zwölf Minuten.«

»Verstehe. Was mich betrifft, habe ich noch drei Kronen und etwas Kleingeld. Aber das macht nichts, denn ich bin das bescheidene Leben gewöhnt. Wenn alle Stricke reißen, können wir jemanden umbringen oder klauen gehen. Du kannst doch stehlen, oder? Bestimmt kannst du das.«

»Allzu schwer ist das ja nicht«, sagte er wichtigtuerisch. »Aber ich glaube kaum, dass es korrekt wäre. Wir dienen dem Gesetz, falls du das noch nicht vergessen hast.«

»Na ja«, meinte ich und räusperte mich. Ich konnte mich nicht mehr konzentrieren. Mein von vielen Wundern ermüdeter Geist suchte schon lange eine Gelegenheit zu einem mittelgroßen hysterischen Anfall. »Schürf, du bist herrlich. Wirklich tapfer. Und ich bin ein Idiot. Ich hatte schon überlegt, einen Teppichladen auszurauben. Na schön, leben wir also weiter bescheiden. Das hat auch Vorteile - das weiß ich genau. Und ich hab einige Bücher darüber gelesen.«

»Du bist sehr generös, Max«, sagte Lonely-Lokley. »Ich glaube, du hättest allen Grund, ärgerlich zu sein.«

»Ich bin doch nicht generös! Ich hab einfach wichtigere Probleme. Außerdem bin ich selbst schuld. Warum bin ich auf die Idee gekommen, dir dieses Kraut anzubieten?«

»Jedenfalls hat dein Geschenk mir große Freude gemacht«, stellte Schürf fest. »Jeder hat das Recht, sich von sich zu erholen - auch wenn es nur selten geschieht.

Aber du hast dieses wunderbare Mittel nicht immer, stimmt's.«

»Natürlich nicht. Hast du schon vergessen, wie erstaunt ich war, als ich es unter dem Kissen hervorgezogen habe?«

»Verstehe. Aber wenn dir so was wieder in die Hände gerät, wirf es bitte nicht weg, sondern bewahr es für mich auf. Das kann allerdings ein paar Dutzend Jahre dauern.«

»Wenn du so lange warten kannst, komm ich bis dahin vermutlich an alles Mögliche«, sagte ich selbstgewiss. »Hast du keine Lust, schon früher wieder so einen Spaß zu erleben?«

»Bei allen Magistern, Max - wie kommst du denn darauf? Sich ein wenig von sich zu erholen, ist nicht zu verachten, aber zu oft sollte man das nicht tun.«

»Du bist erschreckend weise, Schürf. Das ist beinahe zum Verrücktwerden. Stört es dich, wenn ich mich aufs Sofa lege? Ich hab mich daran gewöhnt, hier zu schlummern, und mir fehlt im Moment die Kraft, ins Schlafzimmer zu gehen. Weck mich bitte in zwei, drei Stunden. Nach einer so großen Portion Balsam reicht das vollkommen, und ich hab viel zu tun.«

Mit diesen Worten schloss ich die Augen und verabschiedete mich von allen Welten. Träume hatte ich keine. Ich spürte nur einen unendlichen Augenblick vollkommener Ruhe.

Als ich erwachte, lag das Wohnzimmer bereits im Halbdunkel. Durchs Fenster sah ich den hübschen grünlichen Mond langsam und triumphal am Horizont aufziehen und blickte mich erstaunt um. Lonely-Lokley hielt seinen Schaukelstuhl an. Womöglich hatte er sich mit seiner Atemgymnastik beschäftigt.

»Aber Schürf«, meinte ich gereizt. »Ich hatte dich doch gebeten, mich zu wecken. Bist du jetzt auch noch vergesslich?«

»Ich hab's ja versucht«, entgegnete Lonely-Lokley. »Nach drei Stunden - genau, wie du gesagt hast. Offen gestanden hätte ich nie gedacht, dass du so fluchen kannst, und habe mindestens die Hälfte deines Geschimpfes nicht begriffen, mir aber alles aufgeschrieben. Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mir bei Gelegenheit mal die Bedeutung deiner Tiraden erklärst.«

»Du hast sie aufgeschrieben? Sündige Magister - was hab ich denn so gequatscht? Gib mir mal deine Liste.«

»Es ist schon ziemlich dunkel. Ich muss Licht machen. Soweit ich weiß, kannst du im Finstern nicht lesen.«

»Ach, das geht schon.«

Ich bekam einen Zettel mit Lonely-Lokleys schön geschwungener Handschrift ... Oje! Manche Ausdrücke hatte ich nicht mal in den schlimmsten Momenten meines bewussten Lebens benutzt.

»Ach, Schürf, ich schäme mich so! Hoffentlich glaubst du nicht, dass ich das wirklich gemeint habe.«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Max. Ich weiß sehr gut, dass Menschen im Schlaf alles Mögliche reden, aber ich wüsste gern, was die Worte bedeuten.«

»Gut«, seufzte ich. »Ich wasch mich schnell, dann gehen wir essen. Ehrenwort: Ich muss mir Mut antrinken -jedenfalls, wenn du eine vernünftige Übersetzung hören willst.«

»Ein sehr guter Vorschlag«, sagte Schürf nickend. »Hunger habe ich - ehrlich gesagt - auch.«

»Leider hab ich nur noch ein paar Groschen im Mantel. Aber keine Sorge - das bekommen wir schon hin.«

Nach einer halben Stunde saßen wir im Runden Tisch, wo ich kürzlich wunderbar gefrühstückt hatte. Wie sich herausstellte, schmeckte es dort abends noch besser. Auf alle Fälle hatte ich schon genug Zeit im Alten Haus verbracht, und wenn man unserer Vermieterin glauben konnte, gab es in unserer Ecke nichts Besseres. Und was das Alt-Kettari betraf, ging ich dort zwar gern hin, aber lieber allein.

Ich begann mit einem Krug Kamra und einem Gläschen Likör. Ich nehme ungern einen Aperitif, aber ich musste unbedingt die Rückkehr meines Freundes feiern. Und ich musste mich locker machen, um ihm all die schrecklichen Worte vorlesen und erklären zu können.

Als ich entspannt genug war, nahm ich den Zettel wieder zur Hand. Der neugierige Schürf rückte interessiert näher.

»Na ja, eigentlich ist das nichts Besonderes. Dieses Wort hier zum Beispiel bedeutet ein weibliches Schwein. Und das ... wie soll ich sagen, Schürf, das hat mit Verdauung zu tun ... Und dieses Wort hier, tja, da geht's um Vermehrung.«

»Das klingt wirklich kompliziert.«

»Tatsächlich? Soll ich trotzdem weitermachen?«

»Aber natürlich!«

»Also schön. Dieser Ausdruck hier bedeutet eigentlich nur »Geh weg!*, und mit diesen Worten da äußert man Zweifel, ob eine Person sich vermehren kann. Und dieses hier, weißt du, bezeichnet jemanden, der nicht besonders klug ist.«

»Und welche Probleme hat ein Mensch, dem dieses Wort hier an den Kopf geworfen wird?«

»Schwer zu sagen«, meinte ich verlegen. »Weißt du, Schürf, das ist mir - den Magistern sei Dank! - noch nicht passiert.«

Eine Viertelstunde später war das Verzeichnis abgearbeitet. Je näher wir dem Ende kamen, desto peinlicher wurde es mir. Aber Sir Lonely-Lokley war zufrieden, und das war das Wichtigste.

»Ich gehe jetzt schlafen, wenn du keine anderen Pläne für die Nacht hast«, sagte mein Freund unentschlossen.

Wir hatten das nette Wirtshaus verlassen, und ich überlegte gerade, wie ich mich taktvoll von ihm verabschieden konnte. Ich hatte nämlich eine Verabredung im Alt-Kettaii, wo ich mich mit Sir Machi Ainti weiter unterhalten wollte.

»Tu das, Schürf«, sagte ich erfreut. »Ich habe zwar Pläne für die Nacht, aber ...«

»Verstehe - es ist besser, dass du sie ohne mich angehst. Ich hau mich dann mal aufs Ohr.«

»Prima. Schlaf ist etwas Herrliches. Ich hoffe, all die Schimpfworte haben dich nicht schockiert.«

»Aber warum denn, Max?«, fragte Lonely-Lokley erstaunt. »Worte sind immer nur Worte. Selbst wenn du so was im Wachzustand gesagt hättest, hätte ich das eher lustig gefunden.«

»Mir fällt ein Stein vom Herzen. Also Gute Nacht, Schürf. Ich hoffe, diesmal komme ich früher zurück als nach vier Tagen. Ich habe noch zwei Kronen übrig. Nimm also eine davon. So wirst du jedenfalls nicht verhungern.«

»Ich hoffe sehr, dich morgen wiederzusehen«, sagte Lonely-Lokley. »Vielen Dank, Max. Du bist wirklich fürsorglich.«

Diesmal hatte ich keine Lust, mit den vielen Stadtplänen zu kämpfen. Und das brauchte ich auch nicht, denn ich erinnerte mich noch ganz gut an den Weg zum Treffpunkt.

Bald erreichte ich den Ort, an dem die Hohe Straße auf die Straße der Fischaugen trifft. Das Rauschen des Brunnens hatte ich schon eine Zeit lang gehört. Inzwischen wusste ich, dass ich die kleine Tür drücken, nicht ziehen musste. Das erleichterte mir das Eintreten sehr.

Sir Machi Ainti saß im vorderen Teil des Speisesaals über die hiesige Version von Schach gebeugt. Wie damals war er der einzige Gast.

»Herzlich willkommen, Kollege«, sagte er und wandte sich zu mir um. »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie so schnell sind.«

»Sie meinen ...«, begann ich und sah ihn verwirrt an.

»Nun seien Sie doch nicht so schwer von Begriff! Ich wollte nur sagen, dass Sie die beiden Welten prima zusammengezimmert haben. Das hätte ich auch gern mit Ihrer Leichtigkeit tun mögen. Und Sie haben nicht mal gewusst, was Sie da vollbracht haben, und Ihre Leistung darum gar nicht wirklich genießen können, doch das ist ein anderes Problem.«

»Sie wollen also sagen«, begann ich seufzend, »dass es die Stadt aus meinen Träumen dort in den Bergen früher gar nicht gegeben hat? Habe ich sie etwa erst erschaffen?«

»Natürlich, Max. Aber jetzt setzen und erholen Sie sich. Sie kennen sicher ein paar wirksame Entspannungstechniken. Die sollten Sie nun anwenden. Gelica!«

Sofort tauchte die nette, lächelnde Kellnerin auf.

Ich setzte mich aber nicht zu Machi, sondern auf meinen alten Platz, und der Exsheriff siedelte zu mir über. Seine Miene bewies mir, dass ich alles richtig gemacht hatte.

»Gelica, meine Süße! Der Junge braucht, was er letztes Mal bekommen hat, und ich ... ich brauche diesmal leider nichts.«

Sie nickte und verschwand.

»Sir Machi, erklären Sie mir doch bitte, wie ich ...«

»Nichts erkläre ich Ihnen! Nicht, weil ich Ihnen böse wäre, sondern weil es in dieser Welt viele unerklärliche Dinge gibt. Ich kann Ihnen nur eins sagen: Von Anfang an habe ich mit so einem Wunder gerechnet. Deshalb habe ich Ihnen den Spaziergang vor der Stadt vorgeschlagen. Wie Sie sehen, hatte ich völlig Recht. Früher gab es rund um Kettari nichts, doch inzwischen ist in der Nachbarschaft eine nette Stadt entstanden, die mir sehr gefällt. Obendrein hat sie einen tollen Park. Und hör endlich auf, mich zu siezen, mein Freund. Das passt nicht zur Situation. Ah, da kommt deine Giftportion. Die hast du dir redlich verdient. Hättest du gedacht, dass du für die Schöpfung einer Stadt eine Tasse Kaffee bekommst?«

»Kaffee ist ein ausgezeichnetes Zahlungsmittel und reicht mir vollkommen. Aber ich wüsste viel lieber, wo Lady Marilyn geblieben ist«, meinte ich. »Das wenigstens kannst du mir doch verraten, oder? Sir Kofa hat in Echo lange intensiv gezaubert, und ich hätte mit meinem neuen Gesicht noch ein paar Dutzend Tage herumlaufen sollen.«

»Seltsame Geschichte«, meinte Sir Machi achselzuckend. -Ich hab noch nie etwas Ähnliches erlebt - Ehrenwort. Dein Gesicht hat dem Park sehr gefallen.«

»Wem?«

»Dem Park, du hast ganz richtig gehört. Weißt du - der von dir geschaffene Park ist keine normale Grünanlage. Ich muss mich mal richtig mit ihm befassen. Vielleicht begreife ich dann, worum es sich dabei wirklich handelt. Auf alle Fälle spaziert dein ehemaliges Erscheinungsbild jetzt durch den Park. Aber das ist harmlos. Lady Marilyn hat sich ihren netten Charakter bewahrt. Nimm das also nicht so ernst.«

»Oha, schon wieder ein Wunder«, stöhnte ich. »Mein Leben lang war ich überzeugt, jeder Schöpfer kenne seine Schöpfung.«

»Und jetzt merkst du, dass es nicht so sein muss. Erfahrung ist kein schlechter Weg, an zuverlässige Informationen zu gelangen - findest du nicht? Aber jetzt trink deine schwarze Brühe. Kalter Kaffee ist womöglich gefährlich.«

»Man muss sich an den Geschmack erst gewöhnen«, sagte ich lächelnd. »Als ich zum ersten Mal Kaffee probiert habe, musste ich ihn wieder ausspucken.«

»Das glaub ich sofort. Aber in der neuen, von deiner Zärtlichkeit und Einsamkeit erzeugten Stadt trinken alle dieses Zeug, oder?«

»Vermutlich. Was meinst du eigentlich mit meiner Zärtlichkeit und Einsamkeit?«

»Ich bin einfach gewöhnt, die Dinge beim Namen zu nennen. Irgendwann begreifst du sicher, welche Gefühle du hattest, als du die Umrisse dieser Stadt sahst, die erst zu existieren begann, als du dich mit ihr beschäftigtest.

Keine Sorge, Max - du wirst noch genug Zeit haben, dir über deine Fehltritte Gedanken zu machen. Hauptsache, alles wird gut. Für meinen Geschmack läuft es zu gut, aber mich fragt ja keiner. Nicht mal loben kann ich dich: Jeder tut, was er kann - ob er will oder nicht. Möchtest du noch was wissen, Max?«

Alle Fragen, die ich vorbereitet hatte, waren plötzlich aus meinem armen Kopf verschwunden. Zu den Magistern mit ihnen! Ich rauchte genüsslich und sah meinen Gesprächspartner neugierig an.

»Kannst du mir eigentlich erklären, warum du ... na ja, warum Lonely-Lokley und ich mit dir Zusammenarbeiten sollen? Ich meine - warum müssen überhaupt neue Welten erzeugt werden? Es gibt doch schon Welten genug.«

»Hab ich dir noch nicht gesagt, dass ich das schreckliche Wort -warum* nicht ertragen kann? Versuch mal, es seltener zu benutzen und bei Gesprächen mit mir einfach zu vergessen. »Warum* ist ein unpassendes Wort, wenn man sich über die Schöpfung neuer Welten unterhält. Alles Interessante entsteht ohne Kausalzusammenhang.«

Machi zuckte verärgert die Achseln und zündete sich eine Pfeife an. Dann lächelte er in sich hinein und fuhr fort, und seine Stimme klang schon wieder weich.

»Es gibt viel mehr bewohnte und unbewohnte Welten, als du dir vorstellen kannst. Außerdem ergibt sich womöglich etwas aus dem, was bisher geschehen ist. Das ist ein guter Grund für unsere Zusammenarbeit. Reicht dir das?«

»Ehrlich gesagt nein.«

»Dann frag doch Juffin Halli. Er hat nie einen Widerwillen gegen das Wort -warum* gehabt. Im Gegenteil: Er wollte immer die Gründe des eigenen Handelns und des Handelns anderer kennen. Außerdem kannst du dich mit ihm viel leichter verständigen - schließlich seid ihr gleich alt.«

»Was?!«

»Im Vergleich zu mir natürlich. Ich weiß selbst nicht, wie lange ich mich schon in den verschiedensten Welten herumtreibe. Vielleicht habe ich mich nur verlaufen und mich entschieden, in dieser Welt zu bleiben. Aber sicher bin ich mir nicht.«

Erstaunt schüttelte ich den Kopf. »Ich hab immer davon geträumt, ewig zu leben. Ich dachte, andere würden sterben, ich aber würde durchhalten. Du gibst mir neue Hoffnung.«

»Hoffnungen sind trügerisch«, meinte Sir Machi kopfschüttelnd. »Ich kann dir nur raten: Vergiss sie. Aber nun lass uns nicht mehr über so ernsthafte Dinge reden. Ich möchte noch was anderes mit dir besprechen. Meines Wissens weiß dein Begleiter so gut wie nichts von dem, was du hier erlebt hast.«

»Genau! Danach wollte ich auch fragen! Der arme Lonely-Lokley hat die Stadt vor Angst nicht verlassen können, und als ich ihm von meiner Traumstadt in den Bergen erzählte, ging es ihm erneut sehr schlecht. Dabei hat er die Stadt selbst schon mal im Traum gesehen. Warum soll ich das alles vor Schürf verbergen, obwohl er absolut verschwiegen ist?«

»Solche Fragen solltest du mir lieber nicht stellen«, lächelte Machi. »Neu geschaffene Welten sind immer kapriziös, und diese hier will Lonely-Lokley offenbar nicht näher heranlassen. Ich habe keine Ahnung, warum, und wüsste es selbst gern. Wenn ihr wieder zu Hause seid,

kann sich dein Freund diese Geschichte vielleicht problemlos anhören. Aber ich hab eine Bitte an ihn, obwohl ich ihn leider nicht in dieses Lokal einladen kann.«

»Eine Bitte?«, fragte ich. »An Lonely-Lokley?«

»Warum wundert dich das?«

»Weil ich dachte, es gäbe nichts, was du nicht vermagst.«

»Ehrlich gesagt geht es hier ums Wollen, nicht ums Können. Ich bin ziemlich faul, musst du wissen. Außerdem ist diese Sache für deinen Freund interessant. Und hinsichtlich der Launen der neuen Stadt ... Wenn diese Welt Leute lieb gewinnt, dann nur verkommene Gestalten. Vor kurzem ist hier jemand aufgetaucht, der mir gar nicht gefällt. Für die Bevölkerung ist er keine Gefahr, aber mir ist seine Anwesenheit höchst unangenehm.«

»Schon wieder ein rebellischer Magister?«

»Schlimmer, Max: ein toter Magister. Glaub mir, es gibt nichts Unruhigeres als ein unrechtmäßig getöteter Großer Magister. Und Lonely-Lokley ist - soweit ich weiß - Spezialist in diesem Bereich.«

»Stimmt«, meinte ich lächelnd. »Er wird das blitzschnell erledigen.«

»Blitzschnell? Das möchte ich bezweifeln. Aber er wird es sicher schaffen. Sag deinem Freund nur bitte, dass sich Kiba Azach hier aufhält. Dann weiß er Bescheid.«

»Mach ich. Das war's schon?«

»Erklär ihm, dass es hier ein Problem gibt. In Kettari war alles in Ordnung, ehe dieser verkommene Kerl aufgetaucht ist. Aber Schluss für heute, damit du nicht wieder eine Überdosis Machi verabreicht bekommst. Wie lange hat es letztes Mal eigentlich gedauert, bis du wieder bei Kräften warst?«

»Ich brauchte mir nur zwölf Liter kaltes Wasser auf den fast hysterisch gewordenen Kopf zu schütten - ein Geheimrezept von Sir Max aus Echo. Mögen die Magister wissen, woher er wirklich stammt. Damals wäre ich beinahe umgekippt, Machi. Vielleicht kennst du eine bessere Methode.«

»Ich empfehle einen langen Spaziergang. Danach beschäftigst du dich am besten irgendwie. Du kannst ein Buch durchblättern oder Karten spielen. Hauptsache, du versuchst nicht, die Sache zu verstehen, denn das schaffst du nicht. Alles klar?«

»Alles klar«, nickte ich. »Ich werde schon eine Beschäftigung finden. Weißt du nicht zufällig, wie die Stadt in den Bergen heißt?«

»Keine Ahnung. Danach hättest du dort fragen müssen. Und jetzt Gute Nacht, mein Freund.«

»Gute Nacht, Machi.«

Ich verließ das Wirtshaus mit ehrgeizigen Plänen für die Nacht. Ich wollte nicht verrückt werden, und mir gefiel Sir Machis Vorschlag, Karten zu spielen, denn so konnte ich nicht nur meine Zeit recht angenehm verbringen, sondern vielleicht auch unsere finanzielle Lage etwas aufbessern.

Das war ein etwas vermessener Vorsatz, doch ich fasste ihn nicht ohne Grund: Ich kann sehr gut Mau-Mau spielen. Sir Juffin Halli hatte mir beigebracht, auf diese wunderbare Weise die Zeit totzuschlagen, und er ist der vom Glück am stärksten begünstigte Spieler des Vereinigten Königreichs.

Vor über hundert Jahren hatte der freundliche König Gurig VII. ihm gesetzlich verboten, öffentlich Mau-Mau zu spielen. Der alte König war dazu gezwungen gewesen, weil viele Untertanen ihr Gehalt in die Taschen des Glückspilzes aus Kettari gepumpt hatten. Juffin hatte gegen dieses Gesetz nicht opponiert: Nach wie vor gab es genügend Leute, die mit ihm spielen wollten, und das königliche Dekret schmeichelte ihm enorm.

Mit mir hatte er natürlich nur zum Spaß gespielt - und auch nur, als ich noch bei ihm wohnte. Schon am ersten Tag aber konnte ich den Ehrwürdigen Leiter nach einer Reihe von Niederlagen zweimal besiegen. Er traute seinen Augen nicht. Am nächsten Tag spielten wir weiter, und das Glück war mal ihm, mal mir hold. Zwar verlor ich öfter als mein ausgezeichneter Lehrer, aber Sir Juffin war dennoch beinahe schockiert.

Ich hingegen war weniger überrascht. Noch in meiner Jugend nämlich war ich zu dem Schluss gekommen, dass Spielerglück maßgeblich davon abhängt, wer einem ein Spiel beibringt. Es geht also nicht so sehr um Talent -wichtig ist vor allem, bei jemandem zu lernen, dem das Glück lacht. So bekommt man nicht nur nützliche Ratschläge - auch der Dusel des Lehrers färbt ab. Diese geringfügige Erkenntnis verdanke ich nicht allein meinem nachtschwärmerischen Lebenswandel, sondern auch vielen Freunden - Glückspilzen wie Pechvögeln -, die mir jede Menge Kartenspiele beigebracht haben. Ich hatte also Gelegenheit, verschiedene Lehrer kennen zu lernen und zu vergleichen und daraus Konsequenzen zu ziehen. Und als ich Sir Juffin meine persönliche Glücksformel erklärte, nickte er nur.

Jedenfalls hatte ich nichts zu verlieren: Von dem Vermögen, das Lonely-Lokley und ich nach Kettari mitgenommen hatten, war uns nur eine Krone und ein wenig Kleingeld geblieben. Wenn ich verlieren sollte, wäre der Verlust also nicht groß. Vielleicht wäre es besser gewesen, mein restliches Vermögen in einer Imbissstube gegen Likörschälchen zu tauschen, aber dieses Getränk konnte ich - ehrlich gesagt - nicht mehr sehen.

Ich ging also zum Lustigen Platz, denn mir war klar, womit sich die Gäste im Großen Saal des Alt-Kettaii beschäftigten.

Die Sache hatte nur einen kleinen Haken: Ich unterhalte mich nicht gern mit Fremden, denn ich bin recht schüchtern. Aber wie dem auch sei und wie es auch endet (so sagte ich mir): Es ist besser, sich die Zeit zu vertreiben, als im Zimmer zu sitzen und sich beim Verrücktwerden zuzusehen. Womöglich würde ich so meine anderen Probleme vergessen.

Selbstbewusst ging ich durch den Speisesaal und landete in einer schummerigen Bar, in der sich alle Glücksspieler von Kettari aufzuhalten schienen.

Ich setzte mich an die Theke und bestellte ein Glas Dschubatinischen Säufer, der mir - wie ich wusste - einiges an Schüchternheit nehmen würde.

Ob ich mir eine Zigarette anzünden sollte? Ich kam zu dem Schluss, ein wenig Exotik könne nicht schaden. Je früher die Leute begriffen, dass ich ein normaler Tourist war, desto größer war meine Chance, dass mich jemand zum Spiel animieren würde. Kaum hatte ich meinen Säufer heruntergestürzt, tat ich all meine Bedenken als kleinkariert ab und zündete mir eine Zigarette an. Jetzt hätte mich der arme Sir Kofa - unser unübertrefflicher Meister der Tarnung - sehen sollen! Nach all seinen Mühen saß ich in einem Wirtshaus in Kettari, trug mein eigenes, ziemlich zerknittertes Gesicht spazieren und rauchte etwas, das es in dieser Welt nicht gab. Und ich musste mir Mut antrinken, um mich mit den Leuten hier zu unterhalten - grässlich!

Vor wem aber sollte ich mich andererseits in dieser Stadt verstecken? Sie ist das Zentrum einer neuen Welt, an deren Schöpfung ich beteiligt bin, dachte ich belustigt. Das klang zwar verrückt, entsprach aber der Wahrheit. Genüsslich rauchte ich meine Zigarette zu Ende, trank die letzten Tropfen Dschubatinischen Säufer und griff demonstrativ zu meiner goldgelben Zigarettenschachtel, die schon halb leer war.

»Kann es sein, dass Sie sich langweilen, mein Herr?«, fragte mich eine freundliche Stimme hinter meinem Rücken.

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr! Seit ich in Kettari bin, ist mein Leben öde und leer.«

Ich hätte beinahe gekichert, weil ich von meinen Worten alles andere als überzeugt war, doch stattdessen warf ich lieber einen neugierigen Blick auf meinen Gesprächspartner. Wer hätte gedacht, dass ein alter Bekannter vor mir stand, Herr Abora Wala nämlich, unser Karawanenführer. Natürlich erkannte er mich nicht, weil damals eine gewisse Lady Marilyn mit ihm unterwegs gewesen war - der Inbegriff der erotischen Fantasien aller Männer der Reisegruppe (vom glücklich verheirateten Lonely-Lokley abgesehen). Sehr interessiert schaute Sir Wala mir ins Gesicht.

»Langweilen Sie sich schon lange?«, fragte er beiläufig-

»Erst seit fünf Tagen - warum?«

»Nur so. Ich kenne mich mit den Touristen, die nach Kettari kommen, gut aus, und Sie sind mir noch nicht aufgefallen.«

»Kein Wunder. Ich bin ja auch gekommen, um meine Tante zu besuchen. Vor fünf Tagen, wie gesagt. Vor einer halben Stunde erst habe ich die opulente Tafel verlassen, die sie zu meinen Ehren aufgefahren hat. Jetzt macht sie ein Nickerchen und wird sich vermutlich alsdann daranmachen, etwas Besonderes zu meiner Abreise vorzubereiten. Darum habe ich gerade zum ersten Mal seit fünf Tagen ihr Haus verlassen können.«

In Gedanken gab ich mir eine Eins dafür, mir so schnell Geschichten ausdenken zu können.

»Verstehe«, meinte mein altneuer Bekannter nickend. »Wissen Sie, ich bin Karawanenführer und kenne deshalb alle Touristen. Aber ich vermute, Ihre Tante ist Ihnen entgegengekommen.«

»Sie hat mir ihren jüngeren Sohn entgegengeschickt. Stellen Sie sich vor: Der Mann ist über zweihundert Jahre alt und wird trotzdem noch wie ein Kind behandelt.«

»So was soll's geben«, sagte mein Gesprächspartner. »Wie ich sehe, haben Sie die Verwandtschaft satt.«

Ich nickte gequält und war schon so in meiner Rolle, dass ich meine erfundene Tante wirklich zu hassen begann.

»Suchen Sie vielleicht ein wenig Unterhaltung?«, fragte der nette Mann unschuldig. »Verzeihen Sie, dass ich Ihnen das so offen anbiete, aber das ist hier gang und gäbe. Außerdem habe ich gerade niemanden zum Mau-Mau-Spielen. Normalerweise sind meine Freunde da, aber heute bin ich - wie Sie sehen - allein. Wir spielen um geringe Einsätze, Sie riskieren also praktisch nichts.«

Natürlich riskiere ich nichts, dachte ich verärgert. Unser Vermögen hat ja schon ein anderer durchgebracht.

Um überzeugend zu wirken, versuchte ich, meinem Gesicht einen etwas zweifelnden Ausdruck zu geben.

»Mein Name ist Ravello«, erklärte der Karawanenführer.

Freundchen, du heißt Abora Wala!, dachte ich nur.

»Keine Sorge, Sir«, zwitscherte der Lügner freundlich. »In Kettari lernt man sich ganz zwanglos kennen. Besonders, wenn zwei Männer einen netten Abend bei Mau-Mau verbringen. Was rauchen Sie da eigentlich, wenn ich fragen darf?«

»Ach das?« Ich winkte ab. »Dieser Tabak ist das Geschenk eines Freundes und stammt, soweit ich weiß, aus Kumon, der Hauptstadt des gleichnamigen Kalifats.«

Diesen Namen hatte ich in Manga Melifaros Enzyklopädie der Welt aufgeschnappt, war aber nicht ganz sicher, ob der Ort tatsächlich existiert. Hoffentlich irrte ich mich nicht.

»Mein Freund ist Händler, aber wahrscheinlich auch Pirat. Bei Seeleuten kann man sich da ja nie sicher sein«, fügte ich hinzu. »Haben Sie so einen Tabak noch nicht gesehen?«

»Nie im Leben.«

Diesmal durfte ich annehmen, dass Ravello nicht log.

»Woher kommen Sie eigentlich?«, fragte er interessiert.

»Aus der Grafschaft Wuk, aus den Grenzgebieten zu den Leeren Ländern. Wieso fragen Sie? Haben Sie das nicht an meiner Aussprache gemerkt? Aber lassen wir das. Spielen wir lieber eine Partie, ehe Sie es sich anders überlegen.«

»Reicht Ihnen eine Krone pro Spiel?«, fragte mein Verführer unschuldig. Ich pfiff durch die Zähne. Jetzt erschien mir das Tempo, in dem die Börse von Lonely-Lokley leichter geworden war, nicht mehr so atemberaubend.

»Eine halbe Krone«, widersprach ich entschieden. »Ich bin kein reicher Mann, heute Abend schon gar nicht.«

Mein Gesprächspartner nickte verständnisvoll. Eine halbe Krone war auch für ihn kein schlechter Anfang.

Jetzt musste ich nur dem Glück, dass ich von Sir Juffin geerbt hatte, vertrauen. Nach zwei verlorenen Spielen würde ich mich entscheiden müssen, ob ich bleiben oder heimgehen wollte.

Wir setzten uns an einen kleinen Tisch in der Ecke. Ein paar aufmerksame Augenpaare beobachteten mich. Mich schauderte, denn ich begriff: Ich sollte betrogen werden. Ich wusste zwar noch nicht, wie, aber sie würden es sicher versuchen.

»Darf ich nach Ihrem Namen fragen?«, meldete sich Ravello vorsichtig. »Sie haben sicher Gründe, sich nicht vorzustellen, aber ich muss Sie ja irgendwie anreden.«

»Meinen Namen möchten Sie wissen? Der ist natürlich kein Geheimnis«, sagte ich und machte eine kurze Denkpause. »Ich heiße Marlon Brando und stehe Ihnen gern zu Diensten.«

Wie sonst hätte ich Lady Marilyn steigern sollen?

Natürlich sah Ravello mich daraufhin kurz erstaunt an. Genauso erstaunt hatte Sir Juffin geschaut, als er den Namen Marilyn Monroe vernommen hatte.

»Aber sagen Sie einfach Brando zu mir«, fügte ich generös hinzu. Wenn dieser Mann mich beim Vor- und Nachnamen nennen würde, müsste ich lachen - das war mir klar.

Die beiden ersten Spiele gewann ich leicht und rasch, was mich sehr erstaunte. Nun hatte ich einen kleinen Vorrat, der mir noch mindestens vier weitere Versuche erlaubte.

Das dritte Spiel verlor ich sehr schnell - aus Dummheit, wie es schien. Abora Wala, besser bekannt als Ravello, verlor seine Nervosität, denn er merkte endlich, dass ich genau der normale Dummkopf aus der Provinz war, für den er mich von Anfang an gehalten hatte, und dass meine Glückssträhne beendet war. Ich nahm das gleichmütig hin: Wer wirklich Glück hat, muss mitunter verlieren können. Schon, damit dem Gegenspieler nicht langweilig wird.

Dann gewann ich viermal hintereinander, und Herr Ravello wurde erneut nervös. Ich wusste, dass ich die Glückssträhne jetzt unbedingt bremsen sollte. Mein Gegenspieler gab Karten. Als ich meine sah, begriff ich, dass ich keine Chance hatte zu verlieren - nicht mit einem so guten Blatt. Also gewann ich erneut. Es tat weh, Ravello anzuschauen - bestohlene Diebe sind ein furchtbarer Anblick. Ich zog meine Zigaretten aus der Tasche.

»Möchten Sie eine probieren, Sir? Die Bewohner des Kalifats Kumon haben einen außerordentlich leckeren Tabak.«

»Wirklich?«, fragte der Arme verwirrt.

Seine aufmerksamen Äuglein musterten mich streng. Anscheinend begann er Sir Marlon Brando allmählich für einen gut getarnten Betrüger aus Kettari zu halten. Das passte allerdings nicht zu dem fremden Akzent und den exotisch schmeckenden Zigaretten.

So begannen wir die nächste Partie. Nach intensivem Bemühen konnte ich sie nicht nur verlieren, sondern auch schlagende Beweise meiner Dummheit liefern. Das kam mir sehr zupass, denn ich wollte den Einsatz erhöhen.

»Ich bin offenbar ein wenig reicher geworden«, sagte ich nachdenklich. »Und in einer Stunde möchte ich schlafen gehen. Was meinen Sie: Wollen wir den Einsatz auf eine Krone pro Spiel erhöhen?«

Es machte Spaß, Ravello anzusehen, denn Gier und Vorsicht lieferten sich auf seinem ausdrucksstarken Gesicht einen leidenschaftlichen Kampf. Ich verstand ihn gut: Für ihn war ich einerseits ein Glückspilz, andererseits aber ein ganz normaler Dummkopf. Und wenn wir den Einsatz erhöhten, konnte er alles zurückgewinnen. Natürlich stimmte er zu, denn er war gierig genug, dieses Risiko einzugehen.

Ich gewann sechs Partien nacheinander und staunte nicht schlecht darüber. Meine Theorie, dass man das Glück vom Lehrer erbt, durfte langsam als bewiesen gelten. Bestimmt hatte Sir Juffin Glück im Überfluss!

»Heute haben wir nicht so viel Glück, Ravello, was?«, fragte jemand vom Nachbartisch mit gespielter Gleichgültigkeit.

Zuvor schien sich niemand für uns interessiert zu haben.

Das ist bestimmt ein notorischer Falschspieler, dachte ich belustigt. Und ich erlebe hier einen Rettungsversuch unter Kollegen. Sollte Ravello die Segel streichen, wird dieser Kerl mich sicher fertigmachen wollen. Aus lauter Freude bestellte ich noch einen Dschubatinischen Säufer. Nie hätte ich gedacht, dass ich so schnell in Fahrt kommen würde.

»Nein, heute habe ich wirklich kein Glück«, gab mein Gegenspieler zu.

»Dann solltest du nach Hause gehen und dich ausschlafen«, riet ihm der Mann, der sich in unser Spiel eingemischt hatte. »Das liegt am Mond - dem gefällst du heute offenbar nicht.«

»Du hast Recht, Tarra«, seufzte mein unglückliches Opfer. »Ich sollte mein Glück auf dem Kopfkissen suchen. Aber Herr Brando ist anscheinend noch nicht müde«, meinte er und sah mich fragend an.

Stimmt, dachte ich und lächelte inwendig. Vermutlich übernimmt mich jetzt der andere. Warten wir mal ab, wie das endet.

»Ich bin auf den Geschmack gekommen«, sagte ich und versuchte, mir die Miene eines arglosen Menschen zu geben, der sich naiv an seinem Gewinn freut. »Aber wenn Sie auf hören wollen ...«

»Das ist mein Freund Sir Tarra. Sein Spielpartner, Herr Linulen, muss um diese Zeit schon das Ehebett hüten, während Tarra Single ist. Möchten Sie ihm vielleicht Gesellschaft leisten?«, fragte Ravello vorsichtig. Offenbar sollte ich auf seinen Verkuppelungsversuch reinfallen, und das tat ich auch.

Sir Tarra sah seinem Vorgänger erstaunlich ähnlich. Er hatte die gleichen leicht ergrauten Haare, war ungefähr ebenso groß wie Ravello und hatte eine ähnliche Nase. Vielleicht ist das ja hier ein verbreiteter Männertyp, dachte ich. Aber vielleicht ist es auch einfacher: Womöglich sind sie Brüder und leiten ein erfolgreiches kleines Familienunternehmen.

Tarra und ich hielten uns nicht erst mit einem Gespräch auf, sondern fingen gleich an zu spielen. Ich musste feststellen, dass Ravello trotz seiner Worte das Wirtshaus nicht verließ, sondern an einem entfernten Tisch Platz nahm. Natürlich tat ich, als hätte ich das nicht bemerkt.

Die erste Partie verlor ich ohne große Mühe. Anscheinend war mein neuer Gegner ein echtes Ass. Doch schon das zweite Spiel gewann ich, weil meine Glückssträhne langsam in Fahrt kam.

»Zwei?«, schlug ich vor.

»Zwei Kronen pro Partie?«, fragte Tarra. »Bei allen Magistern, Sir Brando - Sie sind ein risikofreudiger Mensch. Wie wär's mit dreien?«

»Drei sind besser als zwei«, antwortete ich und bemühte mich, dabei möglichst idiotisch zu wirken.

Dann gelang es mir, sechsmal nacheinander im Mau-Mau zu gewinnen. Als ich merkte, dass Tarra langsam schlafen gehen wollte, verlor ich zweimal auf die Schnelle. Der Mann spielte so gut, dass das für mich nicht schwer war.

»Sechs!«, rief er nach seinem zweiten Sieg entschieden. Ich nickte und gewann dann sechsmal nacheinander, ohne dass mein Gegner begriffen hätte, wie ihm geschah.

»Gute Nacht, meine Herren. Es wird schon wieder Tag«, sagte ich müde und stand auf.

»Sie gehen schon, Sir Brando?«, fragte Tarra erstaunt. Er machte den Eindruck, als begriffe er allmählich, dass mit mir auch all sein Geld nach Hause ging. »Geben Sie mir vielleicht eine Chance zur Revanche ...?«

»Davon würde ich Ihnen abraten«, sagte ich fröhlich. »So verlieren Sie nur noch mehr Geld. Seien Sie bitte nicht sauer auf mich, mein Freund. Irgendwann kommt das Glück sicher auch zu Ihnen. Soweit ich weiß, wird Kettari oft von Touristen besucht. Und der Mond hier mag mich.«

»Der Mond? Ach so!«, rief mein Gegenspieler verwirrt. »Wer hat Ihnen eigentlich Mau-Mau beigebracht, Sir Brando?«

»Meine Tante. Sie haben Glück, dass sie ihr Haus seit über dreihundert Jahren nicht verlassen hat. Lieber Sir Tarra, so schlaue Touristen wie mich werden Sie demnächst bestimmt nicht mehr treffen. Und Sie spielen wirklich gut. Es war für mich gar kein Problem, Sie ab und an gewinnen zu lassen.«

»Gewinnen zu lassen? Sie machen wohl Witze?«, fragte der Mann und wirkte schwer verärgert.

»Natürlich habe ich Sie ab und an gewinnen lassen«, sagte ich versöhnlich. »Ich habe Ihnen also wohl keinen allzu großen Verlust bereitet, oder? Aber jetzt Gute Nacht. Ich möchte wirklich schlafen gehen.«

Mit diesen Worten verließ ich das nette Plätzchen und hoffte, dass ich mich keiner Attacke von Sir Tarra würde erwehren müssen. Und glücklicherweise geschah auch nichts dergleichen.

Zu Hause zählte ich gewissenhaft meine Ausbeute. Ich hatte einundachtzig Kronen und etwas Kleingeld zur Verfügung. Zwar war das deutlich weniger, als Sir Schürf vor seinem Ausflug in der Tasche hatte, aber wir konnten wieder recht gut leben.

Ich sah mich um. Lonely-Lokley schlief bestimmt -wie es sich gehörte - im oberen Zimmer. Auch ich könnte doch kurz dösen, überlegte ich, am besten gleich hier auf der Couch. Ich brauchte nur wenig Schlaf, den aber dringend. Also schrieb ich »Bitte mittags wecken - egal, wie sehr ich protestiere!« auf einen Zettel und legte ihn ans Kopfende des Sofas. Vermutlich würden wir demnächst ziemlich viel zu tun bekommen.

Zur gewünschten Stunde wurde ich wachgerüttelt - Sir Schürf erwies sich als überaus zuverlässig. Und als sehr intelligent, da er schon mein Kachar-Balsam vorbereitet hatte, was mein Wachwerden deutlich beschleunigte.

»Danke, Schürf«, sagte ich und brachte es sogar fertig, meinen Peiniger und die grelle Sonne anzulächeln. »Ich habe zwei gute Nachrichten. Erstens sind wir reich, und zweitens ...«

»Max, ich hoffe, du hast nichts getan, wovon ...«

»... unser verehrter General Bubuta Boch nichts wissen darf? Da kannst du beruhigt sein. Ich wollte nur prüfen, wie gut die Kartenspieler hier sind. Und ich bin ganz deiner Meinung: Das hat wirklich Spaß gemacht.«

»Du hast also mit den Leuten hier Karten gespielt? Ich hätte nicht gedacht, dass du so ein gewiefter Betrüger bist.«

»Ich? Ein Betrüger? Du beleidigst mich. Ich bin ein ehrlicher Mensch. Ich hab nur etwas mehr Glück als die Leute hier.«

»Und wie viel hast du gewonnen?«

»Zähl selbst«, entgegnete ich. »Eine Krone und das Kleingeld kannst du beiseitelegen - das hatte ich schon vor dem Spiel. Ich geh jetzt ins Bad.«

Als ich wieder ins Gästezimmer kam, sah Lonely-Lokley mich begeistert an.

»Du hast ungemein viele Talente«, meinte er ehrfürchtig-

»Es sind eher wenige, Schürf, glaub mir. Ich kann weder singen noch fliegen noch Tschakata-Piroggen machen, und vieles andere kann ich genauso wenig. Aber jetzt gehen wir frühstücken. Sündige Magister - es ist wirklich toll, dass wir nicht mehr auf den Preis achten müssen!«

Wir frühstückten im Runden Tisch, wo wir am Vorabend gegessen hatten. In mir meldete sich der konservative Konsument, der nichts Besseres suchen will, wenn er was Gutes gefunden hat.

Die freundliche Wirtin erkannte uns zu unserer Freude sofort. Ich hatte eigentlich noch keinen Hunger, doch Lonely-Lokley aß für zwei. Das rührte mich, und ich kam mir vor wie ein Familienvater, der dem einzigen Sohn beim Futtern zusieht. Seltsames Gefühl.

»Und was war zweitens?«, wollte Schürf überraschend und mit vollem Mund wissen.

»Zweitens?«, fragte ich ratlos.

»Heute Morgen hast du von zwei guten Nachrichten gesprochen. Die Erste war, dass wir reich sind. Und die Zweite?«

»Ach, Schürf, das ist eine Nachricht nach deinem Geschmack. Es handelt sich um eine Aufgabe, für die deine Hände wie geschaffen sind. Danach können wir diese verrückte Stadt reinen Gewissens verlassen. In Kettari tobt ein gewisser Sir Kiba Azach. Soweit ich weiß, ist in der Stadt eigentlich alles in Ordnung - nur Kiba passt nicht hierher.«

»Aha«, meinte Lonely-Lokley reserviert. »Mit dieser Stadt ist also alles in Ordnung? Schön, dass du das glauben kannst.«

»Schürf«, begann ich sanft. »In Kettari ist wirklich alles paletti. Hier ist nur eine seltsame, aber interessante Sache passiert, die mir sehr gefällt. Und Juffin wird - wie ich ihn kenne - auch davon angetan sein. Was aber diesen Kiba angeht: Der muss ausgeschaltet werden, da seine Anwesenheit der Stadt schaden kann. Hab ich dir etwa den Appetit verdorben?«

»Gar nicht. Weißt du, dass der Mann, von dem du da redest, schon vor langer Zeit gestorben ist?«

»Ja«, sagte ich. »Und das verschlimmert die Lage offenbar.«

»Da hast du Recht. Es ist viel schwerer, gegen tote Magister zu kämpfen als gegen lebende. Was weißt du noch, Max?«

»Nichts«, meinte ich und breitete entschuldigend die Unterarme aus. »Ich dachte, du wüsstest, wie er zu finden ist und so.«

»Ihn zu finden, ist leicht. Ich möchte nur erfahren, was du noch über Kiba Azach weißt.«

»Nichts, wirklich nicht. Nur, dass er ein toter Magister ist und etwas in Kettari verpfuscht hat oder verpfuschen will. Ach ja, ich weiß noch, dass er ein -unrechtmäßig getöteten Großer Magister ist. Das ist ein seltsamer Ausdruck, nicht?«

»Warum seltsam? So nennt man das eben. Als ich ihn umbrachte, hab ich nicht mal gewusst, wie man es richtig macht. Außerdem war mir gar nicht klar, was ich da tat.«

»Du warst das?«, rief ich erstaunt und begriff allmählich. »War er vielleicht der Vorbesitzer deiner Handschuhe?«

»Ihm gehörte nur der linke, wenn du es wissen willst. Der rechte Handschuh hat einem jüngeren Magister des Ordens der Wasserkrähe gehört, mit dem ich viel weniger Probleme hatte.«

»Hör mal, Schürf«, sagte ich beunruhigt. »Ich erinnere mich gut an deine Lebensgeschichte, wäre aber nie darauf gekommen, dass ... Ich glaube nicht, dass es deine Pflicht ist, erneut gegen diesen Mann zu kämpfen. Lass ihn einfach in Ruhe.«

»Du hast nicht verstanden, Max«, sagte Lonely-Lokley sanft und unterbrach meine schuldbewusste Tirade. »Ich habe keine Angst vor einem Treffen - offen gesagt kann ich mein Glück gar nicht fassen!«

»Glück? fetzt versteh ich gar nichts mehr.«

»Das ist doch ein seltener Glücksfall! Ich muss Kiba Azach nun nicht mehr schutzlos im Schlaf treffen, sondern kann ihm wach entgegentreten und tatsächlich mit ihm kämpfen. Ich glaube, jetzt verstehst du mich besser.«

»Wenn ich deinen Gesichtsausdruck so sehe, durchaus«, meinte ich verwirrt.

»Ich muss einfach die Lage durchdenken und herausfinden, wie ich am besten vorgehe. Weißt du, Max, man bekommt nicht jeden Tag so eine Chance, sich von einer Bürde zu befreien. Und ich darf keinen Fehler machen, muss aber rasch handeln.«

»Wir müssen rasch handeln«, korrigierte ich ihn barsch. »Ich bin zwar ein schlechter Kämpfer und auch kein allzu guter Zauberer, aber beim Kartenspiel sieht es anders aus - oder wenn ich jemanden anspucken soll. Außerdem bin ich neugierig. Du glaubst doch wohl nicht, dass mir die kurze Zusammenfassung deines Kampfes gereicht hat? Nimm es mir bitte nicht krumm, Schürf, aber dein lakonischer Stil ist mitunter reichlich unangemessen. Und noch was: In Kettari habe ich wirklich viel Glück. Nimm mich also als Amulett mit.«

»Gut«, meinte Lonely-Lokley ungerührt. »Vielleicht ist dein Glück nützlicher als mein Wissen. Außerdem muss ich ohnehin tun, was du mir befiehlst.«

»Sündige Magister - das hatte ich ja ganz vergessen!«, rief ich und lachte erleichtert. »Befehl Nummer eins: Verhalte dich so, als hättest du nichts bemerkt.«

Lonely-Lokley sah mich erstaunt an, und ich zog die vorletzte Zigarette aus der Tasche. Sir Maba Kaloch hätte mit Kippen wirklich großzügiger sein können, dachte ich. Schließlich hab ich keine Zeit, angelnd überm Kissen zu hocken, sondern muss neue Welten erschaffen oder Karten spielen. Ich lächelte in mich hinein und zündete mir die Zigarette an.

»Findest du nicht, dass du zu viel rauchst?«, fragte Lonely-Lokley streng.

»Nein«, antwortete ich aufrichtig. »Später erkläre ich dir, warum, falls du es dann noch wissen willst. Du sollst meine Befehle erfüllen. Immerhin bin ich dein Vorgesetzter. Übrigens kommt jetzt Befehl Nummer zwei: Vergiss den ganzen Quatsch hinsichtlich meiner Weisungsgewalt so schnell wie möglich. Ich kann dir ohnehin nichts Vernünftiges sagen. Und iss schneller, Schürf, damit wir aufbrechen können. Wie sollen wir dem toten Magister eigentlich auf die Spur treten?«

»Manchmal sagst du merkwürdige Dinge, Max«, meinte Lonely-Lokley. »Wie willst du denn einem Toten auf die Spur treten?«

»Ich? Ich hab gar nicht vor, irgendwem auf die Spur zu treten. Das ist doch nicht meine Spezialität. Bin ich Lady Melamori?«

»Du irrst dich schon wieder: Du würdest es leicht schaffen - du müsstest es nur probieren. Aber darüber sollten wir uns eigentlich nicht unterhalten.«

»Wirklich?«, fragte ich erstaunt. »Ich hätte nie gedacht, dass ich so was kann. Aber wenn du dieser Meinung bist, kannst du mir ja irgendwann zeigen, wie es geht.«

»Sir Juffin hat davon abgeraten«, gab Schürf verlegen zurück. »Er fürchtet, dieses Wissen könnte bei dir Folgeschäden verursachen. Ich kann das also nicht entscheiden. Frag ihn bitte selbst, wenn wir wieder in Echo sind.«

Ich seufzte. Anscheinend wussten alle in dieser verrückten Welt von verborgenen Fähigkeiten meiner Person - außer mir natürlich.

»Zu den Magistern mit dir, Schürf. Und mit allen anderen. Und jetzt wieder zur Sache. Wie sollen wir den netten Mann jetzt suchen? Sollen wir vielleicht die Witterung seines Leichnams auf nehmen?«

»Red kein Blech«, meinte Lonely-Lokley kühl. »Wir gehen nach Hause.«

»Warum das denn?«

»Ich brauche meine Handschuhe.«

»Ach ja. Siehst du, wie blöd ich bin? Und du wolltest meine Befehle erfüllen!«, meinte ich lächelnd. »Und dann?«

»Dann ist alles sehr einfach«, antwortete Lonely-Lokley gedankenverloren. »Oder sogar mehr als einfach. Aber wie ich sehe, hast du schon wieder nichts verstanden. Ich brauche erst mal den linken Handschuh, aber nicht zum Spaß. Er wird seinem ehemaligen Besitzer nie etwas Böses tun, eher mir. Aber diesen Mann zu finden, ist jetzt wirklich leicht.«

»Was?«, rief ich unruhig. »Du willst doch wohl nicht ohne Handschuhe gegen den Mann kämpfen?«

»Warten wir's ab«, meinte Lonely-Lokley achselzuckend. »Ich hoffe, du denkst nicht, dass ich ohne Handschuhe gar nichts kann.«

»Aber nein, doch es wäre besser, wenn sie auf unserer Seite wären, oder?«

»Natürlich«, gab Schürf gleichmütig zurück. »Jetzt lass uns gehen, Max. Ich brauche etwas Zeit, um mich vorzubereiten, und würde Kiba gern vor Mondaufgang treffen.«

»Stärkt der Mond denn solche Wesen?«, fragte ich beim Aufstehen erschrocken.

»Das nicht, aber wenn Kiba Azach und sein Helfer mich im Traum besucht haben, schien stets der Mond. Dieser Anblick hat mir gar nicht gefallen.«

»Verstehe«, sagte ich und nickte. »Ehrenwort.«

»Daran habe ich keinen Zweifel. Wer, wenn nicht du, könnte solche Dinge verstehen?«

Zu Hause ging Lonely-Lokley gleich ins Schlafzimmer. Auf der Treppe wandte er sich überraschend zu mir um. »Komm bitte nicht nach oben, solange ich dort bin, Max. Es gibt Dinge, die man lieber ohne Zeugen tut.«

»Ich hab Besseres zu tun, als auf der Treppe rumzuhüpfen. Ich muss mich auf den Kampf vorbereiten und rechne damit, heute Abend viel Stress zu haben - also brauche ich Zigaretten, und um die muss ich mich kümmern. Vielleicht finde ich auch etwas Interessantes für dich«, setzte ich hinzu. Den letzten Satz rief ich aber schon durch die geschlossene Tür.

»Schrecklich«, brummte ich und setzte mich zu meinem geliebten Kissen, das dank Sir Maba seit langem »Stöpsel zwischen den Welten« war, wie der Exzentriker zu sagen pflegte.

Entschlossen schob ich die Hand unters Kissen, war darauf eingestellt, lange zu warten, hatte aber gleich etwas zwischen den Fingern. Erstaunt zog ich meinen Fang ans Tageslicht: eine Tüte Schokobonbons. Das war zwar sehr nett, aber was war mit mir los?

Ich zuckte die Achseln und schob die Hand erneut unters Kissen. Das Tempo, mit dem sie in einer anderen Dimension landete, überraschte mich. Nach einer halben Stunde war ich stolzer Besitzer von Gebäck, einem Schlüsselbund, vier Silberlöffeln und ein paar Havanna-Zigarren, die ich nie zu rauchen gelernt hatte. Gute Zigarren kosten ein Vermögen, und erst in Echo verdiene ich gut genug dafür.

Ratlos musterte ich meine Schätze. Was war bloß mit mir los? Früher war es mir immer gelungen, an Zigaretten zu kommen, und das hatte mir vollauf gereicht. Ohne zu überlegen, meldete ich mich per Stummer Rede bei Maba Kaloch.

»Was soll das, Sir Maba? Sie haben mir beigebracht, an Kippen zu kommen - nicht an alles Mögliche.«

»Du hast dein Wissen nun mal erweitert, Max. Jetzt kannst du mehr als vorher - das ist doch wohl nicht schlimm?«

»Toll«, meinte ich traurig, »aber der hiesige Tabak schmeckt erbärmlich.«

»Ansichtssache. Mir zum Beispiel schmeckt er durchaus. Na schön, ich geb dir einen kleinen Tipp: Lass das Kissen in Ruhe und versuche es mit anderen Gegenständen. Hauptsache, du siehst nicht, was mit deiner Hand passiert, denn das würde dich ablenken. Soweit ich weiß, hast du gerade etwas Zeit. Da heißt es üben, üben, üben. Und melde dich nicht wegen jeder Kleinigkeit bei mir, ja?«

Damit verschwand seine Stimme aus meinem Bewusstsein. Langsam wurde mir klar, wie leicht und problemlos ich mich per Stummer Rede bei Sir Maba, der allem Anschein nach in Echo saß, hatte melden können. Vielleicht klappte es dann ja auch bei Juffin?

Nach dem ersten Versuch aber war mir klar, dass ich es lassen konnte. Es herrschte die gleiche Totenstille wie beim letzten Mal. Um mein Gewissen zu beruhigen, bemühte ich mich erneut - wieder vergeblich.

»Hoffentlich bedeutet das nicht, dass auch Sir Maba zurzeit in Kettari ist. Die Stadt scheint im Moment wirklich angesagt zu sein«, seufzte ich meinem Spiegelbild zu.

Dann machte ich mich wieder an die Arbeit. Es war wirklich interessant! Unter meinem Lieblingssofa zog ich eine Pizza hervor. Wer hätte das gedacht? Nach der dritten Portion war mir klar, dass die Couch mir nichts anderes liefern konnte.

Daraufhin schob ich die Hand unter den Schaukelstuhl, zog eine Flasche Grappa und ein Sixpack belgisches Bier hervor und wusste nun auch, wo alkoholische Getränke zu finden waren. Ich merkte, dass ich unbedingt rauchen musste. Ich hatte nur noch eine Zigarette. Und dann? Kommt Zeit, kommt Rat!

Gedankenlos griff ich in die Manteltasche und war erstaunt, etwas zu ertasten. Rasch zog ich die Hand hervor und erblickte eine Zigarettenschachtel mit goldener 555. Ich hatte wieder eine frische Packung! Und das war auch logisch, denn wo sonst hätte ich nach Zigaretten suchen sollen als dort?

Ich war berauscht von meinem Glück und meiner Macht, musste also dringend rauchen und mich beruhigen. All die Wunder waren toll, aber langsam musste ich die Lage unter Kontrolle bekommen.

»Was ist das, Max?«, fragte Lonely-Lokley erstaunt. Ich hatte ihn nicht herunterkommen hören. Die mit Runen beschrifteten Handschuhe saßen auf seinen Respekt heischenden Pranken.

»Essen aus der anderen Welt«, seufzte ich müde. »Ich hab in diesem Bereich heute viel Glück und staune selbst darüber. Hast du Hunger? Willst du das Zauberessen mal probieren?«

»Vielleicht«, meinte Lonely-Lokley vorsichtig und schnupperte skeptisch an der Pizza. »Das hier ist durchaus essbar, glaube ich«, sagte er, biss ein Stück ab, kaute und zuckte die Achseln. »Weißt du was? Mir schmeckt das nicht.«

»Mir geht's genauso. Warum probierst du nichts Süßes? Oder trinkst etwas? Das stärkt den Mut. Hast du deine löchrige Tasse dabei?«

Erstaunt sah ich, dass Lonely-Lokley nickte und aus der Manteltasche die mir bekannte Tasse zog.

»Jedenfalls will ich alle Möglichkeiten ausschöpfen«, sagte er ernst. »Getränke aus der anderen Welt können meine Chancen nur erhöhen.«

»Ich hab mich also nicht umsonst bemüht« stellte ich erfreut fest. Rasch öffnete ich die Schnapsflasche und schenkte ihm einen großzügigen Schluck Grappa ein. »Darf ich auch mal aus deiner verrückten Tasse trinken?«

Lonely-Lokley musterte mich zweifelnd, trank den Grappa auf einen Zug aus und schüttelte sich.

»Wenn du willst«, sagte er dann und reichte mir den Becher. Ich goss mir etwas Schnaps ein und trank ihn rasch. Eigentlich mag ich keine Spirituosen, aber diesmal konnte ich mich überwinden.

»Vielen Dank. Und was soll ich jetzt spüren?«

»Keine Ahnung«, antwortete mein sichtlich verwirrter Freund. »Ich war überzeugt, dein seltsames Getränk würde aus der Tasse laufen, wie es sich gehört. Schließlich hast du keinen Vorbereitungskurs in unserem Orden gemacht.«

»Ich dachte, alles hinge von deiner Tasse ab.«

»Das ist eine absolut gewöhnliche Tasse mit Löchern«, sagte Lonely-Lokley kopfschüttelnd. »Es geht nur darum, wer daraus trinkt. Weißt du, Max, du bist ein seltsamer Kerl.«

»Das denke ich auch - besonders in letzter Zeit«, seufzte ich. »Aber jetzt lass uns endlich deinen Freund suchen. Ich möchte nur sagen, dass ich mich selbst nach einer großen Portion Kachar-Balsam noch nie so gut gefühlt habe wie jetzt«, stellte ich fest, stand auf und ging zur Tür. Auf der Schwelle drehte ich mich um und sah, dass Lonely-Lokley auf der Couch sitzen geblieben war. »Worauf wartest du noch?«

»Max«, begann Sir Schürf vorsichtig, »schwebst du eigentlich immer?«

»Nur in Kettari. Aber was willst du damit überhaupt sagen?«, fragte ich und sah irritiert nach unten. Zwischen Schuhsohlen und Fußboden war tatsächlich ein knapper Zentimeter Luft. »Ich hab keine Kraft mehr zum Staunen. Ich hoffe, den Mond wird das nicht stören. Also lass uns gehen, solange der grüne Trabant noch nicht leuchtet. Ich hätte große Lust, mal wieder Blut zu trinken. Ist das normal, wenn man aus deiner Tasse genippt hat?«

»Durchaus«, meinte Lonely-Lokley nickend. »Versuch aber, dich zu beherrschen und deine tatsächliche Kraft nicht mit der Illusion von Macht zu verwechseln.«

»Ich werde mir Mühe geben. Übrigens hab ich noch nie so viele Ratschläge auf einmal bekommen.«

»Das kenn ich. Denk einfach daran, dass du dich wunderbar beherrschen kannst, wenn du willst«, sagte Lonely-Lokley. Sein herrliches Kompliment verpflichtete mich zu allem - egal, welche Wunder uns begegnen sollten.

Auf der Straße zog Lonely-Lokley behutsam den linken Handschuh aus, knetete ihn ein wenig und marschierte dann entschieden auf eine der vielen Brücken zu.

»Ist er schon in der Nähe?«, fragte ich besorgt. Meine Fersen, die ein wenig überm Boden schwebten, kribbelten wie verrückt.

»Das glaube ich nicht. Wir sind noch etwa eine halbe Stunde von ihm entfernt - ich habe also Zeit genug, mir alle Details des Kampfes gründlich zu überlegen. Eigentlich wollte ich dich bitten, dich nicht in meine Angelegenheiten einzumischen und dich überhaupt von Kiba Azach fernzuhalten, aber ...«

»... jetzt hast du es dir anders überlegt?«, fragte ich belustigt.

Schürf nickte ernst. »Ja, du hast mir eine Lektion erteilt. Es ist unverzeihlich dumm, seine Feinde zu unterschätzen - noch schlimmer aber ist es, dies mit seinen Freunden zu tun. Also misch dich bitte nach Lust und Laune ein.«

»Das höre ich gern«, rief ich vergnügt. »Wie bringt man eigentlich tote Magister um? Bis jetzt kenne ich nur eine, freilich ausgezeichnete Methode: mit deiner berühmten linken Hand. So wunderbar sie ist - diesmal hilft sie uns offenbar nicht weiter.«

»Nein, meine Linke kannst du vergessen. Die hat mal Kiba gehört und steht uns darum nicht zur Verfügung. Ich hab noch einige andere Tricks auf Lager, mit denen wir hoffentlich Erfolg haben. Außerdem hat jeder seine Lieblingsmethode, Große Magister zu töten - egal, ob sie tot oder lebendig sind. Du hast jetzt die Chance, eine eigene Methode zu entwickeln.« Nach diesen Worten schwieg Lonely-Lokley gedankenverloren, und ich wollte ihn nicht stören, denn er hatte genug Probleme.

Während unserer Unterhaltung waren wir durch die Straßen gegangen. Noch nie hatte ich einen Spaziergang so genossen, denn das angenehme Kribbeln in den Fersen drang mir bei jedem Schritt durch den ganzen Körper.

»Warum kann ich eigentlich schweben, Schürf? Ist dir das auch schon mal passiert?«

»Ja. Nachdem ich die Aquarien des Ordens der Wasserkrähe ausgetrunken hatte, habe ich den Boden einige Jahre nicht mehr berührt. So was passiert, wenn man zu viel Kraft hat und sie nicht vernünftig einsetzen kann. Na ja, du hast allerdings nur eine sehr kleine Portion getrunken - darum unterscheidet sich dein Fall womöglich von meinem. Übrigens befindet Kiba Azach sich schon in der Nähe, und ich muss meinen Handschuh gleich ausziehen. Er bringt meine Linke jetzt schon zum Glühen.«

»Nicht schlecht«, meinte ich mitleidig, schwieg dann aber. Was soll man auch sagen, wenn jemandem so etwas geschieht?

«Das war's, Max-, bemerkte Schürf leise. »Ich zieh den Handschuh jetzt aus und gebe ihn dir. Du bist in diesen Streit nicht verwickelt und kannst ihn darum aufbewahren.«

»Soll ich ihn vielleicht in meiner Hand verstecken? Das ist doch mein Lieblingstrick. Oder ist das zu gefährlich?«

»Aber nein, tu das ruhig. Und jetzt komm.«

Der gefährliche Handschuh verschwand zwischen Daumenballen und Zeigefinger meiner Linken. Inzwischen beherrschte ich diesen Trick spielend und konnte auf diese Weise alle möglichen gefährlichen Dinge transportieren.

»Versuch bitte unbedingt, am Leben zu bleiben«, sagte Lonely-Lokley plötzlich. »Der Tod ist ein ekelhaftes Erlebnis, wenn man mit Kiba zu tun hat. Das weiß ich am besten.«

»Ich habe eine lange Lebenslinie«, sagte ich hoffnungsvoll und sah verstohlen auf meine rechte Handfläche. »Und du, Schürf?«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst. Lass uns später darüber reden. Kiba ist in diesem Haus hier. Also zur Sache.«

Lonely-Lokley hatte auf ein kleines zweistöckiges Gebäude gezeigt, an dem das Schild Unterkunft prangte.

»Ist das ein Hotel?«, fragte ich erstaunt. »Ein Heim für tote Magister, in dem sie gegen mäßige Bezahlung ein Zimmer mit Tisch und Bett bekommen?«

»Ich glaube, es ist tatsächlich eine Art Hotel«, meinte Lonely-Lokley kühl und schien wenig erbaut von meinem losen Mundwerk. »Dir ist hoffentlich klar, dass uns eine schwere Aufgabe bevorsteht?«

»Das schon, aber ich finde die Vorstellung, dass ein Toter im Hotel wohnt, lustig. Ich wüsste gern, woher er das Geld dafür nimmt. Vielleicht hat er ja noch ein Konto bei der Bank?«

»Er muss hier irgendwo sein«, murmelte Lonely-Lokley finster vor sich hin.

Entschieden öffnete ich die Haustür.

Die Schwelle knackte unter unseren Füßen.

»Wir sind da«, stellte Lonely-Lokley ruhig fest und blieb vor einer unauffälligen weißen Tür stehen, auf der nur gerade eben noch der Schriftzug Zimmer Nr. 6 zu erkennen war. Tja - ich hab einfach die Neigung, mir die unwichtigsten Details zu merken.

»Na los, Max, mach auf.«

»Ach so, du hast ja keine Hand frei, wenn ich so sagen darf«, meinte ich lächelnd und öffnete die Tür. Vor einer halben Ewigkeit hatte ich in meinem früheren Leben mal gelesen, was Napoleon gesagt haben soll, als man ihn nach dem Geheimnis seiner Siege gefragt hat, nämlich: »Wenn das Chaos groß genug ist, läuft alles von allein« - oder so. Napoleon war ein Spaßvogel, aber er hat kein gutes Ende genommen.

Am Fenster und mit dem Rücken zu uns saß ein beinahe kahler, magerer Mensch im hellen Lochimantel. Ich konnte noch denken: »Prima, Max, jetzt fängst du sogar Fantomas.« Dann zuckte ein Blitz unter Lonely-Lokleys Mantel hervor und traf den alten Mann an der Schulter. Sie erglühte in weißlichem Licht, und dann war alles wie zuvor.

Offenbar war Schurfs erster Angriff nicht gerade gefährlich gewesen und hatte den Alten allenfalls zum Lachen gebracht. Jetzt drehte er sich um, und in seiner Miene stand keine Freude, wie man sie beim Treffen mit einem guten Bekannten hätte erwarten können.

»Grüß dich, Fischer-, murmelte Sir Kiba Azach, der ehemalige Große Magister des Ordens der Wasserkrähe - auch bekannt als unrechtmäßig getöteter Magister (für mich einfach Fantomas).

Das Schlimmste war, dass Kiba und Sir Schürf sich sehr ähnlich waren. Nicht umsonst hatte Juffin mich darauf aufmerksam gemacht, dass Schürf ein sehr unauffälliges Gesicht hatte und viele Bewohner Echos ihm ähnelten. Und ich Dummkopf hatte ihm nicht geglaubt.

Die vielen Jahre als Toter hatten an Sir Kibas Attraktivität gezehrt. Er hatte ernsthafte dermatologische Probleme, denn seine Haut war bläulich-gelb, porös, glänzte unschön und war insgesamt ungemein Ekel erregend. Das Weiße seiner Augen war dunkel, beinahe zimtfarben, die Pupillen selbst dagegen hell - das war auch nicht gerade sexy. Er wirkte auf mich so widersprüchlich, dass ich ruhig wurde: So ein seltsames Wesen, dachte ich, kann einem Kämpfer wie Lonely-Lokley unmöglich schaden. Da hatte ich mich freilich getäuscht!

Der Mann war sehr erfreut, mit uns plaudern zu können. Auch den zweiten Blitz, der ihn diesmal in die Brust traf, bemerkte er kaum, sondern redete einfach weiter: »Du hast dich wunderbar vor mir versteckt, Fischer. Allerdings warst du nicht klug genug, Orten wie dieser Stadt aus dem Weg zu gehen. Hast du nie daran gedacht, dass neu geschaffene Welten Träumen ähneln? Hier ist deine Kraft unwirksam. Hast du das nicht gewusst?«

Ich wandte mich an Lonely-Lokley und hatte den Eindruck, dass der Tote uns nur noch ein wenig erschrecken wollte, ehe wir ihn nach allen Regeln der Kunst zur Strecke bringen würden. Doch in der Miene von Sir Schürf stand panische Angst, während er zugleich wirkte, als würde er einschlafen.

»Ich mache dir keine Vorwürfe.«

Die klirrende Stimme von Kiba Azach katapultierte mich in die Wirklichkeit zurück. Nun wandte er sich an mich: »Verschwinde! Das ist ein alter Streit zwischen ihm und mir!«, rief der tote Magister und wedelte mir mit den Resten seiner Linken vor der Nase herum.

Kalte Panik schnürte mir die Kehle zu. Die alptraumhafte Vertracktheit der Situation warf mich aus dem Gleis. Bisher hatte ich geglaubt, ich könnte mir die gefährliche Welt unbesorgt hinter dem Rücken des unbesiegbaren Lonely-Lokley ansehen. Nun aber dachte ich seltsam ergriffen: Alter schützt vor Torheit nicht! Und was Torheit anlangte, hatten wir heute womöglich einen neuen Rekord aufgestellt. Wir besaßen so viel davon, dass wir sie eimerweise an Witwen und Waisen hätten verteilen können.

Dann hörte ich auf zu denken, denn ich war in die Enge getrieben, und es galt: Nicht denken - handeln!

Als Erstes spuckte ich in das speckig glänzende Gesicht des toten Magisters. Ich glaubte zwar nicht, dass dies viel helfen würde, hatte aber keine originellere Idee. Doch zu meinem Erstaunen verbesserte diese Attacke die Gesamtlage. Die Spucke tötete unseren Gegner natürlich nicht, denn er war ja schon tot, doch mein berühmtes Gift durchlöcherte immerhin den welken Hals von Kiba Azach. Als sich dort ein unappetitliches Loch bildete, staunte er sehr. Zwar konnte ich Lonely-Lokley keine Aufmerksamkeit mehr widmen, sah ihn aber aus dem Augenwinkel langsam wieder zu Kräften kommen und hatte den Eindruck, ihm noch etwas Zeit verschaffen zu müssen, damit er sich weiter berappeln konnte.

Ich kam auf die Idee, direkt in die starren Augen des Toten zu spucken, denn Augen sind empfindlich. Aber ich war nie allzu treffsicher gewesen und musste daher nahe an meinen Gegner heran. Diesmal traf ich ihn immerhin im Gesicht und sorgte für ein weiteres Loch. Ich bin ja ein toller Scharfschütze!, dachte ich unfroh und spuckte erneut. Endlich konnte ich zufrieden sein: Das dritte Loch bildete sich genau dort, wo eben noch Kibas rechtes Auge gewesen war.

Er ging schnell zum Fenster.

•»Bist du etwa schon tot?««, fragte er so interessiert, als wären Informationen über meinen Gesundheitszustand für ihn das Wichtigste. »Hier dürfen Lebende nicht mit Toten streiten - also bist du tot. Und warum bist du auf seiner Seite?«

»Ich habe die Aufgabe, ihn zu schützen«, sagte ich fröhlich.

Da bekam ich, was ich verdient hatte: Die rechte Hand von Kiba Azach landete auf meiner Brust. Ich Dummkopf, dachte ich noch, warum bin ich ihm bloß so nahe gekommen?

Dann wurde ich ganz ruhig, mir war sehr kalt, ich wollte mit niemandem mehr streiten und hatte das Gefühl, ich sollte mich dringend hinlegen und mir einige Gedanken machen. Pfui Teufel - Kibas rechte Hand funktionierte wie eine Art Narkose. Darüber wurde ich sauer, fuhr ihn aber nicht an, sondern spuckte ihm erneut ins entstellte Gesicht und rief: »Schürf, lass ihn zwischen deinen Fingern verschwinden - aber schnell! So, wie ich's mit dem Handschuh getan hab! Na los!« Bei diesen Worten warf ich mich zu Boden, damit Lonely-Lokley nicht aus Versehen auch mich in seiner Hand versteckte.

Ich hoffte nur, dass Schürf schon imstande war, etwas zu tun, oder dass er eine bessere Idee hatte.

Dann stellte ich erleichtert fest, dass Kiba Azach sich nicht mehr unter uns befand. Ich drehte mich um, und Lonely-Lokley zeigte mir schweigend die Linke. Daumen und Zeigefinger hielt er auffällig gekreuzt. Ich war beruhigt: Glück gehabt!

Rasch verließen wir das unangenehme Zimmer. Ich zitterte, und Sir Schürf schwieg. Er brauchte wohl noch etwas Zeit, um nach diesem Vorfall wieder zu sich zu kommen. Und ich hatte keine Lust, mich zu genau an das Ganze zu erinnern.

Wie herrlich war es, wieder auf der Straße zu sein! Es wehte ein kühler Wind, das Licht war angenehm, und wir waren noch am Leben. Ich drehte mich um und staunte: »Sieh mal, Schürf - das Haus ist weg!«

Lonely-Lokley zuckte gleichmütig die Achseln. Und wenn schon!, schien ihm ins Gesicht geschrieben. Auch ich merkte, dass mich das Verschwinden des Gebäudes eigentlich nicht interessierte. Wir gingen weiter. Ich konnte mein Zittern allerdings nicht mehr beherrschen, und mir klapperten die Zähne.

»Versuch es mal mit meinen Atemübungen«, kommentierte Schürf unerwartet. »Mir würden sie in so einem Fall sicher helfen.«

Ich tat, wie er mir geraten hatte, und als wir zehn Minuten später ein leeres Wirtshaus betraten, konnte ich das Geschirr in die Hand nehmen, ohne Scherben zu produzieren.

••Prima«, sagte ich erfreut, »deine Gymnastik hilft wirklich.«

»Ich würde nicht darauf schwören, wenn es nicht so wäre«, meinte Lonely-Lokley achselzuckend.

»Was machen wir nun mit dem Schönling?«, fragte ich belustigt. »Oder willst du ihn zur Erinnerung in deiner Hand lassen?«

»Das würde mir kaum gefallen«, meinte Schürf gedankenverloren. »Aber ich muss deine Idee loben. Dein Gedanke war erstaunlich einfach und kam genau rechtzeitig. Weißt du, dass du weit mehr als nur mein Leben gerettet hast, Max?«

»Durchaus. Ich bin ein aufmerksamer Zuhörer, Schürf, und kann mich genau daran erinnern, was du mir vom Verrückten Fischer erzählt hast. Hat Kiba Azach jetzt das Gleiche durchgemacht? Er hat noch geschafft, mir zu sagen, dass es ein Fehler war, ihn in Kettari zu treffen, weil die Verteilung der Kräfte hier nicht besser sei als in deinen Träumen.«

»Stimmt«, gab Lonely-Lokley ruhig zur Antwort. »Weißt du, Max, ich glaube, für uns wäre es das Beste, ihn endgültig zu töten. Würde dir dein geheimnisvoller Freund dabei helfen? Ich meine den Mann, der dir von Kiba Azach erzählt hat?«

Ich zuckte die Achseln. »Woher soll ich das wissen? Wir können es versuchen. Aber lass uns erst was trinken. Die Atemübungen sind zwar prima, doch es gibt noch andere gesundheitsfördernde Maßnahmen, findest du nicht?«

»Da hast du Recht«, sagte Lonely-Lokley und nickte verwirrt. »Ich muss mich auch unbedingt stärken.«

Wir tranken schweigend einen herben, fast schwarzen Rotwein. Ich fühlte mich erstaunlich gut - ganz leicht und bar aller Gedanken. In meinem Kopf herrschte Leere.

Schürf sah mich fragend an. »Lass uns spazieren gehen«, sagte er und stand auf. In diesem Moment wusste ich, wohin wir gehen sollten, obwohl ich noch immer keinen Schimmer habe, wie ich darauf gekommen bin. Ich setzte einfach einen Fuß vor den anderen und hatte keine Kraft, Widerstand zu leisten. Lonely-Lokley fragte mich nicht nach unserem Ziel - sein Vertrauen in mich war möglicherweise grenzenlos geworden.

Wir gingen zur Stadtmauer. Noch vor ein paar Tagen hatte Schürf Kettari nicht verlassen können. Inzwischen aber hatte ich keinen Zweifel, dass ihm das mühelos gelingen würde. Obendrein konnte ich ihm immer sagen, er brauche keine Angst zu haben, weil Kiba Azach unschädlich gemacht war und in seiner Hand gefangen saß.

Aber das war gar nicht nötig. Wir verließen Kettari problemlos und bewunderten die uns schon bekannten Wacharibäume und andere ländliche Idyllen.

Auf verschiedenen Wegen spazierten wir vor uns hin, und ich wusste nicht einmal, ob meine Beine den Boden berührten. Es interessierte mich auch nicht. Ein bemerkenswertes Machtgefühl durchflutete mich. Während des Spaziergangs hatte ich den Eindruck, ich könnte tun, was immer mir beliebt. Doch ich hatte keine revolutionären Gedanken. Ich wollte nur mit Schürf Drahtseilbahn fahren. Mochte dann geschehen, was wolle.

»Was ist das?«, fragte Lonely-Lokley erstaunt. Vor uns befand sich die Talstation der Drahtseilbahn, und in der Ferne ragte die mir ebenfalls bekannte Silhouette meiner Stadt in den Bergen auf. Ich sah meinen Begleiter freundlich an: »Erkennst du die Stadt nicht? Hier bist du vor kurzem noch gewesen.«

»Ist das die Stadt aus deinen Träumen?«

»Ja, aber inzwischen auch aus deinen. Komm, fahren wir hoch.«

Die Kabinen der Drahtseilbahn waren für zwei Personen gedacht. Sir Schürf sah wie verzaubert mal nach oben, mal nach unten. Sein Schweigen wirkte nicht so reserviert wie sonst, sondern erschien mir als Zeichen der Begeisterung. Enorm erleichtert brach ich in Lachen aus und fühlte mich wie im Besitz eines Zertifikats, das mir Unsterblichkeit und allzeit unbegrenzte Entfaltung meiner Persönlichkeit garantierte.

»Weißt du, was du jetzt tun könntest?«, fragte ich, als ich mich beruhigt hatte. »Du könntest deinen ewigen Feind in den Abgrund werfen, damit er uns nicht den Genuss der Landschaft verleidet. Ich glaube, das ist meine Lieblingsmethode, tote Magister umzubringen - eine ausgezeichnete Methode, wie ich dir garantieren kann.«

In Lonely-Lokleys Augen erschien kurz ein Hauch von Zweifel, doch dann sah er sich erneut die Landschaft an, nickte ernst und streckte den linken Arm aus ...

Kiba Azach stürzte schweigend in die Tiefe. Er staunte nicht, denn er wusste alles - Tote wissen immer alles. Ich hatte den Eindruck, dass er eigentlich nichts gegen das abrupte Ende seines langen, tatenreichen Lebens hatte, im Gegenteil: Dieses Ende gefiel ihm, weil es eine schwere und undankbare Aufgabe war, als toter Magister durch die Weltgeschichte zu streifen. Er verschwand, ohne den Boden zu berühren, den es - offen gesagt - auch gar nicht gab. Ich lachte wieder, schaute gen Himmel und fragte lächelnd: »Hat Ihnen das gefallen, Sir Maba? Jetzt sagen Sie nicht, Sie seien nicht begeistert!«

»Natürlich hat es mir gefallen. Bist du jetzt zufrieden?« Als mich die Worte Maba Kalochs per Stummer Rede erreichten, zuckte ich erschrocken zusammen. »Nur hör bitte mit der dummen Gewohnheit auf, mich laut anzusprechen. Schaffst du das?«

»Ich werde mich bemühen«, seufzte ich schuldbewusst und machte den Mund dabei nicht auf.

»Toll«, schwärmte Lonely-Lokley fröhlich und wirkte jünger als je zuvor. »Na, bist du zufrieden?«, fragte er dann neugierig.

»Ja, aber frag nicht, warum. Jedenfalls bin ich jetzt sicher, alles schaffen zu können. Schürf, sieh mal - wir sind fast angekommen. Jetzt kannst du deinen Handschuh nehmen.«

Ich schüttelte meine Linke und gab Lonely-Lokley sein Eigentum zurück.

Die Stadt freute sich auf uns - daran gab es keinen Zweifel. Die Straßen waren beinahe leer, einige Fußgänger begrüßten uns freundlich, und der warme Wind wehte mir vertraute Düfte zu. Der Ort war zwar nichts Besonderes, für mich aber war er der beste Platz aller möglichen Welten. Allerdings wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, hier länger zu bleiben. Ich wusste, dass das unmöglich war.

In einem Straßencafe machten wir Rast. Schürf hatte zwar keinen Gefallen an Kaffee gefunden, war aber über die tief hängenden Pflaumenbaumäste entzückt. Unser Aufenthalt in der Stadt war angenehm und sehr lustig. Ich weiß noch, dass Lonely-Lokley seinen Löffel so gegen die Sonne hielt, dass er beinahe ein Loch ins Metall gebrannt hätte. Dann zwinkerte er mir zu und zauberte eine Art Pflaumenkranz, der heiter über meiner Tasse schwebte. Ein rankes und ungemein schlankes Mädchen kam mit unserem Essen und küsste mich zur Begrüßung auf die Wange. Das war zwar unerwartet, aber sehr angenehm. Ich konnte nur den Kopf schütteln. Ich glaube, wir schwiegen die ganze Zeit und lächelten nur ab und an.

Nach einem raschen Gang durch die ganze Stadt erreichten wir den Park im englischen Stil. Hier irgendwo musste Lady Marilyn spazieren gehen, wenn man dem klugen Sir Machi Ainti Glauben schenken durfte. Und warum sollte man das nicht?

»Ich hab schon wieder vergessen, mich zu erkundigen, wie die Stadt heißt-, seufzte ich. »Ich hätte die nette Kellnerin fragen sollen.-

»Ach was, Max«, winkte Lonely-Lokley ab. »Hauptsache, sie existiert. Der Rest spielt keine Rolle.«

»Eigentlich hast du Recht. Lassen wir das leidige Thema.«

Dann kehrten wir nach Kettari zurück, und ich war so müde, dass ich zwischendurch in der Seilbahn einschlief.

Am anderen Morgen war alles wieder normal, zu normal eigentlich: Meine Füße befanden sich wie üblich auf dem Boden, und ich verspürte keine übernatürlichen Kräfte mehr. Ich vollführte nur ein einziges Wunder, indem ich ein paar Cola-Dosen unter dem Schaukelstuhl hervorzog.

Langsam bekam ich Hunger. Lonely-Lokley war beherrscht und gelassen wie stets. Ihm war nur eine gewisse Leichtigkeit anzumerken, als wäre er lange erkältet gewesen und plötzlich gesundet.

»Ich glaube, wir haben nichts mehr in Kettari zu tun, oder?«, fragte er und nahm einen Schluck von der Kamra, die wir uns hatten kommen lassen, da wir nicht einmal Lust gehabt hatten, frühstücken zu gehen.

Das waren die ersten Worte, die er an diesem Morgen sagte. Offenbar hatte er bereits entschieden, dass wir nichts mehr in Kettari verloren hatten.

»Ich bin zwar auch deiner Meinung, aber ... Moment mal! Ich hab doch noch einen Termin! Eigentlich könnten wir zusammen hingehen. Im Alt-Kettaii kann man ausgezeichnet essen.«

»Na gut«, meinte Lonely-Lokley und nickte phlegmatisch. »Ich brauche nur etwas Zeit, mich herzurichten. Geh schon mal vor.«

»Wie du meinst«, sagte ich und nickte spiegelbildlich.

Langsam war alles wieder wie immer: Ich machte Faxen, und Schürf merkte es nicht einmal. Das Leben kehrte in seine gewohnten Bahnen zurück.

Sofort machte ich mich auf den Weg zum Treffen mit Machi Ainti. Ich wäre viel lieber sofort nach Echo zurückgefahren, musste mich aber noch von ihm verabschieden.

Die Seitentür des Alt-Kettaii quietschte beim Öffnen. War das immer so gewesen, oder fiel mir das Geräusch erst jetzt auf?

»Hallo, Kamerad«, rief Machi und strahlte mich an. »Hat dir gefallen, was du in Kettari erlebt hast?«

»Und dir?«, gab ich knapp zurück. Ich hatte den Eindruck, der Stuhl, auf den ich mich immer setzte, und der Tisch, an dem ich immer saß, seien tatsächlich mein Stuhl und mein Tisch, da ich nie jemand anderen dort hatte sitzen sehen. »Was ist, Machi? Bist du mit meinen Abenteuern zufrieden?«

»Ich? Sehr! Ich kann dir gar nicht erzählen, wie sehr! Selbst im Traum hätte ich das nicht erwartet. Eigentlich möchte ich dich gar nicht zu Juffin zurückkehren lassen, denn hier gibt es übergenug Arbeit für dich. Ach, Max -das war doch nur ein Scherz. Warum bist du so erschrocken? Sehe ich etwa wie ein Entführer aus? Unter uns gesagt: Du hast eine ausgeprägte Mimik, und das gefällt mir, denn so können Gesprächspartner sofort deine Gefühle erkennen. Sie zu verbergen, ist ohnehin sinnlos. Ich glaube, du hast viele Fragen, stimmt's?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich hab gar keine Fragen, weil ich mit deinen Antworten nichts anzufangen weiß, Machi.«

Zuerst hörte ich sein Lachen, dann sah ich es auf seinem Gesicht, doch mir behagte weder das eine noch das andere. Was mir daran missfiel, wusste ich nicht genau, doch mir lief ein Schauer über den Rücken.

»Du lachst selbst manchmal so. Und mitunter erschrickst du auch arglose Leute«, meinte Machi. »Aber nimm das bitte alles nicht so ernst. Übrigens kenne ich dein Problem: Du willst nach Hause fahren und hast keine Lust, auf die Karawane zu warten. Also nimm das«, sagte er und gab mir einen kleinen grünlichen Stein, der für seine Größe enorm schwer war.

»Ist das mein Cicerone? Ein Schlüssel zur Tür zwischen den Welten? Das, was alle Bewohner von Kettari besitzen?«

»Mehr noch! Jemand, der mir geholfen hat, eine neue Welt zu erschaffen, genießt einige Privilegien. Normale Schlüssel sind für die normalen Bewohner von Kettari gedacht, aber nicht gut genug für ein Wesen aus einer anderen Welt. Dieser Schlüssel ist allein für dich bestimmt. Wenn du ihn einem anderen gibst, kann ich für die Folgen nicht garantieren - verstanden?«

»Sicher, aber das hättest du gar nicht erst sagen müssen, denn ich würde den Schlüssel ohnehin nicht aus der Hand geben.«

»Das ist auch besser so. Und gib ihn auf keinen Fall Juffin. Aber der ist ohnehin alt und klug genug, um sich die Frage danach zu verkneifen. Ich freue mich wirklich, dass dein Freund Schürf sein Problem so leicht losgeworden ist. Er ist ein angenehmer und interessanter Mensch, und ich bedauere, dass er mich nicht besuchen kann. Wann fahrt ihr zurück?«

»Bald, schätze ich. Warum meinst du, dass Schürf dich nicht besuchen kann? Ich hab ihn gerade hierher eingeladen. War das eine dumme Idee von mir?«

»Ach nein. Er sitzt im Nachbarsaal, aber das wirst du gleich selbst sehen«, sagte Sir Machi, erhob sich rasch und ging zum Ausgang. Auf der Schwelle drehte er sich noch mal um: »Dieser Stein, Max, öffnet die Tür zwischen den Welten von beiden Seiten. Hab ich mich klar ausgedrückt?«

»Also kann ich immer hierher zurückkehren?«

»Sooft du willst. Ich glaube allerdings nicht, dass du in den nächsten Jahren auf diese wunderbare Idee kommst. Aber man weiß ja nie. Und merk dir noch eins: Du kannst immer jemanden mitbringen, aber beschränke dich auf Menschen, zu denen du volles Vertrauen hast. Und komm bitte nicht auf die Idee, Karawanenführer zu werden. Schließlich sollst du anderen nicht den Arbeitsplatz wegnehmen, kapiert?«

Ich lächelte und klopfte mit dem rechten Zeigefinger zweimal an die Nasenspitze. Auch Machi Ainti lächelte und trat rasch auf die Straße.

Die Tür quietschte, und ich blieb allein. Ich steckte das grüne Steinchen in die Tasche. Warum soll ich es weitergeben?, fragte ich mich. Daraus lässt sich ohnehin kein anständiger Ohrring machen. Ich sah durchs Fenster. Das Wasser des Springbrunnens strahlte in allen Regenbogenfarben. Die Straße war leer - Machi war offenbar schon um die Ecke gebogen.

Max, hör auf, dich so dumm anzustellen, ermahnte ich mich streng, erhob mich vom Stuhl und ging in den Nachbarsaal, wo Lonely-Lokley mich sehnsüchtig erwartete.

Schürf hatte am Fenster Platz genommen. Gedankenverloren studierte er die Speisekarte und war über mein Auftauchen sehr erstaunt.

»Wie bist du hierher geraten, Max? Kommst du aus der Küche? Was hat dich dorthin verschlagen?«

»Was sollte ich in der Küche treiben? Ich hab die ganze Zeit im Nachbarsaal gesessen.«

»Wo!? Bist du sicher, dass es hier zwei Säle gibt?«

»Ich weiß doch, wo ich herkomme«, meinte ich und wandte mich zur Tür um, die freilich nicht mehr existierte. »Schürf, wir haben es wieder mit so einer Kettari-Kapriole zu tun. Die Bewohner der Stadt benehmen sich leicht exzentrisch, findest du nicht? Aber lass uns jetzt Mittag essen. Inzwischen bin ich zu einem so glühenden Patrioten von Echo geworden, dass wir jederzeit in die Hauptstadt zurückkehren können. Was hältst du davon?«

»Ich bin begeistert, Max. Und soweit ich gehört habe, können wir die Stadt auch auf eigene Faust verlassen.«

»Haarscharf erkannt! Wir fahren ohne Karawanenführer, aber auch ohne Pause nach Echo, weil ich mich ans Steuer setze. Wir werden mit einem der unvernünftigsten Rekorde, die je erzielt worden sind, in die Geschichte eingehen. Aber weißt du was? Du solltest dir unbedingt noch einen Teppich besorgen. Schließlich sind wir deshalb gekommen, oder?«

Lonely-Lokley zuckte die Achseln. »Das hatte ich eigentlich vor. Und du willst wirklich die ganze Strecke nach Echo am Lenkrad sitzen?«

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie rasch wir zurück sein werden«, antwortete ich schwärmerisch. »Vor allem, nachdem du mir so viel über A-Mobile erzählt hast - zumal, dass sie so schnell sind, wie der Fahrer es wünscht.«

»Dann bist du bisher also langsam gefahren?«, fragte Lonely-Lokley ungläubig.

Als wir mit dem Essen fertig waren und auf die Straße traten, schlug ich den Weg zu dem schillernden Springbrunnen ein, blieb dann aber überascht stehen. »Schürf, ich bin immer durch eine Seitentür gegangen, die hier um die Ecke ins Lokal geführt hat!«

»Daran zweifle ich nicht, Max. Aber das war keine echte Tür, sondern eine Art Bühnenattrappe.«

»Wie Sir Lukfi Penz zu sagen pflegt: Manche Leute sind wirklich zerstreut!«, seufzte ich. »Aber was soll ich tun? Staunen? Ach, lassen wir das.«

Den Rest des Tages verbrachten wir wie echte Touristen. Schürf kaufte sich tatsächlich einen Teppich, und ich leistete ihm dabei Gesellschaft. Ich konnte mir nicht verkneifen, mir einen dicken, dunklen Läufer zu besorgen, der wunderbar zum Fell meiner Katzen passen würde. Offenbar war ich der erste Kunde, der sich beim Kauf nach der Farbe seiner Haustiere richtete.

Wir ließen unsere frisch erworbenen Teppiche im A-Mobil und gingen in unsere Wohnung zurück. Lonely-Lokley packte innerhalb von zehn Sekunden - Ehrenwort! Ich hingegen brauchte bis Sonnenuntergang, denn ich hatte meine Sachen in allen Ecken der großen Wohnung verstreut. Schließlich fand ich noch einiges, was ich tags zuvor unter dem Kissen, dem Sofa, dem Schaukelstuhl und unter anderen Möbeln hervorgezogen hatte. Die Tüte mit Bonbons war fast leer, aber ich hatte noch etwas Gebäck, den Schlüsselbund, die vier Silberlöffel und ein paar kubanische Zigarren. Nach kurzem Überlegen warf ich alles in die Reisetasche. Vielleicht konnte ich das eine oder andere davon ja demnächst brauchen.

Ich setzte mich ans Steuer des A-Mobils und zündete mir genüsslich eine Zigarette an. Innerhalb der Stadt fuhr ich recht langsam, doch als wir die Wacharibäume passiert hatten, war ich nicht mehr zu bremsen. Ich fuhr mindestens hundert Meilen pro Stunde. Kaum zu glauben, dass unsere Klapperkiste dieses Tempo schaffte! Und das war erst der Anfang.

Schürf saß reglos auf dem Rücksitz. Ich konnte mich nicht mal umdrehen, war mir aber sicher, dass er vor Begeisterung strahlte. Die Fahrt war ungemein angenehm! Wir flogen beinahe über unbekannte Straßen. Ich sah weder die Drahtseilbahn noch die Stadt aus meinen Träumen, spürte aber den angenehm warmen Wind von Kettari. Irgendwann aber verschwand auch er.

»Ich hab Juffin gerade per Stummer Rede erreicht«, sagte Lonely-Lokley.

Ich hob die Brauen. »Das ist ja eine wunderbare Nachricht. Richte ihm bitte aus ... Ach was, es ist besser, wenn du ihm deine Version unserer Abenteuer schilderst. Bei diesem Tempo muss ich mich konzentrieren, und ich bringe es einfach nicht übers Herz, langsamer zu fahren. Sagst du ihm das bitte?«

»Natürlich. Ich weiß ja schon, dass du dich ungern der Stummen Rede bedienst. Nach meiner Schätzung erreichen wir Echo schon vor dem Morgengrauen, wenn du nicht müde wirst.«

»Wozu haben wir denn noch Kachar-Balsam? Ich weiß - du hast mir schon erklärt, dass dieses Zeug für A-Mobilfahrer nicht gerade geeignet ist, aber mich hält es topfit.«

»Ja, du solltest dich stärken«, pflichtete Lonely-Lokley mir unerwartet bei.

Dann schwieg er. Offenbar hatten Sir Juffin und er nach der langen Trennung genug Gesprächsstoff. Ich war nicht neidisch - dazu genoss ich die Fahrt viel zu sehr. Und am nächsten Tag würde auch ich Juffin jede Menge zu erzählen haben. Der Arme hätte mein Gerede sicher irgendwann satt.

Nach zwei Stunden tippte Lonely-Lokley mir vorsichtig auf die Schulter. Ich zuckte zusammen, weil der Geschwindigkeitsrausch mich die Welt und meinen schweigsamen Mitfahrer hatte vergessen lassen.

»Was ist?«, fragte ich, ohne mich umzudrehen.

»Das Gespräch mit Juffin ist beendet, und ich habe einen Bärenhunger. Vielleicht können wir irgendwo einkehren?«

»Sieh doch mal in meine Reisetasche. Dort dürfte Gebäck sein. Auch wenn du das nicht kennst - es ist durchaus genießbar. Und gib mir was davon. Ich muss auch was essen.«

Lonely-Lokley wühlte in meiner Tasche und reichte mir eine Tüte Knabberzeug. Dann begann auch er, behaglich zu futtern.

»Kommt das alles aus der anderen Welt?«

»Genau. Schürf, ich hab eine wunderbare Idee.«

Ich hielt und schob die Hand unter den Sitz. Nach zwei Minuten zog ich meinen Fang hervor und musste lachen.

»Was ist, Max?«, fragte Schürf interessiert.

»Nichts Besonderes. Als ich gestern Abend unbedingt Zigaretten angeln wollte, hab ich die ganze Zeit Lebensmittel gefischt, und jetzt, wo ich etwas essen will, finde ich das hier unterm Sitz«, sagte ich und hielt ihm eine Stange Zigaretten unter die Nase. »Zehn Schachteln, Schürf, stell dir das vor! Von meiner Lieblingssorte -heute hab ich wirklich Glück.«

»Hallo, Max!« Die Stimme von Machi Ainti erwischte mich so unerwartet, dass ich beim Zurücklehnen in den Sitz seufzte. Es war keine angenehme Überraschung -eher so, als würde ich unter die Ladung eines Kippers geraten.

»Ich muss mich bei dir bedanken«, sagte Machi und klang recht schuldbewusst. Vermutlich wusste er, wie ich mich fühlte. »Ich hoffe, du freust dich, dass ich mich bei dir melde - auch wenn du es vermutlich kaum erträgst, dich mit mir zu unterhalten.«

»Ganz im Gegenteil«, sagte ich per Stummer Rede und bemühte mich, gelassen und freundlich zu klingen. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich freue, von dir zu hören.«

»Das kann ich mir ganz gut vorstellen«, meinte Machi belustigt und verschwand aus meinem Bewusstsein. Ich atmete erleichtert auf. Auch wenn ich eine Schwäche für ihn haben mochte - alles in allem fand ich ihn recht schwer erträglich.

»Sollte das ein Geschenk sein?«, fragte Lonely-Lokley. »Du hättest jedenfalls eins verdient. Schließlich hast du in Kettari schönere Sachen zurückgelassen als bekommen.«

»Hast du unser Gespräch mitgekriegt?«, fragte ich erstaunt.

»Irgendwie ja ... Seitdem ich mich der Attacken von Kiba Azach nicht mehr erwehren muss, kann ich meine Kräfte wieder anders verwenden. Manches passiert bei mir ganz von allein. Momentan fällt es mir leicht zu verfolgen, was dir widerfährt. Und deine ausgeprägte Mimik erleichtert das noch.«

Ich zuckte gleichgültig die Achseln. »Vielleicht finde ich ja noch was Leckeres unterm Sitz.«

Eine halbe Stunde später waren wir stolze Besitzer dreier Flaschen Mineralwasser und vieler Jetons für Spielautomaten.

»All das hat mir mein Leben lang gefehlt«, brummte ich ärgerlich.

Beim letzten Versuch zog ich eine halbe Kirschtorte unterm Sitz hervor und aß den Großteil davon. Gestärkt und guter Dinge ließ ich das A-Mobil wieder an, und wir fuhren weiter.

»Hör mal, Schürf, hast du Juffin zufällig gefragt, was los war, als ich mich kurz vor Kettari mit Lukfi Penz unterhalten habe und die Verbindung plötzlich abbrach?«

»Nein, aber er hat es mir erzählt. Er hatte wohl wieder mal den Eindruck, du bräuchtest nicht alles zu wissen. Du hast mit deinen Ansichten über die andere Welt richtiggelegen, und Sir Lukfi ist ein zerstreuter Mensch, der einfach nicht gemerkt hat, dass ihn meine Stumme Rede von einem Ort aus erreichte, von dem aus sie ihn eigentlich nicht hätte erreichen können. Diesmal hat seine Zerstreutheit unsere Mission begünstigt. Und dann ist etwas passiert, das dich zum Lachen bringen mag. Sir Juffin hat gleich gewusst, wohin wir beide geraten sind, und hat uns das erklären wollen. Lukfi hat Juffins Erklärung hinsichtlich der anderen Welt vernommen und wortgetreu an dich weitergegeben, bis ihm endlich klar wurde, dass die Verbindung mit dir unter solchen Umständen eigentlich unmöglich war. Und prompt ist euer Kontakt abgebrochen. Warum lachst du nicht, Max?«

»Keine Ahnung«, sagte ich achselzuckend. »Ich versuche, die Situation zu begreifen. Woher willst du wissen, dass mich so was zum Lachen bringt? Übrigens hast du dich in Kettari sehr verändert, Schürf, weißt du das?«

»Das ist durchaus verständlich«, antwortete Lonely-Lokley nachdenklich und schien darüber zu grübeln, wie er sich am besten aus der Affäre ziehen konnte.

»Zuerst hast du das Gesicht von Glama Eralga bekommen. Dann hast du die wunderbare Lady Marilyn - die Magister seien ihrer armen Seele gnädig! - ertragen müssen. Obendrein hast du in eine andere Welt reisen und dort einen Joint rauchen müssen. Und als Zugabe hattest du noch mit Kiba Azach zu kämpfen. Mein armer Schürf - all das hast du tapfer ertragen.«

»Du kannst wirklich wunderbar erzählen«, meinte Lonely-Lokley, und seine Stimme klang so seltsam, dass ich mich umdrehen musste. Schürf lächelte, wenn auch nur mit den Mundwinkeln. Er lächelte! Ehrenwort!

»Trotz all dieser Erfolge und Erlebnisse solltest du auf dem Teppich bleiben, Freundchen«, meinte ich und zwinkerte ihm zu. »Schließlich haben wir noch mit einem zweiten Toten zu tun. Wie heißt er eigentlich?«

»Juk Jugari. Aber der ist weit weniger gefährlich. Ich hab nicht mal vor, mit ihm zu kämpfen, Max. Ich muss mich nämlich auf das Wesentliche konzentrieren.«

»Wie dem auch sei - wenn der Tote dich belästigen sollte, kannst du auf mich zählen«, antwortete ich leichthin. »Ich werde in seine Träume eindringen, und er wird alles bereuen.«

»Zu den Magistern mit dir, Max - Tote haben keine Träume.«

»Umso besser. Dann bin ich also am Leben, und dein toter Freund Kiba hat mich nur für tot gehalten.«

»Tote Magister sagen selten etwas Vernünftiges«, gab Schürf ungerührt zurück. »Meines Wissens sind sie total verwirrt.«

»Das kommt mir bekannt vor«, meinte ich und beschleunigte so sehr, dass wir uns nicht mehr unterhalten konnten.

Als wir Echo erreichten, ging die Sonne auf, um zu sehen, was die Leute in ihrer Abwesenheit angestellt hatten. Ich winkte ihr fröhlich und bog in die Straße der nördlichen Trophäen ein. Ein hübscher Name, der mir ganz neu war.

Ich musste mein Tempo etwas reduzieren. Das fiel mir leicht, denn ich brauchte mich nicht mehr zu beeilen, und Echo erschien mir im Morgenlicht als die hübscheste Stadt der Welt. Dieser Welt. Gut möglich, dass es in anderen Welten einige ernsthafte Konkurrenten gab.

»Du hast dich verfahren«, meinte Lonely-Lokley. »Du kennst dich in diesem Teil der Stadt nicht besonders aus, oder?«

Das konnte ich nur bestätigen, und Schürf dirigierte mich. Nach einiger Zeit stellte ich fest, dass wir auf der Straße der Kupfermünzen waren und zum Haus an der Brücke fuhren.

»Endlich daheim!«, rief ich begeistert.

»Stimmt«, stellte Schürf nüchtern fest. »Ich würde jetzt gern nach Hause gehen, fürchte aber, dass meine Frau noch schläft. Und weil ich das fremde Gesicht von Glama Eralga habe, dürfte sie über meine Ankunft nicht gerade erfreut sein.«

»Vielleicht hat Sir Kofa Dienst und kann dir helfen.«

Kaum hielt ich vor dem Geheimeingang zum Haus an der Brücke, fiel das A-Mobil auseinander.

»Spring raus!«, rief Lonely-Lokley.

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Wie es mir allerdings gelungen ist, noch meine Tasche mit der Stange Zigaretten zu schnappen, bleibt mir ein Rätsel.

Als ich mich umdrehte, sah ich Schürf unser Gepäck unter Metallteilen hervorziehen.

»Hilf mir doch - was guckst du denn so? Du bist wirklich ein guter Rennfahrer, Max. Einen Piloten wie dich hab ich noch nie erlebt.«

»Stimmt, der Junge ist begabt. Leider übertreibt er mitunter«, hörte ich hinter meinem Rücken die bekannte Stimme von Sir Juffin. »Aber meistens kommt er damit durch.«

»Ach, Juffin, Sie glauben gar nicht, wie lange ich auf dieses Treffen gewartet habe«, sagte ich mit der Stimme von Sir Machi Ainti und begann zu lachen.

»Ach, Machi, auch wenn Sie es nicht glauben: Ich habe einfach keine Kraft, mich mit Ihnen zu unterhalten«, antwortete Juffin belustigt. »Max, probier es noch mal.«

Daraufhin begrüßte ich ihn ohne Arabesken.

»So gefällst du mir besser«, meinte er. »Willkommen, Schürf. Der Junge hat das A-Mobil ruiniert, wie ich prophezeit hatte. Aber zum Glück gehört der Wagen dem Staat.«

»Ja, er ist ein wilder Fahrer«, meinte Schürf geistesabwesend und zog mit trauriger Miene seinen teuren Teppich aus dem A-Mobil-Wrack. »Max, kannst du mir jetzt endlich helfen?«

Ich nahm schnell die Taschen und überließ meinem Freund die Teppiche. Dann gingen wir in Juffins Arbeitszimmer, um Kamra zu trinken und zu plaudern. Das war für mich so verlockend, dass mir das Wasser im Munde zusammenlief.

Ich redete fast eine Stunde ununterbrochen. Unterdessen gab Juffin mit einer Handbewegung Schürf sein Gesicht zurück.

»Ich brauche die Illusion ja nur zu beseitigen und muss keine neue schaffen - warum sollen wir dafür auf Sir Kofa warten?«

Ich hatte fast vergessen, wie Schürf aussah, und erschrak ein wenig, als ich sein eigentliches Gesicht erblickte.

»Das war's«, meinte Lonely-Lokley, als ich endlich aufhörte zu reden. Dann stand er auf. »Ich fahre jetzt nach Hause, wenn ihr nichts dagegen habt.«

»Mach das«, sagte Juffin nickend und sah uns so zufrieden an, dass sich in seinem Büro eine seltene Idylle ausbreitete.

Ich blieb mit Juffin allein.

»Wo ist eigentlich der neugierige Melifaro?«, fragte ich. »Und wo sind die anderen?«

»Ich hab allen befohlen, uns in Ruhe zu lassen. Du wirst noch viel Zeit haben, dich mit ihnen zu unterhalten, und ich wollte nicht, dass außer mir noch jemand deinen Bericht aus Kettari hört. Er ist streng geheim, Max, und muss absolut vertraulich bleiben. Mein Leben lang hab ich von Machi Seltsames erwartet, aber auf so was wäre ich nie gekommen«, sagte mein Chef und wirkte nachdenklich wie selten. »Und ich verstehe noch immer nicht alles. Im Falle von Machi ist das aber völlig normal - er kann einfach nicht anders. Zeig mir doch bitte mal deine Stadtpläne.«

»Wenn Sie wollen, schenke ich sie Ihnen, Juffin. Auch wenn ich weiß, dass Sie nicht sentimental sind.«

»Behalte sie lieber. Womöglich brauchst du sie mal. Offenbar rechnet Machi irgendwann mit deinem Besuch. Auf jeden Fall solltest du dabei auf der Hut sein. Ein Weltenwechsel, wie du ihn erlebt hast, gehört zu den gefährlichsten Dingen, die du bisher in Echo durchgemacht hast.«

»Mir hat er aber gefallen«, antwortete ich verträumt. »Warum ist er eigentlich so gefährlich?«

»Weil all diese Dinge zu hastig auf dich einprasseln. Außerdem führst du immer wieder ganz naiv vor, was du alles kannst. Machi ist ein Schlauberger, aber er kann dir nicht immer helfen. Außerdem überlässt er die Menschen mitunter gern ihrem Schicksal - passiere, was da wolle. Weißt du, in allen Welten gibt es Jäger, die auf der Suche nach Leuten wie dir sind. Und im Vergleich mit ihnen ist einer wie Kiba Azach nur ein süßer Traum. Aber jetzt kann ich dich endlich loben. Du hast nicht nur meine, sondern auch deine Erwartungen übertroffen.«

»Kann sein«, meinte ich achselzuckend. »Aber im Moment ist mir alles egal. Wahrscheinlich bin ich einfach nur müde.«

»Stimmt, Max, du solltest dich erholen. Und wo könntest du das besser als hier? Jeden Abend ab acht.«

»Sie haben schon wieder Recht«, seufzte ich und lächelte ergeben. »Am besten fange ich schon heute damit an. Ich muss nur zu Hause ein paar Stündchen schlafen.«

»Nein, trink lieber etwas von deinem Lieblingsbalsam und bleib bis zum Abend hier. Außerdem übernachtest du heute sowieso bei mir, weil ich unbedingt verstehen muss, was dir in Kettari genau widerfahren ist. Während du schläfst, werde ich meine Neugier stillen.«

»Schön - machen wir's wie nach meiner Ankunft in Echo! Dann werde ich ja auch Chuf Wiedersehen.«

»Er wird dich von Kopf bis Fuß ablecken«, seufzte Juffin mitleidig. »Und jetzt schweig ein wenig und iss was. Derweil sehe ich mir die Stadtpläne von Kettari an.«

Nach einer guten halben Stunde meinte Juffin: »Jetzt ist mir klar, warum Machi mich nicht nach Kettari lässt. Ich weiß noch ganz gut, wie es damals dort aussah, und wenn die Erinnerungen zweier Zauberer einander widersprechen, droht die Welt sich aufzulösen.«

»Dann hat er mich ja die ganze Zeit an der Nase herumgeführt«, seufzte ich.

»Und wie! Du warst mit ganz anderen Dingen beschäftigt und hast sogar eine neue Stadt erschaffen. Zwar hat er dich verschaukelt, eigentlich aber hat er mich betrügen wollen. Nimm das alles nicht so schwer, denn Machi weiß selbst nicht, was Wahrheit ist und was nicht -das kannst du mir glauben. Er hat viele Versionen von Kettari erschaffen. Schade, dass du nicht alle Stadtpläne mitgebracht hast.«

Schuldbewusst zuckte ich die Achseln. »Tut mir leid. Haben Sie nicht Lust, mir etwas mehr über Machi Ainti zu erzählen? Ich begreife überhaupt nicht, was er für einer ist. Er hat mir mal erzählt, er sei schon sehr alt und wisse nicht genau, woher er stamme. Und das glaube ich ihm sogar. Heute Nacht hat er sich per Stummer Rede bei mir gemeldet, und das war sehr unangenehm - Ehrenwort! Und nach meinem ersten Treffen mit ihm sind mir all die merkwürdigen Dinge passiert, die ich Ihnen vorhin berichtet habe.«

»Leider kann ich dir da kaum weiterhelfen«, antwortete Juffin. »Ich habe viele Jahre mit Machi zusammengearbeitet, ohne ihn zu durchschauen. Vielleicht ist der Umgang mit seltsamen Wesen wie dir oder Machi mein Schicksal. Du wirst lachen, aber ihr beide passt gut zusammen. Vermutlich würdest du dich besser mit ihm verstehen, als mir das je gelungen ist. Welche Ziele hast du eigentlich? Ein ruhiges Leben? Ein Häuschen mit Garten, in dem du mit deinen Enkeln spielen kannst? Eine Frau zu lieben und mit ihr alt zu werden? Eine vom König ausgesetzte Rente für herausragende Verdienste zu kassieren? Ich kann dich beruhigen - all das bekommst du nicht. Aber alle anderen Freuden des Lebens erwarten dich.«

»Das reicht mir vollkommen. Sie können die Leute wirklich gut erschrecken, Juffin - das muss ich sagen.«

Kaum verließ ich das Arbeitszimmer, warfen sich mir alle Begrüßungswilligen an den Hals. Als Erster kam Melifaro, der offenbar seit dem Vorabend Schlange gestanden hatte, dann der schüchterne Sir Lukfi und schließlich Kofa Joch, der vor Rührung schnaufte. Sogar Lady Melamori gab die Distanz auf, mit der sie mich vor der Reise behandelt hatte - offenbar hatte Lady Marilyn uns wieder zusammengebracht. Aber ich rechnete ohnehin mit nichts anderem mehr als Freundschaft.

Ich freute mich sehr, meine Kollegen wiederzusehen, und sie waren genauso froh. Man mochte mich offenbar, und es ist doch was, fünf Menschen in einer Welt etwas zu bedeuten. Und hier konnte ich noch Lonely-Lokley mitzählen, der vermutlich gerade in seinem Bett schlief, und Lady Sotova, die sich immer über meinen Besuch gefreut hatte. Und womöglich noch ein paar andere, die eine Schwäche für mich hatten.

»Kinder!«, rief ich, als die im Fressfass bestellte Kamra vor uns stand. »Wisst ihr was? Ich bin glücklich!«

Am Abend war ich noch glücklicher, weil ich den Hund Chuf wiedersah. Er leckte mich tatsächlich von Kopf bis Fuß ab, und ich leistete keinen Widerstand. Dann schlief ich ein. Vielleicht, weil ich verzaubert war - vielleicht aber auch, weil ich seit mehr als achtundvierzig Stunden nicht geschlafen und mich nur mit Kachar-Balsam wachgehalten hatte.

Mitten in der Nacht erwachte ich, ohne zu verstehen, was los war. Als ich mich umsah, merkte ich, dass ich im Schlafzimmer von Sir Juffin auf dem Bett lag, während er an der Wand saß. Blinzelten seine Augen etwa in der Dunkelheit? Auf alle Fälle wurde mir bei seinem Anblick ganz kalt.

»Schlaf weiter, Max. Stör mich nicht«, sagte mein Chef trocken, und ich gehorchte.

Am nächsten Morgen war Juffin zwar müde, aber glücklich.

»Du kannst heimgehen, Max. Ich muss mich ein wenig erholen. Komm bitte nach dem Mittagessen ins Haus an der Brücke. Von mir aus kannst du dir bis zum späten Nachmittag damit Zeit lassen, aber ich verlasse mich darauf, dass du auftauchst ... Und denk bitte daran, dein Armband anzulegen, wenn du dich schlafen legst. Versprichst du mir das? Du solltest dir wirklich angewöhnen, es zu tragen.«

»Na, wenn Sie meinen ... Was haben Sie eigentlich von mir erfahren?«

»Vieles, das für dich ganz uninteressant ist. Und jetzt husch, husch nach Hause, mein Weltwunder. Lass mich alten Mann sich ein wenig erholen.«

Zu Hause stürzte sich Ella auf mich. Sie war noch dicker als vor meiner Abreise nach Kettari. Armstrong dagegen besaß eine andere Logik: Kaum sah er mich, sprang er zu seinem Napf. Und eigentlich hatte er damit Recht.

»Na, habt ihr mich vermisst?«, fragte ich fröhlich. »Ihr braucht mir nicht zu antworten. Ich weiß doch, dass ich euch nur störe - ich gehe herum, mache Krach und verbreite Unruhe. Na ja, aber jetzt essen wir.«

Als ich die Tiere gefüttert hatte, sah ich meine Reisetaschen durch. Ich glaube, niemand hat je aus einer anderen Welt so viele unnütze Dinge mitgebracht wie ich. Ich bekam Klamotten von Lady Marilyn in die Hände, aber auch all das, was ich in Kettari unter der Couch, dem Schaukelstuhl und anderenorts hervorgezogen hatte. Die kubanischen Zigarren wollte ich ins Haus an der Brücke mitnehmen - vielleicht fand dort jemand Gefallen daran. Meine elf Stadtpläne hängte ich ins Gästezimmer, obwohl Juffin mir mehrmals eingeschärft hatte, sie vor fremden Augen zu verstecken.

Schließlich zog ich ein kleines Päckchen aus der Reisetasche. Sündige Magister! Das hatte ich ja ganz vergessen: meine fantastische Überraschung für Sir Juffin -Gericht Nummer dreizehn aus dem Alten Haus, eine Delikatesse in Kettari, aber für mich nur ein stinkendes Stück Fett. Nicht so schlimm. Das konnte ich ihm auch am Abend noch geben.

Gegen Nachmittag ging ich ins Büro. Mein schwarzgoldener Todesmantel erschien mir wie das schönste Gewand. Ja, ich hatte meine Arbeit tatsächlich vermisst.

Entgegen seiner Ankündigung war Sir Juffin noch nicht da. Im Saal der Allgemeinen Arbeit thronte Lonely-Lokley. Er war ganz in Weiß gekleidet und hatte seine auffälligen Handschuhe an. Dieser Anblick entsprach meinen ästhetischen Erwartungen vollkommen, und ich strahlte.

»Lass uns zum Fressfass und zurück spazieren, Schürf. Oder willst du behaupten, du steckst bis zum Hals in Arbeit?«

»Aber nicht doch«, antwortete er. »Das Fressfass gehört zu den Orten, die ich sogar im Alten Haus vermisst habe.«

»Dort, wo die Männer von Kettari sich abends beim Kartenspiel die Zeit vertreiben? Das glaube ich nicht.«

»Richtig so, Max. Gehen wir, ehe ich es mir anders überlege«, meinte Schürf und rief ins Nachbarzimmer: »Sir Melifaro, nehmen Sie zur Kenntnis, dass ich das Büro verlasse.«

»Was ist eigentlich in den dunklen Ecken unserer Hauptstadt los, meine Herrschaften?« Mit diesen Worten erschien Melifaros neugieriges Gesicht auf der Türschwelle. »Wessen Blut wollt ihr jetzt schon wieder trinken?«

»Nichts ist los«, meinte Lonely-Lokley achselzuckend. »Leider muss ich feststellen, dass zahlreiche Dienstvorschriften Ihrer Anwesenheit im Fressfass zu dieser Uhrzeit im Wege stehen.« Dann wandte er sich an mich: »Komm, Max, lass uns gehen, solange die Situation sich noch nicht geändert hat.«

Melifaro fiel die Kinnlade runter. Die unbeschwerte Antwort des eisernen Lonely-Lokley - der letzten Bastion des Ernstes in unserer Abteilung - war für ihn eindeutig zu viel.

»Wo ist unser Loki-Lonky?«, fragte er. »Was hast du mit ihm auf eurer Dienstreise getrieben, Max? Hast du ihn verzaubert? Sag mir die Wahrheit.«

»Ich hab nichts Besonderes mit ihm angestellt, Melifaro. Ich hab ihn nur ein paar Mal beschimpft. Stimmt's, Schürf?«, fragte ich und zwinkerte Lonely-Lokley zu. »Vielleicht sollten wir das Gleiche mit unserem Kollegen hier machen?«

»Ach, Max, den Fall Melifaro muss man ganz anders lösen«, seufzte mein wunderbarer Freund träumerisch. »Aber wenn du ihn richtig beschimpfst, merkt er sich vielleicht endlich mal meinen Namen. Das wäre günstig für die Ruhe in der Stadt und die allgemeine Sicherheit.«

Hoch erhobenen Hauptes verließen wir - die zwei grausamsten Männer des Vereinigten Königreichs - das Gebäude: ich im schwarzen Todes- und Schürf im weißen Lochimantel. Das wird ein hübscher Anblick gewesen sein.

Als wir nach einer Stunde zurückkehrten, musste ich - um der Gerechtigkeit willen - auch mit Melifaro für eine Stunde ins Fressfass gehen.

»Sag mir bitte endlich, was du mit Loki-Lonky angestellt hast, Sir Nachtantlitz.«

Der arme Melifaro - einer der besten Detektive von Echo - konnte das Geheimnis von Schurfs Metamorphose nicht knacken. Er tat mir zwar leid, und ich hatte keine Geheimnisse vor ihm, anderer Leute Geheimnisse aber wollte ich nicht ausplaudern.

»Ich hab die reine Wahrheit gesagt, mein Freund. Schürf hat mich aufwecken wollen, und ich hab ihn im Halbschlaf nach Strich und Faden beschimpft. Hinterher hab ich mich zwar brennend geschämt, aber du siehst ja,

was dabei herausgekommen ist. Vielleicht haben meine Schimpfworte wie Zaubersprüche gewirkt.«

»Und was hast du ihm genau gesagt?«, fragte Melifaro, der noch nicht recht überzeugt war.

»Das weiß ich nicht mehr. Am besten fragst du ihn selbst. Er hat sich alles notiert und mich den ganzen Abend bis ins Detail nach der Bedeutung einzelner Worte gefragt.«

»Er hat sich alles aufgeschrieben!? Max, jetzt hast du mich wirklich beruhigt. Dann ist alles halb so schlimm. Nur der gute alte Schürf ist imstande, die Schimpfworte zu notieren, die er aufschnappt. Dadurch will er nur sein Wissen erweitern. Dann ist mit ihm ja noch alles in Ordnung.«

Als ich ins Haus an der Brücke zurückkam, erwartete mich Juffin in seinem Arbeitszimmer.

»Sie hatten mich doch gebeten, Ihnen ein Souvenir aus der Heimat mitzubringen«, begann ich schon auf der Türschwelle und zog ein Päckchen aus der Tasche meines Todesmantels. »Ich habe Ihnen das hier besorgt, weil es mich mehr als alles andere erschüttert hat. Wenn es Ihnen nicht gefällt, nehmen Sie mir das bitte nicht krumm.«

»Krumm? Warum sollte ich das tun, Max?«

Erstaunt sah ich, dass Juffin begeistert an dem Päckchen schnupperte, das eindeutig nach Tilsiter Käse roch. »Du kennst dich ja wunderbar mit den Delikatessen dort aus. Du kannst dir nicht vorstellen, welche Freude du mir damit bereitet hast.«

Eigentlich bin ich kein schlechter Mensch und spürte deshalb keine Enttäuschung. Wenn Juffin von dem Päckchen begeistert war, musste ich das eben hinnehmen.

»Ausgezeichnet«, sagte ich lächelnd. »Dann darf ich ja hoffen, mir die Gunst meines Chefs nicht verscherzt zu haben.«

»Wie man's nimmt. Hat Machi dir nicht gesagt, dass alle Hoffnung trügt?«

»Sie haben mich bei dieser Gelegenheit beobachtet, stimmt's? Ich habe das gespürt - Ehrenwort.«

»Red kein Blech, Max. Ich war hier und hatte Wichtigeres zu tun«, sagte Juffin, lächelte dabei aber gefährlich schief.

»Wenn Sie nächstes Mal meine atemberaubenden Abenteuer erleben wollen, vergessen Sie bitte nicht, mich im richtigen Moment ausgiebig zu loben. Das ist eine Kleinigkeit, aber es würde mich sehr freuen.« Bei diesen Worten machte ich genüsslich die berühmte Geste aus Kettari und tippte mir mit dem rechten Zeigefinger zweimal an die Nasenspitze. Die lange Übung ließ mich diese Bewegung fast automatisch vollführen.

»Mein Wunder!«, seufzte Juffin. »Du kannst mich manchmal wirklich rühren, aber jetzt solltest du vielleicht eine Tasse Kamra mit Lady Melamori trinken. Sie ist nicht schlimmer als die anderen. Kofa Joch wird dich sicher in der Nacht besuchen, und Sir Lukfi Penz meldet sich bei Sonnenaufgang bei dir, wenn er seinen Buriwuchen Gute Nacht gesagt hat. Gefällt dir dieser Dienstplan? Schaffst du das?«

»Das denk ich doch. Und Sie, Juffin - sind Sie schon fertig?«

»Fast. Ich gehe gleich nach Hause. Ihr könnt machen, was ihr wollt, aber ich muss mich erholen. Ich habe nur noch einen Termin im Cholomi-Gefängnis. Ein langjähriger Insasse wollte fliehen, und die Mithäftlinge kratzen nun seine Reste von der Wand. Ich muss dabei sein, weil einem meiner Vorgesetzten die Sache wichtig scheint. Na ja«, sagte Juffin leichthin und erhob sich aus seinem Sessel, in dem ich umgehend Platz nahm.

Der Rest des Abends lief genau nach Sir Juffins Plan. Ich schaffte es sogar, mit Lady Melamori eine Tasse Kamra zu trinken, worauf ich ehrlich gesagt nicht zu hoffen gewagt hatte. Und wir unterhielten uns wie gute alte Freunde.

So kehrte mein Leben langsam in seine gewohnten Bahnen zurück.

Die nächsten Tage verbrachte ich damit, herauszufinden, dass keiner meiner Kollegen kubanische Zigarren mochte. Nur Lady Melamori paffte ihren Stumpen zu Ende, aber einzig aus Pflichtgefühl - in ihrem Gesicht stand kein Vergnügen, sondern eingefleischter Eigensinn. Ich versteckte die Kiste in meiner Schublade. Mir blieb nur eine Hoffnung: Wenn General Bubuta Boch wieder gesund wäre, würde ich ihm eine anbieten. Eine Zigarre im Mundwinkel würde ihm sicher stehen. Zum Glück hatte ich - den Magistern sei dank! - keine anderen Probleme.

»Sehnst du dich noch nicht nach Wundern?«, fragte Juffin Halli mich am vierten Tag nach meiner Rückkehr in aller Unschuld.

»Nein«, antwortete ich entschieden und fragte dann neugierig: »Worum geht's denn?«

»Die Wunder jedenfalls sehnen sich nach dir«, meinte er lächelnd. »Ich wollte nur fragen, ob du mir nicht Gesellschaft leisten magst. Ich möchte Maba Kaloch besuchen.«

»Da fragen Sie noch?«

Diesmal empfing uns Sir Maba im Korridor seines Hauses.

»Ich glaube, heute können wir das Zimmer wechseln«, schlug er vor. »Oder haben die Herrschaften etwas dagegen?«

Wir irrten kurz über den Flur, und man hätte glauben können, Sir Maba wüsste nicht genau, wo die Tür zu dem anderen Gemach war. Schließlich landeten wir in einem kleinen Raum.

»Machi verwöhnt dich, Max«, verkündete unser Gastgeber und zog unter einem kleinen Tisch ein Tablett mit seltsamem Geschirr hervor. »Er hat dich fast bis an dein Lebensende mit diesen kleinen Räucherdingern versorgt, damit du sie dir nicht mehr mühsam unter dem Kopfkissen zusammenangeln musst.«

»Das ist eine wunderbare Methode, Geld zu sparen. Ich kaufe nichts ein, sondern schiebe einfach die Hand irgendwo drunter! Nicht nur Sie mögen Geld - auch ich bin geizig.«

»Das will ich hoffen«, seufzte Maba. »Juffin, stimmt das?«

»Absolut. Weißt du, was er manchmal findet, wenn er die Hand unter einen Stuhl oder ein Sofa schiebt? Ein seltsames kleines Würstchen zum Beispiel, das in einem Brötchen steckt. Ekelhaft sieht das aus, aber er isst es.«

»Mein Leben lang habe ich Hotdogs abgöttisch geliebt«, meinte ich. »Das zeigt, wie hungrig ich in meiner Jugend war, und so weiter. Aber Sie, Sir Juffin, sind auch nicht besser. Denken Sie nur an die Delikatesse, die ich Ihnen mitgebracht habe.«

»Wie ähnlich ihr euch seid, Jungs - es ist zum Verrücktwerden. Weißt du was, Max? Juffin befürchtet, du hast unser kleines Geheimnis geknackt. Ich glaube, du kannst jetzt etwas sauer auf uns sein.«

»Keinesfalls!-, rief ich entschieden. »Ich habe Besseres zu tun. Außerdem habe ich mich hier bereits an allen möglichen Schabernack gewöhnt.«

Sir Maba stand auf und ging zum Fenster. »Das werden wir ja sehen. Komm her.«

Ich trat zu ihm, und mir stockte der Atem. Ich blickte nicht mehr auf den Obstgarten hinaus, sondern in eine mir gut bekannte Gasse. Verwirrt sah ich eine Brücke und dann den kleinen Springbrunnen, dessen Wasser in allen Regenbogenfarben im Sonnenlicht schillerte.

»Ist das die Hohe Straße?«, fragte ich leise. »In Kettari?«

»Auf alle Fälle sind es nicht die Grenzgebiete der Grafschaft Wuk«, hörte ich Juffin hinter meinem Rücken belustigt sagen.

»Erzähl deinem Freund Machi Ainti davon aber bitte kein Wort«, sagte Sir Maba und zwinkerte mir zu. »Der alte Sheriff kann beruhigt sein: Juffin hat nicht vor, unser Miniatur-Kettari zu betreten.« Nach diesen Worten tippte Sir Maba sich zweimal mit dem rechten Zeigefinger an die Nasenspitze.

Zwei vernünftige Menschen können sich immer verständigen - das wenigstens ist wirklich wahr.


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