Der König von Bandscha

In meiner alten Heimat feiert man jetzt das neue Jahr. Hier in Echo schaut man eher zurück. Auf der Erde heißt es: »Alles Gute zum Neuen Jahr.« Hier sagen die Leute: »Schon wieder ein Jahr vergangen.«

Ein, zwei Dutzend Tage vor dem Jahreswechsel wird ihnen bewusst, dass das Leben endlich ist, und sie wollen nachholen, was sie die ganze Zeit aufgeschoben haben. Sie erfüllen Versprechen, die sie sich oder anderen gegeben haben, bezahlen Rechnungen, wie es sich gehört, und stürzen sich freiwillig in alle möglichen Unannehmlichkeiten, um sich das neue Jahr nicht mit den Resten des alten zu verderben. In Echo beginnt im neuen Jahr angeblich alles von vorn. Jedenfalls ist der letzte Tag des Jahres auf keinen Fall ein Feiertag - eher ein Anlass, alles Mögliche anzufangen und gleich wieder aufzugeben.

All diese Aufregungen blieben mir erspart. Sir Juffin Halli arbeitete an seinem Jahresbericht. Nachdem er zwei Tage daran gesessen hatte, schob er diese lästige Pflicht auf die breiten Schultern von Sir Schürf Lonely-Lokley. Ich musste nur die Rechnung im Gesättigten Skelett begleichen, was genau eine Viertelstunde dauerte. Auch anderswo zahlte ich immer bar. Nicht, dass ich unbedingt gegen den hiesigen Aberglauben verstoßen wollte - ich hoffte nur, die Berührung mit dem Metall würde meine Liebe tatsächlich abkühlen. Aber in meinem Fall klappte das einfach nicht.

Die übrigen Unannehmlichkeiten hingegen blieben mir erspart, und die dumme Angewohnheit, Versprechungen zu machen, betraf mich ohnehin nicht. Also musste ich nur den Rest meines Gehalts bei der Bezügestelle abholen, wo der Kassierer mit dem Geld so umging, als würde es ihm die Hände verätzen.

Danach musste ich die erschöpften Mienen meiner Kollegen ertragen, die neidisch ins Gesicht eines ausgeschlafenen Faulenzers schauten. In diesen Tagen war vor allem Sir Melifaro sehr beschäftigt. Er hörte sogar auf, Späßchen zu machen, und hatte zudem anscheinend etwas abgenommen.

»Über die Arbeit und die übrigen Unannehmlichkeiten schweige ich lieber! Doch ich habe viele Verwandte und Freunde und ein so gutes Herz, dass ich nicht im Stande bin, ihnen abzusagen. Dabei habe ich zu wenig Sorgenfreie Tage, um all meine Versprechungen zu erfüllen. Nur verwaiste Asketen wie du, mein Junge, sind glücklich und frei«, sagte Melifaro bitter zu mir. Es war schon nach Mitternacht, vier Tage vor Jahresende. Ich begann gerade planmäßig meine Nachtwache, und Melifaro, der seinen Dienst im Morgengrauen angetreten hatte, ordnete einen Stapel sich selbst beschriftender Tafeln. Auf ihnen waren mindestens drei Jahre alte Verhörprotokolle und Briefe einer unbekannten Lady Assi verzeichnet. Melifaro schwor bei der Gesundheit seiner Mutter und allen friedlichen Magistern, er habe keine Ahnung, wer das sei. Der Arme kam in mein Büro geschlichen, um in angenehmer Atmosphäre eine Tasse Kamra zu trinken. Zu Hause warteten achtzehn Verwandte aus den fernsten Ecken des Vereinigten Königreichs auf ihn, denn er hatte sie alle irgendwann leichtfertig eingeladen. Ich begriff, dass ich den armen Jungen retten musste.

»Melde dich per Stummer Rede bei ihnen und behaupte, dass ... na ja, dass zum Beispiel ein Attentat auf den Großen Magister Moni Mach vorbereitet wird und niemand außer dir dieses Verbrechen verhindern kann. Denk dir was aus. Und dann geh zu mir nach Hause und schlaf ein wenig. Ich hab zwar nur vier Badewannen und zwei Katzen, aber man sollte sich für das kleinere Übel entscheiden ...«

Melifaro unterbrach mich. »O Herrscher der endlosen Ebenen! Ab heute gehört mein Leben dir, weil du es gerettet hast! Max, du bist ein Genie. Jetzt erkenne ich den Wert der Männerfreundschaft.« Melifaro verwandelte sich aus einem Schatten seiner selbst in die vertraute Naturkatastrophe zurück und hüpfte sogar leicht auf seinem Stuhl.

»So ein Quatsch!«, meinte ich ungehalten. »Du kannst bei mir übernachten, solange du willst. Ich vertrete dich morgen, falls du dich noch nicht erholt hast.«

»Mich vertreten!? Verzeih, Max, aber das ist unmöglich. Obwohl ... na ja, eigentlich geht das doch ... was soll's? Jedenfalls vielen Dank.«

»Für dich tu ich doch alles. Ich bin ein Gewohnheitstier, und wenn ich dich in so einem Zustand sehe, rechne ich mit dem Weltuntergang. Mein Angebot gilt, bis deine Verwandten die Segel streichen.«

»Das ist übermorgen. Dann fahren sie auf unser Gut, um meine Eltern zu quälen, aber das ist zum Glück nicht mehr mein Problem ... Sündige Magister, Max, ich weine gleich vor Rührung.«

»Weinen wirst du morgen, wenn du baden willst. Vergiss nicht, dass ich nur vier kleine Wannen habe!«

»Willst du ein schreckliches Geheimnis erfahren, Max? Ich habe zwar neun Wannen, beende mein Bad aber normalerweise bereits in der zweiten. Ich bin ein furchtbares Ferkel. Na ja, wie auch immer - ich leg mich jetzt hin. Schlaf ist alles, was ich brauche.«

Ich blieb mit dem dösenden Kurusch zurück und war über meine Großzügigkeit selbst frappiert.

Nach einer Stunde musste ich den klugen Vogel allein lassen und zu einem Wirtshaus am Rande der Altstadt eilen. Es hatte den bizarren Namen Kukonins Grab. Von dort hatte Sir Kofa Joch mich per Stummer Rede um Hilfe gerufen.

Die Sache war kaum ernst zu nehmen und schien mir eher ein »Vorfestliches Feuerwerk« zu sein. Ein gewisser Herr Ploss - Stammgast im Giab - stand vor der unangenehmen Aufgabe, seine Schulden bezahlen zu müssen. Für das ganze Jahr natürlich. Und selbstverständlich hatte er kein Geld bei sich. Herr Ploss hätte nur den nächsten Tag abwarten müssen, um sein Gehalt zu bekommen und die Schulden abzubezahlen.

Wenn er dies dem Wirt sofort gesagt hätte, wäre alles in Ordnung gewesen, denn in Echo sind die Leute friedlich und verständnisvoll. Aber der Mann hatte viel getrunken, war übermütig geworden und wollte sparen. Vermutlich war es ihm unangenehm, vor seinen Nachbarn über das Stunden seiner Schulden zu sprechen.

Herr Ploss hatte sich für einen riskanten Zaubertrick entschieden, der Magie zwölften Grades erforderte, also verboten war. Er hatte den armen Wirt zu denken gezwungen, all seine Rechnungen seien bereits beglichen. Der betrogene Wirt hatte sogar begonnen, sich für seine Zerstreutheit zu entschuldigen, und sie mit der Arbeitsüberlastung am Jahresende erklärt. Großzügig hatte der Gauner ihm verziehen.

Dieser Streich hätte in der besonderen Atmosphäre am Jahresende glücken können, hätte nicht ein böser Wind Sir Kofa Joch in Kukonins Grab geweht. Unser Meister des Verhörs hat das seltsame Talent, dort aufzutauchen, wo er den Menschen das Leben am wirksamsten verderben kann. Der Magieanzeiger in seiner kleinen Tabakdose meldete ihm gleich, dass jemand verbotene Magie angewendet hatte. Den Zauber zu finden, war nur noch eine Frage der Technik.

Als der unglückliche Herr Ploss begriffen hatte, dass sein harmloses Spielchen und seine Sparwut ihn vierzig Jahre im Cholomi-Gefängnis kosten konnten, dachte er, er habe ohnehin nichts mehr zu verlieren. Schnell kippte er noch ein Glas Dschubatinischen Säufer und beschloss, bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen und keinesfalls aufzugeben. Bis heute frage ich mich, ob Tapferkeit oder Dummheit sein Verhalten bestimmte. Jedenfalls verschwand er in der Toilette und erpresste die Anwesenden von dort aus mit der Behauptung, er kenne sich gut genug in esoterischen Dingen aus, um sie alle in Schweine verwandeln zu können und für schweres Geld an ein benachbartes Wirtshaus zu verkaufen.

Die Anwesenden glaubten ihm, und der Wirt begann, Sir Kofa anzuflehen, seine Familie nicht vor Jahresende zugrunde zu richten. Daraufhin und nach zahlreichen Bitten der Gäste hatte Sir Kofa Joch sich per Stummer Rede bei mir gemeldet. Unser Meister des Verhörs konnte mit mindestens einem Dutzend solcher Zauberamateure wie Ploss fertig werden, nicht aber mit einer flehenden Menge.

Ich hüllte mich in meinen schwarzgoldenen Todesmantel, schnitt eine dazu passende furchtbare Grimasse und machte mich auf den Weg in das unheilschwangere Lokal. Die Glöckchen an meinen Schuhen läuteten ein mir aus der Heimat bekanntes Lied, und wider Willen musste ich lächeln und mit den Augen zwinkern. Ich war nicht der Tod im königlichen Dienst, sondern eher ein Opfer der vorfestlichen Stimmung. Aber der Wirt von Kukonins Grab seufzte sichtbar erleichtert. Seine Mitarbeiter sahen mich an, wie halbwüchsige Jungen Arnold Schwarzenegger anschauen mögen. Was ein guter Ruf alles bewirken kann!

Ich blieb auf der Treppe zur Toilette stehen und meldete mich per Stummer Rede bei dem unglücklichen Verbrecher: »Ich bin's, mein Junge - Sir Max. Komm lieber freiwillig raus, ehe ich anfange, mich zu ärgern. Provozier den Tod lieber nicht. In Cholomi wirst du fantastisch bekocht.«

Es funktionierte. Zu meinem Erstaunen kam Herr Ploss aus seinem Versteck. Er war so erschrocken, dass Sir Kofa und ich ihn beruhigen mussten. Danach ruinierte ich mich sogar noch, indem ich ihm ein Glas Dschubatinischen Säufer spendierte. Es mag seltsam klingen, doch er hat mir viel Vergnügen bereitet. Ich glaube, der Wirt von Kukonins Grab bewahrt noch immer die Münze auf, die ich ihm damals gegeben habe, und ist überzeugt, sie sei sein stärkstes Amulett.

Schließlich trafen die von Sir Kofa Joch gerufenen Beamten des Cholomi-Gefängnisses ein. Wir übergaben ihnen unsere Beute, die sich inzwischen in hoffnungslosem Dämmerzustand befand. Zum ersten Mal sah ich, wie jemand verhaftet wurde. Auch das verschaffte mir wieder neue Eindrücke.

Einer der Ankömmlinge - der Vollzugsmeister vom Dienst - hielt dem Verhafteten einen kleinen, aber deutlich sichtbaren Stab über den Kopf. Ich fürchtete schon, er werde den Armen umbringen, doch es kam anders. Vor meinen Augen ereignete sich Magie, keine platte Urteilsvollstreckung. Der Stab berührte den Kopf des Verbrechers, und kurzzeitig erschien in der Luft eine flammende 21. Diesen Grad an Magie hatte auch schon Sir Kofa Joch ermittelt.

Im Licht der Flamme schwebte ein schwerer Band des Chrember-Gesetzbuchs mit schneeweißem Schutzumschlag. Kaum waren Kofa und ich sowie der Wirt und drei Küchenhilfen vor dieser Bibel des Vereinigten Königreichs auf die Knie gefallen, erblickten wir ein überdimensioniertes Feuerwerk. Normalerweise reicht dafür ein einziger Zuschauer, doch wenn es mehrere gibt, neigen die Mitarbeiter der Abteilung Schnelle Vollstreckung zur Übertreibung. Viele Zuschauer gelten dem Chef als Zeichen für den Diensteifer seiner Vollstrecker. Ein üblicher Reflex im Beamtenmilieu.

Der arme Ploss, der nach der ganzen Prozedur sichtbar verwirrt war, wurde abgeführt. Ich freute mich sehr, Sir Kofa wiederzusehen, und hätte diesen Augenblick gern verlängert, aber ...

»Am Jahresende gibt es immer viel zu tun, Sir Max«, antwortete unser Meister des Verhörs auf meinen leichthin geäußerten Vorschlag, zusammen ins Haus an der Brücke zu gehen und dort bei einer Tasse Kamra ausgiebig zu plaudern. »Irgendwas sagt mir: -Geh in die Trunkene Flasche, Kofa«, und so einer Stimme darf ich mich nicht widersetzen.«

»Alles klar, Sir Kofa, gehen Sie ruhig. Was kann ich schon gegen Ihre innere Stimme ausrichten? Aber vielen Dank, dass Sie mich - den Alptraum - nicht vergessen haben. Warum lachen Sie? Ich spreche nur von dem Eindruck, den ich bei meiner Ankunft erweckt habe.«

»Was reden Sie denn da, Max! Das war hübsch gruselig. Wie in den guten alten Zeiten. Vor Freude wäre ich beinahe in Tränen ausgebrochen.«

Ich kehrte ins Haus an der Brücke zurück.

Nach einer Stunde meldete sich Kofa Joch bei mir: »Sir Max, ich hatte Recht. Es wurde schon wieder Magie eingesetzt, diesmal siebten Grades. Eine Lady hat versucht, eine Ein-Kronen-Münze als Ein-Dutzend-Kronen-Münze auszugeben. Auch sie wollte also die Bilanz des fast vergangenen Jahres frisieren. Ich gehe mich jetzt ein bisschen im Buckligen Itulo vergnügen. Mein Herz spürt, dass es dort womöglich hoch hergeht.«

Ich staunte.

»Das ist doch der vornehmste Schuppen von Echo. Da gehen doch nur die anständigsten Vielfraße hin, die nicht mehr wissen, wo sie ihr Geld sonst lassen können. Meinen Sie, die beschäftigen sich auch mit krummen Sachen?«

»Jahreswechsel ist Jahreswechsel, Sir Max. Halten Sie sich auf alle Fälle bereit. Ende.«

Alle Geheimagenten hatten das dumme »Ende« übernommen und die Stumme Rede dadurch in ein Pseudo-Walkie-Talkie-Gespräch verwandelt.

An diesem Abend brauchte Sir Kofa meine Hilfe nicht mehr. Das bedeutete allerdings nicht, dass die Bewohner von Echo zur Vernunft gekommen waren. Sie trieben bloß bei ihrer Verhaftung keinen Unfug mehr und konnten daher hoffen, dass die ganze Sache straflos und mit einer strengen Verwarnung enden würde.

Juffin erschien schon vor Tagesanbruch und nur auf einen Sprung im Büro. Er trank nicht mal eine Tasse Kamra, und das war so ungewöhnlich wie ein Weltuntergang. Er nahm viele Pakete aus der Schublade, raunte mir zu, er drehe bald durch, und verschwand mit einer Geschwindigkeit, von der nicht mal Melifaro in seinen besten Tagen hätte träumen können.

Dann erschien Lady Melamori und beklagte sich schon auf der Türschwelle über ihr Leben.

»Max, Sie können sich nicht vorstellen ...«, begann sie und stockte. Die Arme hatte weiter ein Problem damit, ob sie mich duzen oder siezen sollte. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schlimm es ist, eine große Familie zu haben.«

»Natürlich kann ich das«, seufzte ich. »Im Moment döst bei mir ein unglückliches Opfer familiärer Verstrickungen. Viele seiner Verwandten glauben nämlich, er rettet gerade das Vereinigte Königreich.«

»Du meinst Melifaro? Dieser Glückspilz! Bei mir sieht es schlimmer aus. Meine Familie hat Macht genug, mich vom Dienst zu befreien, wenn meine Abwesenheit bei Familientreffen unangenehm auffällt. In so einem Fall kann mir niemand helfen. Nur gut, dass das Jahr bald zu Ende geht.«

»Nimm dir eine Tasse Kamra«, schlug ich vor. »Und bleib ein halbes Stündchen bei mir. Das wird zwar nicht das spannendste Abenteuer deines Lebens, aber du kannst dich immerhin erholen. Und vielleicht hast du ja noch Energie genug, dich zu kämmen.«

Melamori musterte ihr verzerrtes Spiegelbild auf der Außenwand ihrer Tasse.

«Wie peinlich! Du hast Recht, Max. Eine halbe Stunde normales Leben wird mir nicht schaden.« Sie zog den kleinen lila Turban ab und begann, ihre zerzausten Haare zu kämmen. »Das dauert nicht mehr lange. In ein paar Tagen ist alles vorbei.«

»Ich schlage vor, deine Stimmung durch einen Spaziergang zu bessern.« Ich hatte beschlossen, etwas Aufdringlichkeit könnte nicht schaden. »Belebte Plätze, beleuchtete Straßen und keine Gefahr.«

»Das muss nicht sein«, sagte Melamori und lächelte unerwartet. »Ich meine, die belebten Plätze müssen nicht sein. Wer könnte mich schon vor Sir Max retten, vor dem ganz Echo zittert? Doch nicht die Mitarbeiter von General Bubuta Boch? Aber ich finde es eine Unsitte, am Jahresende Versprechungen zu machen. Darum tu ich das nicht. Doch das neue Jahr kommt bestimmt.«

»Alles klar. Nächstes Jahr werde auch ich den verschiedensten Leuten möglichst viel versprechen. Dann werde ich mich zum Jahresende nicht mehr wie der Insasse einer Irrenanstalt fühlen, sondern wie alle anderen sein.«

»Vielen Dank für die Kamra, Max. Jetzt muss ich gehen. Meine Eltern haben ein gutes Wort eingelegt, damit ich drei Sorgenfreie Tage bekomme. Sorgenfrei sollen sie sein, aber trotzdem alltäglich. Und wenn sie erfahren, dass ich hierhergekommen bin, nur um Ihnen ... also dir Guten Tag zu sagen, statt meinen Sohnespflichten zu genügen ...«

»Tochterpflichten«, korrigierte ich sie.

»Was? Nein, nein, ich meine tatsächlich Sohnespflichten. Mein Vater Korwa Blinn hat sich unbedingt einen Sohn gewünscht und ist bis heute davon überzeugt, dass ich nur aus Dickköpfigkeit ein Mädchen geworden bin. Irgendwann werde ich in deine wilden Länder fliehen - das schwöre ich dir.«

Lady Melamori zog eine finstere Miene, machte eine wegwerfende Geste und verließ mein Büro und das Haus an der Brücke.

Ich gähnte - mehr aus Zerstreutheit als vor Müdigkeit. Anscheinend wurde die Welt langsam zur Hölle.

Nicht mal der unerschütterliche Sir Lonely-Lokley verweigerte sich einer Tasse Kamra. Zwar war die Arbeit am Jahresbericht, die ihm Juffin aufgeladen hatte, für Schürf eine reine Freude, weil sie seinem bürokratischen Naturell entsprach, doch auch bei ihm zu Hause warteten eine Menge Probleme, die sich im Lauf der Zeit angesammelt hatten. Und jeder Mensch muss schlafen - selbst Lonely-Lokley! Deshalb sah er alles andere als blendend aus. Zum ersten Mal bemerkte ich auf seinem leidenschaftslosen Gesicht einen menschlichen Ausdruck, der zeigte, dass auch er ziemlich angegriffen war.

Pedantisch trank er meine Kamra Tasse für Tasse aus und begann dann mit dem letzten Teil des Jahresberichts.

Ich war allerdings nicht der einzige normale Mensch in diesem Chaos. Das Leben von Sir Lukfi Penz zum Beispiel, unserem Obersten Wissenshüter, wies keine besonderen Veränderungen auf. Kurz vor Mittag erschien er bei mir, um zu plaudern. Na, wenn der für so was Zeit hat, muss mit ihm wohl alles in Ordnung sein, dachte ich.

••Offenbar sind Sie weder mit Versprechungen noch mit Schulden oder einer Familie belastet«, sagte ich und blickte vergnügt in sein lebensfrohes, jungenhaftes Gesicht.

»Wie kommen Sie denn darauf?«, fragte Lukfi frappiert.

»Weil Sie der Einzige sind, in dessen Miene der Jahreswechsel keine Ermüdungsspuren hinterlassen hat.«

»Wieso? Geht das Jahr denn schon zu Ende?«

»In drei Tagen«, bestätigte ich.

»Sündige Magister! Das hab ich ja total vergessen! Ich muss rasch mit Warischa reden. Vielleicht soll ich noch etwas tun. Vielen Dank, dass Sie mich daran erinnert haben, Sir Max.«

Lukfi sprang Hals über Kopf aus dem Arbeitszimmer und kippte dabei Tasse und Stuhl um. Die Kamra kroch über den grünen Teppich und schuf dabei ein merkwürdiges Muster. Ich konnte nur die Achseln zucken und einen Diener rufen.

Nach dem Mittagessen wurde ich müde und ärgerte mich langsam darüber, wie lange Melifaro sich bei mir ausschlief. Natürlich liebe ich es, Menschenleben zu retten, aber ab und zu brauche auch ich eine Pause.

Melifaro tauchte auf, ehe ich meinen gewaltigen Vorrat an Schimpfworten erschöpft hatte, und sah so gesund aus, dass ich mich wie ein Heiliger fühlte. Das war doch angenehmer, als die Bewohner von Echo mit dem Todesmantel zu verängstigen.

»Gelobt sei das Nachtantlitz, das so süße Träume schenkt!«, rief Melifaro schon auf der Türschwelle.

Er hätte seine Tirade ins Unendliche verlängern können - es wäre mir gleich gewesen.

»Ich geh mir jetzt selbst süße Träume spendieren. Und wehe, mich stört jemand dabei! Dann spucke ich - das sollen alle wissen!«, rief ich laut und stieg in mein A-Mobil. Ein zehnminütiger Spaziergang erschien mir in meinem Zustand keine besonders gute Idee. Ich war so bettschwer, dass ich mich schon im Auto auszuziehen begann. Aber wen hätte das am Jahresende noch in Erstaunen versetzen können.

Die nächsten Tage verliefen ähnlich, und die allgemeine Unruhe wuchs immer mehr. Am Morgen vor Neujahr aber merkte ich, dass sie nachließ.

Sir Juffin Halli erschien zur gewohnten Zeit, setzte sich hin und schwieg ungewöhnlich lange.

»Hast du noch immer nicht gelernt, Kamra zu kochen?«, fragte er mich plötzlich.

»Dazu habe ich einfach kein Talent. Erinnern Sie sich noch an meine ersten Versuche? Das Ergebnis war so furchtbar, dass ich mich entschieden habe, es nicht weiter zu probieren.«

»Aber jetzt bring ich es dir bei! Es bereitet mir nämlich ein schlechtes Gewissen, jemanden in eine fremde, unbekannte Welt gelockt und ihm ein neues Leben verschafft zu haben, ohne ihm die wichtigsten Dinge beizubringen.«

Ich war so erstaunt über sein Angebot, dass ich das Risiko einging, Ja zu sagen. Also zauberten wir über einer winzigen Kochplatte auf Sir Juffins großem Herd. Unser Erzeugnis schmeckte einigermaßen, konnte sich aber natürlich nicht mit den Köstlichkeiten aus dem Fressfass messen. Nach dieser Kostprobe bekam ich Lust, es allein zu wiederholen.

»Zum Teufel, Max«, brummte Juffin, als er mein Werk probierte. »Du wirst es nie lernen. Du bist ein hoffnungsloser Fall.«

»Ich bin ein Zugereister«, meldete ich trotzig. »Ein Barbar, ein Wilder, ein Flegel. Ich verdiene Mitleid, keine Kritik. Wenn Sie mir gleich gesagt hätten, dass Sie einen Koch brauchen, hätte ich sofort erklärt, dass Sie sich den Falschen ausgesucht haben.«

»Unwissenheit ist keine Sünde«, sagte Juffin seufzend. »Aber ich begreife trotzdem nicht, warum es bei dir nicht klappt. Du hast mit leichter Hand viel schwierigere Probleme gelöst.«

»Zu allem braucht man Talent«, antwortete ich entschieden. »Und fürs Kochen hab ich offenbar keins. Ihr Glück, Juffin, dass Sie mein Rührei nie probieren mussten. Von anderen Speisen ganz zu schweigen. Butterbrote sind das Äußerste, was mir gelingt.«

»Das ist ja furchtbar! Na gut, gehen wir ins Fressfass. Sollte inzwischen jemand kommen, wird Kurusch das schon erledigen. Stimmt's, mein kluger Vogel?«, fragte Juffin und streichelte die weichen Federn des Buriwuchs.

Kurusch schien sehr zufrieden.

Natürlich blieben wir länger im Fressfass. Nach zwei Tassen Kamra nahmen wir ein langes, sättigendes Frühstück zu uns, das mich davon überzeugte, der vorfestliche Alptraum gehöre der Vergangenheit an.

»Glaub nicht, dass du gleich nach Hause gehen kannst, Max«, ermahnte mich Juffin. »Mittags findet das feierliche Verteilen der Geschenke des Königs statt. Soviel ich weiß, ist auch für dich eine Kleinigkeit vorgesehen.«

»Kann mir Sir Kumba Kurmak mein Geschenk nicht vorab geben?«

»Wie kommst du denn darauf? Natürlich nicht!«

»Ich hab zwar nichts gegen ein Geschenk, aber ich habe zwei Tage lang Melifaros Schlaf gerettet, und das Einzige, wovon ich jetzt träume, ist mein Bett.«

»Das wirst du schon noch aushalten. Nicht schmollen, Max. Ich habe für dich etwas richtig Hübsches arrangiert. Und jetzt trink noch was.«

Juffin stellte mir eine große, bauchige Keramikflasche hin, die auf einen üppigen Inhalt schließen ließ.

»Das ist doch ...«

»Leise, leise - ja, das ist es«, flüsterte Juffin, und sein Lächeln zeigte, dass ich ein wenig Kachar-Balsam bekommen würde - das süßeste Erzeugnis der Verbotenen Magie und das einzige Mittel, mein Wohlbefinden in jeder Lage zurückkehren zu lassen. In meiner damaligen Verfassung kam es wie gerufen.

»Da klopft mir doch jemand auf den Rücken«, meinte ich plötzlich. »Ist vielleicht Sir Kofa in der Nähe?«

»Wer sonst?«, murmelte ein älterer Herr mit langer Nase, der sich gerade am Nachbartisch niederließ.

Na bitte - Sir Kofa Joch höchstpersönlich, wie immer, aber in fremder Gestalt, die konspirativen Zwecken diente.

»Gerade wollte ich Sie verhaften, meine Herrschaften. Aber eventuell nehme ich auch Bakschisch von Ihnen, Max. Denn anders als Sie habe ich in den letzten vierzig Stunden kein Auge zugetan. Na ja, so gut wie kein Auge ... Zu den sündigen Magistern mit den letzten Tagen des Jahres!«

Mit Feuereifer öffnete ich die Flasche.

»Ihr seid ja außer Rand und Band, Kinder«, meinte Juffin lächelnd. »Magie achten Grades an einem öffentlich zugänglichen Ort? Das ist Amtsmissbrauch!«

»Na schön, Juffin. Wenn Sie wollen, zeigen Max und ich uns an ... und Sie natürlich auch. Dann werden wir ja sehen, wie Sie damit umgehen.«

Schon lange hatte ich Sir Kofa Joch nicht mehr so ausgelassen erlebt. Er wirkte so verjüngt, als wäre er noch nicht mal geboren.

Am Mittag landeten wir in der Kanzlei für Auszeichnungen und Stipendien, wo sich schon andere Preiswürdige versammelt hatten. Noch nie hab ich so viele Geheimagenten auf einem Haufen gesehen, dachte ich und konnte mir ein Lächeln kaum verkneifen. Glücklicherweise wollte es die Ironie des Schicksals, dass ich gegen das Zeremoniell verstoßen durfte, da ich den Todesmantel trug. Auch im Haus an der Brücke konnte ich mir vieles herausnehmen, und weder die zitternden Mitarbeiter von General Bubuta Boch noch ihr Chef, der unter seiner Wichtigkeit schnaufte, durften mir etwas befehlen.

Heute aber wirkte Bubuta geistesabwesend. Mir fiel auf, seine langen und lauten Monologe seit Tagen nicht gehört zu haben. Auch ihn nahm sicher die schweifende Unruhe des Jahreswechsels in Beschlag.

Schließlich gab mir der dicke und sympathische Sir Kumba vorab die Königliche Schatulle, und ich konnte nach Hause gehen. Meine Portion Kachar-Balsam im Fressfass war - da man solche Köstlichkeiten für bessere Anlässe aufbewahren sollte - rein symbolisch gewesen und hatte darum längst aufgehört zu wirken. Daheim warteten meine Katzen auf mich, die die Bekanntschaft mit Melifaro gewiss erschüttert hatte. Meine Tiere verdienten jetzt Zuwendung und Trost.

»Max«, erreichte mich Juffins Stimme auf der Türschwelle. Ich drehte mich um.

»Was gibt's denn noch?«

»Du hast noch ein Versprechen zu erfüllen. Es ist besser, so was bis zum Jahresende zu erledigen.«

»Was für ein Versprechen denn?«

»Als du letztes Mal bei mir zu Besuch warst, hast du dem Hund Chuf versprochen, ihn bald zu besuchen.«

»Ist das eine Einladung?«

»Eine Vorladung ist das. Und wenn du meiner Gegenwart noch nicht überdrüssig sein solltest, nimm zur Kenntnis, dass ich bei Sonnenuntergang nach Hause komme und keine Minute später. Ich glaube nicht, dass heute irgendwer im Büro bleiben muss. Bis Mitternacht jedenfalls schafft Kurusch sicher alles allein.«

»Vielen Dank. Natürlich besuche ich Sie gern und esse alles, was auf den Tisch kommt. Danach lande ich bestimmt auf dem Friedhof.«

»Daran zweifle ich nicht. Na gut, geh dich ein wenig erholen.«

Armstrong und Ella begrüßten mich mit unzufriedenem Miauen. In den letzten Tagen hatten sie ihr Frühstück später bekommen als sonst, was an Melifaros Anwesenheit lag, und die Katzen mochten diese Veränderung gar nicht.

»Meine Wollknäuel«, flüsterte ich den beiden sanft zu, während ich ihre Fressnäpfe füllte. »Das alles ist für euch. Jetzt beginnt wieder das normale Leben.«

Meine Neugier war stärker als meine Müdigkeit. Also öffnete ich vor dem Einschlafen die Schatulle des Königs. Vor nicht allzu langer Zeit war es noch schwierig für mich gewesen, eine ähnliche Schachtel zu öffnen, doch jetzt ging es beinahe automatisch. Ich hatte also schon Magie vierten Grades erlernt ... und noch weit mehr.

Diesmal bekam ich etwas sehr Hübsches: eine nicht besonders große Medaille aus weißem Stahl. Dieses Metall hat in Echo, das nicht gerade reich an Bodenschätzen ist, großen Wert. Auf der Medaille war ein dickes, wildes, allem Anschein nach sympathisches Tier dargestellt. Nachdem ich mir das Ganze näher angeschaut hatte, begriff ich, dass der unbekannte Künstler meinen Armstrong oder meine Ella - der Unterschied war schließlich nicht allzu groß - nach seiner Vorstellung abzubilden versucht hatte.

Drei Stunden Schlaf reichten dicke. Ein Tropfen Kachar-Balsam wirkte offenbar wahre Wunder. Aus Spaß an der Freud machte ich alsdann im ganzen Haus Ordnung, pflegte die Katzen und nahm mich sogar meines unrasierten Gesichts an. Dann setzte ich mich ins Gästezimmer und stopfte meine Pfeife mit dem hiesigen Tabak, an dessen Geschmack ich mich allerdings noch immer nicht gewöhnt hatte. Doch mit der Pfeife in der Hand dazusitzen, ist für mich Inbegriff häuslicher Entspannung.

Kurz vor Sonnenuntergang stieg ich in mein A-Mobil und fuhr auf die andere Seite des Churon, also auf das vornehme, gepflegte und Respekt heischende Linke Flussufer der Stadt. Die Straßen waren überwiegend menschenleer, und die Wirte standen traurig nickend im Eingang ihrer Kneipen und hatten die Hoffnung auf Gäste schon beinahe aufgegeben. Auf den Mosaikgehsteigen spazierten Vögel. Die Bewohner von Echo erholten sich still von den Sorgen des vergangenen Jahres und feierten keine Partys. Es gab nur einen ausgiebigen Schlaf, auf den die Hauptstadt so lange gewartet hatte.

Juffin öffnete mir selbst die Tür, weil sein Haushofmeister gleich nach dem Decken des Abendbrottischs freibekommen hatte. Unser Treffen schien dem ermüdeten Kimpa der Gipfel der Exzentrik.

Zuerst nahm ich einen vor Sorge zitternden Chuf in die Arme. Der Hund leckte mir die Nase und drückte mir dann die Schnauze ins Ohr. Ich bevorzuge andere Waschmethoden, entschied mich aber, es zu dulden.

»Ich hab keine Geschenke«, rief ich, nachdem ich mich in einen bequemen Sessel hatte fallen lassen. »Sie wissen doch, wie geizig ich bin. Außer für dich, mein Kleiner. Für dich hat sich doch noch was gefunden.«

Ich öffnete ein winziges Päckchen, in dem sich das Lieblingsgebäck von Chuf und mir befand, das ich im Buckligen Itulo gekauft hatte. Es war enorm lecker und sündhaft teuer. Sir Juffin behauptete, diese Leckerei sei ohne verbotene Magie gar nicht herstellbar. Dennoch war der Bäcker unverdächtig. Seine Backstube wurde alle zwölf Tage kontrolliert - stets erfolglos. Was ein kulinarisches Talent auch ohne Magie nicht alles zaubern kann! Aber das vollständige Fehlen dieser Gabe hatte Juffin bei mir ja erst kürzlich festgestellt.

»Max gut«, meldete sich Chuf bei mir. Für einen Hund beherrschte er die Stumme Rede weit besser als ich.

»Hast du für dieses Gebäck deine ganzen Ersparnisse verbraten?«, fragte Juffin interessiert.

»Die Hälfte. Die andere Hälfte hab ich - um mich Ihres Ausdrucks zu bedienen - für das hier verbraten«, antwortete ich und schnippte wie ein zünftiger Zauberer mit den Fingern. Gleich stand eine kleine dicke Flasche aus dunklem Glas auf dem Tisch.

»Wenn's um Geld geht, lügst du immer. So was gibt es nicht zu kaufen«, sagte Juffin und seufzte träumerisch. »Hat Lady Melamori dir das spendiert? Ich vermute schon lange, dass sie etwas für dich übrighat. Welch kluges, strategisch durchdachtes Vorgehen! Du bist ein Genie, Max. Sich bei ihr einzuschmeicheln, ist die beste Methode, an die Weinvorräte des Ordens des Siebenzackigen Blattes zu kommen. Sehr praktisch. Ich bin beeindruckt.«

»Sie denken also, sie hat mir - wie einem guten Freund -ein Geschenk von ihrem Großvater mitgebracht? Da täuschen Sie sich aber. Ich hab mit ihr gestritten und eine Wette gewonnen.«

»Gestritten?«

»Natürlich. Die Lady ist außerordentlich hitzig. Das wissen Sie doch selbst, oder?«

»Dieser Eigenschaft hab ich nie viel Aufmerksamkeit geschenkt. Und worüber habt ihr euch gestritten?«

»Ich habe ihr gesagt, ich würde mich eine Viertelstunde mit General Bubuta unterhalten, ohne dass er auch nur ein Schimpfwort benutzt. Die Lady hat nicht geglaubt, dass das möglich wäre. Daraufhin bin ich zu Bubuta Boch gegangen und hab die neuesten Zeitungsmeldungen mit ihm besprochen, und er hat mir zugehört und zugenickt, mich dabei innerlich aber bestimmt tausendmal verflucht ... Ich hab bloß ausgenutzt, dass Melamori einige Tage nicht im Haus an der Brücke war und von ein paar Veränderungen im Verhältnis zwischen mir und Bubuta noch nichts wusste.«

»Dafür weiß ich darüber Bescheid. Er soll inzwischen einen nervösen Tick bekommen haben: Wenn er seine Mitarbeiter beschimpfen will, vergewissert er sich erst, dass du nicht in der Nähe bist ... Sündige Magister, Max - wer hätte gedacht, dass du mich so glücklich machen würdest!«

»Das hätten Sie auch einfacher haben und statt meiner einen Vampir nehmen können.«

»Aber die Erfahrung zeigt, dass du viel schlimmer bist. Also - hast du die Wette gewonnen?«

»Wie Sie sehen«, sagte ich und wies mit dem Kopf auf die Flasche. »Da drin ist Dunkles Wesen - eine der besten Weinsorten, wie Melamori behauptet. Und sie sagt, für so eine Gelegenheit sei er zu schade.«

»Das Mädchen hat absolut Recht. Du frappierst mich wirklich, Max - so einen Wein trinkt man doch heimlich im stillen Kämmerlein, damit kein böser Wind den besten Freund plötzlich an der Tür läuten lässt.«

»Ich möchte mich damit nur bei Ihnen einschmeicheln. Wie ich vermute, befinden sich in Ihrem Keller nicht nur ein paar Regale voller Dörrfleisch rebellischer Magister, sondern auch ein paar Kisten Kachar-Balsam.«

»Und das hältst du für kostbar? So einen Quatsch kann ich mir allein zaubern. Im Interesse der Krone darf ich das Chrember-Gesetzbuch missachten. Der Große Magister Nuflin Moni Mach sagt das auch.«

»Umso besser. Ich teile Ihre Ansichten und die des Großen Magisters vollauf. Schade nur, dass ich nie lernen werde, mir Kamra zu zaubern.«

»Da hast du Recht. Kamra kochen wirst du nie, wirklieh nie lernen, du Ärmster«, sagte Juffin Halli und schaute mich mit geheucheltem Mitgefühl an.

»Irgendeine Schwäche muss ich ja haben«, sagte ich, um meinen strengen Lehrer zu trösten. Dann schob ich ihm das Dunkle Wesen zu.

Auf dem Weg zu meiner Dienststelle fühlte ich mich ungemein bettschwer. Ich brauchte dringend Bewegung.

Ich hatte die optimistischen Prognosen von Sir Juffin, der mir die ruhigste Nacht des Jahres vorausgesagt hatte, ignoriert, und tatsächlich bekam ich gleich zu tun. Im Saal der allgemeinen Arbeit döste eine bezaubernde Lady mittleren Alters im Sessel der Trostlosen vor sich hin. Sie trug einen teuren Lochimantel, unter dem eine einfache leinene Hausskaba hervorsah. Die Dame befand sich in einem Trunkenheitszustand, bei dem das Lallen schon abklang, das Reden aber noch nicht wieder begonnen hatte. Deshalb wartete ich nicht, bis es ihr besser ging, sondern reichte ihr intuitiv eine Tasse kalte Kamra, die ich gekocht hatte. Das bittere Getränk sollte ihr helfen, das seelische Gleichgewicht wiederzugewinnen. Meine Kamra war nicht schlimmer als Salmiakgeist, der in Echo freilich genauso verboten ist wie Schwarze Magie dritten Grades. Die Lady nahm automatisch einen Schluck und hörte auf zu schluchzen. Erstaunlich, dass sie überhaupt am Leben blieb.

Nur Kurusch - der einzige Zeuge ihres überraschenden Besuchs - konnte erklären, was mit der Unglücklichen passiert war. Ich wandte mich also an ihn, und der Buriwuch gab mir die entsprechenden Informationen:

»Mein Mann hat sich in eine Pastete verwandelt, in eine große Pastete.«

Traurig sah ich Kurusch an, dann die Lady, dann wieder Kurusch und schließlich die Decke, die mir den Himmel ersetzen musste.

Warum immer ich, dunkle Magister?, dachte ich. Ich bin doch gar kein übler Kerl. Eigentlich bin ich sogar ganz anständig. Warum also immer ich?

Der Wahnsinn dauerte an. Kurusch wiederholte hartnäckig den Satz, in dem die Worte Mann und Pastete vorkamen. Ich wusste, dass er so lange reden würde, bis er alles wiedergegeben hatte, was in meiner Abwesenheit gesagt worden war. Als die Lady ihren Monolog aus dem Schnabel des sprechenden Vogels vernahm, verließ sie den Pfad der Beruhigung und geriet auf den Abweg der Hysterie. Mit Gewalt schüttete ich ihr noch einen Schluck meines Erzeugnisses in die Kehle. Das half - die arme Frau sah mich aus großen verwirrten Augen an und flüsterte:

»Es ist schrecklich, aber in meinem Bett liegt wirklich eine große Pastete, und Karri ist nicht da.«

Schließlich schwieg der Buriwuch. Anscheinend war selbst er verwirrt. Vorsichtig streichelte ich das Tier.

»Alles in Ordnung, mein Kluger. Mir gefällt das zwar auch nicht, aber bleib gelassen. Du bist ein Prachtkerl, Kurusch. Wenn ich wüsste, worum es geht, würde ich nicht hier sitzen.«

Kurusch plusterte sich auf. Sir Juffin hatte ihn vermutlich zu einem der verwöhntesten Buriwuche des ganzen Königreichs verzogen. Zugleich aber war unser Kurusch auch der großherzigste Buriwuch der Welt.

»Es ist nicht üblich, dass in der letzten Nacht des Jahres jemand ins Haus an der Brücke kommt«, sagte er. »Du bist also unschuldig, Max. Toll, dass du überhaupt aufgetaucht bist.«

Ich wandte mich an die Frau.

••Wie heißen Sie, Unvergessliche?«

Sie lächelte unter Tränen. Ausgezeichnet, Max - langsam wirst du trotz deines Todesmantels zum größten Playboy von Echo.

»Mein Name ist Tanita Kowareka. Mein Mann heißt Karri, ich wollte sagen Karwen Kowareka. Wir haben ein kleines Wirtshaus hier in der Altstadt, die Trunkene Flasche. Vielleicht kennen Sie es. Doch jetzt hat Karri ...«, setzte die Lady an, verstummte dann und schluchzte leise, aber verzweifelt.

»Ich glaube, wir gehen am besten zu Ihnen nach Hause«, sagte ich. »Unterwegs können Sie mir alles erklären, falls sich überhaupt etwas erklären lässt. Macht es Ihnen etwas aus, zu Fuß zu gehen? Soweit ich weiß, ist es von hier nur zehn Minuten entfernt.«

»Selbstverständlich nicht. Mir tut Frischluft zur Beruhigung sicher gut.«

Bevor wir das Haus verließen, streichelte ich Kurusch noch mal. Man soll ihn verwöhnen und nochmals verwöhnen - das befehlen Sir Juffin und mein Herz.

Draußen hüllte uns samtweicher Nebel ein, und Lady Tanita beruhigte sich tatsächlich. Der Mensch kann nicht mehr erdulden, als er zu ertragen imstande ist. Wenn unsere Leidensfähigkeit erschöpft ist, wenden wir uns etwas anderem zu. Das ist die beste Therapie.

»Alle haben Angst vor Ihnen, Sir Max - dabei tut mir Ihre Gesellschaft so gut«, sagte Lady Tanita und machte mir damit ein großes Kompliment. »Es heißt, der Ehrwürdige Leiter habe Sie aus einer anderen Welt geholt. Stimmt das?«, fragte sie plötzlich.

»Nein«, antwortete ich rasch, »ich stamme aus dieser Welt - aus dem Gebiet zwischen der Grafschaft Wuk und den Leeren Ländern.«

»Schade«, sagte meine Gesprächspartnerin seufzend. »Wenn Sie tatsächlich aus der anderen Welt gekommen wären, könnten Sie mir erzählen, wie Karri dort leben wird.«

Herr Kowareka war offenbar ein Glückspilz. Auch wenn er wirklich tot sein sollte, war er doch zu Lebzeiten sehr geliebt und umsorgt worden.

»Warten Sie ein wenig ab, Lady Tanita«, meinte ich. »Es kann durchaus sein, dass nichts Schlimmes passiert ist.«

»Aber es ist etwas Schlimmes passiert«, flüsterte sie. »Das ist keine normale Pastete, sie hat eine menschliche Gestalt. Und sie trägt den Pyjama von Karri.«

Lady Tanita seufzte erneut, vermochte aber keine Tränen mehr zu weinen, sondern redete immer weiter, weil das die einzige Methode war, ihren Schmerz zu lindern.

»Wir sind sehr früh schlafen gegangen, weil wir sehr müde waren. Na, das sind ja zurzeit alle. Bei uns im Wirtshaus saßen ohnehin keine Gäste, doch das ist zum Jahreswechsel völlig normal. Mitten in der Nacht erwachte ich plötzlich. Wissen Sie, Sir Max, ich wache immer auf, wenn meinem Mann etwas wehtut oder er nur etwas trinken will. Wir leben schon sehr lange zusammen - vielleicht deswegen. Wir haben sehr früh geheiratet, was unsere Eltern nie begreifen konnten. Jedenfalls wachte ich in der festen Überzeugung auf, dass mit Karri etwas nicht stimmte. Und dann sah ich diese schreckliche Pastete in seinem Pyjama stecken. Wissen Sie, sie hatte sogar eine Art Gesicht. Ach, da sind wir ja schon, Sir Max. Verzeihen Sie, aber ich bringe es nicht fertig, mit ins Schlafzimmer zu gehen.«

»Das schaffe ich schon allein. Und wissen Sie was? An Ihrer Stelle würde ich eine Freundin besuchen. Oder jemanden aus der Familie. Gehen Sie einfach hin und erzählen Sie von Ihrem Unglück. Dann bekommen Sie reichlich zu essen und zu trinken, und irgendwann werden die tröstenden Worte, die Sie zu hören kriegen, Sie einlullen. Und dann schlafen Sie. Es bleibt zwar furchtbar, aber so werden Sie wenigstens nicht verrückt. Ich melde mich per Stummer Rede, wenn ich mit Ihnen sprechen muss. Aber ich glaube, das wird nicht vor morgen früh sein.«

»Gut, dann gehe ich zu Schatti, der jüngeren Schwester meines Mannes. Mit vollem Namen heißt sie Lady Schattoraja Kowareka. Sie ist ein nettes Mädchen, und ich fürchte, letztlich werde ich sie trösten müssen, nicht umgekehrt. Sir Max, Sie sind wirklich ein guter Mensch. So einen Rat kann einem nur jemand geben, der weiß, was Schmerz bedeutet. Vielen Dank.«

»Soll ich Sie begleiten?«, rief ich in die Dunkelheit.

»Nein, nein, Schatti wohnt nur eine Straße weiter«, drang die schon schwächer gewordene Stimme von Lady Tanita durch die düstere Straße.

Seufzend betrat ich das Haus. Das Wohnzimmer war sehr klein. Natürlich nahm die Trunkene Flasche den Großteil des Gebäudes in Beschlag. Es war ein angenehmes Lokal, dessen Atmosphäre keinesfalls seinem nach Absturzkneipe klingenden Namen entsprach. Ich war im Herbst schon mal hier gewesen und hatte mich sogar mit dem Wirt unterhalten, einem nicht sehr großen Mann mit ungemein fülligem rotem Haar. Damals trug ich den Todesmantel noch nicht und erntete nirgendwo ein angespanntes Lächeln oder einen verängstigten Blick.

Ich seufzte erneut und ging nach oben. Hätte Lady Tanita gewusst, wie sehr ich mich ohne sie fürchtete! Ich fühlte mich wie ein Kind, dessen Eltern zum ersten Mal allein ins Kino gehen. Aber es half nichts: Ich musste den Fall untersuchen.

Schweren Herzens öffnete ich die Schlafzimmertür und atmete den merkwürdigsten Geruch ein, den ich mir in dieser Situation vorstellen konnte: Es roch nach leckerem Essen. Das überraschte mich so sehr, dass ich erstarrte. Dann tastete ich nach dem Lichtschalter, und ein warmes Orange erfüllte das Zimmer. In Echo erhellt man Straßen und Häuser mit einer speziellen Sorte von Leuchtpilzen. Sie vermehren sich in besonderen Gefäßen, die auch als Lampenschirme dienen. Der Trick besteht darin, dass die Pilze zu leuchten beginnen, wenn sie etwas stört. Deswegen sendet der Lichtschalter lediglich Signale aus, die ihnen unangenehm sind und sie verärgert reagieren lassen.

Das orangefarbene Licht der Pilze gefällt allerdings nicht jedem. Viele Ästheten - Sir Juffin zum Beispiel -bevorzugen Kugeln mit bläulichem Gas. Ich war an das blaue Licht gewöhnt, weil ich anfangs lange bei ihm gelebt hatte, und hatte mir die gleiche Lichtquelle für mein eigenes Haus beschafft. Aber das warme Orange gefiel mir jetzt sehr.

Kaum hatte ich die Pilze verärgert, konnte ich mich in aller Ruhe umschauen.

Mitten auf dem flauschigen Teppich lag etwas zwischen durcheinandergeworfenen Kleidungsstücken. Es trug tatsächlich eine Art Pyjama: eine Skaba aus Frottee. An so eine Scheußlichkeit hatte ich mich zum Glück nie gewöhnt. In Skaba und Lochimantel herumzulaufen, ist eine Sache, doch sich mit etwas ins Bett zu legen, das an Großmutters Nachthemd erinnert, ist etwas ganz anderes. Meiner Meinung nach ist es ohnehin das Beste, nackt ins Bett zu gehen.

Das merkwürdige Etwas auf dem Boden gehörte also schon deshalb zu meinen Feinden, weil es einen Pyjama trug. Damit allerdings waren seine Ähnlichkeiten mit einem Menschen auch schon zu Ende. Vor mir lag tatsächlich eine Pastete, deren Duft mich schwindeln machte und mir irgendwie bekannt vorkam.

Ich näherte mich ihr. Das erwies sich als Zerreißprobe für meine Nerven. Beinahe hätte ich mich trotz des herrlichen Aromas übergeben, denn die Pastete hatte die Züge eines Gesichts und wies einen Rest von roter Mähne auf, an die ich mich noch gut erinnern konnte, obwohl ich den armen Karwen nur einmal gesehen hatte. Lady Tanita hatte Recht: Sie musste die Hoffnung wohl aufgeben, dass ihr Mann noch zu retten war.

»Sündige Magister!«, rief ich ratlos. »Was soll ich bloß machen?«

Ich ging wieder hinunter in das dunkle Restaurant und schenkte mir aus der erstbesten Flasche etwas ein. In der Finsternis sah ich nicht, was ich trank, doch es schmeckte. Dann stopfte ich meine Pfeife. An den hiesigen Tabak hatte ich mich noch immer nicht gewöhnt, aber er war besser als nichts.

Ich saß allein hinter der Theke, schlürfte ein mir unbekanntes Getränk und rauchte. Das brauchte ich einfach, um meine Gedanken zu ordnen. Ich wusste, dass ich weder Melifaro noch Sir Juffin in dieser Angelegenheit um Hilfe bitten durfte. Sie hatten Erholung verdient, und ich war klug genug, elementare Dinge allein zu schaffen. Das ist schließlich meine Aufgabe.

Nachdem ich die Lage lange genug überdacht hatte, ging ich zurück ins Schlafzimmer, wo mir der aromatische Duft erneut bekannt vorkam. Wo war er mir nur schon mal begegnet? Im Fressfass sicher nicht. Dort roch es zwar seltsam, aber deutlich anders. Und auch nicht im Gesättigten Skelett, aus dem ich täglich mein Frühstück bekam. Der Duft aus dem Schlafzimmer verfolgte mich geradezu, doch ich konnte mich nicht erinnern, woher er stammen mochte. Auch in der Küche meiner Großmutter hatte es so nicht gerochen, obwohl ... Ich war verwirrt, wie es ja oft passiert, wenn man sich fieberhaft auf etwas Wichtiges besinnen will.

Schließlich machte ich eine wegwerfende Handbewegung und griff nach meinem Dolch, dessen Magieanzeiger mich darüber belehrte, dass hier höchstens Schwarze Magie zweiten Grades im Spiel gewesen war. Eine derart schwache Magie war nicht nur zulässig, sondern auch alles andere als überraschend, da ich mich in einem Restaurant befand und es vor allem Köche waren, die erlaubte Magie anwandten. Allerdings reichte Magie zweiten Grades wohl kaum dazu, einen Menschen in eine Pastete zu verwandeln. Das aber würde ich erst später klären können. Zunächst einmal musste ich die Pastetenleiche ins Haus an der Brücke bringen, wie es sich gehörte.

Ich konnte dieses widerliche Etwas unmöglich weiter im ehelichen Schlafzimmer liegen lassen. Früher oder später würde die sympathische Lady Tanita nach Hause kommen, und es wäre nicht schön, ihr diesen Anblick noch mal zuzumuten.

Ich empfand eher Mitgefühl als Mitleid für sie. Was ihr widerfahren war, betraf auch mich. Der Schmerz von Lady Tanita erreichte mich wie Fernsehergeräusche aus dem Nebenzimmer: Er rückte mir nicht unmittelbar zu Leibe, doch ich konnte mich auch nicht gegen ihn abschotten.

Nichts ist leichter zu vollbringen als das Unmögliche! Man muss nur intensiv daran denken, was zu tun ist, und das Bewusstsein abschalten. Wenn man dann wieder zu sich kommt, ist alles erledigt.

Ich schwöre Stein und Bein: Als ich die schreckliche Pastete in einen Lochimantel wickelte, spürte ich nichts -genauso wenig wie später, als ich meinen Lieblingszauber anwandte und sie zwischen Daumen und Zeigefinger meiner Linken verschwinden ließ. Meine Gefühle schwiegen sogar, als ich durch die menschenleeren Straßen zum Haus an der Brücke ging - als hätte ich einen Teil meiner selbst in Erwartung besserer Zeiten schockgefroren.

Im Büro grübelte ich ernsthaft, wo ich meine Beute lagern sollte. Gehörte sie eher in die kleine, dunkle, vollständig isolierte Beweismittelkammer oder in das geräumige Zimmer, das als Leichenhalle diente und fast immer leer stand? Ich beschloss, Kurusch zu fragen.

»Wenn du wirklich glaubst, diese Pastete sei mal ein Mensch gewesen, handelt es sich wohl um eine Leiche.«

Ich war erleichtert: endlich Klarheit!

Als der appetitlich riechende Verstorbene allerdings auf einem Obduktionstisch gelandet war, wurde ich erneut schwach, ging meine Hände waschen und schrubbte sie eine halbe Stunde lang bis zum Ellbogen.

Danach fühlte ich mich deutlich besser und kehrte in mein Büro zurück.

»Ein schöner Jahreswechsel ist das gewesen«, meinte ich und zwinkerte Kurusch zu. »Er hat mir eine hübsche Lady und viel zu essen gebracht.«

»Du machst wohl Witze, Max, oder?«, fragte der Buriwuch vorsichtig. »Du wirst doch nicht etwa ... obwohl -die Leute essen ja alles Mögliche.«

»Natürlich mach ich Witze«, sagte ich und streichelte den flaumigen Vogel. »Weißt du zufällig, ob es hier noch normale Kamra gibt? Also eine, die nicht ich zubereitet habe?«

»In Melifaros Büro steht ein fast voller Krug«, meldete der Buriwuch. »Ich hab gesehen, wie er geliefert wurde, und weiß, dass Melifaro vorhin gegangen ist. Piroggen wurden übrigens auch gebracht. Wer weiß ...«

»Alles klar.«

Hals über Kopf sprang ich ins Büro des Tagesantlitzes des Ehrwürdigen Leiters. Auf seinem Schreibtisch standen tatsächlich ein Krug Kamra und ein paar Piroggen. Melifaro war so überstürzt in sein endlich von der Verwandtschaft geräumtes Haus geeilt, dass er nicht mal zu Ende gegessen und getrunken hatte, obwohl er das bei seinem Tempo in einer Minute geschafft hätte. Kurusch und ich hatten also Glück, denn in dieser letzten Nacht des Jahres hätten wir nicht mal die fantastische Madame Zizinda erreichen können.

Bis zum Morgengrauen trank ich nicht nur die ganze Kamra, sondern half auch Kurusch wieder mal dabei, seinen Schnabel von süßer Creme zu reinigen. Ich tat sogar noch mehr und entwickelte einen Plan für unser weiteres Vorgehen. Dabei verspürte ich den gleichen Eifer wie die streitsüchtige Lady Melamori. Zum ersten Mal lag ein Fall, mit dem ich mich von Anfang an beschäftigt hatte, ganz allein in meinen Händen. Ich wollte ihn unbedingt lösen und dabei natürlich alles richtig machen. Klar, dass ich das nicht allein schaffen konnte, sondern auf Hilfe angewiesen war, doch ich wollte Juffin nicht nur mit einer schrecklichen Nachricht überraschen, sondern auch mit einem fertig ausgearbeiteten Plan.

Anscheinend hatte auch Sir Juffin etwas gespürt, denn er kam viel früher als sonst ins Büro.

»Ich hab ziemlich schlecht geschlafen«, bemerkte mein Chef düster und ließ sich in seinen Sessel fallen. »Ist bei dir alles in Ordnung, Max?«

»Bei mir ja. Aber von einer netten Lady kann ich das nicht behaupten. Diese Nacht hat uns eine Witwe mehr beschert.«

Ich erzählte Sir Juffin in aller Ruhe, was es zu erzählen gab.

»Donnerwetter! Ich wüsste gern, ob Madame Zizinda ihre Spelunke schon geöffnet hat oder sich noch erholt. Für gute Kunden wie uns könnte sie doch eine Ausnahme machen, was? Ich schau mir nur schnell noch die Pastete an, die du mitgebracht hast, und dann gehen wir frühstücken.«

Nachdem wir unseren Appetit durch einen Besuch bei der Leiche angeregt hatten, landeten wir im Fressfass. Ich wüsste gern, welcher Logik wir dabei gefolgt waren.

Madame Zizinda begrüßte uns schon am Eingang. Offenbar hatte sie einen guten Instinkt.

»Juffin, ich hatte viel Zeit, mir über alles Gedanken zu machen«, begann ich und blickte errötend auf meinen Teller. »Ich hab einen Plan, obwohl ...«

»Was ist los mit dir, Max?«, fragte mein Chef erstaunt. »Wo ist deine viel gepriesene Selbstsicherheit?«

»Als ich meinen Plan entwickelte, kam ich mir sehr schlau vor, doch inzwischen ... Bestimmt haben Sie auch eine Idee, aber die dürfte kaum zu meinen Vorstellungen passen.«

»Schieß los«, meinte Juffin und klopfte mir freundschaftlich zwischen die Schulterblätter. »Viel Ahnung hab ich auch nicht. Wie kommst du nur darauf, ich hätte einen Plan?«

»Ich weiß nicht, ob es schon in der Epoche der Orden etwas Ähnliches gegeben hat, und würde deshalb gern unser Archiv konsultieren. Lukfi soll die Buriwuche befragen. Wenn es vergleichbare Fälle gibt, kann uns das helfen. Dann müssen wir herausfinden, womit sich dieser Karwen Kowareka beschäftigt hat. Womöglich hatte er Kontakt zu Weisen Magistern oder war Mitglied eines verbotenen Ordens oder so. In diese Richtung sollten wir ermitteln. Ich glaube, das ist für Sir Kofa ein Kinderspiel. Und natürlich sollte sich auch Melamori das Schlafzimmer der Kowarekas ansehen, damit wir wissen, ob ein Fremder es betreten hat. Daran glaube ich zwar nicht, möchte es aber definitiv ausschließen können. Ich selbst werde mich mit Lady Tanita unterhalten, weil sie mich sympathisch findet. Ich hab ihr einen dummen Rat gegeben, was sie machen soll, um nicht verrückt zu werden,

und wir haben uns ein wenig angefreundet. Das Ganze sollte unter der Regie von Melifaro stehen, denn er weiß am besten, wie er uns die Bearbeitung des Falls erleichtern kann. Außerdem versteht er sich gut mit den Mitarbeitern von Bubuta Boch. Das war's.«

»Ausgezeichnet«, rief Sir Juffin erfreut. »Da kann ich ja heute schon in Rente gehen. Du bist wirklich ein Profi. Und jetzt Guten Appetit.«

Mit Heißhunger stürzte ich mich auf das Essen, das bereits serviert worden war.

»Gehen wir also nach deinem Plan vor«, entschied Juffin. »Du hast wirklich fast alles bedacht. Ich habe nur einen Einwand.«

»Nämlich?«, fragte ich mit vollem Mund und war sehr zufrieden, dass mein Chef nur einen Kritikpunkt gefunden hatte.

»Du musst dich unbedingt daran erinnern, wo du diesen Duft schon mal gerochen hast«, sagte er ernst.

»Ach, Juffin - ich wäre beinahe verrückt geworden, als ich das versucht habe. Und das Resultat war gleich null.«

»Ich kann dir helfen. Der Duft stammt nicht aus deiner Heimat - glaub mir das. Er ist sehr seltsam, aber von hier. Geh also spazieren, besuche all die Orte, an denen du schon mal warst, und schnuppere. Wer weiß ...«

»Na gut, obwohl ... Wer kann mir garantieren, dass wieder das Gleiche gekocht wird?«

»Du bist ein Glückspilz, Max. Das ist die einzige und einzigartige Gewähr deines Erfolgs. Hauptsache, du bekommst keinen Schnupfen - das würde uns im Moment schlecht passen. Aber jetzt gehen wir ins Büro. Du wirst Anweisungen erteilen, und ich werde das genießen.«

»Sie lachen?«

»Aber nicht doch! Dein Plan ist wirklich sehr gut und verdient höchstes Lob. Jetzt muss er nur noch umgesetzt werden.«

»Juffin, es ist für mich leichter, etwas allein zu machen, als ein paar Leuten zu erklären, was sie tun sollen.«

»Das kenne ich, aber das Leben ist kein Zuckerschlecken. Daran wirst du dich gewöhnen müssen.«

Wir kehrten ins Haus an der Brücke zurück. Rasch entschied Juffin, er könne nun nach Hause gehen und ein paar Träume weiterträumen, da sein Vertrauen in mich grenzenlos sei. Das warf mich um. Ich begriff, dass ich diesen Fall bis zum nächsten Tag klären musste - sonst würde ich vor Scham vergehen und als bläulicher Staub in einer dunklen Ecke des Hauses an der Brücke enden. Und dunkle Ecken gab es bei uns genug.

Ich seufzte bitter, raffte mich dann aber auf und begann mit der Arbeit. Per Stummer Rede meldete ich mich bei Melifaro, Sir Kofa und Lady Melamori und bestellte alle drei umgehend ein. Sie waren darüber sehr aufgebracht, doch ich konnte ihnen per Stummer Rede nicht alles im Detail erklären. Deshalb rief ich nur »Ende« und wandte mich anderen Dingen zu.

Es hatte keinen Sinn, auch Lukfi zu rufen, da die Buriwuche aus dem Großen Archiv vor dem Mittagessen den Schnabel nicht öffnen würden. Sie hatten ihren eigenen Rhythmus. Nur unser Kurusch war kooperativer.

Als Erste erschien Lady Melamori. Anscheinend hatte ich ihr einen probaten Grund geliefert, sich ihren familiären Verpflichtungen ein paar Stunden früher zu entziehen als geplant. Auf alle Fälle war sie nicht sauer.

»Du siehst fantastisch aus!«, rief ich, denn ich konnte nicht umhin, ihr zu schmeicheln. »Hast du gut geschlafen?«, fragte ich und füllte galant ihre Kamratasse.

»Ist was passiert? Oder haben Sie ... hast du Sehnsucht nach mir bekommen?«, wollte Melamori wissen und lächelte.

»Natürlich hatte ich Sehnsucht nach dir, aber das ist nicht der einzige Grund, warum ich dich so früh geweckt habe. Ich bin kein solcher Unmensch, wie es immer heißt. Ein paar Dutzend Ältere und Jüngere fertigzumachen, ist eine Sache, eine Lady hingegen nicht schlafen zu lassen, ist etwas ganz anderes. Verstehst du, Unvergessliche?«

»Also, Max, was ist passiert?«

»Es ist eine seltsame Leiche aufgetaucht. Am besten schaust du sie dir selbst an und beschnupperst sie auch gleich. Das ist kein Witz: Du sollst ihre Witterung aufnehmen. Komm bitte danach wieder her. Hier wird es für dich noch eine Tasse Kamra und eine Aufgabe geben.«

Gehorsam ging Lady Melamori in die Leichenhalle, und als sie zurückkam, war ihr hübsches Gesicht sehr besorgt.

»Kommt dir der Duft bekannt vor?«

»Irgendwie schon, aber ich weiß nicht, woher.«

»Mir geht es genauso. Quäl dich also nicht. Hier ist deine Kamra. Wenn sie leer ist, gehst du in die Trunkene Flasche.«

»Was soll ich denn da? Mich ins Koma trinken?«

»Wenn du unbedingt willst. Zwischen dem siebten und achten Glas Dschubatinischer Säufer aber solltest du ins Schlafzimmer der Wirtsleute gehen, um nachzusehen, ob sich dort ein Fremder aufgehalten hat - außer mir natürlich.«

»Dann ist der Mann in der Leichenhalle also Karwen? Seine Frau kenne ich ein wenig. Sündige Magister - was für ein Geschenk zum letzten Tag des Jahres!«

»Zum Neujahrstag, Melamori! Sei optimistisch! In der Gegend, aus der ich stamme, gibt es einen Aberglauben: Wie du den ersten Tag des neuen Jahres verbringst, wirst du das ganze Jahr verbringen. Kannst du dir das vorstellen?«

»Ist das Ihr ... dein Ernst, Max?«, fragte Melamori und sah mich beinahe ängstlich an. »Kann man nichts dagegen tun?«

»In meiner Heimat nicht. Aber in Echo hat der dumme Aberglaube der Leeren Länder ja keine Gültigkeit. Also marsch, marsch in die Trunkene Flasche'.«

»Ich geh ja schon. Unter uns gesagt: Du bist ein schlimmerer Tyrann als Juffin.«

»Das will ich hoffen. Aber jetzt haben wir lange genug geplaudert. Ich fürchte, ich muss durch alle Wirtshäuser von Echo ziehen, um herauszufinden, woher der Geruch stammt. Und weil er dir auch bekannt vorkommt, befehle ich dir, mir dabei Gesellschaft zu leisten.«

»Du befiehlst mir also, dich überallhin zu begleiten?«, fragte Melamori und begann zu lachen.

»Natürlich«, sagte ich lächelnd. »Ich nutze meine dienstliche Position skrupellos aus. Davon hab ich schon das ganze Leben lang geträumt, und jetzt bin ich an der Macht. Du kannst dich also nicht mehr drücken.«

»Das hatte ich auch nicht vor«, erklärte Melamori und schaute mich so begeistert an, als hätte ich plötzlich rote Haare bekommen. Dann zog sie los, um ihre Aufgabe zu erfüllen.

Sir Kofa Joch betrat genau zwei Sekunden vor Melifaro mein Büro. Beide konnten meinen Lagebericht gar nicht erwarten, denn die forsche Art, mit der ich sie per Stummer Rede einbestellt hatte, hatte sie zweifeln lassen, ob in meinem Kopf noch alles in Ordnung war. Die Neuigkeit allerdings, die ich ihnen mitzuteilen hatte, erschütterte sie gleichermaßen. Seit Beginn der Epoche des Gesetzbuchs war dies der erste schwerwiegende Zwischenfall in der letzten Nacht des Jahres. Das jedenfalls behauptete Sir Kofa Joch, und seine Worte galten einiges.

Als die beiden kamen, war ich schon ein wenig müde. Deshalb erläuterte ich meinen Plan nur ganz knapp und gab meine Befehle so kurz und bündig, als hätte ich mein Leben lang nichts anderes getan.

»Ich glaube nicht, dass der arme Karwen sich mit krummen Geschäften abgegeben hat«, sagte Sir Kofa und zupfte dabei an seinem Mantelsaum. »Aber Sie haben Recht, Sir Max. Man muss zuerst genau untersuchen, was er in der letzten Zeit getrieben hat. Manchmal tun die Leute so seltsame Dinge, dass man nur staunen kann.«

»Besonders am Jahresende, ich weiß«, sagte ich lächelnd.

»Eben. Ich komme im Morgengrauen wieder. Falls ich bis dahin etwas Interessantes herausfinde, melde ich mich sofort per Stummer Rede bei Ihnen.«

Kofa fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht, und gleich veränderten sich seine Züge. Dann zog er seinen Lochimantel auf links und besaß nun ein bescheidenes zimtfarbenes Cape. Damit war unser Meister des Verhörs dienstbereit.

»Was soll ich tun, mein schreckliches Kind der Nacht?«, rief Melifaro und sprang vom Sessel auf.

»Schau dich im Haus an der Brücke um und geh dann in die Leichenhalle, um dir meine Beute anzusehen. Du kannst auch frühstücken, wenn dir danach ist. Dann warte auf Lady Melamori und lass dir von ihr erzählen, was sie herausgefunden hat. Allerdings bin ich sicher, dass kein Fremder im Schlafzimmer gewesen ist. Geh auch zu General Bubuta rüber - vielleicht weiß jemand von der Stadtpolizei etwas Näheres. Es müsste ja mit dem Teufel zugehen, wenn wir keine Spur finden würden. Und versuch jedem, den du triffst, die Laune zu verderben.«

»Wer ist eigentlich dieser Teufel, von dem du da eben geredet hast?«

»Ach, ein Zwischenstadium zwischen Vampir und rebellischem Magister.«

»Jemand wie du also?«

»Ich hab dir das Leben gerettet! Ich hab dich vor der Horde deiner Verwandten geschützt und bei mir aufgenommen!«, rief ich in gespieltem Zorn. »Und du? Was tust du? Statt meine Treppe zu putzen oder mich wenigstens zum Mittagessen einzuladen?«

»Ich bin ein Schwein«, gab Melifaro betrübt zu. »Aber ich lade dich heute ein. Dienst ist zwar Dienst, aber ganz ohne Schnaps geht's auch nicht.«

»Es ist immer ein Vergnügen, kluge Gedanken zu hören. Aber eins ist klar: Ich betrete kein Lokal, das schlechter ist als der Bucklige Itulo.«

»Ich hatte auch nicht vermutet, billiger davonzukommen. Sir Großer Retter - erlauben Sie, dass ich gehe, um zunächst Ihre Anweisungen auszuführen?«

»Mit dem größten Vergnügen. Aber wecken Sie mich in zwei Stunden. Dann treffe ich mich nämlich mit einer hübschen Lady.«

»Könnte ich dich da nicht vertreten?«, fragte Melifaro begeistert.

»Ach, das schaff ich schon noch. Du bist nicht der ideale Ansprechpartner für verzweifelte Witwen. Außerdem hast du zur selben Zeit ein Treffen mit dem hübschen Sir Lukfi. Schon vergessen? Und jetzt lass mich bitte schlafen.«

»Hier und jetzt?«

»Wo und wann sonst? Wenn ich jetzt nach Hause gehe, bekommen mich keine zehn Pferde mehr aus dem Bett.«

»Stimmt - dein Bett zu verlassen, ist wirklich schwer«, stellte Melifaro kennerisch fest. »Hast du deine Laken verzaubert? Was wäre eigentlich, wenn Juffin in deinem Büro arbeiten wollte, während du schläfst?«

»Das würde mich gar nicht stören«, stellte ich großspurig fest und rückte alle Polsterstühle zu einer Liege zusammen.

»Jetzt verstehe ich langsam«, sagte Melifaro gedankenverloren. »Du hast unseren Chef um die Ecke gebracht! Und jetzt?«

»Jetzt bring ich dich um die Ecke, wenn du mich nicht endlich pennen lässt«, murmelte ich im Halbschlaf. »Ich hab's mir anders überlegt. Weck mich erst in drei Stunden. Und sag dem jungen Urf, er soll meine Katzen füttern. Ich hab ihnen nämlich gestern versprochen, wir würden endlich ein normales Leben beginnen.«

»Schon gut, schlaf schön! Ich kümmere mich darum. Sonst spuckst du bestimmt noch Gift!«, rief Melifaro und schloss die Tür hinter sich.

Ich hatte den Eindruck, höchstens zwei Minuten geschlafen zu haben. Als ich wieder aufwachte, beugte Melifaro sich über mich.

»Was gibt's denn jetzt noch?«, brummte ich.

»Wieso noch? Du hast mich doch gebeten, dich nach drei Stunden zu wecken. Also steh auf, Sir Nachtantlitz. Ich muss ins Große Archiv. Außerdem gibt es einige Neuigkeiten.«

»Zu den sündigen Magistern mit dieser heillosen Welt!«, rief ich und hob stöhnend den Kopf. »Sind denn schon drei Stunden rum? Wie schade!«

»Dreieinhalb!«, rief Melifaro und reichte mir eine Tasse heiße Kamra. »Juffin hat in der unteren Schublade seines Schreibtischs eine Flasche Kachar-Balsam versteckt. Er hat sie unsichtbar gemacht, aber du findest sie schon. Ich kann mich ja derweil umdrehen.«

»Das weiß ich doch längst«, meinte ich pampig und kroch unter Juffins Tisch, um mich an seinem Eigentum zu vergehen. Ein paar Sekunden kämpfte ich mit der Versuchung, noch einen zweiten Schluck zu nehmen.

»Du bist wirklich mit allen Wassern gewaschen«, sagte Melifaro bewundernd. »Wie lange kennst du das Versteck denn schon?«

»Seit dem ersten Arbeitstag. Nach meinem Abenteuer mit der Erholungssuppe hat unser Chef begriffen, dass dieser Balsam meine einzige Rettung ist. Also - welche Nachrichten hast du für mich?«

»Zuerst mal das Neueste von unseren Leuten: Melamori hat tatsächlich keine fremden Spuren am Tatort gefunden - außer deinen natürlich. Es war also genau so, wie du es vorhergesagt hast. Der Meister des Verhörs hat sich noch nicht wieder gemeldet. Dafür gibt es aus der Stadtpolizei aber eine Nachricht, die alles andere in den Schatten stellt: Bubuta ist verschwunden!«

»Was!?«, rief ich und schüttete mir Kamra aufs Hemd. »Ist das dein Ernst?«

»Aber ja. Er ist gestern gleich nach der feierlichen Übergabe der königlichen Geschenke zum Abendessen gegangen. Seitdem hat ihn niemand mehr gesehen. Seine Mitarbeiter dachten, er sei nach Hause gefahren, und waren zu erfreut darüber, um daran zu zweifeln. Bubutas Angehörige dachten, er sei im Dienst, und waren vermutlich auch höchst zufrieden damit. Erst heute Morgen hat seine Frau sich per Stummer Rede bei ihrem Schatz gemeldet.«

»Und?«

»Seltsame Sache, Max. Er lebt - daran hat Lady Boch keinen Zweifel. Aber er meldet sich nicht. Als ob er im Tiefschlaf läge.«

»Und Lady Melamori? Hat sie nach ihm gesucht?«

»Sie ist noch dabei.«

»Wieso das denn? Ich dachte, sie wäre schnell.«

»Das ist es ja eben. In der Kanzlei für Auszeichnungen und Stipendien gibt es keine Spur von Bubuta Boch.«

»Das kann doch nicht sein! Gestern Mittag ist er dort doch noch herumgetrampelt.«

»Sicher. Aber das Leben in der Zivilisation ist eine komplizierte Sache. In deiner Heimat mag das anders sein.«

Ich zog eine Furcht erregende Grimasse, und Melifaro verschwand blitzschnell unterm Tisch. Von dort setzte er seinen Bericht mit der Stimme eines kleinen, erschrockenen Jungen fort.

»Er hat keine Spuren hinterlassen, weder in der Kanzlei für Auszeichnungen und Stipendien noch im Treppenhaus, noch nicht mal im Foyer - nirgends! Jedenfalls keine frischen Spuren. Und seine alten Spuren sind für unsere Zwecke unbrauchbar. Herr Vampir, sind Sie noch sauer auf mich?«

Ich lachte aufgedreht - nicht über Melifaros Bericht, sondern über die unglaubliche Neuigkeit. Was für eine Nachricht!

»Die gesamte Stadtpolizei sucht nach Bubuta, und wenn sie ihn nicht bis zum Morgengrauen findet, übertragen sie uns die Ermittlungen.«

»Weiß Juffin schon Bescheid?«, fragte ich, nachdem ich mich beruhigt hatte.

»Wie sollte er nicht davon wissen?«

»Und? Ist er froh darüber?«

»Das fragst du noch? Er hat gesagt, jetzt könne er endlich ein Fass aufmachen, weil sein größter Traum in Erfüllung gegangen sei. Und er kommt morgen in aller Frühe zum Dienst. Vielleicht steckt er ja dahinter.«

»Das würde mich nicht wundern«, sagte ich lächelnd. »Willst du eigentlich bis zu seiner Ankunft unterm Tisch bleiben? Wolltest du nicht noch ins Große Archiv?«

»Du wirst doch nicht spucken, oder?«

»Natürlich werde ich das. Jetzt kannst du dich nur noch retten, indem du dich unter den Flügeln der Buriwuche verkriechst.«

»Gute Idee!«, rief Melifaro, sprang unterm Tisch hervor, trank seine Kamra auf einen Satz leer, winkte mir zum Abschied kurz zu und verschwand im Korridor.

Ich blieb allein zurück und meldete mich per Stummer Rede bei Lady Tanita.

»In einer Viertelstunde bin ich bei Ihnen«, meinte sie. »Wissen Sie, Ihr Rat ... Es ist tatsächlich so gelaufen, wie Sie sagten. Ich bin nicht verrückt geworden und habe sogar ein paar Stunden geschlafen. Vielen Dank.«

Ich ließ die jüngeren Mitarbeiter mein Büro aufräumen und meldete mich per Stummer Rede im Fressfass. Wenn ich mit Lady Melamori schon alles gründlich durchsprechen musste, sollte sie dabei wenigstens gut essen. Außer mir schaffte es niemand, sie zu überreden, etwas Vernünftiges zu sich zu nehmen. Na ja - ob ich es schaffen würde, war noch nicht klar, aber versuchen konnte ich es ja.

Lady Tanita kam, wie versprochen, nach einer Viertelstunde. Sie hatte sogar Zeit gehabt, sich umzuziehen, und war sehr elegant angezogen. In Echo gibt es die Unsitte nicht, Trauer zu tragen. Schmerz gilt als Privatsache, und man muss nicht aller Welt den Verlust geliebter Menschen signalisieren.

»Was für ein hübscher Tag«, sagte die wunderbare Lady Tanita nicht ohne Sarkasmus.

Sie war tapfer genug, diese traditionelle Begrüßungsformel mit bitterer Ironie zu würzen, und begeisterte mich immer mehr.

»Sie verstehen sicher, warum ich Sie gerufen habe. Ich muss unbedingt klären, womit Ihr Mann sich beschäftigt hat - vor allem in den letzten Tagen. Ich weiß, dass es sehr schmerzlich für Sie ist, darüber zu reden, aber ...«

»Ich verstehe das, Sir Max. Solche Dinge passieren ja nicht von allein, und Sie müssen den Täter finden, aber ich fürchte, ich kann Ihnen dabei kaum helfen.«

»Ich weiß, was Sie sagen wollen. Ihnen ist die ganze Zeit nichts Besonderes aufgefallen. Erst ein Unglück reißt den, dem es widerfahren ist, aus der Normalität und macht ihn auf traurige Weise zu etwas Ungewöhnlichem. Und erst im Rückblick zeigt sich, dass es im Vorfeld des Unheils Warnzeichen gegeben hat.«

Auf der Erde hatte ich so viele Krimis gelesen, dass ich eine derart banale Weisheit nun einfach aus dem Ärmel schütteln konnte. Hoffentlich kannten die Autoren dieser Romane sich im Leben ganz gut aus.

»Gut, Sir Max. Aber ich kann Ihnen eigentlich nur sagen, dass unser Leben ziemlich normal verlaufen ist.«

»Ausgezeichnet, Lady Tanita. Doch bedenken Sie, dass ich als Außenstehender keine Ahnung habe, wie Ihr normales Leben ausgesehen hat. Erzählen Sie mir bitte ein wenig darüber.«

»Gern. Jeden Tag ist Karri im Morgengrauen aufgestanden und auf den Markt gegangen. Wir haben viel Personal, aber die Zutaten hat er immer allein ausgesucht. Karri ist ... oder war ein ausgezeichneter Koch. Kochen war für ihn kein Broterwerb, sondern eine Kunst. Eine Frage der Liebe und Ehre, wenn Sie so wollen. Wenn ich aufwachte, war er schon in der Küche und gab dem Personal Anweisungen. Das Lokal öffnete um zehn, manchmal auch früher, wenn die Kunden das wünschten. Vormittags stand immer ein Mitarbeiter hinter der Theke, damit Karri und ich genug Zeit für andere Dinge oder zur Erholung hatten. Gegen Abend ging er in die Küche und bereitete zwei spezielle Tagesgerichte vor. Die übrigen Speisen hatte das Personal zubereitet. Ich stand meist hinter der Theke, doch mitunter schickte Karri mich spazieren. Dann wollte er die Besucher allein bedienen und ihre Komplimente entgegennehmen. Gegen elf Uhr abends ging er normalerweise schlafen, weil er immer früh aufstehen musste. Und ich blieb im Restaurant - natürlich nicht allein, denn wir hatten ja viel Personal. Bald nach Mitternacht ging dann auch ich nach oben. Wir haben einen jungen Mitarbeiter namens Kumarochi, der gern bis spät in die Nacht arbeitet - Hauptsache, er kann morgens ausschlafen.«

»Das versteh ich gut. So bin ich auch ... Sagen Sie mir bitte, Lady Tanita, was Karri in der Freizeit getan hat. Man muss sich ja selbst von der liebsten Arbeit mitunter erholen.«

»Mit dieser Behauptung wäre Karri absolut nicht einverstanden gewesen. Seine einzige Methode, sich zu erholen, bestand darin, hinterm Tresen zu stehen und ein wenig mit den Gästen zu plaudern. Vielleicht werden Sie es mir nicht glauben, doch er ging sogar in andere Wirtshäuser nur mit dem Ziel, die kulinarischen Geheimnisse der Konkurrenz zu knacken. Und das ist ihm immer gelungen. Karri hat nie eine Lehre als Koch gemacht. In seiner Jugend war er Bote in der Kanzlei der Zufriedenheit. Die Trunkene Flasche habe ich von meiner Großmutter geerbt. Zuerst dachten wir, wir müssten das Lokal den Angestellten überlassen, da wir nicht mal Kamra kochen konnten. Einige fahre war Karri nur Aushilfskoch und hat schmutzigste Arbeiten verrichtet. Dann hat er plötzlich einen Salat zubereitet - einen ganz normalen Salat -, aber die Leute meinten, so etwas Leckeres hätten sie seit Beginn der Epoche des Gesetzbuchs nicht gegessen. Dabei hatte Karri nur dem Koch bei der Arbeit zugesehen und sich dabei etwas ausgedacht.«

»Ist Ihr Mann oft auf die Jagd gegangen?«, wollte ich wissen.

Lady Tanita sah mich fragend an.

»Auf die Jagd nach Kochrezepten, meine ich.«

»Ziemlich oft ... Alle zwölf Tage bestimmt, manchmal öfter. Er hat sogar gelernt, seine Gesichtszüge zu verändern, weil kein Koch seine Geheimnisse gern an jemanden vom Fach ausplaudert. Dieser Argwohn ist ganz natürlich, müssen Sie wissen, denn der Konkurrenzdruck ist sehr groß.«

»Na sehen Sie! Und gerade haben Sie mir noch erzählt, Sie hätten ein ganz normales Leben geführt! Obwohl Ihr Mann Karwen in fremder Gestalt die Geheimrezepte seiner Kollegen geknackt hat! Sie werden mir sicher Recht geben, wenn ich sage, dass das kein typisches Verhalten ist ... Aber verzeihen Sie bitte meinen besserwisserischen Ton. Ich habe mir leider angewöhnt, wie ein Kriminalbeamter daherzureden.«

»Schon gut, Sir Max. Sie könnten auch wie ein Friedhofswärter reden. An meiner Lage ändert das ohnehin nichts. Und wenn Sie lächeln, vergesse ich sogar, dass Karri nicht mehr unter uns weilt.«

»Lady Tanita«, begann ich ernst, »denken Sie bitte daran, dass es außer unserer Welt noch andere Welten gibt. Das kann ich beschwören. Ihr Mann befindet sich an irgendeinem weit entfernten Ort. Wissen Sie, als meine Großmutter starb - die einzige Person in meiner Familie, die ich wirklich geliebt habe -, sagte ich mir, sie sei bloß weggefahren, und wir könnten sie nun nicht mehr sehen; das sei natürlich schlimm, aber immerhin lebe sie irgendwo weiter. Glauben Sie mir, Lady - vom Tod weiß niemand mehr als ich«, sagte ich und knetete den Saum meines schwarzen Todesmantels.

Wer hätte das gedacht? Meine naive religiöse Überzeugung hat dieser armen Frau wirklich geholfen! Jedenfalls lächelte sie gedankenverloren.

»Bestimmt haben Sie Recht, Sir Max. Ich wüsste nur gern, was für eine Welt das sein mag und ob es Karri dort gefällt. In einer anderen Welt zu sein ist besser, als nirgendwo zu sein. Aber irgendwann kommt auch für mich die Zeit, und dann werde ich ihn finden - meinen Sie nicht auch?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete ich ehrlich. »Aber ich hoffe es sehr. Wir werden alle gleich hinter der Schwelle, die die Welten trennt, jemanden suchen gehen.«

»Sie sind wirklich ein guter Mensch, Sir Max.«

»Erzählen Sie das aber niemandem, sonst kann ich nicht mehr normal arbeiten. So wie es ist, ist es für alle am besten. Die Verbrecher haben so große Angst vor meinem Mantel, dass sie keine größeren Untaten begehen.«

Die Erinnerung an den tödlich verängstigten Herrn Ploss ließ mich lächeln, und das brachte mich auf eine recht kluge Frage.

»Lady Tanita, denken Sie bitte scharf nach: Hatte Ihr Mann spezielle Pläne für den letzten Tag des Jahres? Könnte er sich vor dem Jahreswechsel noch die Erfüllung eines besonderen Versprechens vorgenommen haben? Hat er vielleicht ein außergewöhnliches kulinarisches Geheimnis knacken oder ein besonders raffiniertes Gericht kreieren wollen? Könnte es sein, dass er dieses Vorhaben in die Tat umgesetzt hat?«

Ich konnte mich schwer von meiner Lieblingshypothese trennen, wonach in Karris Tod ein unbekannter rebellischer Magister verwickelt war, denn ich hatte mich daran gewöhnt, dass hinter jedem außergewöhnlichen Gegenwartsereignis ein schweres Erbe der Vergangenheit steht. Vielleicht hatte der Wirt ja einem gefährlichen Magister ein Rezept entlocken wollen.

»Karri hat mich nicht in die Geheimnisse seiner Kochkunst eingeweiht. Er mochte es, mich zu überraschen. Wissen Sie, Sir Max, Karri fühlte sich ... na ja, wie ein Großer Magister. Und das war er auch, wenn er am Herd stand. Aber ich glaube, Sie haben Recht: In letzter Zeit hat Karri das Haus täglich für zwei, drei Stunden verlassen und hatte immer seine furchtbare weißblonde Perücke dabei. Und dann blieb er bis in die frühen Morgenstunden in der menschenleeren Küche. Und am letzten Abend wirkte er überaus zufrieden. Ja, Sir Max, ich glaube, Sie haben Recht: Karri dürfte ein fremdes Geheimnis geknackt haben.«

»Und Sie wissen natürlich nicht, wessen Geheimnis?«, fragte ich ohne große Hoffnung auf eine positive Antwort.

»Nein, Sir Max, wirklich nicht. Ich weiß bloß, dass Karri sich nur für die allerbesten Köche interessiert hat. Kennen Sie den Koch vom Gesättigten Skeletth-

»Natürlich, ich wohne doch gleich um die Ecke. Ihnen, Lady Tanita, kann ich es ja beichten: Als ich gemerkt habe, dass der Koch dort mit Schwarzer Magie zweiten Grades etwas übertreibt, hab ich gleich gedacht, dass man dort gut frühstücken kann.«

»Eben! So eine niedrige Stufe hat Karri nie interessiert. Das war unterhalb seiner Vorstellung von Kunst.«

»Nicht schlecht. Damit wird der Kreis der Verdächtigen deutlich kleiner. Sie erleichtern mir meine Arbeit wirklich sehr. Welche Wirtshäuser erfreuten sich denn der besonderen Wertschätzung Ihres Mannes?«

»Lassen Sie mich kurz nachdenken. Er hat die Konkurrenz nur ungern gelobt, aber das Fressfass und der Bucklige Itulo waren natürlich die allerbesten. Der Gefräßige Truthahn und der Dicke Mann an der Kurve gehörten auch dazu. Von den Wirtshäusern mit einem Skelett im Namen hat er nur am Tanzenden Skelett ein gutes Haar gelassen. Wissen Sie, der Koch dort hat irgendwann bei dem legendären Wagata Wach als Aushilfe gearbeitet. Karri hat immer behauptet, die besten Köche seien ohnehin bei reichen Leuten angestellt. Dort hätten sie Zeit genug für ihre Kunst und müssten sich nicht damit herumschlagen, eine Horde angetrunkener Dummköpfe zu ernähren, wie er zu sagen pflegte. Er träumte davon, Schuta Wach kennen zu lernen, den Sohn des großen Wagata, aber das war unmöglich. Die reichen Familien und ihre Köche - das ist wirklich eine geschlossene Gesellschaft. Vielleicht hat Karri sich ja in die Küche eines Privathaushalts eingeschlichen? Aber eigentlich glaube ich nicht daran. Das wäre selbst für ihn eine zu abenteuerliche Recherche gewesen.«

Vielen Dank, Lady Tanita. Jetzt weiß ich genug. Seien Sie mir bitte nicht böse, wenn ich mich irgendwann per Stummer Rede bei Ihnen melde. Mir kann stündlich eine dumme Frage in den Sinn kommen. Machen Sie sich also auf das Schlimmste gefasst.«

»Als ob es noch schlimmer werden könnte«, meinte Lady Tanita lächelnd. »Sir Max, ich kann niemanden sonst um Rat fragen - vielleicht können Sie mir ja sagen, was ich machen soll, um nicht verrückt zu werden, wie Sie es gestern genannt haben.«

»Was Sie machen sollen, weiß ich nicht. Ich weiß nur, was ich an Ihrer Stelle täte.«

»Nämlich?«

»Ich würde die Vergangenheit vergangen sein lassen und ein neues Leben beginnen. Ich würde also versuchen, alles zu ändern, also in eine andere Stadt ziehen, mindestens aber in ein anderes Haus. Ich würde die Arbeitsstelle wechseln, falls es sich irgend einrichten ließe. Ich würde mir neue Kleider kaufen und meine Frisur ändern, und ich würde mir sogar einen neuen Bekannten- und Freundeskreis aufbauen. Etwas in der Richtung jedenfalls. Außerdem würde ich so viel arbeiten, dass ich jeden Abend vor Müdigkeit aus den Latschen kippe. Dann würde der Schlaf mich suchen, nicht ich den Schlaf. Und schon nach einem Dutzend Tagen würde mir aus dem Spiegel ein Unbekannter entgegenblicken, der nicht annähernd so viel Unglück erlebt hat wie ich. Das ist ein dummer Rat, stimmt's?«

Lady Tanita sah mich überrascht an.

»Er klingt tatsächlich etwas seltsam, aber ich werde es versuchen, Sir Max. Das ist jedenfalls besser, als nach Hause zurückzukehren, wo Karri sowieso nicht mehr ist. Und was Sie da angesprochen haben ... Es ist so einfach, aber allein wäre ich nie im Leben darauf gekommen. Haben Sie schon mal nach Ihrem Rezept gehandelt?«

»Zweimal. Das erste Mal lief es nicht besonders, aber ich bin wenigstens nicht verrückt geworden. Doch beim zweiten Mal hatte ich damit großen Erfolg.«

»Als Sie aus den Leeren Ländern nach Echo gekommen sind?«

»Genau, aber ich hatte auch viel Glück. Hätte es damals nicht Sir Juffin gegeben ...«

»Wir hatten mit Ihnen viel Glück«, sagte Lady Tanita lächelnd. »Wenn sich sogar unter dem Todesmantel ein so netter Mensch wie Sie verbirgt, wird die Welt nicht so schnell untergehen. Ich fahre noch heute in die Neustadt und eröffne dort ein Wirtshaus. Da gibt es kaum Konkurrenz. Ich suche mir neue Mitarbeiter und werde mich entweder behaupten oder ruinieren. Und ich glaube, bis dahin hab ich mich an den Gedanken gewöhnt, dass Karri bloß verreist ist.«

»Sie sind ungemein tapfer, Unvergessliche«, sagte ich begeistert.

Dabei dachte ich, dass ich mir gern selbst so kluge Ratschläge geben würde, wenn mich das Schicksal mal wieder auf die Probe stellte.

Kaum war Lady Tanita verschwunden, ging ich ins Große Archiv. Dort warf Sir Lukfi Penz versehentlich einen Stuhl um, so gedankenverloren bewegte er sich zwischen den kichernden Buriwuchen. Melifaro saß in einem Sessel und schlenkerte genauso geistesabwesend mit den Beinen.

»Und?«, fragte ich schon auf der Schwelle.

»Nichts, absolut nichts«, gab Melifaro zurück und betonte dabei jede Silbe. »Kein einziger verrückter Magister hat sich bisher eine einfache Methode ausgedacht, schnell und lecker einen Festschmaus zuzubereiten. Apropos Essen: Ich bin bereit, mein Versprechen dir gegenüber auf der Stelle einzulösen. Und ob mit dir oder ohne dich, liebes Nachtantlitz - ich geh jetzt was futtern. Sonst gibt es noch eine Leiche.«

»Sir Lukfi, möchten Sie nicht mitkommen?«, fragte ich.

»Das ist leider nicht möglich, Sir Max«, antwortete unser Oberster Wissenshüter und breitete schuldbewusst die Arme aus. »Erstens muss ich bis zur Abenddämmerung hierbleiben, und zweitens besitzt meine Frau ein Restaurant, sogar ein sehr gutes. Als wir uns kennen lernten, hab ich ihr versprochen, nie in einem fremden Wirtshaus zu essen. Abgesehen vom Fressfass natürlich -wer für Sir Juffin arbeitet, kommt um den Laden ja nicht herum, und dafür hat Waruscha Verständnis. Ich hatte ihr eigentlich nur eine Freude machen wollen, doch nun bin ich an mein Versprechen gebunden.«

»Und wie heißt das Wirtshaus Ihrer Frau? Dort können wir ja auch mal essen.«

»Aber natürlich, Sir Max. Es heißt Der dicke Mann in der Kurve und liegt in der Neustadt. Wissen Sie, wo?«

»Na sicher!« Der Gedanke, dass die vergötterte Gattin von Sir Lukfi zum kleinen Kreis der Verdächtigen gehörte, verbesserte meine Stimmung und meinen Appetit.

Der Bucklige Itulo war das teuerste Restaurant von Echo und lag ziemlich weit vom Haus an der Brücke entfernt. Deshalb war ich dort erst zweimal gewesen.

Das erste Mal war ich zufällig dort gelandet. Damals war ich noch damit beschäftigt, mich in der Hauptstadt zu orientieren. Die Preise dieses Wirtshauses hatten mich erschüttert. Sie sind viel höher als im Fressfass, das auch nicht gerade billig ist. Klar, dass die astronomischen Preise meine Neugier weckten - ich musste unbedingt herausfinden, was man für so viel Geld bekam.

Mehr als alles andere hatte mich die Inneneinrichtung irritiert, denn es gab weder Theke noch Tische - nur einen breiten Korridor mit vielen Türen. Eine ältere, dunkelhaarige Kellnerin mit finsterem Gesicht hatte mir eine davon geöffnet. Dahinter befand sich ein kleines Separee mit rundem Tisch, auf dem ein Springbrunnen plätscherte. Die Kerzen erzeugten ein sehr anheimelndes Halbdunkel. Die Einrichtung hatte mich beeindruckt, und das Essen gefiel mir nicht minder. Ich hatte nur das Gefühl, zu wenig Gourmet zu sein, um alle Nuancen der ausgezeichneten Küche würdigen zu können.

Erst vor kurzem war ich zum zweiten Mal im Buckligen Itulo gewesen und hatte dort für Chuf ein wenig Gebäck gekauft.

Offenbar gehörte auch Melifaro nicht zu den Stammkunden.

»Ich fühle mich hier wie ein Dummkopf«, gestand er und nahm Platz. »Wie ein Dummkopf, der nichts anderes zu tun hat, als sich den Bauch mit Delikatessen vollzuschlagen.“

»Darum wollte ich ja hierher«, bemerkte ich trocken.

»Willst du dich auch wie ein Dummkopf fühlen?«

»Auf keinen Fall! Ich wollte nur, dass du merkst, wie teuer ich dich zu stehen kommen kann.«

»Sir Nachtantlitz, hast du etwas zu tief ins Kachar-Balsam-Glas geschaut? Ich will dir Gutes tun, und du machst dich über mich lustig? Du hast eine rätselhafte Seele, mein Kind der Leeren Länder.«

Die Tür öffnete sich, und der legendäre Itulo kam herein. Er war nicht nur für seinen Buckel bekannt, sondern auch dafür, alle dreihundert Gerichte auf der Speisekarte eigenhändig zuzubereiten. Darum mussten die Gäste enorm viel Geduld haben und mitunter mehr als drei Stunden warten.

»Lassen Sie bitte die Tür auf. Die Luft ist ein wenig dick.«

»Ich hab doch gesagt, dass du mit dem Balsam übertrieben hast«, meinte Melifaro und zwinkerte mir freundlich zu. Atemnot ist nämlich das erste Zeichen einer Überdosis.

»Zu den Magistern mit dir! Was würdest du wohl sagen, wenn du den ganzen Tag in diesem Aufzug verbringen müsstest«, meinte ich und wies mit Abscheu auf meinen Todesmantel.

»Herr Itulo! Wir lüften hier eins der größten Geheimnisse des Universums: Der Tod schwitzt! Allerdings nur manchmal.«

Melifaro verzog das Gesicht und gestikulierte vor der Nase des Wirts herum. Der gehörte allerdings nicht zu den humorvollsten Menschen von Echo, sondern lächelte lediglich pflichtbewusst und legte dabei einen Folianten auf den Tisch, der eher einer Gutenbergbibel ähnelte als einer Speisekarte.

Ich überließ Melifaro die Auswahl - schließlich würde er auch die Rechnung übernehmen. Und wenn ihm der Sinn danach stand, eine halbe Stunde seines kostbaren Lebens damit zu verplempern, den Unterschied zwischen der Pastete Kalter Traum und dem Braten Himmlischer Körper zu klären, wollte ich nicht so unmenschlich sein, ihm diesen intellektuellen Genuss zu verderben.

»Meine Herren, falls für Sie das Raffinement eher im Einfachen liegt, möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf diese Seite hier lenken«, sagte Itulo.

»Was können Sie jemandem empfehlen, der mürbes Pferdefleisch gewöhnt ist?«, fragte Melifaro listig.

»Na ja ... Ich habe einen ausgezeichneten Braten, den ich nach altem Rezept aus dem Herzen eines zu Tode gehetzten Pferdes zubereite. Das ist ein teurer Spaß, weil man das ganze Tier bezahlen muss. Sie können sich nicht vorstellen, meine Herren, was so ein Pferd kostet. Und dazu noch der, der es zu Tode reitet. Von den Gewürzen ganz zu schweigen.«

»Hast du darauf Lust, Max?«, fragte Melifaro etwas besorgt. »Bei dir will ich ja nicht geizen.«

»Ach komm«, murmelte ich. »Ich interessiere mich eher für das Raffinement des Einfachen. Außerdem ist es eine Schweinerei, Tiere so zu quälen.«

»Das finde ich auch, mein Steppenkind«, stimmte mir der Hobbyanthropologe erleichtert zu und vertiefte sich wieder in die Speisekarte. Der bucklige Wirt brummte etwas in seinen Bart, und mein Freund blätterte genüsslich die Seiten um. Ich verfolgte mit halbem Ohr den sich hinziehenden Dialog und wandte mein glühendes Gesicht dem kühlen Lüftchen zu, das vom Korridor hereinwehte. Und plötzlich ...

Sir Juffin Halli hatte wirklich Recht, was mein unerhörtes Glück anlangte: Das schwache Aroma, das ich nun witterte, war der gleiche merkwürdige Duft, den ich zuletzt in der Leichenhalle des Hauses an der Brücke geschnuppert hatte!

»Ich will das!«, rief ich und zeigte mit dem Finger zur Tür.

»Was möchten Sie?«, fragte der Wirt beunruhigt.

»Das, was da duftet. Und du willst es auch, stimmt's?«, meinte ich und sah Melifaro, der sich ebenfalls zur Tür gewandt hatte, bedeutungsvoll an.

Schon nach dem Bruchteil einer Sekunde zeigten seine dunklen Augen, dass er verstanden hatte.

»Ja, Herr Itulo, wir haben uns entschieden. Das riecht einfach fantastisch. Welche Nummer ist das?«

»Das geht nicht, meine Herren«, sagte der Wirt köpfschüttelnd. »Dieses Gericht steht nicht auf der Karte. Es wäre vergebens, danach zu suchen.«

»Wieso denn?«, fragte Melifaro und sprang auf.

»Es ist ein sehr teures Gericht.«

»Na prima«, rief ich. »Wir wollten doch was Teures probieren, oder, mein armer Freund?«

»Genau«, brummte Melifaro, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Wie dem auch sei, meine Herren - das ist leider unmöglich.« Der Wirt blieb unerbittlich. »Die Zubereitung dieses Gerichts dauert mindestens ein Dutzend Tage. Ich hab einige Stammgäste, die es im Voraus bestellt haben. Ich kann Ihnen natürlich entgegenkommen, aber Ihre Portion wird erst in ... nein, genau kann ich nicht sagen, wann sie fertig wird, da ich manche Zutaten sogar aus Arwaroch beziehe. In unserer Hemisphäre wachsen sie nicht. Ich kann Sie auf die Warteliste setzen, aber versprechen kann ich Ihnen nichts.«

»Na gut«, meinte ich abwinkend. »Bringen Sie uns was Einfaches mit Raffinement. Aber bitte auf keinen Fall Pferdeherz. Was die übrigen Details anlangt, verlassen wir uns ganz auf Ihren Geschmack.«

»Ich würde Ihnen zu den Nummern 37 und 39 raten, meine Herren«, sagte der Wirt sichtlich erleichtert. »Darauf müssen Sie höchstens eine Stunde warten, für hiesige Verhältnisse also sehr kurz. Was möchten Sie bis dahin trinken?«

»Kamra!«, rief ich.

»Kamra? Vor dem Essen? Aber Ihre Geschmacksknospen?«

»Dann nehmen wir noch einen Krug Wasser dazu, damit unsere Geschmacksknospen hübsch sauber sind,

wenn das wichtigste kulinarische Ereignis ihres Lebens auf sie zukommt. Und lassen Sie bitte die Tür auf - hier drin ist es sehr stickig.«

Kaum waren wir allein, konnte Melifaro sich endlich aussprechen.

»Es riecht wie bei uns in der Leichenhalle. Gelobt sei deine große Nase, Max!«

»Ich nehme das mal als Kompliment. Schon immer hab ich mir gewünscht, eine größere zu haben - so eine wie Juffin Halli.«

»Du hast wirklich einen furchtbaren Geschmack. Deine Nase ist doch der letzte Schrei«, stellte Melifaro fest.

»Na ja, besonders schön ist sie nicht gerade. Setz dich jetzt bitte mit Sir Kofa in Verbindung. Ich werde leider schnell müde, wenn ich Stumme Rede benutze. Sag ihm, wir haben hier den gleichen Duft gerochen wie in der Leichenhalle, und bitte unseren Meister des Verhörs, uns zu sagen, was er über die Sache denkt.«

»Ermüdet dich die Stumme Rede wirklich?«, fragte Melifaro erstaunt.

»Versetz dich doch mal in meine Lage«, konterte ich. »Hast du schon mal eine fremde Sprache erlernt?«

»Irgendwann schon. Es ist schwer, der Sohn meines Vaters zu sein, ohne seltsame Sprachen exotischer Dummköpfe büffeln zu müssen, die kein normales menschliches Idiom beherrschen.«

»Dann verstehst du mich also?«

»Ich bemitleide dich sogar. Deshalb also hört sich die Stumme Rede bei dir so seltsam an.«

»Na los, melde dich bei Sir Kofa Joch, du oberschlauer


neunter Band der Enzyklopädie von Sir Malifaro


Ich bin schon sehr gespannt darauf, was er sagt.

»Ich mach ja schon«, meinte Melifaro und setzte eine kluge Miene auf. Offenbar hatte er mit unserem Meister des Verhörs bereits Verbindung.

Nach einigen Minuten bekamen wir zwei Krüge gebracht - einen mit Kamra, den anderen mit Wasser -, und Melifaros Gesicht bekam wieder einen menschlichen Ausdruck. Sogar mehr als das, weil der Arme vor Informationen und Schlussfolgerungen beinahe platzte. Als die finstere Kellnerin verschwunden war, befand er sich am Rande einer Ohnmacht.

»Deine Nase ist einfach phänomenal!«, rief er begeistert. »Erstens glaubt Sir Kofa zu wissen, um welches Gericht es sich handelt, nämlich um die Pastete König von Bandscha. Dieser Leckerbissen ist schon seit langem legendenumwoben. Selbst in der Ordensepoche konnte nicht jeder Koch ihn zubereiten - und heutzutage erst recht nicht. Das Problem ist, dass dafür mindestens Magie zehnten Grades nötig ist. Itulo aber gehört zu den gesetzestreuesten Bürgern von Echo. Seit der Epoche des Gesetzbuchs hat er sich nicht das kleinste Vergehen zuschulden kommen lassen. Das ist recht widersprüchlich, findest du nicht? Sir Kofa Joch erzählt auch, die Sache mit der Pastete sei sehr geheimnisvoll. Diese Spezialität steht tatsächlich auf keiner Speisekarte. Auch unser Meister des Verhörs hat mehrmals versucht, sie zu bestellen, und man hat ihm immer versprochen, ihn auf die Warteliste zu setzen - genau wie uns. Aber unter den Bürgern unserer Stadt gibt es einige, die dieses Gericht gekostet haben. In letzter Zeit hat Sir Kofa mehrere Gespräche darüber aufgeschnappt. Und es gibt noch etwas Interessantes: Unter den Glückspilzen, die dieses Essen kosten durften, waren keine reichen Leute, sondern nur normale Bürger, die sich so ein teures Restaurant allenfalls einmal im Jahr leisten können. Und Itulo tut immer so, als ob unsere beiden Gehälter für den Besuch seines Lokals nicht ausreichen würden.«

»Kein Wunder - mit Leuten wie uns will er einfach nichts zu tun haben«, sagte ich nickend.

»Mit Mitgliedern des Geheimen Suchtrupps? Das ist vernünftig. Irgendwas stimmt mit dieser komischen Pastete nicht.«

»Waren das schon alle Neuigkeiten?«

»Wo denkst du hin! Weißt du, wo General Bubuta Boch gestern zu Mittag gegessen hat?«

»Sündige Magister! Doch wohl nicht hier?«

»Und ob, Max! Und nicht zum ersten Mal! Schon vor zwölf Tagen hat er diese Leckerei hier genossen. In letzter Zeit hat er nur noch hier gegessen.«

»Ich glaube, sein Gehalt ist nicht kleiner als unseres. Aber täglich hier zu futtern, geht doch wohl schwer ins Geld.«

In mir erwachte ein kleiner, geiziger Junge, der sich um Bubutas Portemonnaie sorgte.

»Er verdient weniger als wir, Max. Er bekommt nur die Hälfte dessen, was Geheimagenten verdienen. Wusstest du das nicht?«

»Nein. Die ganze Geschichte gefällt mir nicht, Melifaro. Hier passt nichts zusammen. Soweit ich weiß, geben Leute wie Bubuta ihr Geld ungern diskret aus. Und hier gibt es überall Separees. Mich stören zwar fremde Fratzen beim Essen, aber einen wie Bubuta doch nicht! Warum soll er so viel fürs Essen zahlen, wenn ihm nicht alle dabei Zusehen, wie er tafelt? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Bubuta allein in einer Spelunke sitzt und genüsslich jeden Bissen kaut.«

»Was ist denn eine Spelunke, Max?«, fragte Melifaro. »Du benutzt heute unglaublich viele merkwürdige Worte.«

Ich rieb mir die Schläfen. Was bedeutete Spelunke? Und warum besuchten die Helden meiner Lieblingsbücher - allen voran Sherlock Holmes - immer solche Orte? Ach, ja: weil sie Opium rauchen wollten! Und wie endeten ihre Besuche dort? Armer Bubuta! Aber wo konnte man in Echo Opium bekommen? Und wozu brauchte man es hier, da man doch jederzeit Erholungssuppe löffeln konnte? Ich begriff gar nichts mehr.

»Weiß Kofa zufällig, in welchem Zimmer Bubuta gegessen hat?«

»Ich frage ihn gleich.«

Melifaros Miene versteinerte erneut, aber diesmal nicht lange.

»Nicht schlecht«, meinte er dann. »Die Leute merken sich alles, wenn's um eine bekannte Person geht. Manche haben Bubuta mehrmals das letzte Zimmer verlassen sehen.«

»Ausgezeichnet«, sagte ich erfreut. »Ich habe Lust, auch dorthin zu gehen. Und du, Melifaro?«

»Das fragst du noch? Gehen wir gleich oder nach dem Essen?«

»Das ist mir egal. Hauptsache, es geschieht unauffällig.«

»Warum?«, fragte Melifaro erstaunt. »Es wäre doch interessant zu sehen, wer uns davon abzuhalten versucht.«

»Das würde ohnehin niemand tun. Aber ich möchte mich ungestört umsehen. Warum, weiß ich nicht. Wir Bewohner der Grenzgebiete sind rätselhafte Wesen.«

»Besonders, wenn sie mit Kachar-Balsam übertrieben haben. Na gut, Max - ich bin damit einverstanden, dass wir uns das Zimmer heimlich anschauen. Und wie sollen wir das deiner Meinung nach einfädeln?«

»Zuerst klopfen wir vorsichtig per Stummer Rede an, um sicherzugehen, dass es leer ist. Anderenfalls warten wir, bis die Gäste verschwunden sind. Jedenfalls müssen wir uns sputen, damit uns niemand erwischt. Überprüfst du das für mich?«

»Weil du es bist«, meinte Melifaro und meldete kurz darauf: »Dort sitzt ein Junge - offenbar eine echte Trantüte. Er hat nichts bemerkt und nicht mal gezuckt.«

»Glück gehabt! Dann können wir vorher ja noch was essen.«

»Das will ich hoffen, denn schon im Großen Archiv wäre ich vor Hunger fast gestorben. Und was sollen wir danach machen?«

»Nichts Besonderes. Wir warten ab, bis die finstere Kellnerin in der Küche oder irgendwo anders verschwindet, und gehen dann rüber, um nachzuschauen, wonach es dort riecht.«

»Wonach es dort riecht? Dann glaubst du also ...?«

»Ich glaube gar nichts. Wir müssen uns dort nur umschauen.«

Die finstere Kellnerin balancierte zwei Tabletts auf den muskulösen Armen. Genüsslich begannen wir zu essen. Das vom Wirt so gepriesene Raffinement des Einfachen war kein leeres Versprechen gewesen. Das merkte selbst ich.

»Versuch, dich ein wenig zu beherrschen«, bat ich Melifaro. »Iss bitte nicht alles auf, sondern lass was auf dem Teller.«

»Wieso das denn? Ach, ich verstehe: Du meinst, wir müssen länger bleiben. Keine Panik, die Transuse von Gast wird bald gehen. Ich beobachte ihn schon die ganze Zeit.«

»Prima. Dann darfst du unbeherrscht sein.«

»Vielen Dank«, antwortete Melifaro mit vollem Mund. »Ich glaube, wir können langsam rübergehen. Oder nein, warten wir noch ein wenig. Er ist im Korridor stehen geblieben. Umso besser. Ich wollte ohnehin noch einen Bissen zu mir nehmen. Jetzt aber los, Max. Die Gelegenheit ist günstig.«

Wir landeten im Flur und standen schon Sekunden später in dem Zimmer, in dem der berühmte General Bubuta Boch so oft gespeist hatte.

»Sündige Magister - der Geruch kommt ja direkt von hier!«, flüsterte Melifaro erstaunt. »Diese Trantüte hat womöglich den König von Bandscha verspeist, oder wie immer das Gericht heißen mag. Der Tisch ist längst abgeräumt, doch es riecht wie in der Küche.«

»Hier ist die Küche, Melifaro!«

»Nein, Max - die ist gleich rechts vom Eingang! Du hast doch gesehen, wohin der Wirt mit unserer Bestellung verschwunden ist.«

»Dann gibt es zwei Küchen«, murmelte ich. »Denk doch mal nach: So stark, wie es hier riecht, muss hier gekocht worden sein. Sag mir lieber, ob du klug genug bist, die Tür zu finden, die ein Dummkopf wie ich bis übermorgen suchen würde.«

»Die Geheimtür? Mal sehen, was sich machen lässt.«

Melifaro schloss die Augen und ging unsicheren Schritts durchs Separee. Mir stockte der Atem, weil ich jeden Moment damit rechnete, dass er gegen Tisch oder Stühle stoßen würde. Aber nein - er wich dem, was im Wege stand, akkurat aus, landete an der gegenüberliegenden Wand, ging dort auf alle viere und setzte seine Suche fort.

»Hier«, rief er schließlich und wandte mir sein lächelndes Gesicht zu. »Komm, Max, ich zeig dir was.«

Ich zuckte ein wenig zusammen, weil seine geschlossenen Lider im Halbdunkel grünlich schimmerten.

»Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes«, sagte ich, denn seine flimmernden Augen jagten mir so große Angst ein, dass ich auf Nummer sicher gehen wollte.

»Schlimm ist es nicht, aber unvermeidlich. Und jetzt komm.«

Ich ging zu ihm, beugte mich vor und untersuchte die Fläche, vor der er kniete.

»Und?«, fragte ich. »Das ist ja nur ein ganz normaler Fußboden ... Allerdings ist er ein wenig warm«, meinte ich dann und stellte erstaunt fest, dass er an einer Stelle sogar fast heiß war.

»Ein wenig warm? Hast du noch alle Tassen im Schrank?«, fragte Melifaro empört. »Such deine Tür doch nächstes Mal selbst.«

»Wozu wärst du dann noch nutze? Denk lieber daran, wie viel Zeit ich an deiner Stelle gebraucht hätte. Deine Methode ist einfach viel besser. Aber was hat es eigentlich mit dem heißen Fleck hier auf sich?«

»Den spürst du? Donnerwetter!«, rief Melifaro beeindruckt.

Ich konnte natürlich nicht zugeben, bisher nichts von dieser Fähigkeit gewusst zu haben.

»Soll ich die Tür jetzt auch aufmachen?«, fragte Melifaro leicht gereizt.

»Das wäre in deinem Interesse. Hat Juffin dir nicht erzählt, wie ich mal versucht habe, eine Schatulle zu öffnen, in der sich ein Geschenk des Königs befand?«

»Natürlich hat er mir das erzählt. Er hat uns alle gerufen und gesagt: »Liebe Leute, wenn ihr am Leben bleiben wollt, dürft ihr Sir Max nicht erlauben, in eurer Gegenwart auch nur eine Konservendose zu öffnen.« Darüber haben wir uns sehr erschreckt und lange geweint.«

»Eine Konservendose? Hast du Konservendose gesagt?«

Ich fand es erstaunlich, zugleich aber lustig, dass es auch in Echo solche Dosen gab. Na ja - wo hätte ich auch auf sie stoßen sollen? Bisher hatte ich schließlich vor allem in Restaurants oder bei Freunden gegessen.

»Worüber staunst du denn jetzt schon wieder?«, fragte Melifaro, winkte dabei aber schon ab und schob das heiße Stück Fußboden Richtung Wand.

Wir starrten in die Dunkelheit, aus der uns der leckere Geruch entgegenschlug.

»Also los«, sagte ich und seufzte. »Schade, dass das nicht der getarnte Eingang zur Küche des Wirtshauses ist.«

»Wie bei der Pforte zum Obstgarten des Siebenzackigen Blattes? Schön wär's, Max.«

Ich stieg eine schmale Treppe hinunter. Melifaro folgte mir auf dem Fuße und hielt nur kurz inne, um das heiße Stück Fußboden wieder über den Einstieg zu schieben.

»Du hast hoffentlich keine Orientierungsprobleme?«, wollte ich wissen.

»Wieso? Hast du welche?«

»Ich glaube schon. Und ehrlich gesagt sehe ich nichts.«

»Na schön. Dann gib mir die Hand, mein Unglück.«

Wir hielten uns an den Händen und kamen dem Ursprung des Geruchs immer näher. Allmählich merkte ich, dass mir irgendwie klar war, wann ich die Richtung wechseln musste, um nicht gegen eine Wand zu laufen, und wann ich die Beine zu heben hatte, um nicht gegen unsichtbare Hindernisse zu stoßen.

»Soll das ein Scherz sein?«, fragte Melifaro schließlich und versuchte dabei, mir seine Pranke zu entwinden. »Für solche Intimitäten ist jetzt nicht die richtige Zeit.«

»Schon lange träume ich davon, mit dir Hand in Hand zu gehen, und jetzt habe ich endlich einen Grund dafür gefunden. Aber jetzt Schluss damit. Ich habe wirklich keine Ahnung, ob ich mich im Dunklen zurechtfinden kann oder nicht. Was solche Dinge anlangt, weiß ich von mir nichts im Voraus.«

»Dafür bist du ein Glückspilz, weil du ein interessantes Leben führst. Aber bleib stehen - wir sind da. Jetzt bräuchten wir etwas Licht. Du rauchst doch, oder?«

»Soweit sich das Zeug rauchen lässt, das hier als Tabak gilt. Aber zum Glück habe ich Streichhölzer dabei, keine Sorge.«

»Sorge? Angst hab ich! Zünde also endlich deine Pfeife an. Das ist die einzige Lichtquelle, die wir hier haben.«

»Du willst mich wohl umbringen?«

Rasch stopfte ich meine Pfeife. Melifaros Idee war großartig. Ich brauchte nur einen kleinen Zug zu nehmen, da erhellte schon ein schwaches rötliches Licht die Dunkelheit. Wir standen auf der Schwelle zu einem kleinen Zimmer, das voller Schränke stand und sehr seltsam wirkte. Etwas Ähnliches hatte ich in meiner Heimat oft gesehen, nicht aber in Echo, wo die wenigen, stets eleganten Dinge des täglichen Gebrauchs Kunstwerken ähneln.

Da die Aufnahmekapazität meiner Lungen beschränkt war, standen wir bald wieder im Dunklen.

»Was war denn das?«, wollte Melifaro wissen und zupfte am Saum meines Todesmantels. »Mach noch einen Zug, Max, bitte.«

»Wenn du mir weiter solche Befehle gibst, bringe ich dir das Quarzen bei«, sagte ich gereizt. »Das ist ja beschämend - ein erwachsener Mann, der nicht rauchen kann!«

»Mit achtzehn hab ich die Pfeife meines Bruders geklaut, seine Tabakdose leer geraucht und mich dadurch fast vergiftet. Mach bitte noch etwas Licht, Max. Was liegt denn da vorn?«

»Du willst mich wohl tatsächlich umbringen«, sagte ich, trat an einen Schrank heran und nahm erneut einen mächtigen Zug. Sündige Magister! Das war ja gar kein Schrank - das war ein Käfig! Und darin lag ein Mensch und schlief anscheinend. Jedenfalls reagierte er weder auf uns noch auf meine Rauchwolken.

»Der ist weder tot noch lebendig«, konstatierte Melifaro. »Versuch es bei ihm mal mit Stummer Rede, Max. Das ist eine sehr interessante Erfindung. So kann man sogar mit einer Wurst reden.«

Der Teufel muss mir eingeflüstert haben, auf Melifaro zu hören. Die »sehr interessante Erfindung« erwies sich als die ekelhafteste Erfahrung meines Lebens. Zuerst hatte ich den Eindruck, selbst eine lebende Wurst zu sein, die die ganz und gar menschliche Fähigkeit hatte, über sich und ihr Schicksal nachzudenken. Ich war eine Wurst, die träumte, verspeist zu werden. Ich konnte mich partout nicht aus dem Spinnennetz dieses Wahns befreien. Dann spürte ich eine Ohrfeige, die so kräftig war, dass mir die Pfeife aus dem Mund flog, landete an der gegenüberliegenden Wand und prallte mit dem Knie schmerzhaft gegen einen weiteren Käfig.

»Was ist los mit dir, Max?«, fragte Melifaro mit zitternder Stimme. »In was wolltest du dich da eben verwandeln? Wer hat dir das gezeigt? Was passiert hier überhaupt!?«

»Das weiß ich selbst nicht«, seufzte ich, tastete nach meiner erloschenen Pfeife und hob sie auf.

Ein Zug aus der Pfeife erschien mir plötzlich ungemein erstrebenswert, denn bekanntermaßen rauchen Würste nicht. Der bittere Geschmack des Krauts, das man hier für Tabak hält, hätte mir bestätigt, ein Mensch zu sein. Ein paar Sekunden später allerdings wusste ich wieder, wer ich bin.

»Mein Freund, manchmal staune ich selbst über mich«, gab ich zu. »Und ich fürchte mich sogar vor mir. Vermutlich bin ich eine Gefahr für die Öffentlichkeit.«

»Vielleicht gehörst du ja zu den ehemaligen Großen Magistern, die mit Beginn der Epoche des Gesetzes in die Leeren Länder flüchteten. Womöglich hat Juffin dir eine neue Persönlichkeit eingepflanzt, und du hast deine Vergangenheit vergessen.«

»Das will ich nicht hoffen. Vielen Dank für die Ohrfeige - dadurch hast du mir wahrscheinlich das Leben gerettet. Hast du dieses Mittel schon an Toten erprobt? Vielleicht funktioniert es ja dort auch.«

»•Nichts zu danken, Max. Mir war schon lange danach, und plötzlich hatte ich einen guten Grund dafür. Aber was war mit dir los?«

••Ich hab versucht, den Mann im Käfig per Stummer Rede zu erreichen, und war dabei vermutlich etwas übereifrig. Statt - wie üblich - Magie zweiten Grades zu benutzen, hab ich wohl irgendwas im Hunderterbereich erwischt. Bei mir war das schon immer so: Selbst mein Rührei ist ständig versalzen.«

••Tja ... Aber schau dich um, Max. Dort vorn gibt's was Interessantes.«

Ich drehte mich um, entdeckte etwas im Käfig und sah es mir mithilfe meiner Pfeife genauer an. Sündige Magister! Das war ja wieder eine Pastete, die ihre menschlichen Konturen noch nicht ganz verloren hatte - eine sehr aromatisch riechende Pastete in Skaba und Lochimantel.

Meine Nerven waren kurz vor dem Zerreißen. Anscheinend waren wir auf eine ganz große Sache gestoßen, und das viel schneller als erhofft. Aber ich spürte darüber keine Erleichterung.

»Siehst du das?! Melifaro, er verarbeitet sie zu köstlichen Gerichten. Dieses Vieh! Melde dich per Stummer Rede beim Suchtrupp. Ich brauche dringend Lonely-Lokley - je schneller, desto besser.«

»Ja«, flüsterte Melifaro. »Und ich muss dringend aufs Klo. Mir ist kreuzübel, denn auch wir haben gegessen, was er gekocht hat.«

»Tu dir keinen Zwang an«, meinte ich ungerührt. »Aber ich glaube nicht, dass er uns Menschenfleisch vorgesetzt hat. Ich hoffe, der Bucklige hat nur ein einziges Spezialgericht und serviert es nur auserwählten Gästen.«

»Lonely-Lokley kommt gleich«, erklärte Melifaro. »Ich hab ihn gebeten, ein paar Polizisten mitzubringen. Max, was für ein Ekelfass haben wir hier eigentlich angestochen? Komm, sehen wir uns die übrigen Käfige an.«

»Willst du das wirklich? Ohne mich! Ich habe keine Lust, mich nach einem guten Essen zu übergeben. Ich bin anders erzogen.«

»Du machst wohl wieder Witze, Sir Nachtantlitz? Als ob es bei euch in den Grenzgebieten irgendein gutes Restaurant gäbe! Schlimmer, als es jetzt ist, kann es sowieso nicht werden. Vielleicht leben die Menschen in den anderen Käfigen ja noch.«

»Kann sein. Geh und schau dich um. Mir reicht's.«

Ich wandte mich von dem Ekel erregenden Spezialgericht ab und sog an meiner Pfeife. Der hiesige Tabak ist gar nicht so schlimm - Ehrenwort!

»Max, ich hab mich geirrt«, erreichte mich Melifaros Stimme, die mir enorm laut und hell erschien. »Es gibt etwas noch Schlimmeres. Komm und gib mir noch etwas Licht. Und schließ die Augen, wenn du das nicht sehen willst.«

Natürlich sah ich doch hin. Ich habe schon immer gewusst, dass meine Neugier mich zugrunde richten wird. Eine Pastete im Lochimantel sieht schon schlimm aus, aber wenn sie dann noch bis zur Gürtellinie verspeist ist, während die Beine intakt sind ... Sündige Magister! Zum Glück musste ich mich nicht übergeben, weil mein Magen sehr robust ist. Egal, wie viel Ekel er ertragen muss - er arbeitet unbeeindruckt weiter. Aber ich konnte mich nicht mehr auf den Beinen halten, sondern fiel zu Boden, als wäre ich kein Mensch, sondern eine volle Einkaufstasche.

Dann begriff ich, dass wir nicht mehr allein waren.

Alles war wie im Traum. Innerhalb von Sekunden zog -wie man so sagt - das ganze Leben an mir vorbei.

Ich sah eine bucklige, nicht eben große und ziemlich stämmige Silhouette sowie den Schatten einer Türklinke. Der Koch wollte in seiner Küche aufräumen. Er war aufgeregt und dachte nicht an die Folgen seines Tuns. Binnen Momenten begriff ich, dass auch ich im Käfig landen und als Pastete enden konnte. Dann erkannte ich, dass der bucklige Itulo verrückt war.

Der Koch hatte eine Axt und einen Seidenfaden dabei, mit denen man in Echo Truthähne schlachtet. Er war gekommen, uns brave Agenten zu töten, die wir uns zwischen seinen Käfigen herumtrieben. Von Anfang an hatte er nicht die leiseste Chance, aber das kümmert Wahnsinnige bekanntermaßen nicht.

Ich drehte mich noch mal nach den schrecklichen Folgen von Itulos Kochkünsten um. Sündige Magister! Er mochte so lecker kochen, wie er wollte: Menschen durften dafür nicht sterben - erst recht nicht auf so bestialische Weise.

Ich wollte böse werden, doch es klappte nicht. Ich blieb ruhig, und mir war sogar alles ziemlich egal. Die verflixten Atemübungen, die Lonely-Lokley mir beigebracht hatte, hatten aus dem nervösen Max einen entsetzlich ausgeglichenen Menschen gemacht. Also würde es keinen Wutausbruch geben. Solange ich aber gute Laune hatte, war Spucken zwecklos und allenfalls ein schlapper Bluff.

Dabei tat der Bucklige alles, um mich zu ärgern. Er rückte mir zu Leibe und fuchtelte mit seinem jämmerlichen Werkzeug herum. Ich vermute, seine Überzeugung, er könne mich und Melifaro mit seinen harmlosen Utensilien umbringen, war letztlich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Von Zorn allerdings konnte noch immer nicht die Rede sein. Dafür war ich nun in geradezu ausgelassener Stimmung.

Darum wollte ich den Koch lediglich erschrecken und zugleich Melifaro aufheitern, der erstaunlicherweise sehr ernst war.

Verschwörerisch zwinkerte ich in die Dunkelheit und spuckte unserem freundlichen Wirt genüsslich ins wutverzerrte Gesicht. Dann fuhr ich dem Fallenden mit der Handkante über den Hals, denn mir war klar geworden, dass es ohne Schläge heute nicht abgehen würde.

Was eine Schlange spüren mochte, deren Giftzähne sich im Leib ihres langsam schwächer werdenden Opfers verbeißen, ahnte ich inzwischen: nichts Besonderes.

Dann geschah, was früher oder später geschehen musste. Die wundervolle Gabe des Großen Magisters Machligl Anoch zeigte sich mit voller Kraft. Entgegen der Prognose von Sir Juffin passierte das, als ich weder erschrocken noch zornig war. Trotzdem brach der Koch bewusstlos zusammen: Meine Spucke hatte sich als zweifelsfrei giftig erwiesen.

»Wunder geschehen, Max, das weiß ich jetzt!«, rief Melifaro und sah mich total begeistert an. »Sündige Magister - du lässt ja die besten Traditionen der Ordensepoche Wiederaufleben! Ohne dich wäre es unglaublich langweilig.«

»Hab ich ihn tatsächlich umgebracht?«, fragte ich unsicher.

••Zweifelst du daran? Meinst du, du hast bloß »Hau ab« gesagt?«

Zum Glück war Melifaro nicht der Nervenschwächste und lächelte nun breit.

»Ich bin sehr froh«, erklärte ich stolz. »Ich habe noch nie so eine Schweinerei gesehen. Gäste zu wahnsinnig überzogenen Preisen mit derart ekligem Zeug abzuspeisen! Der Alte hat mir für längere Zeit den Appetit verdorben, aber er hat seine gerechte Strafe bekommen. Übrigens hab ich deinen Geldbeutel geschont. Vorausgesetzt, du hast noch nicht bezahlt.«

»Das ist ein guter Trick, die Zeche zu prellen. Ich vermute, der Große Magister des Ordens der Riesenwurst wollte dich in Scheiben geschnitten servieren. Und vermutlich hätte es dazu eine Soße aus meinem Blut gegeben.«

»Ich wüsste nur gern, warum Karwen Kowareka sich zu Hause und nicht hier im Käfig in eine Pastete verwandelt hat.«

»Ach, lass den Quatsch doch auf sich beruhen, Max. Du hast unschuldige Leute umzubringen - ich kümmere mich um den Rest. Und glaub mir: In zwei, drei Tagen kann ich all deine Fragen beantworten. Ich melde mich jetzt bei Lonely-Lokley und sage ihm, dass er ruhig ins Fressfass gehen kann. Du hast dem armen Mann Arbeit weggeschnappt. Was ich jetzt allerdings bräuchte, wäre ein Dutzend Leute von Bubuta Boch. Die könnten mir nämlich beim Verhör helfen.«

»Du hast Probleme! Ich glaube, du musst alles mit dem Chef der Polizei besprechen«, sagte ich und lächelte bitter. »Bist du darauf noch nicht gekommen, du Genie?«

»Du denkst ...«

»Ich denke gar nichts. Das ist schließlich deine Arbeit. Meine Aufgabe ist es, Unschuldige zu töten. Aber General Bubuta Boch hat hier zu Mittag gegessen und ist danach verschwunden. Nimm also meine Pfeife, solange sie noch glüht, und schau dich nach ihm um. Wenn er schon zur Pastete geworden ist, überraschen wir Sir Juffin damit - vielleicht, indem der Ehrwürdige Leiter etwas Besonderes zum Abendbrot bekommt.«

»Zu den Magistern mit dir, Max. Du bist wirklich hundsgemein! Gib mir lieber deine Pfeife.«

Nach ein paar Minuten rief Melifaro nach mir.

»Bubuta liegt hier hinten und sieht ganz gut aus. Ich glaube, er fühlt sich nicht wie eine Wurst - er schläft nur.«

»Er ist ja auch erst seit vorgestern hier, und es dauert ein paar Tage, sich in eine Pastete zu verwandeln. Schade - ohne mein wahnsinniges Glück hätten wir Juffin eine große Freude machen können. Aber das ist anscheinend Schicksal.«

»Was geht hier vor? Sind Sie das, Sir Melifaro?«, drang die Stimme von Leutnant Schichola durchs Dunkel. Er war der beste Polizist von Echo und ein Freund von uns.

»Ja, ich bin hier. Meine Herren, seien Sie bitte still -Ihr Chef schläft.«

»Unser Chef?«

Schichola beschleunigte seinen Schritt und stolperte über die Leiche des Kochs. Ich konnte ihn gerade noch auffangen, sonst wäre er mit dem Gesicht auf den Boden geschlagen. Ein Kollege von ihm wich dem Hindernis rechtzeitig aus, und ein paar Polizisten fluchten erschrocken. Melifaro dagegen quietschte vor Lachen.

»Meine Herren, passen Sie bitte auf!«, rief ich und versuchte, möglichst ernst zu klingen. »Ich empfehle Ihnen, nicht zu schießen. Der Tod kann sehr gefährlich werden, wenn man ihn erschrickt.«

»Vielen Dank, Sir Max«, murmelte Schichola und befreite sich aus meinem Griff. »Worüber bin ich eigentlich gestolpert?«

»Über die Leiche eines Verbrechers. Was Sie hier sehen, ist ein Giftmörder und Kannibale. Und er ist der Entführer von General Bubuta. Herr Itulo hat sich sehr bemüht, Ihnen das Leben leicht und angenehm zu machen, meine Herren, Ehrenwort. Sir Melifaro und ich bedauern sehr, Ihren Chef gerettet zu haben. Wir stehen schuldbewusst vor Ihnen. Nehmen Sie ihn also bitte unversehrt wieder mit.«

»Nicht wir, sondern nur du, Max, stehst schuldbewusst vor Leutnant Schichola«, mischte Melifaro sich ein. »Ich bin bloß zum Essen hergekommen. Also, meine Herren - falls Sie die Retter Ihres Chefs vermöbeln wollen, wenden Sie sich bitte ausschließlich an Sir Max. Und bitte nacheinander!«

Die anwesenden Polizisten sahen Melifaro mit großen Augen an. So über einen Menschen zu reden, der den Todesmantel trug, war für sie nicht mehr kühn, sondern grenzte an Selbstmord. Ich zog eine schreckliche Fratze und zeigte Melifaro die Faust, damit die Polizisten keinen allzu lockeren Eindruck von mir bekamen. Wie hätte ich ihnen sonst weiterhin Angst und Respekt einflößen können?

»Meine Herren, ich will Sie nicht weiter stören«, sagte ich und verbeugte mich vor Melifaro. »Arbeiten Sie ruhig weiter.«

»Und du?-, fragte Melifaro erstaunt.

»Was soll ich noch hier? Ich werde Juffin die gute Nachricht überbringen. Bis du zu uns stößt, hat er mich bestimmt umgebracht. Danach beruhigt er sich gewiss wieder. Ich rette hier also dein Leben - schließlich bin ich unsterblich.»

Als die armen Polizisten das hörten, klappte ihnen endgültig die Kinnlade runter.

An der Türschwelle erreichte mich Melifaro per Stummer Rede: »Meinst du das mit der Unsterblichkeit ernst, Max?“ Ich seufzte und gab per Stummer Rede - vor der ich mich fast den ganzen Tag erfolgreich gedrückt hatte -zurück: »Vielleicht. Ich hab dir doch schon früher gesagt, dass ich nicht weiß, welche Eigenschaften ich besitze.«

Dann brach ich zum Haus an der Brücke auf. Ich wollte unbedingt meinen Chef treffen. Und auch Lady Melamori hatte ich seit dem frühen Morgen nicht mehr gesehen.

Ich setzte mich ans Steuer unseres Dienst-A-Mobils und stand schon zehn Minuten später im Büro von Sir Juffin.

»Max, ich hätte nicht gedacht, dass du Bubuta schon Sekunden nach Sonnenuntergang findest. Das ist Geschwindigkeitsrekord für unsere Dienststelle. Du hast den Fall in kaum einer Minute gelöst - jedenfalls, wenn man davon ausgeht, wann er uns offiziell übergeben wurde. Es gibt also etwas zu feiern - darum ab ins Fressfass Du brauchst dich übrigens nicht umzuschauen: Lady Melamori ist schon vor zwei Stunden nach Hause gegangen. Ich habe sie heimgeschickt. Weißt du, zuerst war da die Sache mit ihren Verwandten, und dann kam dein lästiger Einsatz im Morgengrauen. Vielleicht war ich zu gutmütig mit ihr, aber gehen wir.«

»Hat Melifaro sich per Stummer Rede bei Ihnen gemeldet, als ich hierher unterwegs war?«, rief ich und sah ihn überrascht an. »Ich befürchtete schon, meine Zunge würde Muskelkater bekommen, weil ich Ihnen so viel erzählen müsste.«

»Stumme Rede? Melifaro? Wovon redest du da, Max? Und wozu sollten Berichte Dritter gut sein? In gewisser Weise bin ich immer bei dir. Und zwar nicht, um dich zu kontrollieren, sondern aus Anteilnahme. Aber beruhige dich - wenn du ins Bad gehst, wende ich mich ab.«

»Sie sind ständig bei mir? Das ist ja ein Skandal!«

»Ach, Max, übertreib doch nicht immer gleich so. Es würde mich verrückt machen, dich die ganze Zeit zu beobachten. Aber wenn ich unruhig bin, muss ich mich nun mal vergewissern, dass es dir einigermaßen gut geht. Also entspann dich wieder.«

»Na ja, wenn Sie mir im Bad wirklich nicht zuschauen, mag das gehen. Aber sind Sie tatsächlich manchmal unruhig?«, fragte ich skeptisch und ... stieß mit dem Kopf an den Türpfosten. Juffin wirkte sehr zufrieden.

»Glaubst du etwa, nur dein Herz könnte Unannehmlichkeiten Vorhersagen?«, fragte er.

Schließlich hatte er Erbarmen und heilte meinen verbeulten Kopf mit einer lässigen Geste.

»Jetzt lass uns gehen. Wenn du den Türpfosten länger ansiehst, verschwindet er womöglich. Und sei nicht so rachsüchtig, Max. Übrigens müssen wir über einige unangenehme Dinge sprechen. Du hast zwei große Fehler gemacht, die dich - wenn du kein Glückspilz wärst - teuer hätten zu stehen kommen können.«

»Fehler?«, fragte ich zweifelnd. »Ich dachte, Sie würden mich loben.«

»Das tu ich ja. In unserer Arbeit ein Glückspilz zu sein, ist besser, als alles zu durchschauen. Außerdem lässt sich Glück nicht erlernen. Jetzt sei nicht eingeschnappt, mein Junge! Auch ohne mich weißt du doch um deine Genialität und ihre Folgen. Was willst du essen?«

»Nichts«, sagte ich mit Abscheu. »Ich hoffe, das verstehen Sie. Nach allem, was ich gesehen habe ... na ja, höchstens eine Pirogge - aber ohne Fleisch.«

»Bist du so empfindlich? Willst du erst noch was trinken?«

»Nein ... oder besser doch.«

»Du wirst noch an diesem Gesöff sterben. Und jetzt trink - aber nur ein wenig«, sagte Juffin und reichte mir die ersehnte Flasche Kachar-Balsam.

Ich lächelte dankbar und nahm ein Schlückchen. Mehr brauchte ich davon sowieso nicht.

»Erzählen Sie mir von meinen Fehlern, Juffin. Ich bin bereit, mich öffentlich verprügeln zu lassen.«

»Erstens, Max, hast du vergessen, Sir Kofa zu sagen, er solle in die Leichenhalle gehen und dir berichten, wonach es dort riecht. Er hätte dir gleich sagen können, dass er den Duft aus dem Restaurant Buckliger Itulo kennt. Dann wären wir auch ohne dein Riesenglück prima klargekommen. Wie kamst du eigentlich auf die Idee, dort essen zu gehen?«

»Intuition«, sagte ich stolz, hielt meine Pose aber nicht durch, sondern begann zu kichern. »Alles Lüge, Juffin. Pure Dummheit war das. Melifaro hat mich eingeladen, weil er in meinem Haus zu Gast war. Und da habe ich mich für das teuerste Restaurant entschieden.«

»Verstehe. Ich hatte mich schon lange nicht mehr so gewundert. Ist dir, was Kofa Joch angeht, dein Fehler denn klar?«

»Natürlich«, seufzte ich. »Das war eine große Dummheit.«

»Na ja, so was kann jedem mal passieren.«

»Und was habe ich noch verkehrt gemacht?«, fragte ich vorsichtig.

»Sonst nichts. Ihr beide habt die Gefahr, in der ihr euch befunden habt, gar nicht gespürt. Weißt du, dass der Koch euch hat vergiften wollen? Und zwar von Anfang an? Er war überzeugt, ihr wärt gekommen, um Bubuta zu suchen. Auch Verrückte haben ihre Logik. Das hab ich allerdings erst spät durchschaut - vielleicht, weil Wahnsinnige nun mal schwer zu begreifen sind. Er ist auf die Idee gekommen, als du den Duft seiner Pastete gerochen hast. Itulo wollte euer Essen mit einer großen Portion Gift versetzen.«

»Und?«, fragte ich dumm.

»Und nichts. Ich wollte mich schon einmischen, aber der Koch hat einfach verschwitzt, das Gift unters Essen zu rühren. In der Küche hat er seine Mordpläne schlicht und einfach vergessen. Also hattet ihr wiederum Glück, und ich konnte nur staunen. Seit fünfhundert Jahren hab ich nicht so gestaunt. Dass ein Mörder sein Gift einzusetzen vergisst, passiert eben nicht jeden Tag, verstehst du?«

»Sie haben doch selbst immer wieder erklärt, ich sei ein Glückspilz«, sagte ich achselzuckend und beschloss, endlich die Frage zu stellen, die mich seit langem beschäftigte. »Sie haben von fünfhundert Jahren gesprochen. Wie alt ...«

Wie alt ich bin? Jünger als man vermuten könnte. Ich bin siebenhundert Jahre alt - und ein paar Zerquetschte. Im Vergleich zu Sir Maba Kaloch bin ich also ein Jüngling.«

»Und ein paar Zerquetschte?«, meinte ich und schüttelte beeindruckt den Kopf. »Bringen Sie mir noch ein paar von diesen Ausdrücken bei?«

Und wer hat den armen Melifaro mit seiner Unsterblichkeit erschreckt? Wenn einer darauf verzichten kann, von mir coole Sprüche zu lernen, dann ja wohl du.«

»Habt ihr gewartet?«

Ein himbeerroter Komet kam ins Fressfass gejagt und nahm neben mir Platz. Melifaros Geschwindigkeit erschütterte mich. Dieses Naturwunder hatte es sogar geschafft, sich umzuziehen.

»Alles in Ordnung, Sir Juffin. Ich kann mir vorstellen, wie irritiert Sie sind, aber wir haben ein paar garantiert bubutafreie Tage vor uns. Der General wurde zu Abilat Paras gebracht, und selbst dieser bedeutende Heiler hat gemeint, er werde Tage brauchen, um ihn wieder gesund zu machen, und das werde schwierig sein. Dabei hat er viel Glück gehabt! Die übrigen Opfer in den Käfigen kann man gleich begraben, denn ihre Veränderung ist unumkehrbar. Und wie der bucklige Koch sie angelockt hat! Ich weiß nicht, ob ich darüber lachen oder weinen soll.«

»Lachen natürlich - das steht dir besser«, riet Juffin. »Trink ein wenig, mein Armer. Etwas zu essen, rate ich dir nicht - auch Max drückt sich davor.«

»Na ja, vielleicht probiere ich etwas Süßes«, meinte Melifaro. »Nur kein Fleisch.«

»Wie sehr mein Tages- und mein Nachtantlitz sich ähneln - wer hätte das gedacht!«, sagte Juffin lächelnd. »Ihr Lieben, probiert doch einfach mal diese vegetarischen Piroggen. Ich ziehe etwas Kräftigeres vor.«

Unser Chef nahm vorsichtig den Deckel vom Topf. Darunter kam die ausgezeichnete Pastete von Madame Zizinda zum Vorschein. Melifaro und ich tauschten einen Blick und griffen, um uns abzulenken, nach der Schüssel mit den süßen Piroggen.

»Nun erzähl mal, Junge«, verlangte Juffin mit vollem Mund. »Max platzt beinahe vor Neugier, und auch ich muss zugeben, dass mir noch manches unklar ist. Wie hat der Bucklige seine Opfer eigentlich angelockt?«

»In der Stadt gibt es seit langem Gerüchte über die merkwürdige Pastete. Und viele Leute sind zu Itulo gegangen, um dieses Geheimnis der alten Küche zu probieren. Der Bucklige hat es tatsächlich geschafft, die Pastete ohne verbotene Magie zuzubereiten. Er war wirklich ein Genie. Ich hab seine Unterlagen gefunden, und die Polizei hat seine Mitarbeiter verhört. Deshalb lässt sich mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, wie das Ganze abgelaufen ist. Der Koch hat die Feinschmecker auf eine Warteliste gesetzt, eingekauft und dann einige auf der Liste benachrichtigt. Dabei hat er bevorzugt alleinstehenden, wohlhabenden Leuten die seltsame Delikatesse serviert. Wisst ihr, wie das Zeug wirkte? Manche Leute - natürlich nicht alle, sondern nur die Schwächeren - haben nach dem Probieren gemerkt, dass sie ohne dieses Gericht nicht mehr leben konnten. Und wenn so ein Gast mitten in der Nacht bei Itulo erschien und auf Knien um eine kleine Portion Pastete flehte, stellte der Koch fest, dass er wieder ein Opfer angelockt hatte. Er hat sie gezwungen, schweres Geld für den Genuss hinzublättern. Die Leute gerieten in die Schuldenfalle und mussten all ihre Immobilien verkaufen. Einer hat zum Beispiel zwei Häuser verscherbelt, das weiß ich genau. Innerhalb kurzer Zeit hat der Koch die Leute an den Bettelstab gebracht. Dann kam der entscheidende Schritt: Eines schönen Tages schlief der Gast über seiner Pastete ein. Besser gesagt, er fiel in Ohnmacht. Für den Koch war es nicht schwer, die Bewusstlosen in einen der Käfige im Keller zu schaffen. Damit begann die zweite Etappe des Mästens. Die Gefangenen bekamen dort unten ein anderes Futter, eine wunderbare Erfindung des großen Kochs, die der vergötterten Pastete in Geschmack und Geruch ähnelte, aber eine viel radikalere Wirkung hatte. Und schon nach wenigen Tagen besaß der Koch eine frische große Portion der Pastete König von Bandscha für neue Feinschmecker. Was werden die jetzt bloß tun?«

»Sie werden zu Heilerinnen gehen müssen«, meinte Juffin achselzuckend. »Besser spät als nie. Die Pastete hat die Gäste also bewusstlos gemacht, und dann bekamen sie im Käfig etwas vorgesetzt, das sie in eben diese Pastete verwandelte? Ein hübscher Teufelskreis! Und das alles wurde ohne verbotene Magie geplant und durchgeführt? Dieser Itulo hatte wirklich Talent. Wie schade, dass er es verplempert hat.«

»Der arme Karwen«, sagte ich. »Die Lust, kulinarische Geheimnisse zu entdecken, hat sich für ihn als tödliches Hobby erwiesen. Bestimmt ist er in die geheime Küche im Keller eingedrungen und hat dort einen Bissen verschlungen, der nach der Pastete König von Bandscha gerochen hat. Den Rest hat er mit nach Hause genommen, dort untersucht und dann natürlich gegessen - und zwar aus Begeisterung gleich ganz. Das war keine gute Idee.«

»Karwen? Ach so, der unglückliche Wirt der Trunkenen Flasche«, sagte Sir Juffin seufzend. »Leute, das Jahr fängt nicht gut an. In Echo gibt es zwei ausgezeichnete Köche weniger. Man muss etwas unternehmen.«

»Aber irgendwas stimmt da nicht«, meinte ich. »Wenn der Koch seine Opfer tatsächlich so sorgfältig ausgewählt hat, wie hat dann General Bubuta in diese Geschichte geraten können? Er ist doch nicht alleinstehend. Außerdem ist er der Chef der Polizei! War der bucklige Koch denn nicht mehr bei Sinnen?«

»Gesund war er auf keinen Fall, aber darum geht es nicht. Es ist nur ein lustiges Missverständnis passiert. Eines Tages ist Bubuta mit seiner Gattin bei Itulo gelandet. Es war ein nettes Familienfest, und alles lief prima, bis unser General in einer abgelegenen Ecke Sir Balegar Lebed entdeckte, einen ehemaligen Kollegen und alleinstehenden General der Königlichen Garde. Das war der, dessen Anblick mich heute so fertiggemacht hat.«

»Weil er bereits bis zur Gürtellinie aufgegessen war?«

»Genau. An jenem Abend bekam er seine unglückliche Liebe zum letzten Mal serviert. Die Tür stand auf, Bubuta sah seinen alten Kollegen und ging ihn begrüßen. Dann nahm er - als Zeichen alter Freundschaft -ein Häppchen von Lebeds Teller. Und am nächsten Tag war unser General wieder beim Koch und verlangte nach der herrlichen Pastete, von der er zufällig gekostet hatte. Der Bucklige hat erst versucht, ihn zu einer Heilerin zu schicken, weil er die Gefahr sofort erkannt hat, doch Bubuta hat getobt.«

»Das kann ich mir gut vorstellen«, sagte Juffin lächelnd.

»Der Koch musste befürchten, er werde ihm die Polizei auf den Hals hetzen, und entschied sich für das kleinere Übel. Ach übrigens - ich hab die Rechnungen gesehen: Für Bubuta war der Genuss fast gratis, jedenfalls im Vergleich zu dem, was andere gezahlt haben. Das ist schon die ganze Geschichte, Max.«

»Nicht ganz«, mischte Juffin sich ein. »Das Interessanteste kommt noch, denn jetzt müssen wir die Reputation unseres tapferen Generals retten, und ihr werdet ihm eure Lorbeeren überlassen müssen.«

»Wieso das denn?«, fragte ich ungehalten. »Wir hatten uns schon ausgemalt, er würde aufs Altenteil gesetzt. Und dafür hätte es einen großartigen Grund gegeben.«

»Max, lass besser die Finger von der Politik. Sieh dir lieber mein Tagesantlitz an ... Oder nein, schau es doch nicht an, denn ich sehe auf seinem Gesicht nur ein dummes Staunen. Na, Melifaro, du wenigstens solltest begreifen, warum wir General Bubuta schonen müssen.«

»Sie wollen also sagen ...«, begann Melifaro. Ihm dämmerte langsam, worauf Juffin hinauswollte.

»Natürlich. Bubuta zu entlassen hieße, die Stadtpolizei zur Lachnummer von ganz Echo zu machen. Wie sollen seine Leute dann arbeiten? Wer soll ihre Aufgaben erledigen? Wir vielleicht? Schönen Dank! Außerdem gilt auch für Bubuta: keine Rose ohne Dornen. Dem König schreiben wir einen hübschen Bericht, wie unser tapferer General in die Hölle abgestiegen ist, um den Verbrecher zu überführen, und die richtige Version behalten wir für uns. So machen wir uns Bubuta gefügig. Max hat dem General ja schon früher einen nervösen Tick zugefügt. Also, meine Herren - das Leben ist schön.«

»Und ich dachte, Sie würden uns den Kopf abreißen, weil wir den General so rasch gefunden haben«, seufzte ich enttäuscht. »Sie sind recht intrigant, Sir.«

»Intrigen, Max, sind das Spannendste. Magie allein reicht nicht, um sich zu vergnügen. Ach, da ist ja Sir Schürf. Ich wüsste gern, wo mein Büro ist - im Haus an der Brücke oder hier im Fressfass-

»Da zweifeln Sie noch?«, fragte Melifaro und klimperte unschuldig mit den Wimpern.

»Guten Abend, meine Herren«, sagte Schürf Lonely-Lokley, verbeugte sich würdevoll und setzte sich neben Juffin. »Störe ich?«

»Hatten Sie Sehnsucht nach uns, Lonkey-Lonkey?«, fragte Melifaro listig. »Hat Ihnen dieses unmenschliche Nachtantlitz nichts zu tun gegeben?«

»Mein Name ist Lonely-Lokley«, sagte der Schnitter des Lebensfadens gelassen. »Und unser Kollege heißt Max. Sie haben ein furchtbares Namensgedächtnis, Melifaro. Vielleicht sollten Sie ein paar Übungen machen, um es zu verbessern.«

Sir Schürf schob das Sahnehäubchen von seiner Pirogge und steckte sie in den Mund. Ich war erschüttert. Begann Lonely-Lokley etwa, Humor zu entwickeln? Oder bildete ich mir das nur ein? Schließlich ist Humorlosigkeit schlicht untherapierbar.

»Haben Sie tatsächlich Ihre giftige Gabe benutzt, Sir Max?«, fragte Lonely-Lokley interessiert. »Ich hätte erwartet, dass es Ihnen beim gegenwärtigen Stand unserer Gelassenheitsübungen schwerfiele, das seelische Gleichgewicht zu verlieren. Aber da hab ich wohl Ihr Temperament unterschätzt.«

»Ach, mit meinem Temperament ist alles in Ordnung. Aber es ist etwas Schreckliches passiert. Sir Juffin, das wollte ich Ihnen längst erzählen, hab es aber immer wieder vergessen. Ich war weder erschrocken noch sauer, obwohl ich wusste, dass es angesichts der Umstände viel besser gewesen wäre, sich aufzuregen. Aber der Koch erschien mir so ulkig mit seiner Axt und seinem dummen Lächeln. Und dann dachte ich mir, nach all den Gerüchten über meine giftige Spucke würde ihn auch meine normale Spucke erschrecken. Gut, dass ich nicht früher auf diese Idee gekommen bin.«

»Ist das dein Ernst, Max?«, fragte Juffin, sah mich mit seinen eisblauen Augen tief erschrocken an und seufzte schließlich. »Offenbar machst nicht nur du Fehler, sondern auch ich. Andererseits ist es nicht so schlimm, dass Leben und Tod nicht von deinen Emotionen abhängen -du bist einfach immer gefährlich. Gut, dass du das jetzt weißt. Wir müssen die Dinge nehmen, wie sie sind. Habt ihr beide es euch hinsichtlich der Pastete vielleicht anders überlegt?«

Melifaro und ich schüttelten den Kopf.

»Ihr seid mir ja zwei Kokette! Möchtet ihr, dass ich euren Geisteszustand überprüfe? Wollt ihr vielleicht Sonderurlaub?«

»Daran denke ich absolut nicht«, erklärte ich tapfer. »Erst recht nicht, wenn Sie mir erlauben, mich aus einer gewissen Schublade Ihres Schreibtischs zu bedienen.«

»Schön wär's! Die Portion, die du dir schon heimlich genehmigt hast, reicht garantiert bis übermorgen«, sagte Juffin, weil er wie ein strenger Chef wirken wollte. -Gut, machen wir Schluss. Dein Glück, Melifaro, denn du kannst jetzt nach Hause gehen. Und Sie, Sir Schürf, hält auch niemand davon ab, sich zu erholen. Dieses schreckliche Jahresende ist uns allen in die Knochen gefahren. Allen außer Sir Max. Wer schiebt daher jetzt im Haus an der Brücke Dienst? Ahnst du es schon, mein Held?«, fragte Juffin und schaute mich so bedeutungsschwanger an, dass ich begriff: Auf mich wartete noch etwas Spannendes.

»Dann geh ich also jetzt.«

Als ich vom Tisch aufstand, fiel mir noch etwas ein, und ich lächelte listig.

»Melifaro, du musst mich schon wieder einladen. Soweit ich weiß, hast du bei Itulo nämlich nicht bezahlt.«

»Kaum verlässt du ein Restaurant, denkst du schon ans nächste Lokal. Hast du außer Essen sonst noch was im Kopf?«

»Natürlich, mein Freund. Ich interessiere mich auch für meine Katzen.«

»Das sind aber sehr einseitige Interessen, Sir Max«, meinte Lonely-Lokley bedrückt. »Dabei gibt es so viele wunderbare Beschäftigungen! Wie wär's denn mal mit Lesen?«

»Haben Sie mir etwa geglaubt, Schürf?«, fragte ich und verließ das Lokal, während Juffin und Melifaro amüsiert kicherten. Nur Lonely-Lokley wünschte mir ungerührt eine Gute Nacht.

Kaum war ich im Büro, nahm Sir Juffin per Stummer Rede mit mir Kontakt auf.

»Ich konnte dich nicht nach Hause gehen lassen. Du musst in meinem Sessel schlafen, und zwar bis zum Morgengrauen. Das ist kein Witz! Ansonsten mach, was du willst. Ende.-*

Ich war verblüfft. Mir war nicht nach Schlafen zumute, doch der Befehl »Mach, was du willst!« klang verlockend. Ich dachte ein wenig nach und meldete mich dann per Stummer Rede bei Lady Melamori. Zu meinem Glück war sie noch wach.

»Ach, Unvergessliche, es tut mir so leid! Wir haben gerade diesen komischen Fall abgeschlossen. Also ist mein Befehl, mit mir alle Lokale von Echo zu besuchen, nicht mehr gültig.«

»Das weiß ich schon, Max. Aber vielleicht hatte der Koch ja Komplizen, die die Pastete König von Bandscha inzwischen in meinem Lieblingscafe auf dem Platz der Siege von König Gurig VII. zubereiten. Und Sir Kofa hat schon vor mir Feierabend gemacht. Wenn Sie mich also einladen ...«

»Natürlich lade ich dich ein. Und wenn wir nicht gleich aufbrechen, bricht sicher das Vereinigte Königreich zusammen. Allein kann ich nicht in dieses Cafe gehen, weil ich große Angst vor Dunkelheit habe. Ende, Unvergessliche. Ich warte.«

Skeptisch schüttelte ich den Kopf. Das war viel zu glatt gegangen.

Eine halbe Stunde später erschien Lady Melamori und musterte mich belustigt und aufgeregt zugleich. So was brachte nur sie fertig.

»Wir bleiben aber immer auf beleuchteten Straßen«, flüsterte sie lächelnd. »Und wer schiebt für dich Dienst?«

»Kurusch natürlich. Wer sonst?«

Der Buriwuch öffnete ein Auge und plusterte sich auf.

So bummelten wir denn durch beleuchtete Straßen. Wo hätten wir auch sonst spazieren gehen sollen? In Echo - den Magistern sei Dank! - gibt es keine dunklen Ecken.

»Ich bin sicher schrecklich langweilig«, sagte Melamori und nippte an ihrem Wein. »Ich hab Ihnen ... dir versprochen herauszufinden, warum ich vor dir Angst habe, bin aber nicht klüger geworden. Und das ist sehr schlecht, weil ...«, begann sie, brach dann ab, als fehlten ihr die Worte, und blickte finster in ihr Glas.

»Was gibt es da überhaupt zu begreifen?«, fragte ich lächelnd. »Ich bin einfach schrecklich. Nimm das locker, Unvergessliche. Alle haben Angst vor mir. Und niemand macht daraus ein Drama. Was das anlangt, brauchst du eigentlich nichts zu verstehen. Bei solchen Sachen tut man, was das Herz befiehlt.«

»Ich hab aber zwei Herzen«, rief Melamori. »Eins ist tapfer, das andere klug. Und beide verfolgen verschiedene Ziele.«

»Na dann ...«, meinte ich achselzuckend. »Vielleicht solltest du für deine Herzen einen Dienstplan machen. Heute kommandiert das eine, morgen das andere.«

»Warum hast du es nur so eilig, Max? Das Leben ist noch lang. Es ist gut, nicht zu wissen, was kommt. Wenn alles passiert ist, ist die Herrlichkeit vorbei. Ach, ich weiß selbst nicht, wie ich dir das erklären soll.«

»Wir beide sind unterschiedlich erzogen«, meinte ich und zuckte zum x-ten Mal die Achseln. Unser Gespräch erwies sich als guter Grund, meine therapeutischen Atemübungen demnächst wieder aufzunehmen. »Ich bevorzuge nun mal Klarheit.«

»Bring mich nach Hause, Max«, sagte Melamori rasch. »Ich hab meine Möglichkeiten überschätzt. In allen Bereichen. Sei bitte nicht sauer auf mich, ja?«

»Warum sollte ich gleich sauer auf dich sein?«, fragte ich und erhob mich von dem kleinen Tisch. »Vielleicht können wir solche Ausflüge mitunter wiederholen. Gemeinsame Spaziergänge, meine ich. Deine Herzen können sich dann weiter streiten, und ich bin ein bisschen glücklich.«

»Natürlich, Max«, sagte Melamori erfreut. »Wenn dich das nicht nervt. Ich meine - Spaziergänge sind üblicherweise nicht das Einzige, was man von Menschen erwartet, die einem gefallen. Ich bin allerdings die große Ausnahme von dieser Regel.«

»Als ich noch jung war und weit von dieser Stadt entfernt lebte«, begann ich mit der Stimme eines tausendjährigen Greises, während die nette, aber verrückte Lady sich langsam erhob, »hatte ich es manchmal schwer. Sagen wir vielleicht so: Ich hatte damals nur eine Pirogge, wollte aber mindestens zehn essen. Doch nie hab ich meine einzige Pirogge unter dem Vorwand weggeworfen, viel mehr zu wollen. Ich bin immer ein pragmatischer Typ gewesen, Lady Melamori.«

»Das hab ich schon gemerkt, Max«, sagte sie und lächelte. »Aber ich hätte nie gedacht, dass du mal mit nur einer Pirogge hast auskommen müssen.«

»Aber so ist das - wie du siehst - mitunter noch heute, jedenfalls im übertragenen Sinne. Und nun lass uns gehen. Du schläfst ja schon im Stehen ein.«

»Stimmt«, gab Melamori reuig zu.

Ich begleitete sie nach Hause.

Die Sache lief so gut, dass sie mir zum Abschied einen Kuss auf die Wange gab. Lass dich nicht verführen, sagte ich mir - die schlaftrunkene Lady verwechselt dich bestimmt mit ihrem Vater. Doch mein Kopf brodelte vor Glück, und keine Atemübungen dieser Welt konnten dagegen helfen.

Auf Umwegen kehrte ich ins Haus an der Brücke zurück. Im Gehen denkt es sich besser als im Sitzen. Und ich hatte eine Menge nachzudenken. Zum Beispiel über die beiden Herzen in Lady Melamoris Brust. Aus dem Munde eines anderen Mädchens wäre mir das Gerede vom Zwist zweier Seelen als dumme, allzu hochgestochene Metapher erschienen. Aber was wusste ich schon über das Wesen der Bewohner von Echo? Viel zu wenig.

Im Haus an der Brücke angekommen, meldete ich mich per Stummer Rede bei Lady Tanita. Meine bescheidene Erfahrung in diesen Dingen flüsterte mir zu, sie habe in dieser für sie so schwierigen Zeit sicher noch keinen Schlaf gefunden.

»Guten Abend, Lady Tanita. Ich bin's, Max. Wissen Sie schon, dass ich den Mann getötet habe, der Ihren Karwen umgebracht hat?«

Ich entschied mich, der unglücklichen Witwe nicht zu sagen, dass der furchtbare Tod ihres Mannes ein unglücklicher Zufall gewesen war. Das wäre für sie sicher kein Trost gewesen.

»Vielen Dank, Max«, entgegnete sie. »Rache ist besser als nichts. Und ich bin sogar schon umgezogen. Auch das ist besser als nichts.«

»Wenn Sie ein neues Wirtshaus eröffnen, melden Sie sich bitte bei mir. Ich komme dann gleich und rette Sie vor dem Ruin. Gute Nacht, Lady Tanita.«

»Ich glaube nicht, dass Ihnen die Gerichte meines neuen Kochs schmecken werden. Aber kommen Sie gern vorbei. Gute Nacht, Sir Max. Und nochmals vielen Dank für Rache und Ratschläge.«

Als die unhörbare Verbindung mit Lady Tanita beendet war, blieb ich ganz allein - den schlafenden Kurusch abgerechnet. Ermüdet wie ich war, schlief ich schnell ein.

Ich hielt mich an die Anweisung von Sir Juffin und döste brav in seinem Sessel, was allerdings sehr unbequem war. Der Rücken tat mir weh, die Beine schwollen an, und ich erwachte alle fünf Minuten. »Zappel nicht so rum und lass dich nicht ablenken«, ermahnte mich die Stimme Maba Kalochs, der geheimnisvollsten Person in dieser ohnehin geheimnisvollen Welt. Sein Gesicht allerdings sah ich nicht. In den Morgenstunden träumte ich noch von Sir Juffin, hatte aber keine Kraft mehr, ihn zu verstehen, und erst recht keine Energie, mich an meine merkwürdigen Träume zu erinnern.

»Du siehst aber schlecht aus, Max.«

Die fröhliche Stimme von Sir Juffin rief mich ins Leben zurück. Es war Tag geworden. Ich fühlte mich krank und müde.

»Wollen Sie sich über mich lustig machen?«, fragte ich. »Was haben Sie da mit Sir Maba Kaloch angezettelt?«

»Daran kannst du dich erinnern?«, fragte Juffin überrascht. »Weißt du etwa, was mit dir passiert ist?«

»Jedenfalls kann ich mich an Ihre Anwesenheit erinnern - und daran, dass sie mehr als anstrengend war. Auch an die Stimme von Sir Maba erinnere ich mich noch. Er hat mir ständig befohlen, nicht so rumzuzappeln. Was war das, Juffin? Eine Vergewaltigung?«

»Aber es ist doch nichts passiert, oder? Du wirst nach Hause gehen, ein wenig schlafen und dich wie neugeboren fühlen. Doch bevor du gehst, versuch doch noch mal Kamra zu machen.«

»Juffin, wollen Sie sich etwa wegen General Bubuta an mir rächen?«, fragte ich traurig. »Das ist doch unmenschlich.«

Mein Chef schaute mich herzlich mitleidig an.

»Warum denkt du gleich so negativ, Max? Los, gib dir ein wenig Mühe. Das ist kein Witz - Ehrenwort.«

Ich ging in den Keller und wusch mich gründlich. Tatsächlich ging es mir gleich besser, obwohl mir nach wie vor alles wehtat. Dann kehrte ich in mein Büro zurück und hantierte ein wenig mit meinem Geschirr herum. Sir Juffin sah aus wie ein Regisseur bei der Premiere: Er war furchtbar nervös und versuchte das fleißig zu verbergen. Rasch beendete ich das sinnlose Kochexperiment.

»Hier, nehmen Sie und schreiben Sie auf, was Ihnen dazu einfällt. Oder wollen Sie jemanden damit foltern?«

Zu meinem großen Erstaunen roch Juffin erwartungsvoll an meinem Erzeugnis und probierte es danach sogar. Als er dann noch einen zweiten Schluck nahm, fiel mir die Kinnlade runter.

»Willst du gar nicht probieren, Max?«, fragte er.

»Bringen Sie mich lieber gleich um«, sagte ich seufzend. »Das hat mir gerade noch gefehlt.«

»Wie du willst«, sagte Juffin und füllte seine Tasse. »Es schmeckt vielleicht nicht so gut wie im Fressfass, aber ich trinke das gern.«

»Wie kommen Sie darauf? Und warum trinken Sie das? Aus Geiz? Ich kann auf meine Rechnung im Fressfass so viel Kamra bestellen, wie Sie wollen. Ich bin reich und großzügig, Sir. Sie brauchen wirklich nicht zu sparen.«

»Hast du noch immer nicht begriffen? Das schmeckt gut! Probier mal, statt dich weiter so dumm anzustellen.«

Tatsächlich: Die Kamra war zwar nicht so gut wie im Fressfass, aber zweifelsohne besser als in der Trunkenen Flasche.

»Haben Sie mir das Kamrakochen im Schlaf beigebracht?«, fragte ich und begriff langsam.

»Ich nicht, sondern Maba. Das wäre über meine Kräfte gegangen. Vielleicht kann ich dir irgendwann beibringen, zwischen den Welten zu wandern. Doch das dauert sicher noch eine Weile. Auch Maba war bei dir nicht allzu schnell.«

»Und warum machen Sie das? Brauchen Sie einen neuen Koch?«

»Aber nein, mein Junge. Aus dir wird keine Magie der Welt einen guten Koch machen. Ehrlich gesagt - Maba und ich wollten nur unsere Kräfte erproben und hätten beide nicht gedacht, dass es uns gelingt. Aber jetzt wissen wir, dass wir die besten Zauberer der Welt sind. Und für dich hat es sich auch gelohnt. Doch jetzt geh schlafen, mein armer Junge. Heute Nacht kannst du das Leben in vollen Zügen genießen. Aber sei morgen genau eine Stunde vor Sonnenuntergang wieder da. Auf uns wartet nämlich ein wichtiger Besuch.«

»Fahren wir etwa zu Sir Maba?«

»Du bist ein Träumer. Das Leben besteht doch nicht nur aus Vergnügen. Wir fahren nach Jafach.«

»An den Hauptsitz des Ordens des Siebenzackigen Blattes?«

»Genau dorthin. Wir werden die Geschichte neu gestalten.«

»Wie meinen Sie das, Juffin?«

»Das erzähle ich dir später. Geh jetzt nach Hause und erhol dich. Bis morgen, Max.«

Zu Hause fiel ich ins Bett und stieß die Nase in Armstrongs weiches Fell. Ella schnurrte mir gleichmäßig ins Ohr.

»Alles Gute im neuen Jahr, meine Wollknäuel«, sagte ich. Die Katzen gähnten ungerührt. Auch ich gähnte und schlief ein.

Загрузка...