Ein Opfer der Umstände
Als ich erwachte, dunkelte es schon. Das war rekordverdächtig, denn ich hatte schon lange nicht mehr bis in den Abend geschlafen.
»Hast du dich etwa sterben gelegt?«, rumorte Melifaros Stimme in meinem schlaftrunkenen Schädel. »Ich hab inzwischen eine ganze Krone verdient.«
»Wie das?«, fragte ich verwirrt.
»Ganz einfach. Ich hab mit Lady Melamori gewettet. Sie war überzeugt, du würdest nur bis Sonnenuntergang schlafen, und ich meinte, es werde länger dauern. Du warst offenbar auf meiner Seite.«
»Dann musst du mich jetzt nicht einmal zum Mittagessen einladen, sondern schon zweimal. Deine Schulden wachsen rasant, du armer Kerl. Ende.«
Ich gähnte und ging nach unten. Meine Kopfschmerzen waren katerähnlich. Mitten im Wohnzimmer hockten Armstrong und Ella reglos über ihren Näpfen. Urf - ein Bauernsohn und Mitarbeiter des Hauses an der Brücke -hatte sich offenbar während meines Tiefschlafs um die Tiere gekümmert, denn sie sahen satt aus, und ihr Fell war sorgfältig gekämmt. Als Kind habe ich meine Eltern zwar mehrfach durch mein Schlafwandeln erschreckt, aber Katzenpflege mit geschlossenen Augen würde selbst ich nicht fertigbringen.
Als ich mir im Bad die Traumgespinste abgewaschen hatte und mich wieder wie ein Mensch fühlte, klingelte der Bote vom Gesättigten Skelett. Im letzten Moment stellte ich fest, dass ich noch nicht angezogen war. Ohne nachzudenken, schnappte ich mir Armstrongs Wolldecke und wickelte mich darin ein. Das war zwar kein Todesmantel, aber ich wollte die Tür nicht nackt öffnen. Die Miene des Boten ließ mich ahnen, dass auch die Katzendecke kein besonders schicker Hausanzug war, aber es war schon zu spät. Mein Ruf würde bestimmt leiden.
Kaum hatte ich in Empfang genommen, was der Bote mir gebracht hatte, legte ich die Decke an ihren Platz zurück und begann genüsslich zu frühstücken. Nach der ersten Portion Kamra fühlte ich mich schon viel aufgeweckter und dachte mir, die impulsive und streitlustige Lady Melamori hätte bessere Gründe finden können, um mit Sir Melifaro zu wetten. Sie war noch nie bei mir gewesen, hatte aber keine Bedenken, Spekulationen über mein häusliches Leben anzustellen. Die Wette, wann ich wach werden würde, war nicht nur ein guter Weg, Informationen über meinen Tagesrhythmus zu bekommen, sondern auch eine diskrete Methode, sich bei mir in Erinnerung zu bringen. Prompt meldete ich mich per Stummer Rede bei diesem unfassbaren Wesen.
»Guten Tag, Unvergessliche!«
»Nicht Guten Tag, Sir Schlafmütze - Guten Abend! Deinetwegen hab ich eine ganze Krone verloren.«
»Ich nehme reuig alle Schuld auf mich, aber ich habe eine furchtbare Nacht hinter mir. Sir Juffin ist mir im Traum erschienen - kannst du dir das vorstellen!? Ich verdiene Mitleid, keine Vorwürfe.«
»Ich bin in einer halben Stunde bei dir. Sir Juffin hat mir anvertraut, dass du heute Nacht dienstfrei hast, und ich habe grandiose Pläne.«
Beinahe wäre ich vor Glück gestorben und ging mich rasch anziehen. Wenn mich auch Lady Melamori mit der Wolldecke meines Katers erwischte, würden meine Aktien bei ihr bestimmt sinken. Vielleicht aber auch nicht.
Es klingelte, und in der Tür stand die Verfolgungsmeisterin, sichtlich berauscht von ihrer Entschlossenheit. Ich war inzwischen umgezogen und zu allen Schandtaten bereit, also dazu, ein wenig - notfalls aber auch tausend Meilen - mit Lady Melamori über die Mosaikgehsteige von Echo zu schlendern. Zusammen spazieren zu gehen war das, was Menschen, die sich mochten, ihrer Meinung nach tun sollten. War unsere Sympathie wirklich gegenseitig? Melamoris begeisterte Augen jedenfalls erlaubten diesen Rückschluss.
Diesmal spazierten wir in die Neustadt. Das dauerte anderthalb Stunden. Melamori erzählte mir viele Gerüchte, denen ich nur mit halbem Ohr lauschte. Ich war auch ohne diesen Tratsch überglücklich.
»Ich kenne hier ein nettes Lokal«, sagte meine bezaubernde Begleiterin und verlangsamte den Schritt. »Es handelt sich um eine alte Villa mit Garten. Abends werden da die gräulichsten Getränke verkauft. Deshalb ist es immer so gut wie leer.«
»Es gibt eine Menge menschenleere Orte, an denen es die seltsamsten Getränke gibt - zum Beispiel bei mir zu Hause«, sagte ich lachend. »Warum sind wir dann so weit gegangen?«
»Das ist ein besonderes Lokal. Früher befand sich dort die Sommerresidenz des Ordens des Geheimen Krauts. Damals war Echo noch viel kleiner, wie du sicher schon gemerkt hast. Komm, wir sind da. Es gefällt dir bestimmt.«
Wir betraten einen langweiligen Garten, doch der erste Eindruck täuschte. Rasch ging die Anlage in eine angenehm verwilderte Obstplantage über, die viele Glaskugeln bläulich beleuchteten. Dort gab es keine Tische, sondern nur kleine, lauschige Bänke, die zwischen Kach-Sträuchern aufgestellt waren. Die Pflanzen erinnerten mich an Wacholderbüsche. Die Luft im Garten war erstaunlich kühl und klar und wirkte herrlich erfrischend, ohne uns frieren zu lassen. Ich fühlte mich verjüngt und hatte den Eindruck, die Welt um mich her berge viele Geheimnisse. Und so war es ja sicher auch.
Ich strahlte Lady Melamori an.
»Stimmt - hier ist es wirklich hübsch.«
»Danke, aber bestell besser keine Kamra - die schmeckt hier erbärmlich. Wenn schon, dann lieber etwas Stärkeres. Solche Getränke sind schwer zu verderben.«
»Etwas Stärkeres? Lieber nicht - ich hatte bis vorhin noch Kopfschmerzen von meinen Ermittlungen zum Jahreswechsel.«
»Pech für dich. Ich kann mich richtig volllaufen lassen - ich hab ja Urlaub.«
»Na dann prost. Ich hoffe, hier gibt es auch Mineralwasser. Das ist es nämlich, was ich jetzt brauche.«
Leider gab es in dem Gartenlokal kein Wasser. Deshalb musste ich eine Schale Kompott bestellen. Ich glaube, Melamori und ich bildeten ein seltsames Paar: eine kleine, zerbrechlich wirkende Dame, die Dschubatinischen Säufer trank, und ein gesund aussehender junger Mann im Todesmantel, der sich an einem Dessert gütlich tat.
»Wenn wir uns schon unterhalten müssen, dann am besten hier«, stellte Melamori, deren Wangen vom Alkohol leicht gerötet waren, plötzlich fest, schwieg aber sogleich wieder, als habe ihre Stimme sie erschreckt. Ich wollte sie schon ermuntern, weiterzureden, doch sie fuhr von selbst fort: »Was meine Ängste angeht, Max, weiß ich jetzt Bescheid. Sag mir doch bitte, welche Farbe deine Augen haben.«
»Ich glaube, sie sind braun, oder?«
Ich war völlig verwirrt. Sündige Magister - was war mit meinem Gedächtnis los? Wie konnte ich meine Augenfarbe vergessen?
»Eben!«, rief Lady Melamori triumphierend. »Du weißt es selbst nicht! Schau her«, sagte sie, zog einen kleinen Spiegel aus der Tasche ihres Lochimantels und hielt ihn mir vor die Nase.
Ich sah in vor Erstaunen weit aufgerissene graue Augen.
»Wieso bin ich bloß so vergesslich?«
»Vergesslich? Als wenn es so einfach wäre! Gestern waren deine Augen grün, morgen sind sie womöglich hellbraun. Und als ich drei Tage vor Jahreswechsel im Haus an der Brücke war, hattest du stahlblaue Augen. Ich dachte damals, du hättest die gleiche Augenfarbe wie mein Großvater Kima.«
»Wie nett, dass du auf solche Kleinigkeiten achtest, Melamori. Was du mir gerade gesagt hast, ist aber so neu für mich, dass ich es kaum glauben kann. Hast du nicht vielleicht etwas durcheinandergebracht?«
»Willst du etwa mit mir wetten?«, fragte Melamori lächelnd. »Du solltest dich in einer Stunde noch mal anschauen. Dann haben deine Augen sicher schon wieder eine andere Farbe.«
»Ich habe nicht vor, mit dir zu wetten«, murmelte ich und gab ihr den Spiegel zurück. »Du willst mich nur an den Bettelstab bringen. Aber eins verstehe ich nicht: Warum macht dir das solche Angst? Soll meine Augenfarbe sich doch ändern! Alle Mitglieder deiner Familie gehören zum Orden des Siebenzackigen Blattes - da bist du doch ganz andere Dinge gewöhnt!«
»Das ist es ja. Ich weiß viel, doch von so einem Fall hab ich noch nie gehört. Als ich das gestern Abend begriff, fragte ich gleich meinen Großvater nach diesem Phänomen. Dabei habe ich nicht dich erwähnt, sondern behauptet, der Mann mit der changierenden Augenfarbe sei ein Bote, doch mein Großvater hat die Diskussion rasch beendet und kategorisch festgestellt, ein solcher Augenfarbenwechsel sei unmöglich. Ich wollte keinen Streit mit ihm riskieren und habe darum lieber heute Morgen Sir Juffin gefragt, was es mit deiner ständig wechselnden Augenfarbe auf sich hat. Und weißt du, was er sagte?«
»Lass mich raten. Vielleicht: »Die Welt ist voller Wunder, Mädchen«? Oder: »Gib dich nicht mit solchem Kleinkram ab, Melamori«? - Hab ich richtig getippt?«
»Beinahe«, antwortete Lady Melamori seufzend. »Sir Juffin hat gekichert und gesagt, das sei nicht dein einziger Vorzug. Außerdem hat er gemeint, in der Stadt gebe es genug normale Leute, die keine Besonderheiten aufweisen und sich deshalb auch nicht für die Arbeit in unserer Dienststelle eignen.«
»Nett, das zu hören«, sagte ich lächelnd. »Bei Gelegenheit muss ich mich dafür bei ihm bedanken.«
»Max, das klingt alles sehr lustig, aber ... Bist du sicher, überhaupt ein Mensch zu sein?«
»Eigentlich nicht«, antwortete ich und brach in Lachen aus. »Aber darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht.«
»Sir Juffin hat das Gleiche gesagt und auch gelacht. Was soll ich jetzt tun? Kündigen, um dir aus dem Weg zu gehen? Oder mir vor jedem Treffen mit dir Mut antrinken? Ich frage das ganz im Ernst, Max.«
Eine ausweichende, aber beruhigende Antwort wäre taktisch sicher besser gewesen, doch Melamori gefiel mir so sehr, dass ich keine Lust hatte, sie anzulügen oder ihr auszuweichen.
»Ich weiß es wirklich nicht«, wiederholte ich. »Ich hab immer geglaubt, es wäre schwierig, einen normaleren Menschen zu finden als mich. Man darf mich nur nicht an der Nase herumführen. Meine bescheidene Menschenkenntnis sagt mir, dass du längst kein so großer Angsthase bist, wie du behauptest.«
»Na ja, ein Angsthase bin ich nicht gerade. Ich bin nur unter besonderen Menschen aufgewachsen, Max. Mein Vater war in der Traurigen Zeit für den Thron vorgesehen, falls einer der beiden Könige namens Gurig verunglückt wäre. Mein Großvater und meine Tanten gehören zum Orden des Siebenzackigen Blattes. Ich habe auch Verwandte mütterlicherseits, die eng mit der alten königlichen Dynastie verbunden sind. Du kannst dir so eine Umgebung doch bestimmt gut vorstellen. Ich bin gewöhnt, etwas Besonderes zu sein. Ich weiß alles, verstehe alles und kann jeden dazu bringen, mir aus der Hand zu fressen. Na ja, fast jeden. Ich hab mich schon damit abgefunden, dass Sir Juffin mehr weiß als ich, weil er die Traurige Zeit nicht nur aus Büchern, sondern aus den Erzählungen von Zeitzeugen kennt. Das kann er dir selbst berichten, falls er es noch nicht getan hat. Aber ich will nicht, dass mir jemand gefällt, der ...«
»... dir nicht aus der Hand frisst?«, fragte ich verständnisvoll.
»Genau. So bin ich nun mal erzogen. Wenn ich etwas nicht verstehe, macht es mir Angst. Die Devise des Ordens des Siebenzackigen Blattes lautet: Vorsicht und Erkenntnis. Und zwar in dieser Reihenfolge. Und weil ich ziemlich viel weiß und mir beinahe alles erklären kann, bin ich auch kein Angsthase. Aber ich brauche dich nur anzuschauen, Max, und bin ganz verwirrt.«
»Da hilft nur eins«, antwortete ich. »Du musst mich besser kennen lernen. Schieb die ewige Vorsicht beiseite und lass dich auf mich ein. Dann siehst du bald, dass ich ein ganz normaler Langweiler bin, und alles wird gut. Aber beeil dich damit, denn beim nächsten Vollmond verliere ich meine menschliche Gestalt.«
Ich konnte mich nur amüsieren, weil ich diese Art Probleme mit Mädchen noch nie gehabt hatte. Die hatten sich an ganz anderen Dingen gestört. Deshalb nahm ich optimistisch an, es würde leicht sein, Melamoris Ängste zu zerstreuen. Wenn sie mich besser kennen gelernt hätte, würde sie begreifen, dass ich alle möglichen Gefühle wecken konnte, keinesfalls aber Angst.
Der Abend endete mit einem ausgezeichneten Wein im Gästezimmer von Lady Melamori. Dort landeten wir nicht allein, sondern in Gesellschaft ihrer - man stelle sich das vor! - acht Freundinnen. Eine war hübscher als die andere, und sie zwitscherten so laut, dass ich Kopfschmerzen bekam.
Melamori übertrieb reichlich mit starken Getränken, und darum bekam ich zum Abschied einen ernsthaften, beinahe echten Kuss. Ich war so verwirrt, dass ich beschloss, mich einfach darüber zu freuen. Egal, was danach käme.
Den Rest der Nacht spazierte ich durch Echo und erschreckte Passanten mit meinem Todesmantel. Kühnste Erwartungen jagten mir durch den Kopf. Ein Instinkt, der bisher geschlummert hatte, verlangte nach Heldentaten, doch meine anerzogene Zurückhaltung hielt mich davon ab, in Lady Melamoris Schlafzimmer einzudringen.
Stattdessen kehrte ich widerwillig in meine Wohnung zurück. An Schlaf allerdings war nicht zu denken. Zwei Stunden lag ich grübelnd im Bett, ehe ich mich aufraffte und viel früher ins Haus an der Brücke ging als üblich.
Du kannst nicht schlafen, was, Max?«
Selten hatte ich meinen Chef zufrieden erlebt - und so glücklich wie heute noch nie.
»Was ist passiert? Ist Bubuta gestorben?«
»Ach, dem geht's gut. Er will dich und Melifaro einladen, wenn er das Bett wieder verlassen darf. Sei also auf das Schlimmste gefasst. Ich glaube, es lebt sich schwer damit, der Retter von General Bubuta Boch zu sein, und vermute, seine Dankbarkeit wird dich sehr viel mehr strapazieren als sein Zorn. Aber was soll's! Erinnerst du dich noch an die Tschakata-Pirogge?«
»Natürlich. Haben Sie davon wieder mal eine Portion auftreiben können?«
»Es geht um grundsätzlichere Dinge: Demnächst wird diese Pirogge allen zugänglich sein, auch dir und mir.«
»Wollen Sie das Chrember-Gesetzbuch umschreiben?«
»Ich wusste doch schon immer, dass du einen guten Riecher hast. Du hast es wieder mal erraten, Max. Umschreiben will ich das Gesetzbuch zwar nicht, doch ich habe vor, eine kleine Korrektur anzubringen. Der Entwurf ist schon vorbereitet. Wir brauchen nur noch die Zustimmung des Großen Magisters Nuflin. Deshalb fahren wir jetzt zu ihm.«
»Juffin«, begann ich, weil mein Erstaunen mir die Sprache nicht ganz verschlagen hatte, »wozu brauchen Sie mich dabei? Ich bin mit dem Leben in Echo vollauf zufrieden. Glauben Sie wirklich, Sie müssen unbedingt mich in die Residenz des Ordens des Siebenzackigen Blattes mitnehmen? Was sagen Sie zu meiner Augenfarbe? Fürchten Sie nicht, eines Tages im Cholomi-Gefängnis zu landen, weil Sie sich mit einem fremden Wesen wie mir abgeben? Lady Melamori würde das sicher nicht gutheißen.«
»Hat sie dir das eingeredet? Sie ist schon ein lustiges Mädchen. Aber Sir Nuflin ist im Gegensatz zu ihr ein ernster Mensch. Und er ist schon vierhundert Jahre alt. Er weiß sehr viel über erlaubte und erst recht über unerlaubte Magie. Am Ende der Traurigen Zeit haben sich seine Boten mir zu Füßen geworfen, weil er so gut Bescheid wusste. Ohne Leute wie mich und Sir Maba hätte der Orden der Wasserkrähe ...«
»Wasserkrähe?«, kicherte ich.
»Ja, jetzt kann man darüber lachen. Vor hundertfünfzig Jahren aber war das überhaupt nicht lustig. Hinter diesem Orden stand eine sehr gefährliche Kraft, deren Machenschaften die Welt in die Hände der Dunklen Magister hätte fallen lassen können. Aber wir haben sie vor diesem Schicksal bewahrt, so gut es eben ging.«
»Wasserkrähe klingt trotzdem lustig«, sagte ich unbeirrt. »Hat König Gurig seinen Sieg in der Schlacht um das Chrember-Gesetzbuch also Ihnen zu verdanken?«
»Jedenfalls teilweise. Wenn du mal so weit bist, wenigstens die Hälfte davon zu begreifen, erzähle ich es dir. Sei bitte nicht sauer, doch die Fähigkeit, diese Dinge zu verstehen, hängt von Erfahrung ab, nicht von geistiger Anstrengung. Aber jetzt zurück zu deiner Frage: Ich nehme dich und Kofa einfach deshalb mit, weil Sir Nuflin mich darum gebeten hat. Er ist der Hausherr und kann das entscheiden.«
»Will er sich ein barbarisches Wesen aus einer anderen Welt ansehen?«
»Meinen potenziellen Nachfolger will er kennen lernen.«
Ich wäre fast in Ohnmacht gefallen. Prompt begann ich mit Sir Lonely-Lokleys Atemübungen. Das hielt mich bei Bewusstsein.
»Nimm das alles nicht so schwer«, sagte Juffin lächelnd. »Was kümmert es dich, was in dreihundert Jahren geschieht? Soweit ich weiß, hast du ohnehin nicht gehofft, so lange zu leben. Also kannst du meine Ankündigung ja wie eine Nachricht behandeln, die sich auf etwas bezieht, das sich erst lange nach deinem Tod ereignet. Einverstanden?«
»Einverstanden«, seufzte ich. »Aber ich hoffe, das ist kein Scherz.«
»Jetzt hab ich von deiner Skepsis aber genug! Du wusstest doch von Anfang an, warum ich dich hergebracht habe, auch wenn du es immer verdrängt hast. Einiges kannst du ja inzwischen - also mach mir bitte etwas Kamra, damit du nicht aus der Übung kommst.«
»Das hört sich schon besser an. Jetzt blamiere ich mich, Sie degradieren mich zum Kellner, und alles ist wieder im Lot.«
Stell dich nicht so an«, murmelte Juffin und nahm einen Schluck von meinem magischen Gebräu. »Na bitte - heute schmeckt die Kamra schon viel besser als vorgestern.«
Genau eine Stunde vor Sonnenuntergang tauchte Sir Kofa Joch auf. Diesmal zeigte er sein eigentliches Gesicht und trug dazu einen fantastischen purpurroten Lochimantel. Noch nie hatte ich ein derart kräftiges Rot gesehen, das pulsierend zu lodern schien.
»So was darf nur Sir Kofa tragen«, verriet mir Juffin. »Er hat sich hier in Echo zweihundert Jahre lang um Ruhe und Ordnung gekümmert. Damals hatte der Leiter der Stadtpolizei ein höheres Ansehen als jeder Große Magister - ungelogen! Dank Kofas heldenhaftem Einsatz ist die Traurige Zeit an Echo fast spurlos vorübergegangen. Manchmal, wenn ich die Echoten satthabe, könnte ich ihn dafür allerdings umbringen.«
»Ja, ich bin schuld«, sagte Sir Kofa und senkte den Kopf. »Aber was hätte ich denn tun sollen? Das gehörte nun mal zu meinen Pflichten.«
»Und warum sitzt General Bubuta Boch inzwischen an Ihrer Stelle?«, fragte ich. »Aufgrund von Intrigen?«
Juffin und Kofa tauschten einen Blick und brachen in Lachen aus. Ich sah sie weiter ahnungslos an.
»Du hast offenbar noch immer nicht kapiert, wo du arbeitest«, meinte Sir Kofa Joch, der sich als Erster beruhigt hatte. »Aber ich erkläre es dir gern. Ich bin befördert worden. Und zwar sehr weit nach oben. Weißt du etwa nicht, dass Sir Juffin die zweitwichtigste Person im Staat ist?«
»Nach dem König?«
»Unsinn, nach Magister Nuflin natürlich. Aber du, ich und Seine Majestät Gurig VIII. gehören immerhin zum illustren Dutzend der wichtigsten Leute im Staat.«
»Unglaublich«, sagte ich kopfschüttelnd.
»Kopf hoch, Max. Ich hab dir nur eine inoffizielle Version der staatlichen Hierarchie geliefert. Und jetzt lass uns fahren.«
So fuhren wir denn nach Jafach.
Die sichtbaren Tore der Burg Jafach - der Residenz des Ordens des Siebenzackigen Blattes, des Wohltuenden und Einzigen Ordens - werden nur bei Sonnenaufgang und bei Sonnenuntergang geöffnet. Morgens strömen Abgesandte des Königshofs und andere Regierungsvertreter in die Burg; abends trudeln dunkle Gestalten wie wir ein. Es heißt, der Kleine Geheime Suchtrupp sei die bedrohlichste Organisation im Vereinigten Königreich. Eingeweihte lachen allerdings über diesen Witz.
Nuflin Moni Mach - der Große Magister des Ordens des Siebenzackigen Blattes - erwartete uns in einem düsteren Saal. Im Halbdunkel war es unmöglich, seine Miene zu erkennen. Dann begriff ich, dass er gar kein Gesicht hatte. Besser gesagt: Er hatte es vergessen, und darum konnte es niemand mehr sehen. Dann merkte ich, dass der Große Magister höchstpersönlich mir diese Erklärung per Stummer Rede hatte zukommen lassen.
»Ihr könnt euch nicht vorstellen, meine Lieben, welches Glück es für mich bedeutet, euren Besuch noch zu erleben.«
Die Stimme von Magister Nuflin zeigte, dass er hoch betagt war, doch trotz des Zitterns lag eine so große, unbegreifliche Kraft darin, dass es mich eiskalt überlief. Der alte Mann schlug allerdings einen humorvollen, durchaus freundlichen Ton an. Wie jeder, der sich seines Charismas bewusst ist, brauchte er seine Gäste nicht zu erschrecken.
»Du arbeitest für Juffin, Junge?«, fragte Nuflin und musterte mich sichtlich neugierig. »Wie gefällt es dir bei ihm? Ich habe gehört, dass du sehr erfolgreich bist. Genier dich nicht vor dem alten Nuflin, Max. Vor mir hat man Angst oder auch nicht. Ersteres gilt für dich nicht, denn schließlich sind wir keine Feinde. Du brauchst mir nicht zu antworten. Setz dich nur hin und hör zu, was die älteren Leute reden. Vielleicht kannst du davon später deinen Enkeln erzählen. Obwohl - woher sollen bei dir schon Enkel kommen?«
Ich folgte dem Rat des Großen Magisters und setzte mich schweigend auf ein bequemes Sofa. Meine älteren Kollegen taten es mir nach.
»Juffin, du isst gern gut, oder?«, fragte Nuflin freundlich. »Ich hab mich schon gewundert, warum du so lange mit der Korrektur des Chrember-Gesetzbuchs gewartet hast. Meine Mitarbeiter haben ziemliche Angst vor Veränderung und meinen, die Opposition müsse erst mindestens zweihundert Jahre geschwiegen haben, ehe man sich an Reformen wagen dürfe. Aber diese Mitarbeiter sind allesamt Theoretiker. Kofa, du bist ein kluger Mensch - hast du die so genannte Opposition schon mal gesehen? Ich glaube nicht an ihre Existenz. Das sind doch nur kindliche Hirngespinste. Meine Mitarbeiter denken vermutlich, ein Leben ohne Feinde sei für den alten Nuflin zu langweilig. Also, Kofa, klär mich auf - vielleicht weiß ich ja zu wenig darüber, was die Bevölkerung so denkt.«
»Sie haben Recht«, bestätigte der Meister des Verhörs. »Wenn es Opposition gibt, dann sicher nicht in Echo. Und was kümmert es uns, wer sich in Landland etwas in den Bart brummt?«
»Na, das jagt uns mächtig Angst ein«, sagte Magister Nuflin und zwinkerte uns zu. »Da wissen wir gar nicht, was wir tun sollen. Schön, damit wäre das Thema Opposition erledigt. Juffin, jetzt erzähl du mir, wie dein Vorhaben aussehen soll, und wir bereiten alles vor. Unter uns gesagt - dein junger Mitarbeiter hat die letzten vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen. Weißt du das überhaupt? Es ist nicht gut, seine Leute so zu schikanieren. Na ja, du warst schon immer ein übler Kerl.«
»Er quält sich selbst - mich braucht er dazu nicht«, sagte mein Chef lächelnd. »Und was die Gesetzesänderung angeht: Ich werde jeden Koch wissen lassen, dass er mit erlaubter Magie - egal, ob schwarz oder weiß - experimentieren darf, aber nur bis zum zwölften Grad. Alles darüber bleibt verboten.«
»Warum hast du so lange darüber geschwiegen, Juffin? Glaubtest du, ich käme von selbst auf diese Idee? Wer hätte gedacht, dass die Leute demnächst ihr Essen wieder wie in der guten alten Zeit zubereiten können! Wir beide bekommen bestimmt an jedem Wirtshaus eine Gedenktafel. Und der junge König Gurig auch, damit er nicht eifersüchtig wird.«
Aufmerksam folgte ich dem Gespräch und begriff, dass uns das Chrember-Gesetzbuch bald nicht mehr beim Zubereiten von Delikatessen einschränken würde. Das erschreckte mich ein wenig. Ich war längst ein Vielfraß -was also würde aus mir werden, wenn nicht mehr nur mit Magie vierten, sondern maximal zwölften Grades gekocht wurde? Wann würde ich den Leibesumfang von Bubuta Boch erreichen? Und würde Lady Melamori dann nicht noch mehr Angst vor mir haben?
In diesem Moment hatte ich das Gefühl, es gebe noch einen, allerdings unsichtbaren Zuschauer. Obendrein hörte ich ein mir vertrautes, leicht herablassendes Kichern. Erstreckte sich die Neugier von Sir Maba Kaloch vielleicht auch auf profane Themen wie Essen und Trinken? Jedenfalls war ich überzeugt, dass nur er unsichtbar an wichtigen Gesprächen teilnehmen konnte.
Magister Nuflin unterbrach meinen Gedankengang.
»Na, was hast du zu diesem Thema zu sagen? Du isst doch sicher auch gern gut?«
»Natürlich. Allerdings bin ich kein besonderer Koch. Deshalb decken sich meine Ansichten mit der Lebensphilosophie von Sir Maba Kaloch: Egal, woher das Essen stammt - Hauptsache, es schmeckt. Habe ich das richtig dargestellt?«, fragte ich und sah in eine dunkle Ecke, aus der uns Sir Maba vermutlich beobachtete.
Ehrlich gesagt sollte das nur ein Witz für Sir Juffin sein. Ich dachte, mein Chef wüsste ihn zu schätzen, und die übrigen Anwesenden würden ihn nicht mal bemerken. Stattdessen starrten mich drei Personen an, als wäre ich eine Fleisch fressende Pflanze - mit Angst nämlich und Vorsicht.
»Juffin!«, unterbrach die Stimme des Großen Magisters die Stille. »Dein junger Mitarbeiter hat wirklich eine Spürnase! Wer hätte gedacht, dass er Sir Maba, diesen geriebenen alten Kerl, wittern kann! Wo hast du Max überhaupt aufgetrieben?«
»In der Gegend, wo Sie und ich Lojso Pondochwa begraben haben. Na ja, eigentlich noch ein Stück weiter.«
»Keine Frage - der Junge ist viel wert.«
Ich spürte, dass der Große Magister mich erneut musterte, und kann nicht sagen, dass mich das begeistert hätte, doch ich hielt es aus. Einen langen Augenblick fixierte mich Nuflin und sagte dann: »Junge, geh zu dem alten Schlaukopf Juffin und frag ihn, wann der alte Nuflin das letzte Mal so erstaunt war. Oder frag ihn besser nicht, denn das weiß ich selbst nicht mehr, und er kann sich bestimmt auch nicht daran erinnern. Aber wenn dich mal jemand fragen wird, kannst du gern sagen, dass der alte Nuflin am Abend des dritten Tages des 116. Jahres der Epoche des Gesetzbuchs erstaunt war - sehr, sehr erstaunt. Was kann ich für dich tun, Junge? Für so was bedanke ich mich lieber gleich, damit ich dir später nicht die Hände küssen muss.«
Ich stand verwirrt da, begriff nicht, was um mich herum geschah, entschied mich aber zu schweigen. Wenn der Große Magister Nuflin Moni Mach mich für ein Genie hält, soll es wohl so sein, dachte ich. Mir ist es vielleicht etwas peinlich, aber Juffin Halli freut sich bestimmt. Und eine Bitte an den Großen Magister hatte ich auch sofort parat: »Wenn Sie mich glücklich machen wollen, liegt das ganz in Ihrer Hand«, sagte ich und versuchte dabei ehrerbietig zu klingen, obwohl das anscheinend nicht nötig gewesen wäre.
»Aber Max, auch ohne dich weiß ich genau, was in meiner Macht liegt«, sagte der Alte lächelnd. »Also bitte zur Sache.«
»Erlauben Sie mir doch, mitunter normale Kleidung zu tragen. Natürlich nicht im Dienst, sondern in der Freizeit«, bat ich und öffnete demonstrativ meinen schwarzgoldenen Todesmantel. »Während der Arbeitszeit ist er notwendig und sehr kleidsam. Aber ich möchte manchmal unauffällig sein, um mich vor fremden Blicken zu schützen. Ich weiß auch, dass ich mich nicht erst aufzuregen brauche, damit meine Spucke giftig wird.«
»Wer hätte das gedacht - so ein netter Junge und doch so giftig!«, meinte Nuflin belustigt.
»Bedanken Sie sich dafür bei Magister Machligl Anoch«, sagte Juffin lächelnd. »Erinnern Sie sich noch an ihn?«
»Wie könnte ich diesen kleinen, tiefernsten Mann vergessen? Er hat dir also diese Gabe verliehen, Max? Das war sehr klug. Also hat sich Machligl schließlich doch noch als nützlich erwiesen. Juffin, sagt der Junge eigentlich die Wahrheit? Ist seine Spucke wirklich giftig? Ist er selbst dann gefährlich, wenn er gut gelaunt ist?«
»Max ist noch nicht klug genug, um Sie zu belügen, aber wer weiß, wie es in dreihundert Jahren aussieht.«
»Dem Himmel sei Dank, dass ich das nicht mehr erleben muss. Also gut, Max - wenn du nicht im Dienst bist, kannst du anziehen, was du willst. Denk aber bitte daran, dass du mir für diese Gefälligkeit etwas schuldest. Nicht jeden Tag ändert der alte Nuflin althergebrachte Traditionen.«
»Ich kann gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin.«
Ich war tatsächlich überglücklich. Ich hatte die herrliche Freiheit geschenkt bekommen, wieder unauffällig zu leben, konnte also erneut ungestört mit Gästen im Wirtshaus plaudern, sympathischen alten Männern Tabak anbieten und flüchtige Bekanntschaft mit fremden Hunden schließen. Was braucht man mehr, um glücklich zu sein?
»Wenn du älter bist, wirst du verstehen, dass der Todesmantel nicht den Menschen ringsum nützt, sondern dir«, sagte der Große Magister belehrend. »Du wirst dich irgendwann sicher an die Worte des klugen alten Nuflin erinnern. Der Todesmantel ist - genau wie der Mantel eines Großen Magisters - ein gutes Instrument, um der Welt zu entsagen. Behaupte nun bitte nicht, du wollest der Welt nicht entsagen. Komm in fünfhundert Jahren wieder. Mal sehen, wie du dann darüber denkst.«
Der Alte hatte vermutlich vergessen, dass er allenfalls noch dreihundert Jahre zu leben hatte. Oder er wollte seine Besucher im nächsten Leben empfangen. Wer weiß schon, wie es bei Großen Magistern nach dem Tod aussieht.
»Wir möchten Ihre kostbare Zeit nicht länger in Anspruch nehmen, Nuflin«, sagte Juffin und erhob sich vom Sofa. »Ich erinnere mich genau, wie schnell Ihre Gesprächspartner Ihnen lästig werden. Erst recht, wenn es sich um so langweilige Besucher wie uns handelt, Sir.«
»Juffin, stell dich bitte nicht so an. Ich weiß doch, dass du nur wieder essen gehen und über mich lästern willst. Du glaubst doch wohl nicht, dass ich dich davon abhalten oder dich sogar zum Essen einladen will? Nein, das tu ich nicht - so gut solltest du mich inzwischen kennen. Geh also in dein Fressfass. Und du, mein Junge, machst dir eine hübsche, erholsame Nacht. Die hast du dir verdient.«
Sündige Magister - was mochte er damit gemeint haben!?
Wir verließen die Burg Jafach durch einen Geheimgang, der direkt in den Keller des Hauses an der Brücke führte. Offenbar betrat man die Residenz des Ordens des Siebenzackigen Blattes auf öffentlich zugänglichem Wege, verließ die Burg aber auf geheimen Pfaden, die einem allerdings niemand zeigte, geschweige denn bahnte.
»Wer war eigentlich dieser Lojso Pondochwa, von dem Sie und der Große Magister Nuflin sprachen?«, fragte ich, kaum dass wir die Burg verlassen hatten.
»Lojso? Der war Großer Magister des Ordens der Wasserkrähe, des Ordens also, dessen Name dich so zum Lachen gebracht hat. Geh jetzt schlafen, mein Held«, meinte Juffin und zwinkerte mir zu. »Ein so schläfriges Nachtantlitz wie du ist ja zu nichts mehr zu gebrauchen. Ich muss sowieso mit Kofa die Nacht durcharbeiten.«
»Für etwas so Wichtiges wie die Erweiterung der Kochmagie kann man wohl mal durchmachen«, sagte Kofa nickend. »Glückwunsch, Sir Juffin. Ich hätte nicht gedacht, dass es so leicht wäre, Veränderungen im Chrember-Gesetzbuch durchzudrücken. Sie haben den Alten wirklich um den Finger gewickelt.«
»Gut, dass ich es war. Stellen Sie sich vor, was mit der Welt passieren könnte, wenn ein anderer an meiner Stelle wäre.«
»Das wäre schrecklich! Sir Max, hören Sie auf Sir Juffin und gehen Sie endlich schlafen. Sie sind wirklich fix und fertig.«
Ich hatte keine Einwände, nahm mir aber vor, erst noch mein Schlafzimmerfenster abzudichten, da der Durchzug in letzter Zeit immer schlimmer geworden war. Über Zugempfindlichkeit hatte bisher noch keiner meiner Kollegen geklagt.
Trotz meiner Müdigkeit meldete ich mich von unterwegs per Stummer Rede bei Lady Melamori.
»Wie geht's, Unvergessliche?«
»Danke der Nachfrage. Während du in Jafach gewesen bist, war Melifaro bei mir zu Besuch. Und meine acht Freundinnen natürlich auch. Beide Seiten waren sehr voneinander angetan. Der arme Mann ist bestimmt noch ganz außer sich, weil er noch nie einen derart überdimensionierten Flirt erlebt hat. Er ist es gewöhnt, sich mit nur einer Frau zu treffen, und stand plötzlich vor einem gewaltigen Überangebot.«
»Waren deine Freundinnen von mir eigentlich auch angetan?«
»Daran kann ich mich nicht mehr erinnern, denn ich hab gestern mit Likör und anderen alkoholischen Getränken arg übertrieben. Gute Nacht, Max, ich bin schon am Einschlafen.«
»Bis morgen also?«, fragte ich hoffnungsvoll.
»Natürlich. Ende.«
Auch Lady Melamori hatte mein »Ende« übernommen. Das gefiel mir sehr - als ob sie irgendeinen Nippes, den ich ihr geschenkt hatte, in der Tasche ihres Lochimantels tragen und mitunter ihren Bekannten zeigen würde.
Kaum war ich eingeschlummert, wurde mein ohnehin nicht langweiliges Leben noch interessanter. Ich träumte, in meinem Schlafzimmer habe sich ein unsichtbarer Gast eingenistet.
»Hallo, mein Hellseher!«, rief jemand. Sofort erkannte ich die Stimme von Sir Maba Kaloch. »Wie clever von dir, Junge, mich beim alten Nuflin gleich zu erkennen. Versuch in Zukunft aber vielleicht, nicht so vorlaut zu sein. Alle wissen doch längst, wie klug du bist, und ich bleibe lieber inkognito.«
»Verzeihung, Sir Maba.«
Obwohl ich schlief, begriff ich rasch, worum es ging.
»Nicht so schlimm. Nuflin, Juffin und Kofa sind ja noch nicht das Königreich. Und sie hätten mich auch ohne deinen Hinweis gespürt. Aber merk dir eins: Wenn du dich mit mir unterhalten willst, tu das in Zukunft per Stummer Rede und posaune nicht gleich aus, dass Maba Kaloch in der Nähe ist. Verstanden?«
»Sicher«, murmelte ich. Es war mir wirklich peinlich.
»Prima. Und weil ich schon mal da bin, hab ich dir ein kleines Geschenk mitgebracht.«
»Was für ein Geschenk?«
»Ein gutes. Pass auf, dass niemand dein Kissen verschiebt.«
»Warum das denn?«
»Weil das Kissen eines so großen Helden, wie du es bist, ein Stöpsel in der Ritze zwischen zwei Welten sein kann. Hab ich mich klar genug ausgedrückt?«
»Nein«, antwortete ich ehrlich.
»Ach, Max! Wie sagt der arme Juffin immer: Ich stehe vor einem Rätsel. Na ja. Weißt du noch, dass ich bei eurem Besuch unterm Tisch nach Speis und Trank für euch gelangt habe?«
»Natürlich«, sagte ich strahlend. »Soll das heißen, dass ich das jetzt auch kann?«
»Tja, für so einen tollen Trick wirst du noch lange üben müssen, aber wenn du fleißig bist, kannst du dir bald aus fernen Welten diese kleinen komischen Dinger zum Rauchen organisieren, die dir so fehlen. Versuch es mal im Schlaf. Und nagele dein Kissen fest, das rate ich dir.«
»Und wie soll dieser Versuch aussehen?«
»Schieb einfach die Hand unter dein Kissen - dann klappt es wie am Schnürchen. Du musst aber Geduld haben, Junge. Anfangs dauert es recht lange. Aber das wirst du bald merken.«
»Sir Maba - wenn ich auch nur eine Zigarette bekomme, stehe ich ewig in Ihrer Schuld.«
»Das klingt gut. Deine komische Angewohnheit garantiert mir, dass du den Trick fleißig probierst. Das Einzige, was dir noch fehlt, ist Übung. Aber jetzt muss ich gehen.«
»Besuchen Sie mich demnächst mal wieder im Traum?«, fragte ich hoffnungsvoll. »Darf ich noch was lernen?«
»Natürlich darfst du das, Max - auch ohne meine Hilfe. Ich kann dir nicht versprechen, dich oft zu besuchen. Du bist so jung, und ich bin sehr viel älter ... Es ist recht strapaziös für mich, dich zu unterrichten. Es wäre besser, Juffin würde dir einiges beibringen. Außerdem träumst du nun ohnehin ganz andere Dinge. Und in diesen Träumen ...«
»Was meinen Sie damit?«
Doch meine Frage war vergebens, denn Sir Maba Kaloch war schon verschwunden. Stattdessen sah ich im Fenster die Silhouette von Lady Melamori. Ich freute mich sehr, war aber nicht weiter erstaunt.
»Was für ein hübscher Traum, Unvergessliche«, begann ich fröhlich. »Ich freue mich sehr, dich zu sehen.«
»Ist das wirklich nur ein Traum?«, wunderte sich Melamori. »Bist du sicher?«
»Ja. Und es ist mein Traum, nicht deiner. Ich träume von dir.«
Melamori lächelte, und ihre Silhouette wurde langsam immer durchsichtiger. Ich wollte sie festhalten, stellte dann aber fest, dass ich mich nicht bewegen konnte. Ich war zentner-, ja tonnenschwer.
•Ich bin schon fast zu Hause«, flüsterte Melamori erstaunt und verschwand vollständig.
Als ich erwachte, war es früher Morgen. Armstrong und Ella lagen bei meinen Füßen und schnurrten leise im Schlaf. Meine Katzen! Sie könnten das Kissen wegrücken, das als Stöpsel zwischen den Welten dient! Und dadurch könnten andere Welten in meinem Schlafzimmer landen! Kaum waren diese Gedanken durch mein schlaftrunkenes Hirn geschossen, sprang ich auf, lief zu einem kleinen Schrank und entnahm ihm Nadel und Faden. Meine Vorsicht überraschte mich selbst. Ich kehrte ins Bett zurück und nähte das Kissen an der Matratze fest. Jetzt war alles in Ordnung, und ich konnte weiterschlafen.
Kaum hatte ich den Kopf aufs Kissen gelegt, schaltete ich ab. Diesmal hatte ich allerdings keine Träume, besser gesagt: Ich konnte mich nicht an sie erinnern.
Richtig wach wurde ich erst gegen Mittag. Ein neckischer Sonnenstrahl, wie es ihn nur im Frühling gibt, stahl sich vorwitzig durch den Vorhang. Gedankenverloren betrachtete ich mein festgenähtes Kissen und dachte: So ein Quatsch! Mit einem Schlag konnte ich mich an alles erinnern.
Liebe Leserinnen und Leser! Dreimal dürfen Sie raten, was ich nun tat. Natürlich habe ich sofort die Hand in die angebliche Ritze zwischen den Welten geschoben und vor Spannung zu atmen aufgehört. Doch es ist nichts passiert.
Bestimmt sah das ziemlich dumm aus. Ein nackter Mann auf allen vieren, der die Hand unter dem Kissen hat und auf dessen Miene die Erwartung steht, es werde ein Wunder geschehen! Gut, dass ich die Vorhänge zugezogen hatte.
Nach einer Viertelstunde bekam ich langsam das Gefühl, Sir Maba Kaloch habe mich reingelegt. Vielleicht handelte es sich wirklich nur um einen Witz, eine kleine, aber elegante Rache dafür, dass ich ihn bei Sir Nuflin enttarnt hatte. Aber er hatte doch selbst gesagt, es werde recht lange dauern, den Wechsel der Welten zu erlernen. Und da die Hoffnung zuletzt stirbt, nistete sie sich bis auf weiteres in der dunkelsten Ecke meines Herzens ein, in der linken Kammer nämlich.
Zehn Minuten später schliefen mir die Beine ein, mein Ellbogen bat um Erbarmen, und die Hoffnung lag in den letzten Zügen. Dann begriff ich, dass meine rechte Hand nicht mehr unter dem weißen Kissen lag, sondern verschwunden war. Zwar konnte ich die Finger noch bewegen, brauchte dafür aber viel mehr Willenskraft als sonst.
Ich war so erschrocken, dass ich die Welt um mich herum vergaß. Meine eingeschlafenen Beine und meine verkrampfte Schulter waren plötzlich unwichtig. Mich interessierte allein, was mit der rechten Hand geschehen war. Ich brauche keine Zigaretten, ich kann wunderbar mit dem hiesigen Tabak leben, doch bitte gebt mir meine Hand zurück! Obwohl - gegen eine Zigarette lässt sich auch nichts einwenden ...
Ich zuckte so heftig nach vorn, dass ich das Gleichgewicht verlor. Zum Glück hat man es auf allen vieren ja nicht weit bis zum Boden. Ich lächelte nervös. Meine Hand war wieder da. Und sie hielt zwischen Zeige- und Mittelfinger eine glühende, halb aufgerauchte Zigarette, an deren Filter Lippenstiftspuren zu sehen waren. Offenbar hatte ich im Aschenbecher einer Frau gewildert. Über dem Filter las ich die bläuliche Zahl 555. Sündige Magister - ob das was zu bedeuten hatte? Ich nahm einen Zug, und mir wurde schwindelig vor Entzücken.
Der Mangel ließ mich zum Geizhals werden. Nach ein paar Sekunden drückte ich die Zigarette vorsichtig aus und ging mich waschen. Dann wärmte ich die Reste der Kamra vom Vortag auf, setzte mich in den Sessel und rauchte die Zigarette andächtig zu Ende. Welch seltsamer Tagesbeginn - als wäre ich in einem Märchen!
Ich muss gleich hinzufügen, dass ich mein Schlafzimmer bis zum Sonnenuntergang nicht verließ. Nicht einmal der Wunsch, Lady Melamori zu sehen, konnte mich dazu bewegen, vorzeitig im Haus an der Brücke zu erscheinen.
Die nächsten Versuche, in anderen Welten zu landen, kosteten mich viel mehr Zeit. Aber immerhin wusste ich jetzt, wofür ich litt. Als ich das Haus verließ, um zur Arbeit zu gehen, war ich stolzer Besitzer von vier irdischen Zigaretten, von denen drei schon angeraucht, die vierte aber noch jungfräulich war. Sie alle hatte ich behutsam in die Tasche meines Todesmantels gesteckt. Über all meinen Experimenten hatte ich völlig vergessen, etwas zu mir zu nehmen.
Ich hatte damit gerechnet, dass sich schon einen Tag nach der historischen Änderung des Chrember-Gesetzbuchs eine Schlange von Besuchern vor der Tür des Hauses an der Brücke einfinden würde. Doch ein Massenandrang von Köchen auf das heiß ersehnte Privileg, in der Küche die bisher verbotene Magie fünften bis zwölften Grades einzusetzen, blieb zu meiner Überraschung aus. Weder auf der Straße noch im Korridor waren Besucher zu sehen. Nicht mal im Saal der allgemeinen Arbeit, der als provisorisches Wartezimmer hätte dienen können, saß jemand herum. Melifaro thronte in seinem Büro und hatte das gelangweilte Gesicht eines allzu gut erholten Menschen. Sir Juffin kam mir aus seinem Zimmer entgegen.
»Du treibst mich noch in den Wahnsinn, Max. Heute bist du mal wieder auf die Minute pünktlich gekommen, nicht drei Stunden zu früh. Was ist bloß los mit dir?«
»Wissen Sie das noch nicht? Ich hab von Sir Maba geträumt.«
»Ach so. Und das war so schön, dass du gleich drei Stunden später gekommen bist als gestern?«
»Wissen Sie was? Er hat mir gezeigt, wie ich an Zigaretten kommen kann. Ich muss einfach nur unter mein Kissen langen.«
»Schau an - so fürsorglich ist unser Sir Maba! Das hätte ich nicht erwartet. Ist das denn wirklich passiert? Natürlich - es steht dir ja groß ins Gesicht geschrieben. Dabei war Maba nie ein guter Pädagoge. Er ist einfach zu ungeduldig, um sich mit Anfängern zu beschäftigen. Melifaro, wir unterhalten uns hier nur über Dummheiten - du brauchst also gar nicht zuzuhören«, meinte Juffin dann, weil ihm das neugierige Gesicht seines Tagesantlitzes aufgefallen war. »Du Ärmster wirst demnächst jede Menge arbeiten müssen, weil Max sich jetzt bestimmt nur noch mit seinem Kissen beschäftigt.«
»Das leuchtet ein«, sagte Melifaro nickend. »Warum sollte man sich auch mit Unsinn abgeben? Vielleicht bist du irgendwann so weit, dich auch mal mit deiner Kleidung zu beschäftigen.«
Diese Anspielung überhörte ich mit der Generosität des glücklichen Menschen.
»Bevor ich aber die Welt fliehe, können wir uns noch etwas mit den laufenden Geschäften befassen. Verrate mir doch bitte, wo die Köche geblieben sind. Bin ich vielleicht zu spät dran? Ist die ganze Meute schon heute Morgen aufgetaucht?«
»Hier war fast niemand«, meinte Melifaro und gähnte. »Nur Tschemparkaroke, der Wirt vom Alten Dorn. Das war vielleicht ein Anblick! Er hat schon auf der Schwelle gerufen, er habe sein Spezialgericht Rekreationssuppe immer ohne Magie gekocht. Sonst hätte er es ja gleich den Schweinen vorsetzen können. Dann meinte er, der Ohrring Ochola sei sehr schick und werde sicher all seinen Kunden gefallen. Dieser komische Kauz wollte den Ohrring unbedingt vor dem Spiegel gestochen bekommen, um alles genau zu sehen. Ich wollte mich ein wenig amüsieren und hab alle jüngeren Mitarbeiter gerufen. Sie haben sich im Kreis um Tschemparkaroke aufgebaut, und jeder hielt einen Spiegel, damit der Koch die Prozedur von allen Seiten beobachten konnte. Ich hab ihm den Ring ins Ohr gesteckt und dabei eine abstruse Zauberformel gemurmelt, die ich mir mindestens zur Hälfte spontan ausgedacht habe. Aber er war überglücklich! Er hat sich eine halbe Stunde vor dem Spiegel im Korridor gedreht und sogar die Polizisten aus der anderen Gebäudehälfte gerufen, damit sie sein Schmuckstück bewundern. Dann ist er wieder zu mir gekommen und hat mir vorgeschwärmt, wie sehr ihm der Ohrring gefalle. Und dann ist er endlich gegangen. Wie ich gehört habe, rennen ihm die Gäste inzwischen das Lokal ein.«
»Also ist nur ein einziger Koch aufgetaucht? Und das nicht mal wegen der Magie, sondern nur wegen des Ohrrings? Was ist bloß los, Juffin?«, fragte ich verwirrt. »Sie haben alles so schön vorbereitet und den alten Nuflin zur Änderung des Gesetzbuchs gebracht, und jetzt bleiben diese Dummköpfe einfach weg.«
»Weil sie keine Dummköpfe sind, Max, sondern vernünftige und vorsichtige Leute. Hast du wirklich gedacht, sie würden alle schon am ersten Tag angelaufen kommen? So ein Ohrring ist kein Spaß, sondern zieht Konsequenzen nach sich. Weißt du, was mit Köchen passiert, die beispielsweise Magie einundzwanzigsten Grades benutzen und zugleich den Ohrring tragen? Sie müssen schlimme Schmerzen erleiden. Und die berühmten Küchenzauberer sind schließlich auch nur Menschen, die nicht immer bereit sind, sich mit einer Beschränkung ihrer Künste auf Magie zwölften Grades abzufinden. Jeder Koch, der gegen das Gesetz verstieß, durfte bisher hoffen, das bliebe uns mit etwas Glück verborgen. Selbst die Aussicht, im Cholomi-Gefängnis zu landen, war nicht so schlimm - schließlich hat mehr als die Hälfte der wichtigsten Persönlichkeiten des Königreichs dort eine Zeit lang gesessen. Wer aber den Ohrring trägt, gerät gar nicht erst in Versuchung, das Gesetz zu überschreiten.«
»Man könnte ihn doch einfach abnehmen ...«
Wieder begriff ich nichts, weil ich am Abend zuvor zu müde gewesen war, Juffin nach dem Ring zu fragen.
»Was redest du denn da für einen Unfug, Max? Schau her, du Steppenwunder.« Melifaro streckte mir die Hand entgegen und präsentierte mir einen ziemlich großen Ohrring aus dunklem Metall, der - anders als normaler Ohrschmuck - keinen Verschluss besaß. Vorsichtig nahm ich das kostbare Stück in die Hand. Es war schwer und warm.
»Dieser Ring lässt sich ganz leicht ins Ohr stecken, aber dazu braucht man einen Spezialisten wie mich. Denn das Metall kann das Ohr nur durchdringen, wenn man eine Zauberformel benutzt«, erklärte Melifaro mit wichtiger Stimme. »Aber ihn abzunehmen ... Im Orden des Siebenzackigen Blattes gibt es einige Leute, die darauf spezialisiert sind. Doch einfach so in die Burg Jafach zu gehen und zu sagen: »Nehmen Sie mir das Ding bitte ab. Ich habe Lust, ein wenig zu zaubern!«, ist keine besonders gute Idee. Hab ich Recht, Chef?«
»Absolut«, meinte Juffin gähnend. »Absolut. Meine Anwesenheit ist inzwischen wirklich überflüssig. Ich geh schlafen, Jungs. Ich bin todmüde.«
»Dann war der ganze Besuch in Jafach also überflüssig?«, fragte ich beharrlich. »Kommen wirklich keine Köche zu uns?«
»Überflüssig? Das braucht nur etwas Zeit! Heute landet die ganze Stadt bei Tschemparkaroke, und morgen früh melden sich schon zwei seiner Kollegen bei uns. Am Abend läuft dann die ganze Stadt zu den beiden, und übermorgen werden sich mindestens zehn Personen bei uns melden. Bald können wir uns vor Antragstellern kaum noch retten. Alles braucht seine Zeit, verstehst du?«
»Natürlich«, sagte ich und seufzte begeistert. »Ein paar Tage kann ich schon noch aushalten.«
Melifaro erhob sich. »Ich geh kurz in den Alten Dorn, denn ich bin neugierig, ob Tschemparkaroke gelogen hat oder den Ohrring wirklich nur zur Zierde trägt. Was für ein Süppchen er jetzt wohl kocht? Liebes Nachtantlitz, komm doch mit.«
»Ich werde mich hüten. Aber geh ruhig, du Suchtbolzen.«
»Respekt, Max, du läufst heute verbal ja richtig Amok. Dabei bist du nur neidisch. Zu den Magistern mit dir -ich geh jetzt mein Süppchen genießen.«
»Wer hier genießen wird, wird sich noch zeigen«, flüsterte ich, als ich endlich allein war.
Ich ging in das Arbeitszimmer, das ich mit Juffin teilte, goss mir eine Tasse Kamra ein und zog eine halb aufgerauchte Zigarette aus dem Mantel. Auch ohne Rekreationssuppe kann das Leben sehr schön sein.
An diesem Abend ging ich nirgendwohin, weil Lady Melamori schlecht geschlafen hatte und zu müde war, mit mir spazieren zu gehen. Aber ihr Versprechen, am nächsten Abend würden wir bummeln, bis mir die Beine streikten, verschlug mir den Atem. Das war besser als nichts.
Die Prognose von Sir Juffin Halli trat ein. Am nächsten Morgen erschien Madame Zizinda mit ihrem Koch im Haus an der Brücke. Am späten Nachmittag tauchte dann eine üppige rothaarige Schönheit mit stahlblauen Augen auf. Sie hatte zwei schüchterne Köche im Schlepp. Ich war Zeuge ihres Auftritts, weil ich mal wieder ein paar Stunden zu früh zum Dienst erschienen war. Sir Lukfi kam im Laufschritt angehetzt, wäre beinahe über seinen langen Mantel gestolpert und sah die späte Besucherin errötend an. Da erst begriff ich, dass die berühmte Lady Warischa vor uns stand - die Frau unseres Obersten Wissenshüters Lukfi und Wirtin des in ganz Echo berühmten Restaurants Der dicke Mann in der Kurve. Sir Lonely-Lokley griff zu den üblichen Floskeln, wie sehr wir uns alle über ihren Besuch freuten und dergleichen. Auch Melifaro ließ sich nicht lumpen und stöberte in der Schatzkiste seiner lässigsten Komplimente, bis unser Oberster Wissenshüter, der solche Situationen ganz und gar nicht gewöhnt war, ihn mit dem Ellbogen in die Seite stieß und ihm »Du Charmeur!« zuzischte.
Daraufhin rief Lady Warischa, deren stattliches Ego durch unsere Komplimente zusätzlich aufgebläht war, ihren Gatten zur Ordnung und zog dann ab. Die Köche, die unterdessen Ohrringe bekommen hatten, folgten ihr eilig.
Bald darauf ging ich mit Melamori spazieren und ließ Kurusch im Büro zurück. Der Buriwuch hatte keine Einwände mehr dagegen erhoben, nachdem ich ihm eine Pirogge versprochen hatte.
Meine Natur war diesmal zum Glück nicht Gesprächsthema. Es gab allerdings auch keinen Kuss zum Abschied, doch das betrübte mich nicht weiter. Sollte die herrliche Lady ruhig einige Zeit brauchen, um in ihrem Herzen für mich Raum zu schaffen - bitte sehr! Ich konnte mir den Luxus leisten, Geduld zu haben, da ich sie inzwischen auch im Traum sah.
Es reichte schon, die Augen zu schließen, und gleich erschien sie in einem Winkel des Schlafzimmers. Anders als das Original hatte diese Lady keine Angst vor mir, sondern näherte sich lächelnd und zwitscherte einige süße Nichtigkeiten. Allerdings konnte sie mich nicht berühren - als stünde eine unsichtbare Mauer zwischen uns. Auch ich konnte nichts dergleichen tun, denn wenn ich von ihr träumte, vermochte ich mich nicht zu bewegen. Kaum war sie verschwunden, erwachte ich, wälzte mich lange im Bett herum und ließ alle Einzelheiten unseres Treffens vor meinem geistigen Auge Revue passieren.
Die Tage rasten nur so dahin. Zu Hause verbrachte ich Stunden über meinem Kissen, denn die Prozedur des Weltenwechsels mit der rechten Hand blieb langwierig und ermüdend. Aber ich hatte nichts dagegen und war glücklich, wenn mir ab und an ein kleiner Tabakraub gelang. Ethische Fragen beschäftigten mich dabei nicht besonders. Wenn ich mir keine Gedanken mache, läuft alles besser.
Abends spazierte ich mit Lady Melamori durch Echo, nachts saß ich faul im Büro und plauderte stundenlang mit Kurusch, und ein paar Stunden vor Sonnenaufgang ging ich nach Hause, um Melamori noch mal im Traum zu begegnen.
Natürlich merkte Sir Juffin schnell, dass etwas nicht stimmte, verlor aber kein Wort über meine regelmäßige Abwesenheit vom Dienst. Jedes Mal, wenn ich ihm begegnete, sah ich in seinen Augen eine unbeschreibliche Neugier funkeln. Der Ehrwürdige Leiter ähnelte einem Naturwissenschaftler, der sich im Labor begeistert über seine Glaskolben beugt. Anscheinend war ich für ihn eine Art seltsamer Virus, dessen stolz verkündete Entdeckung ihm unter Kollegen Ruhm und Ehre eintragen sollte.
Tatsächlich waren inzwischen Scharen von Köchen im Haus an der Brücke aufgetaucht. Schließlich beehrte uns auch der berühmte Gopa Talabun, jener Wirt also, dem alle Gasthäuser gehörten, die ein Skelett im Namen führten - ob sie nun Gesättigtes, Betrunkenes, Dickes oder Glückliches Skelett oder noch anders hießen. Damit war auch dem Letzten von uns klar, dass Sir Juffins geniale Idee in Echo eingeschlagen hatte.
Gopa brauchte den Ohrring allerdings nicht, denn er konnte weder kochen, noch nahm er warmes Essen zu sich. Stattdessen hatte er zwei Dutzend seiner besten Köche dabei, und während Melifaro ihnen Zaubersprüche in die Ohren träufelte, predigte Talabun den unbeschäftigten Mitgliedern des Kleinen Geheimen Suchtrupps, wie schädlich es sei, sich zu überfressen. Dabei wusste er bestimmt, dass ihm niemand richtig zuhörte.
Seit unserem historischen Besuch in der Burg Jafach waren zehn Tage vergangen. Eine Stunde vor Sonnenuntergang meldete sich Sir Kofa Joch per Stummer Rede bei mir, als ich die Hand gerade wieder unter mein Kissen schieben wollte, um die sechste Zigarette des Tages zu organisieren. Bisher war es mir selten gelungen, bis Dienstantritt auch nur fünf Kippen zu ergattern, doch ich versuchte es unverdrossen weiter.
»Kommen Sie heute wie üblich im Todesmantel zum Dienst, Sir Max, aber bringen Sie auch Sachen zum Wechseln mit«, riet mir Sir Kofa. »Und machen Sie sich auf alles gefasst.«
»Ist etwas passiert?«, fragte ich erschrocken.
»Nein, aber heute Nacht wird etwas passieren, glauben Sie mir. Erwarten Sie mich kurz nach Mitternacht. Ende.«
Ich war so verwirrt, dass ich vergaß, mich über die sechste Zigarette zu freuen, die mir wie von selbst in die Hand gesprungen zu sein schien.
Im Haus an der Brücke herrschte der alltägliche Wahnsinn. Ein abgemagerter und schlecht gelaunter Melifaro diskutierte mit einem runden Dutzend Köchen, die den Ohrring Ochola unbedingt an diesem Abend noch bekommen wollten.
»Meine Herren, ich arbeite nur bis Sonnenuntergang. Sehen Sie die Sonne noch irgendwo am Himmel? Oder haben Sie nicht auch den Eindruck, dass es massiv dämmert? Na also - kommen Sie bitte morgen wieder.«
Die Köche, die stundenlang im Saal der allgemeinen Arbeit ausgeharrt hatten, scharrten verärgert mit den Füßen und hofften noch immer, Melifaro würde nur ein wenig jammern und ihnen dann doch noch einen Ohrring verpassen.
»Stört es Sie so sehr, morgen wiederzukommen?«, fragte ich freundlich. »Wenn Sie dafür keine Zeit haben, kann ich mich ja jetzt mit Ihnen beschäftigen. Ist jemand interessiert?«
Erschrocken musterten die Köche meinen schwarzgoldenen Todesmantel und verließen nacheinander den Saal. Nach einer Minute war ich mit Melifaro allein.
»Vielen Dank, Sir Nachtantlitz«, sagte er und lächelte müde. »Ich hätte nicht gedacht, dass es in Echo so viele Köche gibt. Heute habe ich hundertfünfzig Männer beringt - ist das nicht unglaublich? Und ich bin nicht so abgehärtet, wie dieser Unmensch Juffin vermutet. Aber jetzt lege ich mich schlafen. Morgen beginnt die Fron von neuem.«
Ich ging in mein Büro. Es war leer - Sir Juffin war bestimmt in ein Wirtshaus gegangen, um die segensreichen kulinarischen Folgen seiner Gesetzesreform zu genießen.
»Max«, sagte Lady Melamori, die plötzlich in der halb offenen Tür stand, »bist du schon da?«
»Nein«, entgegnete ich mit gespielter Entrüstung. »Du hast Halluzinationen!«
»Das hatte ich mir schon gedacht«, meinte sie und setzte sich auf die Armlehne meines Schreibtischstuhls.
»Kannst du mir Kamra geben? Ich hab Lust, ein wenig mit dir zu plaudern. Heute möchte ich nicht spazieren gehen. Weißt du, in letzter Zeit schlafe ich schlecht. Ich wollte dich fragen ...«
»Schieß los!«
Doch in diesem Augenblick kam der Bote vom Fressfass. Melamori schenkte sich ein wenig Kamra ein und versenkte den Blick darin. Also würden wir uns die nächsten zehn Minuten nicht unterhalten (einige ihrer Gewohnheiten kannte ich inzwischen ja schon). Nach kurzem Zögern holte ich eine Zigarette aus der Manteltasche. Zu den Magistern mit der Heimlichtuerei! Sollte mich Lady Melamori auf den Glimmstängel ansprechen, konnte ich immer noch behaupten, ein Päckchen davon aus meiner wilden Heimat als Geschenk bekommen zu haben.
Doch Melamori fragte nicht nach meinen Zigaretten.
»Ich träume jede Nacht von dir«, stellte sie mürrisch fest, »und wollte dich fragen, ob du das mit Absicht machst.«
Reinen Gewissens schüttelte ich den Kopf, denn ich hatte ihre Träume nicht im Geringsten manipuliert und hatte auch keine Ahnung, wie das gehen sollte.
»Auch ich träume von dir - was ist daran so seltsam?
Ich denke viel an dich, und du erscheinst in meinen Träumen. Mehr nicht. So läuft das immer.«
»Ich meine etwas anderes. Bist du sicher, dass du keine Magie einsetzt?«
Ich lachte herzlich.
»Das kann ich gar nicht, Melamori. Frag Juffin! Er hat sich sehr gequält, mir ein paar elementare Dinge beizubringen.«
Das war etwas untertrieben, denn ich lernte schnell und leicht. Aber ich hatte den Eindruck, es würde nicht schaden, ein wenig tiefzustapeln. Die nette Lady sollte mich ruhig für beschränkt halten - das würde sie besser schlafen lassen.
»Verstehe. Natürlich denke auch ich viel an dich. Doch meine Träume erschrecken mich. Ich wollte dich nur herzlich bitten, keinen Zwang auszuüben, um mich in deinen Träumen erscheinen zu lassen. Warte einfach ab. Dass ich so oft von jemandem träume, ist mir noch nie passiert, und ich brauche ein wenig Zeit, mich daran zu gewöhnen.«
»Natürlich. Ich werde tun, was du befiehlst, grausame Lady. Ich kann warten, Kopfstand lernen und mir sogar die Haare rot färben lassen. Wenn es sein muss, bin ich sehr pflegeleicht.«
»Du willst dir die Haare rot färben lassen? Was sind denn das für Sprüche?«, rief Melamori und kicherte verzückt. »Dass du überhaupt auf so eine Idee kommst ... Weißt du, wie das aussehen würde?«
»Ich wäre der Hübscheste weit und breit«, meinte ich stolz. »Du würdest deinen Augen nicht trauen.«
Kaum war ich allein, schüttelte ich begeistert den Kopf. Meine lang erwartete, innig ersehnte Affäre am Arbeitsplatz trat langsam in ihre heiße Phase. Und die Träume ... Na, wie man hier in Echo sagt: Wir waren uns gegenseitig ans Herz gewachsen und träumten deshalb voneinander. Ich kam nicht auf die Idee, die Fragen von Lady Melamori ernst zu nehmen. Dabei hätte ich ahnen können, dass wir beide den gleichen Traum sahen. Manchmal bin ich erstaunlich begriffsstutzig. Besonders, wenn es mir in den Kram passt.
»Langweilen Sie sich?«, fragte Sir Kofa, der so unvermittelt aufgetaucht war, dass ich wie angestochen aufsprang. »Ziehen Sie sich lieber rasch um, und dann gehen wir.«
»Wohin denn?«, fragte ich neugierig.
»Wohin wohl? Dorthin, wo Wunder geschehen. Ich muss Sie wirklich noch ein wenig erziehen.«
»Und wer soll hierbleiben?«, fragte ich und hatte schon begonnen, den Todesmantel abzulegen. Darunter trug ich eine unauffällige dunkelgrüne Skaba. Ich durfte nicht vergessen, meine Schuhe zu wechseln: Die Mokassins mit Drachenmuster passten absolut nicht zu meinem neuen Outfit.
»Kurusch kann ja die Stellung halten, oder? Er bleibt doch auch immer allein hier, wenn Sie mit Lady Melamori in der Stadt herumspazieren.«
»Max hält es nie lange in seinem Büro aus«, meinte der Buriwuch traurig. »Kaum ist er gekommen, geht er schon wieder. Menschen sind unstete Wesen.«
»Da hast du Recht, Kurusch«, sagte Kofa und lächelte. »Aber du hast doch sicher nichts dagegen, dass ich Sir Max entführe?«
»Nein - sofern er mir eine Pirogge mitbringt«, sagte der kluge, aber leicht korrumpierbare Vogel.
»Mein Süßer, ich kann dir ein Dutzend Piroggen mitbringen«, bot ich ihm an und hüllte mich dabei in einen unauffälligen dunkelbraunen Lochimantel. »Fertig, Sir Kofa.«
»Aber nein! Wollen Sie etwa sofort erkannt werden? Meinen Sie, niemand in Echo kennt Ihr Gesicht? Kommen Sie mal her.«
Er musterte mich skeptisch und massierte mir dann sanft das Gesicht. Das war angenehm, auch wenn es etwas kitzelte. Am Ende zwickte er mich leicht in die Nase.
»Ich glaube, das steht Ihnen besser. Schauen Sie sich mal im Spiegel an.«
Ich ging in den Flur, stellte mich vor den Spiegel und sah mich einer nicht eben sympathisch wirkenden Person gegenüber. Ich schielte leicht und hatte eine lange Nase. Mein Kinn stand deutlich vor, und meine Augenbrauen waren ungemein buschig.
»Können Sie das auch wieder rückgängig machen?«, fragte ich erschrocken. »Dieser Typ gefällt mir nämlich gar nicht.«
»So - dieser Typ gefällt Ihnen nicht? Sie haben noch immer nichts kapiert. So fallen Sie wenigstens niemandem auf! Sie haben jetzt ein ziemlich durchschnittliches Gesicht, Sir Max. Haben Sie das noch nicht bemerkt?«
»Leider nicht. Manchmal bin ich schwer von Begriff. Aber gut, ich bin mit dem neuen Gesicht einverstanden -vorausgesetzt, Sie geben mir demnächst mein altes zurück.«
»Das geht ganz von allein. Spätestens morgen sind Sie wieder der Alte. So ein einfacher Zaubertrick hält nicht lange vor.«
Mit lässiger Geste veränderte Kofa auch sein Gesicht, und wir wurden einander ähnlich wie Brüder, die das Pulver nicht erfunden haben, wobei Kofa der Ältere, ich der Jüngere war.
»Wohin gehen wir eigentlich?«, fragte ich, da ich vor Neugier fast platzte.
»Wissen Sie das auch noch nicht? Wir machen einen Zug durch alle Wirtshäuser. Schließlich stehen wir am Anfang einer neuen Epoche: der Zeit guten Essens. Und ich will nicht, dass Ihre mangelhaften Kenntnisse in diesem Bereich Sie zu einer trostlosen Existenz in dieser schönen, neuen Welt verdammen. Ich bin ein guter Mensch - haben Sie das noch nicht bemerkt?«
»Sie wollen also sagen«, unterbrach ich ihn und musste lachen, »dass ich den Dienst schwänzen soll, um mit Ihnen um die Häuser zu ziehen? Sir Kofa - das hört sich großartig an!«
»Ich sehe darin nichts Verwerfliches und bin überzeugt, Juffin würde unsere Expedition billigen - selbst wenn das Haus an der Brücke in Ihrer Abwesenheit in die Hände dunkler Magister geriete. Außerdem tue ich nur meine Pflicht, und Sie helfen mir dabei.«
»Sie wissen doch sicher, wie Melifaro Sie spöttisch nennt?«
»Natürlich - den Essenden Meister des Verhörs. Darin sehe ich nichts Ehrenrühriges.«
Zu meinem Erstaunen ließen wir das Fressfass auf unserer Tour links liegen.
»Auch ohne mich landet ihr dank Sir Juffin fast jeden Tag hier. Was das Essen angeht, ist er erzkonservativ«, meinte Kofa mit abfälliger Handbewegung. »Er ist einfach überzeugt, man müsse nichts Besseres suchen, wenn man etwas Gutes gefunden hat. Die Küche im Fressfass ist prima, keine Frage. Aber jeden Tag das Gleiche essen? Das geht doch nicht!«
Zuerst landeten wir im Lustigen Skelett. Mir fiel auf, dass die zahlreichen Skelett-Lokale mich an die vielen McDonald's in meiner Heimat erinnerten, und ich musste lächeln.
»Was gibt's?«, fragte Kofa und setzte sich an einen Ecktisch.
»Nichts Besonderes. Ich hab nur daran gedacht, wie viele Skelette es in Echo gibt.«
»Wissen Sie, woher dieser Name kommt? Natürlich nicht - auch davon haben Sie mal wieder keine Ahnung. Juffin war offenbar nicht klar, was er Ihnen zuerst hätte beibringen müssen. Also hören Sie gut zu. Der Eigentümer aller Skelett-Lokale heißt Gopa Talabun. Sie haben ihn schon mal gesehen, als er mit all seinen Köchen im Haus an der Brücke aufgekreuzt ist. Er stammt aus einer sehr reichen Familie von Vorkostern, die früher ungemein einflussreich waren. Sie waren so ans gute Essen gewöhnt, dass sie sich nach Beginn der Epoche des Gesetzbuchs leidenschaftlich nach den alten kulinarischen Verhältnissen zurückgesehnt haben. Sie taten sich zusammen und befahlen ihren Köchen, das Essen wie früher zuzubereiten - also mithilfe verbotener Magie. Und sie fraßen so viel, dass sie fast daran gestorben wären. Damals waren die Zeiten allerdings ereignisreicher als heute, und Juffin und ich hatten auch ohne die Talabuns genug zu tun. Nur selten fanden wir Zeit, sie zu überraschen, doch wir konnten nie einen von ihnen verhaften, da wir stets nur auf fast komatös dahindämmernde Vielfraße trafen. Irgendwann ist Gopa ein riesiges Erbe zugefallen, zu dem auch zwei Häuser gehörten. Dort hat er zwei Gaststätten eröffnet. Das war seltsam, weil Gopa in seiner Jugend asketisch gelebt, sich mit seinen Eltern überworfen und die familiären Traditionen verachtet hat. Natürlich hat er auch nie an Fressorgien teilgenommen. Es heißt, er ernähre sich bis heute nur von Butterbroten, und ich glaube das. Dieser Gopa hat wirklich einen seltsamen Humor«, meinte Sir Kofa und zeigte dabei in eine entfernte Ecke des Gastraums, wo zwei nicht gerade große Skelette an einem Tisch saßen.
»Die sind echt. Es handelt sich um Verwandte von Gopa. Solche Knochenmänner hocken in jedem seiner Wirtshäuser. Und der Name jedes Lokals spielt auf Eigenschaften der Verstorbenen an. Dieses Haus gehörte früher einem Ehepaar, das ziemlich klein und sehr lustig war. Sehr nette Leute waren das, mit denen ich sogar befreundet war. Und jetzt bekommen wir etwas Besonderes zu essen. Also aufgepasst! Gopa hat die alten Köche des Lokals übernommen, und die Familie Talabun hat immer nur die besten Leute beschäftigt. Sir Max, das ist ein wunderbarer Augenblick - wir bekommen jetzt das Große Flöckchen.«
Als ich den Kellner mit einem Servierwagen voller chinesischer Pfannkuchen auf uns zukommen sah, war ich sehr erstaunt. Jeder davon hatte einen Durchmesser von etwa einem Meter.
»Sir Kofa, ich esse natürlich gern gut«, flüsterte ich, »aber Sie überschätzen meinen Magen.«
»Immer mit der Ruhe. Schweigen Sie einfach und halten Sie die Augen auf.«
Der Kellner blieb an unserem Tisch stehen, verbeugte sich ehrerbietig und stellte zwei ziemlich kleine Teller vor uns hin. Ich hatte mir kaum über die ungeheure Größe der Pfannkuchen Gedanken machen können, da nahm der Kellner schon zwei von ihnen und legte sie auf unsere Teller. Dann begann er zu pusten, wie eine fürsorgliche Großmutter auf eine Milchsuppe pustet und ihren Lieblingsenkel herzlich bittet, noch einen Löffel zu essen. Doch anders als die verhasste Milchsuppe begannen unsere Pfannkuchen rapide zu schwinden. Und als das Große Flöckchen nur noch klein wie ein Crepe war, begann Sir Kofa mit dem Essen.
»Es ist besser, sich bei diesem Gericht etwas zu beeilen«, stellte mein Cicerone mit vollem Munde fest. »In ein paar Minuten ist es schon nicht mehr lecker.«
Ich folgte seinem Rat und begann ebenfalls zu essen. Der Pfannkuchen schmeckte wunderbar nach Fleisch und war herrlich saftig. Erstklassig!
Der Kellner lud uns immer neue Portionen auf, und wir nahmen sie unverzagt in Angriff. Schließlich war der Servierwagen leer, und der Ober ließ uns allein.
»Sie dürfen das Große Flöckchen nur hier bestellen. Anderswo ist es nicht so lecker - das hab ich schon überprüft«, meinte Sir Kofa und verdrehte träumerisch die Augen. »Kaum zu glauben, dass dieses herrliche Gericht früher als einfache Mahlzeit galt. Die hauptstädtischen Köche haben ihre Kunst in den letzten hundert Jahren sträflich vernachlässigt und werden sie nun aufs Neue erlernen müssen. Bessere Zeiten stehen vor der Tür, Sir Max! Aber jetzt ziehen wir weiter.«
Und genau das taten wir auch.
»Ich esse eigentlich in allen Skeletten gern«, schwadronierte Sir Kofa. »Mit erlaubter Magie allein könnten Gopas Köche Madame Zizinda oder Meister Itulo - die dunklen Magister seien seiner Seele gnädig! - allerdings nicht das Wasser reichen. Gopas Leute sind alte Schule und können ohne Magie höchstens Butterbrote schmieren. Aber jetzt ist ihre Zeit gekommen.«
»Warum wurden seine Köche eigentlich nie verhaftet, obwohl sie jahrelang unerlaubte Magie zehnten und höheren Grades anwandten? Warum hat man sie nicht nach Cholomi gebeten?«
»Nach Cholomi? Warum das denn?«
»Sie haben doch selbst gesagt, Gopas Köche hätten das Essen wie in der guten alten Zeit zubereitet. Ich vermute also, sie haben ziemlich viel gezaubert.«
»Ach so! Wissen Sie, Max, die Köche haben nur getan, was ihnen befohlen wurde. Sie mussten ihre Unschuld nicht beweisen, weil ihre Arbeitgeber ein Papier unterschrieben hatten, in dem sie die Verantwortung für sämtliche unerlaubte Magie übernahmen. Also haben wir nur Mitglieder der Familie Talabun eingesperrt - vorausgesetzt, sie waren nach ihren Völlereien überhaupt noch transportfähig.«
»Dort, wo ich aufgewachsen bin, wären alle zur Verantwortung gezogen worden - Befehlende und Befehlsempfänger.«
»Das klingt aber unschlau. Wie kann man Leute bestrafen, die nicht aus freien Stücken gehandelt haben? Offenbar herrschen in Ihren Leeren Ländern seltsame Verhältnisse.«
Sir Kofa Joch musterte mich eindringlich, und ich begriff, dass er nicht an meine Herkunftslegende, die ich gemeinsam mit Sir Juffin ausgeknobelt hatte, glaubte. Dennoch schwieg er.
Als Nächstes besuchten wir das Glückliche Skelett. Einmal mehr wies Sir Kofa auf einen Tisch in einem Winkel der Gaststube, an dem diesmal ein Skelett saß, das herzlich lächelnd die Zähne fletschte.
»Jetzt werden wir eine Pute Hathor essen«, erklärte Sir Kofa triumphierend.
»Wie soll die heißen?«, fragte ich, weil ich meinen Ohren nicht traute.
»Hathor - das ist eine tierähnliche Göttin aus einer anderen Welt, von der ich eigentlich nur den Namen weiß. Ach ja, sie trägt den Kopf eines Stiers auf ihrem zierlichen Hals.«
»Den Kopf einer Kuh«, verbesserte ich unwillkürlich. »Hathor ist eine Frau - da kann sie nur einen Kuhkopf tragen.«
»Woher wissen Sie denn das?«, fragte Sir Kofa erstaunt.
»Aus Sir Manga Melifaros Enzyklopädie natürlich -woher sonst? Ich lese immer darin, wenn ich nicht schlafen kann.«
»Dann müssen Sie aber oft an Schlaflosigkeit leiden.«
Ich zuckte nur die Achseln. Schließlich konnte ich Sir Kofa schlecht sagen, dass Hathor zu den wichtigsten tierähnlichen Göttinnen der altägyptischen Mythologie gehört.
In diesem Augenblick stellten zwei Kellner einen riesigen Teller vor uns hin, auf dem ein Stierkopf lag, zwischen dessen Hörnern sich eine knusprig gebratene Pute befand. Zuerst dachte ich, der Vogel stecke auf einem Spieß oder hänge an einem Bindfaden, doch dann bemerkte ich, dass er schwebte!
»Legen Sie die Pute bloß nicht auf den Teller«, flüsterte Sir Kofa mir zu. »Sie muss bleiben, wo sie ist. Sie können das Fleisch mit dem Messer schneiden und dürfen dabei gern die Gabel zu Hilfe nehmen, aber berühren Sie den Vogel auf keinen Fall mit der Hand. Sonst verderben Sie den Geschmack.«
Ich hörte auf ihn. Es wäre wirklich eine Sünde gewesen, den Geschmack eines so herrlich duftenden Tieres zu ruinieren.
Nach dem vierten Wirtshaus bat ich um Gnade. Ich fürchtete, auch bald - dem Vorbild manches Mitglieds der Familie Talabun getreu - ohnmächtig über meinen Teller zu sinken.
»Sie sind ja ein schlechter Esser! Das hätte ich nie gedacht. Aber ich möchte Ihnen gern noch ein nettes Lokal zeigen, wo es ausgezeichnete Desserts in wunderbar kleinen Portionen gibt - Ehrenwort!«
»Wenn's sein muss«, murmelte ich träge. »Aber das ist garantiert die letzte Spelunke für heute.«
Das Lokal hieß Gerb Iraschi.
»Wer war dieser Iraschi überhaupt?«, fragte ich benommen.
»Das gibt's doch nicht! Sie wissen, wer Hathor war, haben aber keine Ahnung, wie Ihr Nachbarstaat heißt?«
»Ich bin pappsatt und kann einfach nicht mehr klar denkend-
junge, Junge, war das peinlich! Abgesehen davon, dass die Enzyklopädie seit langem unaufgeschlagen am Kopfende meines Betts vegetierte, kannte ich mich in der Geografie dieser Welt miserabel aus.
Sir Kofa schüttelte vorwurfsvoll den Kopf, und wir betraten das Gerb Iraschi.
»Hokota!«, rief uns der Barkeeper zur Begrüßung zu.
»Hokota!«, antwortete Sir Kofa gespreizt.
»Was haben Sie da gesagt?«, fragte ich neugierig.
»Ach, das gehört zu den Nettigkeiten des Lokals. Die Besitzer sind Nachkommen der Ureinwohner von Echo, kochen aber auf iraschische Art und versuchen deshalb, mit den Besuchern Iraschisch zu sprechen, soviel sie können. Iraschi gehört allerdings zu den wenigen Staaten, wo eine vollkommen andere Sprache gesprochen wird als in Echo. Aber für die hiesigen Snobs ist dieses Geschwätz der Gipfel der Raffinesse.«
»Ach so. Und Sie haben gerade eine Begrüßungsfloskel benutzt?«
»Natürlich. Aber sehen Sie den Kerl da drüben im dunkelblauen Lochimantel? Der ist seltsam gekleidet, finden Sie nicht?«
»Seltsam? Wie meinen Sie das, Sir Kofa?«
Aufmerksam musterte ich den ärmlich angezogenen Mann mittleren Alters, der über seine Tasse gebeugt war und auf die Theke stierte.
»Fällt Ihnen gar nichts auf? Nicht mal der Gürtel?«
»Von hier aus sehe ich keinen Gürtel, aber warten Sie ... Donnerwetter, was für ein schönes Stück!«
Unter dem dunkelblauen Lochimantel des Unbekannten sah ich nun tatsächlich einen breiten und sehr auffälligen Gürtel in allen Perlmutttönen schillern.
»Sündige Magister - so ärmliche Kleidung, aber so ein toller Gürtel! Seine Skaba ist an vielen Stellen geflickt, sehen Sie das, Sir Max?«
»Sie haben wirklich Adleraugen, Kofa.«
»Na ja, mitunter. Aber da kommt ja das Dessert.«
Unsere Portionen waren tatsächlich sehr klein. Wir bekamen eine winzige, munter wackelnde Pirogge, die allerdings nicht nach Götterspeise aussah und unverdrossen weiterzitterte, nachdem der Kellner sie längst abgesetzt hatte. Dazu bekamen wir so riesige Löffel, dass ich mir nicht vorstellen konnte, damit zu essen.
»Entschuldigung«, rief ich einem vorbeikommenden Kellner zu. »Das ist kein Löffel, sondern eine Kohlenschaufel! Können Sie uns kein passenderes Besteck bringen?«
»Chwara tonikai! Okir blad tu!«
Kaum hatte der Ober diese geheimnisvollen Worte ausgestoßen, verschwand er. Ratlos sah ich meinen Begleiter an.
»Was hat er gesagt?«
»Das mögen die Magister wissen! Ich bin doch kein Dolmetscher aus dem Iraschischen. Zuerst hat er sich entschuldigt, aber dann? Vermutlich hat er gesagt, er wird uns geeignete Löffel bringen. Aber Sie machen einen Fehler, Sir Max. Das seltsame Besteck verleiht dem Lokal nun mal das gewisse Etwas. So ein erlesenes Dessert - und dazu ein völlig unpassendes Besteck. Nirgendwo in Echo finden Sie etwas Vergleichbares.«
»Ich kann auch ohne diese Extravaganz leben«, entgegnete ich abwinkend. »Mit dieser Kohlenschaufel jedenfalls esse ich nicht - dann lieber mit den Händen. Warum habe ich meinen Todesmantel nur im Büro gelassen?! Wenn ich den trüge, hätte mir die Wirtsfamilie zum Dessert sicher ein silbernes Löffelchen gebracht. Ich schlag hier gleich Krawall.«
Tatsächlich aber hatte ich gute Laune, und auch Sir Kofa sah sehr zufrieden aus.
»Na ja, es ist eben nicht leicht, nur ein Normalsterblicher zu sein. Toben Sie ruhig - ich bin gespannt, was dabei rauskommt. Und jetzt werde ich essen, denn mir gefällt mein Löffel.«
Doch schon kam der junge Kellner angehetzt und winkte siegesgewiss mit einem Löffelchen, das mir für den Nachtisch wie geschaffen schien.
»Schopra kon«, sagte der Junge, verbeugte sich vor mir, wandte sich dann an Sir Kofa und murmelte pflichtbewusst: »Chwara tonikai! Pret!«
»Ist ja schon gut«, meinte Sir Kofa erstaunt. »Geh ruhig wieder.« Dann wandte er sich an mich: »Wissen Sie was? Sie brauchen keinen Todesmantel - die Leute haben auch so Angst vor Ihnen. Das ist bestimmt Instinkt. Für Sir Max haben sie gleich einen Löffel gefunden, für mich natürlich nicht. Wie ließe sich das sonst erklären?«
Ich war über meinen kleinen Sieg sehr glücklich, und auch der Nachtisch enttäuschte mich nicht.
»Sehen Sie mal, Sir Max«, meinte Kofa und stieß mich in die Seite. »Da ist schon der Zweite. Jetzt versteh ich gar nichts mehr. Ist das eine neue Mode?«
»Welcher Zweite? Ich weiß nicht ...«, begann ich, brauchte aber nur zum Eingang zu schauen, um Bescheid zu wissen. Ein hübscher junger Mann in prächtigem gelbem Lochimantel stand in der Tür. Als sich sein Mantel öffnete, sahen wir erneut eine schäbige Skaba und einen prunkvollen Gürtel aus Perlmutt.
»Ein lustiger Zufall«, kicherte Sir Kofa. »Zum ersten Mal sehe ich so einen auffälligen Gürtel - und dann gleich doppelt. Schauen Sie, jetzt haben sie einander bemerkt. Na so was!«
Die Gürtelbesitzer erstarrten und musterten sich von Kopf bis Fuß. Die Miene des Jüngeren im gelben Mantel verriet Staunen, Angst und anscheinend auch Mitgefühl. Er öffnete den Mund und machte einen kleinen Schritt Richtung Theke, drehte sich dann aber um und verließ das Lokal. Der andere hätte beinahe seinen Hocker an der Theke verlassen, winkte dann aber ab und bedeutete dem Barkeeper, ihm nachzuschenken. Gleich ruhte der Blick des Gürtelträgers wieder auf seiner Tasse.
»Was halten Sie davon, Sir Max?«
»Seltsame Sache«, meinte ich und zuckte ratlos die Achseln. »Aber wenn er geht, können wir uns ja an seine Fersen heften.«
»Bleiben Sie ruhig sitzen, Sie Held. Dem brauchen wir nicht zu folgen.«
»Warum nicht, Sir Kofa?«
»Na ja, wie soll ich Ihnen das sagen ...? Es schickt sich eben nicht für ein Mitglied des Kleinen Geheimen Suchtrupps, hinter dem Nächstbesten herzulaufen, der sich verdächtig benimmt. Prävention gehört nicht zu unseren Aufgaben. Wenn was passiert ist und man uns höflich bittet, uns damit zu beschäftigen, sieht die Sache natürlich ganz anders aus. Wir bleiben also gemütlich sitzen.«
»Na ja, Sie müssen es ja wissen.«
Offen gestanden war ich etwas enttäuscht.
»So ist es, mein Junge«, erklärte Sir Kofa und zwinkerte mir zu. »Aber verlieren Sie nicht den Mut. Vor Ihnen liegen noch viele grandiose Abenteuer und Verfolgungsjagden. Entspannen Sie sich jetzt und genießen Sie das Leben.«
»Genießen!? Sie scherzen wohl, Sir Kofa! Nach dieser Nacht werde ich eine Woche fasten.«
»Wenn Sie sich da mal nicht täuschen, mein Freund.
Jetzt lasse ich Ihnen das geheimnisvollste Gericht der alten Küche servieren.«
»Nein!«, rief ich, kniff die Augen zu und schüttelte den Kopf. »Bei allem Respekt, Sir Kofa - das lehne ich ab.«
»Nur keine überstürzten Entscheidungen! Sie wissen doch noch gar nicht, worauf ich hinauswill. Es ist absolut nicht dramatisch, Sir Max. Ich will Sie nicht weiter mästen, sondern von der Völlerei heilen - Ehrenwort!«
»Also los«, meinte ich erfreut. »Dafür ist es höchste Zeit.«
Mit diesen Worten verließen wir das Gerb Iraschi.
»Wenn Sie irgendwann Vorhaben, sich ins Koma zu fressen, gehen Sie in den Leeren Topf«, verkündete Sir Kofa. »Merken Sie sich die Adresse: Straße der Versöhnung 36. Ich hab so eine Ahnung, dass Sie dort oft vorbeisehen werden.«
Im Leeren Topf war es recht voll, aber die Bedienung war ziemlich fix. Schon nach ein paar Minuten kam ein Kellner mit einem kleinen Servierwagen zu uns. Mit der Lässigkeit eines erfahrenen Pharmazeuten hantierte er mit seinen Phiolen herum. Ich sah ihm interessiert zu. Sündige Magister - fast hätte ich mich übergeben. Der Mann öffnete eine Dose, entnahm ihr ein ranzig wirkendes Stück Speck und zerließ es in einer Pfanne. Nach einer Minute goss er das geschmolzene Fett in ein hohes Glas und wiederholte die Prozedur. Ich schluckte angewidert und wandte mich ab. Sir Kofa hingegen nahm ungerührt sein Glas und leerte es, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Trinken Sie ruhig! Ich will mich nicht über Sie lustig machen - ich will Ihnen nur helfen! Riechen Sie wenigstens mal daran.»
Gehorsam schnupperte ich an meinem Glas, und tatsächlich roch es nicht widerlich. Im Gegenteil: Ein leichter Duft nach Minze kitzelte meine Nasenflügel. Ich seufzte und trank das Zeug in einem Zug. Es war nicht so schlimm wie erwartet. Ehrlich gesagt war es sogar recht angenehm - als hätte ich ein Glas mit Wasser verdünnten Pfefferminzlikör getrunken.
»Und?«, fragte Sir Kofa fürsorglich. »Dass Sie so leicht zu beeinflussen sind, hätte ich nicht gedacht. Aber gut, gehen wir. Übrigens - was Sie da gerade getrunken haben, war der verflüssigte Knochen einer Wasserratte. So seltsam es klingen mag: Dieses Getränk sollten Sie sich merken.«
Kaum waren wir auf der Straße, musterte mich Sir Kofa erneut.
»Haben Sie wirklich keinen Hunger mehr, Max? Wir könnten noch ein paar interessante Lokale besuchen.«
»Zu den Magistern mit Ihnen! Ich wage gar nicht mehr, an Essen zu denken.«
»Wie Sie meinen. Sie können auch schon ins Haus an der Brücke gehen, denn gleich geht ohnehin die Sonne auf. Vergessen Sie aber nicht, Kurusch Piroggen zu kaufen. Er hat sie wirklich verdient.«
»Natürlich nicht. Und danke für Ihren Anschauungsunterricht! Das war die interessanteste Nacht meines Lebens.«
»Das will ich hoffen, Sir Max. Gute Nacht.«
Auf dem Weg zum Haus an der Brücke löste ich mein Versprechen ein und ging ins Fressfass, um ein Dutzend Piroggen zu kaufen. Kurusch wird sie bestimmt nicht alle auf einmal essen, dachte ich, aber es ist besser, ihn fürstlich dafür zu belohnen, dass ich meinen Arbeitsplatz habe verlassen dürfen.
Der appetitliche Duft des frischen Gebäcks brachte mich auf den Gedanken, mal wieder eine Kleinigkeit zu essen. Sündige Magister - ich musste verrückt sein! Wofür hätte nach dieser Schlemmernacht in meinem Magen noch Platz sein sollen?
Kurusch wirkte sehr glücklich und stürzte sich sofort auf die Leckereien. Ich schlüpfte wieder in meinen Todesmantel und betrachtete mich im Spiegel. Was für ein seltsamer Anblick! Meine normalen Gesichtszüge traten langsam wieder unter dem falschen Antlitz hervor. Ich hatte also kurzzeitig zwei Gesichter, und das eine arbeitete sich langsam durch das andere hindurch. Ich schauerte zusammen und ging mich rasch waschen. Auf dem Rückweg musterte ich mich erneut. Endlich erkannte ich meine gute alte Fratze wieder und hätte fast geweint - so glücklich war ich darüber, schon so berühmt zu sein, meine Gesichtszüge verändern zu müssen, um inkognito zu bleiben. Es mag Geschmackssache sein, den Todesmantel als Grund meiner Berühmtheit gutzuheißen, aber mir gefiel es.
Ich kehrte in mein Büro zurück. Kurusch wurde gerade mit der dritten Pirogge fertig und futterte nur noch mit gedämpfter Begeisterung, konnte also kaum noch Hunger haben. Neidisch betrachtete ich den Vogel und aß auf einen Satz fünf Piroggen. Ich hatte tatsächlich wieder Appetit bekommen. Der verflüssigte Knochen einer Wasserratte ist ein wunderbarer Verdauungstropfen - ich fühlte mich, als hätte ich seit Tagen nichts gegessen.
Daheim träumte ich erneut von Melamori. Die unsichtbare Wand, die uns trennte, verschwand plötzlich, und die Lady setzte sich neben mich. Meine Reglosigkeit belustigte sie. Und sie war sehr mutig, weil ich viele gefährlich echt wirkende Küsse bekam. Tatsächlich aber konnte von echten Küssen natürlich nicht die Rede sein. Dann verschwand sie, und ich erwachte.
Melamori verließ meine Träume stets bei Sonnenaufgang, also wenn die Menschen aufstehen, um zur Arbeit zu gehen. Diesem Umstand allerdings schenkte ich weiter keine Aufmerksamkeit. Das einzig Greifbare, was ich besitze, sind meine Träume.
Kurz vor Mittag nickte ich zum Schnurren meiner Katzen wieder ein. Deshalb hörte ich Sir Kofa, der sich bei mir per Stummer Rede meldete, nicht gleich.
»Max, genug gefaulenzt! Hier zeichnen sich interessante Entwicklungen ab. Also ...«
»Gehen wir etwa wieder zusammen essen?«
»Nein, diesmal werden wir zusammen arbeiten. Erinnern Sie sich an die beiden Gürtelbesitzer?«
»Natürlich. Aber ich brauche mindestens eine Stunde, um mich stadtfein zu machen.«
»Sie sind aber eitel! Na gut, bis in einer Stunde.«
Ich sprang aus dem Bett. Der schlafende Armstrong zuckte nicht mal mit den Ohren, Ella hingegen wachte auf und schritt auf Sammetpfötchen zu ihrem Napf hinüber. Ich musste also auch noch meinen Katzen zu fressen geben. Für langwieriges Wildern in den Tabakrevieren meiner alten Heimat reichte die Zeit ohnehin nicht mehr. Zum Glück hatte ich mir bereits einen Notvorrat zusammengehamstert.
Im Saal der allgemeinen Arbeit drängten sich schon wieder viele Köche. Mitleidig nickte ich Melifaro zu und betrat mein Büro, wo der bis zur Unkenntlichkeit verwandelte Sir Kofa, der diesmal krauses Haar, ein leicht gerötetes Gesicht und große Augen hatte, mit Sir Juffin tuschelte. Als die beiden mich sahen, verstummten sie sofort.
»Haben Sie Geheimnisse vor mir? Staatsgeheimnisse etwa?«
»Wie man's nimmt«, meinte Sir Juffin. »Schau bitte kurz in der Leichenhalle vorbei. Das wird ein lehrreicher Ausflug für dich sein, und wir können uns weiter ungestört unterhalten.«
Gehorsam ging ich in die Leichenhalle, die sich in dem Teil des Hauses an der Brücke befindet, in dem die Stadtpolizei untergebracht ist. Sündige Magister! Wer hätte gedacht, dass plötzlich alles so schnell ging: Dort lag doch tatsächlich der Mann im teuren gelben Lochimantel, den ich gestern mit Sir Kofa Joch gesehen hatte! Nur seinen Gürtel trug er nicht mehr. Ob es sich um einen Raubmord handeln mochte? Eigentlich kam dieses Delikt in Echo selten vor. Ich zog meinen Dolch, um zu prüfen, ob Magie im Spiel gewesen war, doch der Zeiger bewegte sich nicht. Aber wenn ich mir unbedingt die Leiche ansehen sollte, musste damit etwas faul sein -bloß was?
Als Erstes fiel mir auf, dass es weder Blut- noch Kampfspuren gab. Ob der Mann vergiftet worden war? Doch passte das zu einem Raubmord? War dieser Fall nicht eher etwas für Sir Juffin als für Kofa Joch und mich?
Ich sah mir die Leiche näher an. Etwas stimmte nicht damit, doch obwohl ich buchstäblich mit Händen greifen zu können glaubte, was es sein mochte, kam ich einfach nicht darauf.
Schließlich kehrte ich ratlos in mein Büro zurück. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich unterwegs mit Schichola, dem ehemaligen Leutnant der Stadtpolizei, zusammenstieß. Nach der schnellen Rettung von Bubuta Boch war er zum Hauptmann befördert worden, was er - anders als manche seiner Kollegen - schon lange verdient gehabt hätte.
Der Aufprall brachte Schichola ins Wanken, warf ihn aber nicht um.
»Haben Sie sich gerade unsere Beute angesehen, Sir?«, fragte mich der Gerempelte und massierte sich das Kinn.
»Ja, aber etwas stimmt damit nicht«, gab ich zurück und sah ihn nachdenklich an.
»Das glaube ich auch. Sir Kofa Joch hat ihn sich als Erster angeschaut, dann der Ehrwürdige Leiter und jetzt Sie. Dieser Vagabund scheint eine starke Anziehungskraft zu besitzen.«
»Vagabund!?«, fragte ich erstaunt.
Der teure Lochimantel und die eleganten Schuhe des Toten jedenfalls widersprachen der Behauptung, es handele sich um einen Stadtstreicher. Dann begriff ich! Unter der teuren Kleidung trug der Verstorbene eine alte, mehrfach geflickte Leinenskaba, die mich schon am Vortag stutzig gemacht hatte. Anscheinend hatte er sie jahrelang nicht abgelegt. Und genau das war das Widersprüchliche an der Leiche.
»Natürlich, er ist ein Vagabund!«, rief ich und ließ Hauptmann Schichola grußlos stehen.
»Und - was sagst du dazu?«, fragte Juffin und lächelte dabei so wohlwollend, als habe er mir mit dem Mustern der Leiche ein Geburtstagsgeschenk machen wollen.
»Nichts Besonderes. Der Mann ist recht eigenwillig angezogen, was mir allerdings erst nach einiger Zeit aufgefallen ist. Ich habe den Eindruck, er hat seine Skaba seit Jahren nicht gewechselt. Wer hat ihm eigentlich den Gürtel abgenommen - der Mörder oder Sie?«
»Wir jedenfalls nicht - leider.«
»Und woran ist er gestorben? Ich habe keine Wunden entdeckt. Ist er etwa vergiftet worden?«
»Durchaus möglich. Bisher konnten wir wenig ermitteln. Ist dir vielleicht sonst noch was aufgefallen?«
»Nichts.«
»Gar nichts?«
»Na ja, als ich ihn mir vorhin angeschaut habe, hat mein Herz plötzlich merkwürdig gepocht. Gestern dagegen, als ich ihn mit Sir Kofa in einem Lokal gesehen habe, hat mein Herz ganz normal geschlagen.«
»Mich interessiert allein dein Herz. Würdest du mehrere davon haben, würde ich sie unter deinen Kollegen verteilen, und sie würden besser arbeiten als alle Magiezeiger. Stell dir vor - auch Sir Kofa und ich haben nichts Besonderes gespürt, dafür aber dein neuer Freund.«
»Und wer soll das sein? Hauptmann Schichola?«
»Du hast ja ein ziemlich kurzes Gedächtnis«, sagte mein Chef lächelnd. »Ich meine den Großen Magister Nuflin Moni Mach. Er hat vor einer Stunde verlangt, wir sollen uns mit diesem Fall besonders ernsthaft beschäftigen. Er hat die merkwürdige Ahnung, dass mit dem Toten etwas nicht stimmt, aber er weiß nichts Genaues. Bist du vielleicht mit Nuflin verwandt?«
»Das wissen Sie besser als ich«, seufzte ich. »Schließlich sind Sie der Schöpfer meiner Biografie. Dürfte ich ein wenig Kamra bekommen? Erst hab ich nicht ausschlafen können, und dann hab ich mir auch noch eine Leiche ansehen müssen - mein Leben ist wirklich ziemlich scheußlich.«
»Tatsächlich? Macht dein Kopfkissen etwa Zicken?«, fragte mein Chef lachend. »Kamra kannst du dir selbst machen. Das hab ich dir schließlich beigebracht. Und knirsch bitte nicht so Unheil verkündend mit den Zähnen, sondern biete auch Sir Kofa davon an, damit er deine frisch erworbene Brühkunst kennen lernt.«
»Gegen diesen Befehl bin ich machtlos«, sagte ich folgsam. »Aber ein Despot sind Sie schon, Sir Juffin.«
»So ist das eben.«
Obwohl ich alle Handgriffe beinahe automatisch erledigte, schmeckte meine Kamra so gut wie nie zuvor. Auch Sir Kofa nickte schon nach dem ersten Schluck anerkennend.
Meine Gastfreundlichkeit brachte die düsteren Ahnungen, die mich seit dem Besuch der Leichenhalle begleitet hatten, kurzzeitig zum Verschwinden. Ich zog eine Schachtel Zigarettenstummel aus der Tasche meines Todesmantels. Die älteren Kollegen verzogen darüber das Gesicht, doch das war mir schnuppe. Bedauernswert, wer dazu verdammt war, das hiesige Kraut zu rauchen!
»Woher stammen eigentlich diese auffälligen Gürtel, Sir Kofa? Das wissen Sie doch sicher?«
»Gute Frage, Max, aber bisher habe ich es nicht herausfinden können. Aus Echo jedenfalls kommen sie nicht. Deshalb will ich möglichst bald aufs Zollamt. Wenn wir uns nämlich »besonders ernsthaft« mit dem Fall beschäftigen sollen, sind wir auf Nuli Karifs Hilfe angewiesen, zu dessen Pflichten es gehört, alles über Importe und Exporte zu wissen. Ich habe Sie vorhin übrigens geweckt, damit Sie mir dabei Gesellschaft leisten.«
»Hat sie Ihnen gestern etwa gefallen?«
»Wer soll mir gestern gefallen haben?«
»Na - meine Gesellschaft.«
»Wie hätte mir unsere gastronomische Expedition letzte Nacht nicht gefallen sollen? Es war doch sehr lustig -besonders Ihr heroischer Kampf um den Löffel«, meinte Sir Kofa kichernd.
»Sie, Sir Kofa«, erklärte ich und seufzte heuchlerisch, »Sie sind abgrundtief böse. Ich verlasse Sie und desertiere zu General Bubuta - das ist ein einfacher und guter Mensch.«
Sir Nuli Karif - der Leiter des Zollsuchtrupps des Vereinigten Königreichs - erwies sich als in jeder Hinsicht bemerkenswerte Persönlichkeit. Er war sehr klein, sehr gesprächig und meines Erachtens auch sehr jung. Eine Nickelbrille krönte seinen bezaubernden Anblick.
»Sir Kofa, sind Sie's? Dann müssen Sie Sir Max sein? Das ist ja toll! Was gibt's? Wenn Sie auftauchen, ist garantiert etwas passiert - sonst würden Sie sich bestimmt nicht durch die ganze Stadt schleppen. Wie geht's Sir Melifaro? Was hört man von seinem älteren Bruder, dem Piraten? Hat er vor, demnächst nach Echo zu kommen? Es heißt, Melifaro habe Tschemparkaroke den Ohrring Ochola mit so starken Zaubersprüchen eingesetzt, dass niemand ihn mehr rausnehmen kann - nicht mal Mitglieder des Ordens des Siebenzackigen Blattes. Auch bei uns ist jede Menge passiert! Sir Kofa, erinnern Sie sich an Kafa Chani? Er hat bis vor kurzem noch bei uns gearbeitet; dann aber hat er ein Schiff gechartert und ist damit verschwunden - die Magister mögen wissen, wohin. Traurig, aber wahr. Haben Sie schon viele Leute umgebracht, Sir Max? Sehr viele, vermute ich - und das ist auch gut so! Stimmt das denn nun mit Melifaro und Tschemparkaroke? Ist überhaupt etwas passiert, Sir Kofa, oder schauen Sie tatsächlich nur mal so vorbei?«
Es gelang Kofa Joch, den schier unendlichen Monolog des Zollbeamten zu unterbrechen.
»Sollen wir noch länger in der Tür stehen, Sir Nuli? Oder dürfen wir in Ihr Arbeitszimmer kommen?«
»Arbeitszimmer? Das ist eher eine Abstellkammer als ein Büro - sehen Sie selbst! Hier liegt mehr als die Hälfte der beschlagnahmten Waren, weil es zu gefährlich wäre, das Zeug in irgendeinem Lager aufzubewahren, und für die Leute aus der Burg Jafach sind die Sachen nicht interessant genug. Ein Teufelskreis! Hier ist es inzwischen so voll, dass ich meine Besucher bald auf dem Flur empfangen muss. Am besten stelle ich meinen Schreibtisch gleich dorthin. Sie wissen vielleicht, dass unser Sir Kafa Chani unter die Kapitäne gegangen ist. Ich vermute, er wird Pirat und endet irgendwann im heißen Tascher oder im entfernten Kalifat Schinschisch am Galgen. Tja, so ist das. Meine Herren, setzen Sie sich bitte, wo Sie Platz finden. Sir Max, haben Sie schon mal auf dem Tisch eines Leitenden Zollbeamten gesessen? Vermutlich nicht -also probieren Sie es aus. Oder nehmen Sie meinen Sessel, und ich sitze auf dem Tisch. Das ist ein guter Platz, auf dem ich mich selbst mitunter niederlasse. Wissen Sie, in letzter Zeit kommt ein Schiff nach dem anderen, und alle bringen neuartige, manchmal auch verbotene Waren nach Echo. Aber so ist das Leben. Was hätte es für einen Sinn, als Matrose zu arbeiten, ohne ein wenig zu schmuggeln? Das wäre wirklich dumm. Sir Kofa, ich freue mich sehr über Ihren Besuch, doch Sie sind sicher nicht ohne Grund gekommen. Irgendwas ist passiert -stimmt's, oder hab ich Recht?«
»Ich fürchte, Sie haben Recht. Könnten Sie uns vielleicht eine Tasse Kamra anbieten und drei Minuten still sein? Um fünf Minuten bitte ich gar nicht erst, denn das wäre zu viel verlangt. Was halten Sie davon?«
»Ich bin begeistert! Und die Kamra kommt gleich. Welche Sorte hätten Sie denn gern, Sir Max - hiesige oder iraschische? Oder möchten Sie vielleicht eine Kamra aus Arwaroch? Ach nein, die ist ja schon weg. Meine Mitarbeiter sind nicht gerade fleißig, trinken aber die ganze Zeit Kamra aus sooo großen Tassen«, sagte Sir Nuli und malte mit seinen kleinen Händen fußbodenvasengroße Tassen in die Luft. Ich war beeindruckt.
»Wenn Sie nicht übertreiben, Sir, haben Ihre Leute wirklich einen harten Job«, sagte ich mitfühlend. »Es ist nicht leicht, solche Krüge zu stemmen.«
»Natürlich nicht! Glauben Sie etwa, ich flunkere Ihnen etwas vor? Meine Leute kommen ganz schön ins Schwitzen«, sagte Nuli in vollem Ernst. »Dafür verdienen sie aber auch gut. Dieser Kafa Chani hat nur drei Jahre bei uns gearbeitet und danach schon ein Schiff chartern können. Hab ich Ihnen davon schon erzählt? Vermutlich wird er demnächst Waren nach Echo schmuggeln, und ich kann ihn dann jagen. Tolle Sache, was? Ah, hier ist ja die Kamra«, sagte Sir Nuli, schnupperte an den frisch aufgetragenen Krügen und setzte zu einer neuen Tirade an. »Das ist iraschische Kamra - eine exotische, aber sehr gute Sorte. Wo sonst können Sie in Echo etwas so Fantastisches bekommen? Greifen Sie zu, meine Herren, obwohl ich eigentlich verpflichtet bin, das ganze Zeug wegzuschütten. Ach, da ist ja der alte Tjuwin«, rief Sir Nuli und wies in einen entlegenen Winkel seines vollgestopften Büros, in dem ein weißer Fleck flimmerte. »Sir Max, Sie kennen unseren Tjuwin noch nicht. Also stelle ich Sie ihm vor: Das ist mein Vorgänger Sir Tjuwin Sali Wawa, gestorben im 52. Jahr der Epoche des Gesetzbuchs bei dem Versuch, den schlimmsten Schmuggler der Ordensepoche zu durchsuchen. An den bürgerlichen Namen dieses Schmugglers kann ich mich nicht mehr erinnern. Man hat ihn mal Weißer Vogel, mal Sonne in der Brusttasche genannt. Schmuggler sind romantische Leute, müssen Sie wissen. Aber auch er hat das Gefecht nicht überlebt. Der alte Tjuwin war nämlich sehr tapfer, und wäre er an jenem Abend nicht so betrunken gewesen, hätte ihn der Weiße Vogel sicher nicht erledigt. Ist das nicht eine tolle Geschichte?«
»Dann ist das da hinten also ein Gespenst?«, fragte ich erschrocken und musterte die flimmernde Stelle.
»Was sonst? Der alte Mann ist heute nicht allzu gut in Form, denn normalerweise hat er menschliche Konturen. Vielleicht schämt er sich ja vor Ihnen. Übrigens war Sali Wawa bei seinem Tod so betrunken, dass sein Gespenst bis heute benebelt ist. Aber es ist hart im Nehmen und hilft mir sehr. Manchmal erscheint es einem Kapitän und brüllt -Schluss mit dem Geschwätz!«. Dann öffnen die Schmuggler ohne Diskussion all ihre Verstecke, und ich kann früher schlafen gehen, wovon ich gern Gebrauch mache. Dieser Tjuwin ist ein großartiger Kerl, der völlig in seiner Arbeit aufgeht. Nun gut - Sir Kofa,
was führt Sie eigentlich zu mir? Ich merke doch, dass Sie nicht grundlos gekommen sind.«
»Sir Nuli, zwei Minuten kann ich das noch aushalten. Wenn Sie bis dahin nicht still sind, werden Max und ich Sie fesseln und knebeln und Ihnen dann erzählen, worum es geht - klar?«
»Was reden Sie denn da, Sir Kofa? Hab ich Ihnen etwa verboten zu berichten, warum Sie gekommen sind? Ich hab doch sofort erraten, dass Ihnen etwas auf der Seele liegt. Meine Herren, ich bin ganz Ohr. Verraten Sie mir nur vorher bitte, ob die Geschichte über Melifaro und Tschemparkaroke stimmt.«
»Sündige Magister!«, rief Sir Kofa und rollte die Augen. »Natürlich nicht! Das hätten Sie sich doch denken können. Offenbar sind Sie von diesem Tschemparkaroke besessen. Und jetzt, Sir Nuli, strengen Sie Ihr großartiges Gedächtnis an. Es geht um Schmuggel, also ...«
»Da sind Sie bei mir falsch«, plapperte Nuli munter weiter. »Ich kann Ihnen aber sagen, an wen Sie sich wenden müssen.«
»Hören Sie mir doch erst mal zu!«, brüllte Sir Kofa.
Das wirkte: Der Mann war still, rückte seine Brille zurecht und bekam eine konzentrierte Miene. Kofa seufzte erschöpft und fuhr fort: »Ich weiß, dass Sie sich jede kleinste Besonderheit merken. Bitte versuchen Sie sich zu erinnern, ob Ihnen in den letzten Tagen jemand mit einem auffälligen Gürtel begegnet ist. Und bitte: Ich brauche keine Informationen über alle Gürtel, die Sie je gesehen haben. Mich interessiert nur ein recht breiter, perlmuttfarben schimmernder Gürtel aus unbekanntem Material. Das war's schon. Sie dürfen jetzt den Mund aufmachen - immerhin haben Sie lange brav ausgehalten.«
»So einen Gürtel hab ich gesehen«, rief der Mann vom Zoll begeistert und sah Sir Kofa und mich siegesgewiss an. »Das war erst vor kurzem, fragt sich nur, wo und bei wem. Sie wissen doch, Sir Kofa, wie viele Leute sich hier herumtreiben - und das ist auch gut so: Schließlich sind wir im Hafen. Wozu brauchten wir einen Hafen, wenn niemand käme? Na ja, ich denke, ich habe den Gürtel dieses Jahr gesehen, also in den letzten zwölf Tagen -das ist doch schon was, oder? Ich hab gleich zu Du Idun gemeint, wir sollten die Gürtelträger verhaften, damit wir weiter die coolsten Jungs der Hauptstadt bleiben. Ich weiß noch, dass ich die Gürtelträger sagte - also müssen es mindestens zwei gewesen sein. Und jetzt fällt mir ein, dass Du Idun seit sechs Tagen krankgemeldet ist. Ob er wirklich so kränklich ist oder ob er sich seine Zipperlein nur einredet, weiß ich bis heute nicht. Aber wenden Sie sich lieber an ihn - er weiß sicher, womit er sich vor der Krankmeldung beschäftigt hat, denn er ist sehr misstrauisch, und wenn er krank ist, erinnert er sich an alle, die er davor getroffen hat, und versucht, seine Frau zu überzeugen, jemand habe ihn durch den bösen Blick verhext. Ich melde mich gleich mal per Stummer Rede bei ihm und frage ihn nach dem Gürtel, und Sie trinken bitte Ihre Kamra. Wenn Ihre Tasse leer ist, schenken Sie sich ruhig nach. Sie ahnen ja nicht, wie viel wir davon noch haben!«
Sir Nuli Karif schwieg und wirkte dabei sehr konzentriert. Anscheinend hatte er auf Stumme Rede umgeschaltet.
Nach einer halben Stunde war mir klar, dass auch die Stumme Rede unseren redseligen Gastgeber nicht bremsen konnte. Sir Kofa zog eine zornige Grimasse und hustete vernehmlich. Nuli nickte, zuckte schuldbewusst die Achseln und unterhielt sich unhörbar weiter. Nach einigen Minuten stand er auf und verließ das Büro. Fragend schaute ich Sir Kofa an.
»Er will seine Geheimnisse für sich behalten, Max«, klärte mich mein Kollege auf. »Gerüchten zufolge kann ich auch in Stummer Rede geführte Gespräche belauschen.«
»Sind das bloße Gerüchte?«, fragte ich skeptisch.
»Na ja, ich kann das schon, aber es ist sehr mühsam und obendrein ungesund. Wissen Sie, gewisse Dinge soll man lassen. Außerdem ist es besser, die Gedanken der Gesprächspartner nach der Unterhaltung zu lesen, obwohl ich das in diesem Fall gar nicht vorhabe - soll er doch machen, was er will.«
»Ich bitte um Verzeihung, meine Herren«, sagte Sir Nuli, als er endlich wieder in sein Arbeitszimmer kam, strahlte dabei aber kein Schuldbewusstsein, sondern große Zufriedenheit aus. »Erst hat mir mein Gesprächspartner ein Ohr abgekaut, und dann musste ich auch noch ins Bad. Haben Sie unsere neue Toilettenanlage eigentlich schon bewundert? Meine Mitarbeiter haben sie mit all den Schmugglertalismanen geschmückt, die für die Leute in der Burg Jafach nicht interessant genug waren. Das ist ein sehr aufschlussreicher Anblick, meine Herren. Ich habe übrigens die Antwort auf Ihre Frage, Sir Kofa. Regen Sie sich also bitte nicht auf.«
»Dann schießen Sie los, Sir Nuli! Ihr Bad inspizieren wir ein andermal.«
»Das sollten Sie wirklich tun. So was Tolles finden Sie nur bei uns. Aber wie Sie wollen. Du Idun konnte sich sehr gut an alles erinnern. Bei den Gürtelträgern handelt es sich um einen Reeder aus Tascher und seinen Kapitän. Sie sind am fünften Tag des Jahres mit einem schicken Schiffchen hier eingelaufen - es ist viel schicker als die meisten Boote aus Echo und heißt Alte Jungfer. Lustiger Name, was? Und jetzt sage ich Ihnen, wie der Reeder heißt«, meinte Nuli, kroch unter den Tisch, griff nach einem Päckchen sich selbst beschriftender Tafeln und überflog sie aufmerksam. »Hier haben wir ihn schon: Agon heißt er. Alle Bewohner Taschers haben auffällig kurze Namen. Du Idun hat mich noch darauf hingewiesen, dass Agons Schiff unter anderem Gürtel geladen hatte. Wir haben noch Witze darüber gemacht, alle Gürtel zu beschlagnahmen, weil sie ohnehin zu nichts nutz sind. Aber bei ihrer Herstellung wurde lediglich weiße Magie vierten Grades eingesetzt - darum haben wir sie passieren lassen müssen.«
Sir Kofa nahm Nuli kurz entschlossen die Tafel aus der Hand, studierte sie und meinte dann: »Interessant. Wie ich sehe, hatten Reeder und Kapitän außer Gürteln nichts zum Verkaufen dabei. Das scheinen eher Touristen als Händler zu sein.«
»Na ja, sie haben mir erzählt, sie wollen sich in Echo mit Ware eindecken. Und das ist ja wohl ihr gutes Recht«, meinte Nuli Karif.
»Ach - sie wollen hier teuer einkaufen, was sie in Tascher, wo alles viel billiger ist, niemals loswerden können? Dieser Agon muss wirklich geschäftstüchtig sein! So was rechnet sich nur, wenn er seine Ware in Echo nicht kauft, sondern stiehlt. In diese Richtung sollten wir vielleicht ermitteln. Ist eigentlich noch jemand auf dem Schiff, Nuli?«
»Natürlich - der Kapitän und ein Teil der Mannschaft.
Sie essen im Wirtshaus und bewachen ansonsten Schiff und Ladung. Das ist ein ziemlich teures Bötchen - hab ich Ihnen das schon erzählt? Aber es befindet sich nichts Interessantes darauf - ich hab das schon überprüft.«
»Wir klären jetzt selbst, um was für ein Schiff es sich da handelt und ob sich dort wirklich nichts Interessantes finden lässt. Vielen Dank für die Kamra, Nuli, doch ich gebe Ihnen einen guten Rat: Trinken Sie lieber das hiesige Gebräu. Ich glaube, Ihrem Mitarbeiter Du Idun ist das Gesöff aus Iraschi auf den Magen geschlagen. Es schmeckt bitter, und mein Bauch tut mir schon nach einer Tasse weh. Und bleiben Sie ganz Ohr: Wenn Sie irgendwann noch was über diese Gürtel hören, melden Sie sich bitte jederzeit per Stummer Rede bei mir. Ich beschlagnahme alle Unterlagen über die Alte Jungfer. Das war's. Schönen Tag noch, Nuli. Wir gehen jetzt, Max.«
Auch ich verabschiedete mich von dem sympathischen Zollbeamten, und wir gingen in den Hafen, um uns das Schiff anzusehen und den Kapitän kennen zu lernen.
Das Segelschiff war wirklich hübsch - genau wie der Kapitän, ein wohlproportionierter Schönling mit langem Zopf und einem Bart bis zur Taille. Er begrüßte uns schon an der Gangway. Auch seine Kleidung war interessant, denn er trug eine weit geschnittene schwarze Hose und eine ebenso großzügige schwarze Jacke, die ihm bis zu den Knien reichte. Sollte er den bewussten Gürtel tragen, dann unter seinen Kleidern.
»Kapitän Gjata. Stehe zu Diensten«, stellte er sich trocken vor. Er sprach mit so lustigem wie schwerem Akzent. Lob und Preis sei den Magistern!, dachte ich. Zum Glück kommt er nicht aus Iraschi - sonst brauchten wir einen Dolmetscher.
»Kleiner Geheimer Suchtrupp der Stadt Echo. Wir möchten Ihr Schiff inspizieren«, meinte Sir Kofa ebenso trocken.
»Es gehört Herrn Agon und ist für Fremde nicht zugänglich«, erklärte der Kapitän.
»Der Kleine Geheime Suchtrupp darf im gesamten Vereinigten Königreich durchsuchen, was immer er mag«, entgegnete Sir Kofa. So verbindlich sein Ton auch war - in ihm schwang etwas Bedrohliches mit, das mir neu war.
»Ich kann nur wiederholen, meine Herren, dass ich Befehl habe, keine Fremden an Bord zu lassen. Und so leid es mir tut: Notfalls sterbe ich in Erfüllung dieses Befehls.«
Kapitän Gjata wirkte nicht wie ein Fanatiker und ähnelte auch keinem Verbrecher, doch was wusste ich schon von Verbrechern? Er hatte müde, traurige Augen, und als er vom Sterben sprach, klang das beinahe träumerisch.
Sir Kofa meldete sich per Stummer Rede bei mir. »Sei auf alles gefasst, Max. Ich will ihn nicht töten, aber du merkst selbst, dass etwas mit ihm nicht stimmt.«
Dann wandte er sich erneut an den Kapitän.
»Ich verstehe: Befehl ist Befehl. Also werden Sie mit uns eine A-Mobil-Fahrt antreten müssen. Ich hoffe, Ihr Arbeitgeber hat Ihnen das nicht auch verboten.«
»Nein«, sagte der Kapitän so irritiert wie erleichtert. »Davon war nicht die Rede.«
»Prima. Dann übergeben Sie den Befehl über das Schiff Ihrem Ersten Offizier, damit Ihr Gewissen rein bleibt.«
Der Kapitän verschwand, um seinen Stellvertreter zu instruieren, und ich sah Sir Kofa erstaunt an.
»Ist dieses Verhalten für die Bewohner von Tascher normal?«
»Natürlich nicht - der Mann steht eindeutig unter magischem Einfluss. Dabei handelt es sich allerdings höchstens um weiße Magie vierten Grades, und die ist bekanntlich erlaubt. Soll Juffin sich jetzt mit ihm beschäftigen! Daran werden Sie sicher noch Ihren Spaß haben.«
»Und was ist mit dem Schiff?«
»Zu den Magistern damit! Ich hab mich per Stummer Rede im Haus an der Brücke gemeldet. In einer halben Stunde kommen Lonely-Lokley und ein Dutzend Kollegen von der Stadtpolizei - das ist das beste Durchsuchungskommando überhaupt. Da ist unser heroischer Kapitän ja schon. Gut, dass er einverstanden ist, mitzukommen.«
»Stehe zu Diensten, meine Herren«, sagte der Kapitän und verbeugte sich galant.
Die ganze Fahrt über sah der Kapitän begeistert aus dem Fenster. Die Tatsache, verhaftet zu sein und ins Haus an der Brücke gefahren zu werden, störte ihn nicht weiter. Er genoss die Fahrt durch die Stadt sichtlich. Das verstand ich sehr gut, denn Echo ist wunderschön. Eigentlich hätte ich mich längst daran gewöhnen sollen, statt mich immer aufs Neue für die Herrlichkeiten der Stadt zu begeistern.
Im Haus an der Brücke hatte sich einiges verändert: Der Saal der allgemeinen Arbeit war leer, und die Köche waren nach Hause geschickt worden, um zu einem günstigeren Zeitpunkt wieder vorzusprechen. Weder Melamori noch Melifaro waren im Büro. Sie waren bestimmt losgezogen, um ein neues Geheimnis zu lüften. Als wir Sir Juffin über den Weg liefen, leckte er sich beinahe die Lippen und musterte Kapitän Gjata wie eine hungrige Katze eine Flasche Milch.
Für mich war das Verhör anfangs langweilig. Juffin fragte den Kapitän zunächst pedantisch nach zahllosen Details der Schiffsausrüstung, den Handelskontakten seines Chefs, der Biografie aller Mitglieder der Mannschaft und Ähnlichem. Herr Gjata beantwortete einige dieser Fragen sehr ruhig, verstummte dagegen auffällig bei anderen, die meiner Meinung nach ebenso harmlos waren. Sir Juffin reagierte auf diese Dickköpfigkeit unendlich langmütig.
»Ihr Helfer - wie war noch gleich sein Name ... ah ja, Herr Chaka - hat also früher auf Schiffen des Vereinigten Königreichs gearbeitet. Das klingt interessant, Herr Kapitän«, sagte Juffin seltsam monoton. »Sehr interessant.«
Der hübsche Kapitän kniff plötzlich die Augen zusammen und fiel bewusstlos zu Boden. Juffin wischte sich erschöpft den Schweiß vom Gesicht.
»Was für ein kräftiger Mann. Kräftig und doch tief verunsichert. Aber ich habe ihn beruhigen können«, seufzte mein Chef und fuhr lehrerhaft fort: »Bei verzauberten Menschen muss man vorsichtig sein, Max. Ich hätte bei ihm sofort Magie anwenden können, aber weil wir noch nicht wissen, was wir mit ihm tun sollen ... Weißt du - die Wechselwirkung verschiedener Zaubersprüche führt manchmal zu erstaunlich unkontrollierbaren Reaktionen. Als ich noch ein junger und dummer Gehilfe des Sheriffs meiner Heimatstadt Kettari war, traf ich eines Tages auf eine verzauberte Dame. Sie verhielt sich wie eine Besessene, und ich musste mir einiges zurechtzaubern, um meine Haut zu retten. Wie du weißt, hat sich diese Geschichte weit weg von Echo zugetragen, und in der Provinz ist die Magie primitiver als hier. Deswegen hatte ich nicht mit Überraschungen gerechnet. Aber die Frau, die ich damals verhörte, kreischte unvermittelt auf und zerfiel in zahllose Einzelteile. Ich stand unter Schock, und mein Chef - der alte Sheriff von Kettari -brauchte vierundzwanzig Stunden, um alles in Ordnung zu bringen.«
Juffin lächelte verträumt, als sei das die hübscheste Erinnerung seiner Jugend gewesen.
»Was haben Sie mit dem Kapitän angestellt? Haben Sie ihn hypnotisiert?«
»Ich habe keine Ahnung, was Hypnose sein soll. Ich hab ihn nur ruhiggestellt. So ruhig war er noch nie - das schwöre ich bei allen Magistern. Jetzt können wir ihm seine schicken schwarzen Sachen abnehmen.«
Wie zu erwarten, trug der Kapitän unter seiner schwarzen Jacke den teuren Gürtel, der genauso aussah wie die beiden, die Sir Kofa und ich am Abend zuvor gesehen hatten.
»Das ist wirklich eine ernste Sache«, sagte Juffin lächelnd. »Sir Kofa, Sir Max - schauen Sie mal, wie schmutzig die Jacke ist. Max, hast du dazu etwas zu sagen?«
»Na ja, auf einer so langen Reise wie der von Tascher nach Echo kann man nicht immer auf seine Kleidung achten«, begann ich zögernd.
»Unsinn! Jacke wie Hose des Kapitäns sind in einwandfreiem Zustand. Hast du das nicht erkannt?«
»Er hat nur sein Hemd seit langem nicht gewechselt«, mischte sich Sir Kofa ein, »weil ...«
»... er den Gürtel überm Hemd trägt«, sagte ich, als ich endlich begriff. »Der Gürtel lässt sich nicht abnehmen, und auch der Mann in der Leichenhalle ist kein Vagabund. Er hat seinen Gürtel genauso wenig ablegen können und musste darum immer weiter in seiner alten Skaba herumlaufen.«
»Endlich hast du verstanden«, sagte Sir Juffin erfreut. »Der Mann in der Leichenhalle hat seine Skaba schon sehr lange, vielleicht ein paar Jahre nicht gewechselt. Interessant! Und die Alte Jungfer ist vor höchstens acht Tagen in Echo eingelaufen. Sir Kofa, das müssen Sie exakt recherchieren. Setzen Sie sich dazu am besten mit Nuli Karif in Verbindung. Er soll seine Unterlagen daraufhin durchsehen. Versuchen Sie bitte auch, Melifaro zu erreichen, dem ich befohlen habe, die Identität des Verstorbenen zu klären, der aber bisher nicht wieder aufgetaucht ist. Ich habe den Eindruck, ich habe ihm da eine sehr schwierige Aufgabe gestellt. Max und ich werden den armen Kapitän derweil bis ins kleinste Detail analysieren.«
»Alles klar, Sir Juffin. Was gehen mich Ihre Geheimnisse an! Ich habe meine eigenen«, sagte Sir Kofa, lächelte listig und schloss die Tür hinter sich.
»Wir haben ihn weggeschickt«, begann ich vorsichtig, »weil ...»
»Stell bitte keine dummen Fragen. Den Luxus, sich in Anwesenheit Dritter mit Wirklicher Magie zu beschäftigen, kann sich vielleicht Sir Maba Kaloch erlauben - ich nicht. Du übrigens auch nicht. Und ohne Wirkliche Magie können wir unseren tapferen Kapitän leicht aus Versehen umbringen. Das wäre erstens ungerecht, und zweitens kann er uns bestimmt noch nützlich sein. Jetzt sieh mir genau zu. Bei dir weiß man nie, wie die Sache endet.
Wenn du den Eindruck hast, mir helfen zu können, tu es. Wenn nicht, dann halt ein wenig Abstand.«
Juffin seufzte, krempelte die Ärmel hoch und wollte den Gürtel berühren, doch seine Fingerspitzen konnten sich ihm nur bis auf einen Millimeter Abstand nähern. Juffins Bemühungen schlugen mich so sehr in Bann, dass ich in eine Art Trance geriet, ohne die Wichtigkeit des Geschehens zu begreifen.
Ich träumte, Kapitän Gjata zu sein, und fühlte mich sehr schlecht, weil ich allmählich begriff, was passierte. Dieser seltsame alte Mann - der Ehrwürdige Leiter also -tat, als wollte er mir helfen, doch ich wusste: Würde er meinen Gürtel berühren, müsste ich sterben. Und mein Tod würde ewig währen und unendlich qualvoll sein.
»Juffin«, sagte ich undeutlich, weil ich die Zunge kaum bewegen konnte. »Lassen Sie das! Sonst töten wir ihn, egal, welche Absichten wir haben mögen. Das weiß ich genau!«
»Das weißt du nicht«, antwortete Juffin ruhig. »Das alles weiß Kapitän Gjata, und er sagt durch dich nur das, was man ihm eingeredet hat. Gut möglich, dass nichts davon stimmt. Sei also still und versuch, dein Mitgefühl zu beherrschen. Zu viel Mitleid kann sehr gefährlich sein.«
Juffin probierte es noch ein paar Mal, und schließlich berührten seine Fingerspitzen den Gürtel.
Ein schwerer, dunkler Schmerz flutete durch meinen Kopf. Was ich da spürte, tat nicht nur furchtbar weh, sondern war ein Vorgeschmack des Todes. Welcher Dummkopf hat behauptet, der Tod bedeute Ruhe? Er bedeutet vielmehr widerwärtigste Hilflosigkeit und unendlichen Schmerz, als werde einem der Leib auf ewig von reißenden Zähnen in Stücke gerissen. Der Tod von Kapitän Gjata jedenfalls war von dieser Art.
»Aber ich bin nicht Kapitän Gjata«, schien jemand neben mir zu denken, obwohl es doch meine eigenen Gedanken waren. Ich lebte schließlich noch und war kein zerfetzter Körperteil des armen Kapitäns. Diese Erkenntnis wirkte wie eine Erlösung.
Allmählich klang das Gefühl ab, der Kapitän zu sein und seine Schmerzen zu erleiden. Ich fand in jenen feierlichen Rhythmus zu mir zurück, den Ravel im »Bolero« angeschlagen hat. Es war wunderbar, wieder zu sehen, zu atmen und den Stuhl unterm Hintern zu spüren. Meine Kleider waren durchgeschwitzt, doch selbst das empfand ich als angenehm. Ich erinnerte mich an den dummen Spruch Tote schwitzen nicht! und musste lächeln.
Juffin erhob sich aus der Hocke und musterte mich erstaunt. Der verflixte perlmuttfarbene Gürtel fiel zu Boden.
»Alles in Ordnung, Max?«
»Ich komme langsam wieder zu mir. Der Kapitän - ist er tot?«
»Nein, du hast ihn gerettet, mein Junge.«
»Ich? Wie das?«
»Du hast die Hälfte seines Schmerzes auf dich genommen, und das können Gesunde überleben. Doch der Gürtel hat sich verstellt wie ein heimtückischer Mensch, und als ich schon glaubte, er sei nicht mehr gefährlich ... Na ja, jetzt verstehst du alles.«
Ich nickte erschöpft. Mir war schwindelig, und ich sah alles ringsum wie in zitternden Aspik eingelegt. Juffins Stimme drang aus weiter Ferne zu mir.
»Trink ein wenig von deinem Lieblingsgetränk.«
In meinem Mund ging die Sonne auf, denn Juffin flößte mir Kachar-Balsam ein. Also würde ich bald wieder in Ordnung sein. Zwar hörte die Welt prompt auf zu zittern, doch meine Munterkeit war noch nicht zurückgekehrt.
»Ihr habt euch den Schmerz redlich geteilt, aber der Kapitän ist leider nicht so rasch wieder zu Kräften gekommen«, meinte Juffin. »Das macht aber nichts, denn wir geben ihn in die Obhut von Sir Abilat, und morgen wirst du staunen, dass er wieder ganz gesund ist. Ich glaube, wir lösen diesen Fall wesentlich leichter, wenn unser Kapitän zu singen beginnt. Vorhin, Max, hast du übrigens eine Vorstellung davon bekommen, wie es Köchen ergeht, die dumm genug sind, verbotene Magie anzuwenden, obwohl sie den Ohrring Ochola tragen. Erinnerst du dich? Du hattest mich gefragt, wovor sie Angst haben -jetzt weißt du es, denn Erfahrung ist die beste Lehrmeisterin. Übrigens bist du gerade sehr tapfer gewesen.«
»Ich war nicht tapfer, sondern ein Opfer der Umstände«, seufzte ich. »Ich hatte einfach keine Wahl: Ich musste den armen Mann retten.«
»Ob du die Wahl hattest oder nicht - tapfer warst du auf jeden Fall«, erklärte Juffin kategorisch, reichte mir ein zweites Mal den Kachar-Balsam, zwinkerte mir dabei mit erhobenem Zeigefinger zu und sagte: »Aber Maß halten, Max! Ich glaube, du weißt noch nicht, dass man dieses Gebräu inzwischen überall kaufen kann, weil zu seiner Herstellung höchstens Magie achten Grades erforderlich ist. Ich hatte mich bisher nicht getraut, dir das zu sagen.«
»Dann bin ich von nun an unsterblich«, meinte ich lächelnd. »Niemand kann mich mehr um die Ecke bringen, und mein Leben hat endlich einen Sinn! Ich werde eine Flasche Balsam pro Tag trinken und erleben, was Glück bedeutet.«
»Wunderbar, Max, jetzt bist du wieder ganz der Alte«, sagte Sir Juffin erfreut. »Vorhin warst du nur ein Schatten deiner selbst. Aber ich glaube, du brauchst trotzdem Erholung. Geh also heim und versuch zu schlafen. Diesen Fall klären wir ohnehin frühestens morgen.«
»Ich soll nach Hause gehen und das Interessanteste verpassen? Halten Sie mich für so dumm?«
»Diese Nacht wird nichts Aufregendes passieren, Max. Sir Kofa und ich werden versuchen, möglichst viel herauszufinden, und darauf warten, dass Kapitän Gjata wieder zu Bewusstsein kommt. Ich hab auch Melamori freigegeben, selbst Lonely-Lokley ist nach der Durchsuchung im Hafen nach Hause gegangen, und Melifaro hat Feierabend, sobald er die Identität des Toten ermittelt hat. Wäre dieser Fall nicht dazwischengekommen, hättest du mindestens ein Dutzend freie Tage gekriegt. Tödlicher Gefahr knapp entronnen zu sein, ist ein guter Urlaubsgrund, und heute wärst du fast gestorben. Also ab nach Hause. Das ist ein Befehl. Kannst du überhaupt aufstehen?«
»Nach drei Schluck Kachar-Balsam kann ich auf jeder Party tanzen!«, rief ich selbstbewusst, erhob mich und krachte stracks zu Boden. Meine Beine hatten versagt.
»Das hab ich mir gedacht. Also lass dir helfen.«
»Seltsam - im Sitzen hab ich mich prima gefühlt«, meinte ich betrübt und stützte mich auf Juffins Schulter.
»Keine Sorge - das geht schnell vorüber«, beruhigte mich mein Chef. »Morgen bist du wieder völlig in Ordnung. Komm bitte mittags um zwölf wieder.«
Erleichtert setzte Juffin mich in den Fond eines Dienst-A-Mobils, befahl dem Fahrer, mich nach Hause zu bringen, und verschwand mit knappem Gruß wieder im Haus an der Brücke.
Ich konnte das Dienst-A-Mobil ohne Hilfe des Chauffeurs verlassen und mich ins Haus schleppen. Offenbar war ich doch nicht so erschöpft, wie befürchtet. Per Stummer Rede gab ich im Gesättigten Skelett eine Bestellung auf, humpelte dann ins Bad und hatte kurz darauf alle Mühe, auf das ungeduldige Klingeln des Boten zu reagieren.
Doch nach einer Stunde war ich wieder topfit, badete, zog mich um und aß mit herzhaftem Appetit. Meine Erschöpfung ging langsam in eine angenehme Müdigkeit über, und ich legte mich ins Bett. Noch vor Mitternacht war ich eingeschlafen. Bin ich wirklich ein Nachtmensch?
Wieder einmal träumte ich meinen süßen Traum: Lady Melamori erschien am Fenster und näherte sich langsam. Ich wollte mich bewegen, doch wie immer konnte ich den Oberkörper nur ein paar Zentimeter von der Matratze heben und sank dann kläglich in die Kissen zurück. Melamori kam noch näher und setzte sich ans Bett. Ich hob die Hand und wollte die vertraute Traumgestalt umarmen. Sie leistete keinen Widerstand.
Ich weiß nicht, ob das gerade überstandene Abenteuer oder die Überdosis Kachar-Balsam mir zusätzliche Kräfte eingeflößt hatte, doch diesmal gehorchte mein Körper. Als Melamoris Traumgestalt unter der Bettdecke landete, gratulierte ich mir in Gedanken.
Dann aber passierte etwas absolut Unpassendes: Ich musste mich kratzen, weil ein scharfkantiges Medaillon, das ich im Traum trug, meine Brust an einer Stelle wund gescheuert hatte. Einen Augenblick betrachtete ich erschrocken einen Blutstropfen auf meiner Hand, erwachte und ... bekam einen ungeheuren Fußtritt in den Bauch.
»Das ist ja eine bodenlose Schweinerei, Max!«, rief die leibhaftige Lady Melamori und holte mit dem Fuß aus, um mir noch einen Tritt zu verpassen.
Sie zielte dorthin, wo ein Mann unter keinen Umständen getroffen werden möchte. Um das zu verhindern, griff ich unwillkürlich nach ihrem Fuß und lenkte den Stoß seitlich ab. Melamori stürzte und kroch in eine Ecke des Schlafzimmers.
»Du bist ein widerwärtiger Hexenmeister«, zischte sie. »Ich hab dich mehrmals gebeten, damit aufzuhören, aber du hast nur die Zähne gefletscht und mit deinen Dummheiten weitergemacht. Du bist schlimmer als die Magister der Ordensepoche! Die haben wenigstens nicht gelogen, wenn sie ihre Tricks anwandten!«
»Niemand hat dich belogen«, antwortete ich ruhig, obwohl ich sehr aufgebracht war. »Versteh doch - ich bin genauso erstaunt wie du! Und ich hab nichts ausgefressen! Ich hab nur von dir geträumt und mich darüber gefreut. Du hast wirklich keinen Grund, auf mich einzuprügeln. Du solltest dich freuen, dass dir ein solches Wunder widerfahren ist.«
»So dämliche Wunder brauch ich wirklich nicht«, grollte Melamori.
Ich war erstaunt, wie viel Wut in die kleine Lady gefahren war.
»Ich lass mir doch von einem blöden Vampir nichts aufzwingen! Das ist abscheulich! Ich bin in meinem Bett eingeschlafen und plötzlich neben einem Geschöpf erwacht, das man kaum als Menschen bezeichnen kann. Ekelhaft ist das! Du widerst mich an, Max! Weißt du, was ich jetzt mache? Ich gehe in den Stadtteil Rendezvous und hoffe sehr, dort einen richtigen Mann zu treffen, der mich diesen ganzen Alptraum vergessen lässt. Ich würde dich umbringen, wenn ich könnte - merk dir das! Du hast wirklich Glück, dass ich nur Menschen töten kann.«
Ich kochte vor Wut. Wem so was an den Kopf geworfen wird, dem helfen nicht mal Atemübungen!
»Du bist ja hysterisch!«, brüllte ich. »Ein feiges Weib bist du! Nimm dir doch eine Torte und schmeiß sie an die Wand! Du suchst ja nur einen Mann, um deine Launen an ihm abzulassen! Na los, tritt irgendeinem armen Kerl auf die Spur, und er ist hinüber! Ich sag's dir noch mal: Ich hab keinen einzigen Zauberspruch angewandt. Unsere Traumbegegnungen waren ein Wunder, du dumme Göre!«
»Das wagst du mir zu sagen? Nach allem, was du angerichtet hast?«
»Ich hab ganz und gar nichts angerichtet! Ich bin ins Bett gegangen, hab die Augen geschlossen und dich gesehen. Mehr hab ich nicht verbrochen. Aber du brauchst mir nicht zu glauben.«
Als mir klar wurde, wie viel mir mein so furchtbar entgleister Traum bedeutet hatte, tat mir der Magen weh, und eine neue Welle des Zorns überkam mich. Ich spürte, wie sich in meinem Mund ein zäher, giftiger Schleim sammelte. Lady Melamori hatte wirklich Glück, dass ich mich zu beherrschen vermochte. Ich spuckte auf den Boden, atmete tief ein und wandte mich von ihr ab. Sie blieb weiter in ihrer Ecke hocken, und ihre Hände zitterten. Ich war verlegen und traurig zugleich. Mein Leben hatte sich wieder mal als Abfolge unglaublicher Unsinnigkeiten erwiesen.
«Melamori, verzeih mir! Wir haben uns furchtbare Dummheiten an den Kopf geworfen. Nimm bitte mein A-Mobil und fahr nach Hause. Wir sollten uns später weiter unterhalten.«
»Wir haben uns nichts mehr zu sagen«, erklärte Melamori, erhob sich ängstlich und schlich - den Rücken zur Wand - zur Tür. »Aber wenn du nicht gelogen hast, ist es noch schlimmer. Dann hast du nämlich keine Kontrolle darüber, andere im Schlaf herbeizuzitieren. Doch das macht nichts - ich finde schon ein Gegenmittel. Niemand kann mich zu etwas zwingen, kapiert?«
Sie knallte die Tür so heftig zu, dass ein kleiner Schrank von der Wand fiel und sein Innenleben scheppernd auf dem Fußboden verteilte. Ich fasste mir an den Kopf - das alles war zu viel für mich.
Ich stand auf und ging hinunter ins Wohnzimmer. Wir ekligen Vampire haben die Angewohnheit, literweise Kamra zu trinken, nachdem wir ehrenwerte Ladys zu den schrecklichsten Dingen gezwungen haben. Dazu rauchen wir stinkende Glimmstängel aus einer anderen Welt, die uns die Illusion geben, wir seien seelisch einigermaßen im Gleichgewicht. Doch diese Täuschung ist leider nicht von Dauer. Ich war so aufgeregt, dass meine körperliche Schwäche wie weggeblasen war. Adrenalin verleiht Bärenkräfte!
Das Schlimmste war jedoch meine Ungeduld. Wenn in meinem Leben etwas schiefgegangen ist, kann ich einfach nicht den passenden Moment abwarten, um es wieder gutzumachen, sondern handle überstürzt, am besten sofort und natürlich ohne Atemübungen ... Das ist zwar ausgesprochen dumm, aber der Impuls ist stärker als ich. Banges Warten ist für mich der sicherste Weg in den Wahnsinn. Meiner Meinung nach ist es in solchen Situationen das Beste, in die Stadt zu gehen und Unfug zu treiben, denn das gibt einem die Illusion, stärker als die unbarmherzigen Umstände zu sein. Man muss etwas unternehmen - das ist ein Schutzreflex, eine instinktive Körperreaktion. Dazusitzen und zu zittern wie das Kaninchen vor der Schlange - so was hasse ich wirklich.
Also kehrte ich ins Schlafzimmer zurück und zog mich an. Ich war entschlossen, mich wieder an die Arbeit zu machen. Ich gehe zum Haus an der Brücke - irgendeine Arbeit hat Juffin bestimmt für mich, dachte ich. Und morgen früh trinke ich noch ein Schlückchen Kachar-Balsam und fühle mich wie neugeboren.
Auf der Straße fiel mir auf, dass ich nicht den Todesmantel trug, sondern meinen dunkelgrünen Lochimantel, in dem ich vor kurzem in Gesellschaft von Sir Kofa um die Häuser gezogen war. Ich zuckte die Achseln. Zurückzukehren und mich umzuziehen, überstieg meine Kräfte, denn daheim lauerten bittere Erinnerungen, die zu frisch waren, um unversehens erneut auf sie zu stoßen. Aber im falschen Aufzug ins Haus an der Brücke zu gehen, gehörte sich auch nicht - das war mir klar.
Ach, dann spazier ich eben ein wenig durch die Stadt, beruhige mich dabei und schau mal, was sich ergibt, dachte ich und bog in die erstbeste Gasse ein.
Meine Beine trugen mich, wohin sie wollten, und ich mischte mich nicht ein. Orientierungssinn und Gedächtnis weigerten sich, an diesem Spaziergang teilzunehmen. Auch meine Gedanken verschwanden, und das war sehr angenehm. Ehrlich gesagt hatte ich mit diesem Erfolg gar nicht gerechnet.
Plötzlich unterbrach der Anblick einer Schale mit exotischem Obst mein herrlich weit- und selbstvergessenes Bummeln. Ich stolperte und stürzte auf den Gehsteig. Glücklicherweise hatte ich den Todesmantel nicht an, denn dieser Sturz hätte meinen unheilvollen Ruf ernsthaft beschädigen können. Unwillkürlich kamen mir alle Schimpfworte meiner alten Heimat in den Sinn. Zwei Männer, die gerade aus einem Lokal traten, sahen mich fasziniert an. Ich verstummte und begriff, dass ich schleunigst aufstehen musste. Den Magistern sei Dank -wenigstens war der Gehsteig trocken.
Ich erhob mich und studierte die Speisekarte des Wirtshauses, aus dem die neu gewonnenen Verehrer meines Mundwerks gekommen waren. Der Name des Lokals schien mir schicksalsträchtig, denn es hieß Nachtmahl des Vampirs. Ich lächelte bitter und trat kurz entschlossen ein. Das Innere entsprach meinen Erwartungen voll und ganz - es herrschte Halbdunkel, und die Silhouette des Wirts hinter der Theke erweckte schlimmste Vorahnungen. Der Mann hatte herrlich zerzaustes Haar und mit fluoreszierendem Makeup bemalte Lider und trug natürlich den Ohrring Ochola. Kaum hatte ich den Wirt gesehen, war ich wieder guter Laune. Hier hätten Melamori und ich uns streiten sollen! Wahrscheinlich wäre der Besitzer dieser Spelunke auf meiner Seite gewesen.
Ich nahm an einem mit roten Farbspritzern übersäten Tisch Platz, der offenbar den Eindruck erwecken sollte,
hier habe vor Minuten ein Blutbad stattgefunden, überlegte kurz und bestellte mir dann eine Spezialität der alten Küche. Unglück regt seit je meinen Appetit an - und ich hatte Glück.
Schnell bekam ich eine harmlos wirkende quadratische Pirogge serviert, die keine Spur von Vampirästhetik aufwies. Kaum aber hatte ich sie angeschnitten, explodierte sie wie ein Airbag, und auf meinem Teller lag eine luftige Masse, die so lecker war, dass ich gleich eine zweite Portion bestellte. Übrigens hieß das Gericht »Atem des Bösen«.
Ich fraß mich in einen Zustand angenehmen Stumpfsinns hinein, bestellte Kamra und begann, meine Pfeife zu stopfen, da ich meinen Zigarettenvorrat aufgeraucht hatte. So ist das bei mir immer - wenn's schiefgeht, dann auf der ganzen Linie.
Ich rauchte und sah mir dabei interessiert die Gäste an. Einer wollte gerade gehen. Er hatte die gleiche Frisur wie Kapitän Gjata, dessen Leben ich vor kurzem gerettet hatte: Sein Zopf reichte ihm bis zur Taille, und er trug einen wunderhübschen Bart. Ob er Matrose auf der Alten Jungfer war? Oder ein Schiffskoch, der sein Repertoire um ein paar Geheimnisse erweitern wollte? Jedenfalls musterte ich den Unbekannten sehr aufmerksam. Auf einmal zog er seinen Geldbeutel aus der Jacke. Sündige Magister! Für den Bruchteil einer Sekunde bekam ich einen perlmuttfarben schillernden Gürtel zu sehen! Noch ein Verzauberter! Ich musste etwas unternehmen!
Natürlich hätte ich ihn sofort verhaften können. Eigentlich war ich sogar dazu verpflichtet. Aber ich erinnerte mich zu gut an das Benehmen von Kapitän Gjata. Verzauberte können es sich in den Kopf setzen, eher zu sterben, als aufzugeben. Deshalb entschied ich mich, ihm lediglich zu folgen. Glücklicherweise war meine Kleidung unauffällig - warum sollte ich also nicht ein wenig hinter ihm herspionieren? Das war sicher angenehmer, als sich in Liebeskummer zu ergehen. Ich knallte eine Krone auf die auf blutig getrimmte Tischplatte. Das war viel Geld für zwei Piroggen, aber der Wirt war mir sympathisch. Der zerzauste Mann erblickte die Münze und sah mich begeistert an. Ich legte den Zeigefinger an die Lippen und verließ das Lokal. Mein bärtiger Freund bog gerade um die Ecke, und ich musste mich sputen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.
Offenbar war ich selten in diese Gegend der Stadt gekommen. Oder hatte die Nacht alles ins Unbekannte verfremdet? Auf jeden Fall hatte ich wenig Lust auf einen Ausflug und musste mich geradezu zwingen, dem Bärtigen zu folgen. Wohin würde er mich führen? Ich hatte schon die Wahnvorstellung, auf eine Menge verzauberter Gürtelträger zu treffen, denen Juffin und ich das Leben würden retten müssen. Auf keinen Fall allerdings wollte ich erneut ein Nahtoderlebnis wie bei Kapitän Gjata durchmachen.
Sündige Magister! Wer hätte gedacht, dass das bärtige Objekt meines Interesses mich ins Herz des Stadtteils Rendezvous führen würde! Ob verzaubert oder nicht -der Mann litt offenbar an Einsamkeit und wollte das Schicksal herausfordern. Ich lächelte herablassend: Hier irgendwo musste sich auch Lady Melamori herumtreiben, falls ihr nicht noch eine bessere Idee gekommen war, sich das Erlebnis mit mir aus dem Kopf zu schlagen. Und was sollte ich tun, wenn der Bärtige für eine Nacht sein Glück fände? Als flotter Dritter in die Zweisamkeit eindringen?
Dazu kam es glücklicherweise nicht. Der Unbekannte hielt plötzlich inne und drehte sich zu mir um.
»Du kommst zu spät, Jungchen«, sagte er mit dem starken Akzent der Leute aus Tascher. »Sieh mal, wie viele Menschen hier unterwegs sind. Wenn du auch nur einen Schritt näher kommst, rufe ich um Hilfe.«
Er hielt mich offenbar für einen Räuber! Wofür hätte ein reicher Ausländer den verdächtigen Typ, der ihm schon seit einer halben Stunde folgte, sonst auch halten sollen?
»Ich bin kein Verbrecher«, sagte ich mit strahlendem Lächeln, »sondern etwas viel Schlimmeres. Sie sind da in eine sehr üble Geschichte geraten. Ich bin Mitarbeiter des Kleinen Geheimen Suchtrupps des Vereinigten Königreichs. Haben Sie nicht Lust, mich ins Haus an der Brücke zu begleiten?«
Mich erfüllte eine seltsame Heiterkeit, und ich zwinkerte dem Bärtigen zu. Mich mit dem Verdächtigen ausgerechnet im Stadtteil Rendezvous zu unterhalten, ließ mich plötzlich an alle möglichen Anekdoten aus dem Leben unserer sexuellen Minderheiten denken. Also stemmte ich die Rechte kokett in die Taille und flötete honigsüß: »Diese Nacht bin ich dein Schicksal. Wie heißt du denn, Schätzchen?«
Das Schätzchen holte mit offenem Mund tief Luft. Anscheinend brachte ihn mein Manöver völlig durcheinander, doch seine Stimme blieb fest.
»Sir, ich kann Sie nicht begleiten. Und sollten Sie mich dazu zwingen wollen, werde ich mich wehren.«
Mit diesen Worten zog der Bärtige ein riesiges Messer aus der Jacke, das in Tascher bestimmt als gewöhnliche Waffe gilt.
»Niemand mag mich!«, jammerte ich. »Gut, dann müssen wir eben miteinander kämpfen. Umso besser für mich, denn ich kenne deine Schwachstelle, mein Freund. Ich muss dich nicht erst in Einzelteile zerlegen, sondern brauche bloß deinen Gürtel zu berühren und Zusehen, was passiert. Na, willst du es dir nicht doch noch anders überlegen?«
Die unangenehmen Erlebnisse der letzten vierundzwanzig Stunden ließen mich unerwartet tapfer sein. Ich staunte über mich selbst und glaubte wohl, ohnehin nichts mehr zu verlieren zu haben. Offenbar teilte mein Gegner diese Lebenseinstellung.
»Von wegen!«, rief er wütend und nahm das Messer in die andere Hand. »Kämpfen wir ruhig. Sie tun mir jetzt schon leid, Sir.«
Blitzschnell schleuderte er sein Messer, und die silberne Klinge landete in meinem Bauch - besser gesagt: Sie hätte dort landen sollen. Doch ich hatte keinen Bauch.
Ehrlich gesagt begreife ich bis heute nicht, was mir damals widerfahren ist. Ich hätte wie der Held eines Low-Budget-Films auf dem Gehsteig des Stadtteils Rendezvous zusammenbrechen und theatralisch zitternd verenden sollen. Warum geschah das nicht? Schwer zu sagen. Ich schätze, in diesem Moment wirkte ein Schutzzauber von Sir Juffin, mit dem er mich ohne mein Wissen ausgestattet haben musste.
Das Messer drang nicht in meinen Unterleib, sondern fiel klirrend auf den Mosaikgehsteig. Ich versuchte zu begreifen, was geschehen war, und merkte, dass ich physisch nicht vorhanden war. Nirgendwo. Auf merkwürdige Weise hatte ich mich in Luft aufgelöst - freilich nur für eine Sekunde. Dann war ich wieder da, und zwar rechtzeitig, um auf das Messer zu treten - und auf die Hand meines Gegners, die gierig danach griff.
»Hoppla!«, rief ich amüsiert. »Soll ich dir den Gürtel jetzt schon abnehmen, oder gehen wir dazu ins Haus an der Brücke? Entscheide du - heute ist schließlich dein großer Tag.«
Der Bärtige mobilisierte plötzlich so enorme Kräfte, dass ich befürchtete, meine Chancen in diesem Kampf seien fast null. Der Todesmantel und das viele gute Essen hatten aus mir einen trägen, unvorsichtigen Jungen gemacht. Der bärtige Polarfuchs begann, mich niederzuringen, und das gefiel mir nicht.
Ich wollte ihn nicht bespucken, denn sein Tod wäre nutzlos und dumm gewesen. Und vielleicht kannte er das eine oder andere aufschlussreiche Geheimnis. Andererseits aber hatte es keinen Sinn, mit diesem starken Mann zu kämpfen. In körperlichen Auseinandersetzungen war ich noch nie besonders gut. Vor harmlosen Plänkeleien fürchte ich mich nicht, doch auf einen Kampf um Leben und Tod mag ich mich nicht einlassen. Trotz der Warnungen von Sir Juffin, einander überlagernde Magie könne sich neutralisieren, riskierte ich eine Zauberei.
Den Magistern sei Dank! Mein Lieblingstrick klappte fabelhaft, und der aufgebrachte Bärtige verschwand zwischen Daumen und Zeigefinger meiner lässig ausgestreckten Linken.
Erschöpft setzte ich mich auf den Bürgersteig und legte den Kopf auf die angezogenen Knie. Ich muss Juffin meinen Fang übergeben, dachte ich. Aber vorher erhole ich mich ein wenig.
Alle Erlebnisse, die in den letzten vierundzwanzig Stunden auf mich eingestürmt waren, schienen nun ihren Tribut zu fordern. Die Müdigkeit sank tonnenschwer auf mich nieder, und ich wusste mich nicht dagegen zu wehren.
Eine fremde Hand berührte mich an der Schulter.
»Ist etwas passiert, Sir? Wir haben Lärm gehört. Brauchen Sie Hilfe?«, fragte eine hübsche platinblonde Lady im gemusterten Lochimantel.
Ihr düsterer, breitschultriger Begleiter hockte sich neben mich und sah mich fragend an. Was sollte ich den Leuten sagen? Dass ich Sir Max war, bis vor kurzem der leichtsinnigste Mitarbeiter des Kleinen Geheimen Suchtrupps?
»Alles in Ordnung«, meinte ich lächelnd. »Ich war nur mit einem Freund unterwegs, und der Dummkopf wollte plötzlich nicht mehr ins Haus der Begegnungen. Erst hat er mir die halbe Nacht vorgejammert, wie einsam er ist, und als wir hier waren, hat er gekniffen. Da hab ich ihn drängen wollen, sein Glück zu suchen, und er hat mir einen Kinnhaken verpasst und ist verschwunden.«
»Na so was!«, meinte die Platinblonde kopfschüttelnd. »Wie kann man Angst vor seinem Schicksal haben?«
»Wie sollte man keine Angst davor haben?«, seufzte ich philosophisch und betrachtete gedankenverloren meine Linke, in der der Verhaftete saß. »Mit mir jedenfalls ist alles in Ordnung. Vielen Dank und Gute Nacht!«
»Werden wir haben«, meinte die Lady lächelnd.
Auch ihr Begleiter ließ endlich von mir ab und nahm die Blonde bei der Hand.
»Zu den Magistern mit Ihrem seltsamen Freund! Warum suchen nicht Sie stattdessen Ihr Glück? Die Nacht ist lang«, strahlte die junge Frau und zwinkerte mir zum Abschied zu.
Als ich wieder allein war, betrachtete ich die Tür des Hauses der Begegnungen. Vielleicht hatte die platinblonde Unbekannte mich verzaubert. Jedenfalls wollte ich plötzlich dort hinein. Schließlich hatte ich in dieser Welt noch immer keine Freundin - außer im Traum natürlich, aber das zählte nicht.
Ich beobachtete, wie sich ein hoch gewachsener junger Mann in legerem Lochimantel vom Gehsteig erhob. Anscheinend war ich es selbst. Auf alle Fälle nahm ich mich erst wieder wahr, als ich schon im Gebäude stand. Nervös durchsuchte ich die Taschen meines Mantels nach zwei Kronen Eintrittsgeld. Das Haus lag in dem Bereich, der suchenden Männern - die doppelt so viel Eintritt entrichten mussten wie suchende Frauen - Vorbehalten war. Ich zahlte, ohne zu wissen, was ich danach tun sollte. Die Erklärungen von Melifaro waren mir nicht präsent. Sündige Magister, dachte ich panisch, wohin bist du mit deinem Verhafteten geraten! Dann merkte ich, dass ich in der anderen Hand eine Keramikkugel mit einer 19 hielt. Wie und wann ich dieses fragwürdige Etablissement wieder würde verlassen können, war mir ein Rätsel.
Gedankenverloren betrachtete ich die riesige Glasvase, die neben dem Eingang auf dem Boden stand. Sie war voller kleiner Keramikkugeln. Irgendwann hatte ich offenbar eine Nummer gezogen. Und jetzt? Ich zitterte vor Angst und konnte mich nicht erinnern, das Haus betreten zu haben, um »mein Glück zu suchen«, wie die Platinblonde gesagt hatte. Ich wollte nur eins: keine Dummheiten mehr machen. Für eine Nacht hatte ich genug Mist gebaut.
»Worauf warten Sie noch, Sir?«, fragte mich ein lächelnder Mann freundlich erstaunt. »Sie haben Nummer 19. Gehen Sie also Ihrem Schicksal entgegen!«
»Ja, natürlich«, gab ich nicht minder lächelnd zurück. »Danke, dass Sie mich an den Zweck meines Besuchs erinnert haben. Mitunter bin ich etwas zerstreut.«
Jetzt wusste ich, was ich zu tun hatte, und betrat den Raum, in dem die einsamen Damen warteten. Manche waren sehr hübsch, doch leider nicht alle. Ein verrückter Gedanke schoss mir durch den Kopf: Bestimmt bin ich der einzige Geheimagent, der sich je eine Geliebte gesucht hat, während die von ihm verhaftete Person in seiner Hand schmort. Ich kicherte nervös und begann zu zählen.
»Eins, zwei, drei ...« Inzwischen waren die Gesichter aller Frauen für mich zu einer einzigen Fratze verschwommen. Ich ging mit dümmlichem Lächeln weiter. »... sechs, sieben ... schade, dass Sie nicht Nummer 19 sind ... zehn, elf... ich muss leiderweiter ... achtzehn, neunzehn! Sie sind es also, Lady!«
»Bist du echt, oder zauberst du schon wieder«, fragte mich eine bekannte Stimme. »Das ist nutzlos, Max. Mit dem Schicksal kann man nicht streiten.«
Nun erst sah ich genauer hin. Das unbekannte Gesicht nahm langsam vertraute Züge an, und Lady Melamori musterte mich vorsichtig. Anscheinend konnte sie sich nicht entscheiden, was besser war - sich mir um den Hals zu werfen oder die Flucht zu ergreifen.
»Das gibt's doch nicht!«, rief ich, setzte mich auf den Boden und begann, schallend zu lachen. Was kümmerten mich in diesem Moment Anstand und Sitte?
Mein hysterischer Anfall schien Lady Melamori davon überzeugt zu haben, dass ich die peinliche Situation nicht durch magische Tricks herbeigeführt hatte.
»Komm, wir gehen, Max«, bat sie, hockte sich neben mich, streichelte meinen verwirrten Kopf und flüsterte dazu: »Mit deinem Lachen erschrickst du nur die Betreiber des Hauses. Komm - auf der Straße kannst du lachen, so viel du willst. Steh auf.«
Gehorsam griff ich nach ihrer kleinen, aber starken Hand. Sündige Magister - die zierliche Lady Melamori zog mich mit einer enormen Kraft auf die Beine!
Die kühle Nachtluft ernüchterte mich.
»In letzter Zeit sind viele seltsame Dinge passiert«, meinte ich und verstummte dann. Was hätte ich auch noch sagen sollen.
»Max«, entgegnete sie, »es ist mir sehr peinlich, aber bei dir im Schlafzimmer ... Inzwischen weiß ich, dass ich dort Unsinn geredet habe. Ich habe einfach den Kopf verloren.«
»Das ist nur zu verständlich«, meinte ich achselzuckend. »Im eigenen Bett einzuschlafen und woanders -mag der Teufel wissen, wo! - zu erwachen ...«
»Der Teufel? Wer ist denn das?«, unterbrach mich Melamori.
Solche Fragen hatte ich oft mit Engelsgeduld beantwortet, winkte diesmal aber nur ab.
»Das spielt jetzt keine Rolle. Immerhin ist dir nun klar, dass ich keine Magie angewandt habe. Ich weiß noch immer nicht, wie das alles passieren konnte.«
»Ich glaube dir«, sagte Melamori und nickte bekräftigend. »Und ich weiß nun, dass du keine Vorstellung von deinen Fähigkeiten hast. Aber das zählt nicht mehr.«
»Warum?«
»Weil ... Was geschehen ist, ist geschehen. Wir gehen aber zu dir, nicht zu mir. Ich wohne in der Nähe und will, dass unser letzter Spaziergang wirklich lang ist.«
»Unser letzter Spaziergang? Bist du verrückt geworden? Oder denkst du, ich würde dir vor Leidenschaft den Kopf abbeißen?«
Heiter zu wirken, schien mir vorläufig das Beste.
»Natürlich nicht - mein Kopf wird schon nicht in deinem Rachen landen«, sagte Melamori und lächelte matt. »Es geht um etwas anderes. Ist dir nicht klar, wo wir uns getroffen haben?«
»Im Stadtteil Rendezvous. Auch wenn du mir nicht glauben wirst: Ich hatte nicht die Absicht, dorthin zu gehen - ich bin dort gelandet, weil ich einen Mann in perlmuttfarbenem Gürtel verfolgt habe. Du hast doch vom Gürtelfall gehört?«
Melamori nickte, und ich fuhr fort: »Wir haben uns auf der Straße einen kleinen Kampf geliefert, ich habe ihn verhaftet, und nun sitzt er hier drin.« Dabei zeigte ich ihr meine Linke.
»Du willst mir also weismachen ...«, begann Melamori und lachte dann los.
Jetzt war sie es, die sich auf den Gehsteig setzte. Ich ließ mich neben ihr nieder und legte ihr den Arm um die Schultern. Melamori keuchte vor Lachen.
»Ich dachte, du ... Ach, ich kann nicht mehr! Du bist wirklich der verrückteste Junge der Welt, Max! Ich vergöttere dich!«
Schließlich konnten wir weitergehen.
»Bist du wirklich noch nie im Stadtteil Rendezvous gewesen?«, fragte Melamori unvermittelt.
»Nein. Bei uns in den Leeren Ländern läuft alles einfacher. Oder komplizierter - je nachdem, aus welcher Perspektive man das betrachtet.«
»Dann weißt du also auch nicht, dass Menschen, die sich in diesem Stadtteil getroffen haben, nur eine Nacht miteinander verbringen dürfen und sich dann trennen müssen?«, fragte Melamori flüsternd.
»Das ist bei uns schier unmöglich«, sagte ich lächelnd, obwohl mir nicht heiter zumute war. »Wir haben doch nicht vor, den Dienst zu quittieren, oder?«
Melamori schüttelte den Kopf. »Das ist auch nicht notwendig. Wir können uns so oft sehen, wie wir wollen, müssen uns aber fremd bleiben. Das ist in Echo so Sitte, und dagegen kann man nichts machen. Ich bin selbst schuld, denn ich bin aus Ärger hierhergekommen, um jemandem etwas zu beweisen - inzwischen weiß ich nicht mal mehr, wem. Wir hätten beide zu Hause bleiben sollen. Aber wer von uns hat schon Schuld? Menschen entscheiden nicht über den Zufall.«
»Aber ...«, begann ich, verstummte jedoch, so verwirrt war ich. In meinem Kopf herrschte unbeschreibliches Durcheinander.
»Wir sollten vielleicht das Thema wechseln, Max. Bis morgen früh sind noch ein paar Stunden, und man sagt, das Schicksal sei klüger als der Mensch.«
»Gut, wechseln wir das Thema. Aber ich glaube, das alles ist Quatsch. Wir können selbst entscheiden, was wir tun. Wozu brauchen wir all die merkwürdigen Sitten und Gebräuche? Wenn du willst, können wir weiter miteinander spazieren gehen, als wäre nichts geschehen. Wir erzählen einfach niemandem davon, und vielleicht wird sich später ...«
»Nein, Max, das geht nicht«, seufzte Melamori, lächelte dann und legte mir ihre kleine Hand auf den Mund. »Wie gesagt: Wir sollten das Thema wechseln.«
Schweigend gingen wir weiter. Die Straße der alten Münzen kam immer näher. Ein paar Minuten später landeten wir in meinem dunklen Haus. Kaum hatten wir die Tür geöffnet, kamen uns Ella und Armstrong mit forderndem Miauen entgegen. Ob es Tag ist oder Nacht, ob du mit einer Frau nach Hause zurückkehrst oder allein - wenn du schon kommst, dann gib uns auch zu fressen, schienen die beiden zu sagen. Also verschwand ich kurz in der Küche. Melamori beobachtete staunend meine Tiere.
»Das sind also die künftigen Ahnen der königlichen Katzen? Woher hast du sie eigentlich, Max?«
»Von Melifaros Landgut.«
»Und warum hält der ganze Hof die Viecher für eine unbekannte Tierart?«
»Das mögen die Magister wissen! Vielleicht, weil meine beiden Süßen so gepflegt sind. Melamori, willst du wirklich das, was du hier tust? Auch wenn du es nicht glauben magst: Ich hasse nichts mehr als Zwang.«
»Ich hab dir doch schon gesagt, dass das Schicksal entschieden hat. Von uns hängt nichts mehr ab. Wir können nur eins tun: die wenigen Stunden nutzen, die uns bleiben.«
»Na gut. Verlieren wir also keine Zeit«, seufzte ich ergeben und nahm das Naturwunder Melamori am Arm.
»Aber pass auf, dass der Verhaftete dir nicht entwischt. Das Einzige, was ich heute Nacht garantiert nicht will, ist, ihn im ganzen Haus zu suchen.«
Ich stellte mir vor, wie wir den Däumling gemeinsam jagten, und musste lachen. Auch Melamori hatte sich ausgemalt, wie wir den Zwerg durch alle Zimmer verfolgten, und lachte nun so sehr, dass wir beinahe von der Treppe gefallen wären. Wir verhielten uns bestimmt nicht romantisch, aber das war auch besser so. Lachen ist der beste Katalysator der Leidenschaft - viel besser als der dunkle Ernst, mit dem sich die Helden in den mir verhassten Melodramen aufeinanderstürzen.
Das Einzige, was mir die Lebensfreude vergällte, waren all die Gespräche, die darum kreisten, dass Melamori und ich uns nie wieder nahekommen durften. Angeblich steigert die Trennung der Liebenden Vorfreude und Genuss, aber daran glaube ich nicht. Diese Nacht hätte mir sehr gefallen, hätte es nicht den Gedanken daran gegeben, dass ich meinen frisch gewonnenen Schatz am nächsten Morgen von seinen falschen Vorstellungen würde befreien müssen. Diese strapaziöse Aussicht verhinderte, dass ich mich wirklich glücklich fühlte.
»Es ist seltsam«, sagte Melamori. »Ich hatte so große Angst vor dir, Max, und dann habe ich mich mit dir so wohl gefühlt, als hätte ich mich mein Leben lang danach gesehnt. Wie dumm das alles gelaufen ist!« Sie brach in Tränen aus. Ich war verwirrt und versuchte minutenlang, sie zu beruhigen.
Die Sonne, die ich die ganze Nacht über gefürchtet hatte, ging pünktlich auf. Melamori schlief auf meinem angenähten Kissen und lächelte im Traum.
In diesem Moment wurde mir klar, was ich tun musste. Mein Plan war einfach und strahlte wie der Morgenhimmel: Ich lasse sie einfach nicht gehen, dachte ich mir - sie schläft weiter, und wenn sie erwacht, sitze ich neben ihr und nehme sie in die Arme, und sie erzählt mir alles über diese dummen Traditionen. Ich höre ihr zu und warte, bis sie endlich schweigt. Dann sage ich: »Liebste, während du schliefst, hab ich mit dem Schicksal gesprochen. Es hat nichts dagegen, wenn wir noch ein wenig zusammenbleiben.« Und wenn sie weitere Einwände hat, gehe ich einfach nicht darauf ein.
Ich fühlte mich besser und hätte beinahe gekichert, beherrschte mich aber, weil Lady Melamori in meinem Arm lag. Stattdessen nahm ich einen großen Schluck Kachar-Balsam. An Schlaf war nun nicht mehr zu denken. Ich hatte nur ein kleines Problem: Ich musste mal kurz verschwinden.
Nach einer halben Stunde begriff ich, dass sich manche Dinge nicht allzu lange aufschieben lassen, und musterte Melamori behutsam. Sie schlief - daran gab es keinen Zweifel. Auf Zehenspitzen schlich ich aus dem Zimmer und ging runter ins Bad. Es dauerte nicht lange, doch als ich wieder ins Schlafzimmer kam, spürte ich einen Stich im Herzen und dachte: Das war's.
Ich hörte, wie die Haustür zugezogen wurde und jemand mit meinem A-Mobil verschwand, und begriff, dass alles vorbei war. Wirklich alles.
Ich wollte mich per Stummer Rede bei Melamori melden, wusste aber, wie sinnlos das war - so wie alles Übrige. Am schlausten war es, gar nichts zu tun. Das Schicksal, mit dem ich mich angeblich verständigt hatte, zeigte mir einmal mehr sein unfreundlichstes Gesicht.
Als ich mich einigermaßen gefasst hatte, wusch ich mich, kleidete mich an und ging zum Haus an der Brücke. Schließlich saß in meinem Handballen noch immer der Bärtige, den ich verhaftet hatte und der sich nun als Zaubermittel gegen meinen Liebeskummer erweisen mochte. Als Talisman jedenfalls hatte er mir kein Glück gebracht.
Ob es auch zu den Traditionen von Echo gehörte, den Partner, den man im Stadtteil Rendezvous getroffen hatte, um eine Nacht mit ihm zu verbringen, am nächsten Morgen zu bestehlen?
Jedenfalls musste ich mich zu Fuß zum Haus an der Brücke aufmachen. Jeder Stein auf dem Weg dorthin schien ein Hindernis zu sein. Noch vor kurzem seid ihr hier zusammen entlanggegangen, erinnerten mich die Häuser in der Straße der alten Münzen. Ich fühlte mich elend. Und dann tat ich, was mir in meiner kläglichen Situation das Beste schien: Ich meldete mich per Stummer Rede bei Juffin Halli: »Ich bin auf dem Weg zu Ihnen, Sir, und habe eine Überraschung für Sie dabei. Hat sich im Gürtelfall eigentlich etwas Neues ergeben?«
»Also lebst du noch und wurdest in der Nacht nicht ermordet?«, erkundigte sich mein Chef.
»Heute Nacht hat es zwar zwei Attacken auf mein Leben gegeben, aber das gehört nicht hierher. Juffin, klären Sie mich bitte auf.«
Wie üblich musste ich mich so sehr auf die Stumme Rede konzentrieren, dass ich an nichts sonst zu denken vermochte. Und das war gut so.
»Natürlich. Pass auf: Melifaro hat noch gestern Abend die Identität des Getöteten ermittelt. Der junge Mann heißt Apati Chlen. Aber dieser Name sagt dir nichts ... Das war eine bekannte Geschichte, die vor zwei Jahren passiert ist, und zwar in der Familie Moni Mach. Beteiligt war Ikassa Moni Mach, ein Großneffe von Sir Nuflin Moni Mach persönlich. Zu ihm war Apati Chlen gekommen, der Sohn einer ehemaligen Freundin seiner Frau. Die Chlens waren noch in der Traurigen Zeit auf ihr Landgut in Uriuland gezogen, schickten den jungen Apati aber in die Hauptstadt, damit er etwas aus seinem Leben machte. Der Junge wohnte ein halbes Jahr im Haus von Familie Moni Mach und begann dort - wie ich glaube - eine Lehre. Dann verschwand er und nahm das Weiße Siebenblatt mit. Wir haben ermittelt, dass der junge Apati kurz vor diesem Skandal in einem Laden am Hafen einen elegant schillernden Gürtel gekauft hat. Sir Ikassa erinnert sich genau daran - darum gibt es keinen Zweifel.«
Plötzlich scholl mir die Stimme von Sir Juffin laut entgegen: »Guten Morgen, Max! Du bist ja so schnell zu Fuß, wie du A-Mobil fährst!«
Jetzt erst bemerkte ich, dass ich bereits auf der Schwelle unseres Büros stand.
»Oder ich fahre so langsam, wie ich gehe. Aber eins habe ich nicht verstanden: Was hat der junge Apati der Familie Moni Mach eigentlich gestohlen?«
Ich versuchte tapfer so zu tun, als sei nichts passiert. Ich wollte nicht, dass Juffin mich tröstete und Bedauern darüber äußerte, dass es mir nicht gelungen war, eine Affäre am Arbeitsplatz anzuzetteln. Mein Chef sah mich aufmerksam an, schüttelte den Kopf und gab mir eine Tasse Kamra. Seine Augen waren voller Mitgefühl. Oder bildete ich mir das bloß ein?
»Er hat das Weiße Siebenblatt gestohlen, Max, unbedeutenden Nippes, eine Kopie des Glänzenden Siebenblattes, des Großen Amuletts des gleichnamigen Ordens also. In der Ordensepoche gab es viele Gerüchte über die enorme Kraft des Amuletts. Ich kann dir aber verraten, dass all diese Gerüchte purer Unsinn sind. Das Glänzende Siebenblatt kann nur eins: Sir Nuflin Glück bringen.«
»Das ist doch nicht wenig.«
»Aber viel ist es auch nicht. Und das Weiße Siebenblatt kann nicht einmal das - es ist ein völlig nutzloses Accessoire. Übrigens haben wir ermittelt, dass die Alte Jungfer vor gut einer Woche in den Hafen eingelaufen ist. Also hat der arme Apati sehr lange Ferien in Tascher gemacht, bevor er zu seinen Verwandten nach Echo zurückgekehrt ist. Und weißt du, woran er gestorben ist?«
»An dem Versuch, seinen prächtigen Gürtel abzunehmen?«
»Fast - er hat es nicht selbst getan, sondern wurde beraubt. Was mit dem armen Apati passiert ist, kannst du dir ja gut vorstellen. Das muss ein schrecklicher Tod gewesen sein.«
Ich zuckte zusammen.
»Woher wissen Sie, dass er beraubt wurde? Vielleicht hat Apati auf alle Verbote gepfiffen und den Gürtel einfach abgenommen? Jeder kann doch auf alles pfeifen und tun, was er will, oder?«
»Ohne an die Konsequenzen seines Handelns zu denken? Findest du diese Hypothese nicht etwas kühn? Den Räuber haben wir übrigens inzwischen gefunden. Auch er ist tot. Er hat seine Neuerwerbung anprobiert und sie danach wieder ausziehen wollen - armer Kerl. Die Polizei hat die Leiche gestern Abend hierher gebracht, kurz nachdem du gegangen bist. Jetzt liegen beide friedlich nebeneinander. Du kannst sie dir ansehen, wenn du magst.«
»Ah ja«, sagte ich kühl. »Und wie geht es unserem Kapitän?«
»Nach dem intensiven Gespräch, das wir mit ihm geführt haben, schläft Gjata tief und fest. Er hat uns Folgendes erzählt: Der Reeder Agon hat ihn vor vier Jahren als Kapitän eines seiner Handelsschiffe eingestellt und ihm den schrecklichen Gürtel zum Beweis seiner Freundschaft geschenkt. Unser Gjata hat ihn gleich anprobiert und ist so - wie wir inzwischen wissen - in Agons Falle getappt. Kaum hatte er begriffen, dass er sich gewissermaßen selbst gefangen gesetzt hatte, sagte Agon, es werde ihm nichts geschehen - vorausgesetzt, er erfülle die Befehle, die er bekomme. Gjata musste nichts Kompliziertes tun - er sollte die Alte Jungfer nur im Liniendienst zwischen Echo und Tascher verkehren lassen und das Schiff vor neugierigen Blicken schützen. Der Kapitän hat die Mannschaft immer persönlich zusammengestellt. Aber vor der letzten Reise hat Agon ihm einen neuen Schiffskoch aufgezwungen. Und das Wichtigste: Der Neuling trug keinen Gürtel. Dabei war auch Gjata überzeugt, dass sich Agon vor seinem eigenen Protege fürchtete. Ahnst du die Zusammenhänge, Max? Ich glaube, dieser Koch steht im Zentrum des Falls. Aber den werden wir auch noch erwischen. Nach der Ankunft in Echo jedenfalls ist er verschwunden. Darum hat die Mannschaft im Wirtshaus gegessen. Na ja, die Aussagen des Kapitäns haben uns weitergeholfen. Er möchte sich dir gegenüber unbedingt erkenntlich erweisen, denn er glaubt, du hast ihm Seele wie Körper gerettet. Aber was für ein Geschenk hast du mir eigentlich mitgebracht? Zeig mal?«
»Nur nichts übereilen, Juffin! Ich hab einen Gürtelträger dabei. Er wollte mich zwar mit einem Messer umbringen, aber wie Sie sehen, ist es gut ausgegangen. Bis jetzt verstehe ich allerdings nicht, wie mir das gelungen ist. Ich habe nur ein auf mich zielendes Messer gesehen, dann hab ich mich in Luft aufgelöst und mich nach kaum einer Sekunde wohlbehalten wieder materialisiert.«
»Ich weiß«, sagte Juffin lächelnd. »Du hast viel Glück gehabt, aber alles, was du sonst getan hast, war einfach schrecklich. Du hast dich wie ein kleiner Junge benommen - schämst du dich gar nicht?«
»Na ja, dass ich ein Dummkopf bin, hab ich schon lange geahnt.«
Ich erinnerte mich noch daran, den Unbekannten durch eine Grimasse erschreckt zu haben, und musste kurz lächeln.
»Melifaro wäre von meinem Handeln begeistert gewesen, meinen Sie nicht?«
»Der schon«, sagte Juffin lachend. »Aber wie du den Bärtigen verfolgt hast, Max, war einfach furchtbar. Er hat dich sofort bemerkt und ist ins erstbeste Viertel geflohen, in dem viele Leute auf der Straße waren. Dir beizubringen, wie man jemanden verfolgt, wird genauso schwer, wie dich in einen anständigen Koch zu verwandeln. Es wäre leichter, dich unsichtbar zu machen.«
»Juffin?«, fragte ich vorsichtig. »Haben Sie mich etwa die ganze Zeit beobachtet?«
»Ich hatte Besseres zu tun, Max. Unter anderem musste ich arbeiten. Ich war im Geiste bei dir, solange es nach Blut roch. Ich wollte dir helfen, doch du hast es allein geschafft. Kannst du dich erinnern, wie dein kurzzeitiges Verschwinden abgelaufen ist?«
»Soll das ein Witz sein? Für mich war das total unerklärlich.«
»Eben, Max. So ist das bei Leuten, die Talent haben. Ihr handelt, und erst dann versucht ihr herauszufinden, was in euch gefahren ist. Wir weniger Talentierten sind bescheidener. Aber jetzt müssen wir uns mit deinem Fang beschäftigen.«
»Soll ich ihn freilassen?«, fragte ich erwartungsvoll.
»Erzähl mir erstmal, wie er aussieht - schließlich habe ich nicht ihn, sondern dich beobachtet.«
Ich berichtete vom Äußeren des Mannes, mit dem ich am Vorabend im Stadtteil Rendezvous gewesen war. Als ich fertig war, bestürmten mich bittere Erinnerungen, und ich starrte gedankenverloren auf einen Fleck an der Wand.
»Ausgezeichnet, Max«, sagte Juffin und übersah meinen Schmerz demonstrativ. »Weißt du, wen du da gefangen hast? Agon, den Reeder der Alten Jungfer Dein unglaubliches Glück ist besser als jedes Amulett.«
»Tja«, sagte ich finster. »Und was soll ich mit Agon tun? Soll ich ihn zur Erinnerung an den gelungenen Abend in meiner Hand lassen?«
»Das wäre keine gute Idee. Ich glaube, der Reeder kann uns bei der Lösung des Gürtelrätsels helfen. Vielleicht besagt deshalb ja eins der vielen Verbote, denen die Träger dieser Gürtel unterliegen, es sei nicht erlaubt, mit Behördenvertretern zu reden. Nicht ausgeschlossen, dass er sofort stirbt, wenn er im Haus an der Brücke ans Licht kommt.«
»Wir könnten das Gleiche machen wie gestern«, schlug ich vor. »Ich kann den Tod mit ihm teilen und ihm dadurch das Leben retten.«
»Bist du dazu wirklich bereit? Ich würde dir davon abraten.«
Ich zuckte die Achseln.
»Warum sollte ich das nicht tun? Nie im Leben war ich so tapfer wie in den letzten sechsunddreißig Stunden. Also nutzen Sie die Gelegenheit.«
»Das fehlte mir noch«, murmelte mein Chef. »Soll ich dich etwa umbringen, um diesen Kerl aus dem äußersten Süden zu retten? Nein, heute sind wir klüger und fahren mit dem Gefangenen nach Jafach. Die Ordensfrauen des Siebenzackigen Blattes haben bestimmt eine clevere Idee, wie wir mit dem kleinen Mann in deiner Hand verfahren sollen - schließlich geht es letztlich um die Interessen ihres Chefs.«
»Um die Interessen von Magister Nuflin Moni Mach? Und gibt es im Orden des Siebenzackigen Blattes tatsächlich Frauen?«
»Warum sollte es anders sein?«, fragte Juffin erstaunt. »Sogar mehr Frauen als Männer. Das war schon immer in jedem Orden so. Wusstest du das wirklich nicht?«
»Woher hätte ich es wissen sollen? Ich hab noch nie einen Orden von innen erlebt. Und alle Großen Magister, von denen ich gehört habe, waren Männer.«
»Verstehe. Frauen sind verschlossener, weißt du? Wenn sie in einen Orden eintreten, ziehen sie sich von der Außenwelt zurück. Viele haben Zauberkräfte, doch nur selten hat eine Frau eine wichtige Ordensposition übernehmen dürfen. Aber lass uns jetzt fahren, Max, damit du dir selbst ein Bild machen kannst.«
»Warum geht es hier eigentlich letztlich um die Interessen von Sir Nuflin?«, fragte ich, nachdem ich mich ans Steuer des A-Mobils gesetzt hatte.
»Wo bleibt deine so gepriesene Intuition, Max? Denk doch mal nach: Ein junger Mann wird zum Gefangenen eines rätselhaften Gürtels. Später stiehlt er eine Kopie des Glänzenden Siebenblattes, die zu rein dekorativen Zwecken dient. Und plötzlich tauchen in Echo Leute auf, die den gleichen Gürtel tragen. Was meinst du, was diese Leute suchen könnten?«
»Das echte Amulett von Sir Nuflin Moni Mach!«
»Endlich ist der Groschen gefallen - gratuliere!«
»Interessant ist aber, dass diese Leute glauben, sie könnten einfach ein Juwel aus der Burg Jafach stehlen.«
»Das ist doch auch gar nicht so schwer, Max! Wenn es den Gürtelträgern gelänge, jemandem wie Sir Nuflin so einen Gürtel umzulegen, würde er ihnen alles geben, was sie wollen.«
»Aber das ist unmöglich. Der Große Magister lässt sich doch nicht so einen Gürtel anlegen!«
»Es ist auch gar nicht nötig, Max, dass er selbst ihn trägt! Der Orden des Siebenzackigen Blattes hat viele Mitglieder. Außerdem gibt es in Echo zahlreiche Orte, die mit der Burg durch geheime Korridore verbunden sind - unser Haus an der Brücke zum Beispiel. Es würde also reichen, ein Mitglied des Ordens dazu zu bringen, den Gürtel anzulegen, und das arme Opfer dadurch zu zwingen, alles Mögliche aus der Burg zu schmuggeln, sogar das Große Amulett. Das könnte jeder tun - selbst ich.«
»Das darf doch nicht wahr sein!«
»Ist es aber. Unter den rebellischen Magistern waren einige klüger als ich, doch manche waren nicht klug genug, um von dummem Aberglauben zu lassen.«
»Sie denken also, hinter all dem steckt ein rebellischer Magister?«
»Natürlich - wer sonst könnte so ein Amulett brauchen? Bei jedem Juwelier gibt es viel kostbarere Dinge. Doch wir sind da, Max.«
»Hoppla, tatsächlich. Aber es ist mitten am Tage, und die Tore werden nur morgens und abends geöffnet. Wie wollen wir jetzt in die Burg kommen?«
»Durch die Geheime Tür. Die Frauen des Ordens lassen sich ohnehin nur auf diesem Weg erreichen.«
Juffin stieg aus dem A-Mobil, und ich folgte ihm. Mein Chef ging gedankenverloren an einer hohen, dunklen Mauer entlang, drehte sich plötzlich zu mir um und schlug mit der Hand auf einen Stein, der ein wenig aus der Wand ragte.
»Mir nach, Junge. Mach aber besser die Augen zu - das schont die Nerven.«
Ohne mich noch mal anzuschauen, presste mein Chef sich durch den Schlitz in der Mauer.
Reflexhaft schloss ich die Augen und folgte ihm, spannte dabei aber die Muskeln in Erwartung eines Schlags intuitiv an. Doch nichts dergleichen geschah: Sekunden später zog Juffin mich am Arm, und ich entspannte mich ein wenig.
»Was hast du erwartet, Max?«, fragte er belustigt. »Wir sind schon da.«
Ich sah mich um. Wir befanden uns im dichten Gestrüpp eines alten, verwilderten Gartens.
»Guten Tag, Juffin - lebst du immer noch, du alter Fuchs?«, fragte eine angenehme, lebensfrohe Stimme. Ich zuckte zusammen und drehte mich um. Die Frau, die meinen Chef so lässig angesprochen hatte, sah aus wie die ideale Großmutter, denn es handelte sich um eine nicht eben große, rundliche und ergraute Lady, deren wohlwollendes Lächeln entzückende Grübchen auf ihre Wangen zauberte.
»Einen netten Jungen hast du dabei«, stellte sie fest und betrachtete mich voller Sympathie. »Du bist bestimmt Sir Max - herzlich willkommen.«
Die alte Frau umarmte mich überraschend, und ich hatte das Gefühl, nach langer Abwesenheit nach Hause gekommen zu sein.
»Max, das ist Lady Sotova Chanemer«, sagte mein Chef. »Sie gehört zu den gefährlichsten Wesen im Weltall - also sei nicht zu locker.«
»Nicht weniger gefährlich als du, Juffin«, kicherte Lady Sotova. »Aber gehen wir. Du musst dringend etwas essen, mein Lieber«, meinte sie, zu mir gewandt.
»Ausgezeichnete Idee«, stellte Juffin trocken fest.
»Ich weiß - du hast immer Hunger. Ich kenne dich und mag dich sogar dafür. Wo bist du eigentlich in letzter Zeit gewesen? Du hast mich schon lange nicht mehr besucht. Aber wenn ich dich jetzt so sehe, ist mir klar, dass irgendwas passiert sein muss.«
Lady Sotova ging uns zügig voraus, drehte sich mehrmals um und unterstrich fast all ihre Worte gestisch und mimisch. Die kleinen Hände fuhren rasch durch die Luft, ihr Lochimantel zitterte im Wind, und ihre Grübchen wirkten noch bezaubernder als zuvor. Sosehr ich mich auch bemühte - ich konnte mir kaum vorstellen, dass sie derart gefährlich war.
Schließlich landeten wir in einem hübschen kleinen Pavillon, der zugleich ihr Arbeitszimmer war. Dort trafen wir auf eine andere, genauso nette, aber erheblich jüngere Lady. Sie war ebenso groß und rundlich wie die ältere Frau und hatte ähnlich bezaubernde Grübchen.
»Sotova, du hast ja schon wieder Männer aufgegabelt -wann hört das endlich auf?«
Das Lachen meiner neuen Bekannten klang glockenhell.
»Natürlich gabele ich Männer auf, Reniwa. Wir haben das doch abgesprochen: Ich schaff sie ran, und du verpflegst sie. Also ab in die Küche.«
»Was wünschen Sie zu speisen?«, fragte Lady Reniwa mit hochgezogenen Brauen, fuhr dann aber fort, ohne unsere Antwort abzuwarten: »Schon gut, ich kümmere mich um das leibliche Wohl deiner Besucher. Das geht aber alles auf deine Rechnung.«
Sie verließ den Pavillon, und wir waren wieder zu dritt.
»Na, Max, erschrocken?«, fragte Lady Sotova amüsiert. »Hast du Sorgen, der verrückte Juffin habe dich zu genauso verrückten Frauen geführt? Schweig ruhig - ich sehe die Antwort in deinen Augen. Jetzt gib mir die Hand, na los, hab keine Angst.«
Verlegen blickte ich meinen Chef an. Er machte ein finsteres Gesicht und nickte energisch. Ich streckte der Lady die feuchte Linke entgegen, in der seit vielen Stunden der Reeder Agon - der unerschrockene Händler aus Tascher - schmorte. Die freundliche Alte strich vorsichtig über meine Finger, zögerte einen Moment, schaute kurz finster drein, lächelte dann aber wieder und bekam erneut ihre herrlichen Grübchen.
»Das ist aber einfach, Juffin. Das hättest du auch allein geschafft.«
»Für dich ist alles einfach«, murmelte der Ehrwürdige Leiter.
Lady Sotova schüttelte vorwurfsvoll den Kopf, griff plötzlich nach meinem Handgelenk, als wollte sie mir den Puls fühlen, drückte aber viel stärker zu. Ich schrie vor Schmerz und spreizte dabei die Finger. Der arme Reeder landete auf dem Boden, und Lady Sotova wedelte triumphierend mit seinem perlmuttfarbenen Gürtel.
»Das war's, Juffin. Na, wie gefällt dir dieses Spielzeug?«
»Übertreib es bitte nicht, Unvergessliche. Ich kenne noch ein paar Zaubertricks, über die du staunen würdest.«
»Tatsächlich?«, fragte Sotova mit gespielter Überraschung und wandte sich an mich. »Hat's dir gefallen, Herzchen?«
Ich nickte verwirrt und starrte meinen ehemaligen Gefangenen an. »Lebt er noch, Lady?«
Sie winkte lässig ab.
»Was sonst? Ich kann ihn jederzeit wieder zu Bewusstsein bringen, aber ich warte besser ab, bis ihr euch wieder auf den Heimweg macht. Wir müssen jetzt essen, und den da will ich nicht bewirten.«
Nach dem Essen, das auf mich wie ein starkes Beruhigungsmittel wirkte, beugte sich Lady Sotova über Agons reglosen Körper.
»Wie lange willst du denn noch schlafen, du Faulpelz?«, rief sie mit schriller, verärgerter Stimme, und prompt bewegte der Mann sich ein wenig.
»Eins kann ich dir verraten, Juffin«, sagte unsere Gastgeberin lächelnd. »Du kannst jeden zu Bewusstsein bringen, wenn du ihm einen Satz ins Ohr brüllst, den er als Kind oft gehört hat. Wie du siehst, hat die Mutter dieses Mannes ihren Ärger nicht im Zaum halten können - genauso wenig übrigens wie meine Mutter. Erinnerst du dich noch an sie? Friede ihrer Asche! Ich glaube, ihre rauen Erziehungsmethoden haben aus mir eine so gute Zauberin gemacht, denn ich habe früh lernen müssen, meine Haut zu retten. Aber jetzt nehmt diesen Mann und verschwindet. Ihr habt zu arbeiten - und ich auch. Das Leben ist schließlich kein Zuckerschlecken.«
Wir stiegen mit unserem Gefangenen ins A-Mobil. Was ich auf Burg Jafach erlebt hatte, verblüffte mich noch immer so, dass ich Juffin nichts zu fragen vermochte.
»Wie hat dir dieses Wunder der Natur gefallen?«
Ich hätte nicht vermutet, dass die Stimme meines Chefs so finster klingen konnte.
»Ein starker Auftritt - ich mag gar nicht daran denken, wozu die übrigen Frauen des Ordens fähig sein mögen.«
»Die sind nicht so gefährlich. Sotova ist die bei weitem beste Zauberin. Vor ihr fürchtet sich sogar der Große Magister Nuflin. Max - hab ich jetzt bei dir an Autorität eingebüßt?«
»Wie kommen Sie denn darauf? Diese Sotova ist allerdings wirklich unglaublich.«
»Sie ist meine Landsmännin - hast du das bemerkt? Hier in Echo sind wir sogar beste Freunde, obwohl wir uns eigentlich nur beruflich treffen. Vor über zweihundert Jahren, als wir noch in Kettari lebten, hatten wir eine leidenschaftliche Affäre. Allerdings hatten die Bewohner dort viel Vergnügen, als ich Sotova nach einem Streit im Namen des Gesetzes verhaftet und durch die ganze Stadt zum Haus am Wege - dem dortigen Haus an der Brücke - geführt habe. Das war vor über zweihundert Jahren - stell dir das mal vor! Nach diesem Skandal setzte Sotova sich in den Kopf, in einen Orden einzutreten. Dafür ist sie in die Hauptstadt gezogen. Ihr Entschluss kam für mich ganz überraschend, doch sie hat sich offensichtlich richtig entschieden. Im Orden ist sie gut aufgehoben.«
Ich sah Juffin fragend an. »Warum erzählen Sie mir das?«
»Damit du weißt, warum Lady Sotova so respektlos mit mir umgegangen ist. Sonst kommst du noch auf die Idee, jede unverheiratete Frau, die älter als dreihundert Jahre ist, könnte mit mir umspringen, wie es ihr gefällt.«
Im Haus an der Brücke trafen wir auf Melifaro.
»Juffin«, flüsterte er traurig, »ich verstehe gar nichts mehr. Lady Melamori hat sich in meinem Büro eingeschlossen und lässt niemanden rein. Ich glaube, sie weint.«
»Soll sie ruhig«, sagte mein Chef ungerührt. »Warum soll der Mensch nicht weinen, wenn's ihm schlecht geht? Mach, was du willst, aber versuch nicht, sie zu trösten. Sonst will sie dich womöglich umbringen, und ich kann dir nicht helfen, weil ich beschäftigt bin. Treib Lonely-Lokley auf und richte ihm aus, er soll alles stehen und liegen lassen, herkommen und warten. Und du kommst auch wieder her. Lady Melamori kannst du ausrichten, dass uns in einer halben Stunde viel Arbeit erwartet. Wenn sie dabei sein will, soll sie sich jetzt beruhigen und wieder herrichten. Gehen wir, Sir Max.«
Juffin hakte den Reeder Agon unter und ging rasch in sein Arbeitszimmer. Ich folgte den beiden.
»Max, ich hasse es, mich in die Angelegenheiten anderer einzumischen«, begann mein Chef, nachdem er den Gefangenen auf einen Stuhl bugsiert hatte. »Aber manchmal komme ich nicht umhin, das zu tun - jetzt zum Beispiel. Unternimm nichts mehr, sonst machst du alles nur noch schlimmer. Lady Melamori geht es genauso schlecht wie dir. Aber anders als du hat sie sich von Anfang an keine Illusionen über den heutigen Morgen gemacht. Sie weiß einiges, wovon du keine Ahnung hast. Zum Beispiel, was mit Leuten passiert, die mit den Traditionen brechen und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen wollen. Über solche Dinge redet man nicht, weil alle - bis auf ein paar Zugereiste - davon wissen.«
»Über welche Dinge?«, fragte ich hastig.
»Wenn ein Paar, das sich im Stadtteil Rendezvous kennen gelernt hat, gegen das Verbot verstößt, sich nach der Liebesnacht wiederzusehen, wird einer der beiden sehr bald sterben. Wer von den beiden das sein wird, lässt sich im Vorhinein nicht sagen, aber ich vermute, es würde Lady Melamori erwischen. Frag nicht, warum - glaub mir einfach. Du hast ohnehin viel mehr Glück als sie. Das ist die Lage.«
»So was hör ich zum ersten Mal«, brummte ich. »Und verzeihen Sie, aber das ist doch billigster Aberglaube! Wenn nicht gar ein primitives Tabu!«
»Seit einiger Zeit ist dein Leben voller Aberglauben -ob du es willst oder nicht. Und warum sollte ich dich anlügen? Haben wir uns etwa im Stadtteil Rendezvous kennen gelernt?«
»Das nicht«, lächelte ich bitter. »Aber all das gefällt mir trotzdem nicht. Ich dachte, die Lady würde einfach an Schauergeschichten glauben, und ich brauchte nur Zeit, um sie dazu zu bringen, ihre unsinnigen Ängste abzulegen.«
»Wenn du dich darum bemühst, schaffst du das vermutlich. Aber ich rate dir davon ab. »Sie ist leider nicht meine Freundin« klingt besser als »Sie ist meine leider verstorbene Freundin«. Wahre Freundschaft verlangt beiden Seiten manches Opfer ab. Das müsst ihr noch begreifen. Damit ist dieses Thema für mich erledigt.«
Schockiert starrte ich Juffin an. Er zuckte nur die Achseln, als wollte er sagen, er habe die Naturgesetze schließlich nicht gemacht.
»Ich hoffe, du erwürgst mich nicht, wenn ich unserem armen Gefangenen ein paar Tröpfchen von deinem Lieblingsgetränk gebe?«, fragte mich Juffin leichthin.
»Vorausgesetzt, ich bekomme auch einen Schluck davon. Ich bin nämlich sehr müde.«
»Schon gut, du Schnorrer. Warum hast du dir eigentlich noch immer keine eigene Flasche zugelegt?«
»Weil ich geizig bin. Haben Sie das noch nicht bemerkt?«
Mein Chef lachte erleichtert. Anscheinend gewann ich meine alte Form zurück. Zu wissen, dass ich meinen Schmerz mit jemandem teilte, ließ mich wieder aufleben. Etwas Ähnliches war am Vortag Kapitän Gjata widerfahren. Außerdem wusste ich jetzt, dass ich kein verschmähter Galan aus einem schmalzigen Liebesroman war, sondern ein Mensch, der sich mit seinem Schicksal abfinden musste. Auch das war zwar schmerzhaft, aber leichter zu ertragen.
Nach ein paar Tropfen Kachar-Balsam fühlte sich unser Gefangener schon viel besser, und als er merkte, dass er keinen Gürtel mehr trug, fiel er vor uns auf die Knie. Seine Dankbarkeit allerdings war uns zu wenig.
»Erzähl uns lieber, wer dir dieses Schmuckstück angedreht hat«, sagte Juffin.
»Sein Name ist Chroper Moa. Er kommt aus Ihrer Gegend ...«
»Mehr brauchst du nicht zu sagen«, unterbrach ihn Juffin und wandte sich an mich. »Das ist der Große Magister des Ordens vom Bellenden Fisch. Dieser Orden ist nicht besonders mächtig, doch sein Chef hatte immer eine enorme Fantasie.«
Juffin sah wieder den Reeder an, der daraufhin zusammenfuhr und finster dreinschaute. Das konnte ich gut verstehen, denn mein Chef hatte ihm einen vernichtenden Blick zugeworfen.
»Was hat er von dir gewollt, Agon?«
»Nur eins: Er will an einen großen Talisman kommen - Genaueres weiß ich nicht. Ich sollte nur ein paar nützlichen Leuten diesen Gürtel umlegen. Dann meldete sich Chroper per Stummer Rede bei ihnen und sagte ihnen, was er brauchte.«
»Und wem hast du den letzten Gürtel angelegt?«
»Niemandem. Diesmal hat Chroper mich von Tascher nach Echo begleitet. Anscheinend hat er gemerkt, dass die ganze Sache ohne ihn kein erfolgreiches Ende nehmen würde. Ich habe immer getan, was er mir befohlen hat. Mein größter Erfolg war, diesem Apati Chwen einen Gürtel umgelegt zu haben, aber er hat leider eine wertlose Kopie des Glänzendes Siebenblattes gestohlen. Nach diesem Misserfolg war Chroper ein ganzes Jahr sauer auf mich und hat mir dann gesagt, er werde mich nach Echo begleiten und mich danach von meinem Gürtel befreien.«
»Damit du deine Geschäfte auf eigene Rechnung fortsetzen kannst, ja?«, rief Juffin und verzog angewidert das Gesicht. »Die Gürtelträger sind ausgezeichnete Diebe, stimmt's? Sie tun, was man ihnen befiehlt, und verraten ihre Auftraggeber nicht. Das hat dir gefallen, Agon, gib's zu! Wie viel Diebesgut hast du denn in dein sonniges Tascher geschafft?«
»Nichts dergleichen habe ich getan!«
»Sei doch still. Ich habe alle größeren Diebstähle in Echo untersucht. Sie fanden stets dann statt, wenn dein Schiff hier im Hafen lag. Willst du noch mehr hören?«
Der bärtige Reeder blickte stumm auf den Boden. Juffin lächelte.
»Ich sehe schon - ich muss dir nichts weiter erzählen. Jetzt verrätst du mir, wo sich dein Freund Chroper aufhält. Und wenn ich ihn mit deiner Hilfe finde, hast du Glück. Dann musst du nämlich nur deinen Kapitän bezahlen, ich schicke dich zurück nach Tascher, und du darfst nie wieder ins Vereinigte Königreich einreisen. Deine übrigen Fahrten interessieren mich ohnehin nicht. Sollte ich Chroper allerdings nicht finden, leg ich dir wieder deinen hübschen Gürtel um - verstanden?«
»Ich weiß wirklich nicht, wo er ist!«, rief Agon panisch. »Er hat mir nie erzählt, wo er sich aufhält.«
»Das war lobenswert vorsichtig«, stellte Juffin fest. »Es wäre allerdings auch seltsam gewesen, wenn Chroper Moa dir sein Versteck verraten hätte. Aber du bekommst noch eine Chance: Es würde mir reichen, wenn du mir sagst, wo er gestern war.«
»Gestern haben wir uns nach dem Mittagessen auf einen Krug Kamra im Goldenen Widder getroffen, aber ich weiß nicht ...«
»Gut, dass es nicht zum Mittagessen, sondern hinterher war«, meinte Juffin und verzog das Gesicht. »Dieser Widder ist doch eine sündhaft teure Klitsche und hat obendrein einen lausigen Koch. Für einen Gourmet wie Chroper wäre das nichts gewesen. Gut. Max, kümmere dich um unseren Gast. Er wird uns begleiten - kann ja sein, dass wir ihn brauchen.«
Verständnislos sah ich Juffin an, doch dann fiel der Groschen.
»Natürlich.«
Eine Bewegung reichte, und der Reeder landete wieder zwischen Daumen und Zeigefinger meiner Linken. Langsam hatte ich das Gefühl, Agon und ich seien unzertrennlich.
Melifaros Kopf tauchte in der Tür auf.
»Alle sind versammelt, Sir Juffin. Sie sollten nicht so viel arbeiten. Sir Nachtantlitz, auch du wirkst müde. Aber selbst Lonely-Lokley ist ja manchmal erschöpft.«
»Was man gern tut, ermüdet nie«, erklärte ich belehrend.
Ich stürmte in den Saal der allgemeinen Arbeit, als wollte ich mich von einem Wolkenkratzer stürzen: schnell, entschieden und ohne an die Folgen zu denken.
»Nun, meine Damen und Herren«, vernahm ich Juffins Stimme hinter meinem Rücken, »unser Ziel heißt Goldener Widder. Lady Melamori - Sie übernehmen dort die Initiative. Auf geht's!«
»Mit dem größten Vergnügen«, brummte Melamori nickend und mied dabei meinen Blick. Das war sicher besser so.
»Unser Gegner ist sehr ernst zu nehmen. Es handelt sich um Magister Chroper Moa. Haben Sie von ihm gehört, Melamori?«
»Ist das nicht der Große Magister des Ordens vom Bellenden Fisch? Und der soll gefährlich sein?«, fragte sie und zuckte hochmütig die Achseln.
»Auch manche weniger wichtige Orden haben gefährliche Geheimnisse«, sagte Lonely-Lokley und schüttelte missbilligend den Kopf. »Lady Melamori, im Hinblick auf Ihre Sicherheit sollten Sie das nicht vergessen. Und im Hinblick auf unsere Sicherheit natürlich auch nicht.«
»Haben Sie verstanden, Lady? Sie sollen die Nase nicht so hoch tragen«, mischte sich Juffin ein. »Und jetzt los, Leute. Max, du setzt dich ans Steuer. Jede Minute zählt. Du hast die einmalige Chance, den Kleinen Geheimen Suchtrupp fast vollzählig zu vernichten. Ich kann mir kaum vorstellen, was Kofa und Lukfi ohne uns anfangen sollten.«
»Kofa wird weiter essen, und Lukfi wird unser Fehlen nicht mal bemerken«, entgegnete Melifaro. »Und niemand wird uns auch nur eine Träne nachweinen.«
»Ich glaube, so eine Katastrophe wäre ein ernsthafter Verlust für das Vereinigte Königreich«, erklärte Lonely-Lokley mit Nachdruck.
Melifaro kicherte in sich hinein.
»Während ihr über unseren Tod spekuliert habt, sind wir schon angekommen«, sagte ich lächelnd. »Ihr seid mir vielleicht Helden! Bitte alle aussteigen. Melamori, du gehst vor und zeigst dem Magister, was du kannst.«
Meine Entschiedenheit überraschte mich selbst. Juffin und Melifaro wechselten einen Blick und tuschelten kurz wie Schüler miteinander. Sogar die düster dreinblickende Lady Melamori musste ein wenig lächeln. Sir Schürf Lonely-Lokley musterte uns wie schwierige, nichtsdestotrotz aber geliebte Kinder.
Dann zog die Verfolgungsmeisterin ihre Schuhe aus, betrat das Wirtshaus und durchquerte das Lokal.
»Ich hab ihn! Ein Magister ist leicht zu finden, Sir Juffin«, rief sie. »Das hier ist seine Spur. Er muss irgendwo in der Nähe sein - das schwöre ich bei Ihrer Nase.«
»Schwören Sie lieber bei Ihrer Nase. Meine brauch ich noch.«
Sir Juffin sah aus wie ein Angler, der einen kapitalen Wels gefangen hat.
Melamori folgte Chropers Spur, während wir uns wieder ins A-Mobil setzten und darauf warteten, dass sie uns per Stummer Rede informierte, wohin wir fahren sollten. Nach genau einer halben Stunde legte Juffin mir die Hand auf die Schulter.
»Kennst du die Straße der vergessenen Dichter, Max?«
»Davon höre ich zum ersten Mal - gibt es die wirklich?«
»Mach dir darüber keine Gedanken, sondern fahr einfach hin. Halt dich Richtung Burg Jafach. Es ist nur eine enge Gasse, und ich sag dir Bescheid, wo du abbiegen musst.«
Die Straße der vergessenen Dichter war tatsächlich eng und ziemlich heruntergekommen, denn zwischen den Steinen auf den Mosaikgehsteigen wuchs Unkraut.
Sofort fiel uns ein Haus besonders ins Auge. Es sah aus wie eine alte Burg und war von einer hohen Mauer umgeben, an der Plakatreste klebten. Neben dem Hauseingang stand Melamori und stieß ungeduldig mit der Schuhspitze gegen den Bordstein. Sie schien merkwürdig gut gelaunt, und das kam mir seltsam vor.
»Er ist hier«, flüsterte die Verfolgungsmeisterin. »Als er merkte, dass ich ihm auf die Spur getreten war, war er erst traurig und hat dann die Reste seines Verstandes zusammengerafft. Juffin, es war ein Fehler, dass Sie mir befohlen haben, auf Sie zu warten. Ich hätte alles allein erledigen können. Aber jetzt gehe ich rein - mir nach!«
»Sie gehen nirgendwohin!«, rief Juffin energisch. »Lonely-Lokley geht vor - das ist seine Pflicht. Und es wäre besser, wenn Sie einfach im A-Mobil sitzen blieben. Wo ist Ihre berühmte Vorsicht, Lady?«
»Warum soll ich hierbleiben, obwohl ich ihn schon fast erwischt hatte«, rief Melamori zornrot. »Ich hab doch wohl ein Recht darauf, als Erste zu gehen!«
Ihre Stimme klang ungeduldig und außer Atem - so aufgebracht hatte ich sie noch nie erlebt. Selbst in unserer Liebesnacht hatten ihre Augen nicht so geglänzt wie in diesem Moment.
Warum glühst du bloß so, meine Liebe?, fragte ich mich. Dann begriff ich, was geschehen war.
»Melamori redet unter Zwang. Bestimmt hat sie keine Ahnung, was sie da sagt. Er hat sie gefangen, Juffin! Melamori ist Chroper auf die Spur getreten und daran kleben geblieben - ich weiß nicht, wie ich es anders sagen soll. Jedenfalls hat er sie in Bann geschlagen. Chroper glaubt, ihm sei nur eine Person auf den Fersen, und er möchte diese Person deshalb so schnell wie möglich beseitigen. Ich staune, dass Melamori überhaupt auf uns gewartet hat.«
Sir Juffin klopfte mir auf die Schulter.
»So ist das also? Donnerwetter! Melamori, hast du das jetzt auch durchschaut? Du willst doch wohl nicht, dass der Große Magister irgendeines dubiosen Ordens über dich verfügt? Also bleib hier!«
Lady Melamori sah uns überrascht an und schüttelte den Kopf.
»Ich kann nicht, wirklich nicht. Und ich bin mir sicher, dass wir so schnell wie möglich ins Haus eindringen müssen, damit es diesem Chroper nicht gelingt zu fliehen. Aber Sie haben Recht - was ich gerade sagte, wurde mir eingegeben. Ich hatte nicht warten wollen, und wenn ihr auch nur eine Minute später gekommen wärt ...«
In diesem Moment verließ Lonely-Lokley das A-Mobil und hob Lady Melamori mühelos vom Boden hoch.
»Das war's für Sie, Gnädigste. Geht's Ihnen jetzt besser?«, fragte er und setzte sie sich auf die Schultern. »Wir sollten dieses Problem später besprechen«, fügte er gelassen hinzu.
Wir sahen einander reihum an.
»Stimmt«, meinte Juffin, und alle stiegen aus.
»Sind Sie nun damit einverstanden, im A-Mobil zu warten?«
»Inzwischen bin ich mit allem einverstanden«, rief Melamori und klammerte sich verzweifelt an Lonely-Lokleys Kopf. »Ich hab nämlich furchtbare Höhenangst. Kann ich nicht vielleicht doch mitkommen? Ich will auch versuchen, brav zu sein. Es ist so blöd, allein im A-Mobil zu sitzen.«
»Na gut, kommen Sie mit. Aber ziehen Sie Ihre Schuhe wieder an. Sie brauchen auf keine Spur mehr zu treten und könnten sich einen Splitter fangen. Wisst ihr eigentlich, wem das Haus gehört? Hier lebt der alte Sir Gartoma Chatl Min. Vor hundert Jahren hat es in Echo schreckliehe Gerüchte über das Chaos in seinem Haus gegeben, aber allmählich ist dieses Thema langweilig geworden. Sir Schürf, setzen Sie Lady Melamori bitte beim A-Mobil ab, klemmen Sie sich Max unter den Arm und gehen Sie mit ihm voran - wir drei folgen euch.«
Lonely-Lokley warf mir einen taxierenden Blick zu und packte mich dann mit der Eleganz eines Lastenkulis an der Taille.
»Schürf, ich kann mich prima ohne Ihre Hilfe fortbewegen!«, rief ich. »Juffin hat sich nur missverständlich ausgedrückt!«
»Stimmt das, Sir?«, fragte Lonely-Lokley so interessiert wie gelassen.
»Sündige Magister, ihr macht mich noch verrückt! Natürlich hab ich das nicht so gemeint. So was soll ein Geheimer Suchtrupp sein, der Schrecken des Weltalls? Ein Zirkus ist das!«
Lonely-Lokley und ich traten die Tür ein und gelangten ins muffige Foyer des riesigen, heruntergekommenen Hauses.
»Und wie wollen Sie den Mann jetzt finden, Schürf?«, fragte ich angespannt. »Das ist ja ein Palast hier.«
»Stimmt - das Gebäude ist ziemlich groß«, sagte Lonely-Lokley nickend. »Nur nicht die Nerven verlieren, Sir Max. Selbst in einer so kniffligen Lage kann ich ihm auf die Spur treten. Auch ich nämlich habe ziemlich viel Erfahrung in solchen Dingen. Bevor Lady Melamori bei uns angefangen hat, mussten wir eine Zeit lang ohne Verfolgungsmeister auskommen. Für diesen Beruf braucht man eine seltene Begabung, und es ist schwer, geeignete Personen dafür zu finden. Unser vorletzter Verfolgungsmeister - Sir Totochata Schlom - ist in einer sehr ähnlichen Situation ums Leben gekommen. Nur war sein Gegner etwas ernster zu nehmen als dieser Chroper: Er trug ähnliche Handschuhe wie ich.«
Ich pfiff anerkennend durch die Zähne. Sir Lonely-Lokley zuckte nur die Achseln und fuhr fort: »Sir Totochata war ein brillanter Verfolgungsmeister, aber nicht eben vorsichtig. Wissen Sie, Sir Max, sein Verlust ist für mich bis heute sehr schmerzhaft: Wir hatten am selben Tag beim Kleinen Geheimen Suchtrupp begonnen und waren im Laufe der Zeit echte Freunde geworden. Hier müssen wir links abbiegen - passen Sie auf, der Splitter da durchdringt jede Sohle. Wegen solch tückischer Waffen hab ich Lady Melamori ja gesagt, auch Orden, die nicht allzu mächtig sind, könnten sehr gefährlich sein. Sie war tatsächlich in großer Gefahr. Aber jetzt weiter.«
Lonely-Lokleys weißer Mantel schimmerte in der Dunkelheit. Sir Schurfs rechte Hand, deren taschenlampenartiges Leuchten nicht den Tod, sondern nur Erstarrung brachte, huschte über das erschrockene Gesicht eines am Boden liegenden Greises.
Ich trat zu dem hageren Alten, der einen verschossenen Lochimantel trug. Seine Hände waren hinterm Kopf verschränkt, seine Beine in den Knien abgewinkelt.
»Ist das der Große Magister?«
Lonely-Lokley schüttelte den Kopf. »Nein, Max, das ist Sir Gartoma Chatl Min, der Besitzer des Hauses. Sehen Sie, er trägt den gleichen Gürtel wie die übrigen Opfer. Sir Chroper hat es geschickt vermocht, einen Unbeteiligten in die Falle zu locken. Wenn Verfolgungsmeister nahe am Ziel sind, wird ihnen alles andere egal. Deshalb darf auch Lady Melamori im Dienst nie allein unterwegs sein, es sei denn, sie verfolgt unbescholtene Bürger. Selbst diese Regelung allerdings ist meiner Meinung nach leichtfertig.«
»Was kann so ein alter Mann schon ausrichten? Wie ein Kämpfer sieht er nicht gerade aus.«
»Urteilen Sie nicht übereilt, mein Freund. Wer gelernt hat, eine Armbrust zu gebrauchen, verlernt es nicht so schnell. Und ein Kopfschuss kann jeden töten, auch Verfolgungsmeisterinnen. Sehen Sie, was er da in der Hand hat?«
Mir schwindelte. Melamori wäre fast durch einen Armbrustpfeil in einem muffigen Korridor gestorben! Zu den Magistern mit meinem Liebeskummer, dachte ich. Melamori kann tun, was sie will, sogar heiraten wie meine Exfreundinnen - Hauptsache, sie bleibt am Leben! Ob Juffin mit seiner Devise »Freundschaft ist wichtiger als Leidenschaft« Recht hat, weiß ich nicht, aber das Leben ist zweifellos erstrebenswerter als der Tod.
»Sir Schürf, gehen wir weiter«, sagte ich heiser. »Bringen Sie Chroper um, und zwar möglichst schnell.«
Lonely-Lokley erhob keinen Einspruch, und wir schoben uns weiter vor. Am Ende des Flurs erreichten wir eine Treppe und landeten in einem Kellerraum.
»Halten Sie sich hinter mir, Sir Max«, sagte Lonely-Lokley mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. »Heute ist ein ziemlich unruhiger Tag, und wir müssen mit unangenehmen Überraschungen rechnen. Dieser Chroper ist hier irgendwo.«
Lonely-Lokleys schneeweiß und lebensgefährlich strahlende Hände wirkten bizarr.
»Was machen Sie da eigentlich, Sir Schürf?«
»Wen man aufspüren will, den treibt man am besten in die Enge. Denken Sie, ich bin nur gut im Töten? Im Gegenteil! Mein Beruf verlangt eine vielseitige Ausbildung. Sehen Sie, da ist er ja. Mein Zauberspruch wirkt immer, jedenfalls bei Menschen. Jetzt aber!«
Die letzten beiden Worte fielen mit einer Explosion zusammen. Ich begriff, dass Chroper Moa - der Große Magister des Ordens vom Bellenden Fisch - gerade die Welt der Lebenden verlassen hatte und in die Liste der vom Kleinen Geheimen Suchtrupp gelösten Fälle einging.
»Das war's«, sagte Lonely-Lokley und zog seine Handschuhe wieder an. »Es ist einfacher, eine Sache zu beenden, als sie zu beginnen. Haben Sie darüber schon mal nachgedacht, Sir Max?«
»Nein, aber das hole ich demnächst nach - versprochen.«
»Sir Schürf, Sie sind wie immer in Topform«, hörten wir Juffin hinter uns sagen. »Tut mir leid, dass ihr mich so lange entbehren musstet, aber ich hatte Melamori und Melifaro noch einen Vortrag über vorsichtige Ermittlungsarbeit zu halten.«
»Sir Juffin, ich hab Ihnen doch gesagt, wir sollten damit keine Zeit verplempern, um nicht das Spannendste zu versäumen«, schimpfte Lady Melamori empört. »Jetzt ist der Böse tot, und ich hab nichts davon mitgekriegt! Furchtbar!«
»Das Spannendste?«, fragte mein Chef stirnrunzelnd. »Wissen Sie, was in diesem Keller das Spannendste ist?«
»Natürlich«, rief Melifaro triumphierend. »Der Geheimgang, der von hier zur Burg Jafach führt. Der ältere Sohn von Gartoma Chatl Min war einer der bedeutendsten jüngeren Magister im Orden des Siebenzackigen Blattes, des Wohltuenden und Einzigen Ordens. Ist es das, was Sie so spannend finden, Sir Juffin?«
»Ihr seid Blitzmerker, Leute«, stellte unser Chef fast gerührt fest. »Gratuliere! Heute kann der Große Magister Nuflin endlich ruhig schlafen. Das passiert bekanntlich nicht oft. Schade, Schürf, dass Sie Chroper so übereilt getötet haben.«
»Aber Sir, Sie wissen doch, wie mit rebellischen Magistern, die schon drei Mordversuche unternommen haben, zu verfahren ist!«
»Schon gut - Sie haben ja alles richtig gemacht. Ich hätte nur gern gewusst, was dieser Verrückte mit dem Leuchtenden Siebenblatt anfangen wollte. Soweit ich weiß, gibt es nur einen, dem das Amulett nützt: dem Großen Magister Nuflin nämlich. Oder täusche ich mich da?«