Sechster Teil. 2068 – 2081



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MAI 2068



Steel Antoniadi wartete bei der Wasserfarm am Fußende von Hawila auf Max Baker, so weit stangenabwärts von Wilson und seinen Schlägern, wie es nur ging. Niemand war in der Nähe. Nichts regte sich außer dem Grünzeug, das in seinen Pampe-Tanks wuchs.

Sie schaute durch das ganze Modul nach oben. Stangenaufwärts reichte der Blick bis zu Wilsons Nest in der Kuppel. Mitten am Tag war es hell im Modul, die Bogenlampen spendeten warmes Licht; es herrschte reger Betrieb, Alte und Kinder kamen und gingen, Babys schwebten lallend durch die Luft. Ein Arbeitstrupp hatte die Ausrüstungs-Racks auf Deck sechs herausgenommen und schrubbte in einem spiralförmigen Muster die Wände ab.

All dies bildete für Steel nur den Hintergrund. Sie hielt Ausschau nach anderen Schiffern wie sie selbst, ihr Blick wanderte dorthin, wo sich die Schiffsgeborenen in ihren kleinen, von kritzeligen Graffiti-Signaturen an den Wänden markierten Territorien zusammenscharten. Für sie zeichneten sie sich vor dem langweiligen Hintergrund des Moduls ab wie Sterne am schwarzen Himmel. Hin und wieder sah man einen von ihnen wütend herabschauen; der blitzschnelle Blickkontakt war, als würde man von einem Laserstrahl getroffen. Die Art, wie sie sich zusammenscharten, enthielt Informationen, ebenso die Art ihrer Blicke und ihr Lachen. Niemand, der viel älter war als Steel, bemerkte auch nur das Geringste von all dem.

Max Baker kam herabgeschwebt. Schlank und geschmeidig, war er gut in der Luft, und er gab vor ihr damit an, hielt sich von den Führungsseilen und Haltegriffen fern und ließ sich von der Reibung der Luft abbremsen. Er war fünfzehn, sie dreiundzwanzig. Er schlug einen Purzelbaum und landete geschickt auf einem T-Hocker neben ihr. »Hab sie«, sagte er ohne Einleitung.

Sie schaute sich um. Wilson behauptete zwar, er habe die Kameras entfernt, aber jeder wusste, dass es Kameras und Spione gab. Die Wasserfarm überwachte er allerdings nicht, vor allem deshalb nicht, weil hier keine Schiffer arbeiteten, und die beobachtete er gerne, besonders die jüngeren. Trotzdem flüsterte sie: »Die Kapseln. Hast du genug?«

»Ja. Außenlager.«

Er sprach von Sprengladungen, die dazu gedacht waren, bei Notevakuierungen Luken aufzusprengen oder die Shuttles von den Modulen zu trennen.

»Versteckt?«

»Ja.« Er warf einen Blick zu Wilsons Nest in der Kuppel hinauf. »Er wird sie nicht sehen.«

»Bist du sicher, dass du das machen willst?«

Er blickte sie nachdenklich an. In seinem Gesicht zeigten sich widerstreitende Gefühle. Sie sah, dass er sich vor ihr aufzublasen versuchte. Nun, sie hatten mal eine Beziehung gehabt. Sie waren so wenige im Modul, dass jeder irgendwann mal was mit jedem gehabt hatte, auf einem Wärmespektrum von beste Freunde bis zu Mama und Papa. Für jede Abstufung von Liebe und Freundschaft gab es einen Namen, für Formen der Feindschaft sogar noch mehr. Mit Max war sie bis zu Anfass-Freunde gegangen, bevor sie beide einen Rückzieher gemacht hatten. Er war zu jung, oder sie zu alt. Ihr Techtelmechtel erinnerte sie an ihre Zeit mit Wilson, aber irgendwie umgekehrt, denn bei Max war sie die Ältere gewesen. Jedenfalls mochte sie Max, und sie respektierte ihn. Sie wollte nicht, dass er ums Leben kam, was mit hoher Wahrscheinlichkeit geschehen würde, wenn sie mit ihrem Plan weitermachten.

Aber er zuckte die Achseln. »Er hat Terese. Wilson. Er kaltfickt sie. Das ist nicht richtig.«

Steel wusste, dass selbst dieses Wort der Schiffsgeborenen, »kaltficken«, nicht angemessen war für das, was Wilson mit Max’ Zwillingsschwester tat. Er benutzte Terese nur, wie er auch sie benutzt hatte, bevor sie ihm zu alt geworden war, ihre Knochen zu lang, ihre Brüste zu groß. Max benutzte dieses Wort zum Trost; er belog sich damit selbst. Das war Max’ Motiv. Ihres ging tiefer.

Sie packte ihn am Arm. »Wir tun es und machen Schluss mit den Lügen.«

Er nickte. Wut und Angst bekriegten sich in seiner Miene. »Wann?«

»Das erfährst du noch.«


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JUNI 2068



Ein einzelner Schuss in der Nacht.

Holle setzte sich in ihrer Koje kerzengerade auf. Ihre Decke schwebte im Dunkeln um sie herum.

Ein Schuss. Ein scharfer, perkussiver Knall. Unverkennbar. In den letzten Jahren auf der Erde hatte sie genug Schüsse gehört, seit dem Chaos des Starts aber keinen mehr. Sie hatte schon immer den Verdacht gehabt, dass die vor all diesen Jahren konfiszierten Waffen der Illegalen irgendwo in einem Versteck gelandet waren. Wahrscheinlich hatte Wilson sie versteckt; er gehörte zu der Sorte Menschen, die schon damals vorausgedacht hätten.

Ein Schuss in einem Druckkörper. Sie zwang sich dazu, sich nicht zu rühren, in der Luft zu schnuppern, auf ein Knacken in ihren Ohren zu horchen, auf eine Brise zu achten – alles Anzeichen für ein Loch im Rumpf, für den Verlust der Luft, die sie und ihr Team tagein, tagaus im Rumpf zirkulieren ließen, deren Moleküle allesamt zehn Milliarden Mal durch menschliche Lungen gewandert waren, der Luft, die sie am Leben erhielt. Die Innenseite des Rumpfes war mit einer sich selbst versiegelnden Masse beschichtet und sollte ein einzelnes Kugelloch verkraften können. Aber wie wahrscheinlich war es, dass an diesem Tag nur ein einziger Schuss abgefeuert werden würde?

Dann hörte sie Rufe, eine Art Sprechchor. »Brecht – aus! Brecht – aus!«

Holle schloss einen Moment lang die Augen.

Sie hatte immer gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Sie war neunundvierzig Jahre alt, fühlte sich aber, geschwächt von der Gefangenschaft und der Schwerelosigkeit, älter und sah wahrscheinlich auch älter aus. Sie wollte nicht mit einer Revolte der Jungen konfrontiert sein, so unvermeidlich sie auch war. Vielleicht konnte sie sich einfach in ihrer Kabine einschließen, sich unter den Decken vergraben, ihrem Angel lauschen, über ihren Vater nachdenken und abwarten, bis Wilson und seine Schläger diesen Schlamassel bereinigt hatten.

Aber sie konnte sich nicht verstecken. Jemand feuerte im Innern des Moduls eine Schusswaffe ab – im Innern ihres Moduls. Das musste sofort aufhören.

Sie bewegte sich, schnappte sich Overall und Stiefel und zog sich rasch an. Sie setzte die Snoopy-Haube auf und versuchte, mit Wilson, Venus oder sonstwem Kontakt aufzunehmen. Aber sie hörte nicht einmal ein atmosphärisches Rauschen.


Es war Steel Antoniadi, die die Schusswaffe hatte.

Als Helen Gray aus ihrer Kabine kam, war es vier Uhr früh. Die großen Leuchtplatten der Bogenlampen glommen in mattem Orange; sie warfen gerade so viel Licht, dass die Wachmannschaft etwas sehen konnte.

Und Steel fuchtelte mit einer Schusswaffe herum. Steel befand sich im Schatten, aber das orangefarbene Licht glitzerte in ihren Augen und wurde vom Metallschaft der Waffe reflektiert. Der Beweis für den einen Schuss, den sie bislang abgefeuert hatte, war eine Furche in der Polsterung der Rutschstange. Es war ein unglaublicher Anblick. Die sechsundzwanzigjährige Helen hatte bisher noch nicht einmal eine Schusswaffe gesehen, außer auf Archivbildern und in HeadSpace-Simulationen. Und nun reckte Steel, eine von Helens ?ltesten Freundinnen, das h?ssliche schwarze Ding ?ber ihren Kopf, w?hrend sie sich mit der anderen Hand an einem F?hrungsseil festhielt, und intonierte rhythmisch: ?Brecht ? aus! Brecht ? aus! Es ist Zeit, Zeit, Zeit f?r uns!?

Helen hob den Blick. Am Ende der Rutschstange mit ihren aneinandergereihten, grob zusammengezimmerten Kabinen war eine Stahlwand, die den oberen Teil von Hawila abtrennte. Wilson, seine Handlanger und ihre Lustknaben residierten jetzt in den oberen vier Decks des Moduls, durch eine Barrikade aus mehreren Gitterelementschichten von ihren Untertanen getrennt. Es war dunkel dort oben, ein Konglomerat aus Schatten; nichts rührte sich, es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass einer von Wilsons Leuten herunterkommen würde, um die Lage unter Kontrolle zu bringen.

Andere Mitglieder der Crew kamen jedoch bereits herbei und versammelten sich um Steel – die Jüngeren, die Generation der Schiffsgeborenen. Der Jüngste, den Helen sah, war der fünfzehnjährige Max Baker, der Bruder von Wilsons neuester Gespielin. Steel selbst war mit ihren dreiundzwanzig Jahren wahrscheinlich die Älteste. Eine Frau, Magda Murphy, kam mit einem Baby in den Armen herbeigeschwebt, einem müden, quengeligen Kind, einem Schiffsgeborenen der zweiten Generation. Nur Steel besaß eine Schusswaffe, aber die anderen waren mit Schraubenschlüsseln, Messern und Rohren ausgerüstet. Wie Helen an ihren Tätowierungen und ihren gefärbten Haaren sah, gehörten sie zu verschiedenen Clans und Gangs, die sich für diesen klimaktischen Moment zusammengeschlossen hatten.

Steel lachte, als sie sich um sie scharten. Wenn sie den Mund öffnete, sah man ihre Zahnlücken, eine Folge der Prügel, die sie von Wilson bezogen hatte, als sie schließlich aus seinem Bett geflogen war. Steel hatte all das eindeutig geplant. Sie hatte diesen Augenblick vorbereitet, diese bunte Rebellion inszeniert und die sich bekriegenden Fraktionen vereint, ohne dass Helen, die das meiste von dem zu wissen glaubte, was im Modul vorging, auch nur das Geringste davon mitbekommen hatte.

Helen war noch verschlafen und verwirrt. Die Sache musste gestoppt werden, bevor jemand verletzt wurde – oder Schlimmeres. Sie schob sich nach vorn. »Steel!«, zischte sie. »Was, zum Teufel, machst du da?«

»Ein Ende«, sagte Steel so laut, dass alle es hören konnten. »Ich mache dieser Farce ein Ende!« Sie war wütend und außer sich; ihre Handbewegungen waren unbeherrscht.

Helen dachte daran, sie am Arm zu packen, schaute dann auf die Schusswaffe und überlegte es sich anders. »Was für eine Farce?«

»Wir vergeuden unser Leben in diesem Tank, unser ganzes Leben. Was immer diese Mission ist, wozu auch immer sie gut sein soll, wir sind bloß Gefangene.« Sie deutete auf die Frau mit dem Baby. »Jetzt kriegen wir selber Kinder, noch mehr Babys, die in diesen Käfig hineingeboren werden. Wollen wir, dass unserer Kinder dieselbe ›Ausbildung‹ genießen wie wir? Wollen wir, dass sie dafür bestraft werden, dass sie klug sind?«

Zustimmendes Gemurmel war zu hören, und einige Mitglieder der Crew hoben ihre Waffen.

Helen verstand ihre Verbitterung. Sie gehörte selbst zu dieser mittleren Generation, einer Generation, für die sich das Schiff als Gefängnis erwies. Sie würde fast vierzig sein, wenn – falls – das Schiff zur Erde III gelangte: alt! Die Hälfte ihres Lebens verbraucht, ihre Jugend dahin. Aber ihr war auch klar, dass ihnen jetzt, wo sie unterwegs waren, nichts anderes übrig blieb, als weiterzufliegen. Das war die brutale Wahrheit.

Jetzt packte sie Steel doch am Arm. »Steel, um Gottes willen, du bringst uns noch alle um! Wir sind in einem Raumschiff, siebzig Lichtjahre von der Erde entfernt. Es ist nicht groß genug für eine Revolution!«

Steel schüttelte sie ab. »Ihr habt die Lügen geschluckt«, sagte sie kalt. »Du und diese anderen Dummköpfe, die Venus Jenning erlaubt haben, ihnen lauter Müll einzutrichtern. Geh doch zurück in deine Kuppel, zu deinen Teleskopen und deinem Unterricht, du bist eine Verräterin an deinesgleichen …«

»Was für Lügen? Du meinst doch wohl nicht den Unsinn, den Zane daherredet.«

»Unsinn, ja? Du hältst dich doch für eine Wissenschaftlerin, oder? Was ist wahrscheinlicher, dass wir uns in einem Raumschiff befinden, das zu den Sternen hinausgeschleudert wurde, oder dass wir in einem HeadSpace-Tank in Denver, Alma oder Gunnison sind?« Sie wedelte mit der Hand. »Sie sind da draußen, stehen hinter Glaswänden und machen sich Notizen, beobachten uns auf dieselbe Weise, wie wir die Pflanzen in den Pampe-Tanks beobachten – sie schauen auf unser nutzloses Leben und lachen über uns. Und wenn unsere Kinder größer werden, picken sich Wilsons Leute die hübschesten und intelligentesten heraus und bringen sie nach oben, in seinen Palast aus Scheiße. Wollen wir uns dem beugen? Wollen wir das?«

Genau darum ging es bei alledem, vermutete Helen, ob es Steel nun bewusst war oder nicht. Steel wollte sich an Wilson dafür rächen, wie er sie behandelt hatte.

Aber was immer Steels wahres Motiv sein mochte, sie traf einen bloßliegenden Nerv. Der raue Sprechchor setzte wieder ein: »Brecht – aus. Brecht – aus.« Die Leute waren erregt und wütend, sie schrien und schüttelten ihre stumpfen Werkzeuge und Rohre. Helen wich zurück. Furcht krallte sich in ihre Eingeweide. Und als Steel den Mob mit einer Bewegung der Schusswaffe aufforderte, ihr zu folgen, setzte er sich in Bewegung, nach oben, zur Br?cke.

Helen schaute sich um. Sie glaubte, ihre Mutter am anderen Ende des Moduls zu sehen, bei den Hydrokultur-Beeten unten. Sie drehte sich in der Luft und stieß sich dorthin ab.

Mit einem hörbaren Summen erstrahlten die großen Bogenlampen in voller Helligkeit, und das Modul wurde von ihrem grellen Lichtschein durchflutet.


Auf der Brücke, wie Wilson es nannte, hatte Theo Morell den großen Notgriff heruntergezogen, der die Bogenlampen auf volle Leistung schaltete. Er hielt sich an der Rutschstange fest, schwebte zum Boden hinunter, räumte Decken und Teppiche beiseite und versuchte, durch die Schutzschichten der Gitterelemente hindurch zu erkennen, was dort unten vorging.

Diese »Brücke« in der Nase des Moduls war wie ein großer, überkuppelter Raum. Ihre Wände waren mit Decken und Teppichen behängt, von der Crew in Handarbeit aus Resten abgetragener Uniformen angefertigt. Wilson und die Angehörigen seines engeren Teams besaßen ihre eigenen privaten Unterkabinen, die am Boden und an Wandhalterungen festgezurrt waren. Venus hatte einmal gesagt, hier sehe es aus wie in Dschingis Khans Jurte. Auf einem an der Rutschstange befestigten Bord standen und lagen die Überreste des Festmahls am Abend zuvor, klebrige Teller mit den Resten eines Pilzrisottos, eine leere Flasche Reiswein. Achtlos irgendwohin gelegte Kleidungsstücke trieben in der Luft, die Tür der Privattoilette stand offen, und ein übler Gestank hing um sie herum. Normalerweise wäre die Schweinerei von Dienern aufgeräumt worden, einem Arbeitstrupp der Crew, der durch die Luken im Boden nach oben kam, bevor Wilson aufwachte und seinen Tag begann. Aber ? Theo schaute auf seine Armbanduhr, es war erst kurz nach vier Uhr ? heute Nacht w?rde niemand mehr aufr?umen oder weiterschlafen.

Als der Geräuschpegel stieg, kamen Wilsons Männer allmählich aus ihren Kabinen. Außer Theo und Wilson selbst waren es vier weitere, alle ungefähr in Wilsons Alter – er war jetzt neunundvierzig – , allesamt Illegale. Sie waren splitterfasernackt oder trugen nur Shorts, wie Theo. Aus zwei der Kabinen hinter ihnen lugten noch andere Gesichter, klein und ängstlich, ein Junge, ein Mädchen, beide ungefähr vierzehn. Theo wusste nicht genau, wie sie hießen.

Jeb Holden stieß sich zu Theo hinüber. »Was, zum Teufel, soll das, kleiner Soldat? Warum hast du das verdammte Licht eingeschaltet? «

»Hast du den Schuss nicht gehört, du Arschloch?«

»Was für ’nen Schuss?«

Theo hörte dumpfes Stimmengemurmel, diesen fernen Sprechchor. »Brecht – aus – brecht – aus …« Jetzt nicht mehr so fern. Er spähte durch die Gitterelemente nach unten und erblickte eine Gruppe, die an der Rutschstange um die lose daranhängenden Kabinen herum zu der Barrikade heraufgeklettert kam. Steel Antoniadi führte sie an. Einige von ihnen waren bloß Kinder. An Steels Seite war Max Baker. Theo wusste, dass Max’ Zwillingsschwester gerade in Wilsons Bett lag.

»Brecht – aus – brecht – aus …«

»Was soll der Scheiß?«, blaffte Jeb.

»Sind bloß Kinder«, sagte Theo unsicher.

»Kinder mit Waffen, verflucht nochmal. Steel hat ’ne Knarre.« Jeb legte sich flach auf den Boden und brüllte durchs Gitter. Sein Speichel sprühte gegen das Metall. »Steel, du verdammte Nutte! Du machst das alles doch blo?, weil Wilson dich an das Schwein weitergereicht hat, stimmt?s? Steel, du abgewarzte Schlampe, leg die Schei?-Knarre weg, aber sofort!? Jeb, ein Nachkomme von Bewohnern Iowas, war auf einem Flo? zur Welt gekommen, hatte sich jedoch mit vierzehn Jahren auf trockenes Land durchgek?mpft und einer lokalen Miliz angeschlossen, um diejenigen zur?ckzutreiben, die ihm gefolgt sein mochten. Dann hatte ihn das Schicksal zur rechten Zeit an den richtigen Ort gef?hrt, und es war ihm gelungen, einen Platz auf der Arche zu okkupieren, als sie von Gunnison startete.

Steel und die anderen waren jetzt nur noch ein paar Meter unterhalb des Bodens. Sie zielte mir ihrer Waffe auf die Trennwand. »Das Spiel ist aus, Jeb, du Scheißkerl. Macht den Boden auf, oder ihr könnt was erleben.«

»Ach wirklich?« Er lachte und spuckte auf sie, aber der größte Teil des Schleimklumpens blieb am Gitter hängen. An der Art, wie er sich an der Trennwand festhielt, die Finger in die Löcher gekrallt, sah Theo, wie viel Angst er hatte. »Nutte! Scheiß-Nutte.« Er stieß sich von der Trennwand ab und schaute sich um. Die anderen, darunter Dan Xavi, den die Lustknaben »das Schwein« nannten, stiegen gerade in ihre Hosen. »Wo ist Wilson?«

»Schon da.« Wilson kam aus seiner Kabine geschwebt. Theo starrte ihn erstaunt an. Wilson trug bereits die kühlende Innenschicht eines Druckanzugs und zog sich gerade die schweren Außenschichten über. Hinter ihm war Terese Baker, fünfzehn Jahre alt, mager, in eine Decke gehüllt, und schaute sich mit großen Augen um. »Scheiße«, sagte Wilson, »ich passe nicht mehr in diesen Anzug. Ich bin ein fetter Sack.« Er lachte.

Jeb fiel das Kinn herunter. »Wo willst du hin, Boss?«

»Zur Raumfähre. Bis sich der Sturm gelegt hat. Ist am besten so – den Brennpunkt entfernen, das Hauptziel abziehen –, das ist euch doch klar. Ich habe diesen Tag immer kommen sehen, im Gegensatz zu euch. Ruft mich, wenn ihr die Lage unter Kontrolle habt.?

Jeb ballte die Fäuste. »Und wie, zum Teufel, sollen wir das anstellen? «

Wilson langte in seine Kabine zurück und holte einen verschlossenen Metallkasten hervor. »Fünf, sieben, vier«, bellte er. »Öffnen.« Das Schloss öffnete sich mit einem Klicken und gab den Blick auf eine Reihe von Handfeuerwaffen frei. »Die habe ich seit der Razzia unmittelbar nach dem Start aufbewahrt. Es gibt aber nicht viel Munition. Und eine Knarre fehlt. Hat wahrscheinlich Steel geklaut, dieses Miststück. Ist schlauer, als sie aussieht.« Er schob den Kasten zu Jeb hinüber; die Waffen stiegen daraus empor und trieben in der Luft, wobei sie sich langsam drehten. »Kümmere dich darum. So wenig Blutvergießen wie möglich. Denk daran, wir brauchen diese Arschgeigen, um das Schiff in Betrieb zu halten. Aber statuiere ein Exempel an Steel.« Sein Anzug war jetzt geschlossen, er hatte den Helm aufgesetzt, aber das Visier stand noch offen. Mit einer behandschuhten Hand zog er einen Teppich von der Wand. Eine Luftschleuse kam zum Vorschein. Er tippte auf ein Eingabefeld, und die Innentür der Schleuse schwang auf. Dahinter sah Theo das kahle Innere eines der beiden Shuttle-Gleiter des Moduls. Lichter flammten auf.

»Brecht – aus – brecht – aus …«

Wilson hielt an der Schleuse inne und schaute sich um. »Das war’s dann wohl.« Er warf einen raschen Blick zu Terese zurück, die ihn mit großen Augen anstarrte. »Ach, zur Hölle damit.« Er packte sie am Arm und schob sie durch die Schleuse in das Shuttle, ein Gewirr nackter Gliedmaßen. Dann folgte er ihr mit dem Kopf voran, wand sich ein bisschen, um durch die Schleuse zu kommen, bis seine gestiefelten F??e verschwanden. Die Schleusent?r schloss sich, und ein rotes Warnband leuchtete auf.

»Ich glaub’s nicht«, sagte Jeb. »Er wird ablegen! Das Arschloch hätte uns doch mitnehmen können …«

»Nur, wenn er das Modul endgültig verlassen wollte«, erwiderte Theo. »Hier.« Er klaubte Schusswaffen aus der Luft und reichte sie an Jeb und die anderen weiter. Er schob ein Munitionsmagazin in seine eigene Waffe. »Keine Ahnung, was sie vorhaben. Wahrscheinlich wollen sie uns ausräuchern.«

»Jagen wir diesem Miststück Steel eine Kugel in den Kopf.«

Theo versuchte nachzudenken. »Ja. Vielleicht schreckt das die anderen ab. Aber wir können es uns nicht leisten, im Modul wild herumzuballern. Angenommen, wir verteilen uns außen um den Fußboden herum. Wenn wir durch die Luken runtergehen, sagen wir, drei von uns gemeinsam – und nach innen auf Steel feuern …«

Ein donnerndes Krachen ertönte. Theo sah blendend helles Licht, wogenden Rauch. Der Boden öffnete sich wie eine Blume, Metallplatten flogen in den offenen Raum der Brücke. Dan Xavi wurde von einer Platte voll an der Brust erwischt und nach hinten geschleudert.

Theo hörte Schreie, wie die einer Kinderstimme, aber sie waren gedämpft. Ihm klangen die Ohren. Er war benommen; er driftete durch die Luft, außerstande, seine Beine, seinen Kopf zu bewegen.

Dann kamen sie durch die aufgebrochene Barrikade heraufgebrodelt, Steel, Max mit seinem Schraubenschlüssel und andere. Eifrige Hände packten Theo, entwanden ihm die Schusswaffe und zerrten ihn hinunter.


85



Unter den glitzernden Sternen hing Venus in ihrem warmen, sauberen, klobigen Druckanzug im Weltraum. Ihre gestiefelten Füße waren an das Mobile Servicing System geschnallt, den Manipulatorarm. Sie hatte allgemeine Wartungsarbeiten am Isoliermaterial vorgenommen, das – ausgeblichen, zernarbt und abgenutzt – immer noch den größten Teil des Moduls überzog.

Sie führte ihre Außenbordeinsätze am liebsten nur während der Nachtwache durch. Tagsüber, wenn Wilson und seine Jungs wach und aktiv waren, zahlte es sich aus, im Innern des Moduls und auf der Hut zu sein. Sie dachte manchmal, dass sie und die übrigen Älteren in Wirklichkeit nur noch die Aufgabe hatten, als Puffer zwischen Wilson und den anderen zu fungieren.

Jetzt befahl sie dem Arm, sie nach oben zu heben, weg vom Schiff. Während sie hochstieg, betrachtete sie das Sternenfeld, das nun uneingeschränkt sichtbar war und sich langsam ums Schiff drehte, und die Teleskop-Plattformen, die in der näheren Umgebung des Moduls schwebten, treue Gefährten. Selbst siebzig Lichtjahre von der Erde entfernt, siebenundzwanzig Jahre nach dem Start von Gunnison, hatten sich die Sternbilder nicht wesentlich verändert. Aber man bekam doch ein Gefühl von Bewegung, wenn man wusste, worauf man achten musste, auf diese leicht bläuliche Verfärbung der Sterne vor dem Modul, und natürlich auf diese unheimliche Scheibe der Leere, die sie unabl?ssig verfolgte. Zane bezeichnete sie gruseligerweise als ?Maul des Ouroboros?.

Sie musterte das Schiff, das unter ihr lag. Ihr Blick folgte dem gegliederten Arm von ihren Füßen bis zu dem schweren Kugelgelenk, mit dem er am Rumpf befestigt war. Sie untersuchte den hässlichen, stummeligen Tank des Moduls mit seinem Isoliermaterial, seinen Sensorplattformen und Luftschleusen, dem immer mehr verblassenden Sternenbanner auf der Flanke, den beiden verbliebenen Shuttle-Gleitern, die wie aufgespießte Nachtfalter aussahen, und der Kuppel, ihrem eigenen Reich, das in der Nähe des Fußendes wie ein Juwel leuchtete. Sie nahm gern hin und wieder einmal eine solche visuelle Inspektion vor, nur um festzustellen, ob es etwas Augenfälliges gab, was die automatischen Systeme nicht erfasst hatten. Das konnte durchaus vorkommen, besonders im Fall eines Mehrfachversagens, zum Beispiel ein Treibstoffleck genau an der Stelle, wo die Drucksensoren ausgefallen waren. Je länger die Mission dauerte und je älter die Systeme wurden – sie hatten die Konstruktionsvorgaben der Arche jetzt schon deutlich überlebt –, desto größer war die Gefahr, dass solche eigentlich wenig wahrscheinlichen Situationen doch eintraten. Venus hatte sich diese Gewohnheit während ihrer Trainingseinheiten bei Gordo Alonzo angeeignet, einem erfahrenen Astronauten. Kann ja nichts schaden, einmal drumrum zu laufen und gegen die Reifen zu treten, hatte er immer gesagt …

Sie sah so etwas wie eine Kräuselung um den Bauch einer der Raumfähren – Shuttle A, oben in der Nähe der stumpfen Nase des Moduls. In Simulationen hatte sie das oft genug gesehen. Es war ein Anzeichen dafür, dass sich Verschlüsse öffneten; sie fingen dabei das Scheinwerferlicht des Schiffes ein. Dann erbebte das Shuttle, hob mit einem Ruck ab, als hätte es Schwierigkeiten, sich von einem seit Jahrzehnten nicht mehr entriegelten Kopplungssegment zu l?sen, und entfernte sich von der Arche. Aus den kleinen Steuerd?sen spritzten Abgasw?lkchen in den Raum, Kristallf?cher, die sich im Dunkel zerstreuten.

Alles in völliger Stille.

Venus betätigte mit der Zunge schockiert den Schalter ihres Helmfunks. »Hawila, Jenning. Jemand hat gerade ein Shuttle gestartet. Wache, was ist da drin los?« Wenn das irgendeine Übung war, hätte sie davon hören müssen. Verdammt, sie war hier draußen; wenn sich das Shuttle am Manipulatorarm verfing, konnte das katastrophale Folgen haben. Aber bei was für einer Übung wäre ein reales Ablegemanöver erforderlich, eine solche Vergeudung von Treibstoff? Sie hatten schon genug durch Lecks verloren.

Keine Antwort. Sie versuchte sich zu erinnern, wer in dieser Nacht Dienst hatte. Noch beunruhigender war, dass sie nicht einmal das übliche atmosphärische Rauschen hörte. Aber es gab ein Reservesystem. Sie nahm einen Stecker von ihrem Gürtel und stöpselte ihn in eine Buchse am Manipulatorarm. Dies war ein alternativer Funkkanal, der durch die cybernetischen Steuerkreise des Arms verlief. »Hawila, Jenning. Irgendein Arschloch hat gerade Shuttle A gestartet. Ist irgendwem bei euch überhaupt bewusst, dass ich hier draußen bin? Hawila, hier ist …«

»Venus?«

»Holle? Was, zum Teufel …«

»Gott sei Dank, dass du dich meldest. Hör zu. Hier drin ist die Hölle los. Steel Antoniadi, ein paar von den jungen Leuten – die haben den Kopf verloren. Sie greifen Wilson an.«

»Scheiße.« Sie hatte immer gewusst, dass dieser Tag kommen würde; es war typisch für ihr Glück, dass sie sich außerhalb der Arche befand und nichts dagegen unternehmen konnte. ?Ich komme rein.? Sie griff nach der manuellen Armsteuerung.

»Nein. Nein, Venus – bleib da draußen. Ich glaube, wir könnten dich brauchen. Ich …«

Die Verbindung brach ab.

Venus betätigte mit der Zunge erneut den Funkschalter und fummelte an dem Stecker in seiner Buchse im Arm herum. »Holle? Holle!«


Holle nahm ihre Funkhaube ab. »Verdammt, sie haben auch die Glasfaserleitung durchtrennt. Die wissen, was sie tun.«

»Vielleicht reicht das, was du gesagt hast«, meinte Grace.

»Brecht aus, brecht aus. Helen, bist du sicher, das sie das skandiert haben?«

»Ja!«, blaffte Helen.

»Ich glaube, sie kommen aus der Nase«, sagte Grace leise und schaute nach oben.

Helen, Grace und Holle kauerten dicht beieinander auf Deck vierzehn, direkt über den Hydrokultur-Beeten. Sie befanden sich am Fußende des Moduls, so weit entfernt von der Brücke, wie es irgend ging. Als Holle nach oben schaute, sah sie die aufgesprengte Brücke, die immer noch von einer schwarzen Rauchwolke erfüllt war. Bruchstücke von Bodenelementen wirbelten durchs Modul. Einige Crewmitglieder waren noch in ihren Kabinen, die an der Stange entlang montiert waren, und schauten verwirrt heraus. Andere strömten vom Chaos in der Nase des Moduls fort, weg vom Rauch. Warnrufe ertönten; sie klangen wie Möwengeschrei, dachte sie, ein seltsames Erinnerungsfragment, das inmitten des Schocks nach oben kam. Holle fragte sich, wie viele durch den gewaltigen Lärm der Explosionen, mit denen Steel Wilsons Barrikade aufgesprengt hatte, ertaubt waren. Das Ger?usch schien immer noch von den W?nden des ramponierten Moduls widerzuhallen.

»Ich möchte wissen, woher sie den Sprengstoff haben«, murmelte sie. »Vielleicht waren es Sprengbolzen von den Andockluken, für die Abtrennung im Notfall. Aber wie haben sie die ins Modul reinbekommen, ohne dass der Alarm losgegangen ist? Und wo …«

»Da kommen sie!«, schrie Grace.

Was für ein kleiner Krieg in der Nase des Moduls auch stattgefunden haben mochte, er war offenkundig beendet. Steel und ihre Leute kamen aus dem Rauch herunter; sie hielten sich an herabbaumelnden Seilen und Haltegriffen an den Wänden fest. Sie waren alle rußgeschwärzt, ihre Kleidung zerrissen; einige von ihnen schienen verletzt zu sein. Aber die Schusswaffe in Steels Hand war deutlich sichtbar. Sie schwenkte sie triumphierend.

Und sie hatten Gefangene dabei, Männer, die sie an Armen, Beinen und Haaren gepackt hielten. Holle versuchte, sie zu zählen. Die nackten, blutbesudelten Männer sahen alle gleich aus. Dort oben hätten sechs Mann sein müssen, Wilson und seine fünf »Berater«, jene fünf Schläger, die sein engstes Umfeld bildeten. Sie zählte drei. Einer war vielleicht Theo; keiner sah wie Wilson aus. Sie leisteten keinerlei Widerstand.

Steel schien sie zu einem bestimmten Ausrüstungs-Rack auf Deck sieben oder acht zu führen. Einige Rebellen waren bereits dort, um das Rack wegzuschieben und die gekrümmte Wand dahinter freizulegen. Holle hatte den Eindruck, dass an diesem verborgenen Wandabschnitt hinter dem Rack irgendwelche Manipulationen vorgenommen worden waren. Jetzt entfernten ein paar von Steels Leuten eine Gitterabdeckung und begannen, Schrauben aus der Wandverkleidung zu drehen.

Holle verstand sofort. Sie sah, dass Helen Recht gehabt hatte, was die Pläne der Rebellen betraf. Holle hatte es nicht geglaubt. »Nein«, hauchte sie. »Hinter diesem Wandabschnitt ist kein Wassertank. Nur die Außenwand. Nein, nein …«

Einer der Gefangenen fing an, sich zu wehren und zu schreien. Vielleicht war auch ihm aufgegangen, was geschehen würde. Es mochte Dan Xavi sein, den die vergewaltigten Kinder »das Schwein« nannten. Es gelang ihm beinahe, sich zu befreien, aber dann fielen die Rebellen über ihn her, scharten sich wie Fliegen um eine Wunde. Jemand schlang Xavi den Arm um den Hals. Ein anderer bekam seinen Arm zu fassen und machte eine Art Purzelbaum, so dass der Arm verdreht wurde und mit einem scharfen Knacken brach. Fausthiebe trafen Xavi auf Mund, Nase und Augen, und seine Schreie wurden von einem blubbernden Geräusch erstickt.

»Sie drehen durch«, rief Grace. »Sie werden ihn umbringen. «

»Er ist unwichtig.« Holle beobachtete immer noch, wie die Rebellen geduldig Schrauben in der Wandverkleidung lösten. »Es ist unsere Schuld. Die meiner Generation. Wilson, du Mistkerl, du konntest dich nicht beherrschen. Und Zane, du Irrer, schau, was du angerichtet hast! Okay, okay.« Sie versuchte mit einer bewussten Anstrengung, sich zu beruhigen. Ihnen blieben vielleicht nur noch Sekunden. »Wir müssen die Leute in Sicherheit bringen. An einen luftdichten Ort.«

»Die Kuppel«, sagte Helen. »Die Shuttles …«

»Nicht Shuttle A, das ist weg. Venus hat gesagt, jemand sei damit gestartet. Wilson vielleicht. Shuttle B und die Kuppel. Schafft alle dort hinein. Jeden, der mitkommen will.« Aber die Rebellen würden nicht mitkommen, ganz egal, was sie sagte. »Und holt Zane. Vergesst Zane nicht. Los, beeilt euch!«

Grace warf Helen einen Blick zu, in dem pure Verzweiflung lag. Holle sah ein Leben voller Liebe und hilfloser Angst, konzentriert in diesem einen Gesichtsausdruck.

Dann verteilten sich die drei, katapultierten sich zu Trauben verwirrter Menschen hinüber.


Die Rebellen stießen Jeb Holden und Theo Morell zu der gekrümmten Wand hinter dem abgekoppelten Ausrüstungs-Rack. Theo sah, was sie taten: Sie entfernten Schrauben, die irgendein provisorisch dort angebrachtes Wandelement hielten. Jeb weinte unablässig. Tränen und Rotz verteilten sich in der Luft, wenn er den Kopf schüttelte. Dan Xavi war bereits tot, wie Theo sah. Blutbesudelte Rebellen schwebten um seinen verdrehten Körper herum.

Sie öffneten das Modul.

Theo versuchte sich aus dem Griff seiner Häscher zu befreien. Er konnte nicht anders. Aber sie packten ihn nur noch fester, und irgendein Scheißkerl verpasste ihm einen barfüßigen Tritt in die Rippen. Eines hatte er heute gelernt: Diese neue, in der Mikrogravitation aufgewachsene Generation verstand es weitaus besser, darin zu kämpfen, als irgendeiner von Wilsons Männern. Sie schienen instinktiv zu wissen, wie sie ihre Körper einsetzen mussten, wie sie sich in der Luft drehen, wann sie sich an etwas festhalten mussten, um sich davon abzustoßen und einen mit Fäusten zu schlagen, mit Füßen zu treten, mit Kopfstößen zu malträtieren oder anzurempeln.

Er hörte auf, sich zu wehren, und schüttelte den Kopf, um klarer denken zu können. Denk nach, Theo! Wenn du es jetzt nicht tust, wirst du morgen keine Lösung mehr finden können.

»Ihr seht, was wir getan haben«, sagte Steel. »Was wir tun werden. Heute ist es so weit, Theo Morell. Heute ist der Tag, an dem wir die L?ge entlarven. Heute ist der Tag, an dem wir aus diesem bl?den Sim-Tank ausbrechen, und dann ??

»Und dann was? Selbst wenn ihr Recht habt – was wollt ihr dann tun, Steel? Die Macht in Denver übernehmen? Ein Floß bauen? O Gott! Das ist Wahnsinn.«

In Steels Augen war ein Anflug von Zweifel. Vielleicht hatte sie es tatsächlich noch nicht so weit durchdacht, über ihre Fantasien von diesem Moment der Rebellion und der Rache hinaus. Aber sie war nicht mehr zu stoppen. »Zumindest wird das hier vorbei sein«, sagte sie. »Die Lügen, das vergeudete Leben.«

»Ich erinnere mich daran, wie Denver überschwemmt wurde.« Jeb Holden hustete und versprühte dabei Blut und Rotz. »Ich erinnere mich an Gunnison und Alma. Ich erinnere mich, wie ich mich an Bord dieses Schiffes durchgekämpft habe. Hab mir im Gesicht irgendeines beschissenen Kandidaten den Knöchel gebrochen. Ich erinnere mich an den Start, an all diese Scheiß-Bomben. Das war alles real! Könnt ihr dämlichen Blagen nicht einfach mal zuhören …«

Max Baker hieb ihm seinen schweren Schraubenschlüssel auf den Kopf und brachte ihn damit zum Schweigen. Jeb erschlaffte und trieb in der Luft.

Sie hatten die letzte Schraube gelöst. Theo sah, dass die Platte jetzt nur noch vom Luftdruck im Innern des Moduls an Ort und Stelle gehalten wurde. Seit dem Start hatten sie alle, einschließlich der Illegalen und Eindringlinge, immer wieder für Dekompressionsunfälle trainiert. Theo wusste, dass die Luft durch ein Loch von den Ausmaßen dieser Platte, ungefähr einen Quadratmeter groß, binnen Sekunden aus dem Modul entweichen würde – zwanzig Sekunden, bis der Druck auf ein Zehntel des Normalwerts gefallen war, weitere zwanzig Sekunden, um ihn noch einmal um das Zehnfache zu verringern.

Steel starrte ihm ins Gesicht. Seine Reaktion schien ihr ebenso viel zu bedeuten wie die Wirklichkeit dieses Augenblicks. »Bist du bereit, Theo Morell? Bereit, deinen Kontrolleuren gegenüberzutreten? «

Er suchte verzweifelt nach Argumenten, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen oder zumindest aufzuhalten. »Ihr habt doch gewonnen, verdammt nochmal. Ihr habt Wilson besiegt. Reicht das nicht? Wir können das Schiff wieder reparieren. Lass uns darüber reden, wie es weitergehen soll, wie wir in Zukunft zusammenleben können …«

Steel lachte nur. Max nahm eine Brechstange und schob das Ende unter die lose Platte. Er stützte sich an einer Halterung ab, bereit, sein Gewicht einzusetzen, um sie loszustemmen.

Theo sah sie an, Steel mit ihrem zerschlagenen Gesicht, den fünfzehnjährigen Max Baker, Magda Murphy, die selbst jetzt noch ihr Baby in den Armen hielt. Sie konnten alle in ein paar Sekunden tot sein. »Steel, um Gottes willen, ich schwöre dir, ich schwöre dir bei meinem Leben, bei dem meiner Mutter – niemand belügt euch. Nicht in diesem Punkt. Das Schiff ist real. Wenn ihr diese Luke öffnet, bringt ihr uns alle um.«

Steel machte Anstalten, etwas zu sagen.

Aber Max brüllte auf, übertönte jedes weitere Gespräch – ein Leben der Gefangenschaft und Frustration, wettgemacht in einem einzigen Moment –, und er stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Brechstange. Die Platte flog davon.

Die Dekompression war eine Explosion, ein betäubender Donnerschlag.

Theo sah die lose Platte wie ein Blatt herumwirbeln und durch das Loch in der Wand hinausfliegen. Er verspürte ein Reißen in den Lungen und einen gewaltigen Schmerz in den Ohren, als würden ihm Eisensplitter in den Schädel getrieben, und ihm fiel ein, dass er den Mund weit ?ffnen musste. Um ihn herum wanden sich Leute, aber der heulende Wind riss ihre Schreie mit sich.

Er schaute auf das Loch in der Wand, ein Loch in der Welt, und der Wind schob ihn darauf zu. Er sah die Sterne mit bloßem Auge. Selbst jetzt hatte er vielleicht noch eine Chance, wenn er sich festhalten konnte, bis die Luft weg war und der Wind nachließ, und wenn er einen Druckanzug fand, bevor er ohnmächtig wurde. Aber starke Hände packten ihn, drückten ihm die Arme an die Seiten und schoben ihn gewaltsam hinaus.

Er drehte sich langsam. Er sah, wie die Außenwand des Schiffes mit ihrem zernarbten Isoliermaterial und dem hell erleuchteten, quadratischen, ordentlichen Loch von ihm zurückwichen. Auf einmal war er jenseits der Wand – außerhalb des Moduls, nackt. Vor ihm fand so etwas wie ein Kampf statt, Menschen kletterten übereinander, um im Modul zu bleiben. Aber sie purzelten heraus, hinter ihm her. Theo sah ein hilfloses Kind, das im Weltraum zappelte.

Er fror. Er konnte nichts mehr sehen. Der Schmerz in seiner Brust war unerträglich, reißend, brennend. Er dachte an seine Mutter.

Etwas platzte in seinem Kopf.


Der Dekompressionswind erstarb bereits. Die dünner werdende Luft schied ihren Wasserdampf in Form eines Nebels ab, der im Licht der Bogenlampen Perlen bildete.

Holle ließ den Mund weit geöffnet. Die Gase in ihrem Bauch schwollen qualvoll an, bevor sie in einem explosiven Furz entwichen. Sie wusste, dass ihr nur noch Sekunden blieben, bis sie ohnmächtig werden würde – zehn Sekunden vielleicht, oder auch weniger angesichts des Sauerstoffverbrauchs infolge ihrer hektischen, adrenalingeschw?ngerten Aktivit?ten.

Sie schaute sich um. Sie hatte sich unter die Rebellen gemischt und noch vor dem Loch im Rumpf angefangen, sie nach unten in Richtung Luftschleuse zum Shuttle B zu stoßen. Diejenigen, die jetzt noch hier waren, trieben in der Luft, verkrampften sich und erschlafften. Reif bildete sich auf ihren Mündern und Nasen, und ihre Haut schwoll an, als das Wasser in ihrem Blut und Gewebe verdampfte. Selbst jetzt konnten sie noch gerettet werden. Aber Holle konnte nicht alle retten.

Noch eine Person.

Sie sah Magda Murphy, fern der Wände, der Haltegriffe gestrandet. Magdas Mund stand weit offen, wie sie es für einen solchen Notfall trainiert hatten. Magda versuchte, zu ihrem Baby zu gelangen – irgendwie hatte sie es losgelassen –, aber es war außerhalb ihrer Reichweite. Erstaunlicherweise war die Kleine noch am Leben, anscheinend sogar noch bei Bewusstsein. Holle sah, wie sie ihre winzigen Finger bewegte.

Holle konnte entweder Magda oder das Baby erreichen. Nicht beide. Eine Augenblicksentscheidung. Magda konnte noch mehr Kinder bekommen. Sie packte Magda, pflückte sie aus der Luft. Magda wehrte sich schwach, streckte die Hand nach dem Kind aus. Holles Sicht trübte sich. Ihre Haut kribbelte schmerzhaft. Sie zog sich mit Magda zur Shuttle-Schleuse hinunter.

So etwas würde nie wieder passieren, schwor sich Holle. Nie wieder.


86



Von ihrem Standort auf dem Manipulatorarm aus sah Venus, wie die abmontierte Wandverkleidung herausgepurzelt kam, gefolgt von Abfall, einem Sprühnebel und Körpern, die wie aufs Trockene gezogene Fische zappelten. Sie war froh, dass sie zu weit entfernt war, um zu erkennen, wer sie waren, besonders die Kinder.

All dies sah sie aus der Wärme ihres Anzugs heraus, das Summen der Ventilatoren ihres Lebenserhaltungssystems in den Ohren, umgeben von ihrem eigenen, ein wenig moschusartigen Geruch. Sie erwog, dort hinunterzutauchen, um zu helfen, sich vielleicht vom Arm zu lösen, mit Hilfe ihres Raketenrucksacks zu den sich überschlagenden Menschen zu fliegen und sie durch dieses Loch wieder ins Licht zu zwängen. Aber es würde vergebliche Liebesmüh sein. Selbst wenn sie nicht schon tot waren, gab es keine Luft mehr im Modul, keine Möglichkeit, sie rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Und sie würde sich wahrscheinlich nur selbst zum Tode verurteilen. Es war am besten, abzuwarten und dann auf dem Arm nach unten zu sinken, das Modul in ihrem Anzug zu betreten und nachzusehen, wer noch übrig war, um gerettet zu werden.

Falls überhaupt jemand. Ihr kam abrupt der Gedanke, dass niemand überlebt haben könnte, niemand außer ihr. Dass sie vielleicht bald in ein Modul zurückkrabbeln würde, das sich in ein luftleeres Grab verwandelt hatte, allein, siebzig Lichtjahre von der Erde entfernt.

Aus dem Augenwinkel heraus sah sie einen Lichtfunken. Es war das Shuttle, das seine Korrekturtriebwerke zündete. Sie verspürte eine jähe Aufwallung von Erleichterung. Natürlich war sie nicht allein, zumindest hatte jemand in der Raumfähre überlebt. Jetzt manövrierte sie bestimmt, um wieder anzudocken.

Aber dann sah sie zu ihrem Schrecken, dass die Lichtpunkte der Korrekturtriebwerke das Shuttle vom Modul wegschoben. Die Triebwerke feuerten immer wieder, und Abgasprodukte kamen in kurzen Fontänen schubweise aus ihren winzigen Düsen. Aber jeder kleine Schub ging in die falsche Richtung; das Shuttle beschleunigte vom Modul weg und zu den Sternen.

Nein, nicht zu den Sternen. Zur Warp-Blase. Und Venus verstand. Das Shuttle war sabotiert worden; jemand hatte die Steuerschaltkreise umgedreht. Man hatte es absichtsvoll sabotiert, um den oder die Insassen in die Blasenwand zu schicken.

Wer immer an Bord des Shuttles war, begriff es endlich auch. Eine neue Konstellation von Impulsen leuchtete um den Rand des Shuttles, um seine Stummelflügel herum auf. Wenn man nach unten wollte, musste man nach oben steuern … Aber es war zu spät, um den bereits aufgebauten Schwung wieder loszuwerden.

Eine Gestalt in einem Druckanzug wand sich aus einer Luftschleuse. Sobald sie das Shuttle verlassen hatte, wurde sie von einem Rückstoß aus einem SAFER-Rucksack vorwärtsgetrieben. Sie erkannte den Anzug an den Ident-Markierungen an den Beinen. Es war der von Wilson Argent.

Es dauerte lange Sekunden, bis die Warp-Gezeiten den Rumpf der Raumfähre zerknüllt hatten wie eine unsichtbare Hand, die ein Papierspielzeug zerquetschte. Als die Druckkabine nachgab, quoll die Innenluft heraus, und Wassereiskristalle blitzten auf. Ein einzelner Körper schwebte im All, nackt und zierlich, bevor er in die Warp-Barriere stürzte und zu einem blutigen Kometen wurde.


87



»Ist schon gut. Nicht mehr lange, mein Schatz, wir schaffen das schon, ist alles okay, halte einfach meine Hand …«

»O Gott, o Scheiße, warum musste das passieren warum jetzt warum heute ich kann nicht glauben dass mir das passiert …«

»Ich will Billy-Bob! Dad, ich will meinen Billy-Bob! Du hast mir nicht erlaubt, ihn holen zu gehen …«

Es gab nichts, was Holle tun konnte, bevor diese Raumfähre nicht entladen war. Sie schätzte, dass sich vierzig Personen darin drängten, hineingestopft von Helen Gray und ihr selbst, vierzig Personen in einem reduzierten Einweg-Landegleiter mit minimaler Masse, der für höchstens fünfundzwanzig Passagiere ausgelegt war. Holle konnte sich kaum bewegen; all die Menschen um sie herum drückten ihr gegen den Rücken und den Bauch, klemmten ihr die Beine ein, und sogar ihr Kopf war von Körpern und Rücken umschlossen. Es war eine Menge in drei Dimensionen, Leute, die in allen Richtungen aneinanderstießen.

Und viele dieser vierzig, zehn bis fünfzehn, waren schwer verletzt. Manche hatten stark angeschwollene Gliedmaßen, Hände, Füße, Gesichter. Ein kleiner Junge schrie immer wieder laut, er sei blind. Eine Frau wurde von heftigen, krampfhaften Hustenanfällen geschüttelt, bei denen sie Blut spuckte. Offenbar waren ihre Lungen zerrissen. Die Leute um sie herum versuchten, sie durch die Menge zu einer Wand zu schieben, damit sie die anderen nicht mehr mit ihrem Blut, Rotz und Schleim bespritzte.

Ein Bildschirm an der Steuerkonsole des Shuttles, auf dem man die Aufnahme einer Kamera in der Luftschleuse sah, zeigte Venus, eine außerirdische Gestalt in einem leuchtend weißen Raumanzug, im Innern des Moduls, umgeben von Kabinen, Verpflegungspaketen, Getränkekartons und schwebendem Spielzeug. Sie arbeitete daran, Hawila wieder bewohnbar zu machen. Zum Glück war Venus außer Gefahr gewesen. Holle machte sich innerlich eine Notiz. Von nun an würde immer jemand einen Druckanzug tragen müssen, nur ein zuschnappendes Visier von einem unabhängigen Lebenserhaltungssystem entfernt.

Bis Holle hier herauskam, konnte sie nichts anderes tun, als durchzuhalten. Sie versuchte, das Weinen und die rasselnden Atemzüge auszublenden.

»Wenn ich das Arschloch in die Finger kriege, das es für eine gute Idee hielt, eine verdammte Rumpfplatte abzumontieren, reiße ich ihm mit bloßen Händen alles raus, was von seinen Lungen noch übrig ist …«

»Ist schon gut. Er ist ohnmächtig geworden, mehr nicht. Ich hab’s gar nicht gemerkt, in dieser Menge kann er ja nicht umfallen. Er hat einfach das Bewusstsein verloren. Sobald wir hier raus sind, wird’s ihm wieder besser gehen.«

»Nein, du irrst dich. Der Mann ist tot. Jay ist tot! Schaut ihn euch an!«

»Ich sehe nichts! Dad, warum kann ich nichts sehen?«


Jemand hämmerte gegen die Luke der Raumfähre. Holle sah Venus durch die dicken Fenster; in ihrem steifen Druckanzug zerrte sie unbeholfen am Griff.

Die Luke ging auf. Holle merkte, wie es in ihren Ohren knackte. Sie verspürte eine jähe Furcht vor weiterem Luftverlust, aber der Druckabfall war nur gering. Die Leute in unmittelbarer Nähe der Luke strömten sofort mit erleichtertem Aufseufzen hinaus. Draußen drehten sie sich um und halfen Venus, die nach ihnen Kommenden herauszuziehen. Bald driftete eine Wolke von Körpern in Zweier- oder Dreiergruppen von der Luke weg.

Sobald Holle sich bewegen konnte, bahnte sie sich ihren Weg an die Spitze der Shuttle-Gruppe. Es war eine ungeheure Erleichterung, den vergleichsweise offenen Raum des Moduls zu erreichen, die Arme und Beine auszustrecken, die saubere, wenn auch ein wenig metallisch riechende Luft einzuatmen, die direkt aus den Notreservetanks kam.

Sie schaute sich um. Venus hatte sich zu der Rutschstange zurückgezogen, sich dort angeleint und legte gerade ihren Druckanzug ab. Helen Gray war an der Schleuse der Raumfähre und beaufsichtigte deren Räumung. Holle schaute durchs ganze Modul und sah an der Schleuse zur Kuppel ebenfalls einen Fächer müder, verletzter Menschen, die dort gerade ins Freie gelangten. Grace Gray überprüfte die Herauskommenden und lenkte die Verletzten sanft in eine andere Richtung.

Ein Baby schwebte vorbei. Nackt, auf die doppelte Größe aufgebläht, war es offenkundig tot. Holle erkannte es nicht, wusste nicht, ob es Magdas Baby war, das Baby, das sie nicht gerettet hatte. Eine Sekunde lang war sie wie gelähmt; Schuldbewusstsein, Zweifel und eine Art grässlicher Befangenheit legten sich wie eine schwere Last auf sie.

»Holle.«

Venus, die nur noch ihren kühlenden Innenanzug trug, beobachtete sie unverwandt. Venus, die sie von Kindesbeinen an kannte, Venus aus der Akademie. Holle stieß sich zu ihr hinüber und hielt sich an einem Haltegriff fest. ?Alles okay mit dir??

Venus lachte. »Mit mir? Ja, zum Teufel. Für mich war’s bloß ein weiterer Außenbordeinsatz. Was ist hier drin passiert?«

»Eine Rebellion der Schiffsgeborenen.«

»Sie haben den Rumpf geöffnet. Ein Wunder, dass ihr nicht alle umgekommen seid. Was war das, irgendein Selbstmordpakt? «

»Nein«, sagte Helen Gray. Sie kam von der Shuttle-Schleuse zu ihnen herüber. »Ich glaube, sie wollten sich nach draußen durcharbeiten.«

»Nach draußen durcharbeiten?«

»Raus aus der Simulation … All diese Ideen von Zane.«

»Wir haben dieses Zeug nicht ernst genug genommen«, sagte Holle. »Zane, dieser Spinner. Tja, wir sind deswegen oft genug zu Wilson gegangen, aber er hat nicht auf uns gehört. Das hat ihn das Leben gekostet.«

»Vielleicht auch nicht«, sagte Venus. »Ich habe Shuttle A gesehen. Er hat vom Modul abgelegt. Das war noch vor dem Leck im Rumpf.«

Holle schüttelte den Kopf. »Typisch Wilson. Wahrscheinlich hatte er das schon jahrelang geplant.«

Venus erzählte ihnen von ihrem Sabotageverdacht. »Das Shuttle ist im Eimer. Aber Wilson könnte überlebt haben. Ich habe gesehen, wie er – oder jedenfalls jemand in seinem Druckanzug – ausgestiegen ist. Wenn sein SAFER durchgehalten hat, ist er wahrscheinlich schon wieder bei einer der Luftschleusen.«

Aber Holle hörte nur mit halbem Ohr zu. »Du sagt, das Shuttle sei zerstört worden.« Eine ihrer beiden Raumfähren, einfach weg. Alles wegen Wilson, seiner Inkompetenz und seines feigen Egoismus.

Venus war ernst. »Wir müssen darüber nachdenken, wie wir ohne es auskommen können.«

Die Babyleiche trieb in Augenhöhe an Holle vorüber, bewegt von vereinzelten Brisen in der neuen Luft. Der Verlust einer Raumfähre spielte nicht die geringste Rolle, wenn sie den heutigen Tag nicht überstanden.

Helen berührte sie am Arm. »Holle? Ich glaube, meine Mutter ist gerade ein bisschen überfordert. Ich helfe ihr.«

Holle nickte. »Ich komme mit. Venus, kannst du dich um den Rest kümmern?«

Eine Sekunde lang hielt Venus ihren Blick fest, und Holle sah die Herausforderung in ihren Augen. Plötzlich war dies ein entscheidender Moment, der Beginn eines neuen Kapitels. Wer war Holle, dass sie hier die Befehle erteilte? Aber dann machte Venus einen unmerklichen Rückzieher. »Klar. Um welchen ›Rest‹?«

»Stell einen Arbeitstrupp zusammen. Wir müssen sicherstellen, dass die Basissysteme funktionieren. Vergewissere dich, dass die Rumpfwand in der Umgebung der geflickten Stelle unversehrt ist. Die explosive Dekompression könnte woanders Schäden angerichtet haben. Und überprüf die Lebenserhaltungssysteme. Die Hydrokultur-Beete …«

»Die müssten okay sein«, warf Helen ein. »Die Pflanzen können eine gute Stunde Vakuum aushalten. Der Druckverlust hat ja nur ein paar Minuten gedauert.«

»Gut. Überprüf sie trotzdem. Was noch?«

»Wie steht’s mit unserer Position innerhalb der Warp-Blase?«, fragte Venus. »An der Seite des Moduls hat gerade ein Lufttriebwerk gezündet. Die Navigationssysteme müssten es kompensiert haben, aber ich weiß nicht, ob die Korrekturtriebwerke angesprungen sind und uns zurückgeschoben haben.«

»Wenn ja, hab ich’s nicht gehört. Überprüf das. Wir wollen nicht in die Warp-Wand treiben.«

»Wir sollten jemanden haben, der Wilson abfängt, falls er doch zurückkommt.«

Holle zuckte die Achseln. »Fesselt ihn an einen Pfosten. Wir kümmern uns später um ihn. Venus, wenn dir noch was einfällt, erledige es einfach.«

Venus deutete auf ihren Innenanzug. »Ich hole mir nur rasch einen Overall und mache mich an die Arbeit.«

»Okay. Ach, und Venus …« Sie driftete näher an sie heran und sagte leise: »Stell einen Trupp zusammen und durchkämme das Modul. Sammelt die Toten ein. Diese schwebenden Leichen. Bringt sie vorläufig irgendwo außer Sichtweite unter, vielleicht oben auf Wilsons Brücke. Und registriert die Überlebenden. Komm, Helen. Helfen wir deiner Mutter.«


88



In der Kuppel war das Gedränge sogar noch schlimmer gewesen als im Shuttle B. Viele derjenigen, die herauskamen, hielten ihre Rippen umklammert und rangen nach Atem, und ein Paar trug einen schlaffen kleinen Jungen, trommelte verzweifelt auf seine Brust ein und machte Mund-zu-Mund-Beatmung.

Unter diesen in der Luft treibenden Überlebenden war auch Zane. Er wirkte eingeschüchtert und ängstlich. Holle verspürte eine Aufwallung von wildem Zorn. Sie fragte sich, welches seiner Alter Egos herausgekommen war, um ihm zu helfen, mit dieser Krise fertigzuwerden, zu deren Ausbruch er so viel beigetragen hatte. Und da war Jeb Holden, einer von Wilsons engsten Bundesgenossen, ein brutaler Kerl, jetzt nackt und blutverschmiert. Er entfernte sich von den anderen, offenbar auf der Suche nach einer Decke, nach irgendetwas, womit er seinen Körper bedecken konnte.

Grace, die sich an einem Handlauf festhielt, versuchte, die allem Anschein nach Unverletzten dazu zu bewegen, ihr zu helfen, während sie die anderen nach ihren Verletzungen in grobe Gruppen einteilte. Die Vorderseite ihres Overalls war mit Blut und gräulichen Fleischfetzen bespritzt. Stücke aus jemandes Lunge, vermutete Holle. Grace war einsatzfähig, sah aber durcheinander aus. Holle musste sich immer ins Gedächtnis rufen, dass Grace keine Ärztin war, obwohl sie in den sechzehn Jahren seit der Aufteilung versucht hatte, die von Mike Wetherbee hinterlassene L?cke zu f?llen.

Holle fasste Helen an der Hand, und sie schwebten zu Grace hinüber. »Hier sind wir, Grace. Sag mir, wie wir helfen können.«

Grace sah sie zerstreut an. »In der Kuppel waren um die zwanzig Leute. Zwanzig! Ich dachte, wir würden da drin alle sterben. Ich schätze, zwölf sind schwer verletzt.«

Holle nickte. »Okay. Im Shuttle B waren wir ungefähr vierzig, viele davon verletzt …«

Sie brauchte die Rechnung nicht zu Ende zu führen. Seit der Aufteilung war die Zahl der Besatzungsmitglieder, abzüglich einiger Todesfälle und zuzüglich etlicher Geburten, auf eine ungeplante Weise gestiegen, die die Sozialingenieure in Denver entsetzt hätte. Eine Gesamtsumme von ungefähr sechzig Geretteten in der Fähre und der Kuppel bedeutete, dass die Dekompression zahlreiche Todesopfer gefordert hatte. Und nach einem raschen Blick durch das Modul lautete ihre erste Schätzung, dass vielleicht ein Drittel der Überlebenden verletzt war. Ein Drittel der Crew eines halben Wracks arbeitsunfähig.

Immer eins nach dem anderen, Holle. »Was ist mit den Verletzten? «

»Ein paar Quetschungen von dem Gedränge in der Kuppel. Der Rest, was man bei Vakuumexposition erwarten würde. Fälle von Hypoxie – wir werden es vielleicht mit ein paar Gehirnschäden zu tun bekommen. Zeitweilige Blindheit durch neurologische Effekte. Ein paar haben die Dekompressionskrankheit, verursacht durch Luftblasen im Blut. Ich würde vorschlagen, die Kuppel als Hochdruckkammer zur Linderung dieser Symptome zu benutzen.«

»Tu das.«

»Die Ebullismen – durch die Verdunstung von Wasser im Gewebe verursachte Schwellungen – sollten sich in ein paar Stunden legen. Sie sehen größtenteils schlimmer aus, als sie sind. Einige innere Verletzungen durch im Gedärm eingeschlossene Gase. Beschädigte Trommelfelle. Jeder, der eine Kongestion oder einen Schnupfen hat, wird gelitten haben. Wir haben auch Verletzungen durch die Explosion bei Wilsons Trennwand. Explosionsdruckverletzungen, Verbrennungen, Knochenbrüche, Hörverluste …«

»Es muss Lungenschäden geben.«

Grace nickte. »Zwei in dieser Gruppe.«

»Ja«, sagte Helen. »Weitere in der Shuttle-Gruppe.«

Sämtliche Mitglieder der Crew – auch alle schiffsgeborenen Kinder, schon bevor sie laufen konnten – waren darauf trainiert worden, im Fall einer Dekompression den Mund weit aufzumachen. Wenn man versuchte, den Atem anzuhalten, rissen die sich ausdehnenden Gase in den Lungen das zarte Pulmonalgewebe und die Kapillarien entzwei, und dann wurde die eingeschlossene Luft aus den Lungen in den Brustkorb gedrückt, von wo sie durch gerissene Blutgefäße direkt in den Blutkreislauf gelangen konnte. Das Endergebnis waren dicke Luftblasen, die durch den Körper wanderten und im Herzen oder im Gehirn stecken blieben. Doch trotz des ganzen Trainings folgten manche Leute immer ihrem Instinkt, den Atem anzuhalten, wenn es kritisch wurde.

Grace sagte: »Wir werden eine ganze Reihe Bronchiektasen haben. Beschädigte Lungen. Man bleibt sein Leben lang anfällig für Infektionen. Ich mache mir Sorgen um unseren Antibiotika-Vorrat. «

»Da finden wir schon eine Lösung.«

»Manche hat es noch schlimmer erwischt«, sagte Grace düster. »Ich glaube nicht, dass wir etwas für sie tun können. Wahrscheinlich k?nnte nicht mal ein Arzt mit einer richtigen Ausbildung ??

»Ist schon gut«, sagte Holle. »Wir kümmern uns darum. Helen, trommle ein paar freiwillige Sanitäter zusammen. Du weißt, wen du fragen kannst.« Als Helen sich wegstieß, sagte Holle leise zu Grace: »Wir müssen ein Triage-System einrichten. Drei Prioritäten.« Sie dachte laut. »Erstens diejenigen, die sich erholen werden, aber sofortige Behandlung brauchen. Die Verbrennungen, die Dekompressionsopfer. Zweitens diejenigen, die sich bei geringer Aufmerksamkeit mit der Zeit erholen werden. Leute mit Schwellungen, dem zeitweiligen Verlust der Sehkraft, von dem du gesprochen hast.«

Grace wandte den Blick ab. »Und drittens …«

»Diejenigen, die nicht überleben werden. Die zerrissenen Lungen. Wir bringen sie irgendwo unter. Zum Teufel, wir stecken sie in das Shuttle, abseits der anderen.«

»Was erzählen wir ihnen?«

»Lügen. Helen oder einer ihrer Freiwilligen kann Lebensgefährten, Eltern oder was auch immer auftreiben.«

»Ich kann das nicht.«

»Das ist okay. Musst du auch nicht. Ich bleibe bei dir. Du gibst mir nur zu verstehen, in welche Kategorie jeder Patient gehört. Den Rest erledige ich.« Sie lauschte den Worten nach, die da aus ihrem Mund kamen. Würde sie so etwas wirklich fertigbringen? Nun, sie musste, also konnte sie es auch.

»Noch eins, Holle. Steel Antoniadi. Sie hat überlebt. Sie ist noch in der Kuppel. Jeder weiß, dass sie den Angriff der Rebellen angeführt hat. Ich hielt es für das Beste für sie, nicht auf der Bildfläche zu erscheinen.«

»Gute Idee. Ich werde mit Venus darüber reden. Mal sehen, ob wir sie irgendwo unterbringen können, wo sie in Sicherheit ist …« Jemand tippte ihr auf die Schulter. ?Holle.?

Sie drehte sich um.

Der Schlag auf den Mund war so hart, dass sie durch die Luft segelte. Jemand fing sie ab, und sie packte einen Haltegriff und schüttelte den Kopf, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können.

Es war Magda Murphy. Ihre Arme und Hände waren geschwollen ; bei diesem Schlag musste ihr die Faust höllisch wehgetan haben. Magda prallte gegen ein Ausrüstungs-Rack an der Wand, drehte sich in der Luft, stieß sich mit den gestiefelten Füßen ab und stürzte sich erneut auf Holle. Irgendwie gelang es Grace Gray, sich dazwischenzuwerfen. Sie packte Magda um die Taille, und die beiden trieben davon, abgelenkt durch Graces Schwung.

Magda zeigte auf Holle und schrie: »Du hast meine Kleine sterben lassen! Du hast sie sterben lassen! Du hättest bloß die Hand auszustrecken brauchen …« Sie wehrte sich, aber Grace hielt sie fest. Dann verließen Magda die Kräfte. Sie sackte zusammen und begann jämmerlich zu schluchzen. »Ich werde dir nie verzeihen, dass du mich gerettet hast und nicht sie, Groundwater. Niemals.«


89



Drei Tage nach dem Blow-out hatte sich die Lage im Modul wieder einigermaßen stabilisiert. Holle führte Grace und Venus zu der Kabine, die Wilson zugeteilt worden war, an der Rutschstange ungefähr in Höhe von Deck acht. Dort war er die ganze Zeit festgehalten worden, seit er in seinem Druckanzug aus der Luftschleuse gekommen war; zuvor hatte er Shuttle A und Terese Baker ihrer Begegnung mit der Wand der Warp-Blase überlassen.

Holle schob sich ohne Umstände hinein. Die anderen folgten ihr. Sie ließ sich in einer Ecke der Kabine nieder und wartete, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit angepasst hatten.

Wilson starrte die Frauen nur an, als sie hereinkamen. Er trug ein schmutziges, häufig benutztes T-Shirt und Shorts. Er schwebte in der unordentlichen Kabine, umgeben von einem ausgerollten Schlafsack, einem Rückenschwamm und einem Verpflegungspaket. Die muskulösen Beine an die Brust gezogen, hielt er mit den großen Händen die nackten Füße umklammert. Das T-Shirt war mit einem fast völlig ausgeblichenen Slogan bedruckt, ein Relikt von der Erde, sogar noch aus der Zeit vor der Flut. Seltsamerweise wünschte sich Holle, sie könnte ihn lesen, könnte etwas über eine lange zurückliegende Sportveranstaltung oder Tour einer Rockband erfahren.

Nichts deutete daraufhin, dass Wilson hier drin irgendetwas getan hatte. Es gab weder einen Handheld noch Bücher. Nicht einmal eine Lampe brannte. Das einzige Licht stammte von den gro?en Bogenlampen des Moduls; es sickerte durch Ritzen in den W?nden ein. Seine Haut sah ?lig aus, und er roch nach abgestandenem Schwei?. Sie fragte sich, wann er sich zum letzten Mal in einer der wieder funktionsf?hig gemachten Mikrogravitations-Duschen gewaschen hatte. Aber er sah gesund aus. Er war der einzige ?berlebende au?er Venus, dem die Dekompression erspart geblieben war.

Wilson und Venus waren Holles Kollegen aus ihrer längst vergangenen Kandidatenzeit. Jetzt waren sie alle fast fünfzig, mit schweren Körpern, harten Gesichtern und ergrauendem Haar, die Haut voller Falten, seelisch abgestumpft vom ermüdenden Horror eines zur Hälfte an Bord dieser Arche verbrachten Lebens. Sie hätte sich nie vorstellen können, dass sie einmal so enden würden. Aber Wilson wirkte am gefasstesten und selbstbewusstesten. Er grinste Holle sogar an.

Grace Gray sah aus, als wäre es ihr ausgesprochen unangenehm, hier zu sein.


»Fangen wir einfach an«, sagte Holle. »Niemand kann uns belauschen, dieses Gespräch wird nicht aufgezeichnet. Was wir heute sagen, bleibt unter uns vieren. Niemand sonst erfährt etwas davon.«

»Und was ist so Besonderes an ›uns vieren‹?«, blaffte Wilson.

»Wir sind die Leute auf dem Schiff, die Macht haben. Venus mit ihrer Planetensuche und ihren Navigationssystemen. Grace, die Ärztin …«

Wilson fiel ihr erneut ins Wort. »Und du, Holle? Du bist die Klempnerkönigin, stimmt’s? Und ich? Welche Macht habe ich in eurer neuen Welt?«

»Du bist unser einziger Spezialist für die Außensysteme des Moduls. Du bist auch der einzige auf der Erde ausgebildete Shuttle-Pilot, der noch an Bord ist. Du bist also wertvoll, Wilson. «

»Und das ist der Grund, weshalb ich nicht zur Luke rausgeflogen bin, ja?«

»Wir haben nicht über Sanktionen gegen dich gesprochen, Wilson«, sagte Venus leise. »Noch nicht …«

Holle setzte sich über sie hinweg. »Ja. Das ist der einzige Grund, weshalb du noch lebst, Wilson.«

Wilson sah die zornglimmende Venus, die zunehmend in sich gekehrte Grace an. Dann konzentrierte er sich auf Holle, weil er spürte, dass sie die Initiatorin war. »Ich war kompetent«, sagte er kalt. »Ich habe dieses verdammte Wrack zwanzig Jahre lang regiert.«

»Aber du hast dich von der Crew abgesondert. Du hast Steels Rebellion nicht kommen sehen, und du hattest keine Gegenmaßnahmen vorbereitet, als sie ausbrach. Was für eine Kompetenz soll das sein?«

»Also, wenn das hier kein Gerichtsverfahren ist, was dann?«

»Ich glaube, es ist ein coup d’état«, sagte Venus, die Holle beobachtete.

Sie schwiegen alle und warteten darauf, dass Holle sprach. Der Augenblick war also gekommen. Holle holte Luft. Ihr Herz schlug heftig. Sie hoffte, dass keiner der drei ihr die tiefe Unsicherheit und die Selbstzweifel ansah. Aber sie kannten sie bestimmt zu gut.

Sie wusste, worauf sie sich einließ, indem sie auf diese Weise vortrat. Sie hatte gesehen, wie Don Meisel sich verhärtet hatte, als er aus der Akademie verbannt und an die Front geschickt worden war. Sie erinnerte sich daran, was sie selbst an dem Tag gesehen hatte, als sie von ihrem Vater getrennt worden war, damals, als Denver im Wasser versank und man die Akademie evakuierte. Sie erinnerte sich an die Alptr?ume, die Mel nachts aus dem Schlaf zu schrecken pflegten. Sie war mit der Flut aufgewachsen, aber stets vor dem Schlimmsten besch?tzt worden ? vor der H?rte ihrer Folgen f?r die Menschen, der Grausamkeit, der Willk?r von Leben und Tod. Jetzt waren all die Schutzschichten fort, selbst Wilsons brutale Herrschaft. Und sie war an der Reihe.

Sie rief sich jedoch ins Gedächtnis, warum sie das tat. Magdas Baby. Diese langen Minuten in der vollgestopften Raumfähre. Nie wieder, ganz egal, was es sie persönlich kosten würde.

Die anderen warteten darauf, dass sie das Wort ergriff.

»Ich übernehme die Macht«, sagte sie. »Ganz einfach. Es ist mir egal, wie ihr es nennt. Keine Wahlen, keine Prozedur, keine Handzeichen.« Sie schaute sich um. »Wer könnte es sonst tun? Du, Wilson? Die Crew würde dich fertigmachen, so wie sie Dan Xavi fertiggemacht hat. Du, Venus? Wilson hat schon einmal eine Kraftprobe mit dir für sich entschieden; du könntest ihn jetzt nicht unter Kontrolle halten.«

Venus sah sie an wie eine Fremde. »Und wenn ich mich gegen dich stelle, drehst du mir dann die Luft ab?«

»Das ist die Frage, Holle«, sagte Wilson bohrend. »Du hast die Kontrolle über die Luft und das Wasser. Diese Macht kannst du nur einsetzen, indem du der Crew diese grundlegenden Lebensnotwendigkeiten vorenthältst. Willst du das wirklich tun? Es verletzt die elementarsten Prinzipien des Schiffsgesetzes, das wir unter Kelly entwickelt haben, und des Grundrechtskatalogs, den ich ’49 unterzeichnet habe.«

»Ja, so ist es. Aber jetzt kommt es nur auf eines an, Wilson: dass wir überleben. Wir müssen noch dreizehn Jahre bis zur Erde III ?berstehen. Dreizehn! Wir k?nnen uns keine weitere Rebellion wie die von Steel leisten. Und wir k?nnen uns keinen weiteren z?gellosen Autokraten wie dich leisten, der die Ressourcen aufbraucht und die Kinder verdirbt.?

»Und darum haben wir stattdessen nun dich bekommen«, sagte Venus.

Wilson lachte erneut. »Ich muss dir gratulieren, Holle. Wie lange planst du das schon? Von Anfang an, seit dem Start? Oder hast du es sogar noch früher geplant, damals, als wir uns einen Aspekt der Archen-Konstruktion als Spezialgebiet aussuchen mussten? Vielleicht hast du schon damals die Kontrolle über das Lebenserhaltungssystem als deinen Weg zur absoluten Macht angesehen.«

»Ich plane das, seit ich in diesem verdammten Modul im Vakuum hing. Keine Sekunde länger.«

»Und du würdest die Luft abschalten, wenn es sein müsste.«

»Wenn ich damit die Mehrheit retten könnte – ja.« Sie sah sie an, einen nach dem anderen, zwang sie, ihr in die Augen zu schauen. »Wenn ihr sonst nichts mehr zu sagen habt, ist diese Diskussion damit zu Ende.«

Keiner von ihnen forderte sie heraus. Grace hatte überhaupt noch nichts gesagt.

Aber Wilson grinste weiter. »Sieh an, sieh an. Die harmlose kleine Holle. Die Maus, die brüllte. Also, was steht als Nächstes auf dem Programm?«

»Überlebensfähigkeit«, sagte Holle sofort.

Venus nickte zurückhaltend. »Sprich weiter.«

»Seit dem Unfall haben wir das Schiff und seine Grundsysteme gesichert. Jetzt brauchen wir eine Überprüfung und einen Wiederaufbau vom Bug bis zum Heck. Wir müssen alles reparieren, was bei dem Blow-out kaputtgegangen ist. Und ich m?chte weitere Sicherheitsvorkehrungen gegen Schadensm?glichkeiten ergreifen, sogar gegen ein weiteres Loch im Rumpf. Die Aufteilung hat die konstruktive Redundanz beeintr?chtigt. Wir m?ssen das Schiff robuster machen. Gibt es beispielsweise eine M?glichkeit, provisorische lecksichere Innenschotts herzustellen? Und wir brauchen einen Dienstplan von Crewmitgliedern mit geeigneter Ausr?stung, die st?ndig in den Zufluchtsorten warten, dem Shuttle und der Kuppel. Au?erdem mindestens ein Besatzungsmitglied, vielleicht auch zwei, in teilweise angelegten Druckanz?gen. Ich m?chte das Crew-Training f?r Dekompressionsf?lle und andere Schadensarten wie Br?nde und Stromausf?lle intensivieren. Wilson, du und ich, wir werden daran arbeiten ? uns eine Strategie ?berlegen.?

»Okay. Aber ich möchte dich daran erinnern, dass der Blow-out durch Sabotage verursacht wurde. Davor wird dich auch noch so viel Redundanz letztendlich nicht schützen.«

»Stimmt. Aber vielleicht die vollständige Wiederherstellung der Überwachungssysteme. Venus, ich möchte, dass du mit Grace daran arbeitest.«

Venus runzelte die Stirn. »Warum gerade wir?«

»Weil du das technische Fachwissen besitzt und Grace die einzelnen Crewmitglieder besser kennt als jeder von uns; sie ist ihre Ärztin. Ich möchte etwaige weitere Rebellen erwischen, bevor sie die Chance haben, irgendetwas zu unternehmen. Grace, wenn du seltsame Verhaltensmuster, unentschuldigtes Fernbleiben einzelner Angehöriger von Arbeitstrupps oder was auch immer feststellst, kommst du zu mir.«

Grace sah zutiefst unglücklich aus. Sie hatte seit dem Beginn ihrer Zusammenkunft noch kein Wort gesagt. Jetzt meinte sie: »Wenn ich eine richtige Ärztin wäre, würde ich sagen, das verstößt gegen die ärztliche Schweigepflicht.«

»Tja, du bist aber keine richtige Ärztin, also ist das kein Problem. Oh, und unternimm etwas wegen Zane.«

»Was denn? Soll ich ihn heilen?«

»Nein. Das ist aussichtslos. Stell das Therapieprogramm bis auf irgendeine Form der Überwachung ein. Wir brauchen Zanes Fachkenntnis. Aber halte ihn von der Crew fern, von den jüngeren Schiffsgeborenen.«

»Wie denn? Soll ich ihn in einen Käfig sperren?«

»Wenn es sein muss.«

»Und was noch?«, fragte Wilson.

»Unsere Ressourcen sind knapp. Wir haben bei dem Trauma – dem Blow-out, der Explosion, dem Feuer auf deiner Brücke – eine Menge verloren. Die Belastung war ohnehin schon hoch; durch die Aufteilung sind unsere Wiederaufbereitungs-Kreisläufe halbiert worden. Jetzt werden wir die Verlustrate deutlich reduzieren müssen. Ab sofort müssen wir eine Wiederaufbereitungsquote von hundert Prozent erreichen. Und das fängt mit der Entsorgung der Todesopfer des Blow-outs an.«

»Wir haben schon früher Tote bestattet«, sagte Wilson. »Raus mit ihnen in Richtung Warp-Blase, und bumm.« Er drückte sich flapsig aus, aber bei ihren gelegentlichen »Weltraumbestattungen« hatte er sich immer in respekteinflößender Bestform gezeigt. Mit aller Feierlichkeit wurden die Leichen aus den Luftschleusen in den Raum entlassen, während Wilson die Worte der alten Bestattungszeremonie der US Navy intonierte: »Hiermit übergeben wir den Verstorbenen der See …«

»Sicher«, sagte Holle. »Aber die Dinge haben sich geändert, Wilson. Wir haben die Leute immer aufgefordert, die Wiederverwertung ihrer Toten durch das Lebenserhaltungssystem zu erwägen.«

Wilson grinste finster. »Sie sollen ihre geliebten Angehörigen Stück für Stück in die Öfen schicken.«

»Weißt du, wie viele das bisher getan haben? Nicht mal zwanzig Prozent.«

Wilson zuckte die Achseln. »Bei dem Thema wollte ich mich nicht auf die Hinterbeine stellen.«

»Nun, jetzt müssen wir jeden Tropfen Wasser, jeden Fetzen organisches Material der Wiederverwertung zuführen, und dazu gehören auch Leichen. Wir müssen eine Variante von Wilsons Bestattungsprozedur entwickeln, um diejenigen zu ehren, die ihre Körper den Öfen übergeben. Macht allen klar, dass der größte Beitrag für die Arche darin besteht, sie für die Weiterlebenden funktionsfähig zu erhalten.«

»Wir sollten die Leute dazu bewegen, es testamentarisch zu verfügen«, schlug Venus vor. »Bevor sie sterben. Und ihren Letzten Willen im Archiv aufbewahren. Das könnte die Konflikte nach dem Tod verringern.«

»Gute Idee. Und Grace, du solltest vielleicht an einem Ausbildungsprogramm arbeiten, das dem Tabu des Konsums sterblicher Überreste entgegenwirkt.«

»Für die Schiffsgeborenen wird das nicht gar so schwierig sein«, meinte Grace. »Die sind in dem Wissen aufgewachsen, dass jeder Schluck Wasser, den sie trinken, schon x-mal durch die Blasen anderer Leute gewandert ist. Sie stellen sich da nicht so an wie die älteren Mitglieder der Crew. Wir werden das Problem sein. Ich kümmere mich drum.«

»Ihr müsst an die Verweigerer denken«, sagte Wilson. »Es gibt immer welche.«

»Sie werden keine Wahl haben«, erklärte Holle rundheraus. »Okay. Dann stellt sich die Frage, welche Strafen wir für die Aktionen verhängen wollen, die zum Blow-out geführt haben.«

»Ah.« Wilson lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Das hier ist also doch so eine Art Gerichtsverfahren.«

Holle schüttelte den Kopf. »Nein. Hör zu, Wilson, du bist unverzichtbar. Aber du wirst in diesem Schiff weiterleben müssen, und es ist nun mal verdammt klein. Ich stelle dich nicht vor Gericht, offiziell wirst du nicht bestraft. Ich werde dich nicht mal öffentlich kritisieren. Du musst selbst irgendeine Wiedergutmachung anbieten. Überleg dir, wie du dich bei den Kindern, die du verletzt hast, und ihren Angehörigen entschuldigen kannst. Das liegt allein bei dir.«

Wilson nickte. »Das ist pragmatisch.«

»Wenn wir Wilson nicht bestrafen«, sagte Grace, »wen dann?«

»Steel Antoniadi, nehme ich an«, meinte Venus.

Holle nickte. »Richtig. Für das Verbrechen einer Rebellion, die uns beinahe alle umgebracht hätte. Wir müssen an ihr ein Exempel statuieren.«

Wilson grinste erneut. »Warum sagst du’s nicht offen heraus? Du willst sie hinrichten.«

Grace lachte nervös. Aber Holle verzog keine Miene.

Venus schnappte nach Luft. »Ist das dein Ernst, Holle? Die Kleine ist von diesem Gorilla hier missbraucht worden, Zane hat ihr den Kopf mit lauter Müll angefüllt – welche Chance hatte sie denn? Die Schuld an ihrem Verbrechen liegt bei uns, bei unserer Generation.«

»Und sie hinrichten …«, sagte Grace. »In Walker City gab es Verbrechen, es gab Vergewaltigungen und Morde. Aber wir – die Bürgermeister jedenfalls – haben die Todesstrafe abgelehnt. Dazu waren wir eine zu kleine Gemeinschaft. Jeder von uns hätte dem Henker zu nahegestanden, jeder von uns wäre zum Mörder geworden. Und verglichen mit dieser Crew waren wir eine wahre Menschenmasse. Jeder von uns wird dadurch befleckt werden.?

»Gut«, meinte Holle.

»Außerdem hast du gesagt, Holle, wir könnten uns keine weiteren Verluste leisten«, setzte Venus nach. »Steel gehört zu den Intelligentesten ihres Kaders. Selbst wenn man sich die Rebellion ansieht, hat sie Weitsicht, Führungskraft, strategisches Talent und sogar eine Art militärischer Begabung an den Tag gelegt. Sie hat es fertiggebracht, all diese Teenager-Gangs zu vereinigen. Und sie war gründlich. Sie hat die Funkverbindungen unterbrochen, einschließlich des Reservesystems. Sie hat das Shuttle sabotiert. Alles unter vollständiger Geheimhaltung …«

»Ich will keine Führungskraft«, erwiderte Holle. »Nicht unter den Schiffsgeborenen. Ich will keine Weitsicht, keinen Idealismus, keine Neugier oder Initiative. Ich will keine Courage. Ich will nur Gehorsam. Mehr kann ich mir nicht leisten, bis wir unten auf der Erde III sind und der Tag kommt, an dem wir die Kuppeln öffnen und die Kinder einfach fortgehen lassen können. Ja, sie ist die Beste ihrer Generation, und deshalb ist sie eine solche Gefahr. Wir müssen den Prozess so öffentlich wie möglich durchführen. Das ist sogar der entscheidende Punkt. Aber ja, am Ende wird sie sterben. Grace, ich erwarte von dir Vorschläge, wie wir das schnell und schmerzlos erledigen können.«

Wilson blies die Wangen auf und stieß die Luft aus. »Wow! Du hast das wirklich gründlich durchdacht, was?«

Venus schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Dann sag nichts. Akzeptiere einfach mein Urteil.«

»Ich kann nicht glauben, dass wir dieses Gespräch führen. Ich kenne dich fast dein ganzes Leben lang, Holle. Jetzt errichtest du ein Regime totaler Überwachung, gestützt auf absolute Macht. Bist du das?«

Holle schaute ihr ins Gesicht. »Erinnerst du dich an all diese theoretischen Debatten, damals auf der Akademie? Über den einer Situation wie dieser innewohnenden Konflikt zwischen Menschenrechten und der Notwendigkeit, das Leben selbst aufrechtzuerhalten? Die Wahrheit ist: Ganz gleich, welches System wir ausprobiert haben, am Ende sind wir immer gescheitert. Der einzige Weg, wie wir jetzt überleben können, ist die absolute Herrschaft des Zentrums. Und das einzige Recht, das die Crewmitglieder noch haben, ist das Recht auf eine Chance, die Reise zu überleben.«

»Vielleicht hat Holle Recht«, sagte Grace leise. »Es ist nicht unsere Schuld. Niemand sollte gezwungen werden, eine solche Reise zu ertragen. Niemand sollte eine Generation von Kindern dazu verdammen, in einem Käfig aufzuwachsen.«

»Es war notwendig«, sagte Venus. »Das dachten die Missionsplaner jedenfalls.«

Und vielleicht, dachte Holle, die sich an Graces Worte klammerte, würde die Crew ihr verzeihen können.

»Tja«, sagte Grace. »Das hat … mir die Augen geöffnet. Ist das alles?«

»Momentan ja«, sagte Holle. »Machen wir uns an die Arbeit.«

Ohne ein weiteres Wort, aber offenkundig erleichtert schoss Grace durch die Luke hinaus, mit einem unbewussten Geschick, das von Jahrzehnten im freien Fall herrührte.

Wilson machte sich bereit, ihr zu folgen. »Ich muss zugeben, diese Seite an dir habe auch ich noch nie gesehen, Holle. Schade, dass sie nicht schon früher zum Vorschein gekommen ist. Wir hätten ein großartiges Team abgegeben.«

Als er fort war, zögerte Venus noch einen Moment. »Ich schätze, die anderen haben noch nichts von unserem langfristigen Problem mitgekriegt.«

»Welches Problem meinst du?«

»Den Verlust von Shuttle A. Ich habe keine Lösung dafür. Du?«

»Nein«, flüsterte Holle. »Nein, ich auch nicht.«

Venus nickte. »Na ja, ist noch ein weiter Weg bis zur Erde III. Wir haben Zeit, uns etwas zu überlegen. Was den Rest betrifft …« Sie sah Holle ein paar lange Sekunden an, als hätte sie sie noch nie gesehen. »Ach, zum Teufel damit.« Sie schwebte nach oben, hinaus aus der Kabine, hinter den anderen her.

Holle blieb allein in Wilsons Kabine zurück. Sie saß reglos da. Dann klappte sie zusammen und umschlang ihre Knie. Sie wagte es nicht zu weinen, aus Angst, dass jemand es hören könnte.


90



MAI 2078



Helen Gray brachte Zane ein Geschenk. Es war ein flüchtig in einen Bogen Isolierschaumstoff eingeschlagener Block aus gefrorenem Urin, der kunstvoll zu einer Büste geformt worden war, einem menschlichen Kopf. Die Künstlerin wollte ihn als Denkmal für die Toten verstanden wissen, zum zehnten Jahrestag von Steel Antoniadis Blow-out-Rebellion.

In seiner düsteren Kabine hob Zane den Kopf hoch und legte seine steifen, leberfleckigen Hände um dessen Wangen. Der Lichtschein der einzigen Lampe in der Kabine durchdrang das Eis, brachte die dunkelgoldene Farbe zum Leuchten und hob Blasen und Streifen anderer Flüssigkeiten im Innern hervor. »Mir gefällt es, wie sich das Licht in Pisseeis fängt«, sagte Zane trocken, »wenn man es auf die richtige Weise zur Schau stellt.«

Dies war Zane 3, entschied Helen zögernd, der überzeugte Amnestiker, der keinerlei Erinnerung an die Geschehnisse vor seiner Erweckung nach dem Aufbruch vom Jupiter besaß. Es freute sie, dass Zane 3 heute da war. Obwohl er oftmals unter Depressionen litt, und obwohl Zane seit zehn Jahren, seit seine Verschwörungstheorien mit zu dem Blow-out geführt hatten, als Paria behandelt wurde, war Zane 3 eine abgerundete Persönlichkeit mit einer einzigartigen Sicht auf sich selbst, während Jerry tüchtig, aber hohl war, ein raubeiniger, arroganter Tyrann. Holle und Grace hatten ihre Versuche, Zane zu reintegrieren, längst aufgegeben; ihnen zufolge gab es jetzt Hinweise auf weitere Alter Egos, die in seinem Kopf kreisten, abgespalten in diversen Krisen, um die Kernpers?nlichkeit von weiterem Leid zu entlasten, Alter Egos mit Namen wie Leonard, Robert und Christopher. Das einzig Interessante auf der Arche waren andere Menschen. Zane 3 mochte nicht mehr als ein Fragment eines zerfallenden Geistes sein, aber er war nach wie vor eine der interessanteren Personen auf dem Schiff.

»Ist gut gemacht«, sagte er jetzt, während er den Urinkopf in den Händen hin und her drehte. »Wenn die Züge auch übertrieben sind. Diese großen Augen, der Mund, die Nase. Sieht aus wie ein Marionettenkopf.«

»Bella hat andere Körperflüssigkeiten benutzt, um innere Strukturen zu betonen. Schau, dieser Blutfaden dort …«

»Anatomisch nicht allzu exakt.«

»Es ist fantasievoll – es soll den Geist, nicht den Körper darstellen. «

»Ja. Man sieht, welchen Gesichtsausdruck sie einzufangen versucht hat. Neugier. Zweifel vielleicht. Wie alt ist diese Bella?«

»Achtzehn.«

Bella Mayweather gehörte zu der Generation, die in der Dekade seit dem Blow-out die Volljährigkeit erlangt hatte; zum Zeitpunkt der Rebellion gerade einmal acht Jahre alt, besaß sie wahrscheinlich nur noch verschwommene, alptraumhafte Erinnerungen an die damaligen Ereignisse. Sie war unter Holle Groundwaters liebevoller, aber strenger Herrschaft aufgewachsen.

»Achtzehn Jahre.« Zane drehte den Kopf weiter hin und her. »Die Kunst der Schiffsgeborenen fasziniert mich. Ihre Kultur auch, die Sprache, die sie zu entwickeln scheinen. Wie sie sich in der Mikrogravitation wie Vögel zusammenscharen. Weißt du, auf dieser Reise ins Nichts habe ich vor allem eins gelernt: Der menschliche Geist ist unverwüstlich. Wir fliegen immer weiter, Jahrzehnt um Jahrzehnt, und jedes neue Jahr ist schlimmer als das davor, jeder nachfolgende Kader von Kindern w?chst in noch schlimmeren Bedingungen auf als der vorige. Jetzt haben wir nichts mehr, was wir ihnen geben k?nnen, nicht einmal irgendwelche Rohmaterialien f?r die Kunstproduktion. Und trotzdem schaffen sie es, sich auszudr?cken. Ihre Skulpturen aus gefrorener Pisse, ihre Gem?lde aus Blut und Schleim an den W?nden des Schiffes, diese hochkomplizierten T?towierungen, ihre unaufh?rlichen Ges?nge. Alles nat?rlich verg?nglich.?

»Ja. Auch dieser Kopf wird in ein paar Tagen in die Sammelbehälter wandern müssen. Das Bild speichern wir im Archiv, aber …«

Aber selbst Hawilas digitalem Archiv, gespeichert in strahlungsgehärteten Diamant-Chips, ging allmählich der Platz aus. Die Hälfte der Kapazität war bei der Aufteilung an Seba verlorengegangen, und der Rest war nur für die Aufzeichnungen einer Reise von höchstens einem Jahrzehnt gedacht gewesen. Da Holle neue Kapazitäten suchte, zum Beispiel für die von ihr angeordnete Wiederbelebung der HeadSpace-Zellen, war die im Archiv gespeicherte institutionelle Erinnerung »rationalisiert«, also in weiten Teilen gelöscht worden.

»Diese thematische Resonanz untermauert meine sogenannten Verschwörungstheorien«, erklärte Zane. »In unserer kleinen Welt werden auf verschiedenen Ebenen immer wieder dieselben Themen artikuliert, ein Indiz für künstliche Steuerung, für bewusste, wenn auch ungeschickte Planung. Mithin sind wir alle zusammen in diesem Modul gefangen wie rasende Gedanken in einem Schädel, so wie ich und meine Alter Egos in meinem Kopf gefangen sind. Und jetzt wird das elektronische Gedächtnis der Arche gelöscht, Megabyte für Megabyte, Bibliotheksregal für Bibliotheksregal. Wird die Arche eines Tages aufwachen, ohne zu wissen, was sie ist, so wie ich zu Beginn der Reise? Vielleicht gibt es hier niemand anderen als mich?, sagte er pl?tzlich. Er sah sie an. ?Vielleicht bist du nur ein weiteres abgespaltenes Alter Ego, das mich vor der Einsamkeit bewahren soll. Vielleicht gibt es nur mich, allein in diesem leeren Tank, w?hrend die Beobachter dabei zuschauen, wie ich St?ck f?r St?ck den Verstand verliere.?

Helen überlief es kalt. Wie so viele Visionen von Zane hatte auch diese neueste Spekulation, diese neueste bizarre Hypothese eine gewisse reale Grundlage. Obwohl Helen mit ihren sechsunddreißig Jahren zu den Ältesten der Schiffsgeborenen gehörte, besaß sie schließlich keine Erinnerung an die Erde. Intellektuell glaubte sie, dass die Sterne real waren, dass die Erde real war, dass es wirklich eine Flut gegeben hatte, die eine planetare Zivilisation ertränkt hatte, und dass es jetzt nur noch drei Jahre dauern würde, bis sie die Erde III erreichten. Aber für sie war es eine Frage des Glaubens. Und es gab Leute wie Steel Antoniadi, die ihr ganzes Leben von der Geburt bis zum Tod auf der Arche verbracht hatten, ohne jemals irgendetwas außerhalb ihrer Hülle zu erleben. Welchen Unterschied hatte es für sie gemacht, ob all das real gewesen war oder nicht?

Zanes theoretische Konstrukte ähnelten einer Horrorstory; Helen verspürte einen angenehmen Schauder. Aber seit dem Blow-out verstieß es gegen die Schiffsgesetze, Zane zuzuhören.

»Deshalb dürfen die Kinder nicht herkommen und dich besuchen, wenn du so redest.«

»Ach, die Kinder. Ich bin immer noch der schwarze Mann des Schiffes, was? Aber ich vermisse diese Sitzungen, bei denen wir uns damals unsere Träume erzählt haben.« Er warf einen Blick auf ihren Bauch, wo der Overall eine leichte Wölbung erkennen ließ. »Kriegst du auch wieder eins?«

Sie lächelte. »Wir haben’s gerade noch rechtzeitig geschafft. Holle will ein Empfängnismoratorium von hier an bis zur Erde III. Sie möchte nicht, dass wir mit Neugeborenen an Bord landen.«

»Das ergibt einen gewissen paranoiden Sinn. Ein Schwesterchen für Mario?«

»Ein Bruder.«

»Ein weiterer Sohn für Jeb. Das wird ihm gefallen.«

»Vermutlich«, sagte sie desinteressiert. Jeb Holden, ehemals einer von Wilsons Schlägern, war nicht ihre erste Wahl als Vater ihrer Kinder gewesen – und sie als Mutter auch nicht seine, wie sie wusste. Schließlich war er ungefähr in Zanes Alter, fast sechzig, viel älter als Helen. Aber Holle hatte, einer eigenen demografischen Logik folgend, alle ermutigt, fleißig Babys zu produzieren, und die zehn Jahre seit dem Blow-out hatten eine ganze Schar neuer kleiner Kinder aufwachsen sehen, die Schiffsgeborenen der zweiten Generation. Helen konnte sich schwerlich abseits halten. »Vergiss nicht«, hatte Grace mit gezwungenem Lächeln gesagt, »ich hatte auch nicht die Möglichkeit, mir deinen Vater auszusuchen. Und meine Mutter hatte ebenfalls keine Wahl, was den Mann betraf, der mich gezeugt hat.« Grace hatte ihre Tochter umarmt. »Aber dafür haben wir uns gar nicht so schlecht gemacht, stimmt’s?«

»Jeb ist in Ordnung«, erklärte Helen jetzt. »Er kommt aus gutem Hause, denke ich. Wir haben Mario nach Jebs Vater benannt, einem Farmer, der bei einem Eye-Dee-Blitzkrieg gestorben ist – so kam es, dass Jeb schließlich auf einem Floß um sein Leben kämpfen musste. Wilson hat einen schlechten Einfluss auf ihn gehabt.«

»Und wie willst du den Neuzugang nennen? Wie hieß dein Vater noch gleich – Hammond?«

Helen lächelte. »Meine Mutter will nichts davon hören. Wir denken daran, ihn Hundred zu nennen. Wenn er zur Welt kommt, werden wir nämlich gerade hundert Lichtjahre von der Erde entfernt sein.«

Er stöhnte. »Diese erfundenen Schiffernamen! Ich kann sie nicht ausstehen.«

Sie schwebte zur Tür. »Ich muss weg. Du kannst den Kopf ein paar Tage behalten. Lass ihn nicht schmelzen.«

»Oh, keine Sorge.« Zane starrte in die Augen der Skulptur, als suchte er dort Antworten.

Sie verspürte einen seltsamen Impuls, ihn zu umarmen. Aber bei Zane wusste man nie so genau, wen man umarmte. »Du wirst hoch geschätzt, weißt du.«

»Ach, wirklich?«

»Du bist immer noch die Autorität auf dem Gebiet des Warp-Generators. Wir brauchen dich.«

»Nein«, sagte er. »Komm schon. Du weißt so gut wie ich, dass unser Flug zur Erde III, was die Warp-Mechanik betrifft, vom Start an einprogrammiert war.«

»Aber wenn der Warp während des Flugs ausfiele …«

Er lachte. »Wenn das passieren würde, wären wir alle höchstwahrscheinlich auf der Stelle tot. Nein, mit meiner Nützlichkeit war es in dem Moment vorbei, als sich die Warp-Blase bei der Erde II erfolgreich aufgebaut hatte.«

»Für mich bist du nützlich, wenn man es so ausdrücken will. Ich mag die Gespräche mit dir.«

»Das ist sehr nett von dir. Aber deine Kinder wachsen heran, und wenn ihr die Erde III erreicht und das großartige Projekt in Angriff nehmt, eine neue Welt aufzubauen …« Er schien wieder zu sich zu kommen. »Mir geht’s gut. Kümmere du dich mal lieber um deinen kleinen Jungen. Na los, geh schon!«


91



»Der entscheidende Hinweis waren die Ruinen auf der Erde II«, sagte Venus leise. »Denkt darüber nach. Die erste Welt, zu der wir kommen, der erste jemals von Menschen besuchte Exoplanet, und wir finden Ruinen, Spuren einer längst vergangenen Zivilisation. Das Prinzip der Mittelmäßigkeit bestimmt, dass es so etwas wie Zufall nicht gibt; man muss davon ausgehen, dass jede Entdeckung durchschnittlich, typisch ist. Also: Wenn man eine Welt mit Ruinen findet, wird man auch weitere finden …«

Holle und Grace saßen in der Kuppel, wo Venus Hof hielt. Venus sprach leise, und die beiden folgten ihrem Beispiel. Auch nach all diesen Jahren schienen gedämpfte Stimmen irgendwie zum dämmrigen Zwielicht der Kuppel zu gehören. Und selbst jetzt geizte Venus noch mit dem Kaffee, und Holle kämpfte gegen die Versuchung an, sie um einen weiteren Becher zu bitten. Sie hockten eng beieinander, die Gesichter sanft erhellt vom Licht der Bildschirme, während die Sterne wie Laternen vor den großen Fenstern hingen. Alle drei waren sie um die sechzig oder älter, mit einem Schopf grob geschnittener grauer Haare, gefurchten Gesichtern und stämmigem steifen Körpern, ohne jede Ähnlichkeit mit den schlanken, glattgesichtigen Mädchen, die vor all diesen Jahren die Arche bestiegen hatten. Und Holle wusste, dass sie am meisten gealtert war.

Auf dem ganzen Weg vom Jupiter hierher hatten Venus und ihr langsam wechselndes Team von Astronomie- und Physikstudenten das Universum, das sie durchquerten, von einem in der gesamten Geschichte der Menschheit einzigartigen Aussichtspunkt aus studiert. Und nachdem Venus die ?ber fast vier Dekaden hinweg gesammelten Daten durchforstet hatte, war sie zu einigen Schl?ssen gelangt und hatte eine profundere Theorie des Lebens im Universum entwickelt, als es einem Astronomen auf der Erde m?glich gewesen w?re.

»Es ist bemerkenswert, das die Menschheit durch die Analyse der Daten aus den Planetensuch-Projekten genau in dem Moment Leben im Universum entdeckt hat, als ihre eigene Zivilisation wegen der Flut zerfallen ist. Was für eine Tragödie! Allerdings haben wir bloß die stummen Zeugnisse atmosphärischer Veränderungen gefunden, zum Beispiel die Injektion von Sauerstoff und Methan, beides offenbar durch Photosynthese erzeugte chemische Stoffe. Um solche Signaturen zu produzieren, ist kein intelligentes Leben nötig. Aber wir wollten in erster Linie intelligentes Leben finden.

Doch obwohl wir schon lange vor der Flut jahrzehntelang ins All gehorcht und in den Jahren seit dem Start von der Arche aus noch sorgfältigere Untersuchungen durchgeführt haben, haben wir nichts gefunden. Nichts gehört, keinen Mucks. Und wir haben nicht nur nach Radiosignalen und Signalen im sichtbaren Bereich Ausschau gehalten, möchte ich hinzufügen, sondern auch nach den Lichtern von Städten, nach Industriegasen und Indizien für exotischere Objekte, zum Beispiel nach den Infrarot-Blasen von Dyson-Sphären, nach Wurmlöchern und sogar Warp-Blasen wie unserer eigenen.

Und doch sehen wir Spuren der ehemaligen Existenz intelligenter Wesen. Das glauben wir zumindest. Selbst wenn es keine richtigen Ruinen, keine offensichtlichen Spuren gibt. Wisst ihr noch, dass die Zahl der Asteroiden im System der Erde II deutlich verringert war? Und wir haben auch noch andere Verknappungen gefunden, Anisotropien ? unterschiedliche Konzentrationen wichtiger Stoffe in verschiedenen Himmelsregionen. Selbst das Sonnensystem wies einige seltsame Defizite auf, die wir mit unseren Modellen der Planetenentstehung nicht wegerkl?ren konnten ? zum Beispiel gab es dort zu wenig Neon und Helium.?

»Und was willst du damit sagen?«, fragte Holle. »Dass jemand vorbeigekommen ist, die ganzen guten Sachen aufgebraucht hat und weitergezogen ist?«

»Genau das will ich damit sagen. Und weshalb finden wir das? Ich glaube, weil die Galaxis alt ist …«

Als die Galaxis aus einer gewaltigen, rotierenden Wolke aus Staub, Gas und Eis entstand, die in eine noch größere Tasche aus dunkler Materie eingebettet war, bildeten sich die ersten Sterne wie Reif.

»In der Urwolke gab es kaum etwas anderes als die aus dem Urknall hervorgegangenen Elemente Wasserstoff und Helium. Jene ersten Sterne, die sich zumeist auf engem Raum im Zentrum der Galaxis bildeten, waren Monster. Sie durchliefen im Eiltempo Fusions-Kettenreaktionen und explodierten zu Supernovae, wobei sie Metalle, Kohlenstoff und Sauerstoff sowie die anderen für das Leben – jedenfalls für Leben wie unseres – erforderlichen schweren Elemente ausspuckten. Die Supernovae wiederum lösten eine Sternentstehungswelle in den Regionen außerhalb des Kerns aus, und diese zweite Sternengeneration war mit den Produkten der ersten angereichert.« Sie formte mit den Händen einen Käfig, der sich langsam ausdehnte. »Es gab also eine Zone intensiver Aktivität im Zentrum der Galaxis und eine davon ausgehende, sich ausbreitende Welle von Sternbildungen, deren Stoßfront Metalle und andere schwere Elemente mit sich trug. Diese Sternengeburtswelle brach vor vielleicht fünf Milliarden Jahren ?ber die Region herein, in der sich die Sonne befindet. Die Erde entstand, und damit schlie?lich auch wir.

Aber Sol liegt weit draußen, am Arsch der Welt, und wurde erst spät geboren. Die Sternentstehungsphase in der Galaxis hatte schon Milliarden Jahre zuvor ihren Höhepunkt erreicht. Die meisten Sterne, die Planeten mit komplexem Leben tragen können, sind älter als die Sonne, im Durchschnitt zwei Milliarden Jahre älter. Das ist die halbe Lebensdauer der Erde – etwa das Vierfache der Zeit, die seit der Entstehung mehrzelligen Lebens auf der Erde verstrichen ist.«

»Und du glaubst, dass wir deshalb keine Anzeichen von intelligentem Leben sehen?«, fragte Grace.

Venus zuckte die Achseln. »Wir kommen zu spät zur Party – wie die Eindringlinge auf der Arche. Sie haben sich höchstwahrscheinlich Milliarden Jahre vor uns entwickelt. Was geschieht mit einer Zivilisation nach Jahrmilliarden? Höchstwahrscheinlich stirbt sie ab, nicht wahr? Oder sie zieht vielleicht woanders hin. Also ich würde mich auf den Weg zum galaktischen Kern machen. Da ist am meisten los, dicht gedrängte Sterne, viel Energie.« Sie warf einen Blick aus den Fenstern. »Die Energie des Sternenlichts ist hier draußen gering, nur ein Millionstel der Kraft des Sonnenlichts in der Nähe der Erde. Deshalb ist die Arche nicht mit Solarpaneelen ausgestattet. Im Kern könnte man einfach im Sternenlicht herumgondeln und all diese kostenlose Energie aufnehmen, die vom Himmel fällt. Da drin muss es wie eine Großstadt sein, heiß, überfüllt, gefährlich. Aber wie auch immer, nach einer Milliarde Jahre haben sie keinerlei Ähnlichkeit mehr mit uns, und sie sind nicht hier

»Und was bedeutet das nun für uns?«, wollte Grace wissen.

»Wir sind allein«, sagte Venus mit fester Stimme. »Wenn wir erwartet hatten, wir könnten hierherkommen und uns einer lebendigen galaktischen Zivilisation anschlie?en ? daraus wird nichts. Wir scheinen jung zu sein, in einer sehr alten Galaxis. Wir sind wie Kinder, die auf Zehenspitzen in den Ruinen einer alten Villa herumstreifen. Oder auf einem Friedhof. ?Ha, zieh du durch des Himmels R?ume fort, und k?nde laut, wohin du immer f?hrst: Dass keine G?tter walten dieser Welt.? Das ist von Seneca ? Medea

Holle sagte: »Du warst schon immer eine Angeberin, Venus.«

Venus grinste. »Verzeihung.«

»Ich frage mich manchmal, weshalb uns das so wichtig ist«, sagte Grace. »Ich meine, weshalb sehnen wir uns so danach, intelligente Wesen auf anderen Welten zu finden? Gary Boyle hat immer gesagt, unsere Einsamkeit sei die Folge unserer Evolutionsgeschichte. Unsere Vorfahren waren Hominiden, nicht mehr als eine Gattung in einer Welt voller anderer Arten von Hominiden. Es gibt viele Gattungen von Delphinen und Walen; sie sind nicht allein. Aber unsere Verwandten sind alle ausgestorben, wir haben den Konkurrenzkampf mit ihnen gewonnen. Wir haben uns nicht für eine Welt entwickelt, in der wir die einzigen intelligenten Wesen sind. Wir sind einsam, aber wir wissen nicht, warum.«

Holle überlegte. »Tja, wenn das alles zutrifft, dann dürfen wir erst recht nicht versagen. Auf der Arche, meine ich. Wenn die Erde fort ist und die Erde II ein Fehlschlag wird, sind wir vielleicht das einzige noch vorhandene Behältnis von Hochintelligenz in der Galaxis.«

»Eine ganz schöne Verantwortung«, murmelte Grace.

»Vor allem, weil wir so dumm sind wie Schifferscheiße«, sagte Venus. »Ich meine, wir halten ja nicht mal ein paar Jahre in dieser Konservendose durch, ohne aufeinander loszugehen.«

Sie schwiegen eine Weile, und Holle fragte sich erneut missmutig, ob Venus jemals auf die Idee kommen würde, ihnen einen zweiten Becher Kaffee anzubieten. Schlie?lich sagte sie: ?Wisst ihr, ich denke manchmal, wir waren furchtbar schlecht ger?stet, wir Kandidaten. Wir haben unser ganzes Leben lang f?r diese Mission trainiert, aber wir waren keine abgerundeten Pers?nlichkeiten. Wir haben zum Beispiel nie Bücher gelesen – jedenfalls keine Bücher, die wirklich von Bedeutung waren. Weißt du noch, Venus? Ich mochte historische Romane, Geschichten aus einer verschwundenen Vergangenheit. Du mochtest alte Science-Fiction über verschwundene Zukünfte. Wir haben uns nie mit der Welt um uns herum befasst, nicht einmal durch Romane.«

»Niemand hat Romane über die Flut geschrieben«, betonte Venus. »Dafür waren alle viel zu beschäftigt, verdammt nochmal. Der Punkt ist wohl eher, Holle, dass du und ich nie Kinder hatten, weder bevor noch nachdem wir die Erde verlassen haben.«

Holle zuckte die Achseln. »Stimmt. Ich denke manchmal, dass ich nie über Mel hinweggekommen bin. Und dann war da diese seltsame Geschichte mit Zane. Danach hatte ich immer das Gefühl, ich hätte zu viel zu tun.«

»Ja. Was mich betrifft, so sind meine Schüler meine Kinder.«

»Das sind Ausreden«, sagte Grace sanft. »Ihr wart Kandidatinnen. Ihr seid in dem Wissen aufgewachsen, dass es eure Pflicht sein würde, Kinder zu kriegen, eure Gene weiterzugeben. Aber ihr habt es nicht getan. Auf einer bestimmten Ebene habt ihr beide bewusst entschieden, es nicht zu tun, aus welchem Grund auch immer.«

»Vielleicht hatte ich Angst«, sagte Holle. »Angst vor einer solchen Verpflichtung.«

»Kinder zu haben und zu wissen, dass du sie nicht retten kannst.«

»So ähnlich, ja.«

»Ich wüsste gern, ob du deinen gegenwärtigen Job machen könntest, Holle«, sagte Venus kühl, »wenn eines deiner eigenen Kinder von deinen Entscheidungen betroffen wäre. Wenn es in deinem Wasserreich leben würde.«

»Ich weiß es nicht«, sagte Holle aufrichtig. »Ich denke, Kelly Kenzie hätte es gekonnt. Sie war immer die Beste von uns, stimmt’s? Mit wem war sie vor der Aufteilung noch gleich zusammen? «

»Mit Masayo Saito.«

»Ja. Sie wollte Kinder mit ihm. Vielleicht hat sie inzwischen welche. Und wenn die Aufteilung nicht gewesen wäre, hätte sie vielleicht Kinder mit Wilson gehabt. So oder so, sie wäre auch als Mutter fähig gewesen, weiterhin ihre Aufgaben zu erfüllen, denke ich.«

»Und sie hätte Wilson besser in Schach gehalten.«

»Ja. Sie hätte ihre Sache besser gemacht als jede von uns.«

»Man kann nur sein Bestes tun«, sagte Grace zu Holle. »Kelly ist nicht hier; sie ist schon lange fort. Wir können nur bis zum Schluss weitermachen …«

Ein Alarmsignal ertönte, ein leises Summen, und einer von Venus’ Monitoren blinkte rot. Sie drehte sich um und tippte auf eine Taste. »Oh, Scheiße.«

Holle beugte sich vor. »Was ist?«

»Ein Abschiedsbrief. Von Zane. Er sagt, er will kein – Moment – kein ›nutzloser Verbraucher von Ressourcen‹ sein.«

Grace schüttelte den Kopf. »Das ist Zane 3. Er hat das schon mal gemacht. Die anderen Alter Egos überwältigen ihn.«

»Der hier ist von einem Komitee unterschrieben. Jerry, Zane 2, Zane 3, jemand namens Leonard, Christopher und …«

Grace schnallte sich los und stieß sich von ihrem Sitz ab. Venus öffnete bereits die Luftschleuse.


92



Helen Gray saß auf heißem, prickelndem Sand.

Der Strand, strukturiert von Dünen und Wellenmustern im Sand, erstreckte sich so weit das Auge reichte. Vor ihr lag eine weitere halb unendliche Ebene, ein Meer, das bis zu einem messerscharfen Horizont reichte. Der Himmel war eine blaue Kuppel, und darin, direkt vor ihr, war ein Stern – nein, das Wort hieß »Sonne« –, eine Lichtscheibe, so wie die Bogenlampen im Modul. Sie wärmte ihr das Gesicht, blendete sie und ließ die Wellen glitzern. Das Kind, das vor ihr spielte, warf im Sonnenlicht einen Schatten.

Mario, vier Jahre alt, mit einem ausgeleierten alten Erwachsenen-T-Shirt bekleidet, planschte in der Brandung. Er jauchzte jedes Mal auf, wenn das Wasser über seine Zehen spülte. Er sah aus, als fühlte er sich hier ganz zu Hause. Doch wenn er am Strand entlanglief, war sein Gang unbeholfen, ein babyhaftes Scharren am Boden. In diesen Planetensimulationen musste man laufen, das war Holles Vorschrift. Auf der Erde III würden die Kinder laufen müssen; hier sollten sie lernen, wie das ging, und der HeadSpace-Anzug zwang sie dazu. Aber die Simulation konnte die Auswirkungen der Schwerkraft nicht simulieren, und darum war das ganze Erlebnis unvollständig.

Ein Stück weiter am Strand saß Max Baker mit einem anderen Kind, dem fünfjährigen Diamond, den er mit Magda Murphy gezeugt hatte. Max redete unabl?ssig mit seinem Sohn, ermutigte ihn, herumzulaufen und im Wasser zu planschen. Helen sah es gern, wenn Max so war. Es hatte ihn viel gekostet, ?ber den Verlust seiner Zwillingsschwester w?hrend des Blow-outs wegzukommen, so wie es auch Magda schwergefallen war, den Verlust ihres Babys zu verkraften. Wie Helen selbst und Jeb waren Max und Magda Eltern, wenn auch kein Liebespaar, aber sie schienen beide Trost in der Gesellschaft des anderen gefunden zu haben. Magda hatte sogar noch ein zweites Kind mit Max bekommen, ein M?dchen namens Sapphire, das jetzt ein Jahr alt war. Vielleicht konnten Diamond und Mario sp?ter miteinander spielen.

Der Detailreichtum dieser HeadSpace-Simulation war gut. Die durch simple fraktale Routinen erzeugten Wellen auf der Meeresoberfläche und der Schaum, wo sie brachen, waren durchaus überzeugend, das hatte Helens Mutter jedenfalls behauptet. Jedes einzelne Sandkorn warf einen Schatten. Sie konnte sogar den Sand unter ihren bloßen Beinen spüren, grobkörnig und scharfkantig – weitere fraktale Bearbeitung. Für ein geübtes Auge war es jedoch nicht schwer, die Beschränkungen des Virtuals zu erkennen, zum Beispiel die abgestuften Schattierungen des blauen Himmels mit ihren gradlinigen Rändern, die den Eindruck erweckten, als bestünde er aus riesigen Tafeln. Grace, die auf der Erde schon auf echten Stränden gestanden hatte, wies darauf hin, dass solche Merkmale wie Wolken am Himmel, Seetang und Quallen im Meer oder Tanghaufen auf dem Sand fehlten – wie auch Floßladungen von Eye-Dees, hatte sie trocken angemerkt, die sich auf dem Meer bis zum Horizont hinaus zusammenscharten. Die HeadSpace-Zellen waren eine bejahrte Technologie, und die für diese Simulationen verfügbare Prozessorleistung war begrenzt.

Aber die Kinder in ihren Virtual-Anzügen und ihren separaten HeadSpace-Zellen konnten unter diesem gemeinsamen virtuellen Himmel miteinander rangeln, um die Wette rennen und im Wasser planschen.

All dies war Holles Idee. Sie hatte auch Sportwettkämpfe wie Catchen und Sumo-Ringen wieder aufleben lassen, bei denen sich junge Körper in der Schwerelosigkeit miteinander messen konnten, Programme, die dazu gedacht waren, Muskelmasse und Knochenstärke aufzubauen, damit sie dem Schwerefeld der Erde III gewachsen waren. Holle wollte nicht, dass die Crewmitglieder wie Babys zu Boden purzelten, verwirrt und entsetzt von solchen elementaren Dingen wie einem offenen Himmel.

Es schien zu funktionieren. Der spielende Mario geriet nicht aus der Fassung, weil man weder die Sonne dimmen noch den Wind verstärken konnte. Aber manchmal fragte sich Helen, ob nicht etwas Einzigartiges verlorenging, während die Mission sich ihren Ende näherte, nämlich eine im Verlauf von vierzig Jahren in den dunklen Winkeln des Schiffes aus der Notwendigkeit geborene Kultur mit ihrer eigenen heimlichen Kunst und Sprache, ihrem eigenen heimlichen Stil. Man hatte den Stämmen halbnackter, kunstvoll tätowierter Kinder das Wort für »Himmel« beibringen müssen, indem man sie in eine HeadSpace-Zelle steckte und ihnen das Gemeinte zeigte. Aber die Schiffsgeborenen hatten vierzig neue Wörter für »Liebe« entwickelt.

Außerdem konnte Helen selbst die Simulationen nicht ausstehen. Sie war ebenfalls eine Schiffsgeborene, und vielleicht war es zu spät für sie, sich an die Offenheit eines Planeten anzupassen. Aber die Landung rückte drohend näher wie das Datum ihrer eigenen Hinrichtung – obwohl es eine reizvolle Herausforderung für sie darstellte, eine Raumfähre zu der neuen Welt hinunterzusteuern. W?hrend der kleine Mario die ihn zugeteilte Zeit verspielte, ertrug sie also die Offenheit, den Sonnenschein auf ihren blo?en Armen, das Fehlen des tr?stlichen Umschlossenseins von abgenutzten Metallw?nden. Und sie klammerte sich an fehlerhafte Details wie die Linien der Farbschattierungen am Himmel, die sie beruhigten, dass nichts von all dem real war und ihr kein Leid geschehen konnte.

Sie war erleichtert, als die Zeit um war und sie Mario vom Rand des Meeres zurückrufen konnte.


93



FEBRUAR 2079



Einmal, nur ein einziges Mal, fing Venus ein seltsames Signal auf, als sie im Dunkel der Kuppel schwebte. Es schien kohärent zu sein, wie der Strahl eines Mikrowellenlasers. Sie triangulierte das Signal mit Hilfe ihrer Weltraumteleskope und gelangte zu dem Schluss, dass es nicht aus der Nähe kam. Und sie ließ es durch Filter laufen, um es in ein Audiosignal umzuwandeln. Es klang kalt und klar, ein Trompetenton, weit entfernt in der galaktischen Nacht.

Falls es sich um ein Signal handelte, so war es nicht menschlich.

Sie horchte zwei Jahre lang, während der ganzen restlichen Reise zur Erde III, hörte es aber nie wieder.

Holle und den anderen erzählte sie nichts davon.


94



JULI 2081



Venus holte Thandies alte Kristallkugel ein letztes Mal hervor und montierte sie im Zentrum des Moduls an eine Strebe, die an der Rutschstange angebracht war. Holle schwebte neben ihr und hielt sich locker an der Stange fest, zwei stämmige, tüchtige Frauen in den Sechzigern, Seite an Seite.

Helen Gray hing an einer Strebe, die früher einen Decksboden getragen hatte. Sie schaute sich um, als die Besatzungsmitglieder überall im Modul ihre Plätze einnahmen. Die Leute hielten sich an Führungsseilen oder Handläufen fest, ohne ihre verschiedenen Orientierungen im Raum nach so vielen Jahren ohne Schwerkraft noch bewusst wahrzunehmen, und formten eine Schale aus Gesichtern, die alle Venus zugewandt waren. Außer den Crewmitgliedern, die gerade Wachdienst in der Kuppel oder der Raumfähre hatten, waren alle versammelt, sämtliche Pflichten waren für den Tag ausgesetzt, und man hörte das Stimmengewirr vieler Gespräche.

Helen erspähte ihre Mutter. Grace hatte heute ihren Enkel bei sich, den zweijährigen Hundred; die wirbelnde Kristallkugel schien den Jungen zu faszinieren. Und da war Jeb; der siebenjährige Mario saß auf seinen Schultern. Ganz in der Nähe war Marios bester Freund, Diamond Murphy Baker, ein Jahr älter als Mario, mit seinen Eltern, Magda und Max, und der kleinen Sapphire. Helen fiel auf, wie viele Kinder es gab, die letzten Schiffsgeborenen. Aber auch die Überlebenden der ursprünglichen Crew waren da, jene wenigen, die sich noch an die Erde erinnerten, wie Venus und Holle, von der Arbeit abgeh?rtete Mittsechzigerinnen, und Cora Robles, jetzt eine zufriedene Gro?mutter. Wilson Argent schwebte oben in der N?he der Kegelspitze des Moduls zwischen den ru?geschw?rzten W?nden seines ehemaligen Palasts. Mit ?ber sechzig Jahren war er immer noch ein gro?er, schwerer Mann, aber seine Haare waren schneewei?, und er war allein; selbst jetzt hatten die Leute meist Ehrfurcht vor ihm.

Wenn Zane nur hier wäre, dachte Helen plötzlich. Seit seinem Selbstmord vor drei Jahren hatte sie kaum noch an ihn gedacht. Trotz all seiner Probleme hatte er immer sämtliche Anforderungen erfüllt. Wenn sie es schafften, auf der Erde III die Statuen zu errichten, dann, so schwor sich Helen, würde es eine für Zane Glemp geben, mitsamt seinen Alter Egos und allem.

Venus schien jetzt so weit zu sein. Sie rief die Versammlung nicht zur Ordnung, sondern schaute einfach nur in die Runde. Sie hatte schon immer eine Art natürlicher Autorität gehabt, dachte Helen. Unter den Anwesenden kehrte rasch Ruhe ein, bis auf die schrillen Stimmen von ein paar Kindern. Venus berührte ihre Kristallkugel. Die rotierenden Bildschirme drehten sich schneller, bis sie unsichtbar wurden. Dann erschien eine leuchtende, rosa-weiße Kugel, ein erbsengroßer Stern mit einem einzelnen sichtbaren Planeten, dessen eine Seite von dem Stern beschienen wurde, während die andere im Dunkeln lag. Die großen Bogenlampen der Arche erloschen langsam.

Die Veranstaltung hatte auf einmal große Ähnlichkeit mit Venus’ Bericht über die Erde II, als Kelly Wilson den Kampf angesagt und die Aufteilung provoziert hatte. Es war so lange her, Helen war damals erst neun gewesen, und jetzt dauerte es nur noch ein Jahr bis zu ihrem vierzigsten Geburtstag, aber sie erinnerte sich genau an die dramatischen Geschehnisse. Das Modul, ein ramponiertes, halb ausgebranntes Wrack, war kaum noch wiederzuerkennen gegen?ber dem gl?nzenden, sauberen Schiff jener Zeit. Mit seinen geschw?rzten W?nden, seinen abgenutzten Ausr?stungs-Racks und von den Graffitikritzeleien der Gangs ?bers?ten Wandverkleidungen glich es jetzt eher einer H?hle. Und doch wuchsen die gr?nen Pflanzen noch immer in ihren Hydrokulturbeeten auf dem untersten Deck, und Holles summende Pumpen und Ventilatoren lie?en noch immer Luft und Wasser durch die Ebenen des Moduls zirkulieren. Wie die ausgelaugte Crew hatte auch Hawila seine Aufgabe erf?llt.

»Tja, Leute, wir sind da«, begann Venus.


Es gab einen spontanen Beifallssturm. Helen sah, wie der kleine Hundred fröhlich etwas beklatschte, was er unmöglich verstehen konnte, die Hand seiner Großmutter auf der Schulter, damit er nicht in den Raum davonschwebte.

Venus drehte sich zu ihrem Display um. »Hier ist eure neue Sonne, die M-Sonne. Diese Bilder sind aus Beobachtungen montiert, die wir von der Kuppel aus und mit den frei schwebenden Weltraumteleskopen gemacht haben.« Der Stern zoomte heran, so dass sein erbsengroßes Bild zur Größe eines Basketballs anschwoll. »Sie ist ein roter Zwerg, ein unauffälliger Angehöriger des Sternbilds Lepus, von der Erde aus mit bloßem Auge nicht sichtbar. Wir sind hundertelf Lichtjahre von der Erde entfernt, aber der Stern ist dem erdnächsten Stern überhaupt, Alpha Centauri, nicht unähnlich – obwohl er die doppelte Masse von Proxima besitzt, also ungefähr ein Fünftel einer Sonnenmasse. Und er ist klein, ungefähr ein Viertel des Durchmessers der Sonne. Er würde sogar ins Erde-Mond-System hineinpassen, wobei ein Rand die Erde, der andere den Mond streifen w?rde. Er ist ein Stern der Spektralklasse M6.? Sie zeigte auf gelbliche Lichtschlangen, die ?ber die Oberfl?che des Sterns krochen und in d?nnen Bogen nach oben stiegen. ?Wie ihr seht, ist er aktiv. Wir k?nnen mit Sonnenst?rmen rechnen ? jede Menge Polarlichter. Tats?chlich war er erheblich aktiver, als er noch j?nger war, aber jetzt ist er ziemlich ruhig. Im Gegensatz zu Sol enth?lt sein Licht beispielsweise keine signifikante ultraviolette Komponente. Er wird eine sichere und stabile Sonne sein ? und mehr als hundert Mal so lange leben wie Sol.?

»Und er ist weiß!«, brüllte jemand.

»Ja.« Venus grinste. »Sein Strahlungsmaximum liegt im Infrarot-Bereich, aber das restliche Spektrum enthält genug Licht, dass es aus der Nähe die Rezeptoren eurer Augen sättigen und weiß aussehen wird.«

»So viel zu Gordo und Krypton«, rief Wilson herunter.

»Und hier ist die Erde III.«

Die Kamera fuhr ein wenig zurück, so dass der winzige Planet wieder ins Blickfeld kam, und holte ihn dann heran. Jeder hatte bereits Gelegenheit gehabt, die neue Welt durch die Fenster der Kuppel zu betrachten, ein sich entfaltendes Panorama von Seen, Bergen und Meeren, das unter dem Modul in der Umlaufbahn hinwegzog. Nun konnten sie den Planeten jedoch zum ersten Mal im Ganzen sehen. Es gab einen weiteren Beifallssturm, aber diesmal etwas gedämpfter, fand Helen. Die Erde III sah nämlich ganz und gar nicht so aus wie die Erde.

An ihrem substellaren Punkt, dort, wo die M-Sonne direkt im Zenit stehen würde, lag ein Ozean. In größerer Ferne konnte man Kontinente erkennen, fraktale Gebilde vor dem Antlitz des Ozeans, gerunzelt von Gebirgsketten und eingekerbt von Flusstälern. Doch im Gegensatz zum Graugrün der Erdkontinente, vom Weltraum aus gesehen, war das Land hier von einem unheimlichen Schwarz. Und wenn man den Blick von diesem ozeanischen substellaren Punkt abwandte, gab es so etwas wie einen Banding-Effekt, konzentrische Kreise mit unterschiedlichen Texturen, so dass die der Sonne zugewandte Hemisph?re wie eine der Zielscheiben f?r die Mikrogravitations-Wettk?mpfe der Arche-Kinder im Bogenschie?en aussah. All dies wurde von einer dicken Atmosph?renschicht mit hoch aufget?rmten Wolken in den h?heren Breiten und einer Dunstschicht am Horizont eingeh?llt. Die im Schatten liegende Seite des Planeten, die Nachtseite, war v?llig dunkel, abgesehen von aufzuckenden Blitzen. Genau gegen?ber von jenem substellaren Punkt sah Helen den bleichen Schimmer von Eis, erhellt vom schwachen Licht der fernen Sterne.

Auf der Suche nach Wärme kreiste die Erde III so nah an ihrem Muttergestirn, dass die Massage der Gezeiten ihre Rotation schon längst stark abgebremst hatte; nun glich ihr Tag ihrem Jahr, und sie kehrte der Sonne permanent dieselbe Seite zu. Eine Seite war in ewiges Licht getaucht, die andere in niemals endende Dunkelheit, abgesehen vom Sternenlicht. Doch selbst auf der ewigen Tagseite war es so kalt, dass Berggipfel am Äquator von Gletschern geschmückt waren.

Vielleicht war der Planet bewohnbar. Er war anders als die Erde. Diese grundlegende Wahrheit wurde Helen bewusst, noch während sie zum ersten Mal diese Bilder betrachtete und Venus die neue Welt zu beschreiben begann.

»Die Erde III ist der innerste Planet ihres Systems, aber weiter draußen gibt es noch andere Planeten. Weitere Erden und Supererden. Nicht so leicht zu besiedeln wie die Erde III, aber sie sind da, für unsere Nachfahren – neue Heimatplaneten, die am Himmel auf sie warten, in ferner Zukunft.

Wir haben nach Planeten in der habitablen Zone von Sternen gesucht, also in jenem Orbitalbereich, in dem es auf der Oberfläche flüssiges Wasser geben kann, und genau das haben wir hier gefunden. Ihr seht die Meere. Da diese M-Sonne jedoch deutlich lichtschwächer ist als Sol, muss die Erde III näher an ihrem Muttergestirn sein. Sie ist nur ungefähr zehn Millionen Kilometer von ihm entfernt – weitaus weniger als der Merkur von der Sonne. Das Erde-III-Jahr ist natürlich anders. Es dauert nur fünfzehn unserer Tage. Die Sterne werden schnell über den Himmel ziehen. Aber es gibt keinen ›Tag‹ und auch keine Jahreszeiten. Vom Boden aus gesehen, steht die Sonne immer an derselben Stelle am Himmel. Und es ist kühl. Selbst am substellaren Punkt beträgt die Strahlungsenergie nur ungefähr sechzig Prozent derjenigen, die man auf der Erde von der Sonne bekäme. Auf der Nachtseite bekommt man die Sonne überhaupt nicht zu sehen.« Sie zeigte hin. »Am Punkt des tiefsten Schattens ist eine Eiskappe, wie ihr seht. Da unten wird es ganz schön kalt.

Ihr fragt euch vielleicht, weshalb die Luft auf der dunklen Seite nicht ausfriert. Aber das kann nicht passieren; die Atmosphäre ist dick, voller Treibhausgase, die aus Vulkanen stammen, eine Decke, die Wärme um die ganze Welt transportiert. Dazu kommt die innere Wärme des Planeten, die höher ist als die der Erde. Das Klima ist stabil. Es ist bloß anders.

Und die Erde III ist größer als die Erde – das ist das Grundlegendste, was man über sie sagen kann. Sie gehört zu jenen Exoplaneten, die die Planetenjäger als ›Supererden‹ bezeichnet haben. Sie besitzt ungefähr die doppelte Erdmasse und eine vielleicht um fünfundzwanzig Prozent höhere Schwerkraft. Das wird anfangs hart sein, aber ihr werdet bald die erforderlichen Muskeln aufbauen, und eure Kinder werden stämmiger werden, als ihr es seid, und es gar nicht bemerken.

Eine größere Masse ist gut, und sie ist einer der Gründe, weshalb wir diesen Planeten ausgesucht haben. Mehr Masse bedeutet mehr innere Wärme, eine dünnere Kruste, Plattentektonik, einen sich drehenden Eisenkern. Dieser Kern produziert eine gesunde Magnetosphäre, so dass man ausreichend vor Strahlung geschützt ist, und zwar sowohl vor den Ausbrüchen der M-Sonne als auch vor kosmischer Strahlung. Die Anzeichen für Plattentektonik seht ihr selbst: umfangreiche Gebirgsbildung und aktive Vulkane.« Sie zeigte zum Horizont. »Seht ihr diese Schicht aus Staub und Asche da oben? Vulkanischer Smog. Plattentektonik erhält eine Welt jung. Die gute Nachricht ist, dass diese Welt, weil sie massiver ist, ihre innere Wärme länger behalten wird als die Erde. Die Erde III wird jung bleiben, lange nachdem die Erde selbst erkaltet und zu einer größeren Kopie des Mars geworden ist.

Und es gibt hier Leben. Das wissen wir von den spektroskopischen Untersuchungen der Atmosphäre, die wir aus mehreren Lichtjahren Entfernung vorgenommen haben. In den Meeren findet Fotosynthese statt. Auf den Kontinenten seht ihr Bänder verschiedener Vegetationsarten, die sich, vom substellaren Punkt ausgehend, an die abnehmende Lichtmenge angepasst haben. Wir glauben, dass wir sogar im Zwielichtstreifen Leben gefunden haben, am Rand der Tagseite, dem Terminator. Vielleicht so etwas wie Bäume, die sich nach oben recken, damit ihre Blätter die letzten Fitzelchen Sonnenlicht einfangen. Na, das könnt ihr ja irgendwann einmal herausfinden.«

Sie schaute sich prüfend um, eine ernste, temperamentvolle Frau, die sich vergewissern wollte, dass sie verstanden, welches Geschenk sie ihnen machte. »Ihr habt also eine Sonne, die viel, viel länger bestehen bleiben wird als Sol, eine Erde, die ebenfalls jung bleiben wird, und weitere Welten, die ihr erforschen könnt. Wir h?tten keine bessere Zuflucht f?r eure Kinder, f?r die Menschheit finden k?nnen, um ihr ?berleben bis in die ferne Zukunft zu sichern.

Wir sind hier auf der Arche. Nach einer Reise von vierzig Jahren ist das da euer Ararat.« Sie trat zurück.

Aber sie erntete nur Schweigen und verständnislose Blicke. Vielleicht war die Welt, die sie ihnen gegeben hatte, einfach zu fremdartig.

Dann kam Holle nach vorn. Ihr Gesicht war hart und entschlossen, ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Niemand sagte ein Wort, niemand rührte sich, außer ein paar zappelnden Kindern. Sogar der kleine Hundred schien ihr Aufmerksamkeit zu schenken. Holles grimmige Miene ließ die Spannung steigen. Helen merkte auf einmal, dass sie keine Ahnung hatte, was Holle sagen würde.

»Danke, Venus«, begann Holle. »So viel zu den guten Nachrichten. Jetzt müssen wir über die Landung sprechen. Wir haben ein Problem.«


95



»Die meisten von euch wissen nicht einmal mehr, wie die Arche beim Start beschaffen war. Es gab zwei Module namens Seba und Hawila. Und wir hatten vier Raumfähren, die jeweils rund fünfundzwanzig Personen zum Zielplaneten hinunterbringen konnten. Wir sind von der Erde mit einer Crew von nicht ganz achtzig Personen gestartet, ein bisschen weniger als das konstruktionsbedingte Maximum. Wir dachten, der Platz in den Shuttles würde problemlos reichen, selbst wenn es unterwegs ein paar Geburten gäbe.

Aber so ist es nicht gekommen. Ihr alle wisst, was passiert ist. Vor dreißig Jahren haben wir die Erde II erreicht und uns aufgeteilt. Seba ist zur Erde zurückgeflogen und hat ein Shuttle mitgenommen. Ein weiteres Shuttle haben wir verwendet, um die Siedler, die sich entschieden hatten, auf der Erde II zu bleiben, zu dem Planeten hinunterzubringen. Blieben also zwei, die wir zur Erde III mitnehmen konnten – aber eins davon haben wir unterwegs verloren, während des Blow-outs.« Ein paar der älteren Leute schauten zu Wilson hinauf, der trotzig im oberen Bereich des Moduls hing.

»Nun sind wir also hier«, sagte Holle, »und haben nur noch eine Raumfähre. Das Shuttle ist im Grunde ein Gleiter mit fünfundzwanzig Sitzplätzen; es ist nur für einen einzigen Flug, einen einzigen Abstieg zur Oberfläche ausgerüstet. Man hat es so konstruiert, weil man Gewicht sparen wollte. Es kann nicht wieder starten und zum Modul zur?ckkehren ??

Helens Nervosität wuchs. Schon kurz nach dem Blow-out hatte sie gewusst, dass es ein Problem mit dem Fassungsvermögen der Raumfähre geben würde. Aber damals hatte die Landung noch Jahre in der Zukunft gelegen. Holle, knallhart und autokratisch, hielt immer eine Menge ihrer Entscheidungen und Überlegungen geheim. Helen hatte darauf vertraut, dass Holle schon rechtzeitig eine Lösung finden würde. Jetzt schien es, als wäre dieses Vertrauen töricht gewesen.

»Es tut mir leid«, erklärte Holle unverblümt. »Wir haben alle erdenklichen Möglichkeiten durchgespielt, wie wir auf andere Weise einen Abstieg zur Oberfläche des Planeten improvisieren könnten. Das Problem ist diese hohe Schwerkraft, die dicke Atmosphäre. Wenn ein Landefahrzeug beim Eintritt in die Atmosphäre seine orbitale Energie abgibt, tritt ein hoher Reibungswiderstand auf. Das Shuttle ist so gebaut, dass es damit fertigwerden kann; es hat einen gut konstruierten Hitzeschild. Nichts, was wir zusammenbasteln könnten, hätte auch nur annähernd dieselbe Qualität.« Sie hielt inne. Es herrschte Stille, bis auf das schläfrige Gemurmel eines Babys. »Ich möchte, dass das allen absolut klar ist. Wir haben euch hierhergebracht. Wir haben diesen ganzen weiten Weg zurückgelegt, und einige von euch werden die Erde III betreten. Aber ich kann euch nicht alle zur Oberfläche hinunterbringen.«

»Und was ist mit dem Rest?«, rief jemand.

»Ich bleibe bei euch«, sagte Holle sofort.

»Du bleibst bei uns, um mit uns zu sterben? Ist das der Deal?«

»Niemand wird sterben.« Venus zog sich vorwärts, so dass sie neben Holle schwebte. »Wir werden bloß das Schiff nicht verlassen, das ist alles. Wir werden weiterleben. Das Schiff funktioniert noch, es gibt Wasser, Luft, Strom. Und wir k?nnen weiterhin den Warp-Generator benutzen ??

»Zane ist tot.«

»Wir können die Warp-Blase auch ohne Zane aufbauen.« Holle rang sich ein Lächeln ab. »Wir können fliegen, wohin wir wollen.«

Max Baker trieb nach vorn. »Einige landen, andere bleiben hier. Fünfundzwanzig von uns gehen runter, nehme ich an. Wer, Holle? Wie wollen wir das entscheiden? Halten wir eine Wahl ab oder so?«

»Nein«, sagte Holle mit fester Stimme. »Diesen Luxus können wir uns nicht leisten. Wir müssen das richtig machen. Ich werde entscheiden – ich habe schon entschieden.«

Ein kollektives Gemurmel lief durchs Modul. Holle blieb stets bei ihren Entscheidungen und setzte sie bis ins kleinste Detail durch. Wer alt genug war, um zu verstehen, was gesagt wurde, wusste also, dass sein Schicksal bereits feststand.

Holles Miene wurde weicher. »Und du irrst dich noch in einem anderen Punkt, Max. Die Zahl ist nicht fünfundzwanzig. Fünfundzwanzig sind nicht genug. Ich habe mir das ursprüngliche Konzept von Projekt Nimrod noch einmal angesehen. Fünfundzwanzig Personen bieten keine ausreichende genetische Diversität für eine überlebensfähige menschliche Kolonie. Nun, wir haben einen Weg gefunden, wie sich dieses Kontingent vergrößern ließe. Wir denken, dass wir ungefähr vierzig Personen transportieren können. Das ist vielleicht immer noch nicht genug, aber mehr ist nun mal nicht drin.«

»Und wie soll das gehen?«, fragte Max scharf.

»Wir bauen den Innenraum des Shuttles um. Wir installieren neue Liegen … Max, wir nehmen Kinder mit. So kriegen wir vierzig Personen rein. Es wird ein Schiff voller Kinder sein, mit drei Erwachsenen, die das Landeman?ver durchf?hren und ihnen helfen, die ersten Jahre zu ?berstehen.? Sie schaute sich um. ?Offen gestanden, habe ich euch deshalb in diesen letzten Jahren alle ermutigt, Kinder zu bekommen. Ich habe immer bef?rchtet, dass es dazu kommen k?nnte, wenn wir keine wundersame L?sung f?r das Shuttle-Problem finden w?rden, und das ist uns nun mal nicht gelungen.?

Helen spürte, wie die Spannung im Modul stieg, als Holles elementare Logik den Anwesenden ins Bewusstsein drang.

Sie redete weiter. »Ich habe eine Reihe Kinder im Alter von zwei bis fünfzehn Jahren ausgewählt. Es sind siebenunddreißig, die auf der Liste stehen, die meisten zehn Jahre oder jünger. Keine Geschwister, um die Diversität zu maximieren. Und keine Verwandtschaft zu den drei Erwachsenen. Es werden keine Mütter, Väter, Brüder und Schwestern dabei sein. Genau wie damals, als wir von der Erde gestartet sind.« Sie schaute in die Runde. »Ihr Älteren, ich habe euch sorgfältig ausgewählt – es wird schwer für euch sein. Ihr werden den Erwachsenen helfen müssen, mit den Kleinen zurechtzukommen, während ihr die Kolonie aufbaut. Das Shuttle ist mit Ausrüstungsgegenständen gefüllt, die euch helfen werden, die ersten Monate zu überstehen: aufblasbare Wohnmodule, gefriergetrocknete Verpflegungspakete. Aber es wird harte Arbeit sein. Ihr werden Gelände roden müssen, und …«

Max forderte sie erneut heraus. »Du trennst kleine Kinder von ihren Eltern. Das ist unmenschlich.«

»Natürlich ist das unmenschlich«, sagte Holle ruhig. »Alles an dieser Mission ist unmenschlich.«

Magda stieß sich nach vorn. »Du hast keine eigenen Kinder. Du bist nur halb lebendig. Deshalb denkst du dir solche Grausamkeiten aus.«

Holle zuckte zusammen. Sie holte Luft. »Es tut mir leid, dass es so gekommen ist, Magda. Die vollständige Liste gebe ich später noch bekannt. Vorher spreche ich mit den jeweiligen Eltern. Aber sieh mal – deine Sapphire steht auf der Liste. Sie ist die Jüngste in der Shuttle-Crew, sie wird der jüngste Mensch auf der ganzen Welt sein. Stell dir das vor …«

»Du mörderisches Miststück, du nimmst mir nicht nochmal ein Baby weg!« Magda stieß sich von der Wand ab. Es gab eine Eruption lauter, zorniger Stimmen; Leute versuchten, Magda festzuhalten.

Holle wartete an der Stange, bis der Aufruhr sich gelegt hatte. Dann sagte sie klar und deutlich, wobei ihre verstärkte Stimme dröhnte: »Die Erwachsenen.«

Erneut stand sie im Brennpunkt der Aufmerksamkeit. Es herrschte Stille, bis auf Magdas jämmerliches Schluchzen und das dünnere Schreien eines aufgeregten Kindes.

»Diese drei müssen während der ersten Tage, Wochen und Monate das Zentrum sein«, sagte Holle. »Ein Zentrum der Sachkenntnis und der Disziplin, bis die älteren Kinder das Ruder übernehmen können. Ich habe sie wegen der erforderlichen Kompetenzen ausgewählt und, mit einer Ausnahme, weil sie die Erde noch kennen. Ich möchte nicht, dass alle in diesem Shuttle erstarren, wenn sie das erste Mal durch die Luke auf einen Planeten hinaustreten.

Also, als Erster: Jeb Holden. Ich weiß, nicht jeder hier liebt ihn. Aber er stammt aus einer Farmerfamilie. Er hat enorm viel von der Welt gesehen, erst als Eye-Dee, dann als Angehöriger des Heimatschutzes. Niemand anders an Bord hat solch breite Erfahrungen. Jeb fliegt also mit.«

Helen schaute sich schockiert nach Jeb um. Er hatte Mario von seinen Schultern genommen und starrte ihn an. Ihm waren die Implikationen von Holles Entscheidung sofort klar. Keine Eltern, hatte Holle gesagt. Wenn Jeb auf den Planeten hinuntergeschickt wurde, mussten Mario und Hundred an Bord des Schiffes bleiben. Man sah ihm seine Verzweiflung an. Trotz seiner Fehler war er ein guter Vater; dies würde furchtbar schwer für ihn werden. Aber sie würde zumindest die Kinder haben, dachte Helen mit einem Anflug wilder, egoistischer Erleichterung. Hundred und Mario würden zumindest mit ihr auf der Arche bleiben.

»Zweitens«, sagte Holle nun, »brauchen wir einen Shuttle-Piloten. Wenn während dieser wenigen Minuten des Abstiegs etwas schiefgeht, spielt alles andere keine Rolle mehr. Und obwohl wir versucht haben, Ersatzleute auszubilden, haben wir nur einen einzigen erfahrenen Flieger. Das ist Wilson Argent.«

Wilson sah aus wie vor den Kopf geschlagen. Es gab lautstarke Proteste.

Max ging erneut auf Holle los. »Dieser Kerl hat meine Schwester vergewaltigt und sterben lassen! Er hat das verdammte Shuttle genommen, um seine Haut zu retten, und dadurch diesen Schlamassel überhaupt erst angerichtet. Und jetzt gibst du ihm den Planeten, ihm und Jeb, diesem Schläger …«

»Er ist der einzige Pilot, Max. Nur das zählt. Nichts an diesem Vorgang ist auch nur andeutungsweise fair.«

Wilson schwebte in den Ruinen seines Palastes. »Es tut mir leid«, sagte er. Seine Stimme war kaum zu hören.

»Und schließlich«, fuhr Holle fort, »habe ich eine Schiffsgeborene der mittleren Generation ausgewählt. Eine Frau, die den jungen Leuten nachfühlen kann, was sie durchmachen müssen, um sich an ein Leben außerhalb des Schiffes anzupassen, die aber zugleich alt genug ist, um ihnen eine Perspektive, eine Orientierung zu bieten. Eine Frau, deren Pilotenausbildung ausreicht, um Wilson zu unterst?tzen. Sie bringt einen eigenen Gensatz mit, unterh?lt aber famili?re Beziehungen zu einem anderen Mitglied der Shuttle-Crew. Vielleicht hilft das, die Dinge in den ersten Tagen zu stabilisieren. Und sie ist eine Person, die ihr respektiert, das wei? ich.

Ich schicke Helen Gray.«

Alle drehten sich um und starrten Helen an. Für einen langen Herzschlag weigerte sich ihr Verstand, Holles Worte und deren Implikationen zu verarbeiten.

Dann katapultierte sie sich durchs Modul, auf der Suche nach ihren Kindern.


96



AUGUST 2081



Helen und Jeb verbrachten einen letzten Abend mit den Kindern, ein normaler Abschluss eines letzten Tages voller Pflichten und Unterrichtsstunden. Es gab Abendessen, dann wurde abgewaschen und aufgeräumt, und anschließend spielte Mario mit seinem Vater ein kompliziertes Nullschwerkraft-Basketballspiel, während der kleine Hundred etwas aus dem Handheld seiner Mutter vorgelesen bekam.

Helen glaubte, dass der siebenjährige Mario wusste, was passieren würde, aber wenn, so war er um seines kleines Bruders willen tapfer. Selbst Hundred war an diesem Abend nicht ganz er selbst, aber er spielte brav und gluckste, als er in seinen Schlafanzug gesteckt und dabei gekitzelt wurde. Dann zwängten sie sich alle in den großen Schlafsack der Eltern, der quer in ihrer an der Rutschstange befestigten Kabine hing, und Jeb und Helen hielten die Kinder im Arm, bis sie einschliefen.

Als sie sich sanft voneinander lösten, bewegte sich Mario. Er öffnete die Augen und sah seinen Vater an, der gerade in T-Shirt und Shorts schlüpfte. »Bin ich jetzt der Chef, Dad?«, flüsterte er.

»Du bist der Chef, mein Großer.«

Mario lächelte nur. »Ich kümmere mich um Hundred.«

Helen konnte es nicht mehr ertragen. Sie stieß sich aus der Kabine ins matte Licht des nächtlichen Moduls.


Ihre Mutter wartete draußen. Grace sah hager und alt aus. Sie umarmte ihre Tochter. »Ich schlüpfe zu ihnen in den Schlafsack«, fl?sterte sie. ?Damit jemand da ist, wenn sie aufwachen. ?

»Danke«, sagte Jeb mit rauer Stimme.

»Es wird seltsam für dich sein, Mum«, sagte Helen.

Grace zuckte die Achseln. »Ich war eine Geisel. Dann war ich eine Prinzessin. Dann ein Eye-Dee, ein Walker. Dann Seefahrerin und schließlich Astronautin und Ärztin. Jetzt werde ich Vollzeit-Großmutter sein. Ich gewöhne mich schon dran.« Sie ließ ihre Tochter los. »Wir haben alles gesagt, was es zu sagen gibt. Geht jetzt, es ist Zeit.« Sie zog sich in die Kabine hinein.

Helen weinte nicht; sie schien sämtliche Tränen ihres Lebens in dem Monat vergossen zu haben, seit Holle die Trennung der Crew verkündet hatte. Aber sie bekam kein Wort heraus. Teilnahmslos ließ sie sich von Jeb am Arm packen und schwebte mit ihm durch das stille Modul.

An der offenen Luke zum Shuttle B wurden die vierzig Passagiere in ihre Anzüge gesteckt. Bedrückt und mit großen Augen halfen die älteren Kinder schläfrigen Kleinkindern in ihre Anzüge. Die leichten Druck-Overalls, die sie während des Abstiegs tragen sollten, waren lediglich dünne Polyäthylen-Hüllen, boten aber genug Schutz, falls es in der Kabine einen Druckabfall gab. Sie waren vier Jahrzehnte lang in einem Spind verstaut gewesen, rochen jedoch neu – ungewöhnlich an Bord dieses ramponierten alten Hulks. Sie trugen sogar AxysCorp-Logos auf der Brust, die geborgene Erde. Einschließlich der Ersatzanzüge gab es genug Druck-Overalls für alle, aber man hatte sie gekürzt, damit sie den kleineren Kindern passten, und in schlichte Säcke für die ganz Kleinen verwandelt. Der Start des Shuttles war in die Zeit der Nachtwache gelegt worden, weil man hoffte, dass sich die schlaftrunkenen Kinder dann leichter handhaben ließen. Vielleicht konnte man sie an Bord des Shuttles verfrachten und auf die neue Welt schaffen, bevor sie richtig aufwachten und merkten, dass sie ihre Eltern f?r immer verloren hatten.

Helen, die keinen klaren Gedanken fassen konnte, fand ihren Anzug, schüttelte ihn aus und zog ihn an.

Venus und Holle kamen zu ihnen. Holle wirkte ungeheuer traurig, Venus unverhohlen neidisch.

Holle sagte: »Wilson ist schon an Bord und überprüft die Systeme. Ich … hier.« Sie gab Helen eine kleine Kugel aus rostfreiem Stahl. Es war ein Globus der Erde III, hergestellt in der Maschinenwerkstatt der Arche. »Ich weiß nicht, ob du dich noch daran erinnerst, aber bei der Erde II haben wir das auch so gemacht. Wir haben sie den Kindern ins Gepäck gesteckt, als kleine Überraschung für sie. Ich wollte dir deinen persönlich geben.« Impulsiv umarmte sie Helen. »Tut mir leid, dass ich dir das antun muss.«

Helen schob sie weg. »Es kann dir gar nicht leid genug tun«, sagte sie heftig.

Holle schluckte das einfach nur, wie sie alle Reaktionen darauf geschluckt hatte, was sie seit dem Tag ihrer Machtübernahme um der Crew, um der Mission willen getan hatte. Vielleicht war das letztendlich Holles Rolle, dachte Helen – nicht so sehr die der Führerin als vielmehr die eines Gefäßes für all die Schuldgefühle wegen der Maßnahmen, die nötig gewesen waren, damit der Rest überleben konnte. Nichtsdestoweniger verspürte Helen eine Aufwallung von neuem Hass.

Venus kam nach vorn und machte viel Aufhebens um die Verschlüsse von Helens Anzug. »Vergiss nicht, da unten wird es verdammt kalt sein. Die nächste Generation wird’s nicht merken, aber ihr schon. Packt euch dick ein, bevor ihr die Luke öffnet. « Sie schob sich zurück. Ihre Augen schwammen in Tränen. »Herrgott, du wirst mir fehlen. Du warst die beste Schülerin, die ich je hatte. Gib dein Wissen an die Kinder weiter. Ihr dürft nicht in die Steinzeit zur?ckfallen, nachdem ihr diese weite Reise hinter euch gebracht habt.?

»Mache ich. Was ist mit dir, Venus? Was kommt als Nächstes?«

Venus warf Holle einen raschen Blick zu. »Naja, wir haben da so eine Art Plan. Sobald wir die Meldung bekommen, dass ihr sicher gelandet seid, schicken wir Botschaften per Mikrowellenlaser zur Erde und zur Erde II. Dann wird in rund hundert Jahren jeder, der ins All horcht, die freudige Nachricht empfangen.

Anschließend haben wir vor, das System dieser M-Sonne zu erforschen.« Sie schnippte mit den Fingern, klick-klick. »Winzig kleine Warp-Sprünge, von Planet zu Planet. Zane hätte das bestimmt liebend gern ausgearbeitet. Wir schicken euch die Ergebnisse, Oberflächenkarten, innere Strukturen, was immer wir rausfinden. Sorgt dafür, dass der Funkempfänger funktioniert. Es wird ein Vermächtnis für die nächste Generation sein, wenn sie bereit ist, auf Forschungsreisen zu gehen, nicht wahr?«

»Und dann?«

Venus breitete die Arme aus. »Zum Teufel, der Himmel gehört uns. Wir werden einfach weiterforschen. Vielleicht finden wir die Erde IV, die Erde V und die Erde VI. Wir melden uns per Laser und erzählen es euch. Vielleicht kommen wir auch zurück, bevor das Licht hier ist, und erzählen es euch persönlich. Geh jetzt!«, sagte sie. Ihre Stimme klang auf einmal barsch. »Geh, bevor sie die verdammte Luke schließen und dich zurücklassen!«

Die meisten Kinder waren bereits an Bord. Jeb glitt durch die Luke. Es gab keinen Grund mehr zu bleiben. Helen drehte sich in der Luft und sank selbst hinab, mit den Füßen voran. Der Druckanzug fühlte sich seltsam an, zu sauber, und er raschelte bei jeder Bewegung.

Sobald sie im Shuttle war, schaute sie zurück. Holles Gesicht, erfüllt von Reue und Schmerz, war das Letzte, was sie von der Arche sah. Dann schloss Venus die Luke.


97



Die Innenausstattung des kleinen Raumfahrzeugs war schlicht. Die enge, schlauchartige Kabine war mit Sitzreihen vollgepackt, die man behelfsmäßig aus Ausrüstungsgegenständen der Arche hergestellt und zwischen die ursprünglich vorgesehenen fünfundzwanzig Liegen gequetscht hatte. Vorn in der Nase, vor einer rudimentären Instrumentenkonsole und verschrammten Panoramafenstern, waren zwei Sitze etwas erhöht angeordnet. Wilson saß bereits auf dem linken Sitz und führte System-Checks durch, und Helen begab sich zum rechten Sitz. Er reichte ihr eine Snoopy-Funkhaube, und sie setzte sie auf.

Das Shuttle war im Grunde ein vollautomatischer Gleiter. Die charakteristischen Merkmale der Atmosphären- und Schwerkraftprofile der Erde III waren in seinen Bordcomputer einprogrammiert. Es war intelligent genug, um solch offenkundigen Hindernissen wie Ozeanen, Geröllfeldern und Schneewehen auszuweichen, und hätte sogar den gesamten Flug einschließlich der Landung eigenständig absolvieren können. Aber in den Konstruktionsbüros im verschwundenen Denver hatte man erkannt, dass die erste antriebslose Landung auf einer vollständig fremden Welt wahrscheinlich von Menschenhand durchgeführt werden musste. Ab ein paar Hundert Metern Höhe konnte Wilson also zeigen, was in ihm steckte; aus diesem Grund war der verachtete Zweiundsechzigjährige an Bord des Shuttles, während Helens Kinder an Bord der Arche geblieben waren. Helen wiederum war die einzige halbwegs brauchbare Copilotin auf der Arche. Aber sie war zuvor noch nie in einer Atmosph?re geflogen, nicht einmal als Passagierin, und sie betete, dass die rudiment?ren F?higkeiten, die sie sich im Verlauf ihrer Ausbildung und bei der Zusammenarbeit mit Wilson in HeadSpace-Sims w?hrend des letzten Monats angeeignet hatte, nicht ben?tigt werden w?rden.

Während sie sich anschnallte, schaute sie über die Schulter nach hinten. Die Kinder waren gut eingepackt, ihre orangefarbenen Druckoveralls leuchteten. Die wenigen Jugendlichen, die Vierzehn- und Fünfzehnjährigen, verteilten sich zwischen den anderen. Die Zehnjährigen schienen Angst zu haben, aber die Kleinkinder schliefen größtenteils in dem warmen, summenden Shuttle. Helen sah die kleine Sapphire Murphy Baker, mit ihren vier Jahren die Jüngste an Bord; sie und ein Achtjähriger hielten sich an der Hand. Jeb saß ganz hinten, passte theoretisch auf die Kinder auf und war bereit, im Fall einer Krise einzugreifen. Als er Helens Blick auffing, winkte er ihr zu. Sie versuchte zu lächeln, aber die Traurigkeit in seinem Gesicht war unübersehbar.

So würden sie eine neue Welt besiedeln, mit einem Haufen Kinder, drei Erwachsenen, einem Laderaum, in dem sich ein Atomgenerator, Saatgut, Werkzeug und ein paar aufblasbare Wohnmodule befanden, und gebrochenen Herzen.

»Wir müssen wahnsinnig sein«, sagte Helen leise.

»Diejenigen, die uns ins All geschickt haben, waren wahnsinnig. « Wilson schaute zu ihr herüber. »Bist du bereit?«

»Bereiter geht’s nicht.«

Er legte einen Schalter um, einen schweren Handknebel. »So, das wär’s. Ich habe das automatische Programm gestartet. Jetzt wird dieses Baby eigenständig bis zum Boden hinunterfliegen, oder jedenfalls fast. Gleich geht’s los. Drei, zwei, eins …«


Verriegelungen lösten sich klappernd, und außen am Rumpf der Raumfähre lärmten Korrekturtriebwerke. Helen spürte ein Ziehen im Magen. Einige der schlafenden Kinder bewegten sich und jammerten leise.

»Wir haben uns von der Arche gelöst. Das war’s, wir fliegen solo. Gewöhn dich lieber an diese Beschleunigung, damit werden wir’s heute Morgen noch reichlich zu tun bekommen. «

»Solo jetzt und für den Rest unseres Lebens … wow.« Ein leichtes Schwindelgefühl befiel sie; die Innenohren sagten ihr, dass sie sich um die Längsachse drehten.

»Das ist die Inspektionsrolle. Damit Hawila überprüfen kann, ob die Kacheln des Hitzeschilds in den letzten vierzig Jahren nicht abgefallen sind.«

Venus Jennings Stimme kam knisternd aus einem Lautsprecher. »Shuttle B, Hawila. Alles klar für die Landung, Wilson.«

»Verstanden. Danke, Venus.«

Die Rotation hörte auf. Helen schaute aus dem Fenster. Sie befanden sich irgendwo über der Nachtseite des Planeten. Sie flogen rückwärts, die Köpfe zu den Sternen, und die neue Welt drehte sich unter ihnen weg, pechschwarz bis auf das purpurrote Auflodern von Unwettern und ein mürrisches rotes Glühen, das wie eine riesige Vulkan-Caldera aussah. Laut Plan sollten sie über der Nachthälfte des Planeten in die Atmosphäre eintreten, und ihre Eintrittsflugbahn sollte sie mit ausreichendem Schwung um die Krümmung der Welt herumtragen, so dass sie auf der ewigen Tagseite landen konnten.

Wilson schaute kurz nach hinten. » Alle gesund und munter? Als Nächstes kommt die Zündung der Bremsraketen. Wird sich wie ein Tritt in den Hintern anfühlen. Kein Grund zur Sorge. Drei, zwei, eins …«

Lärm erfüllte die Kabine, ein gedämpftes, knisterndes Brausen, wie ein gewaltiges Feuer. Es war wirklich ein Tritt in den Hintern, Helen spürte es im Kreuz, im Nacken und in den Beinen, als sie in die gepolsterte Liege gepresst wurde, und das Shuttle drehte sich, bis es auf dem Heck zu stehen und sie auf dem Rücken zu liegen schien. Das Bremsraketensystem war ein am hinteren Ende der Raumfähre angebrachtes Triebwerkspaket, das die Geschwindigkeit, die das Schiff im Orbit neben der Arche hielt, verringern und es in die Luft der Erde III fallen lassen sollte. Nach vierzigjährigem Schlaf hatte es nun für seine einzige Brennphase gezündet.

Wilson rief: »Drei, zwei, eins …«

Die Bremsraketen erloschen so abrupt, wie sie gezündet hatten, und Helen wurde nach vorn geschleudert. Jetzt waren weitere Kinder wach; nachdem das Brausen der Raketen verstummt war, hörte sie sie in der plötzlichen Stille weinen.

Ein weiteres Klappern und ein Knall, als wäre etwas gegen den Rumpf geklatscht. »Bremsraketen abgeworfen«, rief Wilson. »Einer der Riemen hat uns erwischt. Ich überprüfe die Brennphase. Neun Nullen auf drei Achsen, perfekt.« Er grinste, sah Helen; er genoss einfach den Flug. »Wir sind nicht mehr im Orbit, Baby. Wir sind auf dem Weg hinunter zur Erde III.«

Das Shuttle war jetzt antriebslos bis auf kleine Korrekturtriebwerke, und diese zündeten schubweise, eine Abfolge knallender und krachender Geräusche. Das Shuttle drehte sich um die senkrechte Achse, bis die Nase in Flugrichtung nach unten zeigte. Während dieses Manövers erhaschte Helen einen kurzen Blick auf die Arche, einem ramponierten, pockennarbigen Kegel mit der zusammengestoppelten Warp-Konstruktion an der Nase. Er sah ziemlich abgenutzt aus. Sie verrenkte sich den Hals, um der Arche zu folgen, als sie vor ihrem Fenster vorüberzog, aber sie war bald verschwunden, von der Drehung des Shuttles aus dem Blickfeld gefegt.

Nun hob das Shuttle die Nase, so dass es bäuchlings in die Tiefe sank. Seine Konstruktion beruhte auf der des alten Space Shuttles der NASA; der dicke Hitzeschild an seinem Bauch würde zuerst auf die Atmosphäre treffen.

»Genieß nochmal die Schwerelosigkeit«, sagte Wilson leise. »Damit ist jetzt bald vorbei.«

»Oder die Sterne«, sagte Helen. »Astronomie wird dort unten schwierig sein.«

»Wir finden schon einen Weg … Bingo.« An der Konsole vor ihm leuchtete ein neues Feld mit der Aufschrift »0,05 Ge« knallrot auf. »Jetzt kommt die Verzögerung. Verdammt, wir sind hoch oben, verglichen mit einem Eintritt in die Erdatmosphäre. Diese Luft ist dick

Sie spürte das erste Zupfen der Verzögerung in den Eingeweiden, eine Art Erschauern, als die ersten Ausläufer der Atmosphäre nach dem Rumpf griffen, und dann ein stetigeres Ziehen, das sie in ihren Sitz drückte. Draußen vor dem Fenster war jetzt ein schwacher Lichtschein, wie das erste Flimmern von Hawilas Bogenlampen am Schiffsmorgen. Es war die Luft der Erde III, der erste direkte Kontakt von Menschen mit dem Planeten, Luft, die zu Plasma erhitzt wurde, deren Atome sie im Vorbeiflug zertrümmerten. Der Lichtschein wurde rasch stärker und verwandelte sich in eine Art Tunnel aus Farben – Lavendeltöne, Blaugrün, Violett –, die über die Raumfähre emporstiegen. Funken flogen ums Schiff, loderten auf und erloschen flackernd.

»Isoliermaterial.« Wilson musste schreien; das Shuttle begann zu erzittern, die Einrichtung ratterte. »Es verbrennt und nimmt dabei unsere Hitze mit. Das soll so sein. Glaube ich.« Er grinste kalt. »Hübsche Lichter.«

Helen versuchte gar nicht erst, darauf zu antworten. Der Lichtschein draußen wurde immer stärker, und das auf ihr lastende Gewicht nahm plötzlich und ruckartig zu; es überstieg bestimmt schon die Erdschwerkraft. Sie hörte die Kinder weinen. Es wird besser, wird leichter werden, redete sie sich ein. Aber das Gewicht würde nicht mehr von ihren Schultern weichen, nie wieder. Sie würde unweigerlich landen, war an den Planeten gebunden, ohne eine Möglichkeit, jemals wieder zurückzukehren. Sie würde das Modul nie wiedersehen, würde nie wieder ihre Kinder im Arm halten, vielleicht nicht einmal mehr die Sterne sehen. Ihr Blick verschwamm, und zum ersten Mal an diesem Morgen kamen die Tränen. Aber das Gewicht nahm noch immer zu, das Licht draußen wurde noch intensiver, die Farben verschmolzen zu einer weißen Fläche, die die Kabine mit einem strahlenden silbergrauen Lichtschein erfüllte. Es war ein vollkommen unwirkliches Erlebnis. Sie sah nichts als dieses himmlische Licht, hatte nicht das Gefühl zu fallen, spürte nichts als dieses ungeheure, zitternde Gewicht.

Wilson stieß einen Jubelschrei aus. »Das nenne ich fliegen! Wir müssen diesen Scheiß-Planeten erleuchten wie ein Komet!«

Dann, ganz abrupt, ließ es nach. Das Gewicht lastete zwar immer noch schwer auf ihren Schultern, änderte sich aber nicht mehr. Der Plasmaschein verblasste, seine letzten Fetzen verflogen wie leuchtender Rauch und gaben den Blick auf einen blassen, rosafarbenen Himmel mit verstreuten bräunlichen Wolken frei.

Die Wolken waren über ihnen, stellte Helen fest.


Das Shuttle erzitterte. Wilson betätigte probehalber den Steuerknüppel. »Die Steuerflächen fassen. Dieses Ding fliegt tatsächlich. Meine Güte, ich glaube allmählich, wir könnten das überleben. ? Er warf Helen einen Blick zu. ? Wir sind in der Atmosph?re, verstehst du. Wir fallen nicht, wir gleiten, wir fliegen. Und dieses Ziehen, das du sp?rst, ist keine Verz?gerung ??

»Schwerkraft.«

Er grinste. »Echte planetare Schwerkraft, die zum ersten Mal, seit du im Mutterleib warst, an deinen Knochen zieht.«

Es war nicht so schlimm wie bei der stärksten Verzögerung, aber Helen war immer noch so schwer, dass sie das Gefühl hatte, kaum Luft zu bekommen.

Ein Lautsprecher knisterte. »… Hawila. Shuttle B, Hawila. Hört ihr mich? Shuttle B, hier ist Hawila …«

Wilson legte einen Schalter um. »Wir sind aus der Plasmahülle heraus. Mein Gott, Venus, was für ein Ritt!«

»Wir haben euch gesehen. Wir sehen euch sogar immer noch. Ich lasse dich jetzt mal deinen Vogel fliegen. Sagt uns Bescheid, wenn eure Gleitkufen auf dem Boden aufgesetzt haben. Hawila out.«

»Verstanden. Mal sehen, was wir hier haben.« Wilson drückte den Steuerknüppel nach vorn, und die Nase der Raumfähre senkte sich.

Die Welt kippte nach oben und zeigte sich Helen zum ersten Mal unverhüllt. Das Land unter ihr war dunkel. Sie befanden sich immer noch so hoch oben, dass man die Krümmung des Horizonts sah. Der Himmel war von einem tiefen, düsteren Rot, wurde aber zum Horizont hin heller. Und dort erblickte sie einen Feuerbogen, eine gewaltige Sonne, die über die Krümmung der Welt stieg, die M-Sonne, die diese Supererde erhellte. In der Nähe des Horizonts sah sie nun eine Gebirgskette, deren Gipfel das Licht einfingen; sie leuchteten wie eine Laternenkette im Dunkeln. Ihr fiel wieder ein, was Venus über potenziell vorhandene Organismen wie Bäume gesagt hatte, die sich aus dem Schatten des Zwielichtstreifens emporstreckten, um das fl?chtige Licht einzufangen.

Die Raumfähre sank steil in die dicker werdende Luft. Die dichte, stürmische Atmosphäre dieser Welt war turbulent.

Von nun an reihten sich die Ereignisse des Abstiegs in schneller Folge aneinander. Die Welt wurde kontinuierlich flacher und verwandelte sich in eine Landschaft. Die Sonne hievte ihre riesige, von einem atmosphärischen Effekt zu einer abgeflachten Ellipse verzerrte Masse müde über den Horizont. Sie war weiß, schwach rosa getönt, aber so gut wie gar nicht rot. Das kleine Schiff überquerte die Berge mit ihren hell erleuchteten Gipfeln, und sie passierten den Terminator, diese reglose Grenze der Nacht.

Als sie über sonnenbeschienenen Boden hinwegrasten, leuchtete ein Feld an der Konsole auf und zeigte eine animierte Karte, die auf Beobachtungen der Arche in der Umlaufbahn basierte. Helen schaute nach unten. Der Boden war felsig, ein von Bergen gerunzelter und von gewaltigen Schluchten zerrissener Kontinentalschild. Er war großenteils von altem, schmutzigem Eis bedeckt, das im schwachen Sonnenlicht rosa schimmerte. In den Simulationen hatte sie Luftaufnahmen von Erdlandschaften aus der Zeit vor der Flut studiert; dies hier hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Flug in geringer Höhe über den Kanadischen Schild. Sie machte sich innerlich eine Notiz, Venus von diesem Eindruck zu berichten.

»Scheiße«, sagte Wilson. Er packte seine Bedienungselemente, mit der linken Hand das für die Translationssteuerung, mit der rechten das für die Fluglageregelung, zog daran und setzte damit die automatischen Systeme außer Kraft. Das Shuttle legte sich gehorsam in eine Rechtskurve.

Helen schaute nach vorn. Ein riesiger Vulkan, fast so groß wie Olympus auf der Erde II, aber kompakter und eindeutig aktiv, breitete sich vor ihnen aus. Sie sah Fahnen dunklen Rauchs, der aus den komplizierten Mehrfach-Calderas auf seinem Gipfel entwich.

Wilson sagte: »Wir wollen ja nicht durch eine Säule unruhiger, heißer Luft fliegen oder in die Flanke des Vulkans krachen, obwohl ich darauf vertraue, dass die Fähre das nicht tun wird.«

Das Shuttle raste an der Flanke des Vulkans vorbei. Als Helen nach unten blickte, sah sie Flecken pechschwarzer Dunkelheit; sie ähnelten Kunststoffdecken, die an alten Lavaströmen klebten.

»Weitere Berge voraus«, murmelte Wilson mit starrem Blick. Der Lichtschein der tief stehenden Sonne hob die Unreinheiten seiner stoppeligen Haut hervor.

Die herannahenden Berge direkt vor ihnen waren eine multiple Sägezahnkette, ein mehrere Hundert Kilometer tiefes geologisches System. Aus Helens Perspektive zeichneten sie sich als Silhouetten ab. Sie verglich den Anblick mit der animierten Karte auf der Konsole, die eine gepunktete rote Linie und ein Comic-Shuttle zeigte, das über eine zerklüftete Masse hinwegschoss. »Die sind genau da, wo sie sein sollen, Wilson.«

»Gut. Wir auch. Was bedeutet, dass wir bald zu unserem Landeplatz gelangen müssten.«

Die Berge zogen unter ihrem Bug vorbei. Ihre Flanken waren gefurcht von Gletschern, Eis leuchtete rosa-weiß auf dem Gestein. Die parallel verlaufenden Gebirgsketten fielen weg und lösten sich in Vorgebirge auf, die selbst jung und scharfkantig waren. Jetzt lag eine kahle, mit Felsen bestreute Ebene vor ihnen, und dahinter kam eine Eisdecke, die Oberfläche eines zugefrorenen Sees. Das Shuttle senkte abrupt die Nase und steuerte auf den See zu. Sein Ziel war klar.

»Genau auf den Punkt«, sagte Wilson. »Von allem, was wir gesehen haben, kommt dieser See einem natürlichen Landestreifen am nächsten. Ich hoffe, es sind noch alle angeschnallt.«

Helen schaute nach hinten. Die tief stehende Sonne schien direkt in die Kabine, tauchte die Gesichter der Kinder in ihr unheimliches rosafarbenes Licht – jetzt war es noch unheimlich, aber in ein paar Jahren würden sie sich vielleicht daran gewöhnt haben. In der Schwerkraft saßen die Kinder zusammengesunken da, obwohl die meisten wach zu sein schienen. Einige weinten, und andere sahen aus, als hätten sie in die Hosen gemacht oder sich übergeben. Helen zwang sich zu einem Lächeln. »Dauert nicht mehr lange. Haltet noch ein bisschen durch …«

Die Raumfähre sackte abrupt ab. Helen schnappte nach Luft; sie befürchtete, dass sie in die Tiefe stürzte.

»’tschuldigung«, brummte Wilson. »Luftloch. Diese verdammte Luft ist so dick, wie wir gedacht haben, aber unruhiger, turbulenter. Eine richtige Suppe. So, jetzt geht’s los, ich starte die endgültige Landesequenz.« Er tippte auf einen Schalter und packte seine Steuerelemente mit festem Griff. Er und der Autopilot flogen das Shuttle nun gemeinsam, obwohl Wilson immer das letzte Wort hatte.

Unter ihren Füßen ertönte ein Klappern und das Brausen von Luft.

»Was, zum Teufel, war das?«, fragte Helen erschrocken. »Ist eine Pumpe kaputtgegangen?«

Wilson lachte nur, ohne den Blick von der Szenerie vor dem Fenster zu wenden. »Das Fahrgestell ist ausgefahren. Und das ist keine kaputte Pumpe, das ist der Wind, Baby. Wir gehen jetzt schnell runter …« Er verstummte, beobachtete die dahinrasende Landschaft und schaute auf Monitore, die seine Geschwindigkeit, seine H?he und Sinkrate anzeigten. Das Shuttle erzitterte erneut, als seine Steuerfl?chen in die dicke Luft bissen.

Sie überflogen eine letzte Hügelkette. Sie waren bereits unterhalb der höchsten Gipfel, sah Helen. Dann sauste die Küstenlinie des zugefrorenen Sees unter ihrem Bug vorbei. Sein Rand war von parallelen Bändern im Eis gekennzeichnet, als wäre der See wiederholt geschmolzen und wieder zugefroren. Indizien für Vulkan-Sommer; hin und wieder, hatte Venus ihr erklärt, schleuderte eine ausreichend starke Eruption so viel Kohlendioxid in die Luft, dass die Temperatur vielleicht für mehrere Jahre global stieg. Helen wünschte, Venus wäre hier, würde ihr alles erklären und ihre Hand halten.

Die Raumfähre erzitterte erneut und sank noch etwas tiefer. Jetzt flogen sie in sehr geringer Höhe über den See hinweg. Im Licht der Sonne konnte Helen Einzelheiten erkennen; Steine und Eisbrocken, die über die Oberfläche verstreut waren, sausten unter dem Bug dahin.

»Nichts ist jemals so glatt, wie es vom Weltraum aus aussieht«, brummte Wilson. »Solange wir mit unseren Kufen nicht gegen diese klitzekleinen Felsen knallen, ist alles in Ordnung. Wir kommen jetzt problemlos runter. Hundert Meter Höhe. Achtzig. Sechzig. Hoppla …« Er zog an der Translationssteuerung, und das Shuttle schwenkte scharf nach rechts. Helen sah ein Feld von Eisbrocken genau in ihrer vorherigen Anflugbahn. Als Wilson das Shuttle auf eine freiere Fläche ausgerichtet hatte, gab er die Steuerung frei und überließ es der Automatik, den Vogel wieder ins Gleichgewicht zu bringen. »Das war knapp.«

Helen zeigte nach vorn. »Wir sind nicht mehr weit vom Ufer entfernt.« Dahinter erhob sich weiteres hügeliges Gelände, uneben, mit Geröll übersät und von diesen seltsamen schwarzen Farbflecken gesprenkelt.

Wilson grinste. »Kann schon sein, aber wir haben nur einen Versuch, Baby. Hoffen wir, dass der Platz reicht.« Ein Monitor piepste; der Radar-Höhenmesser zeigte, dass sie nur noch zehn Meter hoch waren. »Jetzt geht’s los …« Er schob den Knüppel behutsam nach vorn. Der See kam zu ihnen herauf.

Die Kufen trafen aufs Eis. Das Shuttle klapperte und stieg wieder in die Luft, und Helen klammerte sich an ihre Liege. Das Shuttle sank erneut hinunter, hüpfte noch einmal, und dann hörte sie das Quietschen von Metall, als die Kufen über die Eisdecke schabten. Es gab einen weiteren Knall, und Helen wurde nach vorn in die Gurte geworfen, als ob eine riesige Hand das Heck des Raumfahrzeugs gepackt hätte.

»Bremsschirme geöffnet!«, rief Wilson. »Wow, was für ein Ritt.«

Dank der Bremsschirme, in denen sich die dicke Luft fing, wurde die Raumfähre rasch langsamer. Auf den letzten paar Metern holperten die Kufen über jeden Stein und Eisblock in ihrem Weg, und die Insassen wurden gründlich durchgeschüttelt. Dann drehte sich das Shuttle um ein paar Grad und schlitterte noch ein paar Dutzend Meter seitwärts, bis es schließlich zum Stehen kam.

Wilson schlug auf eine Taste. »Bremsschirme abgeworfen. Als Erstes müssen wir gleich die Seide einsammeln, die brauchen wir später noch …« Ein wenig benommen tippte er an sein Mikrofon. »Hawila, Shuttle B. Wir sind unten, in einem Stück. Yeah! Wir sind unten«, wiederholte er leiser und schaute zu Helen hinüber. »Und was nun?«


98



Die Ausstiegsrampe der Raumfähre war simpel, ein herunterklappbares Rumpfsegment, das zwecks besserem Halt am Boden von einem geriffelten Band umsäumt wurde.

Helen, Jeb und Wilson standen an der geschlossenen Tür. Sie trugen dick gefütterte, leuchtend grüne Mäntel, dazu Handschuhe, Mützen und mit Filterflaschen verbundene Schutzmasken. Ein paar der älteren Kinder waren bei ihnen, alle mit Mänteln und Masken ausgestattet. Die anderen warteten in der Hauptkabine. Jeb keuchte und bewegte sich unbeholfen; er trug die kleine Sapphire Murphy Baker in den Armen. Das Gesicht der Kleinen verschwand fast vollständig hinter ihrer Maske. Sie hielten sich alle an Handläufen fest, die ihr ungewohntes Gewicht trugen. Jeb und Wilson waren zumindest in Erdschwerkraft aufgewachsen; Helen hatte lediglich die geringfügige Schwerkraft des Moduls gekannt, aber auch die gab es seit der dreißig Jahre zurückliegenden Aufteilung nicht mehr, und das eineinviertel Ge fühlte sich schrecklich schwer an. Aber sie stand entschlossen da.

»Also«, sagte Wilson, die Stimme von seiner Maske gedämpft. »Alle startklar?«

»Mach schon«, sagte Helen leise.

Wilson zog an einem Hebel. Mit hydraulischem Zischen öffnete sich die Luke anmutig bis zum Boden. Kalte, scharfe Luft wehte ins Shuttle, und ein blassrosa Licht überstrahlte den Schein der künstlichen Lampen.

Wilson schaute sich um. »Noch niemand tot? Bereit für die EVA?«

Helen schnaubte. »Eine EVA, die niemals enden wird, Wilson.«

»Da hast du wohl Recht.« Er trat als Erster zur Luke hinaus.

Sie alle gingen vorsichtig die Rampe hinunter – vorsichtig, weil dies ihre erste Begegnung mit der neuen Welt war, und weil Helen nicht sicher war, dass sie sich auch nur daran erinnern konnte, wie man ging. Jeb trug die kleine Sapphire, die sich mit großen Augen umschaute.

Sie blickten geradewegs in die Sonne, die riesig in einem rosa-braunen Himmel hing. Sie war vielleicht vierzig Mal so groß wie die Sonnenscheibe, von der Erde aus gesehen, aber man konnte direkt in ihren fahlen Schein hineinschauen, ohne die Augen zusammenzukneifen. Die sich aufwölbenden Hügel am Rand des Sees waren von schwarzen Streifen überzogen, und eine dicke Eisschicht bedeckte ihre im Schatten liegenden Hänge. Gebilde, die kräftigen Bäumen glichen, gedrungen und dunkel, reckten sich von den Flanken der Hügel empor.

Helen verspürte eine tiefe, quälende Furcht, als sie das schützende Shuttle verließ, in offenes Gelände, die Unendlichkeit hinaustrat, zum ersten Mal in ihrem ganzen Leben nicht im Innern eines Raumschiffs gefangen war. Dies war ganz anders als in den HeadSpace-Simulationen, dachte sie; letztendlich waren sie doch keine richtige Vorbereitung gewesen. Und trotzdem ging sie weiter, einen Fuß vor den anderen, die Rampe hinunter, hinter Wilson her. Sie war dazu entwickelt, sagte sie sich. Die Kinder waren noch klein; sie würden sich anpassen.

Sie hielten inne, bevor sie ans Fußende der Rampe gelangten.

»Ich glaube, ich sehe da drüben offenes Wasser«, sagte Jeb und zeigte hin. »Seht ihr, in dem Tal zwischen diesen Hügeln? Wie ein Fluss, der in den See mündet.«

»Ich sehe nichts.« Es bereitete Helen Probleme, den Blick auf die mittlere Entfernung einzustellen. Aber schließlich hatte sie auch immer nur auf Dinge im Innern des Moduls oder in die Unendlichkeit schauen müssen, dazwischen hatte es nichts gegeben. Vielleicht würden ihre Augen sich daran gewöhnen.

»Wir können jederzeit näher an den substellaren Punkt heran, wenn wir wollen«, erklärte Wilson. »Das Shuttle ist zerlegbar, so dass wir Wohnmodule und Schlitten bauen können. Vielleicht sollten wir versuchen, zum Meer zu gelangen. Es ist nicht weit, fünfzig Kilometer.«

Helen, für die Planeten etwas Neues waren, wollte nicht töricht klingen. »Meint ihr, diese großen Dinger da drüben sind Bäume?«

»Falls ja, sind ihre Blätter pechschwarz«, sagte Jeb. »Und dieses grasartige Zeug zu ihren Füßen auch.«

»Ja, das ergibt Sinn«, meinte Helen. »Das Licht der M-Sonne unterscheidet sich von dem der Erde. Ihr Strahlungsmaximum liegt im Infrarotbereich. Die Photosynthese muss hier effizient sein, das heißt, sie muss einen möglichst großen Teil des Spektrums absorbieren. Darum sieht es schwarz aus.«

»Du glaubst also, wir könnten hier wirklich Ackerbau betreiben? «, fragte Jeb, der Farmersohn. »Es ist alles so fremdartig.«

»Ja, zum Teufel.« Wilson wedelte mit einer behandschuhten Hand. »Auf lange Sicht bietet eine Welt wie diese alle möglichen Vorteile. Diese Sonne wird sich nie von ihrem Platz am Himmel entfernen.«

»Hier ist es immer Vormittag«, sagte Helen leise.

»Immer Vormittag. Wir können Spiegel aufstellen, um das Licht zu bündeln. Später, wenn wir wieder in den Weltraum zurückkehren, können wir Ketten von Orbitalspiegeln errichten, um das Licht auf unsere Farmen zu lenken, oder sogar anfangen, die andere Seite zu erhellen und diese verdammte Eiskappe zu schmelzen.?

Helen lächelte hinter ihrer Maske. »Eins nach dem anderen, Wilson.«

»Ich glaube, ich rieche Schwefel«, sagte Jeb.

»Vulkanluft«, sagte Wilson.

Helen machte einen weiteren Schritt zum Fuß der Rampe. Diese hatte eine nicht sehr tiefe Furche ins Eis gegraben. Es war körnig und mit kleinen Steinen und einer dünnen Ascheschicht bedeckt, vielleicht von einem Vulkanausbruch.

Aus einem spontanen Impuls heraus kniete Jeb sich vorsichtig hin und setzte die kleine Sapphire auf der Rampe ab. Sapphire, die Jüngste der Crew – zu jung, um zu wissen, dass sie noch nicht laufen gelernt hatte –, versuchte aufzustehen und fiel auf den Rücken. Aber sie rollte sich einfach herum, stemmte sich auf Hände und Knie hoch und begann zu krabbeln, ein bisschen unsicher, aber zielstrebig.

Und sie krabbelte einfach vom Rand der Rampe auf das Eis der Erde III. Sie kreischte auf, weil es so kalt war, und steckte den behandschuhten Finger dann in die von der Rampe geschlagene Furche. Helen verspürte eine tiefe, instinktive Traurigkeit, dass es ihren eigenen Kindern nicht vergönnt war, diese Rampe herunterzulaufen und sich zu ihr zu gesellen.

»Schaut mal nach oben«, sagte Wilson.

Helen richtete sich auf. Ein rubinroter Stern zog über den hohen roten Himmel und hielt stetig auf die M-Sonne zu. Es war Hawila, der einzige Mond der Erde III. Und während Helen noch angestrengt nach oben blickte, um ihn zu beobachten, kräuselte sich der Himmel, und die Arche war fort.


Nachwort



In den letzten Jahrzehnten haben sich unsere Ansichten darüber, wie sich eine interstellare Reise bewerkstelligen ließe und wohin sie führen könnte, erheblich verändert – siehe beispielsweise Interstellar Travel and Multi-Generation Spaceships, herausgegeben von Yoji Kondo (Apogee Books, 2003), das auch eine neue Studie über die Größe überlebensfähiger menschlicher Populationen enthält. Einen neuen Überblick über mögliche Technologien für interstellare Reisen gibt Paul Gilster in Centauri Dreams (Copernicus Books, 2004).

Ausgehend von Miguel Alcubierres zukunftsweisender Abhandlung (Classical and Quantum Gravity, Bd. 11, L73 – L77, 1994) werden die wissenschaftlichen und technologischen Aspekte des »Warp-Antriebs« von einer Gruppe von Forschern weiterentwickelt, die am 15. November 2007 zu einem Seminar bei der British Interplanetary Society zusammengekommen sind, an dem ich teilgenommen habe. Es ist in The Journal of the British Interplanetary Society, Bd. 61, Nr. 9, September 2008, dokumentiert. In derselben Ausgabe der Zeitschrift findet sich auch ein Beitrag von Richard Obousy u. a. (S. 364 – 369), in dem die Idee skizziert wird, die Raumzeit durch die Manipulation höherer Dimensionen aufzublähen. Der Gedanke, die erforderliche Energie zu reduzieren, indem man die »Warp-Blase« schrumpfen lässt, ist aus einer Arbeit von Chris Van Den Broeck extrapoliert (Classical and Quantum Gravity, Bd. 16, S. 3973 – 3979, 1999). F?r Hinweise auf die optischen Effekte eines Warp-Felds siehe einen Aufsatz von Chad Clark u. a. (Classical and Quantum Gravity, Bd. 16, S. 3965 – 3974, 1999) sowie eine Dissertation von Daniel Weiskopf (»The Visualisation of Four-dimensional Spacetimes«, Universität Tübingen, 2001). Die theoretischen und technischen Hindernisse für die Entwicklung eines Raumschiffs mit Warp-Antrieb bleiben jedoch gewaltig.

Der erstaunliche Kalte-Kriegs-Traum von interplanetarischen Reisen mit Atomwaffen-Antrieb ist in George Dysons Project Orion dokumentiert (Holt, 2002). Revolutionäre Entwürfe für Hochenergie-»Plasmabeschleuniger« werden gegenwärtig vom US Department of Energy geprüft (s. New Scientist, 3. Januar 2009).

Die hier dargelegten Gedanken über die Existenzchancen intelligenten Lebens im Universum sind in gewissem Umfang das Ergebnis meiner Teilnahme am »Sound of Silence«-Workshop, der im Februar 2008 von der Arizona State University ausgerichtet wurde, und am IAA-Symposium über »Searching for Life Signatures« im September 2008 in Paris. Ein kürzlich erschienener Überblick über »Exoplaneten«, die neu entdeckten Welten anderer Sterne, ist The New Worlds von Fabienne Casoli und Thérèse Encrenaz (Springer-Praxis, 2007). Das Argument, dass die meisten Sterne in der Galaxis, die komplexes Leben beherbergen, Q höchstwahrscheinlich älter sind als die Sonne, wurde von Charles H. Lineweaver u. a. entwickelt (Icarus, Bd. 151, S. 307 – 313, 2001). Das Konzept des »Sternenschatten«-Teleskops stammt von Webster Cash (Nature, Bd. 442, S. 51 – 53, 2006).

Die Dynamik extraterrestrischer menschlicher Gesellschaften wird beispielsweise in Charles Cockells »An Essay on Extraterrestrial Liberty« erforscht (Journal of the British Interplanetary Society, Bd. 61, S. 255 – 275, 2008).

Die Bibelzitate stammen aus der King James Bible [in der deutschen Fassung meist aus der Zürcher Bibel].

Für etwaige Fehler und Ungenauigkeiten bin ausschließlich ich selbst verantwortlich.

Stephen Baxter



Titel der englischen Originalausgabe: ARK
















Deutsche Erstausgabe 05/2011

Redaktion: Wolfgang Jeschke

Copyright © 2009 by Stephen Baxter

Copyright © 2011 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH





Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels

eISBN 978-3-641-06291-0




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