Dritter Teil. 2042 – 2044



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FEBRUAR 2042



Es war eine Wohltat für Wilson Argent, aus der Luftschleuse in die Schwärze außerhalb des Moduls zu schweben. Eine Wohltat, die kleine Kammer verlassen zu können, in der er stundenlang den reinen Niederdruck-Sauerstoff vorgeatmet hatte, der seinen Anzug füllte. Eine Wohltat, vierzig Tage nach dem Start aus dem überfüllten, lärmigen Innern von Seba und Hawila, den beiden Modulen der Arche, diesem von Konkurrenzdenken geprägten, zänkischen Treibhaus herauszukommen. Dessen ungeachtet befand er sich immer noch tief den Eingeweiden des Schiffes, tief im Innern der fabrikgroßen Orion-Startstufe, und sein Blick in den offenen Raum wurde von Streben, Tanks und Schatten verstellt. Er hörte nichts außer dem Surren der Pumpen in seinem Tornister, dem statischen Zischen des Anzugfunks in seinem Snoopy-Fliegerhauben-Headset und seinen eigenen Atemgeräuschen.

Die Greifmechanik des Manipulatorarms – offiziell das Mobile Servicing System – wartete gleich draußen vor der Luke auf ihn, wie es der Plan für Außenbordeinsätze vorsah. Der Arm ähnelte einer ungelenken Roboterhand, der Greifbacken, Werkzeughalter und Kameras entsprossen. Er war in weißes Isoliertuch gehüllt und leuchtete dort, wo er das Scheinwerferlicht einfing, hell auf.

Wilson drehte sich, hielt sich mit den behandschuhten Händen am Rand der Luke fest und katapultierte sich mit den Füßen voran zur Greifmechanik des Armes. Seine Kevlar-Leine entrollte sich hinter ihm. Die klobigen Handschuhe waren eine intelligente Konstruktion ? er konnte die Finger darin m?helos beugen ?, aber seine Beine waren steif und schienen in so etwas wie aufgeblasenen Schl?uchen zu stecken. Seine Extravehicular Mobility Unit ? sein Anzug ? isolierte und k?hlte ihn, hielt den Druck im Innern aufrecht und bot sogar einen gewissen Schutz vor Mikrometeoriten und Strahlung, machte ihn aber auch so starr wie eine Plastikpuppe. Aber schlie?lich hatte er heute ja auch nicht vor, auf dem Mond herumzulaufen; er sollte eine Sichtpr?fung der Prallplatte durchf?hren, und die meisten seiner Bewegungen w?rden von dem Arm gesteuert werden.

Sein Ziel war direkt vor ihm, und seine gestiefelten Füße setzten sanft am Ende des Armes auf. Er hörte ein fernes Kratzen, als Greifbacken sich um seine Fußsohlen schlossen. Eine Stange drehte sich zu ihm herauf, und er packte einen Doppelgriff, so dass es war, als führe er einen Motorroller. Er befestigte einen Gurt am Stiel der Griffe. Noch mehr Sicherheit: Wenn der Arm komplett ausfiel, konnte er sich möglicherweise Hand über Hand zu dessen Basis zurückhangeln. Er war bereit.

»Kuppel, Argent«, sagte er, die Stimme in den Ohren gedämpft vom Helm, der seinen Kopf umschloss. »Habe mich an den Arm angekoppelt. Meinetwegen kann’s losgehen. Mache mich bereit, die Seilverbindung zum Modul zu lösen.«

»Verstanden, Wilson«, rief Venus aus der Kuppel. »Deine Vitalparameter sind ein bisschen aus dem Lot. Du atmest zu schwer, und dein Herz schlägt schneller als normal. Lass dir ein paar Sekunden Zeit.«

Er nahm an, dass sie Recht hatte, aber sie hätte es nicht zu sagen brauchen. Er wusste, dass viele Crewmitglieder über Bordfunk verfolgen würden, wie er sich machte, und dank der permanenten Live?bertragung hatte er zweifellos auch auf der Erde ein Publikum. ?Ich wei?, was ich tue, Venus. Im Hilton haben wir dieses Man?ver stundenlang ge?bt. Ich k?nnte es im Schlaf ausf?hren.?

»Genau das macht mir Sorgen. Schöpf ein bisschen Atem, trink einen Schluck und teste mochmal dein SAFER.«

»Verdammt.« Aber als Capcom war sie heute gewissermaßen der Boss. Er trank ein bisschen Wasser aus dem Beutel in seinem Helm.

Und er drückte auf die Taste an seiner Taille. Sein SAFER gab ihm einen leisen Tritt in den Hintern, und er spürte, wie die Armkonstruktion schaukelte und erzitterte, als sie den Impuls absorbierte. Sein SAFER – Simplified Aid For EVA Rescue, Vereinfachte Hilfe zur Rettung bei Außenarbeiten im Weltraum – war ein kleines Düsentriebwerk, das mit komprimiertem Stickstoff arbeitete; er konnte damit zur Arche zurückfliegen, wenn es zum Schlimmsten kam und er vollständig vom Schiffsrumpf getrennt wurde. Wie der Arm und sein Anzug war auch das SAFER ein Relikt der Internationalen Raumstation ISS. Er wartete darauf, dass die Vibrationen des Arms nachließen.

Gewissermaßen der Boss. Nachdem er sich jahrelang mit seinem Spezialgebiet, den externen Systemen des Schiffes, beschäftigt hatte, war er verdammt sicher, dass er weitaus besser als Venus wusste, wie man diese routinemäßige Inspektions-EVA durchführen musste, die im Prinzip schon geplant worden war, als die Arche noch nicht viel mehr als ein Entwurf auf Papier auf einem Schreibtisch in Denver gewesen war. Aber es hatte keinen Sinn, Venus anzumeckern. Sie war nur ein Glied in einer Befehlskette, die über die nominelle Bordkommandantin der Arche, Kelly Kenzie, bis zu Gordo Alonzo führte, der behaglich im Kontrollzentrum in Alma saß, das die Leitung der Mission von Pikes Peak ?bernommen hatte, nachdem das Orion-Triebwerk abgeschaltet worden war. Diese Befehlskette w?rde f?r die n?chsten zwei Jahre bestehen bleiben, bis sie ihre Mission beim Jupiter abgeschlossen hatten und in einer Warp-Blase zu den Sternen schossen. Danach w?rde die ?berlicht-Arche nicht mehr erreichbar sein, und Alma selbst w?rde von der Flut eingenommen werden und sowieso aufh?ren zu senden. Die Arche w?rde auf sich allein gestellt sein.

Aber die Entfernung war auch jetzt schon ein Problem. Die Erde war fünf Lichtminuten entfernt, so dass Gordo die EVA nicht mehr direkt zu betreuen vermochte. Dafür konnte Venus nichts. Wenn die Lichtgeschwindigkeit nicht wäre, würde Gordo ihn auf dieselbe Weise zusammenstauchen. Und er musste sich sowieso eingestehen, dass es ihm wirklich ein bisschen besser ging, weil er sich ein paar Sekunden ausgeruht hatte.

»Kuppel, Argent. Okay, Venus, ich bin so weit.«

»Bitte nicht aus dem Wagen lehnen.«

»Roger.« Dieser Spruch war das Mantra der Simulationsleiter in Gunnison gewesen, vielfach alternde Veteranen des Raumfahrtprogramms vor der Flut. Da alle Vergnügungsparks auf der Erde geschlossen worden waren, bevor Wilson oder Venus das Licht der Welt erblickt hatten, wusste keiner der Kandidaten, was er bedeutete. Aber es war wie ein Glückwunsch, als er nun wiederholt wurde.

Der Arm vibrierte. Wilson spürte das Summen der Hydraulik, und dann wurde er sanft vom Modul weggeschwenkt.


Er stieg durch ein Gewirr von Streben, Holmen, Rohren und Kabeln nach oben. Es fühlte sich an, als würde er sich schnell bewegen, und er kam beunruhigend nahe an einigen der schweren Streben und Tankwände vorbei. Außerdem wackelte und vibrierte der Arm mehr, als er nach den Simulationen erwartet h?tte, aber schlie?lich stellte er selbst ja eine schwere Masse am Ende einer langen Konstruktion mit vielen Gelenken dar. Er konzentrierte sich auf seine Atmung und achtete darauf, keine Miene zu verziehen. Er wollte keine Endlosschleifen seines Gesichts mit hervorquellenden Augen und ver?ngstigter Miene auf den Bildschirmen in den Modulen und auf der Erde.

Schon nach ein paar Sekunden hatte er das Orion-Gerüst hinter sich gelassen, und der Arm hob ihn aus dem Schatten. Die Sonne ging auf, eine Laterne, die hinter dem Schiffsbug hing, und seine Sichtscheibe färbte sich sofort dunkel und sperrte einen Großteil des grellen Lichts aus. Irgendwo da draußen waren Sterne, die Erde und der Mond, die Planeten, aber er sah nichts als die Sonne.

Als er noch höher stieg, hatte er schließlich einen guten Blick auf die Arche in ihrer vollen Länge – der erste Mensch seit dem Start, der das mit bloßem Auge sah, rief er sich mit einigem Stolz ins Gedächtnis, obwohl seit der Abschaltung der Orion Roboterdrohnen zu Inspektionen hinausgeschickt worden waren. Die beiden Module des Schiffes waren noch immer in die Komponenten der Orion-Startstufe eingebunden – Module, die jetzt Seba und Hawila hießen, nach den Brüdern des biblischen Nimrod, allesamt Urenkel von Noah. Er sah die Raumfähren, die sie eines Tages zur Oberfläche der Erde II hinunterbringen würden, vier leuchtend weiße Nachtfalter, die sich an die Flanken der Module klammerten. Eine Konstellation künstlicher Lichter verteilte sich über das gesamte wirre Archenkonstrukt, und das Sonnenlicht tüpfelte Glanzlichter auf poliertes Metall. Das ganze Gebilde sah außergewöhnlich schön aus, dachte er, wie es so im interplanetaren Raum trieb, und dennoch merkwürdig, nicht so sehr wie ein Raumschiff als vielmehr wie eine Industrieanlage, die irgendwie aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen und ins Licht geschleudert worden war. All dies w?rde beim Jupiter auseinandergenommen und neu zusammengebaut werden, wenn die Orion ausrangiert und die Arche f?r ihre interstellare Reise vorbereitet wurde. Aber vorher w?rde die Orion noch einmal feuern m?ssen, um die Arche abzubremsen und in die Jupiterumlaufbahn zu bringen. Und darum musste Wilson diese Inspektion der Prallplatte durchf?hren. W?hrend der Startsequenz hatte es zwei Fehlz?ndungen von Pulseinheiten gegeben, die erste nur ein paar Sekunden nach dem Abheben. Es musste ?berpr?ft werden, ob das Schiff durch die l?ngs verlaufende Ersch?tterung aufgrund dieser ausgebliebenen Pulse oder die Prallplatte durch etwaige fehlplatzierte Bomben Schaden genommen hatte.

Als er an seinen Füßen vorbei nach unten schaute, konnte er die matten roten Lichter der Kuppel ausmachen, in der Venus saß und ihm auf seinem Weg folgte. Die Kuppel war ein weiteres Relikt der Raumstation, eine seitlich an Seba angebrachte, hexagonale Glasblase; die Lukendeckel der Fenster waren aufgeklappt. Sie war Venus’ Reich, und während des größten Teils der Mission würde Venus darin ihre astronomischen Beobachtungen durchführen und die Lenk-, Navigations- und Kontrollfunktionen wahrnehmen, für die sie zuständig war. Aus einem spontanen Impuls heraus winkte er und sah Bewegung im Innern der Kuppel, einen Schatten in der heruntergedimmten augenschonenden Beleuchtung.

»Wir sehen dich, Wilson.«

»Kuppel, ich sehe euch auch, ihr seht gut aus.«

»Wie sieht das Schiff aus?«

»Aus dieser Perspektive kann ich keinen offensichtlichen Schaden erkennen. Keine Anzeichen von Leckagen aus den Wandtanks.? Ein gro?er Teil des Wassers, das die Arche mitf?hrte, befand sich in d?nnen, gebogenen Tanks direkt unter der Au?enhaut jedes Moduls; das um die Wohnbereiche herum liegende Wasser bot einen gewissen Schutz vor der kosmischen Strahlung. ?Versengte Stellen um die Steuerd?sen herum. Vielleicht ein paar Narben in den W?rmeisolierungskacheln der Nasenverkleidung. ?

»Der Geigerzähler zeigt keine Überreste der Orion-Bomben an deiner Position, Wilson. Nur kosmische Hintergrundstrahlung. «

»Wie beruhigend«, sagte er trocken. Der Arm knickte in seinen diversen Gelenken ab und schwenkte ihn wieder davon. Er passierte die riesigen Säulen der Stoßdämpfer-Kolben und näherte sich dem unteren Ende des Schiffes. Der kreisrunde Rand der Prallplatte war jetzt deutlich sichtbar, er schimmerte im beständigen Sonnenlicht. »Ich sehe die Platte. Trete bald in ihren Schatten ein.«

»Roger, Wilson. Geh kein Risiko ein.«

»Bestimmt nicht.« Als der scharfe Rand der Platte näher kam, schloss er die Hände fest um die Motorrollergriffe und bemühte sich, seine Gesichtsmuskeln unter Kontrolle zu halten und gleichmäßig zu atmen. »Auf geht’s …« Verdammt, seine Stimme war ein Quieken.

Der Arm sank herab, und der Rand der Platte glitt über das gleißende Licht der Sonne und tauchte ihn in Dunkelheit. Ein paar Sekunden lang reagierte seine Sichtscheibe nicht auf die Veränderung der Lichtstärke, und er war im Dunkeln gestrandet. Der Arm blieb stehen; langsame Vibrationen durchliefen ihn auf ganzer Länge. Er fühlte sich sehr weit entfernt und sehr zerbrechlich am Ende dieser merkwürdigen hydraulischen Hebebühne.

Dann klärte sich die Sichtscheibe, und Lampen am Arm leuchteten auf und ließen Licht über den Stahlgong vor ihm spielen. »Ich bin da«, sagte er. »Ich sehe die Platte.« Er streckte die Hand aus. »Fast so nah, dass ich sie anfassen kann.«

»Roger, Wilson. Immer mit der Ruhe. Mach nochmal eine Pause, damit deine Augen sich anpassen können. All deine Systeme stehen auf Grün, deine Verbrauchsstoffe sind in Ordnung. Du könntest noch zwölf Stunden da draußen bleiben, wenn es sein müsste. Du hast jede Menge Zeit.«

»Verstanden.«

Er unternahm eine bewusste Anstrengung, ruhiger zu atmen. Er drehte sich um und schaute dorthin zurück, woher er gekommen war. Er sah die Erde und den Mond – jetzt, wo die Prallplatte die Sonne verdeckte, hingen sie gut sichtbar im Raum. Beide zeigten Halbphasen, getrennt nur vom ungefähren Durchmesser des Mondes, von der Erdoberfläche aus gesehen. Er reckte den Daumen und konnte damit beide Zwillingswelten verdecken. Als sie in den ersten paar Tagen zu dem entschwindenden Heimatplaneten zurückgeschaut hatten, waren sie alle schockiert gewesen, wie wenig Landfläche dort noch übrig war. Selbst Colorado, das ihnen so groß erschienen war, als sie dort unten gelebt hatten, bestand nur aus vereinzelten schlammigen Inseln und wurde von den riesigen, wie geronnen wirkenden Wolkenmassen der halbpermanenten Stürme bedroht, die diese Meereswelt heimsuchten. Von hier aus konnte er jedoch keine Details mehr erkennen.

Sie waren schon so weit gekommen. Der kurze, explosive Start der Orion hatte sie geradewegs von der Erde fortgeschleudert, ohne Aufenthalt in der Umlaufbahn, und nun würden sie mit nur geringfügigen Kurskorrekturen bis zum Jupiter fliegen und immer langsamer werden, während sie sich aus dem Schwerkraftschacht der Sonne hocharbeiteten. Momentan waren sie jedoch mit erstaunlicher Geschwindigkeit unterwegs: f?nfundachtzigtausend Fu? pro Sekunde in Gordos Astronauteneinheiten, oder sechsundzwanzig Kilometer pro Sekunde, oder achtundf?nfzigtausend Meilen pro Stunde. Das war mehr als doppelt so schnell, wie irgendein Mensch von ihnen durchs All geflogen war; bisher hatte eine Apollo-Crew den Rekord gehalten.

Selbst bei solchen Geschwindigkeiten ging man davon aus, dass die Reise ein Jahr dauern würde. Aber in ihren bisherigen vierzig Tagen waren sie schon ungefähr neunzig Millionen Kilometer weit geflogen – mehr als die zweihundertfache Strecke von der Erde zum Mond, ungefähr ein Zehntel der Entfernung zum Jupiter, um Größenordungen weiter von der Erde weg als irgendein Mensch vor ihnen. Selbst das Licht brauchte eine nicht zu vernachlässigende Zeit, um solche Distanzen zu überbrücken. Es war ein erstaunlicher Gedanke, dass das Bild der Erde, das er sah, schon fünf Minuten alt war.

Vor seinen Augen traten langsam die schweigenden Sterne hervor und füllten den sonnenlosen Himmel hinter der hellen Erde.

»Argent, Kuppel. Alles okay da draußen, mein Großer?«

»Ja. Ich genieße nur gerade die Aussicht.«

»Bereit, weiterzumachen?«

»Roger.«

»Der Arm bringt dich jetzt zum Plattensektor Eins-A …«

Der Arm setzte sich erneut vibrierend in Bewegung und schwenkte ihn näher an die Prallplatte heran. Seufzend wandte er sich von der Erde ab.


47



Grace Gray fand Kelly Kenzie an ihrem Platz auf dem vierten Deck von Seba, ein paar Minuten, bevor die Sitzung des Crew-Rats beginnen sollte. Grace zog sich an einem der Seile, die zwischen den Decks gespannt worden waren, um die Mobilität während dieser schwerelosen Reise zu erleichtern, von Deck fünf herauf und drehte sich, um mit den Beinen voran anzukommen. Sie hatte einen Handheld dabei und ließ ihn nun durch die Luft trudeln.

Kelly fing ihn mühelos auf und begann, ihn zu inspizieren. Sie saß neben Holle Groundwater und Zane Glemp, die Beine um die Haltestange ihres T-Hockers geschlungen. Auf dem Tisch vor ihr lagen Handhelds und Notizblöcke, festgehalten von Klettstreifen; ein paar Griffel schwebten auch in der Luft. Kelly wirkte gestresst und übernächtigt. Grace wusste, dass sie die ersten paar Monate ihres Kommandos dieser Trans-Jupiter-Mission härter als erwartet gefunden hatte. Aber schließlich war sie auch mit Problemen konfrontiert, mit denen keiner von ihnen gerechnet hatte.

Holle lächelte Grace zu und schenkte ihr Kaffee ein. Dazu musste sie die Flüssigkeit aus einer Thermosflasche in einen Becher mit einer Tülle spritzen, der der Schnabeltasse eines Babys ähnelte.

»Danke.« Grace nippte vorsichtig an dem Kaffee. Er schmeckte ziemlich widerlich und würde wahrscheinlich noch widerlicher werden, wenn ihnen in ein paar Jahren die komprimierten, gefriergetrockneten Ingredienzien ausgingen. Sie nahm mit dem R?cken an einer Wand Platz.

Kelly hackte auf dem Handheld herum und scrollte durch Graces Bericht, wobei sie hin und wieder unterdrückte Flüche vor sich hin murmelte. »Ist das die komplette Erhebung?«

»Ich habe mit jedem in beiden Modulen gesprochen«, sagte Grace. »Ich habe ihre Bordmarken, soweit vorhanden, und ihre biometrischen IDs überprüft. Ich habe sogar ihre Namen von unabhängiger Seite verifizieren lassen und ihre Behauptungen bezüglich ihrer Qualifikationen und ihres genetischen Hintergrunds mit Gordo am Boden gecheckt.«

»Hattest du keine Schwierigkeiten, die Daten zu kriegen?«, fragte Grace.

Grace zuckte die Achseln. »Es ging schon. Ich schätze, die Tatsache, dass ich zu keiner der Fraktionen gehöre, war von Vorteil. Alle misstrauen mir gleichermaßen.«

Holle musterte Graces Bauch. »Du bist jetzt im neunten Monat, aber du kommst mit der Schwerelosigkeit besser zurecht als manch anderer von uns Kandidaten. Das Leben im All ist echt ätzend, was? All die Kleinigkeiten. Man kann sich nicht so waschen oder duschen wie auf dem Boden. Man kann sich nicht mal die Zähne putzen, ohne dass einem Zahnpasta in die Augen fliegt …«

Grace lächelte vorsichtig. Holle war so ziemlich die offenste unter den Kandidatinnen und Kandidaten, und sie war immer freundlich gewesen, seit Gordo ihr Grace letztes Jahr aufs Auge gedrückt hatte. Aber selbst Holle kam ihr verwöhnt vor. Die Kandidaten meckerten ständig über ihr Los und zeigten nur selten Mitgefühl mit der schrecklichen Lage jener Millionen, vielleicht sogar noch Milliarden, die auf der im Wasser versinkenden Erde litten. Grace t?tschelte ihren Bauch. ?Ich finde das nicht so tragisch. Die Raumkrankheit war nicht schlimmer als die morgendliche ?belkeit. Und die Schwerelosigkeit hilft mir, diesen Klumpen herumzuschleppen, sch?tze ich.? Allerdings traten andere Nebenwirkungen auf. Manchmal gab ihr K?rper erschreckende gurgelnde Ger?usche von sich, wenn er das Fehlen des Schwerefelds zu kompensieren versuchte, in das jedes andere Baby seit Kain und Abel hineingeboren worden war. Aber zumindest w?rde sie nicht die Erste sein, die hier drau?en im Weltraum ein Kind bekam; zwei bei der Einschiffung ebenfalls schon schwangere Kandidatinnen hatten bereits erfolgreich in Doc Wetherbees fachkundigen, wenn auch ?berlasteten H?nden entbunden, und die genetische Diversit?t der Crew hatte folglich zugenommen.

»Da kommen sie«, sagte Kelly. »Wird Zeit, die Schutzwesten anzulegen, Amigos.«

Grace schaute sich um. Die Leute kamen von allen Seiten auf Kellys Platz zu, über die Rutschstange durch die Decks oder durch den Verbindungstunnel vom zweiten Modul.

Kelly hatte ihre engsten Verbündeten bereits bei sich, Zane, Holle und Venus, die per Monitor aus der Kuppel zugeschaltet war, wo sie Wilson Argents Außenbordeinsatz überwachte. Nun erschienen auch andere Kandidaten: Joe Antoniadi, großäugig wie immer, als wäre die Welt eine unausgesetzte Überraschung, Thomas Windrup und Elle Strekalow, die aneinanderklebten, und Cora Robles, die missmutig und gelangweilt dreinschaute, ein Partygirl, fünf Lichtminuten vom nächsten Club entfernt. Doc Wetherbee kam ebenfalls; er brachte einen eigenen Handheld mit und trug eine wütende Miene zur Schau.

Dann trafen ein paar der »Eindringlinge« ein, wie die Kandidaten abschätzig Leute wie Grace nannten, die der Crew in einem sp?ten Stadium des Auswahlprozesses durch spezielle Interessengruppen aufgezwungen worden waren. Theo Morell wirkte noch nerv?ser als sonst. Und es kamen auch einige der noch beleidigender etikettierten ?Illegalen? ? abtr?nnige Elemente aus den Sicherheitstruppen, die, angeblich mit der Aufgabe betraut, das Schiff zu bewachen, in den letzten Momenten selbst an Bord gest?rmt waren. Grace kannte mittlerweile ihre Namen, zum Beispiel die Shaughnessy-Br?der sowie Jeb Holden und Dan Xavi, zwei knallhart aussehende ehemalige Eye-Dees. Die Illegalen wurden inoffiziell von Masayo Saito angef?hrt, einem jungen japanisch-amerikanischen Lieutenant, dem h?chstrangigen Milit?rangeh?rigen an Bord. Masayo behauptete, er sei nicht freiwillig hier, sondern einfach von den anderen mitgerissen worden. Grace glaubte ihm sogar; sie hatte Bilder der Frau und des Babys gesehen, die er auf der Erde zur?ckgelassen hatte und jetzt vermutlich nie wiedersehen w?rde.

Nachdem das Triebwerk der Orion erloschen war und sie angefangen hatten, sich frei im Schiff und durch den Verbindungstunnel zwischen den beiden Modulen zu bewegen, war Grace erstaunt über den Anblick der Illegalen in ihren verschmutzten, blutbesudelten Militäruniformresten gewesen. Sie kannte nicht einmal die Hälfte der Eindringlinge. So viele Leute hatten es aufs Schiff geschafft, die sie noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Aber alle waren jung, fast alle jünger als Grace mit ihren sechsundzwanzig Jahren. Nun, die meisten Militärangehörigen, die an vorderster Front kämpften, waren jung, also war das vielleicht nicht weiter überraschend.

Der Raum begann sich zu füllen. Die Mitglieder der Crew drängten sich um Kellys Tisch, suchten sich Streben an der Wand oder der Decke, wo sie wie Fledermäuse hingen, und kleckerten herum, indem sie Kaffeebecher von einem zum anderen segeln lie?en. Von den Decks ?ber und unter ihnen, gut sichtbar durch die Gitterabtrennungen, kam ein konstanter Radau. Das Modul ma? von einer gekr?mmten Wand zur anderen nur acht Meter. Racks mit rundem R?cken, die an jeder Wand standen ? Ausr?stungslager und Magazine, die alles enthielten, was man f?r einen bis zu zehnj?hrigen Aufenthalt auf einem Sternenschiff brauchte ?, reduzierten das verf?gbare Volumen noch mehr. Grace hatte genug von der Konstruktion des Moduls gesehen, um zu glauben, dass es ein Wunderwerk der Packkunst, der Raum- und Speichereffizienz war. Es gab einfach nur nicht genug freien Raum, verdammt nochmal. Manchmal kam es ihr so vor, als lebten sie in einem riesigen, ?berf?llten Treppenschacht, oder vielleicht in einem Gef?ngnis.

Als gestiefelte Füße vor ihrem Gesicht herumwedelten, kauerte Grace sich zusammen und träumte davon, über eine leere Prärie zu wandern.


Schließlich waren sie vollzählig versammelt, und Kelly klopfte mit einem Griffel auf die Tischplatte, um sie zur Ordnung zu rufen.

»Okay, Sitzung des Schiffsrats heute, am vierzehnten Februar 2042. Den Vorsitz führt Kelly Kenzie.«

»Alles Gute zum Valentinstag, Schnuckelchen«, rief einer von Masayos Jungs, und es gab gedämpftes Gelächter.

Kelly ignorierte es mit steinerner Miene. »Die Diskussion wird später nach Alma übertragen, zwecks Anmerkungen und Ratschlägen. Beginnen wir mit den Sektionsberichten. Zane, willst du den Anfang machen?«

Zane war der offizielle Leiter eines Teams, das sich mit den exotischeren technischen Angelegenheiten befasste. Der Antrieb der Orion sei fürs Erste abgeschaltet und gesichert worden, ohne dass größere Defekte aufgetreten seien, berichtete er, und vorbehaltlich des Ergebnisses von Inspektionen wie derjenigen, die Wilson gerade durchf?hrte, scheine es keinen Grund zu geben, warum der Antrieb ihnen nicht ebenso gute Dienste leisten solle, wenn sie zum Jupiter kamen. ?Am Ende werden wir wahrscheinlich noch einen Haufen Atombomben ?brig behalten?, sagte er.

Unterdessen sollten die Prometheus-Reaktoren bald einsatzfähig sein. Das waren hoch entwickelte Triebwerke, die auf Konstruktionsentwürfen für ein dann doch nicht gebautes unbemanntes Raumfahrzeug namens Jupiter-Eismonde-Orbiter beruhten. Wenn sie die Arbeit aufnahmen, würden die Treibstoffzellen entlastet werden. Und die vorläufig in den unteren Sektionen der Module untergebrachte Warp-Blasen-Ausrüstung, die im Jupiterorbit montiert werden sollte, schien durch die Ereignisse beim Start keine Schäden davongetragen zu haben.

Venus meldete sich aus der Kuppel und berichtete, ihr Planetensuchprojekt sei probehalber gestartet worden. Eigene Forschungen sollten die Beobachtungen von Teleskopen in der Erdumlaufbahn wie dem Hubble und noch vorhandenen terrestrischen Instrumenten wie denen in Chile ergänzen. Die nützlichste Arbeit würde in den Monaten geleistet werden, die sie im Jupiterorbit in einer konstanten Entfernung von der Erde verbrachten; dann würden sie ernsthaft daran gehen, das Ziel der Arche auszuwählen. Zugleich trug Venus auch die Verantwortung für GN & C, ein NASA-Acronym für »guidance, navigation and control« – das Leit-, Navigations- und Kontrollsystem des Schiffes. Sie gab die Ergebnisse ihrer jüngsten Kurskorrektur hinsichtlich der Exaktheit ihrer Flugbahn auf drei Achsen bekannt: »Minus eins, plus eins, plus eins. Viel besser geht’s nicht.«

»Okay. Holle?«

Holle Groundwater leitete ein Team, das für prosaischere Aspekte der Schiffssysteme zuständig war, aber sie rasselte ihre Akronyme ebenso lässig herunter wie die anderen. »Comms« – Kommunikationssysteme – verstand Grace ohne Weiteres. »EPS« stand für »electrical power system«, die Schiffselektrik. »ECLSS« – »environmental control and life support system« – war das Lebenserhaltungssystem, ein Verbund komplizierter Mechanismen zur Reinhaltung der Luft und zur Wiederaufbereitung des Wassers, von denen ihrer aller Leben abhing. Das Ziel war hoch gesteckt. Zwar würde es immer Lecks und Schwund geben, aber sie strebten danach, die Kreislaufsysteme der Luft, des Wassers und anderer lebenswichtiger Stoffe so weit geschlossen zu halten, dass sie jahrelang funktionierten. Momentan führte Holle mit ihrem Team eine aufwendige Abfolge von Konfigurationen und Tests durch, um ihre Systeme in den Normalzustand für den Flug zu versetzen. Dazu gehörte auch die Einrichtung eines Hydro-Gartens auf dem untersten Deck von Seba. Bisher, meldete sie, laufe alles gut.

Die Ungebetenen und Illegalen hörten sich das alles schweigend an. Die Sektionsleiter waren natürlich allesamt Kandidaten und für ihre Aufgabe ausgebildet. Allein das machte schon die Spaltungen in der Crew deutlich.

Doc Wetherbee berichtete als Letzter. Er war erst vierundzwanzig Jahre alt und ebenfalls Kandidat. Zusätzlich zu seiner formalen Ausbildung war er als praktischer Arzt in Denver tätig gewesen, in Notaufnahmen sowie in Triage-Teams in Eye-Dee-Camps und Auffangzentren. Während er mit einem Auge seinen Handheld im Blick behielt, gab er einen kurzen Überblick über den allgemeinem Gesundheitszustand der Crew; nur drei Personen litten noch unter der Weltraumkrankheit, weitere zwei hatten Probleme mit dem Flüssigkeitshaushalt. Die Frau, die sich das Bein gebrochen hatte, als ihre Liege beim Start zusammengebrochen war, befand sich auf dem Wege der Besserung ? wie auch ein Illegaler, der sich einen Kn?chel gebrochen hatte, als er einen Kandidaten verpr?gelte. Wetherbees medizinische Vorr?te waren bisher weniger stark beansprucht worden als erwartet.

»Unseren beiden neuen Müttern und ihren Babys geht es gut«, schloss er. »Damit bleibt mir nur noch eine Frage: Gibt es einen Arzt im Haus? Außer mir, meine ich.«

Eine allgemeine Unruhe entstand; der kritische Punkt der Zusammenkunft näherte sich. Wetherbee war verständlicherweise wütend über das Ergebnis des Starts, denn zu denen, die nicht an Bord gelangt waren, gehörte auch Miriam Brownlee, eine fähige Psychiaterin und Chirurgin – und Wetherbees Geliebte.

»Grace, du hast die Erhebung durchgeführt«, sagte Kelly und warf ihr den Handheld zu. »Willst du das beantworten?«

Grace fing das Gerät auf. »Okay. Ihr wisst alle, dass der Einschiffungsprozess am Starttag völlig chaotisch abgelaufen ist. Auf Kellys Bitte habe ich eine simple Überprüfung durchgeführt, wer tatsächlich an Bord dieses Schiffes ist – wer ihr seid, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten ihr besitzt, welche Krankheiten oder anlagebedingten Störungen ihr habt und so weiter. Ich habe euch alle um Daten gebeten, wie auch um eine Bestätigung dessen, was eure Freunde mir erzählt haben.

Hier kurz zusammengefasst die Ergebnisse. Die Details lade ich ins Schiffsarchiv hoch, wenn der Rat einverstanden ist. Die offizielle Crew bestand aus achtzig Erwachsenen. Tatsächlich sind achtundsiebzig Erwachsene an Bord. Das hat die Zählung ergeben, die wir gleich am ersten Tag durchgeführt haben.«

»Die Meuterei hat also dazu geführt, dass wir die Erde mit zwei leeren Kojen verlassen haben«, sagte Kelly. »Sprich weiter.«

»Von den achtundsiebzig sind neunundvierzig Kandidatinnen und Kandidaten. Von den Übrigen sind neunundzwanzig später zur Crew hinzugekommen, aber mit formeller Billigung des Kommandoteams unter Gordo Alonzo auf dem Boden. Dazu gehöre ich selbst. Bleiben also acht, die in diesen letzten Augenblicken, bevor die Gangway hochgezogen wurde, an Bord gekommen sind.«

»Sprich es doch aus«, sagte Masayo Saito. »Wir haben alle gehört, wie ihr uns nennt. Illegale.«

»Was das Sanitätspersonal angeht«, fuhr Grace ungerührt fort, »so war ursprünglich geplant, drei Ärzte mit Fachkenntnissen in Chirurgie, Psychiatrie, Kinderheilkunde und anderen Gebieten an Bord zu haben.«

Wetherbee fragte: »Und nach deiner sorgfältigen Umfrage beträgt die Anzahl ausgebildeter Ärzte, die es tatsächlich an Bord geschafft haben …«

»Einer. Du, Mike. Ist einfach Pech, schätze ich. Tut mir leid.«

Er lachte bitter. »Ist ja nicht deine Schuld.«

»Was für ein Schlamassel«, sagte Kelly. »Was noch, Grace? Wie steht’s mit Erste-Hilfe-Kenntnissen?«

»Da stehen wir besser da. Alle Kandidaten haben eine ordentliche Ausbildung in Erster Hilfe oder Erstversorgung. Ebenso wie Masayo und einige seiner Jungs.«

»Da habt ihr’s«, sagte Masayo. »Ihr braucht uns also doch.«

»Aber wir sind in hohem Maße auf Doc Wetherbee hier angewiesen«, meinte Kelly. »Gordo Alonzo wird uns ganz schön aufs Dach steigen, damit wir eine Möglichkeit finden, ihn zu unterstützen. Hör mal, Mike, ich will dich nicht noch zusätzlich unter Druck setzen. Aber vielleicht k?nntest du zusammen mit Grace die vielversprechendsten Sanit?ter unter den Kandidaten herauspicken. ?berleg dir ein Ausbildungsprogramm. Vorl?ufig haben wir noch Fernunterst?tzung vom Boden; solange es nicht um Chirurgie oder um Traumaf?lle geht, wird das wohl eine Hilfe sein.?

»Aber wir werden den Kontakt verlieren, sobald wir in den Warp-Modus wechseln«, sagte Zane kalt. »Und wenn die Wellen sich über Alma schließen.«

»Das weiß ich, Zane«, blaffte Kelly. »Aber bis dahin haben wir noch Zeit, Lösungen zu finden. Wie steht’s mit der genetischen Diversität, Grace? Die Sozialingenieure haben ihre Auswahlparameter sogar bei den Eindringlingen beizubehalten versucht. «

»Um das umfassend beantworten zu können, müssen wir eine DNA-Analyse durchführen«, sagte Grace. »Aber von den Militärangehörigen ist nur eine Person weiblich. Und zwei sind sogar Brüder, die Shaughnessys.«

»Brüder.« Mike Wetherbee lachte bellend. »Herr im Himmel! Selbst das haben wir verbockt.«

»Soll das jetzt bis zum Scheiß-Jupiter so weitergehen?«, fragte Masayo grollend.

Kelly verschränkte die Arme. »Ich mag euch nicht, und auch nicht die Art, wie ihr euch Zutritt zum Schiff verschafft habt. Aber jetzt sitzen wir alle in diesem Kahn fest, und zwar für den Rest unseres Lebens. Und wir haben keinen Platz für Leute, die nichts leisten, Masayo.«

»Schön«, sagte Masayo. »Wir wollen ja arbeiten.«

»Gut. Holle?«

Holle ließ den Blick lächelnd über die Gruppe schweifen. Sie sah aus, als machte ihr die Versammlung Spaß. Die Spannung lie? merklich nach. Grace bewunderte ihr unauff?lliges Geschick. ?Wir m?ssen dringend eine Wartungsroutine einf?hren. Wir sind achtundsiebzig Personen, in einen engen Raum gezw?ngt. ?

»Ja, und mir scheint’s ein verdammt enger Raum zu sein«, sagte Masayo. »Wie viel Platz haben wir eigentlich?«

Holle tippte auf ihrem Handheld herum und suchte nach Zahlen. »Ihr wisst ja, dass die beiden Module auf Ares-Treibstofftanks basieren – ihrerseits abgeleitet vom Außentank der alten Space Shuttles. Jedes ist ein Zylinder von ungefähr acht Metern Durchmesser und fünfzig Metern Länge. Ein Teil des Durchmessers wird von den Wassertanks unter der Hülle, den Ausrüstungs-Racks und so weiter eingenommen. Uns bleiben ungefähr viertausendsiebenhundert Kubikmeter Wohnraum in den Modulen. Das ist ungefähr das Dreifache der Druckkabine einer Boeing 747. Ungefähr das Fünffache des verfügbaren luftgefüllten Raums in der ISS …«

»Aber eine dreizehn Mal so starke Crew«, warf Kelly ein.

»Und leider steht uns momentan noch nicht einmal der maximale Raum zur Verfügung, weil wir im unteren Drittel jedes Moduls die Komponenten des Warp-Generators unterbringen mussten.

Es wird harte Arbeit sein, ein solch geringes Raumvolumen bewohnbar zu erhalten. Wir werden dir und deinen Jungs die Grundlagen des Raumflugs beibringen, Masayo. Zum Beispiel: All das Zeug, das bei Schwerkraft zu Boden fällt, der Staub, der sich absetzt, also, in der Mikrogravitation tut er das nicht, und darum ist unsere Atemluft voller Unrat – darunter auch Stückchen von uns selbst. Wir werden jeden Tag die Wände abschrubben müssen, wenn wir uns nicht Algenwachstum und Schimmel zuziehen wollen. Außerdem müssen wir Brennstoffzellen reinigen, Batterien aufladen, Abwasser sammeln, Kohlendioxid-Scrubber-Beh?lter auswechseln, Trinkwasser chlorieren und so weiter. Wir m?ssen Dienstpl?ne aufstellen. Ich poste Entw?rfe ins Schiffsarchiv, wenn wir fertig sind.?

Masayo verschränkte die Arme. »Wir sollen für euch die Putzkolonne machen. Das willst du doch sagen.«

Kelly beugte sich vor. »Wenn ihr Fertigkeiten besitzt, die wir auf diesem interstellaren Raumschiff gegenwärtig dringender brauchen, dann lasst es mich wissen. Auf längere Sicht, mit Hilfe vom Boden, können wir herausfinden, wie wir das Beste aus den Fähigkeiten und Erfahrungen machen können, die jeder von uns mitbringt. Aber vorläufig, ja, da werdet ihr putzen. Und ich auch, so wie wir alle. Wenn du deine Dienstpläne aufstellst, Holle, setz mich und Lieutenant Saito für die erste Periode an die Spitze der Wandschrubbertruppe.«

Holle nickte.

Kelly schaute auf den Tisch und sah dann die Anwesenden an, die in verschiedenen Winkeln in der Luft um sie herumschwebten. »Okay, ich schätze, diese Versammlung war produktiv. Aber sie ist nur ein Anfang. Wir werden einfach lernen müssen, miteinander auszukommen. Und füreinander wie auch für das Wohl des Schiffes zu arbeiten. Ganz egal, welche Differenzen wir sonst haben, ich hoffe, wir können uns darauf einigen. Noch irgendwas? Nein? Dann sind wir hier fertig.«

Doch als die Versammlung sich auflöste, bedeutete Kelly Holle und Grace, noch zu bleiben.


Sobald Masayo und seine Jungs außer Hörweite waren, sagte sie leise: »Wie steht’s mit Waffen? Diese Gang kleiner Soldaten muss bewaffnet an Bord gekommen sein. Grace, hast du irgendeinen Hinweis darauf, wo sie ihre Kanonen versteckt haben?«

Grace schüttelte den Kopf. »Bin nicht auf die Idee gekommen, danach zu fragen. Da musst du mit Masayo reden.«

Kelly wirkte geistesabwesend. »Nein«, sagte sie. »Ich kann mir in dieser Sache keine Konfrontation leisten. Holle, ich möchte, dass du dir ein paar Leute holst. Mindestens zwei für jeden Illegalen. Führt eine Razzia durch. Drückt sie zu Boden und nehmt ihnen die verdammten Knarren ab. Such dir ein paar kräftige Typen, denen du vertrauen kannst. Wilson zum Beispiel.«

Holle machte ein skeptisches Gesicht. »Das wird auf lange Sicht Probleme verursachen.«

»Soll Masayo ruhig keifen. Besser als Waffen im Innern der Druckmodule. Erledige das.« Sie schaute auf eine Uhr, die auf Alma-Zeit eingestellt war, so wie alle Uhren im Schiff. »Ich muss nachsehen, wie Wilson mit seiner EVA vorankommt.«


48



Grace Grays Lieblingszeit jedes Tages auf der Arche war dessen Ende.

Das Kontrollzentrum in Alma hatte der Crew in ihren beiden Modulen ein Drei-Schichten-System verordnet, so dass erst Seba und dann Hawila eine Schicht schlief; anschließend waren beide wach. Auf diese Weise war jederzeit zumindest die Hälfte der Crew wach und einsatzfähig, was die Chancen erhöhte, dass die Arche als Ganzes ein etwaiges plötzliches Unglück überstand.

In beiden Modulen gab es jedoch keine richtige Privatsphäre, außer in den mit Türen versehenen Toiletten, obwohl ihnen für die lange interstellare Reisephase eine Unterteilung der großen Räume versprochen worden war. Das hieß, dass man lernen musste, wie in einem riesigen Schlafsaal zu schlafen, mit anderen über und unter einem, deren Stöhnen und Schnarchen nur allzu gut hörbar und deren Liegen durch das Gitter des Decks sichtbar waren, und man sah geisterhafte Gestalten hin und her schweben, lautlos und schwerelos wie Seifenblasen.

Dennoch hatte Grace gelernt, jene Momente zu genießen, wenn sie sich im Innern eines Kokons aus Schlafsack und Decke locker auf ihrer Liege festschnallte. Dies war das Beste an der Mikrogravitation, weit weg von den kleinen Ärgernissen des Tages, wenn man durch den Müll anderer Leute oder Wolken von losem Zeug schwebte – Schraubenzieher, Plastikfetzen, Stücke von Dichtungsmaterial ?, alles Beweise f?r den eiligen Bau des Schiffes. Auf der Liege hingegen schwebte man, als l?ge man im bequemsten Bett der Erde.

Und wenn die Schlafperiode begann, wandten sich die auf Wandstützen montierten, allgegenwärtigen Kameras ab. Die Erde musste einem nicht beim Schlafen zusehen, weder das Kontrollzentrum noch die Öffentlichkeit, die, wie Gordo ihnen versicherte, ansonsten jede ihrer Bewegungen beobachtete, als wäre das Schiff eine Realityshow mit dem einzigen Daseinszweck, die Menschen von der schrecklichen Wahrheit der Flut abzulenken. Die Quoten seien enorm, sagte Gordo. Grace glaubte, dass die ständige Überwachung den Ausbruch von Konflikten an Bord des Schiffes verhinderte, darum hatte sie keine Einwände dagegen, aber es war angenehm, wenn sich die elektronischen Augen abwandten.

Und dann pflegte Kelly Kenzie ihre letzte Runde zu machen, eine visuelle Inspektion, dass alles in Ordnung war. Das war ein gesunder Instinkt von Kelly, dachte Grace, eine Art, Bindungen zu ihrer Crew zu entwickeln. Vielleicht würde es voreilige Handlungen wie die geplante Razzia nach Waffen aufwiegen. Wenn Kelly vorbeikam, sorgte sie dafür, dass die Schiffssysteme die Lichter im Modul eins nach dem anderen auf die Notbeleuchtung herunterdimmten. So wurde es in den Sektionen des Moduls dunkel, wenn sie vorbeischwebte.

Einmal, in Graces Zeit bei Walker City – sie war nicht älter als zwölf oder dreizehn gewesen –, hatten die Wanderarbeiter für sechs Monate bei einem Bauprojekt in der Nähe von Abilene, Texas, haltgemacht, um dort zu arbeiten. Einer ihrer Gefährten, ein Engländer namens Michael Thurley, war als Katholik aufgewachsen, und als er eine kleine, hübsche katholische Kirche in der Stadt entdeckt hatte, war er dort öfters zur Messe gegangen. Ein paarmal hatte Grace bei ihm gesessen. Am besten hatte ihr das Ende des Gottesdienstes gefallen, wenn ein Messdiener in der Kirche herumging und Kerzen l?schte. So ?hnlich war Kellys stille t?gliche Prozession, als w?ren sie Kinder, die in einer riesigen Kirche schliefen, wo die Lichter eines nach dem anderen gel?scht wurden. Grace driftete in den Schlaf und dachte dabei an jene Tage zur?ck, an Michael und Gary Boyle, an ihre Zelte, ihre tragbaren Ger?tschaften und das ewige Wandern, und an die Kirche in Texas, wo die Lichter eines nach dem anderen ausgingen.

Sie wurde von einem stechenden Schmerz im Bauch und einem Schwall von Feuchtigkeit zwischen den Beinen geweckt. Ihre Fruchtblase war geplatzt. Es war drei Uhr morgens, Alma-Zeit.


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JUNI 2043



Gordo Alonzo, dessen Worte sich über den Abgrund von fünfundvierzig Lichtminuten zum Jupiter schleppten, verkündete, er werde das Urteil des Gesamtstreitkräfte-Tribunals bezüglich Jack Shaughnessys Fehlverhalten gegenüber der Führungscrew auf dem Wachdeck von Hawila bekanntgeben.

Masayo Saito hatte Seba nicht mehr verlassen, seit sie den Jupiter erreicht, die Module getrennt und den Verbindungstunnel unterbrochen hatten. Um an der Urteilsverkündung in Hawila teilzunehmen, würde er nun jedoch wie ein Astronaut in einem Raumanzug hinüberfliegen müssen. Man flog immer zu zweit, und Holle meldete sich freiwillig, ihn zu begleiten. Sie sah eine Chance, mit Masayo ein paar metaphorische Brücken zu bauen, während sie die echte Brücke zwischen den Modulen überquerten.

Masayo war schon da, als sie zur Voratmungskammer kam, einem kuppelförmigen Raum in Sebas Nasenspitze. Man musste stundenlang voratmen, um sich auf den reinen Niederdruck-Sauerstoff im Raumanzug vorzubereiten; sonst riskierte man die Dekompressionskrankheit. Masayo hatte nicht viel zu sagen, als sie eintrat. Er trug bereits seinen Anzug, bis auf Helm und Handschuhe, und saß da, die Beine um einen T-Hocker geschlungen, während er sich durch Dienstpläne der Crew in seinem Handheld arbeitete. Sie nahm an, dass er gegen seine Nervosität ankämpfte.

Zudem hatte die ganze Windrup-Shaughnessy-Geschichte Spannungen zwischen Illegalen und Kandidaten angefacht. An Bord der Arche konnte man kein Geheimnis bewahren, das war eine Lektion, die sie alle schon in den ersten Tagen in der stets leicht entflammbaren Atmosphäre des vollgestopften Schiffes gelernt hatten. Selbst wenn das, was man sagte, nicht vom Crew-Klatsch weitergetragen wurde, bestand eine reale Chance, dass der an der Liveübertragung klebende irdische Fan eines berühmten Crewmitglieds wie Kelly oder Cora seiner Heldin solche belauschten Bemerkungen in einer Fan-Mail zukommen ließ. Holle hoffte, dass es ihr gelingen würde, in der Abgeschiedenheit des Weltraums mit Masayo zu reden, und sie war darauf vorbereitet zu warten.

Sie hatte ebenfalls Arbeit mitgebracht, um diese Stunden zu füllen, und zwar eine interessantere als Masayos Wandschrubbpläne. Nach sieben Monaten im Orbit um den Jupiter waren die ersten Ergebnisse von Venus Jennings Planetensuche veröffentlicht worden.


Venus’ Untersuchung basierte auf Daten aus der mehr als vierzigjährigen Arbeit terrestrischer Instrumente und Planetensucher-Weltraumteleskope, ergänzt durch Beobachtungen von der Arche eingesetzter Teleskope. Mit diesen war eine größere Genauigkeit möglich gewesen, denn in gewissem Maße konnten zwei Teleskope bei der Erde und beim Jupiter als Komponenten eines einzigen Instruments von fast einer Milliarde Kilometer Größe fungieren.

Da man davon ausgegangen war, dass sich bessere Daten über nahe gelegene Exoplaneten sammeln ließen, nachdem die Arche beim Jupiter angelangt war, hatte man vor dem Start keine feste Entscheidung über das Ziel der Arche getroffen. Aber dem offiziellen Missionsplan zufolge sollte die gegenw?rtige Phase im Jupiterorbit in weiteren neun Monaten beendet sein ? vorausgesetzt, sie waren bis dahin mit dem Umbau der Arche, dem Bau des Warp-Generators und dem Antimaterie-Sammeln bei Io fertig. Bevor sie den Jupiter verlie?en, w?rden sie jedoch eine Entscheidung ben?tigen, denn eine Warp-Reise lie? sich aus dem Innern des Raumschiffs heraus nicht kontrollieren, es hie? Zielen und Schie?en; sobald sie aufbrachen, waren sie festgelegt. Ihnen blieben also noch neun Monate, um diese Entscheidung zu treffen.

Hunderte von Exoplaneten waren katalogisiert worden. Die Schwierigkeit war: Welchen sollten sie auswählen?

Die Sonne war ein Stern der Klasse G, kompakt, gelb, mit einer stabilen Lebensspanne von Jahrmilliarden. Sterne der G-Klasse waren jedoch vergleichsweise selten; sie stellten nur ein Dreißigstel der Sternenpopulation der Galaxis. Die meisten der vielen Hundert Milliarden Sterne in der Galaxis – zwei Drittel der Gesamtzahl – waren rote Zwerge, klein, kühl und so geizig mit ihrem Wasserstoffbrennstoff, dass sie sehr langlebig waren und mehrere Hundert Mal so lange existierten wie ein Stern der G-Klasse. Die Astronomen bezeichneten sie als Sterne der Klasse M.

Der interstellare Flug war für eine nominelle Dauer von sieben Jahren geplant. Im Innern ihrer Warp-Blase würde die Arche ungefähr die dreifache Lichtgeschwindigkeit erreichen, was der Reise eine Obergrenze von rund zwanzig Lichtjahren setzte. Innerhalb dieses Radius lagen ungefähr siebzig Sternsysteme, meist solche mit mehreren Sternen. Außer der Sonne waren jedoch nur fünf G-Klasse-Sterne darunter.

Der nächstgelegene war Alpha Centauri A, zehn Prozent massereicher als die Sonne, der Seniorpartner jenes Dreifachsystems, das der Sonne am nächsten war, nur vier Lichtjahre entfernt. Man war schon l?ngst zu dem Schluss gelangt, dass in diesem System keine auch nur ann?hernd erd?hnlichen Welten zu finden waren, sondern nur in gro?er Ferne um die Zentralgestirne umlaufende Gasriesen, ?kalte Jupiter?, wie man sie nannte, und Asteroidenschw?rme, vielleicht ?berbleibsel gescheiterter Planetenbildungen. Der n?chstweitere G-Klasse-Stern war Tau Ceti im Sternbild des Walfischs, fast zw?lf Lichtjahre von Sol entfernt. Doch auch dort waren keine geeigneten Kandidaten gefunden worden. Die n?chsten Analogien zur Erde ? Welten mit der ungef?hr richtigen Masse in stabilen Umlaufbahnen und genau in der richtigen Entfernung vom Mutterstern, also weder zu hei? noch zu kalt ? hatte man tats?chlich im Orbit um die ?falschen? Sterne gefunden ? sie waren entweder dunkler oder heller als Sol ?, ja sogar bei einigen der vielen M-Klasse-Kandidaten.

Angeheizt von all diesen Daten, tobten Diskussionen sowohl auf der Arche als auch unten in Alma. Eine starke Fraktion unter Führung von Gordo Alonzo bestand darauf, dass die G-Klasse-Sterne Priorität haben müssten und man bezüglich der genauen Analogie des Planeten zu Erdbedingungen ein Risiko eingehen müsse. Eine andere Lobby, klar und deutlich angeführt von Venus, trat dafür ein, die Welt an die erste Stelle zu setzen und den Stern an die zweite. Es war eine leidenschaftliche Debatte; schließlich stand die Auswahl der Erde II, einer neuen Heimat für die Menschheit, zur Diskussion. Holle hatte jedoch den Eindruck, dass sie zu einem beinahe theologischen Disput um die Frage degenerierte, ob man wollte, dass die Nachkommen unter einer Sonne von der falschen Farbe aufwuchsen.

Darüber hinaus – und das komplizierte die Diskussion noch mehr – hatte Venus zufällig einen riesigen Kometenkern entdeckt, der aus der Dunkelheit jenseits des Jupiters herankam und einen Kollisionskurs mit der Erde einzuschlagen schien. Die pl?tzliche Bedrohung zus?tzlich zu der nicht enden wollenden Flutkatastrophe war ihnen unertr?glich erschienen, die Koinzidenz monstr?s. ?Der Beweis, dass der Teufel existiert?, hatte Gordo Alonzo geknurrt, ?wenn nicht Gott.? Venus? Bericht zufolge hatten weitere Daten und Analysen nun gezeigt, dass der Komet nah an der Erde vorbeifliegen, aber nicht einschlagen w?rde; wenn er in ein paar Jahren das innere Sonnensystem erreichte, w?rde er ein dramatisches Schauspiel liefern, aber nicht mehr. Holle dachte, der seltsame Zufall h?tte die zerstrittenen Planetenj?ger auf der Erde und der Arche f?r eine Weile n?her zusammengebracht. Aber sie hatten schon bald ihre Diskussionen wieder aufgenommen.

Masayos Timer klingelte. Holle schloss den Bericht.


Masayo half Holle, die Schichten ihres Anzugs anzulegen, den hautengen, flüssigkeitsgekühlten Innenanzug, den Druckanzug und dann den leuchtend weißen Außenschutz gegen Mikrometeoriten. Dazu musste er Holle in ihrer Unterwäsche sehr nahe kommen. Kontakt zwischen den Geschlechtern konnte unangenehm sein auf einem Schiff, auf dem ein Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen herrschte, ein Erbe des chaotischen endgültigen Einschiffungsprozesses. Und in den offenen Modulen war es nur allzu leicht, seinen Nachbarn Tag und Nacht zu beobachten und sich in Fantasien hineinzusteigern. Genau das hatte zu dem Angriff geführt, mit dem sich Jack Shaughnessy solchen Ärger eingehandelt hatte. Aber Masayo war energisch und professionell und zeigte über die Erledigung der Arbeit hinaus kein besonderes Interesse an Holle.

Sie band sich ihr persönliches Identifikationsband ums Bein, einen Farbcode mit einer Crew-Nummer, so dass sie auf den Monitoren zu erkennen war, sobald sie sich au?erhalb des Schiffes befand. Obendrein klebte sie sich eine ?EVA Eins?-Scheibe auf die Brust und eine Nummer Zwei auf die von Masayo. Dann zogen sie ihre Snoopy-Funkhauben ?ber, halfen einander mit Helmen und Handschuhen und ?berpr?ften noch einmal die Display-Konsolen auf der Brust.

Als sie fertig waren, reckte Holle einen Daumen in eine Kamera, die sie beobachtete, und rief Zane, der an diesem Tag Dienst hatte, zu: »Okay, Zane, hier ist EVA Eins, EVA Eins und Zwei sind aufbruchsbereit.«

Zanes Stimme knisterte in ihrem Ohr. »Verstanden, Holle. Lasst mich die Schleusen-Checks durchführen.«

Sie standen da und warteten. Zane klang geistesabwesend, wie immer. Vielleicht war er von irgendeinem eigenen Projekt in Anspruch genommen – die Warp-Montage war anstrengend genug. Aber Holle hatte den Eindruck, dass er zunehmend in den dunklen Regionen seines eigenen Kopfes verschwand. Er pflegte auf seiner Liege zu liegen oder einfach wie ein leerer Anzug an irgendeiner Halterung in der Luft zu hängen. Sie hatte Mike Wetherbee zu bewegen versucht, sich ihn anzusehen, aber der Arzt hatte eingewandt, er sei kein Psychiater, und er war ohnehin noch immer ungeheuer eingeschnappt, weil Miriam auf der Erde zurückgeblieben war, und wollte sich nicht mit psychiatrischen Fällen befassen. Holle, die nach wie vor unter ihrer Trennung von Mel litt, konnte es ihm nachfühlen. Mike hatte Zane gebeten, über Funk mit Fachleuten auf der Erde zu sprechen, aber die Zeitverzögerung hatte verhindert, dass sich jemand richtig in ihn hineinversetzen konnte.

Heute jedoch war Zane voll da. Nach ein paar Minuten sprang eine Anzeige über der Schleusentür von Rot auf Grün. Holle wandte sich an Masayo. »Willst du vorangehen?«

»Was, ein einfacher Soldat wie ich? Geh du vor.«

»Das ist deine allererste EVA, stimmt’s?«

»Danke, dass du mich dran erinnerst.«

»Hauptsache, du kotzt nicht in deinen Anzug. Es gibt nur fünf, die mir passen, und das ist einer davon. Gehen wir.«

Sie drückte einen Griff herunter, und die Tür glitt auf und gab den Blick in die glänzende Luftschleusenkammer und auf ein kleines Fenster frei, das die Schwärze des Alls draußen zeigte.


50



Sie glitten aus der Luftschleuse in stechendes, trübes Sonnenlicht.

Holle und Masayo standen schwerelos auf der Nase von Seba, einem mit Isoliermaterial umhüllten, fünfzig Meter hohen Turm. Die Verbindung zwischen den Modulen bestand aus einem dreiadrigen Stahlseil, das von der Nase des Moduls senkrecht nach oben führte und im matten Sonnenlicht glänzte. Holle zeigte Masayo, wie er die Sicherungsvorrichtung an seiner Taille an dem Seil befestigen musste. Sie lehnte sich zurück und folgte der Linie des Verbindungsseils nach oben, durch den unvollständigen Kreis des Warp-Generators direkt über ihr. Dahinter schwebte das zweite Modul, Hawila, mit der Nase nach unten im Himmel, zweihundert Meter entfernt. Es war eine außergewöhnliche Metallskulptur, die im fahlen Licht hing.

Sie sah Masayo an. Er stand in dem steifen Anzug unbeholfen da, das Gesicht hinter einem goldenen Visier verborgen. »Bereit? «, fragte sie.

»Bringen wir’s hinter uns.«

Holle legte einen Schalter um. Die Anzugwinden sprangen an, und sie stiegen mit baumelnden Beinen zügig und lautlos an dem Seil nach oben. Holle war unmittelbar vor Masayo. »Die Überfahrt wird ein paar Minuten dauern.«

»Ziemlich langsam«, sagte er leise.

»Ja, wegen der Sicherheit. Hast du’s eilig? Ich könnte den Regulator natürlich abschalten …«

»Nein, bloß nicht.«

»Ach, komm schon, genieß es. Schau dich um. Orientier dich. Dort ist die Sonne. Da drüben.« Sie zeigte hin. Die Sonne, fünf Mal so weit entfernt wie auf der Erde, warf ein seltsam trübes Licht und scharfe, seltsame Schatten. Ihr Licht war nicht mehr hell genug, um die Sterne zu bannen, die den Himmel überall um sie herum füllten, schärfer und zahlreicher als auf jedem irdischen Berggipfel. »Schau, man kann die Startstufe sehen …«

Das Startgerüst der Orion schwebte neben den miteinander verbundenen Modulen. Seine hitzebeständige pyramidenförmige Haube war noch vorhanden, die Prallplatte glänzte noch. Ohne die massigen Module wirkte das Innere wie ausgeweidet, und der mächtige thermonukleare Antrieb war endgültig verstummt. Der Rumpf erfüllte nun seine letzte Funktion als Konstruktionsplattform, während im Weltraum umherschwebende Astronauten – allesamt für diese Aufgabe ausgebildete Kandidaten – die Warp-Einheit um die Mitte des Modulseils herum zusammenbauten. Darüber hinaus konnte Holle die freischwebenden Plattformen erkennen, die Venus’ Planetensuch-Teleskope trugen, beide weit weg von den Vibrationen und den hellen Lichtern der Module. Ausschau nach dem Antimaterie-Schürfer zu halten, hatte keinen Sinn; er betrieb sein gefährliches Geschäft irgendwo zwischen Io und Jupiter, fünfzehn Millionen Kilometer entfernt. All diese Komponenten waren in der Schwärze verstreut, aber sie funkelten von Lichtern, von menschlicher Präsenz, wie eine kleine Stadt in der Umlaufbahn um den Jupiter.

Masayo schaute sich nervös um, die Hände um die Sicherungsleine an seiner Taille geklammert.

»Und dort«, sagte sie, »ist der Jupiter.« Sie zeigte in die Gegenrichtung der Sonne.

Der Jupiter war eine goldbraune, sichtbar abgeplattete Scheibe, das einzige Objekt im ganzen Universum außer dem Archen-Cluster selbst, das groß genug war, um nicht bloß als Punkt zu erscheinen.

»Irgendwie enttäuschend«, sagte Masayo.

Es war eine häufige Reaktion bei den Mitgliedern der Crew. »Ach, findest du?«

»Er ist nicht größer als der Mond, von der Erde aus gesehen.« Er hob einen Daumen, wackelte damit und verdeckte den Planeten. »König der Welten! Jemand hat mir erzählt, seine Masse sei so groß wie die aller anderen Planeten zusammen. Stimmt das?«

»Ja. Mehr als dreihundert Erdmassen.«

»Aber er ist doch bloß eine Gaskugel. Ich sehe diese großen Wolkenbänder, aber was soll’s? Selbst der Große Rote Fleck ist nur irgendwie schmutzig grau.«

»Du solltest mal mit Joe Antoniadi sprechen.«

Joe hatte sich unter anderem auf Klimatologie spezialisiert, und er verbrachte lange Stunden in der Kuppel und studierte den Jupiter, ein Super-Klimalabor. Der Große Rote Fleck war tatsächlich ein permanenter, Jahrhunderte alter Wirbelsturm, der unaufhörlich um die Wolkenbänder des Jupiter herumwanderte. Es gab beunruhigende Parallelen zwischen ihm und einigen der gewaltigen neuen Hypercanes, die den Äquator der Erde unsicher machten.

Aber sie waren nicht wegen des Jupiters selbst hier, sondern wegen der Produkte seiner Magnetosphäre.

»Du musst die Dinge in der richtigen Perspektive sehen. Weshalb sind wir so weit draußen? Warum gehen wir nicht in eine planetennahe Umlaufbahn und segeln in hundert Kilometer H?he ?ber den Wolken dahin, wie fr?her ?ber der Erde??

»Strahlung, richtig?«

»Genau. Der Jupiter ist eine Hochstrahlungsumgebung. Ein menschlicher Arbeiter würde dort unten mehr als dreitausend Rem pro Tag abbekommen – die tödliche Dosis liegt ungefähr bei fünfhundert.« Sie lehnte sich voller Vertrauen in das Seil zurück und wedelte mit den Anzugarmen. »Und glaub mir, wenn du das Magnetfeld des Planeten sehen könntest, würdest du nicht denken, dass der Jupiter so klein ist. Es ist zehn Mal so stark wie das der Erde, es speichert zwanzigtausend Mal so viel Energie und erstreckt sich weit ins All, sogar noch über den Radius unserer Umlaufbahn hinaus – doppelt so weit. Und es fängt geladene Teilchen von der Sonne ein.«

»Das macht die Strahlungsumgebung so tödlich.«

»Richtig. Aber das Wichtige für uns ist die Interaktion zwischen Io und dem Magnetfeld des Jupiter.« Durch Venus’ Teleskope hatte Holle die mächtigen Auroras gesehen, die über Jupiters Nachtseite spielten, und das Knistern der Radiowellen gehört, die von den gepeinigten Gasen ausgingen. Ios Flussröhre, ein System aus energiereichem Plasma, war eine natürliche Antimateriefabrik.

»Höllische Art, seine Aufgaben zu erledigen«, sagte Masayo.

Sie hatten jetzt den Mittelpunkt des Verbindungsseils erreicht, und Holle bremste sie ab, bis sie zum Stillstand kamen. Wenn sie sich von hier aus umschaute, sah sie das riesige Band des Warp-Generators, im Grunde ein kompakter Beschleunigerring, der sich um das Seil schloss. Speichen wie die eines Fahrrads verbanden den Ring mit einer Nabe im Mittelpunkt des Seils. An dem Ring sah sie die Funken eines Schweißbrenners, und zwei Arbeiter im Raumanzug bewegten sich geduldig um ein neu installiertes Verkleidungselement herum.

»Gibt es einen Grund, weshalb wir angehalten haben?«, fragte Masayo unruhig.

»Zeig auf die Sonne. Tu’s einfach.«

»Sie ist da drüben.« Er zeigte erneut hin, sein Finger dick in dem schweren Handschuh. »Oh. Nein, doch nicht.« Die Sonne hatte sich sichtbar um ihren Himmel bewegt, so wie der Jupiter und die Sterne. »Wir drehen uns.« Er hielt sich an dem Seil fest.

»Immer mit der Ruhe. Das da unten ist Seba, woher wir gekommen sind.« Sie zeigte hin. »Da ist unten. Die Gegenrichtung ist oben. Okay?«

Er entspannte sich mit erkennbarer Anstrengung. »Oben, unten, oben, unten«, murmelte er.

»Gut. Wir machen schon noch einen Astronauten aus dir. Vorläufig ist es bloß eine langsame Rotation. Eine vollständige Umdrehung dauert eine Stunde. Zu lange, als dass man die Zentripetalkraft im Innern der Module bemerken würde, aber es reicht, um das Verbindungsseil unter Spannung zu halten. Später werden wir uns schneller drehen.«

Wenn das Warp-Konstrukt fertig war, würde das gesamte Gebilde mit Hilfe von Korrekturtriebwerken in Drehung versetzt werden, so dass die beiden Module um den Mittelpunkt des Verbindungsseils rotierten wie zwei sich an den Händen haltende Eisläufer, die auf dem Eis herumwirbelten. Bei einer Umdrehungsdauer von dreißig Sekunden würde die Rotation in den Nasenschleusen eine scheinbare Schwerkraft von ungefähr fünfundvierzig Prozent eines Ge erzeugen – und da die Zentripetalkräfte stärker wurden, je weiter man sich vom Zentrum entfernte, würde auch die Schwerkraft bis auf ungefähr sechsundsechzig Prozent eines Ge am Fuß jedes Moduls steigen.

Dann würde die ganze unwahrscheinliche, zusammengebastelte Konstruktion in eine Warp-Blase eingeschlossen werden, die es aus dem Universum schnipste und mit einem Mehrfachen der Lichtgeschwindigkeit durch die Galaxis katapultierte.

»Geht’s jetzt endlich weiter?«, fragte Masayo angespannt.

»Gleich.« Das war ihre Chance. Sie holte ein Kabel aus ihrer Tasche; den einen Stecker stöpselte sie in ihre eigene Brustkonsole, den anderen in die von Masayo.

Er schaute nach unten. »Was ist das?«

»Direktverbindung von Anzug zu Anzug. Hat Vorrang vor dem Funksignal.«

»Oh. Niemand kann uns hören, stimmt’s?«

»So ist es.«

»Und worüber willst du sprechen?«

Sie überlegte. »Ich finde einfach, es wäre gut, wenn wir uns mal unterhalten. Ich meine, wir sind jetzt seit über fünfhundert Tagen auf dieser Arche.«

»Seit fünfhundertachtundvierzig. Paul Shaughnessy führt eine Strichliste an der Wand neben seiner Liege, als wäre er im Gefängnis. Tatsächlich war er mal im Gefängnis.«

»Sieh an, das wusste ich nicht.«

»Und nützt es dir was zu wissen, dass der Bruder des Kerls, der Thomas Windrup zusammengeschlagen hat, ein ehemaliger Knacki ist?«

»Hör mal, ich will dich nicht aushorchen. Du bist sehr defensiv. «

»Kannst du mir das verdenken? Du weißt, dass wir Illegalen uns einer ganzen Reihe von Beschuldigungen gegenübersehen, von Insubordination über unbefugtes Eindringen in Regierungseigentum bis zu Meuterei. Die Eltern einiger gestrandeter Kandidaten verklagen uns vor Zivilgerichten. Ist ganz gut, dass wir diese Arche nicht einfach umdrehen und heimfliegen k?nnen; ich k?me selbst ins Gef?ngnis.?

»Ich habe immer gehört, dass du eigentlich gar nicht hier sein wolltest«, sagte sie behutsam. »Dass du einfach irgendwie mitgerissen wurdest.«

Er zögerte. »Ja, das stimmt. Ich war der Lieutenant, vergiss das nicht. Die Kerle haben mich mit vorgehaltener Waffe diese verdammte Gangway raufgeschleppt. Ich dachte, ich hätte noch Zeit, sie zur Umkehr zu bewegen oder zu entwaffnen und wieder von der Arche runterzubringen. Aber nachdem wir dann gestartet waren, dachte ich mir, ich sollte zu ihnen halten. Zumindest hatte ich eine Chance, sie an die Kandare zu nehmen. Nicht dass ich bei Jack gute Arbeit geleistet hätte, das gebe ich zu. Aber du musst es mal von ihrer Warte aus sehen, Holle. Auf der Erde standen wir an vorderster Front. Wir waren im bewaffneten Einsatz. Hier schrubben wir Dreck von den Wänden.«

»Dieselben Klagen höre ich von den Eindringlingen, wenn du’s wissen willst«, gab sie zu. »Vielleicht ist es unsere Schuld, die der Kandidaten. Ich weiß, wir können ganz schön herablassend sein.«

»Tja, halleluja. Eine selbstkritische Kandidatin. Es hätte auch geholfen, wenn ihr uns nicht die Waffen abgenommen hättet.« Als die Männer entdeckt hatten, dass ihre Waffen weg waren, hätte es beinahe eine Meuterei gegeben, einen Aufstand. »Meine Leute kommen alle aus harten Verhältnissen, meistens aus Eye-Dee-Lagern oder Banditengemeinschaften. Ihre Waffen sind ihre Identität. Als Kelly das gemacht hat, war es wie eine Kastration. «

»Kelly hat es für nötig gehalten. Ihrer Ansicht nach war das Risiko, Waffen im Schiff zu haben, größer als das Risiko solcher psychologischer Schäden.«

»Und du warst damit einverstanden?«

Holle dachte darüber nach. Kelly war trotz allem erst fünfundzwanzig, nur ein Jahr älter als Holle selbst. Sie war sehr jung gewesen für solche Entscheidungen. Dennoch hatte sie sie getroffen. »Ja, im Rückblick bin ich damit einverstanden. Damals wäre ich nicht auf die Idee gekommen. Ich schätze, ich bin nicht so weitsichtig oder entschlussfreudig wie Kelly. Aber ich bin einverstanden, ja. Und in Anbetracht dessen, was zwischen Shaughnessy und Windrup vorgefallen ist, war’s vielleicht ganz gut, dass keiner der beiden an eine Schusswaffe rangekommen ist.«

Sie legten eine kleine Pause ein, während sich die Sonne, der Jupiter und die Arche imposant um sie herum drehten.

Schließlich sagte sie: »Kommt mir vor, als hätten wir eher ein paar Eiterbeulen aufgestochen, als miteinander zu reden. Wir müssen das gelegentlich mal wiederholen.«

»Ja. Aber nicht hier draußen, okay?«

»Klar.« Sie stöpselte das Kabel zwischen ihnen aus, steckte es weg und griff nach der Seilführung an seiner Taille. »Bist du bereit? «

»Wofür?«

»Dafür.« Sie betätigte eine Taste, und die Vorrichtung drehte ihn um den Fixpunkt an seiner Taille, so dass sein »Unten« jetzt zu Hawila zeigte, seinem Ziel, und nicht mehr zu Seba.

»Ach du Scheiße.«

»Der Anzug! Pass auf den Anzug auf!«


51



Als sie die Luftschleuse von Hawila passierten, hatte Gordo Alonzos Sendung aus Alma bereits begonnen. Kelly, Venus, Wilson und andere saßen auf T-Hockern vor einem großen Wandbildschirm. Eine Handvoll weiterer Crewmitglieder – Kandidaten, Eindringlinge und Illegale – hatten sich in allen möglichen Winkeln um die Gruppe im Zentrum versammelt.

Jack Shaughnessy war mit Handschellen an seinen Bruder Paul gefesselt. Jack hatte eine zerschlagene Nase und eine dicker werdende Schwellung ums rechte Auge herum. Gerüchten zufolge stammte beides nicht von Thomas Windrup, sondern von Elle Strekalow, Windrups Partnerin, dem Mädchen, an das er sich herangemacht hatte, womit die ganze Sache losgegangen war. Thomas selbst lag noch in Mike Wetherbees winziger Krankenstation und erholte sich von der Perforation eines Lungenflügels.

Durch die fünfundvierzigminütige Zeitverzögerung in beide Richtungen gegen Unterbrechungen gefeit, dozierte Alonzo über eins seiner Lieblingsthemen: die Moral der Crew. »Ihr müsst euch mehr Anlässe zum Feiern ausdenken, Leute. Euer Poljakow-Tag im Februar war eine gute Idee.« Am vierhundertachtunddreißigsten Tag der Mission hatte die Besatzung der Arche simultan den Rekord für den längsten Raumflug gebrochen, der seit 1995 von einem Russen namens Waleri Poljakow gehalten worden war. »Das Problem ist, mir fällt in der näheren Zukunft nichts Bedeutsames ein bis zum Tag acht-null-fünf, wenn ihr den alten Sergei Krikaljow bez?glich der l?ngsten Gesamtaufenthaltsdauer eines Menschen im Weltraum schlagt ??

Holle schaute auf den Bildschirm. Gordo saß an einem Schreibtisch und war hell beleuchtet, aber im Schatten hinter ihm befanden sich noch andere Gestalten. Sie war ziemlich sicher, Thandie Jones und Edward Kenzie dort zu sehen. Falls ihr Vater auch dabei war, so konnte sie ihn nicht erkennen. Sie starrte auf den Bildschirm und saugte frustriert jedes Pixel auf.

Etwas landete weich in ihrem Nacken. Sie griff dorthin und fand eine Schraube, die sich irgendwo gelöst hatte. Als sie nach oben schaute, sah sie einen Staubregen, der sanft auf die aneinandergefesselten Brüder und alle anderen herabrieselte. Die langsame Rotation bewirkte, dass sich der gesamte in der Luft schwebende Müll, der sich seit der Abschaltung des Antriebs angesammelt hatte, allmählich wieder absetzte. Und durch die Gitterbodenschichten sah sie, dass die Aktivitäten im Modul weitergingen wie immer. Ein paar Leute spielten Null-Ge-Frisbee in dem großen, offenen Raum, und ein Kleinkind gluckste, als seine Mutter es in der Luft kreiseln ließ. Gute Bilder für die Live-Übertragung, fand Holle. Alle Archen-Babys waren jetzt ungefähr ein Jahr alt. Wie seltsam, dass es nun schon Menschen gab, die nichts vom Universum außerhalb dieses Moduls wussten – aber für die Generation dieses Kindes würde das überhaupt nicht seltsam sein. Das Baby lachte, während es sich langsam in der Luft drehte und mit den pummeligen Armen und Beinen zappelte.

»Eine bessere Moral würde garantiert auch verhindern, dass ihr aufeinander losgeht, wie bei dieser Windrup-Shaughnessy-Geschichte …«

Auf seine schwerfällige Art und Weise kam Gordo zum zentralen Thema seiner Ansprache, und Holle konzentrierte sich wieder auf ihn.

Gordo setzte eine Lesebrille auf und senkte den Blick auf ein Papier voller Notizen. »Nun, wir – die führenden Persönlichkeiten des Projektmanagements – haben eingehend über das Beweismaterial nachgedacht, das ihr uns geschickt habt. Zusätzlich haben wir General Joe Morell zurate gezogen, den Kommandeur der Heeresgruppe, zu der Jack Shaughnessy gehörte, bevor er sich aus dem Staub gemacht hat. Ich hoffe also, Jack und ihr alle werdet unser wohlerwogenes, mit voller militärischer Autorität ausgestattetes Urteil akzeptieren.«

Er nahm die Brille ab und schaute vom Bildschirm herab. »Also hört zu. Ich bin kein Anwalt und werde auch nicht so reden, als wäre ich einer. Das ist ein bedauerlicher Fall, ein sehr bedauerlicher sogar. Ihr seid allesamt junge Leute, eingesperrt in diesen Blechdosen, da kann es nicht ausbleiben, dass es unter euch Eifersüchteleien und Spannungen gibt. Die menschliche Natur. Aber ihr müsst lernen, euch am Riemen zu reißen – einander zu respektieren. Shaughnessy, diese junge Frau schuldete Ihnen für Ihre unerwünschten Avancen nichts als ein höfliches ›Nein‹. Und das haben Sie ja auch zu hören bekommen, aber Sie mussten die Sache weitertreiben, Sie mussten es an Windrup auslassen. Denken Sie an den Schaden, den Sie nicht nur Thomas Windrup, sondern der Mission insgesamt zugefügt haben – ein Mitglied einer ohnehin schon unterbesetzten Crew ist Ihretwegen arbeitsunfähig.

Wenn Sie noch auf der Erde wären, würden Sie dafür ins Kittchen wandern. Aber auf einem Raumschiff gibt es kein Gefängnis. Commander Kenzie kann es sich nicht leisten, auf Ihre Arbeitskraft zu verzichten – und sie kann sich erst recht nicht den Aufwand leisten, der damit verbunden wäre, Sie in einen verdammten Schrank einzusperren, wo Sie den ganzen Tag lang nichts anderes täten, als sich einen runterzuholen. Darum haben wir versucht, eine zweckm??ige Alternative zu finden, und unsere Anweisungen lauten folgenderma?en.

Shaughnessy, Sie haben Ihr Arbeitspensum gerade verdoppelt. Ab sofort übernehmen Sie Thomas Windrups Aufgaben, bis Doktor Wetherbee ihn wieder als arbeitsfähig entlässt. Sie ersetzen Windrup, soweit es Ihre technischen Fähigkeiten zulassen, und wenn diese nicht ausreichen, erwarte ich, dass ein vom Commander beauftragter Offizier eine geeignete Alternative für Sie findet. Das tun Sie zusätzlich zu Ihren eigenen Pflichten. Und wenn Sie deshalb nicht mal mehr Zeit haben, um scheißen zu gehen, werde ich keine Träne vergießen. Ist das klar? Und zu guter Letzt werden Sie ein Abzeichen tragen, so dass die gesamte Crew weiß, wer Sie sind und was Sie getan haben.« Er starrte zornig in die Kamera. »Damit das klar ist: An Bord dieses verdammten Schiffes gelten die Prinzipien des Rechtsstaats, und sie werden rigoros durchgesetzt, genauso wie auf der Erde. Der einzige Unterschied ist, dass die Strafe dem Verbrechen und der Umgebung, in der ihr gefangen seid, entsprechen muss. Ich gebe euch jetzt ein wenig Zeit, darüber nachzudenken und zu klären, ob ihr irgendwelche Fragen habt.« Er wandte sich ab und hob ein Glas Wasser an die Lippen.

In der Gruppe trat Stille ein. Kelly stieg in die Luft empor und drehte sich, so dass sie alle Anwesenden vor, über und unter ihr ansah. »Also, so lautet das Urteil. Akzeptiert ihr es alle? Du, Elle?« Sie funkelte Masayo und die Shaughnessys an. »Und du, Jack? Wirst du deinen Strafdienst ableisten? Und deine Fäuste künftig bei dir behalten?«

Jack Shaughnessy sah aus, als gäbe er sich geschlagen.

Sein Bruder war aufsässiger. »Aber’n Abzeichen trägt er nicht.«

»O doch«, sagte Masayo mit fester Stimme. »Du hast gehört, was der Mann gesagt hat, Paul. Soll er seine Strafe verbüßen.«

Paul schüttelte den Kopf, fügte sich jedoch.

Holle hatte den Eindruck, dass die Spannung versickerte. Sie driftete nach unten und gesellte sich zu Kelly vor den Bildschirm, wo Gordo mit jemandem außerhalb des Bildausschnitts sprach. »Vielleicht hat es geklappt. Anscheinend akzeptieren sie’s.«

»Ja«, sagte Kelly leise. »Aber was machen wir, wenn so was passiert, während wir im Warp sind und kein Gremium alter Männer und Generäle haben, das uns sagt, wie wir solche Sachen regeln sollen?«


Auf dem Bildschirm räusperte sich Gordo Alonzo theatralisch.

»Noch eins. Der Komet, den ihr während des Tests eurer Planetensuchausrüstung beobachtet habt. Dinosaurier-Killer Nummer Zwei, oder auch nicht, wie inzwischen feststeht. Ich habe noch ein paar Informationen über ihn. Mittlerweile wissen wir, dass er nicht zufällig aus dem Dunkeln gekommen ist, während die Flut uns gerade ins Wanken bringt.« Er spähte in die Kamera. »Ist Zane Glemp bei euch? Wenn nicht, zeigt ihm diese Aufzeichnung später. Das Folgende beruht auf den Aussagen eines eurer Tutoren, Magnus Howe – er hat sich an etwas erinnert, was Jerzy Glemp vor seinem Tod zu ihm gesagt hat …«

In den ersten Jahren der Flut hatte Glemp für die russische Regierung gearbeitet. Russland war von der Flut schnell und schwer getroffen worden und hatte weite Gebiete verloren. Während gewaltige Flüchtlingsströme nach Süden und Osten zogen und ein Krieg mit China und Indien um das Hochland Zentralasiens unausweichlich schien, versuchte die zivile Regierung verzweifelt, sich gegen die Hardliner unter den Generälen zu behaupten.

»Einige der Militärs drängten darauf, ihr noch vorhandenes Nukleararsenal für einen Großangriff auf China und den Westen zu benutzen, solange es noch ging. Die verzweifelte Theorie lautete, dass Russen in einer leeren, wenn auch radioaktiven Welt vielleicht ?berleben w?rden.? Gordo grunzte und warf einen Blick auf seine Notizen. ?Ich habe so das Gef?hl, was am Ende wirklich mit all diesen Atomwaffen geschehen ist, hat irgendein cleverer Bursche ausgeheckt, damit die Gener?le die schlimme Lage nicht noch verschlimmern konnten.

Im Jahr 2024 – dem Jahr, in dem Moskau überflutet wurde – haben die Russen einen Großteil ihres zumeist vom alten Sowjetregime übernommenen Interkontinentalraketenkontingents gestartet. Das Ziel befand sich allerdings nicht auf der Erde, sondern die Raketen wurden in den Weltraum geschickt. Präsident Peery hat mir freundlicherweise erlaubt, Glemps diesbezügliche Berichte anhand alter CIA-Überwachungsunterlagen zu überprüfen. Wie ihr euch vorstellen könnt, hat das damals eine Menge Besorgnis ausgelöst, aber es war sofort klar, dass die Vögel weder auf US-amerikanisches Gebiet noch auf Besitztümer oder Verbündete der Vereinigten Staaten gerichtet waren. Natürlich konnten die Russen nicht ihr gesamtes Inventar dergestalt auf ein neues Ziel programmieren.

Als Nächstes kommen wir zum Jahr 2036, über ein Jahrzehnt später. Ein mittlerweile ausschließlich für die Planetensuche eingesetztes Teleskop in Chile macht eine ungewöhnliche Beobachtung. Dieses große Auge erspäht einen Blitz draußen im interstellaren Raum. Etwas später melden unsere noch existierenden interplanetaren Sonden eine anomale Strahlungssignatur.« Er schaute in die Kamera. »Ihr seht, worauf ich hinauswill. Das waren die russischen Atomraketen, oder zumindest diejenigen, die es bis dort hinaus geschafft hatten. Sie sind alle zugleich hochgegangen. Ein höllischer Knall.

Und wir gehen weiter ins Jahr 2043 – dieses Jahr. Ihr entdeckt einen Kometen, der auf die Sonne zurast, praktisch auf Kollisionskurs mit der Erde.

Ihr versteht wohl, dass wir eine Linie ziehen, um diese drei Ereignisse zu verbinden. Wir glauben, dass die Russen versucht haben, einen riesigen Kometenkern zur Erde zu lenken. Sie wollten tatsächlich einen Einschlag herbeiführen.

Das entbehrt nicht einer gewissen Logik. In der Frühzeit der Erde hat das schmelzflüssige Innere des Planeten, wo im Verlauf der Entstehung unserer Welt Wasser eingefangen worden war, mehrfach tiefe Weltmeere ausgegast. Aber in jener Zeit war der Himmel noch voller großer Felsbrocken. Die Erde wurde getroffen, und der ganze verdammte Ozean wurde weggesprengt. Das ist immer wieder passiert, und jedes Mal wurde der Ozean durch die Ausgasung oder vielleicht auch durch kleinere Kometeneinschläge erneut aufgefüllt.

Ihr versteht den Grundgedanken. Diese russischen Spinner glaubten möglicherweise, sie könnten die Flut besiegen, indem sie einen Kometen auf uns stürzen ließen, der das gesamte Weltmeer wegsprengen würde, so wie in der guten alten Zeit des späten Bombardements. Vielleicht dachten sie tatsächlich, sie würden die Welt retten. Dass die Erde dadurch zu einer trostlosen Wüste ohne Luft und Wasser geworden wäre, nur bewohnt von mürrischen russischen Doktor-Seltsam-Typen in tief vergrabenen Bunkern, war eine unerfreuliche Kleinigkeit.

Meine Wissenschaftler sagen mir, dass es ein gewagtes Unterfangen ist, einen Kometen vom Kurs abzubringen. Erstaunlich, dass sie’s überhaupt geschafft haben. Gott sei Dank haben sie’s nicht richtig hingekriegt.

Tja, das wär’s zu diesem Thema. Was noch?« Er schaute sich über die Schulter zu seinem Beraterteam um.


52



MÄRZ 2044



Nicht lange nach Tagesanbruch wurde Mels Abteilung der Nationalgarde aus ihrer Kaserne geholt, einem aufgegebenen, rattenverseuchten Spirituosenladen in Almas kleinem Stadtzentrum.

Im trüben Morgenlicht formierten sie sich zu den energischen Befehlen der Sergeants, ein paar Dutzend Männer und Frauen in groben, aber ordentlichen Reihen. Dann marschierten sie zum Tor des Geländes an der Buckskin Street hinaus und die Main Street entlang durch die geplünderten Ruinen der Stadt nach Norden, zur Außengrenze. Panzer und andere schweren Fahrzeuge hatten die Asphaltdecke des Highways gefurcht und aufgerissen. Es war nicht so schlimm, darauf zu marschieren, aber man musste aufpassen, dass man sich nicht in einem Schlagloch den Knöchel verdrehte. Überall gedieh Unkraut, grün und kräftig; es nutzte seine Chance in dieser kurzen Zeitspanne zwischen dem Ende der Vorherrschaft des Menschen und der nahenden Flut.

Die Luft war vom Gestank des nächtlichen Rauchs erfüllt. Da die Berghänge schon längst kahlgeschlagen worden waren, verbrannten die Eye-Dees nun Scheiße, getrocknete und gepresste menschliche Exkremente. Darunter lag ein leichter Geruch von Salz und Ozon in der Luft, der Geruch des Weltmeers, der bis in diese Höhen der Rockies drang.

Die Soldaten waren mit ihren Tornistern beladen. Der Einsatz würde mehrere Tage dauern, wie lange, war nicht näher festgelegt worden. Unterwegs ?berpr?ften sie ihre nicht mehr ganz neuen Waffen ? meist Kalaschnikows AK-47, wahrscheinlich schon vor der Flut hergestellt und gro?enteils vor ein paar Jahren im Verlauf einer Razzia auf dem h?her gelegenen Gebiet bei Survivalisten beschlagnahmt. Die Soldaten waren ein bunter Haufen, von Veteranen mit echter Nahkampferfahrung ?ber gesund aussehende, aus den Eye-Dee-Str?men herausgepfl?ckte Rekruten bis hin zu Relikten mit komplexerer Vergangenheit wie Mel, einem ehemaligen Air-Force-Kadetten, der erst ihn ins Kandidatenkorps der Arche abkommandiert und dann in letzter Minute am Boden zur?ckgelassen worden war. Trotz ihres zerlumpten ?u?eren waren sie wahrscheinlich eine der diszipliniertesten milit?rischen Einheiten, die es noch irgendwo auf dem Planeten gab. Aber sie murrten w?hrend des Marsches, ihre Stimmen erhoben sich in die reglose Luft. Alle murrten st?ndig, ?ber das lausige Essen, die kaputten Toiletten in ihren Quartieren und den Zustand ihrer gebrauchten Kampfausr?stung.

Mel Belbruno fühlte sich ebenso unwohl wie alle anderen auch. Seine Stiefel waren ein großes Problem – sie hatten sich verformt, weil sie in Salzwasser getaucht worden waren, als sie sich noch in der Obhut eines unglücklichen Vorbesitzers befanden; er hatte sie mit Schichten schmutziger Socken ausgestopft. Doch an diesem Morgen lenkten ihn die unerfreulichen Aussichten des neuen Einsatzes ab.

Alma war von einem System konzentrischer Befestigungsanlagen umgeben. Der beste Platz für einen Soldaten war das Gelände an der Buckskin Street im Herzen der alten Stadt, eine improvisierte Festung auf einem dreieckigen Stück Land, wo drei Straßen sich kreuzten, South Main Street, South Pine und die Buckskin Street, die aus der Bergschlucht nach Westen verlief. Man hatte das Kontrollzentrum der Arche in dieses befestigte Areal verlegt. Au?erhalb des Gel?ndes war nur noch wenig von der pittoresken alten Goldgr?berstadt mit ihrem umk?mpften Anspruch ?brig, die h?chstgelegene Ortschaft in Amerika zu sein. Arbeitstrupps hatten sie weitgehend demontiert, zuerst, um Rohmaterial f?r die Befestigungsanlagen zu beschaffen, dann, um Fl??e zu bauen, gro?e, schwimmende Gebilde aus ?ltanks, Plastikplanen und geteertem Segeltuch, die vorl?ufig noch unheilverk?ndend im Freien standen, bereit f?r die endg?ltige Evakuierung.

Gab es innerhalb des Geländes nichts zu tun, war man am besten dran, wenn man im Hinterland, wie die Befehlshaber es nannten, auf Patrouille ging, einem ausgedehnten Gebiet mit einem Durchmesser von ein paar Kilometern um Alma herum, einem Flickenteppich aus Anhöhen und überfluteten Tälern. Hier war hoch gelegenes, einst von Kiefern bestandenes Gelände nach dem Holzeinschlag in Ackerland verwandelt worden; tausend winzige, armselige Farmen drängten sich auf dem mageren Boden. Die Menschen betrieben Landwirtschaft sogar bis zum Gipfel des Mount Bross hinauf, dem höchsten Punkt hier in der Gegend; sie brachen das karge Land mit eigener Muskelkraft auf, denn es gab kein Öl mehr für Traktoren und Pflüge, nicht einmal mehr Pferde. Mel hatte Patrick Groundwater einmal sagen hören, die Amerikaner müssten Methoden der Subsistenzlandwirtschaft wiederbeleben, die im mittelalterlichen Europa benutzt worden seien.

Heute war Mel zum ersten Mal noch weiter hinausgeschickt worden, zu einem der Eye-Dee-Auffanglager außerhalb des Hinterlands, die die nach Alma hineinführenden Täler und Bergschluchten verstopften. Er wusste nicht, was er in dem Lager dort draußen am Highway 9 zu erwarten hatte. Er versuchte, nicht auf den Mist zu hören, den die Veteranen erzählten, was sie alles gesehen hatten und was sie hatten tun m?ssen, aber ihre Worte schl?ngelten sich in den Kopf, wie es ja auch beabsichtigt war.

Mel wünschte, er wäre nicht ausgerechnet heute mit dieser Ablenkung, diesem Aufruhr konfrontiert.

Er schaute zu dem trüben, wolkenübersäten Himmel hinauf und fragte sich, wo der Jupiter war – der Jupiter, wo die Arche-Crew ihren fünfzehnmonatigen Aufenthalt beinahe abgeschlossen hatte. Es würde jetzt keine vierundzwanzig Stunden mehr dauern, bis die nächste Phase ihrer Mission begann, wenn das Schiff sich in eine Warp-Blase hüllen und zu den Sternen entschwinden würde. Während dieser letzten paar Stunden, nach denen Holle nicht einmal mehr im selben Sonnensystem sein würde wie er, wäre er gern in der Nähe des Kontrollzentrums geblieben, wo die Nachrichten von den fantastischen Ereignissen eintrafen, die sich am Himmel abspielten. Aber er hatte keine Wahl.

Im März 2044 – die weltweite Flut näherte sich einer Höhe von drei Kilometern über dem alten Meeresspiegel – hatten nicht viele Menschen eine Wahl.


Im Auffanglager wurde die Einheit zu einer Zeltstadt geschickt, ihrem Quartier für die nächsten paar Nächte. Eine andere Einheit aus ramponiert aussehenden, müden jungen Leuten formierte sich gerade, um ihrerseits nach Süden zu marschieren. Sie waren schweigsam und verdrossen.

Don Meisel, jetzt ein Lieutenant in einer relativ frischen und sauberen Uniform der Polizei von Denver, wartete am Straßenrand. Als er Mel erblickte, rief er ihn zu sich herüber. Auf der rechten Wange trug er eine tiefe Narbe von einer schlecht gereinigten und amateurhaft zugenähten Wunde, und eine dicke Sonnenbrille verbarg seine Augen. Sein rotes Haar war grau gesprenkelt. Mit sechsundzwanzig war Don ein Jahr ?lter als Mel. Mel fand, dass er erheblich ?lter aussah.

Mel rang sich ein Lächeln ab. »Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich mich freue, dich zu sehen.«

»Ja. Nicht unter diesen Umständen. Die Arche …«

»Alles auf Kurs, wie ich gerade gehört habe.« Das war letzte Nacht gewesen, als Patrick Groundwater ihn in der Kaserne angerufen hatte.

»Was das betrifft, können wir jetzt sowieso nichts unternehmen. « Don schaute sich um. »Deine Einheit arbeitet heute mit meiner zusammen. Hör zu, der erste Tag ist der schlimmste. Ich hab’s überstanden – denk einfach daran. Wenn ein Trottel wie ich das schafft, kannst du das garantiert auch. Zieh für ein paar Minuten deine Stiefel aus. Ich glaube, es gibt was Warmes zu essen.« Don berührte einen Ohrstöpsel und nickte geistesabwesend. »Wir sehen uns später.« Er marschierte davon.

Mel folgte seinen Kameraden in die Zeltstadt, wo die Männer sich schon um Kojen zu streiten begonnen hatten, die noch warm waren von den Körpern ihrer Vorgänger. Die Ruhepause dauerte eine halbe Stunde, lang genug, um sich etwas zu essen und zu trinken zu besorgen, ein Nickerchen zu machen und Füße zu massieren, die nach dem Marsch in schlecht sitzenden Stiefeln von Alma hierher bereits wund waren. Trotz der Klagen war das Essen, eine Art Kaninchenragout, gar nicht so schlecht. Cops und Soldaten bekamen besseres Essen als fast alle anderen – sogar besseres als die Ingenieure und Wissenschaftler im Kontrollzentrum, weshalb die meisten körperlich leistungsfähigen Eye-Dees danach strebten, sich einer Militäreinheit anzuschließen.

Dann mussten sie erneut antreten und marschierten auf dem Highway die letzen paar Hundert Meter nach Norden, zum Auffanglager.


53



Als sie sich der Sicherheitseinfriedung näherten, versuchte Mel, den Anblick in sich aufzunehmen.

Vor ihm befand sich ein Zaun, ein Komplex aus Stacheldraht, Wachtürmen und Schanzwerken, der den alten Highway überspannte und sich zu beiden Seiten hoch hinauf in die Berge zog, über den kahlen braunen Boden und quer durch die groben Rechtecke der armseligen neuen Farmen. Auf dem Highway selbst saß ein massives Tor aus Stahl und Beton, das von Wachtürmen und Scheinwerfern starrte. Soldaten, Nationalgardisten, Heimatschutzleute oder Cops sicherten den Zaun; man sah sie am Stacheldraht entlanggehen oder in ihren Türmen sitzen.

Dies war die Grenze des Territoriums um Alma herum, das noch unter dem Schutz der Bundesregierung stand. Die Grenze zwischen Ordnung und staatlicher Kontrolle im Innern und dem Chaos draußen. Colonel Gordo Alonzo, der höchstrangige noch lebende Leiter von Projekt Nimrod, war vom Präsidenten persönlich zum Militärgouverneur ernannt worden. Es gab Gerüchte, dass dies so ziemlich die einzige noch verbliebene größere Enklave unter der Herrschaft der Bundesregierung war, abgesehen von militärischem Bestand auf See wie den noch vorhandenen Schiffen und U-Booten der Navy. Aber nur wenige Menschen konnten wissen, ob das stimmte.

Das Auffangzentrum für Flüchtlinge war dort eingerichtet worden, wo der Zaun den Highway überquerte. Ein paar Gebäude, grobe Betonblocks, standen etwas zur?ckgesetzt hinter der eigentlichen Linie. Eine Art Korridor aus Stacheldraht verband sie mit dem Tor; die W?nde des Korridors waren mindestens drei Meter hoch, und innen wie au?en patrouillierten bewaffnete Soldaten. Zus?tzlich war hier eine kleine Industrieanlage errichtet worden; sie ?hnelte einer Chemiefabrik mit Tanks, Tonnen und gl?nzenden Rohren. Auf einem Schild ?ber der T?r stand:

ALMA, CO. ERHOLUNGSZENTRUM EIGENTUM DER AMERIKANISCHEN BUNDESREGIERUNG


Mel sah zu seinem Erstaunen, dass am Eingang dieses Komplexes Blumen in Töpfen blühten, die an Halterungen aus Metall hingen.

Am Tor selbst sah Mel eine Reihe von Tischen, hinter den Soldaten und Zivilisten mit Laptops und elektronischen Notepads saßen. Sie befragten Eye-Dees, immer einen nach dem anderen. Jenseits des Tores erstreckte sich ein System von Warteschlangen, Reihen zerlumpter, schmutziger, abgemagerter Menschen, die sich im Zickzack zwischen Metallbarrieren vorwärtsbewegten. Weiter draußen stellten Zweiergruppen von Soldaten die Leute in vorläufigen Schlangen auf.

Und hinter ihnen sah Mel zahlreiche weitere Menschen, die im Staub saßen oder standen. Schon auf diesen ersten Blick mussten es Tausende sein.

»Scheiße«, sagte er leise zu Don, der neben ihm stand. »Wenn dieser Haufen die Geduld verliert …«

»So darfst du nicht denken«, erwiderte Don ebenso leise. »Es ist unser Job, dafür zu sorgen, dass es nicht so weit kommt.« Er baute sich vor der Einheit auf, die er an diesem Tag befehligte, seinen Veteranen und Mels frischen Rekruten aus Alma. ?Okay, h?rt zu. Wir teilen euch in Gruppen auf, immer zu zweit, zu dritt oder zu viert, Veteranen zusammen mit Neuen. Heute lernt ihr der Reihe nach die diversen Elemente unserer T?tigkeit kennen, damit ihr das gro?e Ganze seht. Ausbildung am Arbeitsplatz, versteht ihr? Danach, also ab morgen, werden wir euch dauerhafte Aufgaben zuweisen.? Er grinste grimmig. ?Ich will euch dasselbe sagen, was ich vorhin meinem Kameraden hier gesagt habe. Der erste Tag ist der schlimmste. Aber wenn ihr den durchsteht, schafft ihr?s. Und vergesst nicht, wie wichtig diese Arbeit ist. Hier halten wir die Stellung – nicht unten an der Buckskin Street, nicht in diesen armseligen Farmen im Hinterland. Alles hängt davon ab, wie gut ihr hier eure Arbeit erledigt. Okay, wegtreten und Gruppen bilden. Kompanie B hat die Namen der Neuzugänge bekommen, die sie beaufsichtigen soll.«

Die Kompanie löste sich auf, und die Soldaten wimmelten durcheinander; die Neuankömmlinge suchten nach Veteranen, die sie an diesem ersten Tag betreuen würden.

Don winkte Mel erneut zu sich. »Wir beide heute, Kumpel.« Er schaute nachsichtig zu den neuen Soldaten hinüber. »Es gibt so gut wie immer ein paar, die schon am ersten Tag zusammenklappen. Vielleicht nicht bei dieser Truppe; die sehen einigermaßen stabil aus. Komm. Ich muss mich um ein paar Probleme kümmern.«


Don führte Mel das kurze Stück Highway entlang bis zum Tor. Er zeigte einem Wachposten einen Passierschein und schob sich an der Reihe der Tische vorbei zu einer Art Zugangsweg, der parallel zu den Warteschlangen verlief. Bewaffnete Soldaten patrouillierten darin. Mel schaute nach oben und sah Wachtürme aufragen; weitere Soldaten mit Ferngl?sern musterten die aufgereihten Menschen.

Mel bekam eine Chance, den Abfertigungsbeamten bei der Arbeit zuzusehen. Einige von ihnen waren Ärzte oder Krankenschwestern; jedenfalls trugen sie auffällige Rotkreuz-Armbinden über ihren Uniformärmeln. Sie nahmen die allgemeinen Daten der Eye-Dees auf, die vor ihnen standen.

»Es ist eine Ausleseprüfung«, sagte Mel. »Ich hätte nicht gedacht, dass Alma noch Eye-Dees aufnimmt.«

»Es sieht aus wie eine Ausleseprüfung«, erwiderte Don leise. »Zieh keine voreiligen Schlüsse. Beobachte einfach, hör zu und lerne. Und halte deine Waffe schussbereit.«

Die beiden gingen jenseits des großen Einfriedungszauns einen rissigen Highway entlang, der einigermaßen frei gehalten wurde, aber zu beiden Seiten von Eye-Dees gesäumt war, die darauf warteten, sich in die Schlangen des Abfertigungssystems einreihen zu können. Sie waren nicht die einzigen Soldaten hier draußen, aber Mel kam sich außerhalb des Zauns wie auf dem Präsentierteller vor; er spürte eine unverständliche Nervosität.

Nachdem sie das Ende der Schlangen passiert hatten, gelangten sie zu einer Art Hüttensiedlung, die in groben Quadraten angelegt war. Jedes dieser Quadrate nahm ungefähr das Gebiet eines alten städtischen Wohnblocks ein. In jeder Zone gab es Abwasserrinnen im Boden, Gräben, die zu beidseits des Highways verlaufenden Sielen führten. Es gab nur wenige Zelte, aber hier und dort standen die Überreste von Gebäuden, und die Eye-Dees hatten Verschläge und Schuppen aus Grassoden und allen erdenklichen Trümmerteilen gebaut, deren sie hatten habhaft werden können. Es war noch immer erst Vormittag. Feuer brannten, Rauch stieg empor, und Töpfe waren ins Freie gestellt worden, um Regenwasser vom zunehmend bewölkten Himmel aufzufangen. Babys schrien, eine Vielzahl winziger Stimmen. Mancherorts spielten sogar Kinder mit abgenutztem Spielzeug oder schlaffen Fu?b?llen, aber keines von ihnen lief herum, und sie waren stockd?rr in ihren ausgeblichenen Fetzen; unter den Gesichtern zeichneten sich deutlich die Sch?delknochen ab. Einige hatten die aufgebl?hten B?uche der Unterern?hrung.

Mel sah Beauftragte aus dem Alma-Protektorat, die sich, begleitet von bewaffneten Soldaten, durchs Lager arbeiteten. Man konnte sie an ihren strapazierfähigen AxysCorp-Overalls in relativ kräftigen Farben erkennen. Einige trugen Sanitäterarmbinden. Sie sprachen geduldig mit den Eye-Dees und verteilten Handzettel.

Die Handzettel überraschten Mel am meisten. »Woher kriegen die das Papier?«

Don wühlte in seiner Tasche, brachte ein gefaltetes Stück Papier zum Vorschein und reichte es Mel. Es war auf beiden Seiten dicht bedruckt, und das einzig Farbige war ein winziges rotweiß-blaues Sternenbanner in einer Ecke. Wie sich herausstellte, war es eine Art Anleitung zum Bau eines Pflugs, der von Menschen gezogen werden konnte. Don sagte: »Fühl mal. Und siehst du diesen glitzernden Schimmer? Es ist aus Muschelschalen gemacht. «

»Ich wusste gar nicht, dass die Regierung noch so weit draußen liegende Eye-Dee-Camps unterstützt.«

»Tut sie auch nicht. Sie überwacht sie vielleicht. Erteilt Ratschläge. Aber von Unterstützung kann keine Rede sein. Schau dich um. Die Entwässerungsgräben, die Hütten – alles von den Eye-Dees selbst angelegt und gebaut, mit allen Werkzeugen und Hilfsmitteln, die sie finden konnten, wenn nötig sogar mit bloßen Händen. Wir geben ihnen diese Handzettel – Tipps für die Landwirtschaft oder die Jagd –, alles machbar ohne materielle Unterst?tzung durchs Zentrum. Selbst von den ?rzten bekommen sie eher Ratschl?ge als Medikamente. F?r mehr reichen unsere Ressourcen einfach nicht aus.? Er schaute sich um, vergewisserte sich, dass keine Eye-Dees mith?rten. ?Wir setzen hier nicht mal mehr Polizisten ein. Wir ermutigen sie, unter der offiziellen Autorit?t von Alma ihre eigene Sicherheitsstruktur aufzubauen. Wir geben Papierabzeichen aus ? die kosten nicht viel. Meistens l?st sich alles sehr schnell auf, und irgendein Warlord ?bernimmt die Macht, aber das ist uns egal, solange Ordnung herrscht. Oh, und wir schlie?en immer die Bordelle. Gordo meint, damit k?mpften wir gegen die menschliche Natur an, aber die Kommandanten haben es zu einer vordringlichen Aufgabe erkl?rt, also geben wir uns M?he.?

»Es ist alles eine Art Illusion«, platzte Mel heraus. »Sie glauben, sie stünden unter dem Schutz der Regierung. Aber in Wirklichkeit …«

»Wir sorgen dafür, dass die Leute ruhig bleiben. Als hätten sie Tranquilizer genommen. Es funktioniert, weil die Menschen glauben wollen, dass sie in Sicherheit sind, dass irgendjemand an ihr Wohlergehen denkt, so wie es ihr ganzes Leben lang war, zumindest bei den älteren Leuten, die sich noch an die Zeit vor der Flut erinnern können. Hier ist die Lage relativ stabil. « Er zeigte nach Norden, wo der Highway im Bogen durch getüpfelte Hänge führte. »Da draußen sind noch mehr. Tausende. Wir führen Strafexpeditionen durch, wir verminen die Straßen und versuchen, sie fernzuhalten. Aber bevor sie zu uns kommen, müssten sie erst diese Siedlungszone durchqueren. Solche Lager wie dieses gibt es überall um Alma herum. Sie bilden einen Ring.«

Mel verstand. »Ihr benutzt all diese Menschen als Schirm. Als menschliches Schutzschild.«

Don musterte ihn. »Sieh mal – die Flut kommt einfach immer näher, das Wasser steigt die Täler hoch, die Flusstäler des Platte und des Blue River und die anderen, warmes, schaumiges Salzwasser, alles vergiftet mit dem Dreck der versunkenen Städte, und Leichen treiben dahin wie Korken. Ich hab’s gesehen. Wir verlieren gerade Orte wie Leadville, Hartsel und Grant. Das treibt die Menschen weiter, wie Vieh.

Jeder weiß, dass es bei Alma eine Enklave gibt. Deshalb kommen sie auf der Suche nach Zuflucht, eine Welle nach der anderen. Wir wissen nicht, wie viele da draußen sind, in den Bergen um Alma herum. Manche glauben, es könnten bis zu einer Million sein. Wir können die einfach nicht alle versorgen, nicht mal ein Prozent von ihnen. Und wir können nicht weglaufen, so wie damals, als wir Denver evakuiert haben. Uns bleibt nichts anderes übrig, als sie in Schach zu halten, bis der Job im Kontrollzentrum erledigt ist. Dazu mussten wir rausfinden, wie wir jedes noch verfügbare Mittel gegen den Zustrom der Eye-Dees einsetzen können. Und das wichtigste dieser Mittel sind die Eye-Dees selbst.«

Mel blickte in Dons ausdrucksloses Gesicht hinter der Maske seiner Narbe, der Sonnenbrille, den Stoppeln auf seiner schmutzigen Kinnpartie, und er sah nichts mehr von dem Jungen, den er auf der Akademie kennengelernt hatte. »Wir werden siegen, oder?«

»Wenn du die Wahrheit wissen willst, ich bin mir da nicht so sicher«, sagte Don düster. Er schaute zum bewölkten Himmel hinauf. »Dieser Gag, den Warp-Start auf den Zeitpunkt der Mondfinsternis zu legen – keine Ahnung, wer auf diese bescheuerte Idee gekommen ist. Wenn der Mond rot wird, werden all die Irren hier vermutlich zu heulen anfangen, selbst wenn sie nur Gerüchte über die Arche gehört haben. Na ja, wir müssen die Stellung nur noch vierundzwanzig Stunden lang halten. Also, was meinst du, ist es die Sache wert ? alles, was du heute gesehen hast ?, wenn die Arche dadurch die beste Chance hat, zu den Sternen zu fliegen??

»Holle und Kelly sind an Bord. Sie verlassen sich auf uns. Ja, es ist die Sache wert.«

»Okay, mein Junge. Ich glaube, du bist bereit, den Rest zu sehen.«

»Welchen ›Rest‹?«

Als Antwort führte Don ihn durch die Hüttensiedlung zum Sicherheitstor und der geduldigen Schlange der Bewerber zurück.


54



Zusammen mit Don beobachtete Mel ein altes Ehepaar, vielleicht Ende sechzig, das gerade von einer teilnahmsvollen Frau am Abfertigungsterminal befragt wurde.

Die beiden hießen Phyllis und Joe Couperstein. Sie hatten Kinder und auch ein Enkelkind, wie sie glaubten, hatten aber schon seit Jahren nichts mehr von ihren Kindern gehört. Beide hatten blutige, geschwollene Füße. Sie waren vor Jahren aus Omaha weggegangen und wussten nicht einmal genau, wo sie sich jetzt befanden; sie waren einfach den Flüchtlingsströmen von einem Stück hoch gelegenen Landes zum nächsten gefolgt, hatten gearbeitet, wo und was immer sie konnten. Die Frau war früher Bauingenieurin gewesen, der Mann ein hoch qualifizierter Koch, aber an beidem bestand jetzt keine große Nachfrage mehr. Noch bis vor ein paar Jahren hatten sie auf dem Feld arbeiten können, aber nun hatte die Arthritis – und bei Joe ein leichter Herzinfarkt – dem ein Ende gemacht.

Die Beamtin in Alma zeigte Mitgefühl. In Alma gebe es jedoch so viele Köche und Ingenieure wie nötig. Außerdem, sagte sie sanft, seien sie mit ihren beruflichen Fähigkeiten höchstwahrscheinlich nicht mehr auf dem neuesten Stand. Aber ihr Fall werde vielleicht noch einmal überprüft, wenn sie eine Weile – das hieß Tage oder ein paar Wochen – in einem Wartebereich bleiben wollten?

»Das ist nur eine andere Ecke der Hüttensiedlung«, erklärte Don leise. »Sie werden nie wieder aufgerufen, aber sie warten geduldig.«

Die Coupersteins schienen nicht einmal enttäuscht zu sein. Aber sie waren sehr müde, schon allein vom stundenlangen Schlangestehen. Sie verlangten nichts Besonderes. Sie verweilten nur noch einen Moment vor der lächelnden Frau.

Die Beamtin schien sich erweichen zu lassen. Sie gab den beiden einen Zettel. Sie sähen aus, als bräuchten sie ein wenig Erholung, sagte sie. Eine Pause, einen Platz, wo sie sich hinsetzen, baden, die Kleider reinigen und etwas zu Essen bekommen konnten, eine ruhige Schlafgelegenheit für eine Nacht. Die Stadt könne ihnen so etwas nach freiem Ermessen anbieten. Wie das klinge?

Die Coupersteins schauten auf das Ticket. Sie sahen sich an und blickten sich zu der langen Schlange hinter ihnen um. Sie lächelten. Es klinge wundervoll.

»Das ist unser Stichwort«, flüsterte Don. Er trat vor. »Mr. und Mrs. Couperstein, nicht wahr? Kommen Sie bitte, hier entlang.« Don geleitete sie durch die Sicherheitsabsperrung. »Ja, Sie müssen mir das Papier geben.« Er reichte es Mel. Es war schmutzig, abgegriffen, häufig benutzt. »Nein, Sie brauchen mir keine weitere ID zu zeigen … Hier entlang. Komm mit, Mel.«

Mel gab den Zettel der Frau am Tisch zurück, die ihn flüchtig ansah und das Papier wieder in eine Schublade steckte. Sie war bereits mit dem nächsten Bewerber beschäftigt.

Mel eilte hinter Don und dem alten Ehepaar her. Sie gingen den mit Stacheldraht eingezäunten Weg zum Erholungszentrum entlang. Aus diesem Blickwinkel waren der hässliche Betonklotz des Gebäudes und die Industrieanlage nicht zu sehen; der Eingang mit dem Schild und den Blumen und einer Art Plastikfurnier auf der T?r wirkte einladend und attraktiv. Selbst der Weg unter ihren F??en war mit Kies bestreut, sah Mel. Es sei wie ein Spaziergang in einem Park, sagten die Coupersteins zueinander, und auf den letzten Metern zum Eingang gingen sie langsam, Hand in Hand, als gen?ssen sie diese wenigen Sekunden.

An der Tür gab Don einen Sicherheitscode in ein Tastenfeld ein und unterzog sich einer Netzhautüberprüfung. Schwere Schlösser öffneten sich klackernd, und die Tür schwang zurück. Mel erhaschte einen Blick auf einen sanft beleuchteten Gang im Innern des Gebäudes. Musik ertönte, ein sanft dahinplätscherndes, fast melodiefreies Hintergrundgeräusch. Darüber war fernes Stimmengemurmel zu hören – leise, beinahe schläfrig. Er rechnete damit, dass ein Mitglied des Personals zu ihnen kam, eine Krankenschwester in einer frisch gestärkten weißen Uniform, aber niemand ließ sich blicken.

Don befahl Mel entschuldigend, das Paar zu durchsuchen, bevor sie weitergingen. Er fand keine Waffen, nicht einmal ein Küchenmesser.

»Gehen Sie einfach hinein, Mr. und Mrs. Couperstein«, sagte Don. »Sie werden ein Badezimmer vorfinden, eine Kaffeemaschine, einen Leseraum mit Büchern … Andere warten dort schon. In Kürze wird jemand bei Ihnen sein.«

Mr. Couperstein zögerte eine Sekunde lang. Ein unergründlicher Ausdruck ging über sein schmutziges, knorriges Gesicht, und er schüttelte den Staub aus seinem grob geschnittenen grauen Haar. Aber Mrs. Couperstein seufzte. Das sei schon in Ordnung. Hier sehe es aus wie in einem Hotel; in so einem seien sie einmal in Aspen abgestiegen, zum Skifahren, und jetzt glaube man kaum, dass sie jemals jung genug für so etwas gewesen seien. Sie schleuderte ihre abgewetzten Schuhe von sich und trat ein. Ihre F??e hinterlie?en Blutspuren auf dem Boden. Die T?r glitt sanft hinter ihnen zu.

Don trat zurück und schaute auf seine Armbanduhr. »Nur noch eine halbe Stunde bis zur nächsten Reinigung. Wir bleiben in der Nähe. Komm.« Er ging voran, zurück zur Abfertigungssperre.

In den nächsten dreißig Minuten wurde noch zweimal ein Aufenthalt im Erholungszentrum angeboten. Die erste Einladung ging an einen Mann, der eine ältere Dame in einem unglaublich ramponierten Rollstuhl schob; er musste fünfzig sein, sie achtzig, und sie litt an Demenz. Ein übler Gestank von Exkrementen kam unter ihrer schmutzigen Decke hervor. Die zweite erhielt ein junger Vater mit einem ungefähr drei Jahre alten Mädchen, einer Ansammlung von Haut und Knochen und hängendem Kopf, der für ihren Körper zu schwer war. Die Mutter war am Morgen fortgelaufen und hatte ihre Rucksäcke und das letzte Essen mitgenommen. Ja, der Mann sehnte sich nach einer Pause. Mel und Don geleiteten den Sohn mit seiner Mutter sowie den jungen Vater und seine Tochter zum Erholungszentrum, das sie mit ebensolcher Erleichterung betraten wie die Coupersteins.

Don schaute erneut auf die Uhr. »Ein Uhr mittags. Gleich ist es so weit.«

Ein Beamter des Heimatschutzes stieß einen Pfiff aus. Soldaten und Polizisten kamen angetrabt und bildeten eine unregelmäßige Postenkette um das Zentrum. Don gesellte sich zusammen mit Mel zu ihnen. Ein Ingenieur kam herbei und zeigte dem hochrangigen Beamten seine Ausweispapiere. Er vergewisserte sich, dass die Tür des Zentrums verschlossen war, und betätigte einen Hebel.

»Halte deine Waffe schussbereit«, sagte Don leise zu Mel und hob sein AK-47 hoch.

Der Ingenieur drückte auf eine letzte Taste seines Handhelds und trat zurück. Mel hörte das Surren von Pumpen, das Zischen von Gas. Ein seltsamer, schwer definierbarer Geruch wie nach Mandeln stieg ihm in die Nase.

Die Sonne brach durch die Wolken. Nichts von alledem kam ihm real vor.

Mel sagte: »Ich nehme an, das Gasrohr verläuft unterirdisch.«

»Wäre ein bisschen zu offensichtlich, wenn nicht.«

»Wozu die Postenkette?«

»Manchmal ändern die Patienten des Zentrums in letzter Minute ihre Meinung. Versuchen auszubrechen.«

»Und wir erschießen sie.«

»Wenn wir sie nicht aufhalten, kriegen wir ein höllisches Sicherheits-Schlamassel und ein Gesundheitsproblem.« Don warf Mel einen Blick zu. »Ich weiß, was du denkst. Auf der Akademie haben sie uns von den Nazis erzählt, nicht? Wir sind keine Nazis, Mel. Mach dir das immer wieder bewusst. Das hier ist eine amerikanische Regierung, die alles in ihrer Macht Stehende für ihre Bevölkerung tut. Wir haben sonst nichts mehr, was wir ihnen anbieten können.«

»Sie denken, sie gehen da rein, um sich ein wenig zu erholen. Nicht, um zu sterben …«

»Nein. Sie wissen es, auf irgendeiner Ebene, selbst wenn sie es sich nicht eingestehen würden. Ist schon gut. Ich weiß, wie sich das anfühlt. Es dauert nur noch ein paar Minuten.«

Mel verstand jetzt alles. Dies war der Wesenskern der Maschine, die ihn und die Arche jahrelang geschützt hatte, einer Maschine, die mit Fleisch und Blut und falschen Hoffnungen betrieben wurde.

Es schien lange zu dauern, bis das Zischen des Gases verstummte. Ein Mann in einem blassblauen ABC-Anzug kam herbei, und ein Soldat ging an der Postenkette entlang und teilte weitere Anzüge aus.

Mel nahm seinen benommen entgegen. »Was jetzt?«, fragte er Don.

»Reinigung«, sagte Don. Er legte seine Waffe auf den Boden und steckte die Beine in die Anzughose. »Nur eine Vorsichtsmaßnahme. Das Gas ist abgepumpt worden.«

»Ich kann das nicht.«

»Du musst. Es ist deine Pflicht. Eine Aufgabe, die wir nicht an die Eye-Dees delegieren können. Komm schon, Mann, hilf mir, den Reißverschluss an dem verdammten Ding zuzumachen. «


So ging es für Mel den ganzen restlichen Tag lang weiter, bis seine Wache gegen zwanzig Uhr endete.

Don begleitete ihn zur Zeltstadt zurück und half ihm, sein Bett und seine Sachen zu finden. Mels Bewusstsein schien sich irgendwie ausgeschaltet zu haben. In den anderen Betten um seines herum lagen lauter schlafende Soldaten, Männer und Frauen, die meisten noch bekleidet, die Stiefel auf dem Boden unter dem Bett. Offiziere gingen lautlos zwischen den Reihen auf und ab und sprachen ein paar leise Worte, wenn einer der Soldaten sich bewegte.

Mel trank etwas Wasser, merkte jedoch, dass er nichts essen wollte.

»Das ist schon in Ordnung«, sagte Don. »Schlaf einfach. Das brauchst du mehr als alles andere. Schlaf.« Er hatte eine Taschenflasche und einen Plastikbecher. Er schenkte eine goldene Flüssigkeit aus der Flasche ein. »Trink das.«

Mel trank einen Schluck. Das Zeug war stark und aromatisch, und als er es hinunterschluckte, spürte er einen Kick im Hinterkopf. »Wow.«

»Almas Bester.« Don grinste. »Und es ist etwas drin, ein Pulver der Weißkittel. Hilft dir beim Einschlafen.«

»Ich will nicht schlafen. Es ist noch zu früh. Erst acht Uhr …«

»Das ist ein Befehl«, sagte Don sanft. »Na los, trink aus und leg dich hin. Wenn du jetzt gleich einschläfst, können sich die Erinnerungen nicht formen, und es ist morgen früh nicht so schlimm. Du weißt schon, das Schuldgefühl.«

Mel zögerte. Aber er war zu erschöpft, um zu widersprechen. Er setzte sich aufs Bett und zog die schweren Stiefel aus. Seine Füße stanken, nachdem sie den ganzen Tag in den Sockenschichten geschwitzt hatten. Er legte sich hin und zog die Decke über sich. »Wo haben wir so was bloß gelernt? Vielleicht haben die Sonderkommandos der Nazis auf diese Weise gearbeitet.«

»Keine Ahnung«, sagte Don grimmig. »Wenn nicht, mussten wir es uns wohl selber ausdenken.«

»Holle – die Arche. Ich möchte das auf keinen Fall verpassen. «

»Ich wecke dich.« Don schaute zum Zeltdach hinauf. »Holle und Kelly werden nie erfahren, was für ein Glück sie haben, aus all dem aufgefahren zu sein.«

»Vergiss nicht, mich zu wecken«, flüsterte Mel.

»Versprochen. Schlaf jetzt.«

Als Don ihn in den frühen Morgenstunden weckte, hörte er Schreie und roch den Gestank von Bränden.


55



Selbst auf dem Gelände an der Buckskin Street herrschte Chaos. Soldaten und Zivilisten liefen wild durcheinander.

Patrick Groundwater schaute im Laufen auf seine Armbanduhr. Sein Mantel flatterte um ihn herum. Er hatte schon längst beim Kontrollzentrum sein wollen. In wenigen Minuten würde der Aufbau der Warp-Blase erfolgen – oder vielmehr, in der Umlaufbahn um den fernen Jupiter war er bereits erfolgt oder auch nicht, und seine einzige Tochter war auf dem Weg zu den Sternen oder nicht. Und die Nachricht von diesem großartigen Ereignis schlich lediglich mit Lichtgeschwindigkeit durchs Sonnensystem, ohne sich auch nur im Geringsten um ein nervös schlagendes Menschenherz zu kümmern. Er schaute nach oben, aber der Himmel war voller Wolken, und emporsteigende Rauchsäulen verdunkelten ihn noch mehr. Falls der verfinsterte Mond aufgegangen war, so konnte er ihn nicht sehen.

Patrick war neunundfünfzig Jahre alt. Er konnte nicht schneller laufen. Verdammt, verdammt.

Als er das Kontrollzentrum erreichte, wurde der Brandgeruch stärker, und das Knallen der Schüsse kam näher. Er sah, dass das Gebäude von Soldaten umstellt war. Obwohl es nun auf Sekunden ankam, musste er seine ID vorzeigen und seine Netzhaut einem Laserflash-Test unterziehen. Während er nach seinen Papieren suchte, senkte sich von oben ein lautes Geräusch wie das Schlagen riesiger Schwingen auf ihn herab. Er duckte sich, und einige der Soldaten um ihn herum wichen zur?ck und hoben die Waffen. Es war ein Chinook, vielleicht der letzte, der irgendwo auf der Welt flog. Seine beiden Rotoren ratterten ?ber der misshandelten Stadt, und die staubigen Lichtstrahlen seiner Scheinwerfer unterst?tzten die Operationen am Boden.

Als Patrick endlich das Kontrollzentrum betrat, hielt Gordo Alonzo gerade eine Ansprache. Er stand auf einem Tisch an der Stirnseite des Raums, vor den Reihen der Konsolen mit ihren leuchtenden Bildschirmen. Hinter ihm schimmerte eine Karte des Sonnensystems, der dunkle, kühne Bogen des Archen-Orbits wie eine lässige Signatur. Thandie Jones stand neben ihm.

»In den kommenden Generationen, den langen künftigen Jahrhunderten auf der Erde II wird man sich immer daran erinnern, was wir gemeinsam hier, in Gunnison und in Denver erreicht haben«, sagte Gordo gerade. »Man wird sich an euch erinnern. Ihr wisst ja, Alma – die Stadt – ist nach der Tochter des Burschen benannt worden, der 1873, zur Zeit der Stadtgründung, das Lebensmittelgeschäft führte. Aber man hat mir gesagt, ›alma‹ sei auch das spanische Wort für ›Seele‹. Und das wart ihr hier – die Seele der glanzvollsten Mission in der Geschichte der Menschheit …«

Patrick ließ den Blick durch den Raum schweifen. Die Techniker saßen immer noch an ihren Stationen, und Daten schnatterten als Ziffernfolgen und in grafischer Form über die Bildschirme. Doch außer im Fall eines katastrophalen Fehlschlags konnten diese Leute nichts mehr tun, um das Schicksal der Arche zu beeinflussen, ihren fantastischen Flug über einundzwanzig Lichtjahre hinweg zum Planeten eines Sterns im Sternbild des Flusses. Das Schiff war entweder fort oder nicht. Er schaute erneut auf seine Armbanduhr. Immer noch keine Bestätigung.

Edward Kenzie kam geschäftig auf ihn zu. Selbst jetzt trug er Anzug und Krawatte, aber das Hemd hing ihm aus der Hose, und sein Haar war zerzaust. »Patrick. Gott sei Dank sind Sie hier.«

»Man kann Gordo Alonzo einfach nicht davon abbringen, Reden zu schwingen.«

»Zumindest sorgt er dafür, dass die Leute ruhig bleiben. Für den Fall, dass es dort oben eine Katastrophe gegeben hat, müssen wir die Techniker schließlich so lange wie möglich auf ihren Sitzen festhalten.«

»Und wie lange ist das?«

»Schauen Sie«, sagte Kenzie grimmig. Er hielt Patrick einen Handheld hin.

Der Bildschirm zeigte eine Karte des Gebiets mit den Truppenkontingenten des Militärs in Grün und den Formationen der Feinde in zornigem Rot. Der äußere Kordon war im Norden und Süden am Highway 9 und im Westen beim Buckskin Gulch durchbrochen worden. Elemente des Mobs, die aus allen drei Richtungen kamen, waren bereits im Begriff, das strahlend grüne Dreieck des Geländes an der Buckskin Street und das warm leuchtende gelbe Juwel des Kontrollzentrums zu umzingeln.

»Scheiße«, sagte Patrick. »Das sieht organisiert aus.«

»Genau. Dulder-Agitatoren, wie ich erfahren habe. Waffenverstecke und Funkgeräte. Ich habe die Militärs sagen hören, es sei ein Fehler gewesen, den Start auf den Zeitpunkt der Mondfinsternis zu legen. Sie hatten Recht.«

Gordo hatte seine Ansprache beendet. Trotz seiner dreiundsiebzig Jahre sprang er mit fast schon arroganter Sportlichkeit vom Tisch, und die Mitarbeiter applaudierten. Aber das Rattern von Schüssen, deutlich vernehmbar durch die Mauern des Gebäudes, übertönte sie. Gefolgt von Thandie Jones, kam Gordo mit gro?en Schritten auf Patrick und Edward zu. ?Seht ihr da drau?en einen Chinook in der Luft? Der bringt uns weg von hier.?

Patrick fühlte sich auf seltsame Weise betrogen. »Aber das Projekt ist doch noch gar nicht abgeschlossen – wir wissen nicht mal, was mit der Warp-Blase ist …«

»Wissen Sie, Gordo«, sagte Kenzie, »ich dachte immer, Sie würden die Brücke als Letzter verlassen.«

»Das ist die Scheiß-Navy«, erwiderte Gordo. »Und wir haben eh alles getan, was wir konnten. Wir haben dafür gesorgt, dass die Lichter in Alma, Colorado, nicht ausgingen, wir haben diese Kinder nicht allein in die Dunkelheit gehen lassen. Aber unsere Aufgabe ist jetzt erfüllt.«

»Und er hat wirklich seine Befehle«, erklärte Thandie Jones. Hier war sie, wo nun alles zu Ende ging, dachte Patrick, wie sie auch am Anfang da gewesen war, mit ihrem Vortrag beim Weltklimarat, als sich um New York herum eine andere, frühere Katastrophe zusammengebraut hatte, damals, als Holle, die interstellare Astronautin, noch nicht einmal gezeugt worden war. »Präsident Peery hat angeordnet, dass der Fortbestand des Staates gesichert werden soll. Laut dem Gesetz zur Nachfolge des Präsidenten käme zunächst der Vizepräsident an die Reihe, dann der Sprecher des Repräsentantenhauses, der Präsident pro tempore des Senats, ausgewählte Kabinettsmitglieder …«

»Und zuletzt ich«, sagte Gordo, »als Gouverneur dieses verdammten befestigten Berggipfels. Peery will, dass wir von hier verschwinden, uns zerstreuen, in Sicherheit bringen.«

»In Sicherheit?«, fragte Kenzie wild. »Wo denn?«

»In jedem verfügbaren Stück Regierungseigentum.«

»In unserem Fall auf der USN New Jersey«, sagte Thandie. »Deren informelles Besatzungsmitglied ich bin, und ich habe Anweisung, daf?r zu sorgen, dass Gordo hier seinen Arsch in das U-Boot schafft.?

Kenzie sagte: »Und dann vielleicht auf die Arche Zwei, die …«

Ein lautes Krachen ertönte, als schlüge eine riesige Tür zu. Das Gebäude erbebte, und die Bildschirme gaben den Geist auf; sie erloschen, flackerten auf und erloschen erneut, während Putz von der Decke regnete. Durch die Klimaanlage drang Rauch ein.

Soldaten formierten sich um Gordo herum. »Zeit zu gehen«, sagte er. »Folgt mir.« Thandie Jones blieb bei ihm, und Edward Kenzie schloss sich ebenfalls an.

Patrick wäre gern im Kontrollzentrum geblieben, um auf Nachrichten von der Arche zu warten, aber die Bildschirme waren ausgefallen, und so gab er nach, als Edward ihn am Arm packte.


Die Soldaten bildeten eine Keilformation und bahnten sich ihren Weg durch die Menge. Die Haupttüren wurden gewaltsam geöffnet, und Rauch quoll um sie herum aus dem Gebäude, als sie ins Freie stolperten. Patrick wurde einen Moment lang von den Schreien, den Schüssen, der verräucherten Luft und einem weiteren gewaltigen Krachen überwältigt, das den Boden selbst zu erschüttern schien. Er sah, wie eine Kette von Soldaten keine fünfzig Meter von seinem Standort entfernt die Stellung gegen einen Mob von Eye-Dees zu halten versuchte, die mit lautem Gebrüll Trümmerstücke warfen und blitzende Macheten schwenkten.

Über ihnen schwebte der Chinook wartend in der Luft. Ein Besatzungsmitglied ließ eine Strickleiter aus einer offenen Luke herunter. Zwei Soldaten liefen herbei und hielten das untere Ende der Strickleiter fest. Patricks Herz klopfte heftig, als er Don Meisel und Mel Belbruno erkannte, den Liebhaber seiner Tochter. Aber Mels Gesicht war hart und verkniffen, und seine Augen lagen tief in den H?hlen.

Sie schoben sich vorwärts, auf die Strickleiter zu.

»Das wird nicht gerade glamourös werden«, rief Thandie.

Gordo knurrte: »Ich hoffe nur, dass keines dieser zerlumpten Arschlöcher eine Boden-Luft-Rakete hat.«

Eine in Lumpen gekleidete Frau löste sich aus dem Getümmel und stürzte zu der Leiter. Sie war jung, nicht älter als zwanzig oder einundzwanzig, und sie trug ein Baby in einem improvisiertem Tragegestell auf der Brust. Don und Mel fingen sie ab. Sie begann sich zu wehren. »Lasst mich in dieses Ding rein!« Das Baby zappelte und schrie. Don und Mel zögerten, die Frau härter anzufassen, sah Patrick; sie hatten Angst, dem Baby könnte etwas geschehen.

Gordo trat vor, ein Messer in der Hand. Energisch schnitt er die Halteriemen des Tragegestells durch, entriss das Baby seiner Mutter und schleuderte es in die Menge. Die Frau gab den Kampf sofort auf und lief hinterher. »Und ich werde das Gesicht dieser Frau auf meinem Sterbebett sehen«, sagte Gordo und steckte das Messer in eine Scheide in seinem Ärmel.

Don verzog keine Miene. Er hielt Gordo die Leiter hin. »Es gibt nur vier Plätze im Chopper, Sir. Wir können nicht alle mitnehmen. «

Thandie stieß Gordo vorwärts. »Rauf mit Ihnen, Colonel. Befehle, denken Sie dran.«

»Und Sie auch«, blaffte Gordo und packte ihre Hand.

Edward Kenzie zerrte Patrick am Arm vorwärts. »Kommen Sie, Patrick, wir waren von Anfang an dabei. Ohne unser Geld wäre die Arche nicht gebaut worden – und es sind unsere Kinder, die diesen Vogel fliegen. Wir haben einiges gut.«

Aber Patrick entzog ihm seinen Arm.

Der Chopper senkte die Nase und bockte; ein Heckenschütze schoss sich ein, und eine Kugel prallte vom Rumpf ab.

»Sir«, sagte Don, »dieser Vogel steigt in einer Sekunde hoch.«

Edward Kenzie war auf der Leiter. »Groundwater«, brüllte er herunter, »was zum Teufel …?«

»Ohne mich, Edward. Wir hatten unsere Zeit.« Und gerade als der Hubschrauber emporstieg, machte Patrick einen Satz nach vorn und stieß Mel gegen die Leiter.

Mel hielt sich fest, um nicht hinzufallen, und wurde sofort in die Luft getragen; wie ein Engel fuhr er von der Erde empor. Patrick sah Mels offenen Mund, sein schockiertes Gesicht.

»Das ist für Holle«, sagte Patrick grimmig.

Don Meisel lachte nur. »Hübsches Timing, Mr. Groundwater. «

Eine Soldatin baute sich vor Don auf – hartes Gesicht, loses, krauses graues Haar unter dem Helm. »Sir. Die Stellung ist nicht mehr zu halten. Einige von uns werden versuchen, sich zu höher gelegenem Gelände durchzuschlagen.«

Don nickte. »Bleiben Sie dicht bei mir, Sir«, sagte er zu Patrick.

»Ich bin kein Soldat, mein Junge.«

Don drückte ihm ein AK-47 in die Arme. »Jetzt schon.«

Der Chinook verschwand, sein Getöse wich in den Himmel zurück, seine Lichter waren ein erlöschendes Sternbild. Und hoch über Patrick klarte der Himmel auf und gab den Blick auf das blutige Licht einer Mondfinsternis frei.


56



Als das Antlitz des Mondes vollständig durch den Erdschatten bedeckt wurde und jenes faszinierende Blutrot erblühte, hörte Lily Brooke die plötzlichen Laute des Erstaunens, die überall in der Floßgemeinschaft emporstiegen, das ehrfürchtige Gemurmel der Menge, die Rufe der Kinder: »Schau dir das an!«, in einer Vielzahl von Sprachen. An dem des Mondlichts beraubten Himmel kamen die Sterne zum Vorschein, beherrscht vom Jupiter, dem König der Planeten.

Lily stellte sich vor, wie es wohl wäre, jetzt vom Mond zur Erde zu schauen, den Busen des Erdmeeres im getönten Mondlicht schimmern zu sehen, unbegrenzt von Pol zu Pol bis auf die letzten paar Berggipfel-Inseln mit ihren Tupfern aus Flößen, Booten und Abfallinseln, und die Menschen zu erahnen, die ihr Gesicht hoben, um das Schauspiel am Himmel zu betrachten.

Sie saß zusammen mit Nathan Lammockson auf dem aus der Arche Drei geborgenen Fetzen Plastikplane, der über den klebrigen Seetang-Algen-Boden ihres Floßes ausgebreitet war. Sie hatte versucht, es Nathan mit einem Haufen Decken bequem zu machen. In den letzten paar Jahren hatte ihn die Arthritis zu plagen begonnen, wofür er die Feuchtigkeit des Meeres verantwortlich machte.

Nathan, der sanft hin und her schaukelte, redete auf sie ein; er spulte seinen üblichen Sermon ab, legte wie immer seine Vision der Zukunft dar.

»Die Erde hat uns geboren und uns dann mit harter, liebevoller Hand geformt. Dieses neue Wasserzeitalter, das Hydrozän, ist nur eine weitere grobe Gussform, und wir werden es überstehen, klüger und stärker denn je. Wir sind die Kinder des Hydrozäns. Ja, das gefällt mir …« Er schaute sich um, als suchte er jemanden, der die Phrase für ihn notierte. »Verdammte Schimpansen, ich meine, Kinder, die schwimmen bloß …« Seine Augen schlossen sich, als schliefe er beim Reden ein, und er schaukelte steif hin und her, dreiundsiebzig Jahre alt.

»Vielleicht sollten Sie zu Bett gehen, Nathan.«

»Die schwimmen bloß …«

Am Himmel flammte ein Licht auf. Lily blickte in dem Glauben nach oben, die Mondfinsternis wäre zu Ende und das helle Sonnenlicht fiele wieder ungehindert auf die Oberfläche des Mondes. Aber der Mond lag noch immer vollständig im Erdschatten und war so rund und braun wie zuvor.

Es war der Jupiter – der Jupiter leuchtete auf. Er war immer noch ein Lichtpunkt, aber viel heller, so hell, dass er scharfrandige Schatten auf den glänzenden Tang des Floßsubstrats warf. Das Licht wurde jedoch kleiner, als wiche es in die Ferne zurück. Und bald leuchtete der Jupiter wieder allein, so wie zuvor.

Das war die Arche, dachte sie sofort. Das war Grace. Was konnte es sonst sein?

Dann erschien am äußersten Rand des Mondes ein weißer Streifen, Mondberge, die ins Sonnenlicht explodierten. Lily war rasch geblendet und konnte den Jupiter nicht mehr sehen. Sie würde es nie erfahren.

»Ich habe euch hierhergebracht, nicht wahr? Ich habe euch am Leben erhalten.«

»Ja, Nathan.« Sie legte ihm eine Decke um die Schultern, während er hin und her schaukelte und etwas von Evolution, Schicksal und Kindern nuschelte, ein alter Mann, der ?ber seinen arthritischen Schmerz gebeugt war. ?Ja, das haben Sie.?

Aber wenn es die Arche gewesen war, dachte sie, dann hatte die Crew den Zeitpunkt dieses seltsamen Aufbruchs vielleicht bewusst gewählt, in dem Wissen, dass die Mondfinsternis, dieses Schauspiel am Himmel, auf der dunklen Seite der Erde die Blicke auf sich ziehen würde. Es wäre ein tolles Kunststück, eine grandiose Art, Auf Wiedersehen zu sagen.

»Ich habe euch am Leben erhalten. Wir müssen uns anpassen. Die Schimpansen, ich meine, die Kinder, sie müssen lernen …«


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