Zweiter Teil. 2025 – 2041



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JUNI 2025



In Denver goss es in Strömen, ein stetiger, nicht nachlassender Regen, der aus einem grauen Himmel fiel. Er klackerte auf die Tragflächen des Flugzeugs, das Patrick Groundwater und seine Tochter über die Stadt hereinbrachte, glänzte auf den Start- und Landebahnen sowie den skulptural geformten Dächern der Terminalgebäude, als Patrick die sechsjährige Holle durch den internationalen Flughafen trug, diskret beschattet von Alice Sylvan und ihrem Sicherheitsteam, und prasselte auf die Dächer der Wagen, die sie kilometerweit durch ausgedehnte Vorstädte voller IDP-Lager und Wohlfahrtseinrichtungen in Richtung Innenstadt trugen. Bis auf Streifenwagen, Regierungsfahrzeuge und eine Handvoll Privatwagen war der Interstate Highway unter den rostenden Hinweisschildern leer. Die Gebirgslinie im Westen war vollständig unsichtbar.

Patrick hatte Denver vor langer Zeit einmal besucht, in seiner frühen Jugend, auf dem Weg zu einem Skiurlaub in Aspen. Das war vor der Jahrtausendwende gewesen, vielleicht fünfzehn Jahre vor Beginn der Flut. Er erinnerte sich noch an die Atemnot, die er verspürt hatte, und heute kam ihm die Luft genauso dünn vor. Damals hatte es überhaupt nicht geregnet, bis auf ein, zwei heftige Gewitter, die irgendwie amüsant gewesen waren, ganz anders als dieser gleichmäßige, unablässige Regen. Doch seit jener Zeit war das Meer um zweihundert Meter gestiegen, die Luft war voller Wärme und Feuchtigkeit, und selbst in der ?Mile High City?, wie Denver auch genannt wurde, gab es kein Entrinnen mehr vor dem Regen. Nun, Thandie Jones w?rde Patrick und den anderen LaRei-Kr?sussen, die sich hier versammelt hatten, morgen alles dar?ber erz?hlen.

All ihre Worte würden keinen einzigen Regentropfen vom Kopf seiner Tochter ablenken. Aber er hoffte, in Denver Leute zu treffen, die in dieser Sache etwas zu unternehmen gedachten.


Beim Hotel wurden sie von lächelnden Portiers in Galoschen empfangen, die Regenschirme schwangen.

Auf den ersten Blick wirkte das Brown Palace beruhigend auf Patrick. Es stand auf einem eigenartigen dreieckigen Grundstück, wo zwei Straßennetze kollidierten, und erinnerte ihn seltsamerweise an einen Ozeandampfer aus rotem Granit und Sandstein. Im Innern befand sich ein acht Stockwerke hohes Atrium. Während Alice die Anmeldeformalitäten erledigte, lief Holle auf dem polierten Boden umher, zeigte auf die goldenen Onyxsäulen, hob ihr kleines Gesicht und schaute mit großen Augen zu den filigranen Geländern und der Buntglasdecke hoch über ihr hinauf, von der ein riesiges Sternenbanner herabhing. In einer allmählich zusammenbrechenden Welt war Verlass darauf, dass ein kirchenartiger Bau aus viktorianischer Zeit wie das Brown unerschütterlich stand, solide und komfortabel, während neuere Gebäude aus Glas und Stahlbeton zerbröckelten. Außerdem lag es nur ein paar Hundert Meter von Denvers Verwaltungszentrum entfernt, wo er morgen früh mit Nathan Lammockson und den anderen LaRei-Leuten verabredet war.

Die Suite, die Patrick bekam, bot alles Erforderliche, um Holle bei Laune zu halten, darunter eine kinderfreundliche Minibar, einen Beutel mit Büchern und Spielzeug sowie Bildschirme mit einer Vielzahl von Unterhaltungsangeboten. Aushänge mahnten zum sparsamen Umgang mit Wasser. Das Wetter in Denver war stets vom Regen in den Rockies bestimmt gewesen, doch obwohl das Klima jetzt viel feuchter war, gef?hrdeten die St?rung der Niederschlagsmuster und das Bev?lkerungswachstum die Trinkwasserversorgung.

Ein Bildschirm war fest auf einen Nachrichtenkanal geschaltet, der von der Rocky Mountain News betrieben wurde, einer eingegangenen und als Fernsehsender wiederbelebten alten Zeitung. Über einem durchlaufenden Textstreifen mit mehr oder weniger trostlosen Schlagzeilen zeigte der Kanal Bilder der jüngsten Katastrophe; in diesem Fall war es so etwas wie ein begrenzter Bürgerkrieg, der in der Umgebung von Alice Springs in Australien ausgebrochen war, wo die Einwohner sich gegen Versuche der Staatsregierung wehrten, Flüchtlinge aus Victoria, New South Wales und South Australia, die wegen der Überschwemmungen evakuiert werden mussten, dorthin umzusiedeln.

Holle spielte vor dem Fernseher; sie untersuchte die Spielsachen. Gegen das Bombardement der Schrecknisse in den Nachrichten schien sie immun zu sein, so wie Patrick in seiner Kindheit im längst vergangenen zwanzigsten Jahrhundert die diversen Katastrophen in aller Welt unwirklich erschienen waren. Holles Leben würde wahrscheinlich von schlechten Nachrichten geprägt werden; am besten, man versuchte also gar nicht erst, etwas vor ihr zu verbergen. Er stellte sich gern vor, dass Linda diese intuitive Entscheidung unterstützt hätte, aber er würde es nie erfahren.

An diesem Abend ging er mit Holle in einem der schicken Restaurants des Hotels essen. Die Kellner servierten ihr elegant und mit großem Trara die Kinderversion einer Paella. Es war ein Sonderwunsch von Patrick, eine Art Trostspeise, ein Gericht, das ihre Mutter ihr immer zubereitet hatte. Hinterher, nach ihrer R?ckkehr in die Suite, spielte er Karten mit ihr, lie? sie im Fernsehen ein paar Folgen von Friends anschauen und las ihr vor, bis sie einschlief.

Dann klappte er den Laptop auf und checkte seine E-Mails.

Die großen Bauprojekte auf den Great Plains kamen gut voran, obwohl unzufriedene Flüchtlinge, die dort angesiedelt wurden, sie verbittert als »Friedmanburgs« bezeichneten. Er leitete das mit der Bitte um Rat an seine PR-Abteilung weiter.

Patrick war überdies an der mit Hochdruck betriebenen Tagebauförderung der Athabasca-Ölsande in Alberta beteiligt. Öl, Kohle, Gas und Ölschiefer wurden in Colorado überall westlich der Rockies bereits in großem Umfang gefördert. Das Alberta-Projekt hatte jedoch ganz andere Dimensionen. Angeblich wurde es von der nach Edmonton verlegten kanadischen Regierung unterstützt, aber das diente lediglich als Feigenblatt. Die amerikanische Bundesregierung in Denver wollte möglichst viele der zighundert Milliarden Barrel Öl herausholen, die sich aus dem Bitumen gewinnen ließen, bevor das Meer sich in nicht allzu vielen Jahren, wenn die pessimistischeren Experten Recht hatten, über ihnen schloss. Dadurch wollte die Regierung kurzfristig ihre eigene Position sichern, aber auch eine Grundlage für die nationale Erholung an jenem ersehnten Tag schaffen, an dem die Wassermassen zurückzuweichen begannen. Die Ökologie, die Umwelt und so weiter hatten bereits katastrophalen Schaden gelitten. Aber reiche Männer am richtigen Platz, so wie Patrick Groundwater, häuften sogar noch größere Reichtümer an. Patrick hatte sich nicht träumen lassen, dass er jemals eine solche Rolle übernehmen würde. Aber jemand musste es tun, und er versuchte, die Aufgaben, vor die er sich gestellt sah, gewissenhaft zu erfüllen. Das war nun einmal der Lauf der Dinge.

Ein leises Schnarchen verriet ihm, dass Holle tief und fest schlief. Er sah nach ihr, zog die Decke ein wenig fester um sie und vergewisserte sich, dass ihr Angel ausgeschaltet war.

Dann machte er sich wieder an die Arbeit.


Am nächsten Morgen weckte ihn Holle wie üblich um sechs Uhr. Zu seiner großen Erleichterung regnete es nicht, und die Sommersonne schaffte es hin und wieder, die turmhoch aufragenden Wolken zu durchbrechen. Gegen acht Uhr waren sie mit dem Frühstück fertig.

Trotz Alice Sylvans Protesten beschloss er, einen Spaziergang zu machen und sich ein paar Sehenswürdigkeiten anzuschauen; sie hatten noch ein paar Stunden Zeit bis zu seiner Verabredung mit Nathan Lammockson in der Stadtbibliothek. Holle hatte den größten Teil ihres jungen Lebens in gesicherten Siedlungen verbracht. Es würde eine Bereicherung für sie sein, einmal eine halbwegs funktionierende Stadt zu sehen. Also packte er eine Tasche mit den wichtigsten Dingen, die man für ein Kind brauchte: Papiertaschentücher, ein Buch, Spielsachen, Holles Angel, eine Wasserflasche. Holle trug ein Sommerkleid, und nachdem sie Sonnencreme auf Arme und Gesicht aufgetragen und einen pinkfarbenen Hut aufgesetzt hatte, waren sie abmarschbereit.

Alices Team verteilte sich in ihrer Umgebung, als sie aufbrachen und sich durch die morgendlichen Menschenmengen auf der Tremont Place zur 16th Street Mall vorarbeiteten. Die Gebäude waren von zerbrochenen Glasscheiben und abblätternder Farbe verunstaltet, auf den Grünflächen wuchsen Feldfrüchte wie Kartoffeln und Bohnen, und die Bäume waren schon längst gefällt und zu Brennholz verarbeitet worden. Auf den breiten Boulevards fuhren nur wenige Fahrzeuge – man sah eher Panzer oder Panzerwagen als PKWs ?, aber die Stra?en waren voller Fu?g?nger, Fahrr?der und Rikschas, die an l?ngst erloschenen Verkehrsampeln vorbeistr?mten.

Die Mall selbst war ein schnurgerader, von Geschäften gesäumter Streifen, eine ehemalige Fußgängerzone mit rostenden Straßenbahngleisen und Baumstümpfen. Die Oberleitungsbusse für die Einkaufsbummler fuhren nicht mehr, dafür tuckerten schwere Fahrzeuge vom Sheriff’s Office und der Polizei langsam die Straße entlang; ihre Megafone blökten hin und wieder barsche Befehle. Patrick staunte über die vielen Soldaten und Sicherheitskräfte, die er sah. Vermutlich fungierte die Mall als Überwachungskorridor, der sich durch den Central Business District und vielleicht bis nach Lower Downtown erstreckte.

Der Spaziergang erwies sich als relativ unproblematisch. Nur an den Rändern der Mall kampierten Obdachlose, darunter einige Familien mit Kindern, in Hauseingängen unter Haufen von Decken und Pappendeckeln. Fußstreifen von Polizisten und Heimatschützern prüften die Passierscheine und biometrischen ID-Marker der keinen Widerstand leistenden IDPs, um sich zu vergewissern, dass sich im Lauf der Nacht keine weiteren Illegalen in die Stadt geschlichen hatten. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen verteilten Schalen mit Bohnen und Reis sowie Becher mit heißem Wasser.

Einige Geschäfte hatten noch geöffnet. In den Lebensmittelläden und Restaurants gab es fast ausschließlich regionale Produkte. In den anderen Schaufenstern sah man überholte oder reparierte alte Elektronikartikel, Kleidungsstücke und Accessoires, Schuhe und Mäntel, ja sogar Bücher, alles recycelt oder aus versunkenen Städten geborgen. Patrick fand die Existenz der Geschäfte tröstlich; sie vermittelte ihm den Eindruck, dass er sich in einer funktionierenden Stadt befand, ein Kontrast zu dem Chaos, das in einem gro?en Teil des von der Flut bisher noch verschont gebliebenen Landes herrschte. Doch falls sich ?berhaupt etwas von Denvers fr?herem Charakter, von seinen Urspr?ngen als Handelsposten im Westen, bis ins 21. Jahrhundert hineingerettet hatte, so war es der gro?en Ausl?schung durch die Fl?chtlingsstr?me zum Opfer gefallen. Ohne etwas zu kaufen, gingen sie weiter.

Sie bogen auf die California Street ein und gingen zum Colorado Convention Center an der 14. Straße hinunter. Es war in ein Auffanglager für Flüchtlinge verwandelt worden, und lange Schlangen wanden sich durch die umliegenden Straßen. Aus der Entfernung waren die Vertriebenen graue Klumpen des Elends, so wie immer. Der Zeitpunkt des Treffens rückte näher, und sie folgten Alice die 14. Straße entlang zum Civic Centre Park. Als sie die Colfax Avenue zu überqueren versuchten, die in Ost-West-Richtung verlaufende Hauptverkehrsader, mussten sie einen Kordon aus Polizisten und militärischen Einheiten überwinden, der das Verwaltungszentrum abriegelte.

Patrick führte seine Tochter an den monumentalen Gebäuden vorbei, die um den Park herum aufragten: die amerikanische Münzanstalt, das City and County Building mit seiner gebogenen Fassade und die Stadtbibliothek, in der Thandie Jones ihren Vortrag halten würde. Das Kunstmuseum war besonders eindrucksvoll, und Holle starrte seine kantigen geometrischen Formen an, die den aufgegebenen Origami-Experimenten eines Riesen ähnelten. Aber die dünnen Metallplatten waren streifig und korrodiert, die Fenster mit Brettern vernagelt, die Anschlagtafeln leer. Abgesehen von baulichen Notmaßnahmen zur Bewältigung der Flüchtlingsströme hatte die herannahende Flut um das Jahr 2015 herum sämtliche Großstädte der Erde, so weit sie nicht ohnehin im Wasser versunken waren, in einen Zustand der Starre versetzt. Das war nun ein Jahrzehnt her, und man sah vernachl?ssigten oder zweckentfremdeten Geb?uden wie dem Museum ihr Alter an.

Als größte Stadt im Umkreis von tausend Kilometern und Knotenpunkt des Transport- und Kommunikationswesens war Denver schon lange vor der Flut ein wichtiges staatliches Zentrum gewesen. Nachdem die Hauptstadt im Gefolge der Überschwemmung Washingtons vor sechs Jahren hierherverlegt worden war, hatten die großen Ministerien Immobilien in der ganzen Stadt beschlagnahmt. Präsidentin Vasquez, die als Erste seit Roosevelt eine dritte Amtszeit absolvierte, war in den Gouverneurssitz eingezogen. Patrick wusste zufällig, dass ein großer Teil der Regierungsarbeit an einem sichereren Ort erledigt wurde, in einem alten regionalen Kommandozentrum der Katastrophenhilfeagentur FEMA, einem zweistöckigen Bunker, der zu diesem Zweck renoviert und auf Vordermann gebracht worden war. Es gab hier sogar Botschaften, darunter auch einige von überfluteten Staaten; ihre Fahnen hingen schlaff in der Morgenluft. Sie kamen Patrick wie klägliche Relikte vor.

Dennoch hatte dieses Verwaltungszentrum das Flair einer großen Hauptstadt, so wie Washington in den alten Zeiten. Anzugträger eilten geschäftig hierhin und dorthin; viele von ihnen redeten ins Leere oder trugen beim Sprechen die typische abwesende Miene von Angel-Nutzern zur Schau. Patrick nahm an, dass sie Lobbyisten, Bürokraten und Mitarbeiter verschiedener politischer Parteien waren, vielleicht sogar Kongressabgeordnete und Senatoren. Er spürte, dass sich hier enorme Ressourcen bündelten, dass die Stadt der Brennpunkt starker Energien und großer Entschlossenheit war, ein neues Refugium für den amerikanischen Geist und eine Basis für die bevorstehende Erholung. Die Pr?sidentin selbst befand sich in Denver. Wenn man hier nicht in Sicherheit war, wo dann?

Zwei Hubschrauber schossen mit gewaltigem Lärm über sie hinweg. Holle kreischte auf und hüpfte aufgeregt herum.


Holle war entzückt vom State Capitol, einem achtzehnstöckigen Bau mit griechischen Säulen, Rotunde und einer goldenen Kuppel, die in der wässrigen Morgensonne glänzte. Sie sprang die steinernen Stufen des Capitols hinauf und zählte mit, bis sie zur achtzehnten kam. Hier war etwas in die Stufe eingemeißelt, und sie las mit mühevoller Sorgfalt: »›Eine Meile über dem Meeresspiegel. ‹ Stimmt das, Dad?«

»So ist es, Schätzchen. Eine Meile hoch, genau hier.«

Eine raue Stimme mischte sich ein. »Na ja, eine Meile minus sechshundert Fuß oder so. Eine dynamische Markierung wäre besser. Hey, George, vielleicht sollte AxysCorp dafür mal ein Angebot einreichen …« Ein kleiner, stämmiger Mittfünfziger kam die Stufen herab auf sie zu. Sein grau meliertes Haar war kurzgeschoren, und seine fleischige Nase und das Doppelkinn glänzten vor Schweiß. Er hatte einen britischen Akzent, wie man ihn vielleicht in London oder Essex sprach. Zwei Männer begleiteten ihn, der eine hochgewachsen, ruhig und dunkelhäutig, der andere klein und aufgeregt. »Patrick Groundwater, Sie alter Schwerenöter. Freut mich, Sie wiederzusehen.« Er streckte ihm die Hand hin. »Nathan Lammockson.«


5



Holle stand mitten in der Runde der vier Männer und schaute zu ihnen hoch.

Nathan stellte seine Begleiter vor. »George Camden, einer meiner leitenden Mitarbeiter bei AxysCorp.« Der dunkelhäutige Camden war schlank, selbstbewusst und offenbar kompetent; er erwiderte Patricks Blick. Auf der Brust seines AxysCorp-blauen Overalls prangte das berühmte Konzernlogo, die Erde in einer hohlen Hand. Wie Patricks Alice blieb er stumm und hielt sich wachsam im Hintergrund.

»Und Jerzy Glemp.«

Glemp – pummelig, mit fettigen, von grauen Strähnen durchzogenen schwarzen Haaren und einer schweren, altmodischen Brille auf der dünnen Nase – war nervös und angespannt; seine Hand war feucht. Er trug einen bieder wirkenden Anzug. »Mr. Groundwater. Sehr erfreut, Sie kennenzulernen.« Er hatte einen starken osteuropäischen, vielleicht russischen Akzent. Wenn er lächelte, legten sich seine stoppeligen Hängebacken in Falten. »Ich kenne Ihren Namen von Nathan. Er hat mir erzählt, dass Sie einer derjenigen waren, die sich besorgt über die Reaktion des IPCC 2018 in New York geäußert haben.«

2018 – in diesem Jahr hatte die unorthodoxe Ozeanographin Thandie Jones dem Weltklimarat ihre Schlussfolgerungen über den Zustand der Welt präsentiert. Bei den Wissenschaftlern war sie jedoch auf Patricks Ansicht nach ungerechtfertigte Skepsis gesto?en; bei deren politischen Herren hatte sie sich in den darauffolgenden Monaten und Jahren dann mit Realit?tsverweigerung und Ausfl?chten konfrontiert gesehen. ?Ja, ich war dabei ? dort sind wir uns zum ersten Mal begegnet, stimmt?s, Nathan??

Nathan grinste und klopfte Patrick auf die Schulter. »Nach der Sitzung habe ich gleich an Ort und Stelle dafür gesorgt, dass er in LaRei aufgenommen wurde. Teufel nochmal, mir war sofort klar, das er ein weitsichtiger, ideenreicher Mann war – jemand, der den ganzen Unsinn und die falschen Hoffnungen durchschaut, der langfristig denkt und die Dinge anpackt. Und ich hatte Recht, nicht wahr, Patrick? Nach dieser Konferenz haben Sie angefangen, all dieses Land auf den Plains aufzukaufen. Das war wirklich sehr klug. Und ich möchte – wir alle möchten –, dass so etwas auch bei unserem heutigen Treffen herauskommt. Eine ganz neue Richtung.«

»Sie sitzen also jetzt in Peru?«

»Ja. Man sollte meinen, ich wäre die Sonne gewöhnt.« Er wischte sich Schweiß von der fleischigen Stirn. »Ich hätte mich eincremen sollen. Manchmal vermisst man den Regen beinahe. Aber selbst in den Anden schüttet es wie in Manchester.«

Jerzy Glemp sagte: »Sie stammen aus Schottland, Mr. Groundwater, nicht wahr?«

»Habe ich immer noch einen so starken Akzent?« Aber Glemp wusste aus Nathans Akten bestimmt alles über ihn. »Geboren und aufgewachsen in Orkney, in einer alten Familie. Wir sind mal mit Holle dort gewesen. Haben sie im Ring of Brodgar herumkrabbeln lassen, damit sie sagen konnte, dass sie da war, wo ihre Vorfahren aufwuchsen. Sie war erst sechs Monate alt. Aber jetzt sind die Inseln allesamt untergegangen. Wir sind also entwurzelt.«

»Wie so viele von uns«, sagte Glemp. »Und Ihre Frau …«

»Kam auch von dort«, sagte Patrick. »Wir haben sie vor einem Jahr verloren. Krebs.« Die drei Männer schauten betreten drein. »Ist schon gut. Holle weiß darüber Bescheid.«

Holle starrte zu Glemp hinauf. »Wo kommt der Mann her?«

Glemp lachte. »Wir haben dich gar nicht beachtet, stimmt’s? Sie hat Ihre Hautfarbe«, sagte er zu Patrick. »Und Ihren charmanten Akzent. Ich komme aus Polen.«

»Wo ist das?«

Patrick setzte zu einer Erklärung an, aber Glemp schnitt ihm das Wort ab. »Nirgends. Unter dem Meer. Ein Ort, wo die Fische spielen können.«

»Sie sind komisch.«

»Danke sehr. Weißt du, heute werden wir dafür sorgen, dass deine Kinder, wenn du mal groß bist, einen Ort haben, wo sie spielen können.«

»Statt der Fische?«

»Statt der Fische. Genau.«

»Sie sind komisch.«

»Er arbeitet bei Eschatology, Inc.«, wandte sich Nathan an Patrick. »So ist er immer. Man muss ihn einfach mögen. Hoffen wir, dass er Recht hat.«


Die Bibliothek war ein Zusammenprall architektonischer Epochen, ein Sandstein- und Glasklotz aus den 1950er Jahren, an dem ein Rotziegelklotz aus den Neunzigern klebte; ein weiteres alterndes Bauwerk, das seit einem Jahrzehnt oder länger nicht mehr renoviert worden war. Um das Gebäude betreten zu können, mussten sie erneut einen Sicherheitskordon überwinden. Diesmal bestand er aus LaRei-Leuten, und die Kontrollen waren erheblich schärfer als bei den Polizei- und Militärsperren anderenorts.

Ein offener Bereich im Erdgeschoss der Bibliothek war für eine Konferenz hergerichtet worden; schlichte Klappstühle reihten sich vor einem Podium. Es war eine heimelige Szenerie, fand Patrick, als wären sie zu einer Gemeindeversammlung hier, um über Bauanträge zu diskutieren. Aber in den hinteren Sitzreihen hockten schattenhafte Gestalten wie Alice und Camden, Wachleute und Aufpasser. Und etwa zwanzig der rund fünfzig Stühle waren bereits von anderen Männern und Frauen besetzt. Viele der Gesichter erkannte Patrick sofort aus Nachrichtenmedien, von Tagungen und persönlichen Kontakten wieder. In diesem Raum waren Leute versammelt, im Vergleich zu denen Patrick und sogar Nathan Lammockson arm wie Kirchenmäuse waren.

Dies war LaRei, eine exklusive Geheimgesellschaft, die in den Jahren vor der Überschwemmung als Quelle von Kontakten bezüglich guter Schulen, exklusiver Ferienorte und sündhaft teurer Objekte wie Armbanduhren und Schmuck gegründet und nun eine Art Survivalisten-Netz der Superreichen geworden war. LaRei, wo man selbst mit einem Nettovermögen von einer Milliarde Dollar auf verschlossene Türen stieß; ohne Nathans Unterstützung wäre Patrick nicht hier gewesen.

An der Stirnseite des Raumes, neben dem Podium, stand eine schlanke Schwarze von ungefähr vierzig Jahren in einem zerschlissenen Overall, der früher vielleicht einmal AxysCorp-blau gewesen war. Sie baute gerade eine Kristallkugel auf, ein großes, dreidimensionales Projektionssystem, das ein Bild der sich drehenden Erde zeigte. Patrick erkannte Thandie Jones.

Der hübsche Erdball, dessen blauer Schein Glanzlichter auf die polierten Holzvertäfelungen und die Bücherreihen in den Regalen warf, zog Holles Aufmerksamkeit auf sich. Wie Patrick erwartet hatte, begann sie sich jedoch rasch zu langweilen. Er ließ sie auf den Fußboden gleiten und den Inhalt seiner Umhängetasche erforschen; sie zog B?cher heraus. Als sie ihren Angel einschaltete, wehten ein paar Takte Musik durch Patricks Kopf, bevor sie das Ger?t zum Schweigen brachte. Ihr aktuelles Lieblingsst?ck war Paul Simons ?Graceland?. Niemand machte mehr neue Musik, aber das spielte f?r sie keine Rolle; sie entwickelte ihre eigenen Vorlieben und arbeitete sich durch Patricks Sammlung, in der ihr alles so neu war, als w?re es gestern erst geschrieben worden.

Dann bemerkte sie ein anderes Kind, ein blondes kleines Mädchen ungefähr in ihrem Alter, das auf der anderen Seite des Raumes saß. Sie starrten einander an, als ob die Erwachsenen um sie herum so fern und unwichtig wären wie Wolken.


6



Ein stämmiger Weißer von vielleicht sechzig Jahren mit haarlosem Schädel und rundem, blassem Gesicht baute sich vor Thandie auf. »Sind Sie so weit, Dr. Jones?« Er drehte sich zum Publikum um. »Ich glaube, Sie kennen mich alle. Ich bin Edward Kenzie, Vorsitzender von LaRei.« Er sprach mit einem rauen Chicagoer Akzent. Seine Stimme wurde nicht verstärkt, aber die Gruppe war so klein und die leere Bibliothek so still, dass Patrick ihn problemlos verstehen konnte. »Meine kleine Tochter, Kelly, kennen Sie vielleicht noch nicht.« Er deutete auf das Kind, das mit Holle spielte. »Aber in gewissem Sinn sind wir heute ihretwegen hier.« Seine Finger waren dick und weich, bemerkte Patrick, mit nikotingelben Flecken an den Spitzen, ein seltsamer, atavistischer Anblick.

»Viele von uns haben vor sieben Jahren Dr. Jones’ Vortrag beim IPCC gehört«, fuhr Kenzie fort. »Nun, da ich wie sie aus Chicago komme, habe ich ihre berufliche Laufbahn seit damals ebenso verfolgt wie die von ihr verfassten Berichte und wissenschaftlichen Beiträge, und ich kann Ihnen sagen, dass jede ihrer damaligen Vorhersagen praktisch hundertprozentig eingetroffen ist, und jede unserer Vorhersagen über die Untätigkeit unserer Regierungen bestürzenderweise auch. Wir haben sie deshalb gebeten, noch einmal zu uns zu sprechen, uns sozusagen eine aktualisierte Fassung ihres Vortrags beim Weltklimarat zu halten. Anschließend möchte ich Ihnen einen Vorschlag zu unserem weiteren Vorgehen unterbreiten. Dr. Jones.? Und er nahm mit verschr?nkten Armen und konzentrierter Miene Platz.

Thandie ließ den Blick durch den Raum schweifen. Sie wirkte abgehärtet und wettergegerbt, wie eine Feldforscherin eben. »Danke. Ich bin Thandie Jones. Meine Spezialgebiete sind Ozeanographie und Klimatologie. Offiziell gehöre ich zur NOAA, der Wetter- und Ozeanographiebehörde der Vereinigten Staaten, die zufällig eine Dienststelle in Boulder, Colorado, hat, also noch oberhalb des steigenden Meeresspiegels. Ich war bei einer der ersten aufsehenerregenden Überschwemmungen dabei, 2016 in London, und habe seitdem noch ein paar der darauf folgenden dramatischen Ereignisse miterlebt – vielfach in historischer Zeit beispiellose hydrologische Katastrophen …«

Sie sprach von einer weltweiten Gemeinschaft von Klimaforschern und anderen Fachleuten, die die immer schneller aufeinander folgenden Ereignisse beobachteten. Es gab nach wie vor Seminare, nach wie vor so etwas wie die formale Publikation und den Wissenschaftsprozess. Aber in der Regel konnten sie die gewaltigen Erschütterungen nur registrieren und zu erraten versuchen, was als Nächstes geschehen würde.

»Bezahlt werde ich dafür, Vorhersagemodelle für das Meer und das Klima zu entwickeln und die Regierung in Denver bei ihren Zukunftsplanungen zu unterstützen. Berüchtigt bin ich, wie Sie vermutlich wissen, für meine Spekulationen über die Ursache und den möglichen Ausgang der globalen Flutkatastrophe. «

Sie wandte sich ihrer rotierenden Kristallkugel zu, der sich drehenden, dreidimensionalen Erde, einer optischen Täuschung, die von herumwirbelnden Bildschirmen, Linsen und Spiegeln sowie mehreren Projektoren erzeugt wurde. Patrick erinnerte sich, dass sie 2018 ein ähnliches Display benutzt hatte, und er fragte sich, ob es genau dieselbe Apparatur war. H?chstwahrscheinlich. ?Dies ist die Erde, wie wir sie vor Beginn der Flut kannten, im Jahr 2012.? Man sah eine wolkenlose Welt; die vertrauten Formen der Kontinente hoben sich braun-gr?n gegen einen blauen Ozean ab. ?Und hier leben wir heute.? Sie dr?ckte auf eine Taste.

Die Meere schimmerten und stiegen, und das Land schmolz dahin. Das Wasser radierte breite Streifen von China weg, überspülte Nordeuropa bis tief nach Russland hinein und verschlang in Südamerika ein Stück von Amazonien. Patricks Blick wurde von Großbritannien angezogen. Südengland war weitgehend verschwunden, der Rest des Landes hatte sich in einen Archipel von Hochlandgebieten verwandelt.

In Nordamerika hatte das erbarmungslose Meer Florida ausgelöscht und die Ostküstenstaaten bis nach Maine hinauf sowie die Staaten am Golf von Mexiko bis nach Kentucky im Norden überflutet. Im Westen war der Ozean bis tief in die Täler Kaliforniens hinein vorgedrungen. Großstädte waren im Wasser versunken und aufgegeben worden: New York, Boston, New Orleans, sogar Washington DC. Der Verlust so großer Teile der alten Vereinigten Staaten östlich der Ozarks hatte zu einer massiven Vertreibung der Bevölkerung geführt. Amerika war so furchtbar jung, dachte Patrick. Vor gerade einmal zweihundert Jahren hatten europäische Siedler zum ersten Mal den Kontinent durchquert, wenig später gefolgt von den großen Wanderungsbewegungen nach Westen auf der Suche nach Land und Gold. Nun war eine weitere gewaltige Flucht nach Westen im Gange.

»Ihnen brauche ich die daraus resultierenden ökonomischen Verwerfungen nicht ausführlich zu schildern, ebenso wenig wie die ungeheure menschliche Tragödie. Erst vor ein paar Monaten habe ich ein riesiges Fl?chtlingslager bei Amarillo in Texas besucht. Aber ich m?chte doch betonen, dass all dies die Richtigkeit meiner Modelle illustriert. Als ich 2018 vor dem Weltklimarat gesprochen habe, hatte die Flut im Durchschnitt lediglich eine H?he von dreizehn Metern ?ber dem alten Meeresspiegel erreicht. Damals lautete der wissenschaftliche Konsens, das Wasser k?nne nicht h?her als etwa achtzig Meter steigen, weil das die Obergrenze der Eiskappenabschmelzung sei. Nun, genau wie von meinen Modellen damals vorhergesagt, sind wir inzwischen bei einem Anstieg von ungef?hr zweihundert Metern angelangt. Der weitere Anstieg betr?gt gegenw?rtig rund drei?ig Meter pro Jahr und folgt dabei einer Exponentialkurve aufw?rts. Trotz aller Dementis der wissenschaftlichen Gemeinde und der Regierungen scheint kein Zweifel daran zu bestehen, dass das Schlimmste erst noch kommt. Was die Quelle des Anstiegs betrifft, so haben wir weiterhin Daten gesammelt, und wieder hat jedes neue Faktum meine Prognosen von 2018 best?tigt.?

Thandie hatte bewiesen, dass der Anstieg des Meeresspiegels nicht von schmelzendem Eis herrührte, sondern von Ejektionen aus unterirdischen Meeren, aus Wasserspeichern im Erdinnern. Sie zeigte ihnen Bilder von U-Boot-Erkundungsfahrten zu gewaltigen, turbulenten Unterwasserquellen, wo heißes, mit Mineralien versetztes Wasser aus den Tiefen des felsigen Erdmantels sich gewaltsam seinen Weg durch den Untergrund bahnte.

Niemand wusste, warum die Wasserspeicher in der Tiefe gerade jetzt aufgebrochen waren. Es hatte auch früher schon drastische und plötzliche Veränderungen des Erdklimas gegeben. Vielleicht war dies ebenfalls nur solch ein dramatischer, aber natürlicher Übergang. Vielleicht war jedoch auch der Mensch daran schuld.

»In der Praxis spielt die Ursache allerdings keine Rolle«, sagte Thandie, »und alle Schuldzuschreibungen sind zwecklos. Was auch immer die Ursache sein mag, wir müssen mit den Folgen fertigwerden. Und die sind von nun an unbekannt. Bisher haben wir uns noch an einigen Präzedenzfällen orientieren können. In der Kreidezeit, als die Dinosaurier noch munter herumliefen, war die Erde zum Beispiel wärmer und feuchter, und die Meeresspiegel waren viel höher. Jetzt lassen wir solche Präzedenzfälle jedoch hinter uns und treten in eine Ära ein, in der die Meere so hoch sein werden wie noch nie seit Entstehung der Kontinente vor mehr als zwei Milliarden Jahren.

Mir ist bekannt, dass die Bundesregierung wie auch andere Behörden und Organisationen bei ihren Planungen weiterhin von einem Rückgang der Flut und der Chance auf eine Erholung ausgehen. Diverse Ressorts arbeiten beispielsweise an Plänen für die ordnungsgemäße Wiederbesiedlung ehemals überfluteter Gebiete. Ich muss jedoch sagen, ich sehe keinen Grund, weshalb die Überschwemmungen in absehbarer Zeit aufhören sollten. Tatsächlich fällt es uns schwer, eine Obergrenze für den Anstieg des Meeresspiegels festzulegen. Wenn die von uns entdeckten unterirdischen Kammern all ihr Wasser freisetzen, werden unsere Ozeane meiner Einschätzung nach das fünffache Volumen der Meere des Jahres 2010 besitzen. Natürlich werden wir schon lange vorher sämtliche Landflächen der Erde verloren haben.« Nach dieser unverblümten Feststellung ließ sie ein Schweigen eintreten.

Edward Kenzie nickte. »Also, Dr. Jones, was sollen wir Ihrer Ansicht nach tun?«

Sie zuckte die Achseln. »Sie haben drei Möglichkeiten, soweit ich sehe. Sie treffen Vorkehrungen für ein Leben auf dem Meer. Oder unter dem Meer. Oder Sie verlassen die Erde.« Patrick merkte, dass er bei diesen letzten Worten nickte. ?Oh?, sagte Thandie, ?und Ihnen bleiben ungef?hr f?nfzehn Jahre, um eine Entscheidung zu treffen und Ihren Plan in die Tat umzusetzen.?

»Warum fünfzehn Jahre?«

»Weil Denver in fünfzehn Jahren von der Flut verschlungen werden wird.« Sie ließ den Blick durch die alte Bibliothek schweifen – die staubige Stille, die sonnenhelle Luft. »Das Wasser wird hierherkommen. Egal was Sie tun, Sie müssen jetzt damit anfangen. Noch irgendwelche Fragen?«

Nachdem die LaRei-Mitglieder noch eine Viertelstunde lang einigermaßen sachkundige Fragen gestellt hatten, war der Vortrag beendet, und Thandie begann, ihre Gerätschaften zusammenzupacken.

»Noch eine Frage«, sagte Patrick. »Wie sehen Ihre eigenen Zukunftspläne aus, Dr. Jones?«

Sie lächelte. »Weiter beobachten. Es geschehen Dinge, die noch kein Mensch gesehen hat und die auch nie wieder einer sehen wird. Ich kann keine Kinder bekommen. Die Zukunft interessiert mich nicht. Aber die Gegenwart hat mir mehr als genug zu bieten.«


7



Edward Kenzie stand erneut auf. »Tja, meine Damen und Herren, da haben Sie’s – ein so klares und eindeutiges Bild, wie man es sich nur vorstellen kann. Wie eine Neuauflage von New York 2018, stimmt’s? Damit kommen wir zum zentralen Punkt unserer Zusammenkunft. Seit New York haben wir dank der Inkompetenz, der Realitätsverweigerung und der Schwarze-Peter-Spielchen unserer Regierungen schon sieben Jahre vergeudet. Was die Bundesregierung investiert hat, um für den schlimmsten Fall gerüstet zu sein – einen weiteren Anstieg des Meeresspiegels – , war minimal im Vergleich zu den Ausgaben für die abstrusen Pläne zur Erholung und Wiederbesiedlung, auf die Dr. Jones hingewiesen hat. Nun, ich für mein Teil werde nicht herumsitzen und träumen, während das steigende Wasser meinen Reichtum und Besitz zerstört und meine Angehörigen in Wasserleichen verwandelt. Einige von uns werden versuchen, etwas zu unternehmen.«

Zustimmendes Gemurmel ertönte.

Kenzie hob die Hände. »Mit Hilfe von Nathan Lammockson und anderen habe ich Experten diverser Fachgebiete hierhergeholt. Sie haben jetzt Gelegenheit, mit ihnen zu sprechen; vielleicht regt Sie das zu Überlegungen an, was Sie selbst zu tun gedenken. Unsere Aufgabe besteht darin, sinnvolle Optionen für den schlimmsten Fall ins Auge zu fassen. Ich hoffe, dass diese Sitzung den Startschuss zu einer Reihe von Projekten gibt – zu einer Reihe von Archenpl?nen, wenn Sie so wollen ?, die mehr oder weniger unabh?ngig voneinander realisiert werden k?nnen. Auf diese Weise lassen sich unsere Erfolgschancen maximieren. Dies ist der Beginn eines Programms, nicht nur eines einzelnen Projekts.

Aber wir werden äußerst vorsichtig sein müssen. Denken Sie darüber nach. Die Erde versinkt im Wasser. Wenn Sie der Welt erzählen, dass Sie eine Arche bauen, wird jeder unglückselige IDP mitsamt seiner Sippschaft um einen Platz an Bord kämpfen. « Er starrte sie mit verkniffener Miene und berechnendem Blick der Reihe nach an. »Ich hoffe, wir werden einander in den kommenden Jahren unterstützen. Aber wir müssen im Verborgenen arbeiten und unsere Geheimnisse bewahren – selbst voreinander . Jeder von uns sollte nur das Notwendigste über die Arbeit der anderen wissen, wie bei Terroristenzellen. Das klingt vielleicht nicht sehr amerikanisch, aber wir haben seit 2001 genug unter den Nadelstichen dieser terroristischen Arschlöcher gelitten. Da können wir uns durchaus mal eine Scheibe von ihrer Vorgehensweise abschneiden, nicht wahr?«

Er hatte das offenkundig bereits alles ausgearbeitet. Und dennoch klangen seine Worte für Patrick vernünftig. Er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie jeder Versuch der Bundesregierung, die Krise zu lindern, binnen kurzem am schieren Ausmaß der sich entfaltenden Katastrophe gescheitert war. Geheimhaltung war zwar kaum demokratisch, aber vielleicht ging es wirklich nicht anders, als der breiten Masse jegliche Hilfe zu verweigern, um einigen wenigen eine Chance zu geben.

Als die Sitzung zu Ende war, musste Patrick Holle auf die Schulter tippen, damit sie ihren Angel ausschaltete. Sie schaute sich um, suchte nach Thandies rotierender Erde und stellte enttäuscht fest, dass sie schon erloschen war.


Draußen vor der Bibliothek kam Jerzy Glemp auf Patrick zu und zog ihn von den Gesprächsgruppen weg, die sich dort bildeten. »Ich habe Sie nicken sehen«, sagte er in verschwörerischem Flüsterton.

»So?«

»Bei Dr. Jones’ Zusammenfassung. Als sie gesagt hat, wir sollten im Weltraum Zuflucht suchen.« Er schaute zum Himmel hinauf.

»Das hat bei mir wohl einen Nerv getroffen.«

»Ist es nicht von bezwingender Logik? Diese Erde ist zum Untergang verurteilt; so viel steht fest. In hundert Jahren wird sie eine Welt für Fische sein. So wie Polen bereits untergegangen ist. Die einzige Hoffnung für die Menschheit besteht darin, dort draußen zwischen den Sternen und Planeten eine neue Heimat zu finden.«

»Sie meinen eine Art Raumschiff?«

»Natürlich.« Er blickte sich um. »Schauen Sie sich die anderen an. Nathan Lammockson redet davon, riesige Hochseeschiffe zu bauen, wie Noah. Andere träumen von U-Booten und Kolonien auf dem Meeresgrund. Aber wir beide wissen, Mr. Groundwater, dass der Weltraum die einzige Lösung ist. Und wir beide legen hier und jetzt, in diesem Gespräch, den Grundstein für das Projekt, das die Menschheit retten wird. Ich besitze die erforderlichen Qualifikationen. Vor der Flut habe ich in Poznan Raumfahrt studiert. Ich habe über Ziolkowskis Schriften promoviert und an europäischen Weltraummissionen mitgewirkt. Mit Ihren Mitteln und meiner Vision – ja, wir werden ein Raumschiff bauen, eine Weltraumarche.«

Patrick fühlte sich bedrängt. »Ich glaube, Sie manipulieren mich, Dr. Glemp. Sind Sie so sicher, dass ich Ihren Traum teile?«

»Ich weiß es.« Glemp schaute kurz auf Holle hinab. »Ich habe mich bei Nathan nach Ihnen erkundigt. Ihre Tochter ist 2019 geboren; sie muss also gezeugt worden sein, kurz nachdem Sie gehört haben, wie Dr. Thandie Jones vor dem IPCC das Ende der Welt skizziert hat. Sie war ein Kind der Hoffnung.«

Patrick spürte, dass er errötete. Aber der seltsame kleine Mann hatte Recht. Nachdem er und Linda Thandie zugehört und die entmutigende Reaktion ihres Publikums gesehen hatten – ja sogar nachdem sie vor dem Hurrikan hatten fliehen müssen, der kurz darauf so plötzlich über Manhattan hereingebrochen war –, waren sie zusammen mit anderen Flüchtlingen aus New York City nach Newburgh, New Jersey, zurückgekehrt, wo sie wohnten. Sie hatten etwas gegessen, eine Flasche Wein getrunken und ihre empfängnisverhütenden Mittel weggeworfen. Holle war in der Tat ein Kind der Hoffnung gewesen, gezeugt aus Trotz gegen eine Zukunft, die ihnen damals pechschwarz erschienen war. Selbst ihr Name war Ausdruck der Rolle, die sie Lindas und seiner Ansicht nach vielleicht einmal würde spielen müssen.

»Also kommen Sie«, sagte Jerzy Glemp. »Wir haben viel zu tun. Gönnen wir uns ein Mittagessen. Sie können mir einen Drink spendieren, und wir müssen anfangen zu planen, wie wir die Menschheit retten und dabei Ihr Geld ausgeben.« Er ging voran, auf die Straße hinaus.

Patrick hob die schläfrige Holle hoch und folgte ihm. Er fragte sich, auf was, zum Teufel, er sich da einließ.


8



Am nächsten Morgen brachte ein Kurier einen handschriftlich an Patrick Groundwater adressierten Brief ins Brown Palace. »Persönlich – vertraulich – keine Weitergabe an Dritte«, stand auf dem Kuvert.

Der Kurier war noch ein Kind, ein etwa vierzehnjähriger Junge in einem anonymen AxysCorp-Overall. In einer Welt voller hungriger Flüchtlinge musste man nicht reich sein, um sich einen Boten leisten zu können. Da es in dieser Welt allerdings auch fast kein Papier mehr gab, war es dennoch eine ungewöhnliche Form der Nachrichtenübermittlung. Patrick bat Alice Sylvan, dem Jungen ein Trinkgeld zu geben, und schickte ihn weg. Während Holle im Wohnzimmer der Suite frühstückte, ging Patrick, den Anweisungen auf dem Kuvert sinngemäß Folge leistend, mit dem Brief ins Badezimmer, hockte sich in eine Ecke, die seiner Ansicht nach von etwaigen Überwachungskameras nicht erfasst werden konnte, und öffnete ihn.

Die Nachricht stammte von Edward Kenzie. Er lud ihn in derselben Handschrift wie auf dem Kuvert ein, um zehn Uhr vormittags zum Auraria Campus zu kommen, »um dem Start eines neuen Projekts beizuwohnen«. Patrick kam sich ein wenig töricht vor, als er die Nachricht in kleine Fetzen zerriss und in der Toilette hinunterspülte.

Dann kehrte er ins Wohnzimmer zurück, trank rasch eine weitere Tasse Kaffee und half Holle, sich auf ihren Tag vorzubereiten. Es war ein sonniger Morgen mit wenigen Wolken am Himmel. In der W?rme und dem Licht hellte sich die Stimmung der Menschen sp?rbar auf, und Holle h?pfte auf dem ganzen Weg durch die Stadt neben ihm her. Sie gingen in s?dwestlicher Richtung die Larimer Street entlang zur Br?cke ?ber den Cherry Creek und zum Campus. Alice Sylvan ? Gummikn?ppel in der Linken, die Rechte am Pistolenhalfter ? l?chelte, als Holle in den einbetonierten Bach sp?hte. Von der Br?cke aus sah Patrick die Schultern der Rockies im Westen und die Quartzsplitter von Denvers kleinem Zentrum im Osten.

Sie erreichten den Campus. Patrick hatte in Yale und Oxford studiert. Auraria mit seinen drei Colleges musste einmal wie der neuzeitliche Hollywood-Nachbau eines traditionellen Campus ausgesehen haben, dachte er, mit breiten, belaubten Alleen inmitten endloser Parkplätze. Einige der Gebäude wurden noch genutzt; in einer Bundeshauptstadt herrschte auch jetzt noch Bedarf an College-Absolventen. Viele andere waren jedoch in Wohnhäuser umfunktioniert worden, und auf den umgepflügten Sportplätzen wurden Feldfrüchte angebaut.

Der Brief führte Patrick und seine Leute zur einem Kasten aus Glas und weiß gestrichenen Stahljalousien, der die Bibliothek und das Medienzentrum des Campus beherbergte. Draußen wurden sie von einem Mann in einem schlichten Anzug empfangen, dessen Jackett kaum die Wölbung seiner Waffe verbarg. Er fuhr mit einem Stab an ihren Körpern entlang, um sie zu überprüfen – selbst Holle und die Tasche mit ihren Spielsachen und Orangensaftflaschen –, und führte sie dann in das kühle, klimatisierte Gebäude. Der Innenraum war groß und offen, und skelettartige Treppen verbanden die Etagen miteinander. Sie wurden durch einen kurzen Gang zu einem kleinen Konferenzraum geführt.

Um einen Tisch mit eingelassenen Touchscreens saßen Edward Kenzie, Jerzy Glemp und ein schlanker junger Mann, den Patrick nicht kannte, vielleicht ein Chinese. Alice gesellte sich zu ein paar Security-Leuten, die an der Wand saßen. Eine Kaffeemaschine auf einem Tisch in der Ecke erfüllte die Luft mit ihrem Aroma, und Patrick stieg ein Hauch von abgestandenem Zigarettenrauch in die Nase.

In einer Ecke spielten zwei Kinder, beide ungefähr in Holles Alter, mit Plastikspielzeug. Patrick erkannte Kelly, die lebhafte blonde Tochter von Edward Kenzie, von der gestrigen Zusammenkunft wieder. Das zweite Kind war ein hübscher Junge mit dichtem schwarzem Haar. Ein junger Mann saß lächelnd bei den Kindern auf dem Boden und sah ihnen beim Spielen zu. Patrick ließ Holles Hand los, und sie ging zaghaft zu ihnen hinüber.

Kenzie kam zu Patrick und reichte ihm einen Becher Kaffee.

»Edward«, sagte Patrick. »Sie haben also ebenfalls beschlossen, sich mit Jerzy zusammenzutun?«

»Ehrlich gesagt, habe ich auch noch andere Eisen im Feuer«, erwiderte Kenzie barsch. »Aber nach Thandie Jones’ Ausführungen liegt der richtige Weg doch eigentlich klar auf der Hand, oder? Wir müssen diesen im Wasser versinkenden Planeten verlassen. Außerdem ist die Zusammenkunft überhaupt nur durch Glemps Kontakte über Eschatology, Inc. zustande gekommen.«

»Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass ich meine Tochter mitgebracht habe.«

»Sie ist herzlich willkommen«, warf Jerzy Glemp ein. »Das da ist mein Sohn, Zane. Sag Guten Tag, Zane!« Der Junge, der mit seinem dichten dunklen Haar und den slawischen Zügen nur wenig Ähnlichkeit mit Glemp hatte, nickte Patrick schüchtern zu. »Natürlich sollten unsere Kinder bei uns sein«, sagte Jerzy. ?Vielleicht sind sie schon alt genug, um etwas von dem zu verstehen, was wir hier besprechen. Und schlie?lich ist das Projekt f?r sie gedacht, es geht um sie. Im Jahr 2040 werden wir eine Crew brauchen.?

Eine Crew. Das Wort elektrisierte Patrick.

Jerzy Glemp rieb sich die Hände. Er wirkte aufgeregt und erfreut, als hätte er sein Leben lang auf diesen Moment gewartet, und vielleicht war es ja auch so, dachte Patrick. »Also, fangen wir an?«


9



Die Türen waren abgeschlossen, die Wände abgesucht worden. »Wir sind hier so sicher wie in Abrahams Schoß«, sagte Kenzie. Er tippte auf einen Bildschirm, um die Aufzeichnung zu starten. »Wie Sie sehen, gibt es hier einige leere Monitore. Mit denen haben wir geschützten Zugriff auf die Server der Universität, aber wir können uns auch weiter draußen umschauen, wenn wir wollen. Uns stehen Quellen aller Art zur Verfügung, was immer wir brauchen, um Antworten auf die Fragen zu finden, die wir uns stellen werden. In Ordnung, legen wir los. Und Sie können damit anfangen, dass Sie uns diesen Gentleman vorstellen, den Sie mitgebracht haben, Jerzy.«

Glemp nickte dem schlanken jungen Mann zu, und dieser trat vor. »Mein Name ist Liu Zheng. Ich bin Chinese, neunundzwanzig Jahre alt und von Beruf Ingenieur.«

»Ich habe ihn bei der IDP-Abfertigung im Pepsi Center hier in Denver entdeckt«, sagte Jerzy Glemp mit einem Anflug von Befriedigung. »Erstaunlich, welche Talente man aus der Flut der Vertriebenen herausfiltern kann. Alles, was das Herz begehrt. «

Edward nickte. »Und was für ein so überaus wertvolles Talent besitzen Sie, Liu?«

Die Miene des Chinesen war ausdruckslos. »Mein Vater ist zum Taikonauten ausgebildet worden. Um in den Weltraum zu fliegen. Ich konstruiere Raumschiffe.«

Eine lange Pause trat ein. Dann fragte Patrick: »Worum geht es hier eigentlich? Was genau wollen wir bauen?«

»Etwas, womit man eine lebensfähige Population von der Erde wegschicken kann«, sagte Liu Zheng.

»Eine Arche«, erklärte Jerzy.

»Nicht weniger als die verdammte Arche Eins«, ergänzte Kenzie. »Diese kleine Ehre habe ich uns reserviert, bevor Nathan Lammockson und die anderen Arschlöcher darauf Anspruch erheben konnten.« Er klopfte Patrick auf die Schulter. »Noch nie Der jüngste Tag gesehen? Machen wir weiter. Mit welcher Frage müssen wir uns zuerst befassen, Jerzy?«

Glemp lächelte. »Wohin soll die Reise gehen?«


Der Mann, der im Schneidersitz auf dem Fußboden saß, trug eine schwarze Hose und einen schwarzen Pullover. Er mochte jünger sein als Dad, aber Holle war nicht sicher. Er lächelte sie an. »Ich heiße Harry. Harry Smith. Ich bin Lehrer. Aber heute ist keine Schule! Ich bin nur hier, um dafür zu sorgen, dass es uns allen gutgeht. Du heißt Holle, stimmt’s? Das hier sind Kelly und Zane.«

Die beiden Kinder beäugten sie misstrauisch. Kelly war das kleine Mädchen, das sie gestern in diesem anderen Haus voller Bücher kennengelernt hatte, in dem großen, staubigen Raum mit der Frau und ihrer Kristallkugel. Der Junge, Zane, schien etwas jünger zu sein als Holle, und er hatte dichte schwarze Haare und große Augen. Er wirkte schüchtern, aber sie mochte ihn irgendwie. Er sah wie eine große Puppe aus.

»Guck mal, wir haben super Spielsachen«, sagte Harry. »Du kannst gern mitspielen. Siehst du die Burg? Diese Burschen da sind Ritter. Schau, sie haben Pferde.«

Kelly und Zane spielten mit einer Art Burg zum Zusammenbauen und mit Plastikfiguren, die man darin aufstellte. Die Burg besa? kreisrunde T?rme und Mauern, die man auf eine Bodenplatte stellte, eine Zugbr?cke, die man herunterlassen konnte, und kleine Geb?ude im Innern. Aber sie sah krumm und schief aus, zwischen den Mauerelementen waren L?cken, und Holle sah, dass die Zugbr?cke klemmte. Vielleicht war sie nicht richtig zusammengebaut worden. Sie hielt sich vorl?ufig noch von dem Spielzeug fern. Kelly umklammerte die kleinen Figuren, mit denen sie gespielt hatte, und Zane folgte ihrem Beispiel. Sie trauten Holle noch nicht genug, um sie mit einzubeziehen.

»Hast du auch was zum Spielen dabei? Was ist denn in deiner Tasche drin?«

»Mein Handheld und mein Angel.« Sie holte sie aus der Tasche und räumte dabei die Schachtel mit Papiertaschentüchern und die Getränkeflaschen beiseite.

»Oh, wow, ist ja super.«

Holle sah ihn an. »Du sagst immer ›super‹.«

»Ja, das habe ich wohl so gelernt, als ich selber noch klein war. Ich bin Amerikaner. Du bist Engländerin, oder?«

»Schottin. Super. Super, super, super!«

Die anderen Kinder lachten.

Aus einem spontanen Impuls heraus hielt sie Harry den Angel hin. »Willst du mal hören? Da sind gute Songs drauf.«

»Danke, Holle, das ist sehr nett.« Er hielt das schwere schwarze Gerät in der Hand und blätterte im Auswahlmenü. »Oh, du hast ›Telefon‹. Den fand ich schon immer gut.« Er wählte den Song aus, nickte, als die Musik in seinem Kopf erklang, und sang leise den Text mit: »›Ich lieb dich mehr als mein Telefon / du bist mein Angel, mein TV …‹«

Zane und Kelly beobachteten Holle. Sie taten gar nichts, sondern hielten nur ihre Spielfiguren fest.

»Ich hab einen Handheld.« Holle zeigte ihn den beiden.

»So einen hab ich auch«, sagte Kelly.

»Mit Kamera.«

»Hat meiner auch.«

»Wir könnten die Burg filmen. Wir könnten jemanden angreifen lassen, wie im Krieg, und alles aufnehmen.«

Das begeisterte sie, und Kelly übernahm sofort die Regie. »Pass auf, Zane, ich führe das Heer in der Burg an, und du bist das Heer draußen.«

Er schaute skeptisch drein. »Warum kann ich nicht die in der Burg nehmen?«

Sie schnaubte. »Weil man ein Eye-Dee ist, wenn man draußen ist, und ich will keiner von denen sein.«

Harry lächelte. Er hörte sich immer noch den Song an. »Ein IDP ist ein Inlandsvertriebener, Kelly. Ein Amerikaner, der zum Flüchtling im eigenen Land geworden ist. Schon gut, Zane. Schau, der gebohnerte Fußboden ist das Meer, die Flut. Und aus der Schachtel für die Burg kannst du ein Floß machen. Siehst du?«

Zane fing an, mit der Schachtel zu experimentieren; er stellte seine Leute hinein und schob sie auf dem gebohnerten Holzboden hin und her. Kelly ließ ihre kleinen Männer und Frauen vor der Burg auf und ab marschieren, rief Befehle und bereitete sie darauf vor, die Horden der Flutflüchtlinge abzuwehren.

Jetzt, wo sie in die Runde aufgenommen worden war, legte Holle ihren Handheld weg und bemächtigte sich der Burg. Sie bestand aus Plastik, und die Teile passten in Aussparungen in der Bodenplatte. Sie sah, dass sie Recht gehabt hatte: Die beiden Türme neben dem Tor waren in die falschen Halterungen gesteckt worden. Wenn man sie austauschte, würde die Zugbrücke bestimmt besser funktionieren. Aber es würde gar nicht so leicht sein, die Türme aus den Halterungen zu lösen.

Sie schaute zu Harry hinüber, um zu sehen, ob sie ihn um Hilfe bitten konnte. Aber Harry war gerade mit Zane beschäftigt. Während der Junge auf dem Boden hockte und sein Pappkartonfloß umherschob, beugte sich Harry über ihn, so dass sein Bauch Zanes Rücken berührte, und fuhr dem Jungen durch das dichte Haar. Das sah komisch aus, und sie mochte es nicht mit anschauen.

Holle blickte zu den anderen Erwachsenen auf, die um den Tisch saßen, Kaffee tranken und sich mit dröhnenden, tiefen Stimmen unterhielten. Dad saß mit dem Rücken zu ihr, aber er war nicht weit weg.


Glemps Frage hing schwer in der Luft über dem Tisch.

Liu Zheng sprach als Erster. »Wenn ich darf …« Er tippte auf einen leeren Monitor, um ein Tastenfeld aufzurufen, und fing an, Stichworte aufzulisten. »Mein Vorschlag wäre, zwei übergeordnete Kategorien von Zielen festzulegen. Kategorie eins: im Sonnensystem. Kategorie zwei: außerhalb des Sonnensystems. «

Patrick hatte schon jetzt das Gefühl, dass ihm die Luft wegblieb. »Außerhalb des Sonnensystems? Was ist dort? Die Sterne? Reden Sie davon, zu den Sternen zu fliegen?«

Jerzy grinste. »Nur wenn es sein muss.«

»Kategorie eins«, sagte Liu und tippte methodisch Bezeichnungen ein. »Hier ließen sich diverse Unterkategorien von Zielen aufführen. Erdumlaufbahn – man könnte sich eine dauerhafte Siedlung ähnlich der Internationalen Raumstation vorstellen. Oder eine solche Siedlung im Raum außerhalb der Erdumlaufbahn. Denkbar wäre auch ein Planet oder Mond als Ziel – eine Kolonie dort – der Erdmond oder der Mars scheinen die nächstliegenden Optionen zu sein, oder der Eismond eines Riesenplaneten. Europa vielleicht. Oder wir k?nnten einen Asteroiden oder Kometen ausbeuten.?

Jerzy Glemp nickte. Sein Blick schien in unbestimmte Fernen zu gehen. »Sie zählen alte Träume auf. O’Neill-Zylinder. Kuppeln auf dem Mond und dem Mars. Kometeneis, das zu riesigen Hohlkugeln aufgeblasen wird, in denen Menschen in der Luft schweben.«

»Wir sind nicht sehr gut darin, geschlossene Lebenserhaltungssysteme zu bauen«, sagte Liu gewandt. »Das heißt, Systeme, die während ihres Betriebs keine Verluste erleiden. Wir müssen davon ausgehen, dass in diesem Szenario keine Unterstützung vom Boden kommt …«

»Weil es dann keinen beschissenen Boden mehr gibt«, warf Kenzie ein. Er schaute erneut zu den Kindern hinüber.

Patrick nickte. Er tippte auf seinen eigenen Monitor und fügte neben einigen von Lius Kategorien rote Kreuze ein. »Also keine Raumstationen, keine frei schwebenden Kolonien. Wir müssen irgendwo Ressourcen abbauen können.«

»Der Mond ist uns am nächsten«, sagte Kenzie. »Und wir waren schon mal da, wir wissen, dass wir dort arbeiten können. «

Glemp schüttelte den Kopf. »Es gibt Studien darüber, wie man auf dem Mond Metalle, diverse Mineralien, ja sogar Sauerstoff abbauen könnte. Aber der Mond ist eine überaus feindliche Umgebung – vierzehn Tage ungefilterter Sonne gefolgt von vierzehn Tagen Dunkelheit, null Schutz vor Sonneneruptionen und kosmischer Strahlung. Der entscheidende Punkt ist allerdings, dass es auf dem Mond nur Spuren von Wasser gibt. Apollo hat den Beweis erbracht. Wasser ist die Schlüsselressource für menschliches Leben. Findet man Wasser, hat man die meisten Probleme gelöst.«

Liu sagte: »Die Asteroiden und Kometen wären eine Möglichkeit. Einige von ihnen bestehen aus Gestein, andere aus Wassereis und weiteren flüchtigen Stoffen. Manche sind sogar reich an organischen Verbindungen. Auch die Eismonde von Jupiter und Saturn sind Kugeln aus gefrorenem Wasser. Man würde weniger auf einem Asteroiden landen als vielmehr an ihn andocken. Die Schwerkraft ist sehr gering …«

Kenzie verzog das Gesicht. »Sparen wir uns den Buck-Rogers-Mist. Letztendlich besteht unser gesamtes bisheriges Raumfahrtprogramm doch darin, dass wir einmal ein paar Jungs für ein paar Tage zum Mond geschickt haben. Stimmt’s? Und auf Raumstationen in der Erdumlaufbahn, die vom Boden aus versorgt wurden. Konzentrieren wir uns also auf die naheliegenden Optionen, auf die Missionen, von denen wir wissen, dass wir sie ausführen können. Was spricht gegen den Mars? Da gibt es Wasser, oder nicht? All diese armseligen kleinen Marssonden der NASA haben Anzeichen von Wasser gefunden.«

»Natürlich«, sagte Liu Zheng. »Wahrscheinlich gibt es dort wasserführende Schichten, und ganz bestimmt Permafrost. Wir könnten in der Nähe der Polkappen landen, wo das Wasser an der Oberfläche zutage tritt. Auf dem Mars gibt es auch andere Ressourcen, zum Beispiel Kohlenstoffverbindungen – die Luft besteht größtenteils aus Kohlendioxid.«

»Der Mars ist kein Paradies«, meinte Glemp. »Die Luft ist so dünn, dass man sich nur in einem Druckanzug nach draußen wagen kann. Sie bietet nicht einmal einen halbwegs akzeptablen Schutz vor der solaren UV-Strahlung – man glaubt, dass die oberen Schichten des Erdreichs deshalb so gut wie steril sind.«

»Okay«, knurrte Kenzie. »Aber im Gegensatz zu der Vorstellung, mit den Asteroiden durchs All zu treiben, kann ich das Mars-Bild verstehen.«

Patrick hob einen Finger. »Aber wir, unsere Crew, würde doch unter Kuppeln leben, nicht wahr? Gäbe es auch überkuppelte Farmen? Was wäre, wenn die Kuppeln verschleißen oder zusammenbrechen würden? Wie viele bräuchte man, um die Sicherheit zu gewährleisten? Sie sprechen hier doch davon, jahrzehnte- oder jahrhundertelang oder gar bis in alle Ewigkeit unter diesen Kuppeln zu bleiben …«

Glemp nickte. »Eine Kuppelkolonie auf dem Mars müsste alles umfassen, was man braucht, um eine technologische menschliche Zivilisation aufrechtzuerhalten, also Farmen, Wassersysteme, Luftaufbereiter, Fabriken, Anlagen zur Gewinnung und Verarbeitung von Bodenschätzen. Sie hätte Zugang zu lokalen Ressourcen außerhalb ihrer selbst, gliche ansonsten jedoch weitgehend einem im All treibenden Habitat. Ein geschlossenes, endliches System, stets gefährdet durch komplexe und katastrophale Störfälle. Es wäre denkbar, so etwas für ein paar Jahre zu betreiben, aber auf lange Sicht?«

Sie redeten weiter. Jeder von ihnen führte Beispiele für langfristige technologische Kontinuität an, so etwa die jahrhundertelange Erhaltung und Bewirtschaftung des dem Meer abgerungenes Landes durch die Holländer. Aber Glemps Einwand ließ sich nicht von der Hand weisen, dachte Patrick. Es war kaum vorstellbar, eine Maschine von der Komplexität einer Raumstation oder einer überkuppelten Ökosphäre über mehr als ein paar Generationen hinweg aufrechtzuerhalten.

»Was wir Menschen brauchen, ist Lebensraum«, sagte Glemp. »Eine Welt wie die Erde, so groß, dass ihre Ressourcen praktisch unbegrenzt sind. Wenn der Mars erdähnlich wäre …«

»Ist er aber nicht«, sagte Kenzie. »Selbst die Erde wird in ein paar Jahren nicht mehr erdähnlich sein. Also, worauf wollen Sie hinaus, Jerzy? Dass wir den Mars erdähnlich machen sollten?«

»Das Wort dafür«, sagte Jerzy Glemp lächelnd, »heißt Terraformen. Eine Welt erdähnlich machen.«

Und sie unterhielten sich darüber. Auch zu diesem Thema gab es Studien der NASA und diverser früherer Denker, die sich damit beschäftigten, wie man den Mars in einen kleinen Bruder der Erde verwandeln konnte, mit einer Luft, die dick genug war, um sie atmen zu können, einem Meer, das sich im riesigen Hellas-Becken sammelte, und Kiefern, die sich tapfer an die Flanken des Olympus Mons klammerten. Er stellte sich rasch heraus, dass man, um eine solche neue Welt zu erschaffen, den größten Teil von Lius »flüchtigen Stoffen«, die dem Mars gegenwärtig fehlten, importieren musste. Es gab Pläne, die so etwas vorsahen, zum Beispiel, indem man Kometen ablenkte und auf die Marsoberfläche stürzen ließ …

Diesmal war es Patrick, der die Diskussion beendete. »Das dafür erforderliche technische Programm würde also das gesamte Sonnensystem umspannen und Jahrhunderte dauern.«

»Wahrscheinlich eher Jahrtausende«, murmelte Glemp.

Kenzie schlug mit der Faust auf den Tisch. »Es wäre leichter, die Erde zu terraformen.«

»Und das«, sagte Jerzy Glemp geheimnisvoll, »ist durchaus schon erwogen worden. Fragen Sie die Russen.«

Kenzie schüttelte den Kopf. »Lassen wir das jetzt mal aus dem Spiel.«

Patrick hatte von dem mysteriösen Verhalten der Russen im Weltraum gehört. Im Sommer des vergangenen Jahres – 2024, das Jahr, in dem Moskau aufgegeben worden war – hatte es eine kurzfristige Häufung von Interkontinentalraketenstarts im russischen Kernland gegeben. Experten des amerikanischen Geheimdienstes hatten Alarm ausgelöst. Aber die Raketen waren in den Weltraum geflogen und nicht mehr heruntergekommen. Einige Experten glaubten, die Russen h?tten einfach nur ihr Waffenarsenal entsorgt, bevor es vom Wasser verschlungen wurde. Andere hatten komplizierte und exotische Verschw?rungstheorien entwickelt. Falls irgendjemand in der amerikanischen Regierung die Wahrheit kannte ? falls irgendjemand in diesem Raum sie kannte ?, so teilte er sein Wissen nicht mit Patrick.

Kenzie lehnte sich zurück und verschränkte die fleischigen Finger hinter dem Kopf. »Wir kommen nicht weiter, oder? Wir sind uns einig, dass wir eine neue Erde brauchen. Aber es gibt keine neuen Erden im Sonnensystem. Wir haben alle Möglichkeiten durch.«

»Wir haben Kategorie eins durch«, sagte Liu Zheng geduldig. »Kategorie zwei ist noch offen.«

Jerzy Glemp grinste. »Die Sterne.«

Kenzie schob seinen Stuhl zurück. »Herrje, bevor wir damit anfangen, brauche ich eine Zigarette. Ich weiß, ich weiß. Aber ich habe mit dem Aufhören aufgehört, nachdem ich meine ersten tausend Morgen Land am Meer an die Flut verloren hatte. Hey, Joe, können Sie noch ein bisschen Kaffee auftreiben?«


In der Pause ging Kenzie hinaus, um zu rauchen, und die anderen drängten sich um die frisch gefüllte Kaffeekanne.

Patrick gesellte sich zu Liu Zheng, der allein dastand und höflich auf den Kaffee wartete. »Sie sind weit weg von zu Hause«, sagte er zögernd.

»Wie so viele von uns«, erwiderte Liu, aber er lächelte.

»Wie kommt es, dass Sie in den Vereinigten Staaten sind?«

»Als das Wasser kam, ist meine Familie aus unserem Heim in Shanghai vertrieben worden. Ich war zwanzig. Wir haben in einer Flüchtlingskolonie in der Provinz Zhejiang gelebt. Ich konnte meine Ausbildung weiterführen. Dann kam die Einberufung.«

»Die Einberufung?«

»Für den bevorstehenden Krieg mit den Russen und Indern um die höheren Lagen Zentralasiens. Ich wollte nicht in einem solch sinnlosen und verheerenden Konflikt kämpfen. Meine Familie hat mir die Reise nach Amerika bezahlt. Zu meinem Glück ist Dr. Glemp dank der Eignungstests im Auffangzentrum auf mich aufmerksam geworden.«

»Sie sind doch nicht bloß ein Gebrauchsgegenstand oder ein Konglomerat von Fähigkeiten.«

»Nein? Ohne Land ist keiner von uns irgendetwas, Mr. Groundwater. Ohne einen Raum, wo man stehen, einen Platz, wo man liegen kann. Wenn Sie das haben – und ich habe es nicht –, können Sie mit mir machen, was Sie wollen. So ist es hier, genau wie daheim.«

»Ja, vielleicht.« Aber Patrick spürte, dass eine neue Entschlossenheit in ihm brannte, Holle vor diesem Schicksal zu bewahren. »Haben Sie eine Frau zu Hause? Und Kinder?«

»Eine Frau«, sagte er. »Als ich floh, musste ich sie verlassen. Ihre Familie wollte sie nicht freigeben, so dass sie mitkommen konnte, und ich bin ohnehin nicht sicher, ob sie es wollte. Flucht ist schmachvoll.«

»Wirklich? Schmachvoller, als sitzen zu bleiben, bis man ersäuft? «

»China ist anders, Mr. Groundwater. Unsere kulturelle Kontinuität reicht bis in die Bronzezeit zurück, wie sie in England genannt wird. Wir, unsere Vorfahren, haben schon viele Katastrophen überlebt, Brände, Überschwemmungen, Seuchen und Invasionen. Das, was China ausmacht, hat alles überstanden. Viele können nicht glauben, dass es diesmal nicht so sein wird, dass die Flut das Ende ist.«

»Aber Sie glauben es.«

»Ich bin Ingenieur, kein Klimatologe. Aber ja, ich verstehe genug von dieser Wissenschaft, um zu glauben, dass dies Chinas Ende ist, wie auch das Ende der ganzen Welt. Deshalb bin ich hier.«

Kenzie kam geschäftig herein.

Auf dem Rückweg zum Tisch fragte Patrick Liu: »Hoffen Sie noch, Ihre Frau eines Tages hierherbringen zu können?«

»Das ist ein Traum. Aber sie im großen Chaos der Flut zu finden, selbst wenn sie überlebt, und sie hierherzubringen – es ist vielleicht einfacher, zu den Sternen zu fliegen, Mr. Groundwater. «


10



Liu eröffnete die Diskussion über seine »Kategorie zwei«. Er zeigte ihnen Diagramme, Tabellen und künstlerische Darstellungen exotischer Welten.

»Wie viele andere Programme war auch die ›Planetensuche‹ – das heißt die Entdeckung und Erforschung von Planeten anderer Sterne mittels hochmoderner teleskopischer und fotografischer Techniken, auch mit Hilfe von Weltraumteleskopen – im Gefolge der Flut von erheblichen Kürzungen betroffen«, dozierte Liu. »Dennoch wurden schon vor der Flut etliche Hundert solcher ›Exoplaneten‹ gefunden, und inzwischen sind weitere hinzugekommen. Mehrere Dutzend von ihnen gleichen der Erde. Sie haben eine erdähnliche Masse und scheinen Meere aus Wasser zu besitzen …«

»Auf einigen davon gibt es Leben«, erklärte Jerzy Glemp mit einem Lächeln. »Das wissen wir von ihren atmosphärischen Signaturen – Sauerstoff, Methan. Spektroskopische Spuren chemischer Stoffe, die durch Fotosynthese entstanden sind.«

Patrick war verblüfft. »Wir haben Leben auf anderen Planeten gefunden? Das wusste ich nicht.«

»Heutzutage stehen in den Nachrichten für gewöhnlich irdische Themen im Vordergrund«, erwiderte Kenzie trocken.

»Was für eine Ironie, nicht wahr«, sagte Jerzy. »Just in dem Moment, wo wir auf der Erde selbst im Aussterben begriffen sind, haben wir endlich Leben auf anderen Welten entdeckt.«

Liu sagte: »Diese Welten sind nur insofern ›erdähnlich‹, als sie mehr mit der Erde gemeinsam haben als beispielsweise der Mars. Trotzdem …«

»Trotzdem«, sagte Kenzie, »wenn so einer im Sonnensystem herumflöge, würden wir unsere Kinder auf der Stelle rüberschießen. Richtig? Also, wie weit sind sie weg?«

Jerzy Glemp zuckte die Achseln. »Tja, da liegt der Haken. Das nächste Sonnensystem ist Alpha Centauri – vier Lichtjahre entfernt. Das ist eine schwer fassbare Distanz: ungefähr vierzig Billionen Kilometer. Hundert Millionen mal weiter von der Erde entfernt als der Mond.«

Kenzie wischte das mit einer Handbewegung beiseite. »Und die nächste erdähnliche Welt? Wie weit bis dorthin?«

»Der nächste halbwegs brauchbare Kandidat ist sechzehn Lichtjahre entfernt.«

»Oh, mehr nicht? Okay, und wie kommen wir da hin? Nach unserer vorherigen Diskussion über die Kuppeln auf dem Mars zu schließen, geht ihr wohl nicht davon aus, dass wir ein Raumfahrtprojekt von mehr als ein paar Jahren Dauer – höchstens einem Jahrzehnt – ohne Unterstützung von außen durchführen können. Das ist der zeitliche Rahmen. Richtig? Wie kommen wir also binnen eines Jahrzehnts zu den Sternen? Ich nehme mal an, chemische Raketen, das Shuttle und die Saturn, sind out. Wenn Apollo drei Tage gebraucht hat, um zum Mond zu fliegen …«

Patrick grinste. »Nur drei Millionen Jahre bis zur Erde II!«

»Eine Alternative wäre ein Rückstoßstrahl aus Ionen – geladenen Atomen –, die mittels Elektrizität beschleunigt werden«, sagte Glemp. »Die Austrittsgeschwindigkeit wäre erheblich höher, so dass man viel schneller vorankäme …«

Aber Liu grub sofort eine schon etwas angegraute Studie aus, derzufolge selbst eine Ionenrakete das Äquivalent von hundert Millionen Supertankern voller Treibstoff br?uchte, um Alpha Centauri binnen eines Jahrhunderts oder weniger zu erreichen.

»Dann Nukleartriebwerke«, fuhr Glemp fort. »Damals in den Sechzigern hat die NASA Bodentests mit einem Kernspaltungstriebwerk durchgeführt – Wasserstoff wurde durch einen heißen Atomreaktor geschickt, darin aufgeheizt und dann hinten rausgespritzt …« NERVA hatte funktioniert. Doch beim Durchblättern theoretischer Studien aus dem Archiv stellten sie auch diesmal rasch wieder fest, dass der Treibstoffbedarf für einen interstellaren Flug im gewünschten Zeitrahmen jedes Maß überstieg. Sie fanden jedoch einiges brauchbare Material, zum Beispiel eine NASA-Studie über nukleare Leichtbau-Triebwerke, die eine Generation unbemannter Jupitermond-Explorer antreiben sollten, Sonden, die nie gebaut worden waren; Glemp und Liu markierten solches Material zur weiteren Lektüre.

»Eigentlich«, sagte Glemp, »benötigt man für die Reise zu den Sternen gar keinen Treibstoff. Man kann ein Sonnensegel benutzen …« Ein mehrere Kilometer großes Segel aus einem hauchdünnen, widerstandsfähigen Material, das den sanften, niemals nachlassenden Druck des Sonnenlichts aufnahm, der solaren Photonen, die von einer verspiegelten Fläche abprallten. »Ein solches Raumfahrzeug würde nur noch Jahrhunderte brauchen, um die Sterne zu erreichen.«

»Zu lange!«, fauchte Kenzie. »So kommen wir nicht weiter, Leute.« Er schob seinen Stuhl zurück und marschierte in dem Raum auf und ab. Bei den Kindern hielt er kurz inne; sie spielten gerade eine Belagerung ihrer Plastikburg durch, während Harry sie geduldig dabei filmte. »Captain Kirk hatte nie solche Probleme«, sagte Kenzie. »Wo ist der Warp-Antrieb, wenn man ihn braucht?«

Sie lachten alle, außer Liu, und Patrick fragte sich, ob es daran lag, dass er noch nie etwas von Star Trek gehört hatte. Aber der Chinese sagte: »Das wäre natürlich die Lösung. Ein überlichtschneller Antrieb.«

»So was gibt’s nicht«, erwiderte Kenzie.

»So was kann es nicht geben«, ergänzte Jerzy Glemp mit fester Stimme. »Einstein zufolge ist die Lichtgeschwindigkeit die absolute Geschwindigkeitsobergrenze in der Raumzeit unseres Universums.«

»Richtig«, sagte Liu. »Aber die Raumzeit selbst ist nichts Feststehendes. Das ist der Kern der allgemeinen Relativitätstheorie. In der Anfangsphase des Universums erfuhr die gesamte Raumzeit eine ungeheure Ausdehnung. Während des Intervalls, das man Inflation nennt, ging diese Ausdehnung sogar mit Überlichtgeschwindigkeit vonstatten.«

Patrick kam nicht mehr mit, aber Jerzy Glemp war voll bei der Sache. »Was wollen Sie damit sagen? Dass wir in einer Blase sich aufblähender Raumzeit fliegen sollen?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Liu Zheng. »Ich erinnere mich vage an eine alte Studie … Darf ich nachsehen?« Kenzie erteilte ihm mit einer Handbewegung die Erlaubnis, und Liu begann, sich durch Seiten voller Quellenangaben und Zitate zu scrollen.

»Vielleicht sollten wir unser zentrales Problem mal einen Moment lang beiseitelassen«, schlug Kenzie vor. »Schließlich geht es uns darum, hier in Colorado ein Raumfahrtprogramm aufzulegen. Wie auch immer wir zu den Sternen reisen, wir werden zunächst einmal Startvorrichtungen brauchen, um in den Orbit zu gelangen: Abschussrampen, Ablenkgruben, Flüssigsauerstoffwerke, Kommunikationseinrichtungen, ein Kontrollzentrum, die ganze Cape-Canaveral-Arie. Wir müssen ein paar Raumfahrttechniker finden, Jerzy. Und echte Astronauten, die unsere Leute ausbilden. Da muss es doch noch welche geben.?

»Canaveral ist schon längst untergegangen«, bemerkte Patrick. »Zusammen mit Florida. Aber im Westen gab es eine alternative Abschussbasis.«

»Vandenberg«, sagte Kenzie. »Eine Anlage der Air Force. Ist bestimmt auch schon überschwemmt worden, aber vielleicht erst in jüngerer Zeit. Wenn wir uns an einem dieser Orte Ausrüstungsgegenstände besorgen müssen, wäre Vandenberg wohl die bessere Wahl.«

»Aber das ist eine gewaltige Aufgabe«, wandte Patrick ein. »Ein komplettes neues Raumfahrtprogramm! Wie wollen Sie die Regierung in diesen Krisenzeiten dazu bewegen, ein solches Projekt zu unterstützen?«

Kenzie lächelte. »Da bietet sich immer die Landesverteidigung an. Sehen Sie, die Flut hat unter anderem unsere militärischen Kapazitäten weitgehend ausgeschaltet. Sicher, wir haben Interkontinentalraketen mit Nuklearsprengköpfen aus den überschwemmten Silos in Kansas woandershin verlegt. Aber die elementare Infrastruktur ist ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen worden. NORAD im Cheyenne Mountain, nicht weit von hier, ist noch in Betrieb. Aber Cheyenne hat nur Daten gesammelt und Raven Rock, die bereits verlorengegangene unterirdische Kommandozentrale des Pentagons an der Grenze zwischen Pennsylvania und Maryland, mit Warnungen gefüttert. Mittlerweile geben unsere Satelliten einer nach dem anderen den Geist auf. Selbst unsere Radarabwehrsysteme versagen, nachdem nun auch die Basen in Großbritannien und Kanada unter Wasser stehen. Und aus China, Russland und Indien dringt Kriegslärm herüber. Was, wenn diese Burschen zu dem Schluss gelangen, dass sie hier in den USA ein bisschen Lebensraum brauchen? Was wollen wir dagegen unternehmen? Ich glaube, man k?nnte der Bundesregierung durchaus verkaufen, dass wir hier auf hoch gelegenem Gebiet ein Raketenabschussgel?nde brauchen, damit wir ?ber die Mittel verf?gen, Aufkl?rungssatelliten zu starten und im Falle eines Angriffs zur?ckzuschlagen.?

»Ist das nicht reichlich zynisch?«

Kenzie grinste nur. »Das Raumfahrtprogramm war schon immer ein Ableger der Militärprogramme. Die ersten Astronauten sind mit waschechten Interkontinentalraketen in die Erdumlaufbahn geflogen. Und überhaupt, ist es nicht für einen guten Zweck? Joe – machen Sie sich eine Notiz. Und dann gehen Sie ans Werk und besorgen Sie mir einen Termin bei der Präsidentin, sobald wir einen halbwegs brauchbaren Einkaufszettel vorweisen können …«

»Ich hab’s«, sagte Liu leise.

Er las vor: »›Der Warp-Antrieb: überlichtschnelle Reise im Rahmen der allgemeinen Relativitätstheorie‹. Eine Abhandlung aus dem Jahr 1994. Ich bin kein Relativitätsspezialist, aber ich muss sagen, dass mir die Idee solide erscheint. Es ist nur ein theoretisches Konzept, aber da sind eine Reihe von Zitaten …«

Jerzy rief rasch eine Kopie der Abhandlung auf und überflog sie. »Mein Gott, Liu. Ein überlichtschneller Ritt auf einer Raumzeitwelle. Das ist es.«

»Die technischen Details fehlen völlig. Und der Energiebedarf ist beängstigend …«

»Aber wir haben das Konzept.« Jerzy grinste Kenzie an. »Wir müssen uns sofort an die Arbeit machen.«

Kenzie schaute mit offenem Mund vom einen zum anderen. »Wenn das kein Humbug ist – okay. Sagen Sie mir, was Sie als Erstes brauchen.«

Jerzy überlegte. »Mathematiker. Physiker. Informatiker. Jeden, der etwas mit Vorläuferstudien zu tun hatte, zum Beispiel mit dem alten Breakthrough Propulsion-Programm der NASA in den 1990er Jahren. Und wenn wir uns ernsthaft auf einen langen Raumflug einstellen, werden wir, nebenbei bemerkt, auch Experten für Lebenserhaltungssysteme, Biologen, Ärzte, Soziologen und Anthropologen brauchen.«

»Und ein KI-Programmpaket mit symbolischen Manipulator-Tools«, sagte Liu.

»Ein was?«

»Wir werden eine Warp-Blase erzeugen. Das wird eine speziell konstruierte Metrik sein.« Er formte mit den Händen eine Blase. »Ein Stück Raumzeit, unseren Zwecken gemäß geformt. Um so etwas zu entwerfen, brauchen wir ein Computersystem, das Einsteins Relativitätsgleichungen lösen kann.«

»Stellen Sie eine Liste zusammen.«

Patrick, der erneut nicht mehr mitkam, schüttelte den Kopf. »Meinen wir das ernst? Wollen wir wirklich ein Raumschiff mit Warp-Antrieb bauen?«

Jerzy zuckte die Achseln. »Verglichen mit dem Terraformen eines Planeten oder dem Versuch, einen jahrhunderte- oder jahrtausendelangen Raumflug durchzuführen, ist das eine verhältnismäßig einfache Aufgabe.«

»Na schön. Dann haben wir ja etwas, woran wir arbeiten können. Die Sitzung ist unterbrochen!« Kenzie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und prostete ihnen mit kaltem Kaffee zu. »Auf die Arche Eins, die heute das Licht der Welt erblickt hat. Hey, Joe, notieren Sie Datum und Uhrzeit!«


Als die Versammlung sich auflöste, ging Patrick zu Holle hinüber, um sie zu holen. Die Kinder sahen sich gerade eine Aufnahme ihres Spielfilms auf Holles Handheld an. Der Lehrer, Harry, hielt Zane im Arm; er trat l?chelnd beiseite, als Patrick n?her kam.

Holle lief zu ihrem Vater und schlang ihm die Arme um die Knie. »Dad! Hast du gesehen, was wir gemacht haben?«

»Die Burg und so? Teilweise. Wir hatten da drüben viel zu tun. Aber du kannst es mir später zeigen.«

Sie schaute zu ihm auf, ihr Gesicht rund und ernst. »Und hattest du einen schönen Vormittag, Dad?«

Eine Frage, die Linda ihm immer gestellt hatte. Er fuhr ihr durchs Haar und sagte: »Ja, ich glaube schon. Hoffentlich. Zwischendurch haben wir uns ein bisschen festgefahren. Du weißt ja, was ich immer sage, Schätzchen. Wenn dir die Antwort nicht gefällt, stellst du womöglich die falsche Frage. Ich glaube, am Ende haben wir vielleicht die richtige Frage gestellt.«

»Das ist gut. Ist jetzt Mittagspause?«

»Ja, Mittagspause. Machen wir, dass wir hier rauskommen.«


11



JANUAR 2031



Gleich an ihrem ersten Tag an der Akademie, zu Beginn des neuen Semesters, kam Holle zu spät.

Sie hatte auf dem Weg zur Akademie, die im alten Museum of Nature and Science an der Ostseite des City Parks eingerichtet worden war, eine Abkürzung durch den Park nehmen wollen. Der war jedoch in eine Mischung aus Farm und Flüchtlingslager verwandelt worden, und in der Nacht zuvor hatte es Ärger gegeben, weil Eye-Dees, die sich noch inmitten der Abfertigungsprozedur befanden, gegen den Arbeitszwang auf Biokraftstoff-Feldern protestiert hatten. Ihr Vater sagte immer, es sei schlichtweg Blödsinn, von Müttern mit hungrigen Babys zu verlangen, dass sie bei etwas anderem als der Nahrungsmittelerzeugung mithelfen sollten. Darum war der ganze Park an diesem Morgen geschlossen, und Holle, elf Jahre alt und allein, musste ihn auf der 17th Avenue in südlicher Richtung umgehen. Sie eilte an Absperrungen der Polizei und des Heimatschutzes mit ihren Beratern von der Katastrophenschutzbehörde und den Fürsorgeorganisationen für obdachlose IDPs vorbei.

Ein angenehmer Spaziergang war das nicht gerade. Es hatte geschneit – nicht so viel, wie älteren Einwohnern zufolge im Januar üblich, aber genug, um eine Schneedecke auf den Feldern und Matsch im Rinnstein zu hinterlassen, den sie zu umgehen versuchte. Und die Luft war von einem üblen Geruch erfüllt. Sie hielt den Mund fest geschlossen, um so wenig Rauch und Tränengas wie m?glich einzuatmen. Darin lag eine gewisse Ironie. Ihr Vater hatte ihr erz?hlt, trotz der weltweiten Injektion vulkanischer Emissionen sei die Luft gegenw?rtig sauberer als zu der Zeit, in der er selbst in Holles Alter gewesen war. Aber nicht an diesem Morgen. An manchen Tagen kam irgendwie alles zusammen, um einem das Leben schwerer zu machen.

Denver war nicht mehr so amüsant, wie es ihr bei ihrer Ankunft vor sechs Jahren erschienen war. Es wurde von Tag zu Tag schäbiger und füllte sich immer mehr mit Eye-Dees und all dem, was sie mitbrachten – darunter Krankheiten wie Tuberkulose, und das zu einem Zeitpunkt, an dem die Antibiotika-Produktion allmählich zusammenbrach. Die Stadt selbst verwandelte sich in Erwartung einer härteren Zukunft. Neue Hochwasserschutzwände wurden errichtet, die Regenwasserkanalisation wurde ausgebaut. Wo immer möglich, riss man asphaltierte Flächen auf, um Erdreich freizulegen, wo man Feldfrüchte anbauen und, noch wichtiger, Hochwasser versickern lassen konnte. Im Jahr zuvor hatte eine Rekordzahl von Tornados die Stadt heimgesucht, ein weiteres Ergebnis der von der Flut verursachten globalen Erwärmung. Die großen Sirenen im Zentrum hatten immer wieder furchteinflößend geheult, und so manches ramponierte, entglaste Gebäude war hinterher kaum noch bewohnbar. Selbst wenn man aus der Stadt hinausfuhr – ihr Vater nahm sie manchmal ins Buschland außerhalb von Denvers weitläufigem Stadtgebiet mit –, gab es kein Entkommen. Überall wimmelte es von Eye-Dees, die zu Fuß aus den überschwemmten Oststaaten kamen und sich einfach niederließen, wo es nur irgend ging. Fanden sie nirgends Aufnahme, bauten sie sich Hütten aus Lehmziegeln, wie die Pioniere es einst getan hatten, vor hundertfünfzig Jahren, und fingen an, Kartoffeln zu pflanzen und Schweine zu züchten.

Manchmal vermisste Holle die gesicherte Siedlung im Staat New York, wo sie in ihrer frühen Kindheit gelebt hatte, mit ihren sauberen Wohnungen und Swimmingpools und der hohen, weiß getünchten Mauer, die den Rest der Welt ausschloss. Und kein Hochwasser, keine Tornados oder Eye-Dees in Sicht.

Sie war erleichtert, als sie den Colorado Boulevard erreichte und auf das Museum zuging, einen großen, wenn auch inzwischen vom Alter gefleckten Block aus Ziegelstein und Glas, der auf einer kleinen Anhöhe stand und auf die Fläche des Parks im Westen, Richtung Zentrum, und zu den Rockies dahinter hinausblickte. Von hier aus ähnelte der Park einem mittelalterlichen Dorf voller winziger Ackerparzellen und schäbiger Hütten, und Rauchfahnen stiegen von Dungfeuern empor. Aber das Museum auf seiner Anhöhe wurde von Festungsanlagen geschützt.

Holle musste ihren Kandidatenausweis vorzeigen und sich drei biometrischen ID-Überprüfungen unterziehen, bevor sie durch den Haupteingang hineindurfte. Als sie eintrat, waren alle anderen bereits drin – alle außer Zane Glemp, der an der Tür auf sie wartete.


»Tut mir leid«, sagte sie nach Luft ringend.

»Bei mir musst du dich nicht entschuldigen. Beeil dich.« Er führte sie ins Gebäude und durch ein hallendes Foyer zur Treppe hinter dem geschlossenen Museumsshop. Dies war ein heller, hoher, offener Raum, und über ihnen schwammen noch immer die staubigen Skelette der Meeressaurier aus Colorados verschwundenem Kreidemeer in der Luft.

Sie verspürte eine Aufwallung von Zuneigung für Zane. Er war ein mageres Kind und mit seinen zehn Jahren ein Jahr jünger als sie. Aber er hatte den Verstand seines Vaters und war zwei volle Semester vor ihr in die Akademie aufgenommen worden. Er hatte ihr versprochen, sich an diesem ersten Morgen mit ihr zu treffen und ihr alles zu zeigen, und er hielt sein Versprechen, obwohl er dadurch Gefahr lief, ebenfalls zu sp?t zu kommen. ?Danke, dass du auf mich gewartet hast.?

»Ich war schon hier.« Das stimmte; er hatte sein eigenes Zimmer in der Akademie. Dort wohnte er, wenn sein Vater fort war.

»Ich kann nichts dafür, dass ich zu spät komme. Im Park gab’s Unruhen, und ich …«

»Spar dir das. Die akzeptieren hier keine Entschuldigungen.«

»Ganz recht, Mr. Glemp.« Harry Smith stand mit einen Handwägelchen voller Bücher beim Fahrstuhlschacht. Er trat auf sie zu und verschränkte die Arme. »Schon am ersten Tag zu spät, Groundwater? Kein guter Anfang.« Er spielte den strengen Lehrer, nichts weiter. Auf Holle, die sich hier noch zurechtzufinden versuchte, wirkte das irgendwie beruhigend. Aber er stand sehr nah bei ihnen. Etwas an ihm machte sie immer nervös.

»Es wird nicht wieder vorkommen.«

Er nickte. »Gute Antwort.«

»Ich habe meine Arbeit fertig.« Sie holte ihren Handheld aus der Tasche und wollte ihm ihre Untersuchung über die ökologische Katastrophe zeigen, die sich in den Rockies ereignete, wo die Baumgrenze schon so weit herabgesunken war, dass die alten Bergwald- und Buschlandregionen mit ihren Ponderosa-Kiefern und Kakteen verkümmerten; ganze Ökozonen verschwanden.

Aber Harry tat das mit einer Handbewegung ab. »Ihr kommt beide zu spät zu Dr. Zhengs Unterricht, stimmt’s? Stegreifaufgabe. «

Zane wurde unruhig. Er trat von einem Fuß auf den anderen. »Können wir nicht einfach in die Klasse gehen? Wegen der Aufgabe kommen wir noch später.«

»Dann werdet ihr das halt nachholen müssen, nicht wahr? Okay. Die Leitung des Arche-Projekts hat soeben bekanntgegeben, dass sie endlich ihre Entscheidung getroffen hat, wo der Weltraumbahnhof eingerichtet werden soll – bei Gunnison, Colorado. Warum gerade dort?«

Holle warf Zane einen raschen Blick zu. »Das mit Gunnison wusste ich nicht. Ich habe die Nachrichten gehört. Aber die haben nichts darüber gebracht …«

»Natürlich nicht«, sagte Harry. »Ihr kennt die Geheimhaltung bei dem Projekt so gut wie ich. Allerdings kann man einen Weltraumbahnhof nicht geheim halten, und darum wird es heute im Lauf des Tages eine offizielle Bekanntmachung geben. Aber eure beiden Väter stehen im Zentrum des Projekts. Ihr steht im Zentrum des Projekts. Ihr solltet alles wissen, was sie wissen.« Er wühlte in dem Stapel von Büchern auf dem Handwagen, fand einen Atlas und warf ihn Holle zu; es war ein großer, schwerer Band aus der Zeit vor der Flut, und sie hatte Mühe, ihn zu fangen. »Warum Gunnison? Findet es raus. Ihr habt fünf Minuten. Sonst gibt’s eine neue Frage.« Und er ging davon und zog sein Wägelchen hinter sich her.

Sie knieten sich beide auf den Boden, klappten den Atlas auf und suchten die richtige Karte. »Was für ein Arschloch«, sagte Holle leise.

»Er ist unser pädagogischer Betreuer«, sagte Zane. »Kümmert sich um unsere allgemeine persönliche Entwicklung, während die Fachlehrer – hey, schau, da ist es. Colorado.«

Sie blickten angestrengt auf die Karte, ein gelb-grünes Gekleckse, durchzogen von orange und blau markierten Straßen. Denver erschien als dicht besiedeltes Areal, in dem sich große Highways kreuzten. Die Karte stammte aus der Zeit vor der Flut, aber die Küstenlinie des großen Binnenmeeres, das den Osten der Vereinigten Staaten bedeckte und jetzt bis zu einer Linie reichte, die sich von North und South Dakota zum Golf erstreckte, befand sich immer noch ein gutes St?ck ?stlich der auf dieser Karte abgebildeten Region.

Zane sah Holle skeptisch an. »Warum sollte man in Colorado überhaupt ein Raumfahrtzentrum bauen?«

»Aus Sicht der Regierung müsste es in der Nähe von Denver liegen, damit sie seine Sicherheit gewährleisten kann.« Ihr Vater erörterte solche Dinge mit ihr. Die Flut biss immer neue Stücke aus dem verbliebenen Land heraus, weitere Straßen und Bahnlinien wurden unterbrochen, weitere Menschen gesellten sich zu den heimatlosen Massen, die auf dem hoch gelegenen Gelände hin und her schwappten, und die politische Macht der Regierung bröckelte. Die wachsenden Spannungen im Zusammenhang mit einem angehenden separatistischen Mormonenstaat in Utah füllten die Nachrichtensendungen; sogar von Krieg war die Rede. »Irgendwo in Colorado. Aber wo?«

»So hoch oben, dass es nicht vor 2040 überschwemmt wird.«

»Aber damit bleiben immer noch massenhaft Möglichkeiten übrig.« Sie dachte daran, wo Cape Canaveral gelegen hatte – am Atlantik, an der amerikanischen Ostküste. Warum dort? Aus Sicherheitsgründen, wie sie sich erinnerte. Man ließ Raketen immer ostwärts starten, um die Erdrotation zur zusätzlichen Beschleunigung zu nutzen. Bei Starts von Canaveral würde die nach Osten fliegende Rakete im Falle eines Fehlschlags ins Meer stürzen, ohne Schaden anzurichten. Dasselbe Prinzip galt sicherlich auch jetzt. »Schau«, sagte sie und zeigte mit einem Finger auf die Karte. »Gunnison. Zweitausenddreihundert Meter über dem alten Meeresspiegel. 2040 wird es ganz in der Nähe der Ostküste des noch vorhandenen Landes liegen. Gut geeignet für Starts nach Osten.« Was noch? Sie holte ihren Handheld aus der Schultasche und zog ihn rasch zurate. ?Die Stadt liegt auf einem Talboden, also gibt?s da jede Menge ebenes Land. In der N?he ist ein Flughafen, das hei?t, f?r Transportm?glichkeiten ist gesorgt, und dieses Reservoir hier, Blue Mesa, kann Wasser liefern. Au?erdem ist es eine College-Stadt, so dass geeignete Arbeitskr?fte in ausreichender Menge vor Ort sind ??

Harry Smith kam auf sie zu. »Dafür habt ihr sogar nur vier Minuten gebraucht. Ja, aus all diesen Gründen wird Gunnison, Colorado, Gastgeber des neuesten und vielleicht letzten Weltraumbahnhofs der Erde sein. Vor zwanzig Jahren hätte das kein Mensch geglaubt. Gute Arbeit, Miss Groundwater. Okay, ihr dürft gehen.«

Sie standen auf, gaben ihm den Atlas zurück und liefen zur Treppe.

»Und, Miss Groundwater – kommen Sie nicht nochmal zu spät. Nächstes Mal sitzt vielleicht schon jemand anders auf Ihrem Platz …«


12



Der Unterricht fand im hinteren Teil eines leergeräumten Saales im ersten Stock des Museums statt. Auf einem Schild an der Tür stand »Grenzregionen der Wildnis«. Als sie hereinkamen, war Liu Zheng bereits in voller Fahrt. Er stand vor einer interaktiven Weißwandtafel, warf in Windeseile grafische Darstellungen hin, löschte sie wieder und ließ mit Anmerkungen versehene Gleichungen darüberlaufen. »Eine Alcubierre-Warp-Blase ist im Grunde etwas ganz Einfaches«, sagte er. »Jedenfalls theoretisch. Man hat eine isolierte Raumzeit-Region.« Diese war in seinen zweidimensionalen Diagrammen als Kreis dargestellt, aber er formte mit den Händen eine Kugel. »Das Raumschiff befindet sich dieser Zone hier …«

Vor ihm saßen ein Dutzend Kinder, alle ungefähr in Holles Alter. Sie arbeiteten an Handhelds und Laptops, während er sprach, und unterhielten sich leise zu zweit oder zu dritt. Zane führte Holle zu einem freien Tisch. Die anderen Schülerinnen und Schüler sahen sie gleichgültig an, als sie an ihnen vorbeiging, und wandten dann den Blick ab.

Holle kannte ein paar der Kinder in diesem Raum, darunter Kelly Kenzie, eine Freundin oder vielleicht auch Rivalin seit ihrer frühen Kindheit. Kelly war in ein lebhaftes Gespräch mit einem rothaarigen Jungen vertieft, der ein bisschen älter zu sein schien. Cora Robles und Susan Frasier, zwei intelligente, hübsche Mädchen, steckten die Köpfe zusammen. Und Thomas Windrup und Elle Strekalow sa?en so dicht beieinander wie siamesische Zwillinge, nicht anders als in ihrer gesamten Grundschulzeit. Elle sah viel besser aus als Thomas, und die Klatschbasen der Klasse wussten nicht, warum sie zusammenblieben. Es herrschte ein ziemlich hoher L?rmpegel im Raum, und zu den Lautesten geh?rten Joe Antoniadi und Mike Wetherbee. Joe, ein Italo-Amerikaner, dessen Familie aus New York geflohen war, war sympathisch, freundlich und leicht zu beeindrucken. Selbst w?hrend Zheng sprach, riss Mike mit seinem breiten australischen Akzent Witze und brachte Joe zum Lachen. Mikes Angeh?rige waren ebenfalls Fl?chtlinge; der Kontinent, von dem sie kamen, war inzwischen fast vollst?ndig verlassen.

Sie erreichten ihren Tisch. Zane hatte einen Laptop, und Holle holte ihren Handheld heraus.

Waren die Schüler Holle gegenüber gleichgültig gewesen, so nahm Liu Zheng ihre Anwesenheit nicht einmal zur Kenntnis. Er fuhr einfach mit seinem Vortrag fort. »Also, wie fliegt man zu den Sternen? Nun, man manipuliert die Raumzeit-Metrik. Man sorgt dafür, dass die Raumzeit hinter dem Schiff sich ausdehnt, indem man den inflationären Zustand des frühen Universums nachahmt. Und man lässt die Raumzeit vor dem Schiff kollabieren, zum Beispiel indem man ein schwarzes Loch imitiert. Dadurch wird die Raumzeitblase, in der man sich befindet, gleichzeitig gezogen und geschoben, über die Mannigfaltigkeit hinweg vorwärtsgetrieben. Man reitet eine sich ausbreitende Raumzeit-Welle.«

»Wie beim Surfen!«

»Ja, Mister Meisel. Obwohl ich selbst nie gesurft habe.«

Holle glaubte zu verstehen. Das Raumfahrzeug würde in Raumzeit eingebettet sein wie ein Spielzeuginsekt in einen Glasblock. Man transportierte nicht das Schiff selbst, sondern den kompletten Batzen Raumzeit, der es umgab.

»Das ist der zentrale Aspekt der Warp-Blase. Die transportierte Raumzeit muss groß genug sein, um die Insassen von den stark gekrümmten Regionen fernzuhalten, die mit der Warp-Blase verbunden sind – und die sich natürlich wie starke Schwerefelder manifestieren würden. Aber was ist mit überlichtschnellen Reisen? Einstein zufolge ist es unmöglich, sich schneller als das Licht zu bewegen, gemessen an örtlichen Landmarken.« Er betonte die Worte stark. »Der Trick besteht darin, diese Landmarken mitzunehmen. Das Schiff bewegt sich relativ zu der Raumzeit-Blase drumherum überhaupt nicht. Die Blase selbst jedoch pflanzt sich, wie gewünscht, mit einem Vielfachen der Lichtgeschwindigkeit fort. Man selbst reist nicht schneller als das Licht, weil man das Licht mitnimmt …«

Zane arbeitete bereits. Er blätterte in Notizen in seinem Laptop. Holle sorgte dafür, dass alles, was an der Tafel stand, in ihren Handheld heruntergeladen wurde, und machte sich Notizen neben Lius Diagrammen und Gleichungen. Überall um sie herum plauderten, diskutierten und scherzten die Schüler miteinander und scrollten durch scheinbar grundverschiedene Arbeiten. Das Ganze hatte keinerlei Ähnlichkeit mit der meist ruhigen, eifrigen Lernatmosphäre, die sie von den Grundschulen in Denver gewohnt war.

»Die Warp-Blase als Transportsystem hat einige paradoxe Eigenschaften. Da das Schiff im Verhältnis zu den lokalen Landmarken stationär ist, gibt es keinen der Effekte, die wir mit der speziellen Relativität verbinden: keine Zeitdilatation, keine Lorentz-Fitzgerald-Kontraktion. Die Uhren an Bord des Schiffes laufen synchron mit denen am Startpunkt und sogar am Zielort. Und es wird keine Trägheitseffekte geben.«

»Was bedeutet das?«, fragte Holle im Flüsterton.

»Du würdest keine Beschleunigung spüren«, sagte Zane. »Im Verhältnis zu der Raumzeit, in die das Schiff eingebettet ist, bewegt es sich nicht. Du wirst also nicht an der Rückwand des Cockpits zermatscht, wenn du den Warp-Antrieb einschaltest.«

»Es gibt allerdings Probleme mit der Steuerung, denn man läuft Gefahr, jedes zwecks Manipulation der Blase vorausgeschickte Signal zu überholen. Deshalb wird man die Parameter der Bildung, Fortpflanzung und Auflösung der Blase et cetera bei jedem nicht ferngelenkten Flug wahrscheinlich vor dem Start von außen in den Bordcomputer laden; die Besatzung des Raumschiffs im Innern der Blase wird im Wesentlichen aus Passagieren bestehen.«

Joe und Mike brachen in stürmisches Gelächter über irgendeinen privaten Witz aus.

Holle beugte sich zu Zane hinüber. »Ist das hier immer so?«

»Wie denn?«

»Lärmig. Alle albern herum.«

Er zuckte die Achseln. »Es gibt keine Regeln. Sie legen einem das Material vor und erwarten, dass man daraus schlau wird, so gut man kann.«

»Und wenn du damit nicht klarkommst« – der Junge neben Kelly drehte sich nach hinten – »kannst du wieder auf die Kinderschule gehen und mit Plastikklötzchen spielen. Irgendwer steht immer bereit, um deinen Platz einzunehmen.« Er grinste. »Don Meisel. Wer, zum Teufel, bist du?«

Holle merkte, wie sie errötete, als sie ihm ihren Namen nannte. Kelly, die ein Jahr älter war als Holle, wuchs gerade zu einer hochgewachsenen, selbstbewussten Blondine heran – keine große Schönheit, aber eine Anführerin. Und dieser Don, dem Holle noch nie begegnet war, schien noch etwas älter zu sein. Mit seinen blauen Augen und roten Haaren ? eine kr?ftigerer Ton als Holles helles Rotblond ? machte er den Eindruck, als f?hlte er sich wohl in seiner Haut; er wirkte entspannt, lebhaft und furchtlos.

»Dein erster Tag?«, fragte Don.

»Ja«, sagte Holle. »Es ist toll.«

»Na, und ob. Ist das ein schottischer Akzent?«

»Ja, ich …«

»Bist du in der Relativität fit?«

Ihr Dad hatte das mit ihr durchgenommen. »Klar.«

»Die spezielle Relativität ist doch baby«, sagte Kelly. »Nicht mehr als der Satz des Pythagoras. Wie steht’s denn mit deinen Christoffelsymbolen?«

»Womit?«

Kelly und Don lachten nur und wandten sich ab.

»Die nehmen dich bloß auf den Arm«, sagte Zane. »Sie reden von der Tensorrechnung. Der Mathematik der allgemeinem Relativität. Mit der kann man beschreiben, wie sich die Raumzeit um eine Warp-Blase krümmt …« Er zeigte ihr ein paar von Lius Gleichungen. Sie erkannte Ableitungen, aber einige der Symbole waren mit hoch- und tiefgestellten Zeichen bestreut. »Das ist ein Tensor«, sagte Zane. »So was wie eine multidimensionale Verallgemeinerung eines Vektors, also einer Größe mit einem Betrag und einer Richtung …«

»Ich bin elf Jahre alt«, sagte sie. »Mein Dad hat mit mir gepaukt, seit ich sechs war, als er bei Arche Eins eingestiegen ist. Aber woher soll ich wissen, was Tenser sind …«

»Tensoren?« Er zuckte die Achseln. »Liu ist wirklich ein guter Lehrer, auch wenn er dir nie in die Augen schaut. Und wenn du nicht lernst …«

»Bin ich draußen. Ich weiß.«

»Ich helfe dir.«

»Danke«, sagte sie aufrichtig. »Also, was ist mit den beiden? Kelly und Don. Gehen die miteinander?«

Zane schaute nur verständnislos drein. Er antwortete nicht. Von solchen Sachen nahm Zane grundsätzlich keine Notiz.

»In der Grundschule war Kelly immer die Chefin«, sagte Holle. »Vielleicht treiben sie sich gegenseitig an.«

»Oder sie stürzen zusammen ab und verbrennen.«


Der Unterrichtsstoff wurde kein bisschen leichter.

»Nach fünf Jahren intensiver Forschung haben wir jetzt immerhin eine konkrete Vorstellung, wie man eine Warp-Blase erschaffen könnte«, sagte Liu Zheng. Er füllte seine Tafel mit neuen grafischen Darstellungen von Flächen und Zylindern. »Die Ausdehnung oder Zusammenziehung der Raumzeit spiegelt auf lokaler Ebene eine Veränderung in Einsteins kosmologischer Konstante Lambda wider. Diese beschreibt bekanntlich die Vakuumenergie, die einem die Raumzeit durchdringenden Antigravitationsfeld gleicht – die Maschine der Expansion des Universums.

Wir glauben, dass unser Universum eine geringfügige Ausdehnung in höheren Dimensionen hat – das heißt höher als die drei des Raumes und die eine der Zeit, die wir kennen. Aber diese zusätzlichen Dimensionen sind klein. Unser Universum ist wie ein Schlauch, der um die zusätzlichen Dimensionen herum aufgerollt ist. Die kosmologische Konstante ist umgekehrt proportional zur vierten Potenz des typischen Radius dieses Schlauches. Umgekehrt proportional. Je kleiner also der Schlauchradius, desto höher die Konstante und desto größer der Ausdehnungseffekt. Wenn man es schafft, den Radius lokal zu verändern, kann man folglich auch die kosmologische Konstante entsprechend ver?ndern und dadurch die Ausdehnung der Raumzeit nach Belieben kontrollieren. Um eine Raumzeit-Blase zu bilden, schn?rt man den Schlauch zusammen.

Aber wie macht man das? Auf den ersten Blick scheint man dazu aus der lokalen dreidimensionalen Ebene des Universums hinausgreifen zu müssen …«

Und schon schweifte er wieder ab, diesmal in die »String-Theorie«, derzufolge der Raum nicht mit winzigen Partikeln wie Elektronen, Quarks und Neutrinos gefüllt war, sondern mit Strings, winzigen Fasern, deren charakteristische Vibrationen über die Eigenschaften der von ihnen definierten »Partikel« – zum Beispiel Ladung und Masse – entschieden. Holle hatte von diesen Vorstellungen gehört. Es schien, als wäre das ganze Universum eine Sinfonie, die auf winzigen Geigen gespielt wurde.

Aber, sagte Liu, die Strings könnten mit diesen aufgerollten Raumzeit-Extradimensionen interagieren. Insbesondere könnten sie sich um die zusätzlichen Dimensionen herumwickeln wie feine Spinnennetze um den Schlauch. Dadurch blieben die Dimensionen überhaupt nur kompakt. Und das bedeutete …

»Man kann den Schlauch zusammendrücken«, platzte Holle heraus. Ihre Fantasie ging mit ihr durch.

Liu drehte sich zu ihr um. »Und wie würden Sie das machen, Miss Groundwater?«

»Mit einem Teilchenbeschleuniger.«

»Aha?«

»Ja. Mit einem Beschleuniger manipuliert man Materie auf der kleinsten Ebene. Man kann an den winzigen String-Fäden ziehen.«

Alle starrten sie an. Don und Kelly schauten sich zu ihr um; in Dons Miene lag Belustigung, in der von Kelly eher so etwas wie Unmut.

»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich habe nur laut gedacht.«

»Das braucht Ihnen nicht leidzutun«, erwiderte Liu. »Sie liegen ganz richtig; genau das haben wir vor. Wir sind gerade dabei, außerhalb der Stadt einen Hadron Collider zu bauen; dazu verwenden wir alte Komponenten von Beschleunigern aus den Staaten und Übersee. Trotzdem wird es noch Jahre dauern, bis wir das Konzept auch nur in einem Bodentest überprüfen können; die erforderlichen Energien sind gigantisch …« Er machte eine Handbewegung zur Tafel. »Sehen Sie auch, wie die Grundzüge dieses Konzepts in meinen Gleichungen zum Ausdruck kommen?«

»Nein«, sagte sie ganz offen.

Kelly lachte. »Wundert mich nicht.«

Aber Liu ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Ist nicht so wichtig. Auf die Intuition kommt es an. Obwohl wir ein Konzept für die Erzeugung der Warp-Blase haben, stehen wir vor einem fundamentalen Problem. Der Energiebedarf ist buchstäblich astronomisch. Eine Warp-Blase ist ein Artefakt aus gekrümmter Raumzeit, das in mancher Hinsicht einem schwarzen Loch gleicht. Angenommen, wir würden eine Blase mit einem Radius von hundert Metern erzeugen. Die sollte umfangreich genug sein, um ein Raumfahrzeug von respektabler Größe zu beherbergen, nicht wahr? Schätzen Sie bitte die Größenordnung der erforderlichen Masse-Energie.«

Die Schüler beugten sich über ihre Computer. Kelly murmelte: »Der Radius eines schwarzen Loches ist gleich der Masse M multipliziert mit der doppelten Gravitationskonstante, geteilt durch das Quadrat der Lichtgeschwindigkeit …«

»Zehn hoch neunundzwanzig Kilogramm«, rief Venus Jenning aus, ein schwarzes Mädchen, dessen Familie aus Utah stammte und vor dem sich anbahnenden Mormonenaufstand geflohen war. Soweit Holle erkennen konnte, hatte sie das im Kopf ausgerechnet. W?hrend der Arbeit las sie ein vergilbendes Taschenbuch unter ihrem Pult, einen Science-Fiction-Roman mit knalligem Titelbild.

»Nochmal in verständlichen Worten«, blaffte Liu zurück. »Was bedeutet diese Zahl?«

»Ein Zehntel der Sonnenmasse«, sagte Kelly. »Man müsste ein Zehntel der gesamten Sonnenmasse in Energie umwandeln, um eine Warp-Blase von dieser Größe zu erschaffen.«

»Nicht sonderlich praktikabel«, sagte Liu. »Nachdem wir uns jahrelang ausführlich mit diesem Konzept beschäftigt haben, bleibt das unser fundamentales Problem. Wir besitzen einfach nicht die Energiequellen, um eine Warp-Blase von der erforderlichen Größe erzeugen zu können.« Er strich die Gleichungen und Diagramme auf der Tafel mit einem großen roten Kreuz durch.

Erneut ertappte Holle sich dabei, wie sie laut nachdachte. »Wenn dir die Antwort nicht gefällt, stellst du vielleicht die falsche Frage.«

Liu drehte sich erneut zu ihr um.

»Entschuldigung«, sagte sie. »Das sagt mein Dad immer.«

»Und wie lautet dann die richtige Frage?«

»Vielleicht: Wie groß ist die Warp-Blase, die wir erzeugen können?«, schlug Zane leise vor.

Liu dachte darüber nach. »Okay. Spielen wir’s mal durch. Bei welchem von Menschen beherrschbaren Ereignis wird am meisten Energie freigesetzt?«

»Bei Atombombenexplosionen«, rief Thomas Windrup. »Oder genauer, bei der Explosion thermonuklearer Bomben.«

»Richtig«, sagte Liu. »Und die allerstärkste Explosion war welche?«

Schon klapperten sie wieder auf ihren Computern herum und gaben mit leiser Stimme Fragen in Suchmaschinen ein.

Susan Frasier fand die Antwort. »30. Oktober 1961. Ein russischer Test. Siebenundfünfzig Megatonnen, gezündet in Nowaja Semlja.« Sie lächelte, stets freundlich, stets darum bemüht, alles richtig zu machen.

»In Ordnung. Und wenn man diese Masse-Energie zur Erzeugung eines schwarzen Loches verwenden würde?«

Sie brauchten eine Minute, um herauszufinden, wie man Energie, die in Tonnen TNT-Äquivalent gemessen wurde, in Joule umrechnete. Diesmal ließ Kelly es sich nicht nehmen, als Erste die richtige Antwort zu geben. »Sein Radius betrüge zehn hoch minus siebenundzwanzig Meter.«

Liu sagte: »Nochmal …«

»… in verständlichen Worten«, beendete Don den Satz für ihn. »Also, das wären acht Größenordnungen über der Planck-Länge, der kleinsten sinnvoll beschreibbaren Länge. Aber es wäre nur ein Tausendstel des Radius eines Neutrinos mit einer Energie von einem Megaelektronenvolt! Man bekäme nicht mal ein Neutrino da rein, geschweige denn ein Raumschiff!«

Gedämpftes Lachen ertönte, und Zane errötete.

Aber Liu stand nur schweigend da; seine Augen bewegten sich, als jagten sie einen schwer fassbaren Gedanken. »Ihr dürft gehen.« Er verließ abrupt den Raum.

Murrend fingen die Schüler an, ihre Sachen einzupacken. »Jetzt schau, was du angerichtet hast«, sagte Don zu Holle. »So ist Liu immer, wenn ihm eine Idee kommt. Ich hoffe für dich, dass es eine gute ist, sonst reißt er dir den Kopf ab, weil du seine Zeit verschwendet hast. Komm. Ich zeige dir, wo man eine Limo kriegt.«


13



Holle war erleichtert, als sie an diesem Abend nach Hause kam. Die Wohnung, die ihr Vater gemietet hatte, lag im selben Block wie der Tattered Cover Book Store; das Antiquariat gehörte noch immer zu den florierendsten Geschäften in Denver, weil niemand mehr neue Bücher druckte. Sie stellte ihre Schultasche in der Diele ab, holte sich ein Glas Wasser und ging ins große Wohnzimmer, wo im Wandfernseher gerade die aktuellen Nachrichten auf dem Kanal der Rocky Mountain News liefen.

Patrick hörte sie nicht hereinkommen. Er saß auf dem Fußboden, den Rücken ans Sofa gelehnt, einen Arm über ein Kissen gelegt, in der anderen Hand ein Glas Mais-Whiskey. Die obersten Knöpfe seines Hemdes standen offen, er hatte die Schuhe ausgezogen, und seine schwarz bestrumpften Füße waren gekreuzt.

Die Nachrichten waren allesamt schrecklich, wie Holle mit einem Blick auf den großen Mehrfachbildschirm sah. In Denver bereitete sich die Polizei auf eine weitere Randale-Nacht der Wanderarbeiter im City Park vor. Woanders wurden diplomatische Noten mit Utah ausgetauscht; Mormonenführer in Salt Lake City weigerten sich nun, Steuern an den Bund abzuführen. Präsidentin Vasquez würde dazu demnächst eine Erklärung abgeben. Meerwasser, das sich von Alabama aus durchs Tennessee-Tal vorarbeitete, löste eine neue Evakuierungswelle aus und produzierte weitere Bilder durchnässter Menschen, die in prasselndem Regen dicht gedr?ngt auf Landstra?en dahinstapften. Die Regierung erwog, Truppen in die Friedmanburgs zu schicken, die von Unruhen geplagten neuen St?dte auf den Great Plains, wo Einwohner gegen die Ausbeutung durch die Reichen protestierten, die das Land urspr?nglich aufgekauft und einen gro?en Teil der Erschlie?ungskosten bezahlt hatten. Holle wusste, dass ihr Dad irgendetwas damit zu tun hatte. Noch aktive Aufkl?rungssatelliten meldeten mutma?liche Atombombenexplosionen in Tibet, dem Kulminationspunkt der Spannungen zwischen Indien, China und Russland.

Zugleich erzitterte die Erde unter dem Gewicht des Wassers, das immer schwerer auf den Kontinenten lastete und weitere Tsunamis, Erdbeben und Vulkanausbrüche auslöste. Eine Übersichtskarte im Hintergrund zeigte, dass rund vierzig Prozent der weltweiten Landfläche aus der Zeit vor der Flut verlorengegangen und rund vier Milliarden Menschen vertrieben worden waren.

Holle hasste die Nachrichten. All diese Schalen aus Schrecknissen, Elend und Konflikten, die sich um die Blase der Sicherheit legten, in der sie aufgewachsen war – und die, wie ihr allmählich klarwurde, eine sehr besonderer Ort war. Und obwohl Wissenschaftler manchmal behaupteten, dass die Flut bald ein Ende nehmen und das Wasser zurückweichen würde, schien es nicht sonderlich viel zu geben, worauf sie sich stützen konnten, und ihr Vater reagierte nie auf die leisen Hoffnungen, die sie weckten.

»Können wir nicht zu Friends umschalten, Dad?«

Patrick schreckte zusammen. Er hatte nicht gemerkt, dass Holle da war. »Oh, hallo, Schätzchen.« Er schaltete zu einer Konferenzschaltung um; Holle erkannte Edward Kenzie, einen sonnengebräunten Nathan Lammockson und andere. Ihre tiefen Stimmen dröhnten. Patrick hob den Arm und machte ihr Platz. Sie setzte sich auf den Teppich neben ihn und kuschelte sich an ihn. Er war warm, m?de und verschwitzt. Sein Geruch war ungeheuer beruhigend. ?Entschuldige?, sagte er, ?ich habe gerade ein bisschen geschw?nzt. Eigentlich soll ich an dieser Konferenz teilnehmen. Friends – später vielleicht. Das läuft ja Tag und Nacht.«

Holle war mit den alten Fernsehserien aus der Zeit vor der Flut aufgewachsen. Sie waren tröstlich, weil sie in einer Welt spielten, die für sie so irreal war wie die eines Märchens. »Worum geht’s bei der Konferenz?«

»In einem Observatorium in Chile läuft gerade eine astronomische Durchmusterung. Ein Ort namens La Silla, sehr hoch gelegen. Das ist in Südamerika, weißt du? Gehörte früher mal den Europäern, aber jetzt erhält Nathan Lammockson, der in Peru sitzt, für uns dort den Betrieb aufrecht. Nicht dass er wüsste, was genau wir da oben eigentlich tun.«

»Bestimmt nach Planeten suchen.«

»Ja, darum geht es. Irgendein Ziel für die Arche zu finden. Und sobald das neue Raumfahrtzentrum fertig und einsatzbereit ist, wollen wir eine Sternenschirm-Mission durchführen.«

»Eine was?«

»Ich weiß nicht genau, ob ich’s verstehe, aber es ist interessant. Man schickt eine riesige Plane hoch, die in Rotation versetzt und dadurch stabilisiert wird. Das Ding sieht wie eine Blume mit Blütenblättern aus. In mehreren Tausend Kilometern Entfernung befindet sich ein konventionelles Teleskop – wir benutzen das Hubble. Der Schirm soll das Licht des Sterns blockieren, damit das Teleskop etwaige Planeten aufspüren kann. Mit diesem Arrangement sollte es uns gelingen, Kontinente auf einem erdähnlichen Planeten bis in dreißig oder vierzig Lichtjahren Entfernung auszumachen. Vor Jahren hat sich ein Astronom an der University of Colorado in Boulder sehr f?r dieses Projekt eingesetzt. Dadurch konnten wir es ausgraben.?

»Und eine Pause zu machen bedeutet für dich also, die Nachrichten zu gucken? Die sind immer schlecht.«

»Ich weiß.«

»Manchmal denke ich, alle haben Angst.« Es stimmte: Die Menschen hatten Angst vor der Flut, die noch weit von der Stadt entfernt war, Angst vor den Eye-Dee-Wellen, weil sie Schmutz, Krankheiten und Hunger mit sich brachten und Raum beanspruchten, und Angst voreinander, denn in Zukunft würde es vielleicht nicht mehr genug Platz für alle geben. Holle selbst hätte sich erheblich sicherer gefühlt, wenn Alice Sylvan, die sie mit den Jahren als eine Art Ehrentante betrachtet hatte, nicht in der Innenstadt von einem Heckenschützen erschossen worden wäre.

»Ich weiß, ich weiß.« Patrick zerzauste ihr die Haare. »Aber es bringt ja nichts, einfach die Augen zuzumachen. Und, wie war’s an der Akademie?«

»Es war schrecklich, Dad. Die Kinder sind alle intelligent und laut, und dann herrscht da auch eine irrsinnige Konkurrenz. Nur Zane war nett zu mir.«

»Zane ist bestimmt froh, dass du da bist.«

»Ich bin nicht wie Zane«, platzte sie heraus. »Und ich bin auch nicht wie Kelly Kenzie. Ich bin nicht groß und hübsch und selbstbewusst. Erzähl mir nicht, dass solche Dinge nicht wichtig sind, denn das sind sie. Ich weiß, wie man die Schüler nennt. Die Kandidaten. Man muss was Besonderes sein, um ein Kandidat zu sein, ein Star. Ich kam mir vor wie Joey in Friends

Er lachte und nippte an seinem Drink. »Okay. Aber sieh mal – ich finanziere die Akademie wie auch viele andere Initiativen, die mit der Arche Eins zu tun haben, im Rahmen eines Konsortiums mit meinem Geld. Sie ist allerdings kein Pensionat f?r kleine reiche Kinder. Wenn man dich dort aufgenommen hat, dann, weil man glaubt, dass deine F?higkeiten es rechtfertigen; sonst w?rst du nicht dort, ganz gleich, wessen Tochter du bist. Du verdienst es, dort zu sein, Sch?tzchen.? Er k?sste sie auf den Kopf. ?Aber wenn es irgendwann mal zu hart f?r dich ist, komm einfach nach Hause.?

»Oh, ich werde nicht aufgeben.«

Der Fernseher gab einen Signalton von sich, und der Bildschirm füllte sich mit einem Brustbild von Liu Zheng.


»Liu?«, sagte Patrick. »Was kann ich für Sie tun?«

Liu grinste. So menschlich hatte er im Unterricht bisher noch kein einziges Mal dreingeschaut. »Eigentlich hatte ich gehofft, mit Holle sprechen zu können. Miss Groundwater, ich glaube, Sie haben das seltene Talent, die richtigen Fragen zu stellen.«

»Welche richtigen Fragen? Meinen Sie diese Diskussion über die größte Warp-Blase, die wir erzeugen könnten? Aber die Antwort war ›klitzeklein‹. Die anderen haben alle gelacht.«

»Hören Sie mir zu«, sagte Liu ernst. »Wir befassen uns hier mit der Manipulation der Raumzeit, einer multidimensionalen Manipulation. Alles, was wir mehr oder minder intuitiv zu wissen glauben, ist wahrscheinlich falsch. Angeregt von dieser Diskussion, habe ich mir noch einmal etwas angesehen, was ich im Verlauf meiner früheren Forschungen entdeckt hatte. Eine dreißig Jahre alte spekulative Abhandlung eines belgischen Physikers. Haben Sie einen Handheld? Versuchen Sie, der Argumentation zu folgen …«

Und als wäre Patrick gar nicht da, verfiel er umstandslos in seinen seltsamen, zerstreuten Vortragsstil, und der große Wandbildschirm begann sich mit Grafiken und Gleichungen zu füllen. Holle lie? die Tensoren wie fallende Bl?tter vorbeiwirbeln und bem?hte sich, die Quintessenz seiner Ausf?hrungen zu verstehen.

»Eine Warp-Blase ist ein separates Universum, das mit unserem verbunden ist, wie eine Beule, die sich an einer schadhaften Stelle in der Hülle eines Spielzeugballons bildet. Die Blasenwand … ähm … umgibt dieses Taschenuniversum. Aber ›umgeben‹ ist ein dreidimensionaler Begriff und deshalb ungeeignet, die höherdimensionale Realität zu beschreiben. Die Blase ist in Wahrheit der Hals der schadhaften Stelle, der die Mutterraumzeit mit der Tochter verbindet. Sie kann also viel kleiner sein als das Tochteruniversum selbst.«

»Kleiner als das Schiff!«

»Genau. Die Warp-Blase kann beliebig klein sein.« Das Grinsen wurde breiter. »Allem Anschein nach sogar so klein, dass sie in ein einzelnes Neutrino passt. Und es gibt noch andere Vorteile. Der Stoßquerschnitt unseres Warp-Schiffes hat uns Sorgen bereitet. Selbst Staubkörner, die das vordere Ende der Warp-Blase träfen, wären enormen Kompressionskräften ausgesetzt. Das Schiff könnte Schaden nehmen, und das Warp-Feld würde vielleicht einen Energieverlust erleiden. Durch die neue Geometrie verringert sich diese Gefahr erheblich.«

»Mein Gott«, meinte Patrick. »Ich verstehe vielleicht fünf Prozent von dem, was Sie sagen. Aber ich weiß, dass die Masse-Energie-Frage der entscheidende Hemmschuh für die Konstruktion war …«

»Wir liegen Jahre hinter jedem hypothetischen Plan zurück«, sagte Liu mit schwerer Stimme. »Dies könnte der konzeptionelle Durchbruch sein, den wir gebraucht haben.«

Patrick umarmte seine Tochter. »Und alles dank meiner Kleinen. «

»Oh, Dad …«

»Das ist natürlich nicht so«, sagte Liu mit unerwarteter Strenge. »Beherrscht sie die relativistische Mathematik, die man braucht, um diese neue Lösung umfassend zu beschreiben? Selbstverständlich nicht. Ihr Beitrag besteht in einer scharfsinnigen Frage, die eine Antwort hervorgebracht hat, die zu einer endgültigen Lösung führen könnte. Zane Glemp hat mehr dazu beigetragen, um der Wahrheit die Ehre zu geben. Hier geht es um Teamwork. Auf der Archen-Akademie suchen wir nicht nach dem überragenden Individuum, Holle Groundwater. Wir streben danach, ein Team zusammenzustellen, eine Crew. Heute haben Sie gezeigt, dass Sie vielleicht das Potenzial besitzen, zu diesem Team zu gehören. Vielleicht. Es war ein guter erster Tag. Jetzt schlage ich vor, Sie schlafen gut und sorgen dafür, dass Sie morgen pünktlich sind.« Sein Bild erlosch und wurde von den stumm geschalteten sprechenden Köpfen Lammocksons, Kenzies und der anderen ersetzt.

»Puh.« Patrick ließ Holle los und stand steifbeinig auf. »Ich brauche noch einen Drink und etwas zu essen – in dieser Reihenfolge. Was für ein Tag. Ein Raumschiff von der Größe eines Neutrinos!«

»Nein, Dad«, sagte sie, während sie ihm folgte. »Ein subneutrinogroßer Korridor zu einem Taschenuniversum mit einem Raumschiff drin.«

»Was auch immer. Wer schält die Kartoffeln?«


14



MAI 2032



Der Tag, an dem die Regierung das Projekt übernahm, begann wie jeder andere an der Akademie. Holle wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass es der letzte Tag ihres alten Lebens sein könnte, das Ende des alten Regimes und der Anfang von etwas Neuem.

Magnus Howe ging in seinem Ethik-Unterricht mit den Schülern gern in den ersten Stock des alten Museums, in den großen Saal für die Kultur der nordamerikanischen Indianer mit seinen Dioramen und Artefakten hinter Glaswänden in gebogenen Gängen. Er behauptete, wegen der Verbindung des Saales mit der weit zurückliegenden Vergangenheit der Landschaft seien sie hier geerdet. Holle glaubte, dass er sie an andere Menschheitskulturen erinnern wollte, die von früheren Katastrophen ausgelöscht worden waren, im Falle der Indianer von einer Flut aus Gier und Ignoranz.

Ein Dutzend Schüler aus Holles Altersgruppe der Zwölf- bis Vierzehnjährigen saß auf dem gebohnerten Boden in einem lockeren Kreis um Howe, der auf dem einzigen Stuhl im Raum Platz genommen hatte. Die meisten von ihnen trugen ihre schicken neuen Kandidatenkostüme, robuste, einteilige Lycra-Uniformen in Königsblau mit purpurroten Ärmeln und gerippten Einsatzstreifen in derselben Farbe. Wie üblich taten sie mehrere Dinge zugleich; sie teilten sich in Kleingruppen auf, um die eine oder andere Aufgabe zu besprechen, oder arbeiteten sich durch Material auf Laptops und Handhelds. Venus Argent schlenderte um die B?cherstapel herum und bl?tterte hier und dort; der Raum diente auch als Bibliothek der Akademie. Einige Sch?ler trugen jenen geistesabwesenden Gesichtsausdruck zur Schau, der vom Gemurmel der Angels in ihrem Kopf herr?hrte. Thomas Windrup und Elle Strekalow hingen gemeinsam an einem Angel. Dreizehn Jahre alt, die H?nde ineinander verflochten, schaukelten sie sanft hin und her.

Die Schüler diskutierten darüber, weshalb es den Kandidaten und ihren Familien – denjenigen mit christlichem Hintergrund – nicht erlaubt gewesen war, Ostern zu feiern.

»Das war hart für meinen Vater«, sagte Holle. »Wir hätten eine Pause gebrauchen können.« Der ehrgeizige Plan, an dessen Umsetzung gegenwärtig gearbeitet wurde, sah vor, eine Treibstoffladung Antimaterie, den Schlüssel zum Interstellarantrieb, auf dem Erdboden herzustellen und eine lange Reihe von Ares-Trägerraketen von Gunnison aus hochzuschießen, um Arche-Module zur Raumstation zu transportieren, die generalüberholt und als Montageplattform benutzt werden sollte. All dies musste schon binnen der nächsten acht Jahre geschehen. Doch da sie ein Etappenziel nach dem anderen verpassten, war der Druck auf die Projektleiter, zu denen auch ihr Vater gehörte, gnadenlos.

»Ostern ist Ferienzeit, ja«, gab Magnus Howe zu. »Aber wie steht’s mit der Theologie?«

Wilson Argent prustete verächtlich. »Das hat doch nichts mit Theologie zu tun. Ist alles bloß Politik. Präsidentin Vasquez führt Krieg gegen die Mormonen. Und dann sind da diese Spinner vom Neuen Bund, die behaupten, dass Gott die Sünder ertränkt. Als Gegenreaktion werden wir säkular.« Der dunkelhäutige, aufgeweckte, stämmige Wilson war ein Neuzugang aus den Flüchtlingslagern; man hatte ihn wegen seiner scharfen Intelligenz und seiner starken Persönlichkeit ausgewählt. Holle hatte den Eindruck, dass er Don und Kelly die informelle F?hrung der Gruppe streitig machte.

»Ihr zwingt die Leute, eine Wahl zu treffen«, sagte Kelly Kenzie. »Wir haben ein paar gute Leute verloren, deren Eltern den anderen Weg gewählt und Gott eurem Ausleseverfahren vorgezogen haben.«

»Also, mein Verfahren war das nicht«, sagte Howe. »Der Theorie der Sozialingenieure zufolge …«

»Die Theorie spielt gar keine Rolle«, unterbrach ihn Venus Jenning, die in einem vergilbenden Taschenbuch blätterte. Sie war ein schlankes, hochgewachsenes, ruhiges und stilles Mädchen, fasziniert von Astronomie, was möglicherweise von dem Namen herrührte, auf den sie getauft worden war. Und sie mochte Science-Fiction, Bilder verschwundener Zukünfte. »Hey, schaut euch das an«, sagte sie jetzt. Ihr Buch trug den Titel Die Tür in den Sommer; der Autor hieß Robert Heinlein. »Hier drin wird Denver auch zur Bundeshauptstadt. Nach dem Sechswöchigen Krieg 1970!«

»Sie wollten gerade etwas zum Thema Theorie und Praxis sagen, Miss Jenning?«, soufflierte Howe in ruhigem Ton.

»Ach ja. Entschuldigung. Also, wegen des Religionsverbots haben wir Juden, Hindus und Muslime verloren. Barry Eastman. Juri Petrow. Miranda Nikolski! Sie war unsere beste Mathematikerin. Obwohl sie ein Jahr jünger ist als ich, hat sie mir interstellare Navigation beigebracht! Man kann sich’s nicht leisten, solche Leute zu verlieren. Sogar Zane hätte beinahe aufhören müssen.«

Die Aufmerksamkeit der Gruppe richtete sich auf Zane Glemp. Nach drei Jahren auf der Akademie gehörte der zwölfjährige Zane noch immer zu den Schüchternsten der Gruppe, und er schaute zu Boden.

»Zane?«, sagte Magnus Howe aufmunternd.

»Ja, stimmt. Die Vorfahren meines Vaters waren Juden. Wir üben unsere Religion nicht aus. Aber meinem Vater gefiel der Gedanke nicht, dass wir unsere gesamte Tradition wegwerfen sollten. Und ich glaube, es gefiel ihm auch nicht, dass die Sozialingenieure sich in sein Projekt eingemischt haben.«

Don Meisel schnaubte. »Jerzy Glemp war zwar von Anfang an dabei. Aber ganz egal, welche Ideen er eingebracht hat, es ist nicht sein Projekt. Es wird mit dem Geld meines Vaters finanziert, und mit dem Geld von deinem und deinem und deinem.« Er zeigte auf die Kinder der Superreichen: Kelly, Susan Frasier, Venus Jenning, Cora Robles, Joe Antoniadi, Holle. Cora, ein reiches Mädchen, das mit Angriffen auf den Reichtum ihrer Eltern aufgewachsen war, ließ nur ein reizendes Lachen vernehmen.

Magnus Howe wandte sich wieder an Zane. »Und warum bist du dann noch hier?«

Zane zuckte die Achseln. »Auf die Arche zu kommen, war uns wohl wichtiger. Was nützt die Religion, wenn die Familie ausgelöscht ist? Und Mr. Smith hat uns ein paarmal besucht. Er hat meinen Dad gedrängt, mich im Projekt zu lassen.«

Daraufhin trat eine seltsame Stille ein. Harry Smith, ihr pädagogischer Betreuer – groß, schroff, kompliziert –, spielte eine wichtige Rolle in ihrer aller Leben. Er stand seinen Schützlingen nahe und verbrachte einen nicht unbeträchtlichen Teil seiner dienstfreien Zeit mit den Kandidaten. Er war sogar dazu übergegangen, sich wie die Schüler zu kleiden, und trug eine Variante ihrer farbenfrohen Lycra-Uniformen. Und manchmal sah er einen mit einem strengen, harten Blick irgendwie herausfordernd an. Besonders Zane Glemp sah er so an. Es war also keine große Überraschung, dass Harry Smith bei Zanes Vater gewesen war und ihn gedrängt hatte, seinen Sohn im Projekt zu lassen. Holle h?tte wetten k?nnen, dass die anderen jetzt dar?ber nachdachten. Keiner sagte jedoch ein Wort. Das tat nie jemand. Auf der Akademie herrschte knallharter Wettbewerb, und die Leitung suchte st?ndig nach einem Grund, jemanden hinauszuwerfen. Niemand wollte sich ?rger einhandeln. Wenn Harry Smith f?r Zane ein Problem darstellte, war es Zanes Sache, damit fertigzuwerden.

Falls Magnus Howe merkte, dass seinen Schülern etwas dergleichen durch den Kopf ging, so ließ er es sich nicht anmerken. »Kommen wir zum Punkt. Was glauben Sie, weshalb wir die Religion aus diesem Projekt herauszuhalten versuchen?«

»Um Konflikte zu vermeiden«, sagte Wilson. »Ein Raumschiff ist zu klein für Dschihads, Kreuzzüge oder Pogrome. Vielleicht könnte man’s hinkriegen, dass die Besatzung eines Schiffes ausschließlich aus Christen, Juden oder Muslimen besteht …«

»Oder aus Mormonen«, warf Don Meisel ein.

Venus nickte. Ihre Angehörigen stammten zwar aus Utah, waren aber keine Mormonen. »Oder aus Mormonen, ja. Aber eine Auswahl nach Religionszugehörigkeit würde eine starke Einschränkung bedeuten und hätte bestimmt heftige politische Kontroversen zur Folge.«

»Was ist mit Polytheismus?«, fragte Susan Frasier. »Wie im Hinduismus zum Beispiel, oder in den alten heidnischen Religionen. Wenn es nicht nur einen Gott gibt, sondern viele Götter, sorgt das für Flexibilität und schafft Raum für Toleranz.«

»Bei den Römern hat’s funktioniert«, erklärte Miriam Brownlee. »In ihrem Pantheon war Platz genug für die Götter all ihrer Provinzen …«

»Die Jehova dann aus ihrem Elend erlöst hat«, sagte Mike Wetherbee.

Miriam lachte über seinen Scherz. Sie war eine schlanke Texanerin, die sich aufgrund eines gemeinsamen Interesses an Humanbiologie und Medizin zu Mike hingezogen fühlte.

»Aber selbst eine monoreligiöse Gruppe würde sich wahrscheinlich aufspalten«, meinte Elle Strekalow. »Denkt an Sunniten und Schiiten, Katholiken und Protestanten …«

Das Gespräch kam in Schwung, und das Interesse der Kandidaten erwachte; sie gaben ihre anderen Projekte auf und begannen mit Hilfe soziodynamischer Softwarepakete zu erforschen, wie sich unterschiedliche religiöse und soziale Konfigurationen in der geschlossenen Umgebung eines Raumschiffs entwickeln würden – rein christliche, muslimische oder buddhistische Crews oder welche mit einer Dachstube voller zankender Götter als Lotsen.

Magnus Howe ließ sie eine Weile arbeiten. Er war dunkelhaarig, konzentriert und noch ziemlich jung, keine dreißig. Angeblich hatte er früher einmal eine Jesuitenschule besucht. In Anbetracht seines trockenen Themas war er ein ziemlich guter Lehrer, und überdies war er jung genug, um die Freude seiner Schüler am Lernen, am Erwerb neuen Wissens zu teilen.

Holle beteiligte sich nicht an diesem spontanen Forschungsprojekt. Ihr Interessensgebiet war die Konstruktion des Schiffes, nicht die Zusammenstellung seiner Besatzung. Aber sie verspürte so etwas wie ein warmes Zugehörigkeitsgefühl, als sie hier mit dieser Gruppe intelligenter, eifriger Kinder zusammensaß. Der Gedanke, dass viele von ihnen wahrscheinlich ausgemustert werden würden, lange bevor die Arche vom Boden abhob, brach ihr das Herz.

Magnus klatschte in die Hände, um sie wieder zusammenzubringen. Er warf einen flüchtigen Blick auf seinen eigenen Laptop, auf dem er ihre Improvisationen beaufsichtigt hatte. »Ich sehe schon, da zeichnen sich einige gute Arbeitsergebnisse ab. Kommt morgen mit einer Pr?sentation eurer Resultate wieder.? Er spezifizierte die Aufgabe nicht n?her; es w?rde wie immer Sache der Sch?ler sein, ihre Ziele richtig zu definieren, die Arbeit zu organisieren und sich dar?ber klarzuwerden, wie und von wem sie vorgestellt werden sollte. ?Konzentrieren wir uns f?rs Erste auf die bereits getroffene Entscheidung ? Menschen mit starken religi?sen ?berzeugungen aus der Crew auszuschlie?en.?

»Was ist mit Atheisten?«

»Die auch.«

»Es wird schwer sein, das durchzusetzen«, meinte Don Meisel. »Ihr wisst doch, wie versessen die Leute darauf sind, ihre Kinder auf der Arche unterzubringen. Wenn das bedeutet, dass man dazu seine Religion für ein paar Jahre verschleiern muss, dann werden sie’s tun.«

»Das käme raus«, sagte Zane Glemp. Er zeigte auf Kameras, die in den Ecken an der Decke angebracht waren und wie immer alles stumm beobachteten.

Holle runzelte die Stirn. »Aber auch wenn wir die Religion ausschließen, können wir die Religiosität nicht zurücklassen.«

Sie griffen diesen neuen Faden begierig auf. Susan Frasier, klein, dicklich, großzügig und beliebt, meldete sich zu Wort. »Vielleicht stimmt das. Vielleicht haben wir Menschen eine tief verwurzelte Neigung zu religiösem Denken. Es könnte eine Folge unseres Bedürfnisses sein, in der Welt um uns herum zwischen Ursache und Wirkung zu unterscheiden.«

»Nicht zu vergessen die Theory of Mind – die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, begünstigt die Entwicklung von Religiosität«, sagte Miriam Brownlee.

»Wir nehmen das alles mit in den Weltraum«, sagte Holle. »Ganz gleich, was wir zurücklassen – das, was uns als Menschen ausmacht, nehmen wir mit.«

Magnus Howe nickte. »Ein guter Beitrag. Ihr alle außer Holle bleibt abstrakt – ihr redet davon, wie ›die Crew‹ auf diverse Stimuli oder deren Fehlen reagieren wird. Nur Holle sagt ›wir‹. Nur Holle scheint zu erfassen, dass es nicht darum geht, das Verhalten irgendwelcher Opfer eines psychologischen Experiments vorherzusagen. Es geht um euch – zumindest um einige von euch, die das alles hier vielleicht überstehen und an Bord der Arche gehen werden. Wie werdet ihr reagieren? Schaut in euch selbst hinein.«

Das brachte sie für kurze Zeit zum Schweigen. Dann sagte Susan Frasier: »Die Erde. Ich denke, egal, wie weit ich reise – selbst wenn es Lichtjahre sind –, ich werde immer an die Erde zurückdenken. So wie ich an meine Mutter zurückdenke.«

»Ja.« Magnus Howe nickte heftig. »Die Erde, der Planet, der seine Lebensfracht vier Milliarden Jahre lang geformt hat, bevor auch nur einer der Anwesenden in diesem Raum hier geboren wurde. Zweifellos wird keiner von euch sie jemals aus seinen Gedanken und seinem Herzen verbannen.«

»Aber die Erde hat uns verraten«, wandte Wilson Argent ein. »Mag sein, dass sie unsere Mutter ist, aber jetzt ersäuft sie uns.«

»Das ist kein Verrat«, entgegnete Susan. »Nicht unbedingt. Es ist bloß eine Veränderung, eine evolutionäre Entwicklung der Daseinsform der Erde. Ein Übergang von einem Klimazustand in einen anderen.«

»In dieser Unterrichtsstunde diskutieren wir über den Abschied von der Religion«, sagte Howe. »Da wäre es unangebracht, die Erde zu vergöttlichen; die Erde ist sicherlich ein sich selbst organisierendes System, aber kein bewusstes Wesen. Es gibt jedoch eine Denkschule, derzufolge wir einfach die Weisheit der unbewussten Anpassung der biologischen und physikalischen Zyklen der Erde akzeptieren sollten.«

Don Meisel sprang sofort darauf an. »Das ist Dulder-Geschwätz. Sind Sie ein Dulder, Mr. Howe?«

Sofort entstand eine starke Spannung. Die eher nebulöse Philosophie, die als »Dulder-Denken« bekannt geworden war, beruhte auf einem Bibelzitat: »Ein Geschlecht geht dahin, und ein anderes kommt; aber die Erde bleibt ewig stehen« – Prediger 1, Vers 4. Sie war aus einer Art Erschöpfung geboren, zwanzig Jahre nachdem die weltweite Überschwemmung ihre ersten störenden Auswirkungen auf die Angelegenheiten der Menschen gehabt hatte. Vielleicht, argumentierten manche, sollte sich die Menschheit einfach in ihr Schicksal fügen. Die Regierung betrachtete solches Gedankengut als Begründung dafür, keine Steuern mehr zu bezahlen, und ging scharf dagegen vor.

In der Akademie war Dulder-Geschwätz als Ausdruck einer Denkweise verpönt, die das Projekt zweifellos ebenso sabotieren konnte wie die Aktionen unzufriedener Eye-Dee-Terroristen. Folglich wog Dons Beschuldigung schwer; Howe konnte seinen Job verlieren.

Aber der Lehrer lächelte nur. »Die Frage lautet, was in euren Herzen ist – und was in Zukunft dort sein wird, wenn die Erde nicht mehr als eine Erinnerung für euch ist. Versteht ihr? …« Sein Handy klingelte. Im Unterricht sollten die Handys so eingestellt sein, dass sie nur Anrufe mit höchster Priorität annahmen. Howe runzelte die Stirn und holte das Handy aus seiner Tasche.

Dann klingelte Kelly Kenzies Handy.

Und das von Don. Und von Wilson. Die Bildschirme der Laptops und Handhelds leuchteten ebenfalls auf.

Und schließlich klingelte auch Holles Handy. Es zeigte eine schlichte SMS ihres Vaters: Sie sollte sofort zum Capitol kommen, wo Präsidentin Vasquez eine Rede halten würde.


15



Die Menge, die sich vor den Stufen des State Capitol um den sauberen Obelisken des Veteranendenkmals versammelt hatte, war kleiner, als Holle vielleicht erwartet hätte: nur ein paar Hundert Leute. Eine ausgewählte Gruppe, aber die meisten derjenigen, die den innersten Zirkeln des Arche-Projekts angehörten, schienen dort zu sein.

Auch Präsidentin Vasquez war bereits anwesend, als die Kandidaten eintrafen. Sie war eine stämmige Frau in einem dunkelblauen Kostüm, und sie stand hinter einem leichten Podium mit dem Präsidentensiegel darauf. Ihre Begleitung bestand aus Militärs, Polizisten, Vertretern der Stadtregierung und Sicherheitsleuten in Zivil. Vasquez schaute in regelmäßigen Abständen auf ihre Armbanduhr und sprach mit einem Mann in einer blauen Luftwaffenuniform. Er mochte um die sechzig sein, ein gebräunter, sehr fit wirkender Mann mit strenger Miene.

Es war ein trüber, bewölkter, aber warmer und feuchter Tag. Kein typischer Mittsommertag in Colorado, sagten die Alteingesessenen, aber schließlich war kein Tag mehr typisch. Das Capitol sah reichlich heruntergekommen aus, der helle Stein gestreift vom jahrelangen schmutzigen Regen, aber an Masten zu beiden Seiten hingen zwei große Sternenbanner, die in der unbeständigen Brise flappten. Holle schaute auf den Park zurück, der durch Zäune von den Regierungsgebäuden drumherum getrennt war. Man hatte mit Marmorplatten gepflasterte Wege aufgegraben, um blo?es Erdreich freizulegen, und zerlumpte Parkbewohner arbeiteten an Reihen von Kartoffelbeeten. Kartoffeln waren den offiziellen Empfehlungen der Regierung zufolge das Nahrungsmittel der Flut.

Holle, die in der Menge stand, fühlte sich unwohl in ihrer farbigen Uniform; sie war sich der missgünstigen Blicke der Umstehenden bewusst. Die Kandidatinnen und Kandidaten wurden allmählich zu so etwas wie Berühmtheiten, selbst bei den anderen Arche-Mitarbeitern. Obwohl Hunderte in diversen Bereichen des Projekts tätig waren, beispielsweise draußen auf dem riesigen Baugelände bei Gunnison, wussten nur wenige, dass es einzig und allein um den Bau eines Sternenschiffs ging. Dennoch war klar, dass die Kandidaten auf irgendein großes Abenteuer vorbereitet wurden. Nur wenige Menschen in Denver führten noch ein von Aufstiegserwartungen geprägtes Leben, und vielen bereitete es Vergnügen, die Aktivitäten der Kandidaten zu verfolgen, ihre Höhen und Tiefen, als wären sie Figuren in einer Realityshow. Manche Kandidaten spielten dabei mit. Kelly und Don wetteiferten um die Zahl der Zugriffe auf ihre Blogs. Aber die Kehrseite der Medaille waren Missgunst und Neid.

Holle kannte viele der Gesichter um sich herum, darunter jene der reichen Männern und Frauen von LaRei, die zum Teil selbst Eltern von Akademieschülern waren. Die Eltern standen in kleinen Gruppen beisammen und unterhielten sich mit ernsten Mienen. Es waren größtenteils Väter; die Kandidaten hatten festgestellt, dass viele von ihnen aus mutterlosen Familien kamen, wie Holle, Kelly und Zane. Vielleicht träumten nur Väter davon, ihre Kinder in den Weltraum zu schießen. Edward Kenzie, Kellys Vater, war jedoch nicht dabei. Holle hatte Gerüchte gehört, dass er viel Zeit im Yellowstone Park verbrachte und ein anderes Archen-Projekt verfolgte ? Arche Zwei vielleicht. Doch wenn Kelly etwas dar?ber wusste, so sagte sie es nicht. Die Geheimnistuerei war allgegenw?rtig, wie eine Krankheit.

Holles Vater entdeckte seine Tochter. Er drückte sie kurz an sich. »Hallo, mein Schatz.« Er wirkte müde und gereizt. Aber so sah er schließlich immer aus.

»Hast du eine Ahnung, was los ist, Dad?«

»Ich bin gerade aus einer Konferenz geholt worden, und dann habe ich dich angerufen.«

»Wenn irgendwas ist, solltest du darüber Bescheid wissen.«

Patrick schüttelte den Kopf. Hinter dem Podium entstand Bewegung. »Ich schätze, wir werden’s gleich erfahren.«

Auf einmal war dies ein entscheidender Tag, ein außergewöhnlicher Augenblick. Holle spürte, wie sich ein Knoten in ihrem Magen zusammenzog. Ständig der Möglichkeit des Hinauswurfs gewärtig, lebte man als Kandidatin mit einer gewissen Angst und mochte keine Überraschungen.

Ein Anzugträger aus dem Mitarbeiterstab der Regierung trat ans Podium. »Meine Damen und Herren«, sagte er schlicht, »die Präsidentin der Vereinigten Staaten.«


Linda Vasquez kam nach vorn, steckte ein Handy in die Tasche und schaute dabei zugleich auf ihre Armbanduhr. Sie warf dem Militär rechts von ihr einen Blick zu. »Ist alles abgesperrt, Gordo? Kann ich offen sprechen?«

»Korrekt, Ma’am.«

»Gut.« Sie schaute sich mit finsterem Blick um. Vasquez war eine korpulente Frau; auf Holle wirkte sie kraftvoll und alterslos. Sie hatte das Präsidentenamt fast schon seit vier Amtszeiten inne, drei Jahre länger, als Holle überhaupt auf dieser Welt weilte. Gerüchten zufolge plante sie, sich bei den Wahlen in diesem Herbst um eine f?nfte zu bewerben. Als Vasquez sprach, hatte ihre Stimme immer noch den singenden Tonfall der New Yorker Alphabet-City-Slums, in denen sie aufgewachsen war und die bereits w?hrend ihrer ersten Amtszeit im Wasser versunken waren.

»Ich nehme an, Sie wissen, wer ich bin. Und wenn ich mich so umschaue, dann weiß ich auch, wer Sie sind. Dies ist Arche Eins, stimmt’s? Sie sind die Gruppe, die vorhat, mit einem waschechten Raumschiff hier von Colorado aus ins All zu fliegen. Und aus diesem Grund, wegen dieses erstaunlichen, wunderbaren, hoffnungsvollen Ziels hat meine Regierung Sie mit Freuden unterstützt. Und auch wegen der Synergie. Falls es irgendwann einmal ein sinnvolles Wiederaufbauprogramm gibt, wird die Nation ein Raumfahrtzentrum brauchen.

Doch nun ändern sich die Dinge. Die Flut lässt nicht nach, falls Ihnen das noch nicht aufgefallen ist. Allein im letzten Jahr ist das Wasser um weitere siebzig Meter gestiegen. Siebzig Meter! Und dieser senkrechte Anstieg übersetzt sich in weitere enorme Geländeverluste, weil das Wasser auf allen Kontinenten landeinwärts vordringt.« Sie schüttelte den Kopf. »Manchmal steige ich morgens aus dem Bett, schaue mir den täglichen Lagebericht an und kann immer noch nicht glauben, womit wir fertigwerden müssen.«

Holle staunte darüber, dass eine Präsidentin so mit ihnen sprach.

»Doch fertigwerden müssen wir damit, so gut wir irgend können. Ich überprüfe und revidiere ständig meine Prioritäten. Und da die Flut uns weiter bedrängt, werden ehemals abseitige Optionen für den schlimmsten Fall langsam realistischer und bedeutsamer. Denn am Ende könnten diese extremen Optionen das Einzige sein, was uns noch bleibt.

Und das bringt mich zur Arche Eins.« Unerwartet schlug sie mit der geballten Faust aufs Podium; das laute Rückkopplungsgeräusch ließ Holle zusammenfahren. »Was hier vorgeht, ist einfach inakzeptabel. Chaotische Organisationsformen, Führungsmangel, Verschwendung, interne Streitereien und allgemeine Verwirrung strangulieren dieses Projekt. Seit der ersten Konferenz, dem Startschuss zu der ganzen Sache, hatten Sie sieben Jahre Zeit. Ist das richtig? Sieben Jahre. Wie ich höre, haben Sie überhaupt erst vor zwei Jahren ein realisierbares Konzept hinbekommen – ich sage ›realisierbar‹; meinem wissenschaftlichen Berater zufolge bedeutet das in diesem Fall lediglich, dass es nicht gegen die Gesetze der Physik verstößt. Und Sie haben noch nicht einmal eine Feuerwerksrakete von Gunnison aus gestartet. Sieben Jahre! Um den Sieg im Zweiten Weltkrieg zu erringen, brauchte man nur vier.«

»Sechs«, sagte Patrick mit seinem sanften schottischen Akzent leise zu Holle.

Einen von panischem Schrecken erfüllten Moment lang war Holle davon überzeugt, dass die Präsidentin das Arche-Projekt endgültig beerdigen würde.

Aber Vasquez sagte: »Hier wird sich einiges ändern. Ab sofort ist es mit der zivilen Verwaltung von Arche Eins vorbei. Per Präsidentenerlass beschlagnahme ich hiermit das Projekt samt Personal und sämtlichen Ressourcen. Von nun an wird Arche Eins unter der Schirmherrschaft der Air Force betrieben. Gegebenenfalls werden dem Projekt Berater der NASA und anderer Organisationen zugeteilt, aber auch das unter dem Oberbefehl der Luftwaffe. Wenn Sie die Nachrichten verfolgt haben, werden Sie vielleicht feststellen, dass dies für meine Regierung durchaus nichts Ungewöhnliches ist. Letztes Jahr habe ich ähnlich drastische Maßnahmen ergriffen, als ich das Militär und die Nationalgarde in diese Friedmanburgs in den Great-Plains-Staaten geschickt habe. Zum Ausgleich werde ich Ihnen die Mittel verschaffen, Ihre Arbeit zu beenden, selbst wenn in einem Jahr, nach der Wahl, irgendein anderes Arschloch hier steht und zu Ihnen spricht. Lassen Sie mich damit beginnen, dass ich der Sache einen pers?nlichen Stempel aufdr?cke. ?Arche Eins? ist ein ziemlich trockener Name, finden Sie nicht? Zahlen haben mein Herz noch nie sonderlich schnell schlagen lassen. Von nun an sind Sie ?Projekt Nimrod?. Sie werden schon herausfinden, warum.?

Vasquez zog ein Taschentuch hervor und tupfte sich die Stirn ab; einen Moment lang sah sie wie eine müde alte Frau aus. Niemand sagte etwas; es war völlig still, bis auf eine Brise, die leise in den Schnüren der beiden Flaggen sang.

»Sie fragen sich vielleicht, warum ich Ihr Projekt nicht einfach beende. Manche setzen sich dafür ein, dass mehr Mittel für potenzielle Wiederaufbauprojekte statt für ›Letzte Zuflucht‹-Optionen wie diese bereitgestellt werden. Selbst unter den Pessimisten gibt es welche, die der Ansicht sind, ich sollte alles, was von unserer Infrastruktur noch übrig ist, für praktischere Aktivitäten wie beispielsweise den Floßbau verwenden. Ich glaube allerdings immer noch, dass wir zu mehr imstande sind.« Sie hielt inne und ließ den Blick über ihr Publikum schweifen. Holle verspürte eine eigenartige Erregung, als die Präsidentin sie direkt anzusehen schien. »Ich bin kein John F. Kennedy«, sagte Vasquez. »Wenn Sie die Rede hören wollen, die er am 25. Mai 1961 gehalten hat, suchen Sie sie heraus. Aber ich erteile Ihnen nun einen ganz ähnlichen Auftrag. Sie haben eine Aufgabe zu bewältigen, die unermesslich viel schwerer, aber auch unermesslich viel wichtiger ist, als zum Mond zu fliegen. Ihr Sternenschiff muss bis zum Jahr 2040 startbereit sein, sonst sind vielleicht all unsere Zuk?nfte verloren. Ich glaube, das ist alles. Leisten Sie gute Arbeit.? Damit trat sie vom Podium zur?ck.


In der Menge brachen halblaute Diskussion aus.

Holle sah, wie sich hohe LaRei-Tiere an Jerzy Glemp heranpirschten. »Jerzy, Sie Mistkerl, Sie haben uns verkauft. Das ganze verdammte Geld, das ich in diese Sache gepumpt habe – es ist mein Schiff, verdammt nochmal …« Jerzy wich zurück, die Hände abwehrend gespreizt.

»Also hat Jerzy diese Übernahme eingefädelt«, sagte Patrick leise. »Kann nicht behaupten, dass ich überrascht bin. Wir brauchen die finanziellen Mittel, die Führung. Aber ich wüsste schon gern, was er dabei für sich rausgeschlagen hat. Er wird sich heute Feinde gemacht haben.«

Holle interessierte sich nicht für die Politisiererei. Sie zupfte an Patricks Ärmel. »Mannomann, Dad. Das war historisch, oder? Wow. Die Präsidentin! Aber was machen wir jetzt?«

»Ich nehme an, wir werden’s erfahren.« Er schien weder aufgeregt noch begeistert zu sein. Er wirkte nur müder denn je.

Ihre Handys klingelten alle beide.


16



Der Anruf für Holle war eine Aufforderung, zur Akademie zurückzukommen. Als sie dort eintraf, nahmen die Schüler gerade im großen Nord-Atrium im Erdgeschoss des Museums Aufstellung, einem dreistöckigen offenen Raum mit Ziegelwänden und Glasdach, der früher einmal das Museumscafé beherbergt hatte.

Der große, kerzengerade sechzigjährige Militär, der neben der Präsidentin am Podium gestanden hatte, war ebenfalls da. Er trug eine blaue Luftwaffenuniform. Umgeben von einer Handvoll Berater, stand er auf einer Treppenstufe vor den Schülern. Zwei junge Männer in Uniform, die Holle nicht kannte, flankierten ihn etwas zurückversetzt in militärischer Haltung, die Beine gespreizt, die Hände auf dem Rücken. Das Personal der Akademie hatte sich nervös an einer Wand aufgereiht, vor einer Weißwandtafel.

Der Offizier begann zu sprechen, während noch immer der eine oder andere Nachzügler hereinkam.

»Mein Name ist Gordon James Alonzo. Meine Freunde nennen mich Gordo. Für euch bin ich der Colonel. Wenn ihr wissen möchtet, wer ich bin und was ich getan habe, googelt mich. Sagt ihr kleinen Arschlöcher noch immer ›googeln‹? Wie auch immer. Ihr werdet feststellen, dass ich in der Air Force ausgebildet wurde und bei der NASA Shuttles geflogen habe. Und jetzt bin ich auf Wunsch der Präsidentin wieder hier, trage wieder die blaue Air-Force-Uniform und übernehme diesen beschissenen Scherbenhaufen eines Raumfahrtprojekts. Dazu gehört, dass dieser Kindergarten in etwas verwandelt wird, was einer Ausbildungsakademie f?r eine Besatzung ?hnelt.? Er funkelte die Kandidaten an, von denen manche gerade einmal elf Jahre alt waren. ?Und ?brigens, ich werde keinerlei R?cksicht auf eure Gef?hle nehmen. Ich bin sicher, eure Ausdrucksweise ist weitaus unfl?tiger als meine. Nach euren Leistungsnachweisen zu urteilen, werden die meisten von euch ohnehin nicht mehr so lange hier sein, dass mein schmutziges Mundwerk eine Rolle spielt.

Ich habe mal in den Protokollen des Unterrichts von heute Vormittag geblättert. Soziologie! Ethik! – Jesus Christus. Eins will ich euch sagen.« Er sah das Personal an. »Es wird hier keinen verräterischen Dulder-Quatsch mehr geben. Ist das klar? Von nun an herrschen hier andere Sitten. Grundlage eurer Ausbildung – soweit ihr die Auslese übersteht – werden ausschließlich Aspekte des Projekts sein, an dem ihr arbeitet. Schiffssysteme – Antrieb, Kommunikation, Umweltregelung, Lebenserhaltung, Leit- und Navigationssystem, Druckanzüge, Cockpitintegration. Ach ja, auch allgemeine Relativität und dieser ganze Schwachsinn. Dazu weiterreichende Aspekte des Projekts, Planetensuche, Rückgewinnungssysteme, Flugplanung, Ausbildungsprogramme. Wenn ihr schlau seid, sucht ihr euch also ein Spezialgebiet aus und beschäftigt euch gründlich damit. Macht euch unentbehrlich für das Programm – unentbehrlich für mich. Versucht nicht, euch zu verstecken. Wenn ihr das tut, seid ihr draußen.

Alles wird zweckorientiert sein. Selbst eure Freizeit wird sich auf die physischen Aspekte der Mission konzentrieren. Kein beschissenes Softball mehr. Machen Sie sich eine Notiz, Ben«, wandte er sich an einen seiner Berater. »Wir sollten eine Zentrifuge hierherschaffen. Und wir brauchen ein bisschen Flugtraining, oder zumindest Flugerfahrung. Wie wär’s mit einem Kotzbomber? Zumindest k?nnten wir einen Fallturm mit Katapulttisch aufbauen. Und so weiter und so fort.? Er starrte die Kandidaten finster an. ?Irgendwelche Fragen.?

Eine lange, benommene Stille trat ein. Dann hob Holle zu ihrer eigenen Überraschung die Hand. »Colonel – warum ›Projekt Nimrod‹?«

Er kniff die Augen zusammen. »Gute Frage. Religion ist hier wohl nicht gerade ein Hauptfach. Erstes Buch Mose, Kapitel zehn, Vers acht und zehn: ›Kusch aber zeugte den Nimrod; der war der erste Gewaltherrscher auf Erden … Und der Anfang seines Reiches war Babel, Erech und Akkad …‹ Wir befinden uns nur ein paar Generationen nach der Sintflut, und da ist Nimrod schon König von Babel. Ich nehme an, ihr wisst, was in Babel passiert ist, oder? Kapitel elf, Vers vier: ›Und sie sprachen: Wohlan, lasst uns eine Stadt bauen und einen Turm, dessen Spitze bis in den Himmel reicht …‹«

Wilson Argent meldete sich. »Aber, Colonel – wollen Sie Arche Eins mit Babel vergleichen? Gott hat die Menschen bestraft, als sie den Turm gebaut hatten.«

»Ja, das hat er. Aber warum? Erstes Buch Mose, Kapitel elf, Vers sechs: ›Nunmehr wird ihnen nichts unmöglich sein, was immer sie sich vornehmen.‹ Gott hat uns gefürchtet. Und darum nennen wir uns nach Nimrod.«

»Wow«, sagte Wilson. »Das ist also eine Kampfansage an Gott? Sir.«

»Warum nicht, zum Teufel? Es war die Idee der Präsidentin.« Er schaute kurz zu den Angehörigen des Personals vor der Weißwandtafel hinüber und zeigte auf Harry Smith, der zusammenzuckte. »Sie da! Schreiben Sie das an die Tafel. Ja, jetzt. ›Nunmehr wird ihnen nichts unmöglich sein, was immer sie sich vornehmen.‹«

Harry suchte sich einen Griffel und schrieb die Worte an die Tafel. Deren Buchstabenerkennungs-Software konvertierte sie in eine Fettschrift.

Alonzo stemmte die Hände in die Hüften. »Und was euch verwöhnte kleine Arschlöcher betrifft, so möchte ich gleich von Anfang an klarstellen, dass sich hier einiges ändern wird. Daddys Geld hat euch hierhergebracht, aber es wird euch euren Platz hier nicht sichern – sofern ihr nicht unter Beweis stellt, dass ihr mehr zu bieten habt als eure Mitbewerber. Und damit geht es jetzt sofort los.« Er schaute sich um. »Kommt nach vorn, ihr zwei.«

Die beiden jungen Männer hinter ihm traten vor. Sie wirkten unsicher. Einer trug Luftwaffenblau, der andere eine Art Polizeiuniform. Sie nahmen erneut Haltung an, aufrecht und hochgewachsen.

Alonzo starrte die Schülerinnen und Schüler an. »Ihr Gören in diesem Schwuchtelschuppen habt keinen blassen Schimmer davon, was da draußen in der wirklichen Welt vorgeht. Nun, diese beiden hier sind nicht älter als viele von euch, aber sie waren da draußen. Mel Belbruno hier ist, was auch ich zu meiner Zeit war: ein Air-Force-Bengel. Aber er war schon mit zehn Jahren in einem Kadettenkorps, und er hat Erfahrung mit den Überresten der NASA. Er ist ein echter Raumkadett. Schüler wie er sollten an dieser Mission beteiligt sein.

Und das hier ist Matt Weiss. Matt gehört zu einem Kadettenkorps der Polizei von Denver. Wollt ihr wissen, wo Matt sich die ersten Sporen verdient hat? Draußen an der Front, an der Küste dessen, was von Amerika noch übrig ist, einer Küste, die jeden Tag weiter zurückweicht. Matt hat da draußen hochrangigen Beamten der Polizei von Denver geholfen zu entscheiden, wessen Kinder an Land dürfen und wessen nicht, und diese Entscheidungen in die Tat umzusetzen. Wer von euch hat Erfahrungen vorzuweisen, die sich damit vergleichen lassen??

Kelly Kenzie hob die Hand. »Colonel Alonzo, ich möchte die Richtigkeit dessen, was Sie sagen, nicht bestreiten. Aber hier in unserem Lehrgang ist kein Platz mehr. Wir alle trainieren seit Jahren speziell für diese Mission. Wenn die beiden mitmachen sollen …«

»Gutes Argument, Blondie. Ich werde Platz schaffen müssen«, sagte er mit kalter Brutalität. Sein Blick schweifte über die Schüler.

Holle sah, wie manche sich duckten, als wollten sie einem Laserstrahl ausweichen. Sie befahl sich, aufrecht stehen zu bleiben.

Alonzo starrte Kelly an, die ihm die Frage gestellt hatte. Und dann zeigte er auf Don Meisel, der neben ihr stand. »Du. Rotschopf. Pack deine Sachen. Du nimmst ab sofort Matts Platz bei der Polizei ein.«

Don zitterte. »Ich? Sie wissen doch gar nichts über mich. Sie kennen nicht mal meinen Namen! Und ich habe gar nichts gesagt …«

»Genau. Die Kleine neben dir hatte den Mumm, den Mund aufzumachen.« Als Don sich nicht rührte, sagte er mit Unheil verkündender Gelassenheit: »Bist du immer noch da?«

Don drehte sich um und ging davon. Er schob sich mit rotem Gesicht an Holle vorbei. Seine Augen brannten vor Demütigung und Zorn.

»Morgen früh«, sagte Alonzo, »suche ich den zweiten aus, der fliegt. Und jetzt an die Arbeit.« Er machte auf dem Absatz kehrt und ging hinaus.

Holle verspürte nur kaltes Entsetzen. Seit dem Tag ihrer Aufnahme in die Gruppe war Don Meisel einer der offensichtlichen Anführer gewesen. Sie hatte sogar geglaubt, er könnte Kapitän werden. Und jetzt war er fort, einfach so. Wenn schon Don Meisel seinen Platz durch eine solch willkürliche Entscheidung verlieren konnte, wer würde dann morgen wohl gehen müssen?


17



Keine halbe Stunde nach Gordo Alonzos Ansprache wurde Don Meisel vor der Tür des Polizeipräsidiums in der Delaware Street abgesetzt.

Er betrat eine überfüllte Eingangshalle. Cops in schäbigen Uniformen und Zivil gingen dort ein und aus; manche riefen etwas ins Leere oder lauschten geistesabwesend einem Angel. Schwere, geschlossene Sicherheitstüren führten tiefer ins Gebäude hinein. Viele der Cops hielten Pappbecher in der Hand; ein starker Kaffeegeruch lag in der Luft. Die Neonröhren wirkten matt, die Wände waren in einem schlammigen Gelb gestrichen. Der Geräuschpegel und das trübe Licht erweckten den Anschein, als begäbe man sich in eine Höhle hinein. Nichts davon kam ihm real vor. Er konnte nicht glauben, dass er hier war. Ein stämmiger Latino saß auf einem Plastikstuhl, die Hände vor dem Leib gefesselt. Seine Nase sah aus, als wäre sie plattgeschlagen worden; in den Nasenlöchern steckten blutige Papiertaschentuchpfropfen. Er starrte Don in seiner farbenfrohen Kandidatenuniform an, grinste höhnisch und zeigte dabei einen Mund voller abgebrochener Zähne. Don schreckte nervös zurück.

Eine uniformierte Polizistin kam auf Don zu. Sie war vielleicht fünfzig, mit dichtem, ergrauendem Haar, das sie auf dem Hinterkopf zu einem Knoten gebunden hatte. Ihr Gesicht war eine Maske; um den Mund und die kleine Nase lagen tief eingegrabene Falten, und die Augen waren von Müdigkeit verschattet. Auf der rechten Wange hatte sie eine kleine Narbe, vielleicht von einem Schlag mit beringten Fingern. Sie hielt ein Klemmbrett und einen Handheld in der Hand. ?Du bist Don Meisel, aus der Akademie?? Sie sah ihn bei diesen Worten nicht an.

Er schwieg.

Das veranlasste sie, zu ihm hochzuschauen. »Don Meisel«, sagte sie in energischerem Ton.

»Ja.«

»Ja, Ma’am.« Sie musterte ihn eingehender und konzentrierte sich auf sein Gesicht. »Trotziger Bursche, was? Du wirst schon merken, dass das hier nicht gut ankommt. Okay, Meisel, wir wollen dich hier nicht haben.«

»Und ich will nicht hier sein.«

»Dann sind wir uns ja einig. Dass wir uns gegenseitig nicht leiden können.« In ihren Augen blitzte Humor auf. »Hör zu, ich erklär dir einmal und nie wieder, wie dein Leben von jetzt an aussehen wird. Danach bist du auf dich selbst gestellt. Okay?«

Er nickte steif.

»Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst. Wirklich. Aus deiner kuscheligen Koje, dem tollen, teuren Programm, das sie da drüben laufen haben, rausgeworfen und hier auf der Delaware in diese Grube geschmissen zu werden. So fühlt es sich an, stimmt’s? Und ich weiß, wie du dir dein künftiges Leben vorstellst. Hungeraufstände niederschlagen, sich mit tuberkulösen Eye-Dees rumprügeln.

Aber das ist nicht alles. Denver ist immer noch eine Großstadt und wird immer noch von amerikanischen Bürgern bewohnt, die von Rowdys, Schwarzhändlern, Zuhältern, Drogendealern und dem ganzen Pack in die Mangel genommen werden. Und wir sind immer noch Cops von Beruf. Ich rede von ganz normaler, altmodischer Polizeiarbeit, deren Aufgaben mit den Fl?chtlingswellen, die ?ber diese unsere Stadt hinwegsp?len, nur schwieriger geworden sind.? Sie schaute ihm tief und herausfordernd in die Augen. ?Was meinst du, k?nntest du in dieser Art von Arbeit eine gewisse Befriedigung finden? Du bist ein kluges Kind, das entnehme ich den Akten, die sie aus der Akademie r?bergeschickt haben. Du hast durchaus noch die Chance, es in diesem Department zu was zu bringen. Konzentrier dich einfach auf den Job, dann werden wir ja sehen, wie du dich machst.?

Don sagte nichts.

»Okay, Meisel, deine Ausbildung fängt jetzt sofort an. Am Ende der Eingangshalle links, frag nach Officer Bundy. Ich hab ihn gebeten, dich für die ersten paar Tage in die Truppe aufzunehmen und dir einen Partner zu besorgen. Er wird dir zeigen, wo du ein Polizeianwärter-Abzeichen und eine Uniform kriegst. Du musst dringend aus den Spiderman-Klamotten raus.«

»Danke«, sagte er. »Ma’am.«

»Ach, und Meisel. Frag Bundy nach einer Unterkunft.«

»Ich brauche keine Unterkunft.«

Sie seufzte nur. »Doch, brauchst du. Du kriegst keine Unterstützung mehr von der Akademie. Ist aber halb so wild, weißt du. Früher musste man in Denver gemeldet sein, um hier Cop werden zu können. Jetzt ist es andersrum, wenn du als Cop arbeitest, steht dir eine Unterkunft zu. Ein Grünschnabel wie du hat das Recht auf einen Platz in einem Viermannzimmer. Bundy gibt dir die Formulare. Na los, beeil dich.«

Er ging steifbeinig tiefer ins Gebäude hinein, ohne die erstaunten Blicke und das Grinsen der Polizisten zu beachten, denen er begegnete.


18



SEPTEMBER 2036



Bei der vormittäglichen Diskussionsrunde im Isolierungslager musste Zane den neuesten Modellentwurf der Arche verteidigen, während Mel Belbruno eine Lanze für die bewährten Ingenieurswissenschaften zu brechen hatte, die von Veteranen der NASA, der Air Force und der Navy in das Projekt eingebracht worden waren.

Die Kandidaten befanden sich im Cultural Center von Cortez, einem kleinen Museum, das die University of Colorado früher einmal in dieser winzigen Stadt in der südwestlichen Ecke des Staates, vielleicht fünfhundert Kilometer von Denver entfernt, betrieben hatte. Hinter den Mauern des hundert Jahre alten Gebäudes bildeten die Kandidaten in ihren auffälligen scharlachrot-blauen Overalls einen lebhaften Kontrast zum tristen Hintergrund. Zane saß Mel auf der Bühne gegenüber und hörte ihm aufmerksam zu. Obgleich Mel ein vollwertiger Kandidat war, hatten die anderen ihn immer auf subtile Weise ausgeschlossen, seit Gordo Alonzo ihn vor vier Jahren ins Projekt hineingedrückt hatte. Aber Zane wusste, dass Mel kein Dummkopf war und mächtige Verbündete besaß.

»Mit der Arche hat man eine einzelne Maschine vor sich, die groß und komplex genug ist, um Menschen am Leben zu erhalten. Sie wird jahre- oder gar jahrzehntelang in der Nähe ihres Optimums funktionieren müssen«, sagte Mel eindringlich. »Beim Militär wie auch in der Luft- und Raumfahrt machen wir so was schon lange. Schaut euch die B52 an, mit der wir ?ber f?nfzig Jahre lang in ganzen Geschwadern herumgeflogen sind. Oder das Space Shuttle, das vom ersten Test bis zum letzten Flugeinsatz mehr als drei Dekaden ?berdauert hat und trotz seiner Probleme einen bislang unerreichten Sicherheitsrekord in Bezug auf Flugstunden mit Besatzung pro Todesopfer hatte ??

»Schlechte Beispiele«, erwiderte Wilson Argent schroff. »Die Flüge der B52 haben Stunden gedauert, Shuttle-Flüge vielleicht Wochen, und selbst dann hattet ihr noch Bodenunterstützung bei Wartungsarbeiten.«

»Worauf ich hinauswill, ist, dass es Vorläufer für Technologien gibt, die über längere Zeiträume hinweg funktionsfähig erhalten wurden – selbst über mehrere Generationen, ja sogar über Jahrhunderte hinweg. Wir können uns diese Fälle ansehen und jene Merkmale herausdestillieren, dank deren sie so lange bestehen bleiben konnten. Zum Beispiel ein Verwendungszweck, der sich nicht überlebt hat, wie bei den mittelalterlichen Kathedralen in Europa …«

Dafür erntete er schallendes Gelächter. »Willst du eine Kathedrale allen Ernstes als Technologie bezeichnen? Aquädukte sind ein besseres Beispiel für das, wovon du sprichst, ein technisches Konstrukt, das für eine bestimmte, konkrete Aufgabe konzipiert wurde. In Südeuropa gab es von den Römern erbaute Aquädukte, die funktionsfähig geblieben sind, bis die Flut sie schließlich weggespült hat.«

Mel änderte seine Taktik. »Okay, ein Punkt für euch. Aber wieso haben die Aquädukte noch funktioniert? Man muss darauf achten, dass die Maschine einen klaren Verwendungszweck hat und dass es einen zwingenden Grund für ihre Existenz gibt. Die zentralen Konstruktionsprinzipien müssen höchste Zuverlässigkeit und niedrige Fehlerquoten sein. Und man muss wartungsfreundlich bauen und Wert auf Redundanz sowie auf robuste Komponenten legen. Alles Argumente gegen einige der schickeren Sachen, die ihr so auskocht. Nanotechnik. Sich eigenst?ndig reproduzierende Maschinen. Autonome KIs, ein Schiff, das sich selbst steuern kann. Das sind Dinge, f?r die uns das Knowhow fehlt. Die jahrzehntelange Erfahrung mit Weltraumfl?gen gebietet, dass man Sachen benutzt, die nicht komplizierter sind als unbedingt n?tig und die sich im Einsatz bew?hrt haben. Keine schicken, ungepr?ften Technologien. Keine Zaubertricks.?

Das war natürlich ein direkter Seitenhieb gegen Zane, seinen Vater und sämtliche Bestrebungen zur Entwicklung eines Warp-Antriebs. Indirekt vertiefte Mel damit jedoch einen Riss in der Philosophie hinter dem gesamten Projekt.

Mittlerweile arbeiteten Testpiloten bei Nimrod mit. Wenn man im Jahr 2036 ein ehrgeiziger amerikanischen Flieger war, gab es eigentlich nur ein einziges interessantes Angebot, ein Projekt, bei dem man dabei sein musste, und das war Nimrod. Auf der neuen Abschussanlage bei Gunnison war sogar ein Teststart einer Ares-Trägerrakete durchgeführt worden, ein faszinierender, überraschender Anblick trotz der in weitem Abstand um das Gelände gezogenen Zäune, an die aufgebrachte IDPs das Gesicht pressten.

Doch wie als Reaktion auf diese ganze praktische Arbeit schwamm weiterhin ein ganzes Floß voller alternativer Konzepte zwischen den fantasievolleren Theoretikern hin und her. Vielleicht war das ganze Projekt von Anfang an in die falsche Richtung gegangen. Wenn man echte Menschen in den Weltraum transportierte, Wassersäcke mit klumpiger Füllung, würde der größte Teil der Schiffsmasse notwendigerweise für sanitäre Anlagen draufgehen. Aber vielleicht gab es M?glichkeiten, Gewicht zu sparen. Kelly sprach sich mehrfach ganz offen daf?r aus, nur Frauen und ein paar Eimer mit gefrorenem Sperma mitzunehmen. Noch besser, man konnte gefrorene Eizellen mitnehmen und die erste Kolonistengeneration von Maschinen gro?ziehen lassen. All solche Pl?ne waren schlie?lich verworfen worden, zum Teil wegen mangelnder technischer Plausibilit?t, zum Teil auch, weil sie bei denjenigen, die das Schiff bauen mussten, eine gewisse Distanz erzeugten. Die Arche war eben nicht nur ein n?chternes Raumschiff, sondern auch ein Traumschiff; es war besser, ein einziges lebendiges Kind loszuschicken als eine Million tiefgefrorener Genies.

Dennoch ging die Diskussion weiter, und wenn Mel fertig war, würde Zane die Tatsache verteidigen müssen, dass schon das Grundkonzept auf mindestens einem technologischen Wunder beruhte, der Warp-Blase.

Noch während Mel sprach, bemerkte Zane, dass die Anführer miteinander tuschelten: Kelly Kenzie, der große, glamouröse Star des Kandidatenkorps, Wilson Argent, schnodderig, ungeduldig und rechthaberisch, die aufgeweckte, hoch konzentrierte Venus Jenning und die bescheidene, intelligente und loyale Holle Groundwater, der Wilson den Spitznamen ›die Maus‹ gegeben hatte – sogar die sanfte, mütterliche Susan Frasier. Zane hatte genug gehört, um zu wissen, was los war. Kelly und einige andere planten für diesen Tag, den fünfzigsten ihrer neuesten Isolationsübung, einen Ausbruch. Kellys schon vor Jahren entstandene Kerngruppe spielte immer und überall eine dominante Rolle. Früher einmal hätte auch Don Meisel dazugehört. Jetzt jedoch saß er in seinem tristen Polizeioverall distanziert abseits der anderen. Nicht zum ersten Mal war Don von seinen regulären Pflichten entbunden und in die Gruppe, aus der man ihn in einem Willk?rakt ausgeschlossen hatte, zur?ckbeordert worden, damit ein Mindestma? an Sicherheit gew?hrleistet war, ohne die Gruppendynamik durch Fremde zu st?ren.

Immer wenn sie ihre hübschen Köpfe auf diese Weise zusammensteckten, verspürte Zane so etwas wie eine tief sitzende Panik. Er blieb bei solchen Diskussionen stets außen vor. Oh, Holle kümmerte sich immer um ihn, seit ihrem ersten Tag an der Akademie, als Zane sich um sie gekümmert hatte. Aber das genügte nicht, um ihm Zugang zum zentralen sozialen Netzwerk dieses Haufens intelligenter, attraktiver, äußerst ehrgeiziger Sechzehn- bis Achtzehnjähriger zu verschaffen.

In der Außenwelt erging es ihm auch nicht viel besser. Sein Vater war zu tief in die Projektpolitik und die Tücken seiner Arbeit an der Antimaterie-Produktion verstrickt, um den pubertären Ängsten seines Sohnes große Aufmerksamkeit zu schenken, außer manchmal, wenn er wegen des einen oder anderen vermeintlichen Fehlers auf ihn losging. Immerhin hatte Zane die Tutoren und insbesondere Harry Smith, aber er war sich stets auf unbehagliche Weise der tieferen Schichten in Harrys Wertschätzung für ihn bewusst.

Am allerschlimmsten waren die Nächte, wenn er in einem der großen Gemeinschaftsschlafsäle in seinem Bett lag und das Tappen von Füßen, das Kichern und das leise Schmatzen sich voneinander lösender Lippen hörte.

Zane hatte permanent Angst. Es kam ihm so vor, als wäre seine Persönlichkeit nichts als ein Stofflappen aus Bluffs und Anmaßungen, der jeden Moment wie ein verrotteter Vorhang beiseite gezogen werden konnte, um die dunkle, erbärmliche Wahrheit zu enthüllen, dass er rein gar nichts taugte und für niemanden von irgendwelchem Wert war. Vielleicht empfanden alle Sechzehnjährigen manchmal so, selbst wenn die Welt nicht zu enden drohte. Doch falls Holle, Kelly oder Wilson von solchen Zweifeln heimgesucht wurden, lie?en sie sich nie etwas davon anmerken, nicht eine Sekunde lang. Nur Zane, allein mit seinen Zweifeln, Unzul?nglichkeiten und Qualen.

Mel hatte seine Ausführungen abgeschlossen, und nun war Zane an der Reihe. Er stellte den Laptop auf seine Knie, rief Zahlen und Notizen auf und konzentrierte sich auf seinen Vortrag.


»Ich höre deine Argumente wohl, Mel, aber Faktum ist nach wie vor …« O je, er klang wie sein Vater, wie ein Fünfzigjähriger, wie er das an sich hasste, aber er konnte nicht anders. »Faktum ist nach wie vor, dass wir uns auf mindestens eine brandneue Technologie stützen müssen, nämlich den Alcubierre-Antrieb. Bisher haben wir zwar noch keine Warp-Blase erschaffen, aber wir glauben, dass es bald so weit sein wird.«

Er tippte auf seinen Bildschirm und fütterte ihre Computer mit Bildern aus den Unterlagen seines Vaters. Sie ließen Fortschritte beim Bau eines Atomzertrümmerers in einem Vorort von Denver erkennen.

»Wir bauen das Ding mit geborgenen Ausrüstungsgegenständen des Large Hadron Collider von CERN in der Schweiz und des Fermilab in Chicago.« Taucher waren Hunderte von Metern zu einem Meeresboden hinabgestiegen, der noch vor kurzer Zeit die Prärie des Mittleren Westens gewesen war, um Linearbeschleuniger, supraleitende Magneten, Röntgenquellen und Tonnen qualitativ hochwertiger Metalle und Kabel heraufzuholen. »Wir benutzen Plasmabeschleuniger – eine neue Technik –, um mit einer Maschine, die nur einen Bruchteil der Größe des CERN-LHC besitzt, eine vergleichbare Leistung zu erbringen. Doch anders als bei den Collidern aus der Zeit vor der Flut sind wir nicht daran interessiert, exotische Produkte von Hochgeschwindigkeits-Protonenkollisionen zu studieren; wir betreiben hier keine Physik, sondern wollen nur Antimaterie herstellen. Dazu beschleunigen wir Protonen fast bis auf Lichtgeschwindigkeit und lassen sie dann zusammenprallen, sechshundert Millionen Zusammenst??e pro Sekunde. Das Ergebnis ist ein Rinnsal von Antiprotonen, die wiederum in der ?Antiprotonenquelle? gespeichert werden, wie wir sie nennen, einer Magnetflasche ??

Wenn Antimaterie und Materie miteinander in Berührung kamen, vernichteten sie sich mit Begeisterung gegenseitig. Nur Magnetfelder schafften es, die beiden Materieformen getrennt zu halten. Doch die Antimaterie war den Aufwand wert. Fusionsreaktoren verwandelten normalerweise nur ein paar Prozent des verfügbaren Brennstoffs in Energie; Materie-Antimaterie-Reaktionen verwandelten alles. Im Ergebnis war Materie-Antimaterie die kompakteste bekannte Energiequelle; wie Jerzy seinem Sohn gern erklärte, entsprach die Energieausbeute etwa eines Gramms jener der Hiroshima-Bombe.

Aber die Antimaterie war nur ein Schritt in dem ganzen Prozess. Sobald genug davon erzeugt und gespeichert worden war, würden mit ihrer Hilfe jene noch energieintensiveren Kollisionen ausgelöst werden, die man brauchte, um einen einzelnen Punkt von solcher Energiedichte zu erschaffen, dass das elementare String-Gewebe der Materie und Energie zum Vibrieren gebracht und gestrafft und der enge hyperdimensionale Schlund der Raumzeit zusammengedrückt wurde, bis er platzte und eine Warp-Blase entstand.

Zane redete weiter über die technischen Verbesserungen, die sein Vater hatte entwickeln müssen, und wie sehr er sich bemüht hatte, die Kosten im Zaum zu halten.

Niemand hörte zu. Dabei sollte man zuhören. Hier in Cortez, abgeschnitten von der Welt, ohne Handy und Internet – sämtliche Verbindungen waren blockiert –, sollten sie sich durch die Arbeit in einem kleinen Innengarten ernähren, das der Umweltregelung des Schiffes nachempfundene Luftzirkulationssystem warten, weitere unverzichtbare Aufgaben herausfinden und verteilen und – am wichtigsten – voneinander lernen. Mit Hilfe dieser Isolationsübungen sollten die Kandidaten jene Fähigkeiten entwickeln, die sie brauchen würden, wenn sie sich mit der noch viel strikteren Gefangenschaft eines langen Raumflugs konfrontiert sahen. Es zahlte sich also aus, zuzuhören. Nun ja, Don Meisel beobachtete alles von seinem Platz im hinteren Teil des Raumes aus, und Mel Belbruno machte sich eifrig Notizen. Doch bei den anderen kam der Moment der Entscheidung, innerhalb der Kerngruppe wurden Blicke gewechselt, man nickte einander zu und grinste sich verstohlen an. Und jetzt, wie eine Brise, die über ein Maisfeld ging, faltete eine ganze Schar von ihnen die übereinandergeschlagenen Beine auseinander und stand auf.

»Wir gehen raus«, verkündete Kelly Kenzie. »Fünfzig Tage ohne Sonnenschein – das reicht. Kommt mit, wenn ihr wollt.« Letzteres war an die Außenseiter adressiert, an Mel und Zane. Aber sie sah Don herausfordernd an.

Don verschränkte die Arme, ohne aufzustehen. »Wie wollt ihr das anstellen?«

»Wir haben den Ausgang gefunden, den ihr versperrt habt.«

»Er ist auf der anderen Seite des Shops«, erklärte Holle mit einem Lachen. »Mein Vater hat gesagt, dass man in solchen Häusern immer durch den Shop musste, wenn man raus wollte.«

»Wird sich das nicht nachteilig für euch auswirken, was die Übung betrifft?«

»Nicht unbedingt«, antwortete Kelly. »Wir werden dafür belohnt, dass wir Initiative zeigen. Ich glaube, Gordo Alonzo wäre enttäuscht, wenn wir keinen Ausbruchsversuch unternähmen. «

»Meine Anweisungen lauten, dafür zu sorgen, dass euch nichts geschieht«, sagte Don. »Nicht, euch daran zu hindern, euch wie Arschlöcher aufzuführen. Tut, was ihr wollt.« Seine Miene war ausdruckslos. Zane fand, dass er seit seiner Versetzung zur Polizei von Denver sehr gut gelernt hatte, seine Gefühle zu verbergen, aber er sprach mit der Gruppe nie über seine Erfahrungen, was er gesehen und getan hatte.

Kelly grinste. »Dann wollen wir mal.«


Sie zwängten sich alle in die Überreste des kleinen Museumsshops mit seinen leeren Regalen und verblichenen Beschriftungen. Wilson hatte herausgefunden, wo man die Vertäfelungsattrappe durchbrechen musste, hinter der sich die Haupttür des Shops verbarg, und er setzte deren Magnetschlösser mit einem modifizierten Taser außer Gefecht. Als die Tür aufschwang, ertönte ein Alarm, und sie lachten nervös. Aber draußen war Tageslicht, eine Straße, ein Stück blauer Himmel. Es war unwiderstehlich.

Sie eilten alle zur Tür und drängten sich in ihren bunten Uniformen kichernd im Ausgang. Zane freute sich ebenfalls, draußen zu sein, die Sonne auf seinem Gesicht zu spüren und die frische, nicht aufbereitete Luft tief einzuatmen.

»Du siehst zufrieden aus«, sagte Holle mit einem Grinsen. Sie hängte sich bei ihm ein.

»Im Freien komme ich mir immer realer vor.«

»Ich weiß, was du meinst. Aber auf dem Schiff werden wir nicht nur ein paar Wochen, sondern jahrelang eingesperrt sein. Ich frage mich manchmal, wie wir damit wohl ? oh, das ist mein Handy.? Sie w?hlte in ihrer Tasche.

All ihre Handys klingelten. Das Museumsgebäude war mit elektrischen Leitern ausgestattet worden, die es in einen Faraday’schen Käfig verwandelten und gegen Übertragungen abschirmten. Cora Robles hatte mittlerweile die größte Fangemeinde unter den Kandidaten – das behauptete sie jedenfalls –, und sie verschwendete keine Zeit, sondern bediente ihren Handheld mit dem Daumen, um die während der letzten Wochen aufgelaufenen Nachrichten zu beantworten. Zane schaltete sein Handy mit einem vagem Schuldgefühl ab, ohne auf das Display zu schauen.

Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie beobachtet wurden.

Cortez war ein kleines Nest. Früher hatte man hier Ackerbau und Viehzucht betrieben und die Touristen versorgt, die gekommen waren, um die Berge zu sehen, die Flusstäler und Hochebenen, wo jahrtausendelang Menschen gelebt hatten. Jetzt wurde die Stadt von den Baracken und Zelten, den Pappund Wellblechhütten der Eye-Dees überschwemmt, die sich auf den Bürgersteigen und jedem freien Platz drängten. Und überall waren Menschen, sie standen in Hauseingängen, streckten den Kopf aus Zelten oder gingen, teils mit uralten Einkaufswagen im Schlepptau, auf den Bürgersteigen oder den verkehrsfreien Straßen dahin, und sie alle starrten die Kandidaten an. Aber die Kandidaten, konzentriert auf ihre Handys und Handhelds, nahmen kaum Notiz von den Einheimischen.

Ein kleines Mädchen kam auf die Kandidaten zu. Sie war vielleicht neun Jahre alt und trug ein verschossenes Erwachsenen-T-Shirt, das mit einem alten Elektrokabel um die Taille zusammengebunden war. Don beobachtete sie wachsam, die Hand am Griff des Schlagstocks in seinem Gürtel. Sie zeigte auf Kelly. »Ich kenne dich. Du bist Kelly Kenzie.«

Kelly warf Cora einen selbstzufriedenen Blick zu und lächelte. »Woher weißt du das?«

»Mein Dad arbeitet in Gunnison. Er hat einen Computer, auf dem kann man sich ansehen, was ihr alle macht, und eure Blogs lesen und so.« Sie lächelte. »Ich schaue euch gern zu. Mir gefallen die hübschen Farben, die ihr tragt. Ich wohne nicht hier.«

»In Cortez, meinst du? Wo dann?«

»Mesa Verde. Im Cliff Palace.«

Zane war erstaunt. Er hatte Cliff Palace gesehen – sein Vater hatte ihn einmal dorthin mitgenommen –, von Vorfahren der Pueblo-Leute erbaute und in den Fels gehauene Behausungen. Jetzt war die kostbare, uralte Stätte zum Heim dieses zerlumpten kleinen Mädchens geworden.

»Da wohnen viele von uns«, sagte sie nüchtern. »Wir haben Fernsehen und so.« Sie trat auf Kelly zu, hielt ihr ein kostbares Blatt Papier und ein Stück Kohle zum Schreiben hin. »Gibst du mir ein Autogramm?«


19



Die Frage war, was sie mit ihrer Freiheit anfangen sollten. Sie verbrachten ein paar Minuten damit, Suchmaschinen zurate zu ziehen. Dann einigten sie sich darauf, zu der ein paar Kilometer entfernten Hawkins Preserve zu gehen. Dieser einen halben Quadratkilometer große Kulturpark war von den Stadtvätern bewahrt worden, weil sie schon früh zu dem Schluss gelangt waren, dass selbst die Kinder von Flüchtlingen einen Ort brauchen, wo sie herumlaufen und Ball spielen konnten.

Also brachen sie auf, angeführt von Kelly und Wilson. Sie folgten interaktiven Karten, die sie auf der North Market Street nach Süden, dann nach rechts in die West Main und wieder nach links in die South Chestnut leiteten. Die meisten Kandidaten schauten auf ihre Displays statt auf die Stadt um sie herum; sie verschlangen Nachrichtenmeldungen und Mails, Klatsch und Spekulationen.

Venus Jenning sagte: »Sie erforschen immer noch diese Explosion da draußen in der Oortschen Wolke …« Bei dem Versuch, Exoplaneten aufzuspüren, hatte ein Weltraumteleskop zufällig einen Blitz draußen in jenem Halo von Kometenkernen aufgefangen, der weit außerhalb der Planetenbahnen kalt und lichtlos dahintrieb. Später hatte eine Handvoll Sonden anomale Spuren hochenergetischer Strahlung und Partikel gemeldet.

»Sind sie denn schon sicher, dass es eine Atomexplosion war?«, fragte Zane.

Venus zuckte die Achseln. »Das ist nach wie vor die Theorie, die am besten zu den Daten passt. Irgendjemand hat da eine Atombombe hingeschickt und gezündet, vielleicht auch viele Atombomben. Aber wer? Die Chinesen, die Russen …«

»Könnten die Amerikaner gewesen sein«, warf Wilson trocken ein. »Unser ganzes Projekt ist ein Geheimnis.«

»Okay«, sagte Venus. »Aber warum? Die Welt ertrinkt. Wozu einen langperiodischen Kometen sprengen? Was soll das bringen? «

Keiner von ihnen hatte eine Antwort darauf.

»Scheiße«, sagte Mike Wetherbee. »Das Altersprofil-Auswahlkomitee hat seine Empfehlungen ausgesprochen.« Das war weitaus interessanter; es würde sie alle betreffen. Sie scharten sich um ihn, um es zu sehen, und fingen an, Daten auf ihre eigenen Displays und Bildschirme herunterzuladen.

Die Sozialingenieure hatten Methoden entwickelt, um der nominellen Crew – deren Stärke inzwischen auf achtzig Personen festgelegt worden war – die beste Chance auf soziale Stabilität bei maximaler genetischer Diversität zu geben. So war zum Beispiel längst entschieden worden, dass keine Familien mitgenommen werden würden, weil sie zu viele Kopien derselben Gene darstellten. Es würde keine Eltern auf der Arche geben, keine Geschwister; jedes Besatzungsmitglied mit seinem möglichst eigenständigen Genprofil würde praktisch allein auf die Arche gehen.

Aber wie alt sollte die Crew sein? Eine gleichförmige Verteilung von Altersgruppen wie in der Menschenwelt, die sie hinter sich ließen, erschien naheliegend. Doch bei einer solchen Verteilung würde jedes Individuum nur eine kleine Anzahl möglicher Partner aus der eigenen Altersgruppe vorfinden. Um die Paarungschancen jedes Einzelnen zu maximieren und die genetische Diversit?t der Gruppe als Ganzes sicherzustellen, hatten die Sozialingenieure nun beschlossen, dass alle an Bord ungefähr dasselbe Alter haben sollten: Sie würden einer einzigen »Altersklasse« angehören, wie die Demografen es nannten. Der Grundgedanke war, dass sie etliche Jahre warten sollten, bis sie Kinder bekamen – vielleicht sogar bis nach der Landung auf dem Zielplaneten –, dann jedoch einen weiteren großen Kader von Kindern produzierten, die alle ungefähr im selben Alter waren und ihren Eltern in einem Abstand von zwanzig, fünfundzwanzig oder dreißig Jahren die Alterspyramide hinauf folgten. Wenn diese dann ihrerseits den Kinderschuhen entwuchsen, würden auch sie feststellen, dass sie eine große Auswahl an potenziellen Partnern hatten.

So also sah der Plan aus. Als die Kandidaten das allmählich begriffen, schauten viele von ihnen beunruhigt drein – Susan Frasier zum Beispiel, die oft von ihren Neffen und Nichten sprach und von ihrem Wunsch, lieber früher als später eigene Kinder zu bekommen.

Holle machte ein entsetztes Gesicht. »Mein Gott, was für eine Reise das werden wird. Nur wir, keine Erwachsenen, keine Kinder und ein Flug, der kein Ende nimmt.«

Wilson grinste. »Ist das zu viel für dich, Mäuschen? Willst du ausscheiden und hierbleiben, um deine Babys schwimmen zu lehren?«

»Sei kein Arschloch«, sagte Holle mit ihren langen, volltönenden schottischen Vokalen.

Zane behielt seine Zweifel für sich. Ihn persönlich interessierte das Kinderkriegen nicht die Bohne, obwohl es seine Pflicht sein würde, seine Gene weiterzugeben, wenn er in die Crew aufgenommen wurde. Aber die Altersbegrenzungen bereiteten ihm Kopfzerbrechen. Er gehörte zu den Jüngsten in der Gruppe. Was, wenn er ausschied, nur weil sein Geburtstag just auf der falschen Seite irgendeiner willk?rlich dekretierten Grenze lag? Das war noch so etwas, wor?ber man sich Sorgen machen konnte, eine weitere sinnlose, unkontrollierbare Angst.

In seinem Augenwinkel blitzte etwas auf.

Er drehte sich um. Es war irgendwo im Norden gewesen, wie ein ferner Blitz oder die Spiegelung der Sonne auf einem Kippfenster. Einige der anderen zögerten, abgelenkt von dem Blitz oder von Reflexen in den Displays ihrer Handys.

Jetzt begannen die Telefone erneut zu klingeln. Zane holte seins aus der Tasche.

Holle legte ihre Hand auf seine. Sie drückte ihr Handy an die Schläfe. »Warte, Zane. Nicht einschalten.«

Die ewige Furcht nagte tief in seinem Bauch. »Was ist los?«

»Harry Smith kommt her. Er wird’s dir sagen.« Sie schaute sich um und strich sich eine Locke aus den Augen. »Wir müssen dich zum Center zurückbringen. Don, hilf mir.«

»Klar.« Don kam herbei, energisch und kompetent.

Sie führten Zane die Straße entlang, Don auf einer Seite, Holle auf der anderen, beide größer als er. Die anderen betrachteten ihn mitfühlend. Jeder schien zu wissen, was los war – jeder außer ihm. Selbst Holles und Dons unbeholfene Fürsorge kam ihm wie eine Demütigung vor. Es war, als würden seine schlimmsten Befürchtungen wahr. »Was ist denn? Ist irgendwas mit meinem Vater?«

»Warte auf Harry«, sagte Holle. Sie wollte ihm nicht in die Augen schauen.

Und dann hörte er ein Grollen wie von fernem Donner, das von Norden kam.


20



Im Cultural Center wartete Harry Smith auf sie. Er trug einen schwarzen Pullover und eine schwarze Hose. Smith war jetzt über vierzig, ein großer, schwerer Mann, kräftig und physisch direkt, und seine Miene war ernst. Sobald Zane hereinkam, legte er ihm den Arm um die Schultern und führte ihn von den anderen weg zu einem Büro.

Harry und Zane brauchten lange, um mit Hilfe von Fernsehen, Computer und Handy die Nachrichten zu enträtseln, die aus Denver kamen, und ebenso lange dauerte es, bis Zanes verwirrtes Bewusstsein akzeptierte, dass all dies real war. Während der ganzen Zeit erinnerte er sich immer wieder an die flüchtig hingeworfenen Worte: Ein Gramm Antimaterie reicht für ein Hiroshima

Der Unfall hatte sich in dem Teilchenbeschleuniger seines Vaters bei Byers ereignet. Eine Antiprotonen-Falle – eine Magnetflasche – hatte versagt. Die freigesetzte Antimateriemenge war weitaus geringer gewesen als ein Hiroshima-Gramm. Aber sie hatte gereicht, um ganze Wohnblocks in der Stadt in Trümmer zu legen, den Teilchenbeschleuniger zu zerstören, ein Dutzend Arbeiter zu töten und ein Dutzend weitere zu verletzen. Die Explosion war der Blitz gewesen, den Zane gesehen hatte; er hatte sie sogar gehört, das Geräusch, das dem Lichtblitz nach langen Sekunden gefolgt war.

Die Rettungsmannschaften brauchten Minuten, um Jerzy Glemp zu finden, der zu diesem Zeitpunkt in der Anlage gearbeitet hatte. Zane, der mit Harry im Cultural Center sa? und die Operation auf Computerbildschirmen verfolgte ? weit weg, zu weit weg ?, sah zu, wie die Sanit?ter den zerschmetterten K?rper seines Vaters ins Krankenhaus brachten. Dann begann die lange Zeit des Wartens auf Nachrichten ?ber seinen Gesundheitszustand.

Nach zwei Stunden war Zane am Ende seiner Kräfte, und mit seiner Selbstbeherrschung war es ebenfalls vorbei. Harry legte ihm erneut den Arm um die Schultern. Zane sträubte sich, doch Harry war stark, und es war ein Trost, das Gesicht an die Wärme von Harrys schwarzen Pullover zu legen.

Dann ließ er sich von Harry zu der von den Schülern provisorisch eingerichteten Krankenstube führen, einem kleinen Zweibettzimmer in einem anderen Büro, wo es mehr Privatsphäre gab als in den großen Gemeinschaftsschlafsälen – einem Ort, wo Zane weinen, schlafen und allein sein konnte, nur in dieser Nacht. Harry bot ihm etwas zu essen und warme Getränke an. Er aß nur wenig. Als er die Schuhe auszog und sich auf das Klappbett legte, merkte er, wie seine Augen sich schlossen und seine Gedanken durcheinandergerieten. Es war erst ungefähr sieben Uhr abends. Er verstand nicht, wieso er müde war, und dennoch war er es. Er rollte sich zusammen und zog die Beine an die Brust. Er bekam noch mit, dass Harry eine dünne Decke über ihn breitete, die Jalousie herunterließ und das Licht ausschaltete.


Er träumte, einen Traum, in dem er noch ein kleines Kind war und sein Vater eine Gestalt, die über ihm aufragte. Er befand sich in seinem Zimmer im Akademiegebäude, im alten Museum in Denver, wo er sich so sicher fühlte wie nirgends sonst auf der Welt, mit seinen Büchern, Spielsachen, Computern und seinem Handy, und auf jene kostbare Stunde wartete, wenn sein Vater von der Arbeit zur?ckkam und vielleicht mit ihm spielte, sofern ihm der Sinn nicht gerade danach stand, ihn zu bestrafen.

Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Als er aufwachte, war es dunkel in dem Raum.

Außer ihm lag noch jemand auf dem Bett, auf der Decke, die Beine löffelförmig hinter seinen, einen schweren, tröstenden Arm über seiner Hüfte. Jemand Schweres. »Dad?« Natürlich war es nicht Dad.

»Ist schon gut«, flüsterte Harry. »Ich wollte nur sichergehen, dass mit dir alles in Ordnung ist. Mir liegt was an dir, das weißt du.« Sein Atem wehte warm gegen Zanes Genick, als er sprach.

»Mein Vater …«

»Morgen früh werden wir mehr erfahren.« Harrys Arm strich über Zanes Hüfte nach oben, und er drückte mit der Hand auf Zanes Brust, so dass Zanes Körper an seinen gepresst wurde.

Zane war, als könnte er sich nicht bewegen, als wäre er in einem Lähmungstraum gefangen.

»Du armes Kind«, flüsterte Harry.

»Wieso bin ich ein armes Kind?«

»Nun ja, momentan hängt so vieles in der Luft. Kann sein, dass dein Vater sich nicht wieder erholt. Und selbst wenn, wird es garantiert eine Neuausrichtung des Projekts geben. Es sind Menschen gestorben, Zane.« Seine Hand bewegte sich, rieb durch Zanes Hemd hindurch über Brust und Bauch, zärtlich, aber auch stark. »Du kannst nicht sicher sein, dass du nach all dem noch einen Platz bekommen wirst. Keiner von uns kann das wissen, noch nicht.«

Schwarze Furcht brodelte hoch. »So weit hatte ich noch gar nicht gedacht.«

Harry beruhigte ihn. »Ich weiß, ich weiß.« Er zog an der Decke, so dass sie beide darunter lagen. Jetzt spürte Zane seinen Körper auf ganzer Länge durch seine Kleidung. Harry bewegte sich; er schob den linken Arm unter Zanes Körper und griff mit der Hand unter sein Hemd. Seine Finger schweiften über Zanes Brust und Bauch, glitten abwärts zu seinem Unterleib. »Pst. Keine Angst.«

»Aber mein Vater …«

»Er hat Streit mit Edward Kenzie, weißt du. Ich glaube, Edward hat Jerzy nie verziehen, auf welche Weise er der Präsidentin geholfen hat, das Projekt zu übernehmen. Edward will, dass Kelly auf dieses Schiff kommt. Jetzt liegt das nicht mehr in seiner Hand. Tja, und deshalb ist er wütend auf deinen Vater. Wütend auf dich.« All dies wurde Zane ins Ohr geflüstert. Harrys Mund war jetzt so nah, dass Zane die Bartstoppeln im Nacken spürte, ein sanftes Kratzen. Dennoch sprach Harry unablässig weiter. »Und dann diese seltsame Crew-Demografie, die sie planen, dass alle im gleichen Alter sein sollen. Als ich das sah, dachte ich sofort an dich, Zane. Du bist in der Altersverteilung ein Ausreißer. Deine Chancen stehen nicht besonders gut, was?« Die Worte waren jetzt härter, der Atem schlug heiß und perkussiv gegen Zanes Nacken.

Mit dem rechten Arm griff Harry über ihn hinweg und umfasste Zanes Hand. Zane wehrte sich nur eine Sekunde lang, aber Harry war so viel stärker, und er zog die Hand hinter Zanes Rücken, zwischen ihre Körper.

»Aber ich bin ja da.« Er schob Zanes Hand nach unten. Zane spürte ein Gewirr von Haaren und eine Erektion, heiße, glatte Haut. Harry zwang ihn, die Finger um den Schaft zu schließen, und fing kaum merklich an zu stoßen. »Ich werde dich verteidigen«, sagte er. »Ich werde dafür sorgen, dass du in Sicherheit bist. Ohne mich ? ohne mich ? werden die anderen sich deiner entledigen. Aber ich bin da, und ich werde immer daf?r sorgen ?? Es dauerte nicht lange. Die Worte l?sten sich in Keuchen und ein Erschauern auf.

Harry ließ seine Hand los, und Zane zog den Arm zurück. Auf seiner Handfläche war Samen, warm und zäh. Er wischte sie am Laken ab.

Lange Minuten lag Harry einfach nur da, den linken Arm immer noch unter Zanes Körper. Dann zog er den Arm zurück und küsste Zane auf den Hals. »Schlaf jetzt.« Zane spürte, wie sich das Gewicht verlagerte, als Harry aufstand, und dann ein Herumgefummel, als er seine Kleider ordnete, bevor er zur Tür hinausging.

Zane tastete im Dunkeln hinter seinem Rücken herum. Wo Harry gelegen hatte, waren die Laken klebrig, so wie die Rückseite von Zanes Hose. Zane stand auf, schlüpfte aus der Hose und warf sie auf den Boden. Dann zog er die Decke vom anderen Bett, wickelte sie um seine Schultern und kauerte sich in die Ecke des Zimmers, mit dem Gesicht zur Tür. Dort saß er bis zum Morgen, ohne auch nur eine Sekunde zu schlafen.


21



Drei Tage nach dem Unfall fand eine Voruntersuchung im Capitol-Gebäude von Denver statt, bei der Gordon James Alonzo den Vorsitz führte. Zu ihrer Überraschung wurde Holle hinzugebeten, ebenso wie Kelly Kenzie und Mel Belbruno.

Der Fußmarsch durch die Stadt in Begleitung Don Meisels war trostlos. Die Stadt war jetzt von ringförmig angelegten Verteidigungslinien umgeben und im Innern in Kontrollzonen zerschnitten, mit Absperrungen zwischen Auraria, Lower Downtown und dem Central Business District. Das Verwaltungszentrum ähnelte einer Festung. Don war wachsam und vorsichtig. Man befürchtete, dass die Kandidaten Anschlagsziele werden könnten.

Holle fand, dass die Stimmung sich insgesamt änderte. Das steigende Wasser hatte jetzt die Höhe des tiefsten Punkts in Colorado überschritten – der Ort hieß Holly und lag im Tal des Arkansas –, ein symbolträchtiger Moment. Das Wasser kam, und der Zustrom von Flüchtlingen schwoll an. Die Sportarenen Invesco Field, Coors Field und Pepsi Center hatten sich von Auffangzentren eher in Arrestzentren verwandelt. Eine Kartoffelfäule hatte die Lage auf dem Nahrungsmittelsektor drastisch verschlechtert. Und jetzt waren die Spannungen durch den Byers-Unfall noch gewachsen. Während die Überflutung immer weiter voranschritt, schien das erbarmungslos steigende Wasser jeden Optimismus, jede Hoffnung wegzuspülen, dass diese ungeheure Ersch?tterung jemals ein Ende nehmen w?rde. Zum ersten Mal wurde der Gedanke, dass dies wirklich das Ende der Welt sein k?nnte, ins Bewusstsein eingelassen und ernst genommen. Das war es, was unter all dem Stress lag, dachte sie. Und diese Spannung knisterte in der gesamten schmuddeligen Innenstadt.


Magnus Howe empfing sie am State Capitol. Sobald sie die Sicherheitsabsperrungen überwunden hatten, begleitete er sie zu einem Tagungsraum und zeigte ihnen, wo sie an dem großen Konferenztisch Platz nehmen sollten.

Holle sah sich aufmerksam um. Gordo saß am Kopfende des Tisches. Hinter ihm hing eine große interaktive Weißwandtafel, und Flipcharts fassten den Status der diversen Elemente des Projekts zusammen. Vor den Teilnehmern waren Bildschirme und Touchpads in die Tischplatte eingelassen.

An einer Seite des Tisches saßen hochrangige Angehörige der Air Force, der NASA und der Regierung. Die großen Namen der alten zivilen Projektleitung, darunter Holles und Kellys Vater, reihten sich auf der anderen Seite. Liu Zheng und weitere Mitglieder des technischen Teams waren ebenfalls anwesend; sie wirkten ungeduldig und beschämt. Einige der Teilnehmer hatten Teams von Assistenten, die mit dem Rücken an der Wand hinter ihren Vorgesetzten saßen, so dass der Raum gut gefüllt war.

Patrick Groundwater lenkte Holles Aufmerksamkeit auf sich und lächelte. Sie hatte seit dem Unfall nicht mehr von Angesicht zu Angesicht mit ihm gesprochen. Jeder war zu viel herumgelaufen, hatte sich bemüht, mit den Nachwirkungen des Unfalls fertigzuwerden, sich auf solche Untersuchungen vorbereitet und über Optionen für die Behebung der Schäden und eine eventuelle Neuausrichtung des Projekts nachgedacht. Aber Holle wusste, dass die Kandidaten auf Patricks und Edwards Dr?ngen hin bei dieser entscheidenden Sitzung vertreten waren. Sie w?rden vielleicht nicht viel beitragen k?nnen, aber in gewissem Sinn wurde das alles für sie veranstaltet; sie sollten dabei sein. »Und sei es nur«, wie Kelly düster gesagt hatte, »um zu hören, dass die ganze Show abgesagt wird.«

Es war bereits sehr warm in dem Raum. Die Klimaanlage lief unregelmäßig, selbst hier im Capitol. Alles ging allmählich kaputt. Gefüllte beschlagene Wasserkrüge standen auf dem Tisch, und Holle hätte sich gern ein Glas eingeschenkt, aber das traute sie sich nicht. Während die Teilnehmer einer nach dem anderen hereinkamen, herrschte Stille bis auf das Scharren von Stühlen und ein gelegentliches Husten. Alle schienen so alt zu sein, bis auf die Kandidaten und ein oder zwei Berater.

Schließlich war nur noch ein Platz am Tisch frei, und es entstand eine gespannte Pause. Dann öffneten sich die Türen, aufgehalten von einer Air-Force-Ordonnanz, und eine Sanitäterin in einem leuchtend orangefarbenen Overall schob einen Rollstuhl herein. Jerzy Glemp saß in dem Stuhl, den ganzen Körper in eine grüne Decke gehüllt. Eine Klappe bedeckte ein Auge.

Während er in die richtige Position am Tisch geschoben wurde, beugte Patrick sich vor. »Sie sollten nicht hier sein, Jerzy. Die Ärzte haben darauf bestanden, dass Sie im Krankenhaus bleiben.«

»Quatsch. Um nichts …« Jerzy bekam einen Hustenanfall, der seinen Körper hin und her riss, und Holle sah, welche Schmerzen ihm jede Bewegung bereitete. Die Sanitäterin stand mit einer Sauerstoffmaske neben ihm, aber Jerzy schüttelte kaum merklich den Kopf, und sie trat zurück. »Um nichts in der Welt möchte ich das verpassen.« Jerzy schaute sich um; sein unversehrtes Auge blitzte. Er entdeckte Holle. ?Wie geht?s meinem Jungen? Sie haben ihn nicht zu mir gelassen.?

»Wir dachten, es wäre am besten so«, sagte Magnus Howe.

»Ich habe Miss Groundwater gefragt«, blaffte Jerzy.

»Zane geht’s gut«, sagte Holle. »Aber …« Sie dachte an Zane in den Stunden seit dem Unfall, Zane, der kaum ein Wort mit jemandem gesprochen hatte, der sich in Ecken zu drücken, an Schatten festzuhalten schien, Zane, der sich in sich selbst zurückgezogen hatte. Schließlich sagte sie: »Er arbeitet. Seine Arbeit ist gut.«

»Aha. Mehr kann man nicht verlangen, oder? Sag ihm, ich besuche ihn, sobald ich kann.«

»Mache ich.«

»Dann wären wir ja alle da.« Gordo Alonzo klopfte mit einem dicken, altmodischen Füller auf die Tischplatte. Holle fragte sich zerstreut, woher er die Tinte bekam. »Ich muss heute noch Präsidentin Vasquez persönlich gegenübertreten und meine Empfehlungen zur Zukunft von Projekt Nimrod aussprechen. Im tiefsten Innern würde ich diese zwanglose Diskussionsrunde lieber auf der Stelle beenden und etwas Produktiveres tun. Und wissen Sie, warum? Ich glaube, ich weiß schon, wie meine Empfehlung lauten wird, ganz gleich, was wir heute bereden. Dass wir diesem ganzen beschissenen Chaos ein Ende machen.«

»Dazu haben Sie nicht die Befugnis«, sagte Patrick hitzig. »Die Befehls- und Organisationsstruktur …«

Gordo lachte. »Kapieren Sie’s nicht? Befehlsstruktur! In dieser Minute bin ich das, Kumpel. Als eure Magnetflasche geplatzt ist, hat sie alles andere mitgenommen.«

»Es geht hier auch um Hoffnung, Colonel Alonzo«, entgegnete Kenzie. »Um das Ziel. Was sollte die Regierung Ihrer Ansicht nach stattdessen tun? Den Heimatschutz-Gorillas dickere Kn?ppel geben, mit denen sie die Fl?chtlinge zur?ckschlagen k?nnen??

»Ganz egal, was wir tun, mein Freund«, sagte Gordo heftig, »in ein paar Jahren oder auch schon eher wird sich das Meer über uns allen schließen. Ich weiß nicht, was die schlimmere Sünde ist, jemandem falsche Hoffnungen zu machen oder gar keine.« Er drehte sich zu seinen Flipcharts und der Tafel um. »Kommen wir zum Kern der Sache zurück. Sagen Sie mir, wie Sie es schaffen wollen, diese idiotische Mission im Jahr 2040 durchzuführen. Bis dahin sind es, wie ich Ihnen ins Gedächtnis rufen möchte, nur noch vier Jahre.« Er schaute sich mit finsterem Blick um. »Wer möchte den Anfang machen?«

Edward Kenzie ergriff erneut das Wort. »Der Kern der Sache ist schlicht: Wir müssen in der Erdumlaufbahn ein Raumschiff mit einer Besatzung von nicht weniger als achtzig Personen bauen.« Er stand steif auf. Mit zunehmendem Alter wurde er immer beleibter, und Kelly zufolge litt er schwer unter der Gicht. Er ging zu einer Flipchart und legte Blätter um, bis er zu einem Bauplan kam. »Wir haben aus dem Nichts heraus einen Weltraumbahnhof bei Gunnison, Colorado, errichtet.« Er tippte auf die Weißwandtafel, und ein Bild erschien: eine einzelne Startrampe, umgeben von Blockhäusern, Berge in der Ferne. Er ließ sich schwer in einen leeren Stuhl neben der Tafel sinken. »Gedacht für den Start von Ares-I- und -V-Trägerraketen. Die Starttechnik darauf ausgerichtet, Menschen erneut zum Mond, aber auch zum Mars zu befördern, was natürlich nie geschehen ist. Wir mussten Transportvorrichtungen beschaffen, die Herstellung und Lagerung von Treibstoff organisieren …«

»Blablabla«, sagte Gordo. »Ihr habt bisher erst einen einzigen Vogel von da aus hochgeschossen, stimmt’s? Eine Trägerrakete, eine unbemannte Ares I, in den Orbit. Was meinen Sie, wie viele Starts Sie brauchen werden, um Ihr ?Raumschiff in der Erdumlaufbahn? zusammenzubasteln??

Liu Zheng antwortete darauf. Er tippte auf ein Touchpad, und auf der Weißwandtafel erschienen Grafiken. »Fünfzehn Starts, Sir. Fünf schwere Ares V der Saturn-V-Klasse, unbemannt, und zehn für Menschen ausgelegte Ares-I-Träger, die jeweils acht bis zehn Besatzungsmitglieder transportieren. Bisher war geplant, die aufgegebene ISS, die Raumstation, wieder in Betrieb zu nehmen und als Montageplattform für …«

Gordo brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Ihr Termin für die Beendigung der Bauphase im Orbit ist immer noch 2040. Richtig? In den letzten vier Jahren haben Sie einen einzigen Start geschafft. Und nun glauben Sie, Sie könnten in den nächsten vier Jahren fünfzehn absolvieren. Fünfzehn Starts, und zwar ohne Tests und Misserfolge, und Sie haben noch keine einzige Ares V von Gunnison hochgeschickt. Darüber hinaus wollen Sie auch noch die ISS wiederbelegen, eine Station, die seit sechzehn Jahren eingemottet ist. Mein Gott, bei der NASA hätten wir allein das schon als Aktivität betrachtet, für die Teams ausgebildeter Astronauten wahrscheinlich Jahre brauchen würden. Es steht hier unten als Etappenziel in Ihrem Diagramm – keine Ressourcen dafür eingeplant – nichts. Wer soll das machen, die Heinzelmännchen?«

Patrick legte die Fingerspitzen aneinander. »Wir sind an einem Punkt, an dem sich unser Zeitplan beschleunigen soll, weil wichtige Etappenziele der Mission …«

»Blödsinn«, polterte Gordo. »Das hier ist nicht das erste gescheiterte Projekt, mit dem ich zu tun hatte, Mr. Groundwater. Ich kenne sämtliche Symptome, und ich habe das alles schon früher gehört. Wir haben’s vermasselt, wir haben bisher noch kein einziges Etappenziel eingehalten, aber die Zukunft ist strahlend hell! Und Sie werden bemerkt haben, dass ich noch gar nicht auf das Thema Antimaterie-Produktion zu sprechen gekommen bin. Helfen Sie meinem Ged?chtnis auf die Spr?nge. Wie viel Antimaterie werden Sie f?r Ihr Sternenschiff brauchen? ?

»Wir glauben, ein halbes Kilogramm«, sagte Liu Zheng. »Das klingt vielleicht nach nicht viel, aber die Energiedichte der …«

»Ja, ja. Sehen wir uns mal Ihre Produktionsanlage an.« Gordo tippte auf die Tafel und rief Live-Bilder der andauernden Katastrophe in Byers, einem Vorort von Denver, auf. Wo sich der Beschleuniger befunden hatte, war jetzt ein Krater, aus dem einzelne Mauerstücke und das skelettartige Gewirr von Bewehrungsstahlstäben ragten. Von einem Dutzend Brandherden stieg Rauch empor, und Rettungsteams krabbelten in ihrer leuchtend orangeroten Ausrüstung durch Schutthaufen. An einer Stelle war ein Flüchtlingslager zerstört worden; niedergerissene Stoffzelte lagen auf dem Boden. Am Rand der Katastrophenzone standen zerlumpte Protestierer einer Reihe von Cops, Soldaten und Heimatschutzschlägern gegenüber.

»Da ist Ihre Antimaterie-Fabrik«, sagte Gordo. »Ein Loch im Boden, das man mit dem Abwurf einer beschissenen Atombombe viel billiger hingekriegt hätte. Ich will Ihnen mal was sagen. Ganz egal, was für Folgen diese Katastrophe sonst noch hat, ich glaube nicht, dass es für Präsidentin Vasquez akzeptabel sein wird, dieses Zeug weiterhin mitten in Colorado herzustellen. «

»Dann sind wir erledigt«, sagte Jerzy Glemp. Sein versehrter Körper zuckte unter seiner Decke. »Erledigt. Das entscheidende Element des Plans ist die Warp-Blase, Colonel. Ohne die können wir nicht fliegen. Und ohne Antimaterie können wir keine Warp-Blase erzeugen.«

»Das weiß ich«, fauchte Gordo. »Und ich weiß auch, welche Abkürzungen Sie eingeschlagen haben, um Ihren kostbaren Atomzertrümmerer zum Laufen zu bringen, Doktor Glemp.«

Glemps Erregung wuchs. »Ich verstehe nicht, was Sie meinen. «

»Oh, Sie verstehen mich ganz genau. Ich habe mir das Dokumentationsmaterial angesehen. Die Leute in Ihrer Organisation, die Ihnen den Rücken decken, haben es jedes Mal penibel festgehalten, wenn sie von Ihnen bekniet wurden, einen Test abzukürzen, eine Sicherheitsvorschrift zu missachten oder einen Entwurf ohne Absicherung durchzupauken. Wenn wir hier in einem Gerichtssaal wären, hätte ich genug in der Hand, um Sie anzuklagen.«

»Es ist wirklich ein starkes Stück, dass Sie uns erst wegen der Verzögerungen beschimpfen und mich dann der Pflichtvergessenheit beschuldigen, weil ich versucht habe, Ziele zu erfüllen! «

»Er war für euch von vornherein unerreichbar«, sagte Gordo. »Dieser Traum vom Flug ins All. Das ist die Wahrheit, nicht wahr, Doktor Glemp? Sie haben das immer klarer gesehen als die anderen, und dennoch haben Sie die Sache vorangetrieben, so weit und so schnell Sie konnten, ungeachtet der Risiken …«

Edward Kenzie stand erneut auf. »Es ist jetzt vier Jahre her, Colonel, dass Präsidentin Vasquez ihre Nimrod-Rede gehalten, ihren Kennedy-Moment gehabt hat. Sie waren damals beteiligt, und Sie sind ganz ohne Zweifel auch jetzt beteiligt. Aber keines der Probleme, mit denen wir seither konfrontiert waren, hat etwas mit Ihnen zu tun – wollen Sie uns das sagen?« Er richtete einen dicken Finger auf Gordo. »Geht es darum, Colonel? Um Schuldzuweisungen?«

Jerzy wand sich. »Ich möchte sagen – oh, lasst mich sprechen …« Seine Worte gingen in einem Hustenanfall unter, nach dem er zitternd in seinem Rollstuhl saß.

Edward versuchte erneut, etwas zu sagen, Patrick ebenfalls, andere stimmten mit ein, und Gordo versuchte, sie niederzubrüllen. Es war ein Raum voller alter Leute, die sich anschrien.

Holle schaltete ab. Sie war wie betäubt und fühlte sich leer. Sie hatte nicht geahnt, dass das Projekt so weit hinter dem Plan zurücklag und dass solche Risiken eingangen wurden, um es zu beschleunigen. Und das alles meinetwegen.

Der Nachdruck, mit dem Gordo fortwährend die Daten betonte, setzte in ihrem Kopf irgendetwas in Gang. Für sie war die Flut immer etwas Fernes gewesen, etwas, das anderen Menschen zustieß. Jetzt kam es ihr vor, als würde sich die Welt um sie herum zusammenziehen. In vier Jahren, wenn das Flutwasser in diesen Raum plätscherte, würde sie gerade einmal einundzwanzig sein. Plötzlich war es keine abstrakte zukünftige Version ihrer selbst mehr, die mit all dem fertigwerden musste. Sie war es, die sich der Zukunft stellen musste, und wenn die Arche scheiterte, war sie es, die mit dem ultimativen Alptraum zurechtkommen musste: dass ihr das Wasser im wahrsten Sinne des Wortes den Boden unter den Füßen wegzog. Eine tiefe Furcht grub sich in ihren Bauch, wie die Angst vor einem Sturz. Sie schaute zu ihrem Vater hinüber und wünschte, sie wäre näher bei ihm.

Kelly beobachtete sie. »Hey. Ist schon okay. Wir werden’s überstehen. Wir fliegen schon noch ins All.« Und sie wandte sich wieder ab, um den Argumenten zu lauschen, gelassen, selbstsicher und stark. Jetzt, wo die Rivalitäten vergessen waren, sah Holle für einen kurzen Moment, weshalb sie in der Öffentlichkeit, die den Fortschritt der Kandidaten, ihr t?gliches Leben beobachtete, so beliebt war.

Gordo verschränkte die Arme und sorgte für Ruhe. »Dann ist das der springende Punkt. Ihre Art, das Projekt voranzutreiben, hat zu Verzögerungen und letztendlich zur Katastrophe geführt. Auf gar keinen Fall werde ich einen Startplan billigen, wie Sie ihn hier aufstellen. Er war schon immer ein verdammter Witz, und er ist jetzt garantiert undurchführbar. Wenn Sie keinen neuen Vorschlag haben, wie wir vorankommen können – und zwar jetzt –, wird die Arche nicht fliegen. Also, wer spricht als Nächstes?«

»Holle Groundwater«, sagte Liu Zheng.


22



»Wie bitte?«, sagte Holle.

Liu wirkte ganz ruhig. Er lächelte sogar. »Miss Groundwater. In meinem Unterricht haben wir einmal über ein konzeptuelles Problem nachgedacht, das zum damaligen Zeitpunkt unüberwindlich schien.«

»Ich …«

»Die Größe der Warp-Blase.«

»Ja. Ich erinnere mich.«

»Bei dieser Gelegenheit haben Sie eine Frage gestellt. Sie enthielt keine Lösung, hat aber eine Kette von Überlegungen nach sich gezogen, die letztendlich zu einer Lösung geführt haben. Es war eine gute Frage. Vielleicht ist das Ihr besonderes Talent.« Sein Lächeln wurde breiter, ermutigend. »Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, diese Frage erneut zu stellen.«

»Was, zum Teufel, haben Sie vor, Liu?«, fragte Patrick. »Was soll das, ein siebzehnjähriges Mädchen dermaßen unter Druck zu setzen?«

»Ist schon gut, Dad«, sagte Holle, obwohl es nicht gut war, ganz und gar nicht. Alle starrten sie an, ihr Vater voller Sorge und Stolz, Liu eindringlich, Edward Kenzie verblüfft – und Kelly mit unverhülltem Neid. Sie spürte, wie ihr Herz hämmerte, wie das Blut in ihren Ohren sang. Sie dachte, sie würde vielleicht gleich ohnmächtig werden. Was für eine Situation. Sprich. Sag das Richtige. Sonst bist du in fünf Jahren entweder tot oder verhungerst auf einem Flo? aus Plastikm?ll. ?Es ist blo? etwas, was mein Vater immer gesagt hat. Wenn dir die Antwort nicht gef?llt, stellst du vielleicht die falsche Frage.?

Liu Zheng schloss die Augen und sprach schnell. »Ja. Okay. Jetzt haben wir zwei scheinbar unüberwindliche Hindernisse. Erstens, die Antimaterie. Wir können die benötigte Menge nicht herstellen. Was ist dann die Alternative zu ihrer Herstellung?«

»Wenn man sie nicht produzieren kann, muss man sie suchen und finden«, knurrte Jerzy. »Sie irgendwo abbauen.«

»Ja.« Liu nickte. »Die Frage ist, wo und wie? Und zweitens, die vielen Starts. Wir haben nicht genug Zeit, um die Arche in fünfzehn Teilen in die Umlaufbahn zu schießen. In dem Punkt haben Sie zweifellos Recht, Colonel. Deshalb werden wir uns auf ein Paket beschränken müssen – ein einziger Start, die komplette Arche. Achtzig Mann mit allem, was nötig ist, um sie am Leben zu erhalten, und dazu auch noch sämtliche Elemente des Antriebssystems. Alles muss zugleich hochgeschossen werden. Wie befördert man so viel auf einen Streich in die Erdumlaufbahn? « Er öffnete die Augen und fing an, auf die Tastatur in der Tischplatte einzuhämmern.

Jerzy lächelte, ein verzerrter Gesichtsausdruck unter seiner Augenklappe. »Ich verstehe, was Sie meinen. Das sind gute Fragen. Und ich glaube, ich weiß, wo man Antimaterie abbauen kann.«

Gordo musste grinsen. »Ist das ein abgekartetes Spiel? Sie alter Effekthascher.«

»Ich bin jünger als Sie, Colonel.«

»Wo?«

Und Jerzy sagte: »Jupiter und Io.«


Jupiter, eine monströse Welt mit der Masse von dreihundert Erden, so riesig, dass er fast schon ein Stern war. Und Io, Mond des Jupiter, so nah bei seinem aufgebl?hten Mutterplaneten kreisend, dass die auf ihn einwirkenden Gezeitenkr?fte permanenten Vulkanismus ausl?sten. Auf seiner Kreisbahn durch das starke Magnetfeld des Jupiter erzeugte Io eine ?Flussr?hre?, einen elektrischen Strom, der ihn mit den oberen Atmosph?renschichten des Jupiter verband, einen Strom, der geladene Teilchen sammelte und in die Jupiterluft st?rzen lie?.

Kelly, die in rasender Eile das von ihr aufgerufene Material auf dem Bildschirm vor ihr durchsah, erkannte rasch, worum es ging. »Die Flussröhre ist ein natürlicher Teilchenbeschleuniger. «

»Und als solcher eine natürliche Quelle von Antimaterieteilchen«, ergänzte Jerzy. »Selbstverständlich werden sich solche Partikel in der Natur beim Kontakt mit Materie sehr rasch gegenseitig vernichten, aber man glaubt, dass einige in Gürteln um den Jupiter herum landen, die den Van-Allen-Gürteln der Erde entsprechen. Wenn man sie ernten könnte …«

»Wie?«, unterbrach Gordo schroff.

»Möglicherweise mit einer Art supraleitender Magnetschaufel«, sagte Liu. »Ein Schiff mit Magnetsegeln, das durch die Flussröhre gleitet und Antiprotonen herausfiltert. Die vorhandene Antimaterie-Menge ist gering – durch solche Prozesse werden im ganzen Sonnensystem nur drei oder vier Tonnen Antimaterie pro Stunde erzeugt –, aber die Menge, die wir benötigen werden, ist ja vergleichsweise gering …«

Und die Diskussion ging weiter, als die Wissenschaftler die Idee aufgriffen und die mit Hilfe ihrer Computer verfügbaren Ressourcen erkundeten. Selbst Kelly und Mel beteiligten sich daran, froh darüber, von dem heftigen, auf einen Schlusspunkt zusteuernden Streitgespräch über den Unfall und seine Folgen erlöst zu sein.

Holle lehnte sich nur verwirrt zurück. Sie versuchte, der hin und her wogenden Debatte zu folgen; aus den hitzigen Spekulationen schälten sich die ersten Umrisse einer neuen Missionsstrategie heraus. Die strahlungsgesättigte Umgebung des Jupiter war ziemlich tödlich für Menschen. Der tapfere Ramjet, der sich in die Nähe von Io begab, um Antiprotonen herauszufiltern, würde unbemannt sein müssen. Aber er würde vielleicht von einem bemannten Raumfahrzeug in einem langsamen, fernen Orbit um den Jupiter gesteuert werden. Man würde also Jahre in der Umlaufbahn verbringen und in einem Tank leben, sich viele Jahre lang an einem Ort voller gewaltiger, tödlicher Energien aufhalten, wo die Sonne zu einem trüben Fleck verblasst war, Jahre des Wartens, um die erforderliche Antimaterie für den eigentlichen Beginn der Mission zu sammeln. Es erschien ihr schrecklich, abstoßend, vollkommen unmenschlich. Doch während die Wissenschaftler redeten und Gordo die Diskussion weiterlaufen ließ, bildete sich genau dies als Konsens heraus.

»Aber wie sollen wir überhaupt zum Jupiter gelangen?«

Als Antwort projizierte Liu Zheng einen Videoclip auf die große Weißwandtafel an der Stirnseite des Raums. Er dauerte nur eine halbe Minute und lief als Endlosschleife. Zerkratzt, verschwommen, mit Geisterbildern von den häufigen Kopien über viele Formate hinweg, zeigte er einen alten Mann, der in einem Schaukelstuhl saß. Er hielt eine Art Modell in den Armen. Es sah wie eine Artilleriegranate aus, vielleicht einen Meter lang und dreißig Zentimeter im Durchmesser. Der alte Mann hob die wichtigsten Elemente der Apparatur hervor. Die patronenförmige Verkleidung bestand aus Fiberglas und war von Löchern zernarbt, wo offenbar einmal irgendwelche Sensoren gesessen hatten. Am unteren Ende befand sich eine gebogene Aluminiumplatte, die einer Pastetenform oder vielleicht einer Satellitenschüssel glich. Die Platte war durch ein System von Federn ? eine Art Aufh?ngung ? mit dem Hauptkorpus verbunden.

»So können wir vielleicht starten«, sagte Liu.

Jerzy Glemp lachte meckernd. »Mit einem Jules-Verne-Raumschiff? «

»Das hat nichts mit Jules Verne zu tun«, erwiderte Liu. »Aber ein Raumschiff ist es – oder das Demonstrationsmodell eines Raumschiffs.« Er fror das Bild ein. »Es wurde von Sprengstoff angetrieben. Man löst eine Sprengladung unter der Prallplatte dort am Heck aus. Die Platte wird nach oben in die Aufhängung getrieben, was wiederum den Hauptkorpus vorwärtstreibt. Und dann löst man eine Sprengladung nach der anderen aus.« Er stellte das mit den Händen mimisch dar. Seine gekrümmte linke Handfläche fing die imaginären Detonationen ab, der Handrücken stieß die rechte Faust in die Luft empor. »Bumm, bumm, bumm. Bei diesem Modell hatten die Sprengladungen die Größe von Golfbällen.«

Gordo bedeckte mit seinen großen Händen das Gesicht. »Ach du Schande, davon habe ich gehört. Mein Vater hat mir einen zerkratzten alten Film gezeigt, in dem dieses Ding flog … Wie hieß es noch gleich, Putt-Putt oder so?«

»Soll das heißen, wir könnten unsere Arche auf diese Weise hochschießen?«, fragte Edward Kenzie. »Was für Explosionen bräuchte man dafür?«

»Thermonukleare«, sagte Liu schlicht.

»Heilige Mutter Gottes.« Kenzie sah seine Tochter entsetzt an. »Wollen Sie ernsthaft vorschlagen, dass wir die letzte Hoffnung der Menschheit auf eine Atombombe packen?«

»Nicht nur auf eine«, erwiderte Liu ungerührt. »Auf mehrere. Einen ganzen Strom von Atombomben, die hinter der Prallplatte abgeworfen und zur Explosion gebracht werden …«

»Orion-Projekt«, schnauzte Gordo.

Mit diesem Schlüsselbegriff begannen die anderen, im elektronischen Archiv zu graben.

Holle fand rasch heraus, dass Orion von 1957 bis 1965 von General Atomic durchgeführt worden war, der Sparte eines Unternehmens, das auch Atom-U-Boote und Atlas-Interkontinentalraketen gebaut hatte. Es war eine Zeit extravaganter Träume gewesen, angespornt von der neuen Technologie thermonuklearer Explosionen, den auf die Erde geholten Energien der Sonne. Eine sogenannte Dimensionsanalyse trieb die Idee so weit, wie es ging, und sagte voraus, dass es bis 1970 möglich sein würde, Menschen zum Saturn zu schicken. Holle übertrug den Bericht auf die Weißwandtafel.

»Das ist seriöses Zeug«, sagte Kelly erstaunt. »Sie haben Unterstützung von Los Alamos, Livermore und Sandia bekommen. Und schaut euch all diese technischen Abhandlungen an: ›Ein Überblick über das Stoßdämpferproblem.‹ – ›Zufallsbedingte Flugbahnveränderungen durch Fehlplatzierung der Bomben.‹ Einige davon unterliegen noch immer der Geheimhaltung!«

»Und, hätte es funktioniert?«, fragte Gordo.

»Jede Wette«, sagte Mel Belbruno. »Ich meine, jede Wette, Sir. Man ist zwar nie ganz mit den technischen Details zurande gekommen, soweit ich sehe. Aber das Konzept war zweifelsohne solide. Und sie haben tatsächlich ein paar Demonstrationsmodelle mit konventionellem Sprengstoff hochgeschossen.«

»Und warum waren wir dann 1970 nicht beim Saturn?«

»Weil man zunächst einmal die Erde verlassen muss, wenn man zum Saturn will«, sagte Liu Zheng.

Der wachsende Widerstand gegen Atomwaffen im Verlauf der 1960er Jahre hatte zur Folge gehabt, dass man dem Orion-Konzept mit Misstrauen begegnete. Als Präsident Kennedy unklugerweise ein von Atomraketen starrendes Modell eines Weltraumschlachtschiffs mit Orion-Technologie vorgef?hrt wurde, brachte dies das Fass zum ?berlaufen. Kennedy war emp?rt.

»Das Konzept wurde also eingemottet. Aber es ist nie aufgegeben worden«, sagte Liu. »Sie werden sehen, dass die NASA später ein Nachfolgekonzept namens ›External Pulsed Plasma Propulsion‹ entwickelt hat, mit größerer Distanz zur Waffentechnik. «

»Ich schätze, es war immer ein gutes Konzept fürs Archiv«, sagte Gordo. »Falls man mal irgendwas Großes rasch von der Erde wegschaffen musste.« Er rieb sich die Augen. »Ich erinnere mich undeutlich an einen Roman aus der Zeit, als ich noch ein Kind war. Die Aliens greifen an, und wir benutzen Orion, um an ihr Mutterschiff heranzukommen. Fußfall oder so ähnlich. Schade, dass wir jetzt nicht mit einer Horde Aliens fertigwerden müssen. Mit Xenobathen, Molchen oder Aquaphibians. Verglichen damit wäre das leicht.«

»In der Nähe von Denver gibt oder gab es eine Atomwaffenfabrik«, sagte Jerzy Glemp. »Bei Rocky Flats.«

Gordo lachte. »Warum überrascht es mich nicht, dass Sie das wissen? Aber wenn Präsidentin Vasquez schon die Idee einer weiteren Antimaterie-Fabrik mitten in Denver nicht unterstützt, wie bringe ich sie dann dazu, den Bau eines ganzen verdammten Raumschiffs aus Atombomben zu genehmigen?«

»Und der Fallout«, sagte Patrick ernst. »Wenn so ein Ding irgendwo in den Überresten der kontinentalen Vereinigten Staaten gestartet wird – es gibt keine menschenleeren Regionen mehr, und schon gar nicht in Colorado.«

»Wenn wir 2040, 2041 oder 2042 starten, spielt das keine Rolle mehr, Mr. Groundwater«, sagte Jerzy grimmig. »Und so leid es mir tut: Das gilt auch f?r diejenigen, die hierbleiben m?ssen.?

Die Sanitäterin, die Jerzy überwachte, hatte die Diskussion verfolgt. Holle hatte noch nie solche Verwirrung, solchen Schock im Gesicht eines Menschen gesehen, als sie über Raumschiffe debattierten, die vom nuklearen Feuer angetrieben wurden. Holle fragte sich, ob sie alle den Verstand verloren hatten.


23



Holle war mit der Flut aufgewachsen. Sie besaß keine Erinnerungen an das Leben davor, an die damalige Politik. Dennoch war sie überrascht von der Schnelligkeit, mit der Präsidentin Vasquez ihre Entscheidung traf.

Nur zwei Tage nach der Sitzung mit Gordo erschien Vasquez im Fernsehen und im Internet. Sobald die Beerdigungen und die gebührenden Gedenkgottesdienste abgehalten seien, sagte sie, werde das Projekt Nimrod fortgesetzt. Die Arche werde fliegen, wenn es sich nur irgend bewerkstelligen ließe. Dies verspreche sie der Crew und denjenigen, die an dem Projekt arbeiteten. Und sie versprach darüber hinaus, dass es keine Wiederholung des Byers-Unfalls geben werde, dass die Sicherheit der Öffentlichkeit an oberster Stelle stünde. (»Bis zum Starttag«, murmelte Kelly Kenzie zynisch.)

Doch all das kostete seinen Preis. Die Präsidentin hatte offenbar beträchtliche Konzessionen machen müssen, um über Mitglieder ihrer Regierung, die in Bezug auf Projekt Nimrod anderer Meinung waren, den Sieg davonzutragen. Sie, Vasquez, würde bei den Präsidentschaftswahlen in diesem Herbst nicht noch einmal antreten. Es wäre ihre sechste Amtszeit gewesen. Sie würde Platz machen und die Kandidatur ihres Vizepräsidenten unterstützen.

Und Jerzy Glemp würde aus dem von ihm ins Leben gerufenen Projekt ausscheiden und wegen des Byers-Unfalls angeklagt werden.

In der Akademie achtete Holle nicht auf die Reaktion der Schüler, ihre Jubelfeiern oder die Art, wie Harry Smith sich durch die Menge drängte, um an den fassungslosen Zane Glemp heranzukommen. Ihr einziger Gedanke war, dass das Projekt weiterging, dass die Arche gebaut werden würde. Dass sie selbst vielleicht doch noch die Chance bekam, ins All zu fliegen.


24



DEZEMBER 2038



Nach einer letzten Nacht im Ausbildungszentrum von Boulder wurden sie in den klobigen Biotreibstoff-Bus verfrachtet, der sie in die Indian Peaks Wilderness hinaufbringen sollte, zur Bruchlandungssimulation: Holle, Kelly, Susan, Venus, Mel, Zane, Matt und Don, den Polizisten, der in seiner halbregulären Rolle als inoffizieller Bewacher dabei war. Don nahm auf dem Fahrersitz Platz, obwohl der Bus vollautomatisch fuhr und den Weg zum Trainingsgelände kannte. Kelly saß vorn neben Don.

Holle ging nach hinten durch, wo Mel auf sie wartete. In ihrem leuchtend orangefarbenen Schutzanzug schlurfte sie unbeholfen durch den Bus. Im Ausbildungszentrum, das im alten National Center for Atmospheric Research eingerichtet worden war, hatten sie diese Anzüge schon die letzten drei Tage durchgehend getragen, ohne ein einziges Mal die Schutzmasken und -brillen oder auch nur die Kapuzen abzunehmen. Sie sahen aus wie Sanitäter auf dem Weg in ein Seuchengebiet, dachte sie flüchtig. Selbst Don hatte sich freiwillig bereiterklärt, für die Dauer der Übung in einem Anzug zu leben, obwohl er so ein Ding im Ernstfall niemals würde tragen müssen. Als sie sich hinsetzte, grinste Mel und ergriff ihre Hand. Hinter der Atemmaske und der abgenutzten Plastikschutzbrille war sein Gesicht so gut wie unsichtbar, und seine menschliche Wärme drang nicht durch die Handschuhschichten.

Die massive Tür schloss sich mit einem hydraulischen Zischen. Flankiert von zwei leichten Panzerwagen, verließ der schwere Bus den Parkplatz des NCAR. Wie die meisten Regierungsfahrzeuge war auch er mit Platten gepanzert, die massiv genug waren, um eine kleine Artilleriegranate aufzuhalten, und die kugelsicheren Fenster waren so dick, dass sie die Außenwelt blau färbten.

Der kleine Konvoi fuhr den Table Mesa Drive hinauf, bog links in die Broadway Street ein, den alten Highway 93, und passierte das Auffangzentrum für Flüchtlinge auf dem Campus der University of Colorado. Holle sah die Rauchfahnen der Lagerfeuer auf dem Gelände der Pearl Street Mall in den Himmel steigen. Sie war jetzt neunzehn Jahre alt, und manchmal wünschte sie, sie hätte Städte wie diese sehen können, wie sie vor ihrer Geburt gewesen waren, so wie in Friends und Frasier. Sie bogen erneut nach links ab, auf die Arapahoe Avenue, und verließen die Stadt in westlicher Richtung. Primitive, bereits rostende Drahtzäune säumten die Hauptstraßen zu beiden Seiten; sonst wären die Highways, auf denen jetzt nur noch spärlicher Verkehr herrschte, schon längst von den Schuppen und Zelten der Habenichtse besiedelt worden, und das Leben in der Stadt wäre knirschend zum Erliegen gekommen.

Im Vorbeifahren sah Holle Menschen, die sich an die Zäune drückten, Reihen von Gesichtern, Kinder in Kleidern, die zur Farbe des Schlamms oder zum Grau des bedeckten Dezemberhimmels verblichen waren. Kelly Kenzie hatte den Nerv, mit einer behandschuhten Hand zu winken. Die Kandidaten waren immer noch Berühmtheiten. Ein paar Kinder winkten zurück. Aber die Erwachsenen starrten die Kandidaten in ihren Schutzanzügen an, als wären sie Besucher von einem anderen Stern. Einige reckten improvisierte Plakate in die Höhe, auf denen ein einzelner Name stand, auf Pappe, Plastik oder Stoff geschrieben: VASQUEZ. Nach ihrem Verzicht auf die Teilnahme an den Wahlen von 2036 war die ehemalige Pr?sidentin Vasquez zu einer ausgesprochenen Unterst?tzerin der Armen und Besitzlosen geworden. Seit ihrer Ermordung in ihrem Haus vor einer Woche schossen Verschw?rungstheorien ins Kraut.

Kürzlich hatte es einen neuen Schwall von Eye-Dees gegeben. Nachdem der Meeresspiegel über zwölfhundert Meter gestiegen war, hatte die Flut endlich die ersten ernsthaften Auswirkungen auf Colorado gehabt. Das Wasser war bis Burlington an der I-70 und Lamar an der I-50 vorgedrungen, und die großen Flüsse, der South Platte und der Arkansas, waren in ihren unteren Abschnitten jetzt Tidegewässer. Die Grundwasserleiter und angeblich sogar einige Bäume und Feldfrüchte in Denver waren bereits von Salz verunreinigt. Die Eye-Dees in den Grassodenhaus-Gemeinschaften auf den Ebenen wurden in einer neuen, panikartigen Umsiedlung auf das höhere, kargere Land von Monument Ridge oder den Rockies verlegt. Aber jeder, der aus den offiziellen Korridoren ausbrechen konnte, suchte in den Großstädten Zuflucht. Gleichzeitig wanderten einige Arbeiter von Projekt Nimrod ab und erhoben frühzeitig Anspruch auf einen Platz auf dem verbliebenen hoch gelegenen Gelände.

Das Ergebnis waren all diese anonymen Gesichter in immer größerer Zahl, und wenn man ihren Stimmen lauschte, hörte man Akzente aus ganz Nordamerika und sogar aus dem Ausland, aus Südamerika, Europa, von überallher spülten Menschen, getrieben von der Flut, gegen diese kalten Zäune. Holle vergaß nie, dass sie selbst nur dank einer glücklichen Fügung des Schicksals – weil ihr Vater in seinem Leben lauter kluge oder zufällig richtige Entscheidungen getroffen hatte – nicht auf der anderen Seite dieser Zäune stand. Sie war erleichtert, als sie die Grenzen der Altstadt passierten und der Andrang der Gesichter nachließ.

Sie fuhren den Canyon Boulevard entlang, eine gewundene, von Felsen gesäumte Straße, die in die Berge führte. Vielleicht ein Dutzend Kilometer weiter stießen sie auf eine Gemeinde namens Boulder Falls, wo sich ein zwanzig Meter hoher Wasserfall auf die Felsen ergoss. Selbst hier drängten sich die IDP-Camps um die Straßen bis an den Drahtzaun, der die Fahrbahn schützte. Einige der Eye-Dees, sagte Don laut, hätten ihre Hütten so nah am Wasserfall aufstellen müssen, dass sie Tag und Nacht nassgespritzt würden. Er lachte darüber, und Kelly schnauzte ihn wütend an. Don sprach nur selten über seine Arbeit, aber Holle wusste, dass er von seinen Polizeiaufgaben in der Stadt zur Grenzkontrolle und zur IDP-Abfertigung versetzt worden war, und sie konnte sich denken, was das für sein Seelenleben bedeutete. Er legte jedoch nie irgendwelche Bitterkeit an den Tag, selbst wenn er so viel Zeit mit dem Kandidatenkorps verbringen musste, aus dem er ausgeschlossen worden war. Der Bus rollte mitsamt seiner Eskorte durch den Ort, ohne anzuhalten.

Der Canyon öffnete sich zu einer ausgedehnteren Ebene. Sie hielten auf die Stadt Nederland zu und würden noch weiterfahren, hinauf ins Bergland der Indian Peaks Wilderness.

Holle versuchte, sich auf die Landschaft draußen zu konzentrieren und das Scheuern des Anzugs zu ignorieren. Die Simulation zielte darauf ab, sie an eine mögliche Version des Lebens und der Arbeit in den ersten Tagen und Monaten nach ihrer Landung auf der Erde II zu gewöhnen. Ihr noch nicht festgelegtes Ziel sollte erdähnlich sein, sonst hätte es gar keinen Sinn, dorthin zu fliegen, jedenfalls erdähnlich genug, dass man ohne Druckanzug im Freien herumlaufen konnte. Man würde jedoch fast mit Sicherheit einen geschlossenen Schutzanzug brauchen. Der Sauerstoff-Partialdruck konnte zu niedrig oder zu hoch sein, und möglicherweise gab es diverse Toxine in der Luft oder sogar eine biologische Gefahr, die auch ein v?llig fremdes Organsystem ins Visier nahm.

Aber Holle verabscheute ihren Anzug. Angeblich war er in der Hightech-Basis von AxysCorp in den Anden angefertigt worden, bevor diese von Rebellen überrannt worden war. Er bestand aus einem intelligenten Material, das ihre Haut normal schwitzen ließ, während es zugleich für sämtliche Schweinereien aus der Umgebung undurchdringlich war. Die Maske über ihrem Mund gab eine Feuchtigkeitscreme und ein mildes Anästhetikum ab, um die Reibung auf der Haut zu lindern. Leichte Behältnisse auf Brust und Schultern enthielten Versorgungsmaterial für die Anzug-Scrubber, Trinkwasser und Nahrung. Ihre Schutzbrille reinigte sich selbst und verhinderte eigenständig, dass sie beschlug – eine feine Sache, bis sie den Geist aufgegeben hatte.

Ohne Nachschub sollte Holle in diesem Ding vierundzwanzig Stunden überleben können, mit Nachschub auf unbestimmte Zeit – die Untergrenze der Hersteller war ein Monat. Ihr war klar, dass man lernen musste, wie man unter solchen Bedingungen lebte und arbeitete. Aber nach ein paar Stunden in dem Anzug fühlte sie sich immer wie ein bleicher, vertrocknender Wurm, weil die Gelenke scheuerten und das Ding sich mit ihrem Gestank füllte. Eine zusätzliche Unannehmlichkeit an Simulationstagen waren die medizinischen Sensoren, die einem auf die Haut geklebt wurden, und die enervierenden Miniaturkameras auf der Schulter und dem Helm – ja sogar im Helm, damit man das Gesicht jederzeit beobachten konnte.

Die meisten Kandidaten hatten keine Probleme damit, eingeschlossen zu sein, und störten sich nicht einmal an der permanente Überwachung. Sie unterhielten sich leise und zogen geistesabwesend an lästigen Falten der Anzüge. Seit ihrer Aufnahme ins Programm – und das hieß bei den meisten von ihnen: für den gr??ten Teil ihres Lebens ? waren sie alle in geschlossenen, umfassend ?berwachten Umgebungen aufgewachsen. Holle hoffte jedoch, die Erde II w?rde ungef?hrlich genug sein, dass sie Handschuhe und Stiefel ausziehen, die F??e in flie?endem Wasser k?hlen, mit den Fingern durch au?erirdisches Erdreich fahren und vielleicht sogar den Wind auf der blo?en Wange sp?ren konnte.


Sie fuhren durch Nederland, eine alte Bergarbeitersiedlung, die erst zu einem Hippie-Touristenmagneten und später wie jeder andere Ort zu einem Lager und Auffangzentrum für die Vertriebenen geworden war, und dann weiter nach Westen, Richtung Brainard Lake. Von hier aus öffnete sich der Blick auf die Berge der Wilderness, und die Kandidaten beugten sich zu den kleinen Fenstern des Busses hinüber, um die Aussicht zu genießen. Die Szenerie war spektakulär, und es war ungewöhnlich, dass es in diesem Bild keine Menschen gab; die Felsenhänge waren so steil, dass sich nicht einmal die verzweifeltsten Flüchtlinge daran festklammern konnten. Aber die Berge waren bar jeden Lebens, abgesehen von verdorrenden Bäumen; die sich verlagernden Klimazonen hatten die Hänge in lebensfeindliche Orte verwandelt. Obwohl Dezember war, lag nur auf den höchsten Gipfeln Schnee. In Denver hatte es schon seit ein paar Jahren überhaupt nicht mehr geschneit.

Als sie sich dem Simulationsgelände näherten, sah Holle schwarzen, öligen Rauch aufsteigen. Schließlich näherten sie sich einem Gewirr von Wrackteilen, wie es schien, die über eine felsige Ebene verstreut waren.


25



Der Bus hielt, und die Türen öffneten sich zischend. Die Kandidatinnen und Kandidaten stiegen einer nach dem anderen aus und setzten den Fuß auf steinigen Boden. Außer Don, der eine Segeltuchtasche trug, hatten sie nicht mehr dabei als die Anzüge, in denen sie gekommen waren.

Die Türen des Busses schlossen sich wieder, und er fuhr davon, gefolgt von den anderen Fahrzeugen. Holle fragte sich, wo die Überwachungskameras waren. Aus Sicherheitsgründen würden sie permanent beobachtet werden, und Unterstützung würde nie sehr weit entfernt sein.

Die Kandidaten ließen den Blick über die verstreuten Wrackteile schweifen, die verbogenen Metall- und Kunststoffplatten und das Gewirr von Kabeln und Rohren. Überall lagen Vorratskisten, die man verstärkt hatte, damit sie dem Aufprall widerstanden. Jemand hatte ein Feuer angezündet, in dem mit lautem Knacken Plastik schmolz, die Ursache der schwarzen Rauchsäule. Ein besonders grausiger Anblick waren die zu Boden geschleuderten Dummys in Schutzanzügen, deren Kunststoffgliedmaßen in unnatürlichen Winkeln gebrochen waren. Manche von ihnen hatten die Größe sieben- oder achtjähriger Kinder, aber es gab auch zwei leuchtend orangefarbene, reisetaschenähnliche Säcke, die Babys Schutz boten. Dass Kinder ein Element solcher Übungen darstellten, war neu; es entsprach jedoch den jüngsten Äußerungen der Sozialingenieure ?ber Erziehung und Demographie, die alle aufger?ttelt hatten.

Don zog eine Plastikschiene aus seinem Gepäck und winkte Zane zu sich. »Gute Neuigkeiten, Kumpel, du bist ein Verletzter. « Resigniert legte Zane die Hand auf Dons Rücken, und Don trat zurück, während Zane auf dem Boden lag, das »verletzte« Bein vor sich ausgestreckt, und wandte sich an die Gruppe. »Okay. Eure Raumfähre hat hier auf der Erde II eine Bruchlandung gebaut. Ihr seht, dass eure Ausrüstung überall verstreut ist. Ihr seid weit von den anderen Shuttles entfernt, und es gibt keine Funkverbindung; auf kurze Sicht ist keine Rettung möglich. Der Luftdruck ist normal, die Schwerkraft hoch, aber man kann die Luft nicht atmen – sie ist säurehaltig. Lasst also eure Anzüge geschlossen. Wie ihr seht, gibt es Verletzte – Zane hier mit gebrochenem Bein –, aber auch ein paar Tote. Man hat mir gesagt, dass ihr weitere Verletzungen improvisieren und generell im Gedächtnis behalten sollt, was für Blessuren ihr nach so einer Bruchlandung hättet.«

Kelly nickte. »Klingt vernünftig.« Eifrig wie immer beugte sie sich zu einem der Dummys hinab, schnitt mit einem Taschenmesser ein Stück vom Bein seines Schutzanzugs ab und band es sich als Schlinge um den Oberkörper, um einen gebrochenen Arm zu improvisieren.

»Das ist alles, was ich weiß«, sagte Don. »Ich bin nicht hier. Die Übung beginnt jetzt.«

»Anzugdichtigkeitstest«, sagte Kelly sofort. »Immer zu zweit.«

Sie hätte das gar nicht zu sagen brauchen; die Lebenden am Leben zu erhalten, hatte oberste Priorität. Sie bildeten rasch Zweiergruppen, Holle mit Mel, Kelly mit Matt. Susan, Venus und Zane arbeiteten zusammen; die beiden Frauen kauerten über Zane, der auf dem Boden lag.

Holle führte eine schnelle visuelle Inspektion von Mels Anzug durch, suchte nach sichtbaren Schäden und überprüfte sein Brustdisplay. Um die Sache realistischer zu machen, klatschte sie Dichtungsmaterial aus einer Tube in ihrer Beintasche auf einen nicht vorhandenen Riss in seinem Nacken und füllte sein Luftreinigergemisch mit einem Beutel aus seinem Rucksack auf, den sie in einen Schlitz auf seiner Brust warf. Mel machte bei ihr dasselbe; er tat so, als würde er ein vermutetes kleines Leck flicken, indem er einen Anzugarm knapp unter dem Ellbogen abband.

Kelly, die mit dem Arm in der Schlinge dastand, schaute sich um und vergewisserte sich, dass alle fertig waren. In solchen Situationen nahm sie ganz selbstverständlich die Führungsrolle ein. »Okay, in den nächsten zehn Sekunden wird also keiner mehr sterben. Kümmerst du dich um dieses Feuer, Matt? Und jetzt zu den Verletzten. Susan, schau doch mal, was du für Zane tun kannst, ja? Ich sehe da drüben unter diesem Deckenhaufen einen Erste-Hilfe-Kasten. Und wir schauen uns die anderen Opfer in den Trümmern an. Achtet auf etwaige Verletzungen, die ihr euch zuzieht.«

»Ja, Mama«, sagte Venus Jenning, und sie lachten.

Holle kraxelte in den »Trümmern« der Fähre herum. Sie musste den Flammennestern ausweichen und zuckte vor den scharfen Kanten zurück, die von den Designern der Übung kunstvoll positioniert worden zu sein schienen, um einen unvorsichtigen Arm oder ein unvorsichtiges Bein zu erwischen. Geplauder und gedämpftes Gelächter drangen an ihr Ohr, als die Kandidaten sich in diese neueste einer langen Reihe von Puzzle-Übungen vergruben. Aber sie fand die Übung seltsam unangenehm. Manchmal glaubte sie, mit einem Übermaß an Fantasie begabt zu sein. Sie konnte sich eine Szene wie diese vorstellen, in den ersten paar Sekunden nach der Ankunft auf einer feindlichen Erde II, unter einem mit dunklen Wolken ?berzogenen, fremden Himmel, alle schwer geschockt, betroffen vom Verlust geliebter Gef?hrten, im Wissen, dass der Tod vielleicht nur noch Sekunden entfernt war, die Folge einer einzigen unvorsichtigen Handlung. Dann w?rde es keine solche muntere Zuversicht, keine leisen Scherze geben.

Sie stieß auf den Körper einer Frau, die mit dem Gesicht nach unten dalag, aufgespießt von einem Stück Metall, das ihren Bauch durchbohrt hatte. Holle überprüfte die Anzugmonitore der Frau, die größtenteils funktionierten, aber kein Lebenszeichen anzeigten. Sie zog ihren Überhandschuh aus, so dass ihre Hand nur noch in einem dünnen, hautengen Innenhandschuh mit feinen Pads an den Fingerspitzen steckte. Sie bohrte die Finger in einen Riss am Halsstück des Anzugs der Frau, spürte aber keinen Puls. Dann zog sie der Frau den Handschuh aus und versuchte, an ihrem Handgelenk einen Puls zu ertasten.

Sie trat zurück und versuchte, die Frau auf den Rücken zu drehen. Der »Körper« war schwerer als erwartet; vielleicht hatte man ihn zwecks Simulierung der angeblich höheren Schwerkraft mit Gewichten beschwert. Sie schob die Hände unter den Rumpf der Frau, streckte den Rücken und versuchte es erneut. Diesmal rollte die Frau herum, und Holle musste zurückspringen, als das Metallstück, auf dem die Puppe aufgespießt war, nach oben schwang. Der verbogene Splitter aus der Hülle des Shuttles hatte sich geradewegs in einen offensichtlich schwangeren Bauch gebohrt. »Heilige Scheiße.« Eine Sekunde lang spürte sie, wie es ihr den Hals zuschnürte; eine ekelhaft schmeckende Flüssigkeit stieg ihr in den Rachen. Aber sie schluckte schwer. Sie nahm ein Taschenmesser und schnitt den Anzug über diesem schwangeren Bauch auf. Dann drückte sie die Handfläche ihres blutbeschmierten Innenhandschuhs auf die Unterw?sche der Frau und lie? die Pads an den Fingerspitzen als Stethoskop arbeiten.

Kelly war neben ihr. »Alles okay?«

»Ja. Eine Sekunde lang hat’s mich echt erwischt.«

»Diese Sim-Designer sind Scheißkerle, was? Versuchen dauernd, uns reinzulegen. Aber du solltest auf keinen Fall in eine dieser Schutzmasken kotzen. Ich muss es wissen; ich hab gestern Morgen im NARC mein Frühstück ausgespuckt.«

»Wirklich? Wieso?«

Kelly zuckte die Achseln. »Hab wohl bloß was Falsches gegessen. Die sollten uns keine schwangeren Frauen zum Üben geben. Wenn wir auf dem Planeten landen, wird niemand schwanger sein.«

Kelly nahm es stets sehr genau mit dem Plan, wie immer er auch gerade aussah. Je nach Lage der Dinge war das eine Stärke oder eine Schwäche. Holle sagte: »Keine Schwangerschaften, wenn jeder sich an die Regeln hält.«

»Okay, okay. Du klingst wie Harry. Wir müssen uns auf alle Eventualitäten vorbereiten. Hast du da drin einen Herzschlag gefunden?«

»Nein.« Und Holle war dankbar dafür, dass ihnen die grausige Prozedur erspart blieb, den Körper in eine aufblasbare Unterkunft zu schleppen und einen Notkaiserschnitt auszuführen.

»Dann hilf mir lieber mal bei diesem Kleinen da drüben. Mein Arm, weißt du – typisch, dass ich mir die verdammten Gräten gebrochen habe …« Sie führte Holle zu einem weiteren »Opfer« hinüber, einer der kindergroßen Puppen.

In ihren Übungen kamen nun auch Kinder vor, weil die Sozialingenieure plötzlich verfügt hatten, dass Frauen, die zum Startzeitpunkt schwanger waren, an Bord der Arche gehen durften. Sinn der Sache war, die genetische Diversit?t mit m?glichst geringem zus?tzlichen Aufwand im Hinblick auf Volumen, Gewicht und Lebenserhaltung beim Start zu steigern; die Geburten konnten w?hrend des Fluges zum Jupiter mit Fernunterst?tzung der ?rzte auf der Erde erfolgen. Als Endresultat w?rden sie, sofern sie dem offiziellen Missionsplan folgten, eine kleine Gruppe Sieben- oder Achtj?hriger dabei haben, wenn sie zur Erde II gelangten. Diese einschneidende neue Regelung, die aus heiterem Himmel kam, w?hrend es nur noch zwei Jahre bis zum Startdatum waren, hatte zu wilden Spekulationen und sexuellen Rangk?mpfen unter den Kandidaten gef?hrt.

Der Kinder-Dummy lag über einer Hüllenstrebe. Sein Rückgrat war zweifellos gebrochen, und sein Oberkörper wurde von einer wirren Masse von Wrackteilen zu Boden gedrückt. »Bei dem armen Kind sind die Sim-Designer richtig in die Vollen gegangen«, sagte Kelly. »Sie sollten ein paar echte Achtjährige in diese Sims einbauen; die werden bei der Landung ja nicht alle ums Leben kommen.«

Holle lachte. »Wer würde uns schon seine Kinder anvertrauen? « Sie hockte sich neben den »Jungen«. Seine Brust war zerquetscht, und das Becken schien ebenfalls gebrochen zu sein. Sie begann mit dem grässlichen Ritual der Suche nach Lebenszeichen.


Schließlich waren sämtliche Körper überprüft. Die Leichen wurden aus den Trümmern getragen und ein paar Meter vom Zentrum der Bruchlandung entfernt nebeneinander auf den Boden gelegt und mit einer Plane zugedeckt.

Diesmal übernahm Mel die Führung. Er ließ den Blick über die konturlose Wolkendecke schweifen. »Wenn die Zeitmessung hier auf der Erde II der irdischen entspricht, ist es jetzt später Nachmittag, und wir sollten daran denken, unsere Unterk?nfte zu errichten. Morgen fr?h k?nnen wir die Leichen entkleiden und die sterblichen ?berreste beseitigen. M?chte jemand freiwillig die Grabrede halten??

»Ich mache das«, sagte Susan Frasier sanft.

Kelly schaute sich um. »Ich würde sagen, wir sollten in der Nähe des Wracks bleiben. Hier sind wir vor dem Wind geschützt, und wir müssen unsere Ausrüstung nicht durch die Gegend schleppen – das Wasser, den Luftaufbereiter, die Kisten mit Nahrungsmitteln. Hast du das Feuer gelöscht, Matt?«

»Ja. Keine giftigen Lecks, kein ausgelaufener Treibstoff – wir sind hier ziemlich sicher.«

Mel nickte. »Dann stellen wir hier die Unterkünfte auf. Ich führe eine Gruppe – Venus, übernimmst du die andere?«

»Klar.«

Sicherheit durch Redundanz: Das galt auf dem Boden ebenso wie im Weltraum. Obwohl eine der großen aufblasbaren Unterkünfte in der Fähre für die jämmerliche Handvoll »Überlebender« dieser simulierten Bruchlandung mehr als ausreichend gewesen wäre, legten sie also inmitten der simulierten Wrackteile pflichtbewusst zwei davon nebeneinander aus und zogen Stifte heraus, damit die Streben sich aufbliesen und geräumige, rechteckige Kuppeln formten. Die Unterkünfte waren leuchtend orangefarben, wie ihre Schutzanzüge, und bestanden aus widerstandsfähigem Kevlar über einer luftdichten Innenhülle. Es dauerte nicht lange, dann hingen die Unterkünfte an Stromaggregaten, Luftreinigern und Wasseraufbereitern, die sie aus dem Trümmern geborgen und auf Schäden überprüft hatten.

Mel entschied, dass Felshaken in den steinigen Boden geschlagen und die Kuppeln zum Schutz vor dem Wind mit Zeltschnüren gesichert werden mussten, aber die simulierten Strahlungs- und Ultraviolettwerte, die seine Sensoren lieferten, deuteten darauf hin, dass sie keine weitere Strahlungsabschirmung wie etwa eine Schicht Erdreich ?ber den H?llen brauchten. Also beschloss er, dass die Unterk?nfte der Moral halber miteinander verbunden werden sollten; einlagige Rei?verschlussklappen f?hrten zu einer gemeinsamen Luftschleuse.

Nachdem die Absturzstelle gesichert und die Unterkünfte befestigt waren, krabbelten die Besatzungsmitglieder mit Nahrungspäckchen und Kleidung zum Wechseln hinein. Don gesellte sich zu ihnen, womit er strenggenommen die Regeln der Simulation brach. Die beiden Paare – Mel und Holle, Don und Kelly – nahmen Alpha, wie Mel seine Kuppel genannt hatte, Zane, Venus, Susan und Matt Beta. Wegen Zanes Pseudo-Beinbruch musste er durch die Luftschleuse hineingehievt werden.

Holle und Mel krochen vergnügt in ihrer Unterkunft herum und verloren Kelly und Don bald aus den Augen. Mit ihrem geräumigen Innern war die Kuppel ein Meisterstück aufblasbarer Architektur. Zwischenwände unterteilten sie in keilförmige Sektoren, und in einer zentralen Säule konnte man einen Duschraum und eine Kombüse einrichten und die wissenschaftliche Arbeit bei der Erforschung der planetaren Umgebung erledigen, in der sie ihr Leben verbringen würden.

Doch all das konnte warten. Fast aufs Geratewohl entschieden sich Holle und Mel für einen Keilsektor, der ihnen als Wohnraum dienen würde. Das schräg abfallende Dach war in der Mitte gerade so hoch, dass man stehen konnte. Für Licht sorgten dicke Doppelscheibenfenster und ein hellleuchtendes Wandelement.

Sie warfen ihre Decken- und Kleiderbündel auf den Boden und sahen sich an. Mit dem Ratschen von Klettverschlüssen schob Mel seine Kapuze nach hinten, nahm die Schutzbrille ab ? sie hinterlie? rote Panda-Ringe um die Augen ? und zog die Maske vom Mund; sie l?ste sich mit einem saugenden Ger?usch von seiner Haut. Er strich sich mit der Hand ?ber das kurzgeschorene Haar. ?Gott sei Dank, endlich.?

»Du stinkst.«

»Und du schälst dich mit einem tollen, langsamen Strip aus einem Schutzanzug.«

»Perversling.« Sie packte ihn am Brustelement des Anzugs und zog; es löste sich widerstandslos, und dann schob sie seine Weste hoch.

Er machte sich bei ihr ans Werk, öffnete Reißverschlüsse, Schnallen und Schließen und riss Klettbänder auf. Sie waren darauf trainiert, schnell aus ihren Anzügen herauszukommen, wenn es sein musste, und binnen Sekunden waren sie nackt. Sein Glied war bereits hart, als er die Arme nach ihr ausstreckte, und sie kreischte auf und sprang an ihm hoch. Mit einem Stoß war er in ihr, und schon hatte sie die Arme um seinen Hals geschlungen, seine starken Hände lagen unter ihren Schenkeln, und er ging hin und her, bewegte die Füße, und die Schwerkraft ließ sie noch mehr verschmelzen. Dann fanden sich ihre Lippen, und sie sanken gemeinsam zu Boden.

Wie bei so vielen anderen Aspekten ihres Lebens war es auch beim Liebesspiel: Sie hatten fleißig geübt und beherrschten es nun aus dem Effeff.


Obwohl sie Mel seit ihrer beider dreizehntem Lebensjahr kannte, als Gordo Alonzo ihn und Matt Weiss in die Kandidatengruppe hineingedrückt hatte, waren sie erst vor kurzem, in den letzten paar Monaten, ein Paar geworden. Holle wusste immer noch nicht so recht, weshalb aus dem Strudel kurzer, intensiver Beziehungen, die wie ein Feuersturm in der Kandidatengruppe getobt hatten, als sie f?nfzehn, sechzehn, siebzehn gewesen waren, ausgerechnet Mel als ihr Partner hervorgegangen war. Ihre Beziehung war nie so augenf?llig gewesen wie die von Thomas und Elle, die schon von Kindesbeinen an ein Paar bildeten, oder die von Mike Wetherbee und Miriam Brownlee, die durch ihre Arbeit zueinander gefunden hatten. Holle war auch keine so uners?ttliche Testerin wie Cora Robles, die sich, angefangen mit dem armen, ungl?cklichen, loyalen Joe Antoniadi, durch die meisten ungebundenen M?nner im Kader gearbeitet hatte. Holle hatte sogar eine kurze, experimentelle Aff?re mit Kelly Kenzie gehabt, als sie bei einer W?stentrainings?bung auf dem Uncompahgre Plateau von den anderen abgeschnitten gewesen waren ? sie hatten es beide genossen, waren aber zu der Ansicht gelangt, dass einmal reichte. Vielleicht lag es daran, dass Mel von au?en kam; er hatte seine ersten zw?lf Lebensjahre mit seiner Air-Force-Familie in einer ganz anderen Umgebung verbracht als jener, in der Holle seit ihrem sechsten Lebensjahr aufgewachsen war. Vielleicht sehnte sich etwas in ihr danach, geerdet zu werden ? paradox f?r eine Frau, die wahrscheinlich den gr??ten Teil ihres Lebens zwischen den Sternen verbringen w?rde.

Sie lagen zusammen unter einem Deckenhaufen und tranken Fruchtsaft.

Und dann fingen sie noch einmal von vorn an. Diesmal arbeitete sich Holle nach oben. Sie hatte eine Variante der im Vierfüßlerstand ausgeführten Yogaübung namens »Katzenbuckel« entdeckt, die ihn verrückt machte.

Anschließend zogen sie frische AxysCorp-Overalls an, schnappten sich ein paar Verpflegungspakete und machten sich auf die Suche nach den anderen.

Wie Holle vermutet hatte, warteten Kelly und Don bei der transparenten Luftschleuse auf sie, dem schmalen Engpass, der die beiden Unterk?nfte verband. Zane und Venus waren auf der anderen Seite in Beta, deutlich sichtbar durch die ein wenig tr?ben transparenten Schleusenklappen. Zane sa? auf einem niedrigen Klappstuhl, das ?verletzte? Bein vor sich ausgestreckt; er teilte sich ein Paket warmen Essens mit Venus. Von Matt oder Susan war nichts zu sehen.

Offensichtlich hatten Kelly und Don die Gelegenheit ebenso genutzt wie Holle und Mel. Sie saßen aneinandergeschmiegt da, in Decken gehüllt, und tranken gemeinsam aus einer Plastikflasche. Kelly hielt Holle die Flasche hin. »Malt Whiskey. Hab ich im Anzug reingeschmuggelt.« Ihr blondes Haar war offen und fiel ihr in den Nacken. Ihre Augen waren schläfrig, auf ihren Lippen lag ein halbes Lächeln, und wo die Decke nach vorn gefallen war, zeigte sich die Krümmung ihres nackten Rückens.

Holle lächelte sie an. »Das nenne ich deinen Après-Sex-Look. «

»Na, du musst es ja wissen.«

Zane und Venus arbeiteten verbissen an ihrem Essen, den Blick gesenkt, und Holle bereute ihre Bemerkung.

Wann immer bei den Kandidaten die Sprache auf Sex kam, hielten sich Zane, Venus und Matt zurück oder verschwanden gleich ganz von der Bildfläche. Es war allgemein bekannt, dass keiner von ihnen je eine Beziehung mit irgendwem auf der Akademie gehabt hatte. Holle hatte sich eines Nachts im Flüsterton mit Kelly darüber unterhalten. Zane und Venus standen beide Harry Smith sehr nahe. Matt vielleicht auch. Kelly erklärte unumwunden, dass Harry ihrer Ansicht nach eine Art Harem unterhielt, zu dem sowohl Männer als auch Frauen gehörten. Holle vermutete, dass sie Recht hatte. Aber niemand aus dem »Harem« machte den Mund auf. Nun ja, es war deren Sache, ihre Kämpfe selbst auszufechten.

»Und wo sind Matt und Susan?«, fragte Mel.

»Matt ist allein«, sagte Venus. »Er arbeitet, glaube ich.«

Kelly runzelte die Stirn. »Er ist zu viel allein. Das wird man ihm ankreiden.« Auf der dicht bevölkerten Arche würde es vielleicht nicht möglich sein, sich abzusondern; man sollte freundschaftliche Kontakte pflegen.

»Und Susan ist rausgegangen«, sagte Zane unverblümt, mit einem Happen Essen im Mund.

»Wohin denn? Oh, Scheiße«, sagte Don. »Sie will sich doch nicht etwa mit Pablo treffen?« Pablo war etwas jünger als Susan und kam aus einem der großen IDP-Lager in der Nähe von Denver. »Sie sollte sich von Eye-Dees wie dem fernhalten.«

Kelly streckte die Hand unter ihrer Decke hervor und schlug ihm auf den fleischigen Arm. »Hör auf, dieses abscheuliche Wort zu benutzen.«

»Also, Präsident Peery benutzt es«, sagte Venus provozierend, den Blick auf Don gerichtet. »Deine Polizistenkumpels benutzen es auch – stimmt’s, Don?«

»Und, was ist schon dabei? Ist doch bloß ein Wort.«

»Hängst du immer noch mit diesen Bündlern rum?«

»Das ist doch wohl meine Sache«, gab Don scharf zurück.

Die Bündler waren ein quasireligiöses Netzwerk mit einem Weltbild, in dem das persönliche Überleben den höchsten Stellenwert besaß. Es entstammte den Kreisen der Superreichen, die sicher in ihren festungsartigen, eingezäunten Nobelsiedlungen und auf ihren riesigen Hochseeschiffen saßen. Im Gegensatz zu seiner Vorgängerin unterstützte Präsident Peery die Weltanschauung der Bündler und baute sie zur Rechtfertigung für den Umgang seines Regimes mit Flüchtlingen in seine Reden ein. Holles Vater meinte, die Menschen suchten nach theologischen Rechtfertigungen für die Grausamkeiten, die sie anderen der Umst?nde halber zuf?gen mussten, und genau die liefere ihnen Peery. F?r jemanden wie Don mochte das ein Trost sein.

Aber Venus sagte: »Alles, was die Bündler sagen, widert mich an.«

Don trank gelassen einen Schluck von dem Schnaps. »Alles, was du gehört hast, vielleicht. Willst du mal auf eine Patrouille mitkommen?«

»Hört auf damit«, sagte Zane scharf. »Wir werden zu viel zu tun haben, um uns zu streiten. Sie haben gerade eine Übung für morgen geschickt, die wir durchführen sollen.« Ein Laptop stand zu seinen Füßen. »Ich leite euch die Details weiter.«

Mel stöhnte. »Was für eine Übung?«

»Wir sollen eine nochmalige komplette Überprüfung des Startsystems der Orion-Stufe vornehmen. Der bisher getroffenen technischen Entscheidungen. Wir sollen mit einem retrospektiven Bericht über alles zurückkommen: der Einsatz von Polyäthylen gegenüber Aluminium als Belag für die Prallplatte, das zweistufige Stoßdämpfersystem, die nichtlinearen Instabilitäten, die auftreten, wenn sich der Plasmastrom einer Atomexplosion mit den von der vorherigen Explosion übrig gebliebenen turbulenten Abtragungsprodukten mischt. Wie wir die KI-Systeme so reduzieren können, dass sie zur Kapazität der für militärische Anforderungen entwickelten, gegen Strahlungsbelastungen unempfindlichen Chips passen, die wir benutzen müssen …«

Kelly runzelte die Stirn. »Was hat das mit der Sim zu tun? Die Orion-Stufe wird Lichtjahre hinter uns abgeworfen worden sein, wenn wir zur Erde II kommen.«

»Ja. Aber auch auf der Erde II werden wir von dem Moment an, in dem wir landen, wissenschaftliche Arbeit bewältigen müssen. Angefangen mit der Wissenschaft, wie man am Leben bleibt. Ich denke, sie wollten uns ein paar sinnvolle akademische Aufgaben stellen, die man unter diesen Bedingungen abarbeiten kann ? scharfes Nachdenken in Bodenanz?gen. Ach, und sie haben uns eine Schaukel gegeben. Eine Stunde pro Tag f?r jeden von uns, obligatorisch, in unseren Schutzanz?gen.?

Noch mehr Gestöhne. Aber man hatte festgestellt, dass eine Schaukel – nichts Komplizierteres als das Gartenspielgerät eines Kindes – eine gute Simulation des Flugerlebnisses mit einer Orion war; alle paar Sekunden gab es einen Beschleunigungsschub von ein paar Ge, wenn eine Bombe unter der Prallplatte explodierte: Schub, Schweben, Schub, Schweben, als würde man immer wieder vor und zurück schaukeln.

Kelly brachte das Gespräch rasch auf das Thema, das ihre kleine Welt beherrschte, seit die Sozialingenieure es ihnen aufgehalst hatten: dass frisch geschwängerte Frauen in die Besatzung aufgenommen werden durften. Auf ihre ehrgeizige, logische Art hatte Kelly schärfer über dieses Thema nachgedacht als alle anderen.

»Ist euch klar, was das für uns bedeutet? Überlegt mal. Du strengst dich an, du siehst den Starttag kommen, also suchst du dir zwei, drei Monate vorher aufs Geratewohl irgendeinen Hengst und lässt dir einen Braten in die Röhre schieben. Du glaubst, dass du dadurch deine Chancen verbesserst. Du planst alles so, dass du am Starttag noch im ersten Drittel der Schwangerschaft bist. Aber dann gibt’s einen Aufschub. Sagen wir sechs Monate, nichts Schwerwiegendes. Aber das ist dein Ende, denn wenn die Arche losfliegt, hast du einen Bauch wie ein Ballon, oder noch schlimmer, du hältst ein Kind in den Armen. Mach winke-winke und besuch einen Schwimmkurs.«

»Du redest vom Gebären«, protestierte Venus. »Vom Band zwischen Mutter und Kind. Den ursprünglichsten Aspekten unseres Menschseins. Wie kannst du so berechnend sein?«

»Weil uns die Sozialingenieure nun mal in diese Situation gebracht haben«, sagte Kelly grimmig. »Du musst das ernst nehmen, denn wenn du’s nicht tust, spielt irgendeine Schlampe da draußen, die genau weiß, was sie will, das Spiel besser als du und luchst dir deinen Platz ab.«

»Ganz gleich, was die Soz-Ings sagen, wir müssen doch nicht nach deren Pfeife tanzen …«

Ein Schrei ertönte.

Venus verstummte sofort. Es hatte sich wie ein Vogelschrei angehört, gedämpft durch die dicken Gewebeschichten der Unterkunft.

»Das war ein Mensch«, sagte Don.

»Susan«, meinte Holle.

Don sprang auf und entblößte dabei die Beine und den Hintern. »Gehen wir.«

Zane kämpfte mit der aufgeblasenen Schiene, die sein Bein umschloss. »Wartet – die Simulationsprotokolle …«

Don hatte eine Schusswaffe in der Hand. Sie musste unter der Decke gelegen haben. »Scheiß drauf.« Er lief zur Wand und zog an einer Schnellentriegelungs-Schlaufe; das Wandelement öffnete sich. Vor einem Hintergrund aus Bergen und dem halbdunklen Abendhimmel sah Holle Menschen und wehenden Rauch. Don stürmte hinaus, die Decke um die Hüften geklammert, die Waffe in der ausgestreckten Hand.


26



Die Kandidaten kamen aus den miteinander verbundenen orangefarbenen Kuppeln, die Decken um den Körper geschlungen. Außer Don war keiner von ihnen bewaffnet.

Holle versuchte, die Szenerie zu überblicken. Zerlumpte Menschen marschierten in einer Reihe wachsam auf die Unterkünfte zu. Sie waren bewaffnet, aber soweit Holle sehen konnte, nur mit Fackeln, Messern und so etwas wie Macheten. Es waren alles Erwachsene, aber in dem trüben Licht konnte Holle nicht erkennen, wie alt sie waren. Sie war nicht einmal sicher, ob es sich um Männer oder Frauen handelte. Sie fragte sich, wie sie an der Sicherheitsabsperrung der Akademie vorbeigekommen waren. Was sie wollten, war klar. Die Kandidaten besaßen hochwertige Unterkünfte, warme Kleidung und Decken, Nahrung, sauberes Wasser – ein Sammelsurium von Versorgungsgütern, die das Leben dieser Menschen von Grund auf verändern konnten.

In der Mitte der Reihe war Susan. Man hatte ihr den Overall bis zur Taille heruntergezogen, so dass ihre Unterwäsche zu sehen war, ihr weißer BH; sie mussten sie mit Pablo erwischt haben. Ihre Hände waren auf den Rücken gefesselt, und eine Frau, die ihre Haare um die Hand gewickelt hatte, zog ihr den Kopf nach hinten. Susan wirkte jedoch durchaus ruhig und schien unverletzt zu sein.

Don blieb stehen, die Schusswaffe in beiden erhobenen Händen. Seine Decke war heruntergefallen, so dass er nackt dastand. Sein K?rper war bleich. Er sagte nichts. Die anderen versammelten sich hinter ihm.

»Tut mir leid«, rief Susan. »Sie sind mir gefolgt, und als ich mich mit Pablo getroffen habe, haben sie uns beide geschnappt. Ich glaube, es geht ihm gut – sie haben ihn geschlagen …«

»Er lebt«, sagte die Frau, die sie festhielt, mit einem kalifornischen Akzent. Sie klang jung, vielleicht nicht älter als Susan selbst. »Wir sind keine Mörder. Wir haben bloß Hunger.«

»Das ist nah genug«, sagte Don.

Sie blieben stehen. Die Frau trat hinter Susan hervor, nur einen einzigen Schritt. »Wir wollen nur …«

Don schoss.

Der Kopf der Frau explodierte, eine karmesinrote Blume. Sie zuckte und stürzte zu Boden. Ihre Hand blieb in Susans Haare gekrallt, und Susan wurde auf sie hinabgezogen; sie schrie laut auf. Die anderen Banditen standen ein, zwei Sekunden lang schockiert da. In dieser Zeit arbeitete sich Don an der Reihe entlang, ein Schuss, zwei, drei, nur eine Kugel für jedes Opfer. Sie fielen in den Dreck, ihr Blut leuchtend rot. Bevor er den Vierten erwischte, löste sich die Reihe auf, und die anderen rannten davon. Don feuerte eine vierte, fünfte Kugel ab, aber sie waren bald außer Schussweite. Don hielt sich das bloße Handgelenk vor den Mund und begann zu sprechen; er musste ein Funkimplantat haben.

Holle war die Erste, die aus dem Schock erwachte. Sie lief zu der weinenden Susan, deren rechte Schulter und Brust mit verschmiertem Blut, einem helleren, fleischartigen Zeug und so etwas wie Knochensplittern bedeckt waren. Sie zerrte vergebens an ihrem Overall. Holle half ihr, die Arme in die Ärmel zu stecken.

Kelly stand vor Don, die Decke fest um den Körper geschlungen. »Du hast sie getötet«, sagte sie. »Ohne zu zögern.«

»Scheiß Eye-Dees«, sagte er ausdruckslos. Er atmete schwer, war ansonsten jedoch ruhig. Holle sah zu ihrem Erstaunen, dass er eine Erektion hatte.

Kelly starrte ihn an. »Manchmal glaube ich, ich kenne dich überhaupt nicht.« Und dann krallte sie abrupt die Hand in den Bauch und übergab sich. Sie krümmte sich zusammen, die Decke gab ihre Schultern frei, die blonden Haare fielen ihr ins Gesicht.

Venus eilte zu ihr. »Kelly? Kelly, Schatz? Was ist los?«

Kelly erschauerte und erbrach sich erneut; dünne Galle spritzte ihr in gewundenen Fäden aus dem Mund. Sie blickte zu Venus auf, zu Holle und dem nackten Don mit seiner Waffe. »Scheiße.« Sie wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. »Ich glaube, ich bin schwanger.«


27



SEPTEMBER 2039



Die Kandidaten bekamen die Anweisung, sich zur endgültigen Evakuierung der Akademie im ausgeweideten IMAX-Kino des alten Museums zu versammeln.

Als Holle zu dem Kino kam, schaute sie sich verzweifelt um. Im Saal herrschte Chaos; überall Cops, Soldaten der Luftwaffe und Heimatschutz-Heinis. Die Sitzreihen waren mit Menschen und ihrer hastig zusammengepackten Ausrüstung gefüllt. Inmitten der tristen Militäroutfits stachen die Kandidaten hervor wie bunte exotische Vögel.

Holle erspähte Kelly in der Nähe des Ausgangs. Bündel stapelten sich zu ihren Füßen. Don Meisel stand neben ihr; er trug eine Schutzweste der Polizei und hielt eine schwere automatische Waffe in den Armen. Wie Holle hatte auch Kelly ein Schild mit der Aufschrift »B-6« an der Brust, die Kennung des gepanzerten Busses, mit dem sie Denver verlassen sollten. Kelly trug ihr Kind, den gerade einmal zwei Monate alten Dexter, in einem knallroten Tragegestell auf der Brust. Sie schaukelte den kleinen Jungen und sprach leise auf ihn ein, während sein Vater sich angespannt und nervös umschaute. Beide waren gerade einmal einundzwanzig, aber die Elternschaft ließ sie älter erscheinen.

Holle drängte sich durch die Menge, ihren Rucksack auf dem Rücken, Kellys restliche Sachen – Babykleidung und Windeln – in großen Segeltuchtaschen in den Händen. Als sie bei den beiden anlangte, ließ sie die Taschen zu Kellys Füßen fallen. Da alle zu schreien schienen, musste auch sie die Stimme erheben, um sich verst?ndlich zu machen. ?Ich glaube, jetzt habe ich alles.?

»Danke, Holle, du bist eine echte Freundin.«

»Es war höllisch schwer, hierher durchzukommen. Warum haben sie die Abfahrtsstelle zum IMAX verlegt?«

»Ging nicht anders«, sagte Don. »Probleme am Haupteingang. Zu viele Leute wollen heute was von euch Kandidaten abhaben. Wir konnten nicht für eure Sicherheit garantieren. Deshalb musste es so laufen.«

Das klang nicht gerade beruhigend. Die Akademie wurde mitten im Chaos einer stadtweiten Evakuierung geräumt. Mel war schon weg; man hatte ihn zu der neuen Kandidatenunterkunft bei Gunnison vorausgeschickt. Sie wünschte, er wäre hier, damit sie sich gegenseitig unterstützen könnten, wie Kelly und Don. »Je eher wir in diesem Bus sitzen und die 285 entlangfahren, desto besser.«

»Ganz meiner Meinung«, sagte Don.

Kelly fragte: »Hast du schon was Neues vom Warp-Test gehört? «

»Noch nicht.« Inmitten der chaotischen Aufgabe Denvers blieb Projekt Nimrod hartnäckig auf seinem Kurs. Am heutigen Tag sollte ein unbemannter Test der Warp-Blasen-Technologie durchgeführt werden. Ein winziges Stück Antimaterie war in die Nase eines Ares-Trägers gesteckt worden, um in der Erdumlaufbahn eine Blase zu erzeugen. Die Blase würde mit Überlichtgeschwindigkeit davonfliegen, aber nicht, ohne zuvor von Beobachtern auf der Erde und von Instrumenten im Weltraum gesichtet worden zu sein. In einem Winkel ihres Bewusstseins machte Holle sich Sorgen wegen dieses wichtigen Meilensteins, auch wenn es nur eine Ablenkung von aktuelleren Problemen war.

Edward Kenzie und Patrick Groundwater kamen geschäftig herbei. Sie trugen beide AxysCorp-Overalls, an denen dieselbe Buskennung prangte wie bei Kelly und Holle. »Gott sei Dank.« Patrick packte Holle an den Armen und küsste sie. Holle fand, dass er bei jedem Treffen angestrengter, müder und grauer aussah. »Alles in Ordnung?«

»Mir geht’s gut. Nur … es ist ein Arbeitstag, und du trägst keinen Anzug.« Sie lachte gezwungen. »Dadurch wirkt alles so real.«

»Oh, und ob es real ist«, knurrte Edward Kenzie. »Und es wird mit jeder verdammten Sekunde realer.« Der pummelige, resolute Mann war wütend, dachte Holle, wütend auf die immer weiter vordringende Flut oder auf die wimmelnden Menschenmengen, die seine Tochter, seinen Enkel und sein Projekt in solche Gefahr brachten. Er horchte in einen Ohrstöpsel hinein. »Sie beladen jetzt unseren Bus. Die Nationalgarde hält diesen Ausgang frei. Aber sie haben die Kontrolle über den Haupteingang verloren, und in der Umgebung des alten Eingangs für Schülergruppen tobt eine regelrechte Schlacht. Nicht zu glauben, dass es so weit kommen konnte.«

»Tja, so ist das nun mal mit der Flut«, sagte Patrick. »Am Ende erreicht sie uns alle.«

Schließlich öffnete sich die Tür. Eine große, schwere Sicherheitsschleuse hatte den alten Kinoeingang ersetzt. Sie nahmen ihre Sachen und bildeten eine Schlange, die sich langsam vorwärtsbewegte. Zum ersten Mal seit dem Morgen sah Holle einen Schimmer Tageslicht. Geschrei drang an ihr Ohr.

Sie drehte sich um und warf noch einen letzten Blick in den Kinosaal. Von der Decke hing ein Wald von Drahtseilen und Flaschenzügen, an denen die Kandidaten bei Schwerelosigkeitssimulationen gehangen, Komponenten von Raumfahrzeugen zusammengebaut und sich mit R?cksto?pistolen hierhin und dorthin bef?rdert hatten. Sie dachte daran zur?ck, wie sie vogelgleich im Sturzflug herabgesaust waren, lachend, w?hrend ihre Tutoren vom Boden aus l?chelnd zugesehen hatten. Jetzt verlie? sie diesen sicheren Hafen, und es war ein f?r alle Mal vorbei mit solchen Spielen. Sie wandte sich ab und ging ins Tageslicht hinaus.


28



Draußen im Freien war der Himmel klar und so blau wie ein Vogelei; es war ein schöner Herbstmorgen in Colorado, wie man ihn den Alteingesessenen zufolge nur noch selten erlebte. Im Westen erhoben sich die Rockies, gelassen wie immer, erhaben über das menschliche Getümmel. Aber Holle war schockiert von dem heranflutenden Lärm und dem überwältigenden Gestank von Bränden.

Überall waren Menschen; sie standen Reihen von Cops und Soldaten der Nationalgarde gegenüber. Die Menge drängte sich um den Haupteingang auf dem Colorado Boulevard. Dem Evakuierungsplan zufolge sollten die Kandidaten in südlicher Richtung über den Boulevard abtransportiert werden, und sie sah, dass die Fahrbahn frei gehalten wurde, ein Korridor aus Zäunen und Stacheldraht, bemannt von alle paar Meter postierten Soldaten. Die Busse waren vorgefahren und warteten auf sie, dick gepanzert, die Fenster mit kugelsicheren Platten geschützt, mit waffenstarrenden Schießscharten. Auf der unlackierten Flanke ihres Busses stand ungelenk aufgemalt »B-6«.

Die Kandidaten wurden durch einen Maschendrahttunnel zur Kreuzung Colorado und 17th Avenue geschmuggelt, wo die Busse standen. Und plötzlich waren die »Feindseligen« da, wie Don sie nannte, gleich hinter dem Zaun, nur einen Meter von Holles Gesicht entfernt, größtenteils junge Männer, aber auch ältere Leute, Frauen und Kinder. Manche wurden vom gewaltigen Druck der Menschen hinter ihnen so fest gegen den Zaun gepresst, dass die Maschen sich in die Haut ihrer H?nde und ihres Gesichts gruben. Als sie die Kandidaten erkannten, erhob sich eine Art Gebr?ll. Die Menge dr?ngte noch heftiger nach vorn, und der Zaun geriet tats?chlich ins Wanken. Soldaten feuerten Warnsch?sse in die Luft.

Kelly wich zurück. »Du meine Güte.«

»Einfach weitergehen«, sagte Don leise. Er hielt sein automatisches Gewehr schussbereit in den Händen.

Edward Kenzie grunzte. »Strategische Fehler. Ihr seid viel zu nah am City Park mit seinen Eye-Dee-Lagern. Und wir hätten euch alle schon lange vor dem Evakuierungstag hier wegschaffen sollen.«

»Aber das sind nicht alles Eye-Dees«, widersprach Holle. »Schaut, der Bursche da trägt eine Polizeiuniform.«

»Alles bricht zusammen«, sagte Don düster. »Die großen neuen, befestigten Lager in den Rockies bieten einfach nicht genug Platz für alle. Selbst wenn man gestern noch Regierungsmitarbeiter war, Cop, Arzt oder Rechtsanwalt – wenn man bei den Block-Auslosungen verloren hat, steht man jetzt auf der anderen Seite dieses Zauns und ist auf einmal ein Eye-Dee, genauso wertlos wie alle anderen.«

Holle kannte den zugrunde liegenden Plan, die Reaktion der Stadt auf die finale Krise. Die Experten sagten zwar, es könne noch ein Jahr dauern, bis das Wasser tatsächlich über die Stufen des Capitols und die berühmte »Eine Meile hoch«-Gravur schwappte, aber Holle hatte gehört, dass man von den Wolkenkratzern in der Innenstadt aus schon nicht mehr nur die kahlen Gipfel der Rockies Front Range im Westen sah, sondern auch einen blaugrauen Schimmer im Osten, den Ozean, der Amerika ertränkt hatte. Und mit dem Kollaps der Oststaaten war Denver, die gr??te Stadt im Umkreis von tausend Kilometern und seit nahezu zwanzig Jahren Heimat der Bundesregierung, eine Insel f?r Fl?chtlinge geworden. Holle hatte Satellitenbilder der gro?en Transportwege gesehen, die von den endlosen Kolonnen in schlammige, braune F?den verwandelt wurden, jedes Pixel ein menschliches Wesen, Erwachsene, befrachtet mit Kindern und alten Leuten, Einkaufswagen und Schubkarren hinter sich herziehend.

Präsident Peery und seine Regierung waren bereits geflüchtet. Niemand wusste genau, wohin – vielleicht in den riesigen Bunker aus dem Kalten Krieg tief im Innern des Cheyenne Mountain. Die große Masse der Stadtbewohner, die Lotteriegewinner und diejenigen, die beschlossen hatten zu gehen, wurde nach Westen geführt, zu den neuen Festungen in den Rockies, Städten aus Zelten und Kunststoffhütten, die auf dem verbliebenen hoch gelegenen Gelände errichtet worden waren. Die offizielle Hauptevakuierungsroute verlief südlich von hier auf der Sixth Avenue, die dann zur US 6 wurde, und führte von dort über die Umgehungsstraße 470 zur I-70 und nach Westen. Holle und die übrigen Projekt-Nimrod-Leute wurden jedoch nach Süden geschickt, den Colorado Boulevard entlang durch Glendale nach Englewood. Von dort aus ging es dann auf der I-285 nach Südwesten, wo sich ihre Wege schließlich trennen würden: Die einen fuhren zum Komplex des Kontrollzentrums in Alma, die anderen zum Weltraumbahnhof bei Gunnison. Beide Zentren waren gut mit Proviant versorgt und befestigt worden.

Das war das Beste, was die Regierung in dieser finalen Notlage tun konnte, in der ihre Hauptstadt überrannt wurde und ihre Macht über die Menschen und deren Ressourcen zu bröckeln begann. So jedenfalls sah der Plan aus.

Aber Holle war immer noch nicht im Bus.

»Seht ihr diese Rauchsäule da drüben?«, sagte Kenzie in rauem Ton. »Sie brennen das State Capitol nieder. Ich finde diese Leute zum Kotzen. Sie sollten verdammt nochmal Flöße bauen, statt es an den Cops auszulassen, Sachen zu zerschlagen oder einen Haufen Kinder anzuschreien.«

Kellys Baby begann zu weinen.

Und der Zaun brach zusammen.


Holle sah das Glitzern von Drahtscheren. Das enorme Gedränge erledigte den Rest. Hunderte zerlumpter Gestalten ergossen sich in den Tunnel und fielen zu Boden. Die Soldaten reagierten auf gebrüllte Befehle; sie traten zurück und schossen in das Gewimmel. Blut spritzte, und das Geschrei vervielfachte sich. Aber die eigentliche Gefahr ging nicht von den Haufen gestürzter Menschen aus, sondern von jenen, die ihnen folgten, die auf den Beinen blieben und über sie hinwegstiegen, bewaffnet mit Messern, Knüppeln und Macheten.

Holle sah all das binnen einiger weniger verschwommener Sekunden. Sie stand schockiert da, die Hände immer noch um ihr Gepäck geklammert.

Dann wurde sie von hinten gewaltsam vorwärtsgeschoben, als die Buspassagiere aufschlossen, angetrieben von Don und den anderen Militärs. »Los, in die Busse! In die Busse! Lasst euren ganzen Kram liegen, steigt nur in die Busse!« Holle bemühte sich verzweifelt, auf den Beinen zu bleiben, sich vorwärtszubewegen. Ihr Rucksack wurde ihr im Gewühl vom Rücken gerissen. Sie wusste nicht, wo ihr Vater war.

Die Eye-Dees umzingelten sie. Jetzt kämpften Kandidaten mit Fäusten und Füßen. Sie sah, wie Wilson Argent in seinem bunten Kostüm die Faust ins Gesicht eines Eye-Dees trieb, der ihn aus der Schlange zu zerren versuchte.

Sie war jetzt nah bei den Bussen. Der erste setzte sich tatsächlich in Bewegung, die Türen und Fenster geschlossen, und fuhr zielstrebig weiter, während sich Menschen an seine Türen und sein gepanzertes Dach klammerten. Sie war nur ein paar Meter von B-6 entfernt, aber eine Menschenmasse versperrte ihr nach wie vor den Weg.

»Holle! Hier!« Es war ihr Vater. Über die Köpfe der kämpfenden Menge hinweg sah sie, dass er zum Bus gelangt war. Er klammerte sich mit einer Hand an eine Stange und streckte die andere nach ihr aus. »Holle! Nimm meine Hand! Na los!«

Holle stürzte sich ins Gewühl, schlug um sich und drängte sich durch. Wenn sie es bis zu ihrem Vater schaffte, konnte sie sich doch noch in Sicherheit bringen. Sie streckte den Arm aus. Seine Hand war einen halben Meter entfernt.

Irgendwo links von ihr schrie Kelly auf. »Lasst mich los!« Zwei Eye-Dees hielten sie gepackt. Sie schwang die Faust, aber da sie das Baby in seinem Tragegestell festhielt, konnte sie nur wenig ausrichten.

Holle überlegte keine Sekunde. Sie warf sich in den kämpfenden Mob. Der schiere Schwung trug sie an Kelly vorbei, die sich losriss. Holle verpasste einem Eye-Dee einen befriedigenden Fausthieb ins Gesicht – ein Mann mittleren Alters, sah sie, das Gesicht blutig und schmutzig, aber sauber rasiert, ein verwirrendes Detail.

Aber er ging nicht zu Boden. Er packte sie an den Schultern und zerrte sie einfach aus dem Handgemenge. Jetzt ergriffen weitere Hände ihre Arme und Beine, jemand bekam sogar eine Handvoll von ihren kurzen Haaren zu fassen, und sie wurde in ein Durcheinander aus zappelnden Körpern und Beinen geschleift, weg vom Bus, weg von ihrem Vater. Sie geriet in Panik und wehrte sich. Es hagelte Tritte und Schl?ge. Niemand reagierte auf ihre Schreie, weil alle Welt schrie.

Dann wurde sie inmitten des Mobs zu Boden geschleudert. Ein Gesicht zeichnete sich über ihr ab, das sauber rasierte Gesicht eines Mannes – der Mann, den sie anfangs angegriffen hatte. »Tut mir leid!«, brüllte er zu ihr herunter. »Tut mir leid! Ich tue das für meine Tochter. Versuch das zu verstehen …«

Sie spürte Hände an ihrem Hals, ihrer Taille. Die Kleider wurden ihr vom Leib gerissen.

Ein furchtbarer Schmerz explodierte in ihrem Kopf.


29



»Vielleicht solltest du lieber das da anziehen.«

Ein Windhauch in ihrem Gesicht. Etwas Hartes, Klobiges unter dem Rücken. Bruchstückhafte Eindrücke. Sie spürte, wie ihr Wasser über die Lippen in den Mund rann, abgestanden und säuerlich. Trieb da irgendjemand Spielchen mit ihr, Wilson oder Kelly vielleicht?

Aber sie war nicht im Schlafsaal. Sie schüttelte den Kopf, um dem Rinnsal zu entgehen, und stöhnte. Ihr Kopf tat weh.

Sie schlug die Augen auf und sah ein Stück blauen Himmel, zwischen den Mauern zweier hoher Gebäude. Das Wasser, das ihr ins Gesicht spritzte, kam aus einem Überlauf hoch oben an der Wand über ihr.

Angewidert rollte sie sich herum. Bei jeder Bewegung blitzten blendende Lichter in ihren Augen auf. Sie saß im Schmutz, auf Pflastersteinen. Und sie war bis auf die Unterwäsche entkleidet. »Scheiße.« Sie schloss die Arme über der Brust und dem Schritt.

»Ich hab gesagt, vielleicht solltest du lieber das da anziehen.«

Sie drehte sich um. Jemand saß im Schatten, an eine Mauer gelehnt. Er war barfuß und trug eine zerlumpte Jeans, eine Jacke mit einem fast zur Unsichtbarkeit verblassten Logo. Sein Haar war ein schwarzer Wust, und er hatte einen dünnen Bart. Er konnte nicht älter als siebzehn oder achtzehn sein. Er starrte ihr auf die Brust.

»Glotz mich nicht so an.«

»Na, du bist doch die mit den nackten Titten. Ich sag’s nochmal, du solltest das da anziehen.«

Sie schaute hin und sah einen Haufen schmutziger Kleider neben ihr, eine Art Overall, ein Unterhemd. Sie stanken. »Das Zeug gehört mir nicht.«

»Ich weiß. Der Kerl, der dich hier abgeladen hat, hat es dagelassen. Gehört seiner Tochter, hat er gesagt. Du würdest das schon verstehen.«

Sie starrte ihn an. »Wo sind meine Sachen?«

»Hat er mitgenommen. Der Kerl mit der Tochter. Schicke rotblaue Klamotten, stimmt’s? Dein Gesicht kam mir gleich bekannt vor. Du bist eine Kandidatin. Wie ist das so, berühmt zu sein?«

Sie hörte laute Rufe, den Klang von Trillerpfeifen, das Knistern und Knastern von Funkgeräten irgendwo in der Nähe. Hunde bellten. Verständnislos starrte sie den Kleidermüll an. »Dieser Kerl – dieser Mann. Was hat der sich dabei gedacht? Wollte er so tun, als wäre seine Tochter eine Kandidatin? Hat er wirklich geglaubt, damit irgendjemand täuschen zu können? Wir kennen einander. Unsere Familien, unsere Tutoren kennen uns – ihr kennt uns.«

»Schon richtig, ist aber irgendwie ’n chaotischer Tag heute, findest du nicht? ’ne Menge Leute werden heute am falschen Platz landen. Da kann man’s einem nicht übelnehmen, dass er’s probiert. Und er hat dir nicht viel getan. Hat dir sogar die Stiefel gelassen.«

Sie sah, dass es stimmte; ihre Füße unten an den nackten Beinen steckten noch in den blauen Plastikstiefeln.

»’türlich hab ich sie dir auch gelassen«, sagte der junge Latino. »Was soll’s, Blau ist eh nicht so meine Farbe.« Er lachte meckernd, und sie sah, dass in seinen Z?hnen gro?e L?cken klafften. ?Zieh jetzt deine Klamotten an.?

»Das sind nicht meine.«

»Na, das kannst du ja den Treibern erzählen, wenn sie kommen, oder? Die arbeiten sich Block für Block vor.« Er stand steifbeinig auf und wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab.

»Was für Treiber? Wo bin ich?«

»Ecke Garfield und East Colfax.«

Nur ein paar Blocks von City Park entfernt, wo das Museum war. Sie stand auf, ohne ihren dröhnenden Schädel zu beachten. Sie hörte, wie die Trillerpfeifen, die Hunde näher kamen. Wenn sie mit den Cops reden konnte, würden sie ihr vielleicht eine Eskorte mitgeben und sie zu ihren Leuten zurückbringen, und dieser Alptraum wäre vorbei.

Der Junge starrte sie erneut an. Sie konnte hier nicht in BH und Höschen herumstehen. Sie schnappte sich die schmutzigen, zerlumpten Kleider und zog sie an. »Heute Nacht spiele ich in einem Pornostreifen in deinem Kopf die Hauptrolle, was?«, fauchte sie.

Er zuckte die Achseln. »Hätte mir deine Stiefel nehmen oder dir sonst was tun können. Du warst komplett weg. Sei froh, dass ich dich gefunden habe. Hätte viel schlimmer für dich ausgehen können.« Die Pfiffe und das Gebell wurden lauter. Er drehte sich zum nördlichen Ende der Straße um. »Schätze mal, die kommen von da. Hör zu. Sag ihnen, du kannst Beton mischen.«

»Was soll ich ihnen sagen?«

»Merk’s dir einfach. Holla, da sind sie schon.«

Ein Trupp Soldaten, vielleicht von der Nationalgarde, kam am Nordende des Blocks um die Ecke marschiert. Sie trugen Schutzwesten und Helme, die ihr Gesicht verbargen. Holle sah ungläubig, dass sie ein Netz dabeihatten, das einem Fischernetz ?hnelte; es war an zwei Stangen aufgespannt und erstreckte sich ?ber die ganze Breite der Stra?e zwischen den Blocks. Hinter Holle brummten Motoren, und als sie sich umdrehte, sah sie einen gro?en, offenen Lastwagen, der am s?dlichen Ende des Blocks hielt. Weitere Soldaten sprangen ab und nahmen vor dem Wagen Aufstellung. Sie hatten Handfeuerwaffen dabei und schwangen Schlagst?cke, und ihre Hunde bellten und schnappten.

Nun begannen die Einheiten am Nordende, sich den Block entlang vorzuarbeiten. Nur Holle und der Junge standen auf der Straße, aber die Soldaten traten die Türen der Häuser zu beiden Seiten ein und befahlen den Bewohnern mit lauter Stimme, herauszukommen. Holle hörte Protestrufe, das Kläffen von Hunden, das Knallen von Schüssen – sogar ein dumpfes Krachen, vermutlich von einer Handgranate.

Nach und nach kamen die Leute aus den Häusern, einige zerlumpte Eye-Dees, die zweifellos Hausbesetzer waren, aber auch andere, die wie normale Bewohner aussahen, alte Leute, ein junges Paar mit einem Kind von ungefähr zehn Jahren. Manche hatten ihre Habseligkeiten dabei, andere kamen verwirrt und mit leeren Händen heraus. Es waren nicht viele, vielleicht zwanzig. Holle vermutete, dass die meisten bereits fort waren und sich dem offiziellen Exodus nach Westen angeschlossen hatten.

Eine Familie musste aus dem Haus geschleift werden. Ein Mädchen, noch ein Teenager, hielt ihren Hund umklammert, eine zottelige Promenadenmischung. Haustiere durften auf die Evakuierungsmärsche nicht mitgenommen werden. Vielleicht hatte sich die Familie deshalb geweigert, das Haus zu verlassen. Schließlich packte ein Soldat den Hund und schmetterte ihn gegen die Mauer. Der Vater hielt das schreiende und weinende Mädchen zurück.

Und das Netz glitt die Straße entlang, Schritt für Schritt, unerbittlich wie die Flut selbst, und trieb sie alle zu den wartenden Lastwagen.

Holle drängte sich durch die mürrischen Zivilisten zum Netz durch. Keiner der Soldaten sah wie ein Offizier aus. Sie konnte ihre Gesichter, ihre Augen hinter den Visieren nicht erkennen. »Hey! Können Sie mir helfen? Ich sollte nicht hier sein.«

Dröhnendes Gelächter ertönte. Die Soldaten gerieten nicht aus dem Gleichschritt, und Holle musste zurückweichen.

»Keiner von uns sollte hier sein, Lady. Was will man machen? «

»Ich bin Kandidatin.«

»Ja, so siehst du gerade aus.«

»Ich sollte in einem der Busse sitzen, die nach Gunnison fahren. Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Ich bin Holle Groundwater. Mein Vater ist Patrick Groundwater, der …«

»Ja, und ich bin Kelly Kenzies linke Titte. Jetzt steig mit den andern in den verdammten Lastwagen.«

Holle schaute sich um. Sie sah, dass die aus den Häusern getriebenen Menschen widerstandslos auf die Ladefläche des wartenden Lastwagens kletterten. Es war doch nicht möglich, dass dies wirklich passierte. Den anderen, ja. Aber nicht ihr. »Ich bin Kandidatin! Verdammt nochmal, hört mir zu, ihr Idioten …«

Ein Schlagstock kam aus dem Nichts, geschwungen von einer behandschuhten Hand, und traf sie mitten ins Gesicht. Sie wurde zu Boden geschleudert. Vielleicht eine Sekunde lang verlor sie erneut das Bewusstsein. Die Reihe kam auf sie zu, das schwere Netz schleifte über den Boden. Sie versuchte sich zu bewegen, konnte es aber nicht. Ein Tritt gegen die Brust stieß sie aus dem Weg, und sie rollte herum wie ein verrottetes Holzscheit.

Jemand zerrte an ihr. »Komm schon. Hoch mit dir. So ist’s gut …«

Sie stützte sich auf den Arm der Fremden, kam auf die Beine und schaffte es, ein, zwei Meter von der vorrückenden Linie wegzutaumeln. Aber jetzt war sie fast schon beim Lastwagen.

»Alles in Ordnung, Engelchen?« Die Frau, die ihr aufgeholfen hatte, war vielleicht sechzig Jahre alt, stämmig, mit einem Wust grauer Haare. Sie war in einen schweren Mantel gehüllt und trug einen Rucksack auf dem Rücken und festes Schuhwerk an den Füßen. Sie zumindest war auf diesen Tag vorbereitet gewesen.

Holle sagte: »In Ordnung? Ich …«

»Ich weiß. Bei wem ist heutzutage schon noch alles in Ordnung, was? Und jetzt ist es so weit gekommen.« Die Frau kletterte eine kurze Trittleiter zur Ladefläche des Lastwagens hoch. Sie langte nach unten und half Holle herauf. »Ich habe mit meinem Mann hier gelebt, schon vor der Flut, weißt du. Es war unser erstes Zuhause, aber wir hätten nie gedacht, dass wir hierbleiben würden. Irgendwas Schöneres in einem der Vororte, wenn wir’s uns leisten konnten. Davon haben wir geträumt. Und ein Traum ist es auch geblieben. Aber ich beklage mich nicht, und das hat Herb auch nicht getan, bevor ihn Fünfunddreißig die Schwindsucht dahingerafft hat. Wir hatten es besser als viele in dieser leidgeprüften Welt, nicht wahr?«

Weitere Zivilisten kletterten herauf, und die Soldaten schlossen die Ladeklappe. Holle schaute sich nach dem jungen Latino um. Er stand immer noch auf der Straße, umringt von Soldaten. »Was machst du da?«, rief sie.

Er zuckte die Achseln und trat einen Schritt vor. Sein Bein war verkrüppelt, und er hinkte stark. »Kann nicht laufen, kann nicht arbeiten. Konnte ich nie. Sonderbehandlung für mich. Denk daran, was ich dir gesagt habe.«

Der Motor des Lkws erwachte hustend zum Leben, und der Wagen fuhr ruckartig an. Als Holle zurückschaute, sah sie, dass die Soldaten darangingen, die Razzia im nächsten Block zu wiederholen, mit ihrem Netz, ihren Hunden und einem weiteren leeren Lastwagen. Und der Latino wurde weggeführt, dorthin, wo es dunkel war.


Holle stand mit den anderen hinten auf dem schwankenden Lastwagen. Der schwache Gestank der Biotreibstoff-Abgase stieg ihr zu Kopf, während sie nicht süd- und westwärts zur I-285 und nach Gunnison, sondern in die entgegengesetzte Richtung gefahren wurde, auf der East Colfax nach Osten und dann auf der Quebec Street nach Norden zur I-70, der Hauptroute aus dem Osten. Nach ein paar Blocks reihten sie sich in einen größeren Konvoi aus Lkws ein, die hauptsächlich Zivilisten transportierten; ein paar waren jedoch auch mit Soldaten und Ausrüstungsgegenständen beladen.

Überall sah Holle Truppen im Einsatz. Nationalgarde, Army, Heimatschutz und Polizei führten geordnete Ströme von Zivilisten nach Westen, trieben weitere Ausrangierte wie ihre Begleiter zusammen und verwickelten Widerstandsnester in Feuergefechte. Einmal sah sie Schneepflüge, die von Bergstraßen, wo kein Schnee mehr fiel, heruntergebracht worden waren und nun Menschen durch die Straßen der Großstadt trieben. Und sie sah, wie in verlassenen Stadtvierteln Feuer gelegt und Minen ausgebracht wurden. In Sandown, nahe der Bahngleise, sah sie das plumpe Profil eines Panzers.

Mary Green, die ältere Frau, die ihr geholfen hatte, glaubte zu wissen, was die Regierung vorhatte. »Sie haben Denver jetzt aufgegeben. Alle sind nach Westen gegangen, und die Stadt dient nur noch dazu, diese Flüchtlingsströme aus dem Osten aufzuhalten, die uns sonst nachjagen und alles wie Heuschrecken ?berschwemmen w?rden.?

»Deshalb bringen sie Minen aus? Um Menschen zu töten?«

»Na ja, die sollten nicht hier sein, nicht wahr?«, sagte Mrs. Green in nüchternem Ton. »Ganz egal, wo sie herkommen, das ist nicht ihr Zuhause und war es auch nie. Wir müssten erst in mehreren Monaten wegziehen, wenn das alles nicht wäre. Nein, sie hätten zu Hause bleiben und Flöße bauen sollen. «

»Wohin fahren wir?«

»Ich denke, das werden wir bald rausfinden, Engelchen.«

Der Lastwagen erreichte einen Zubringer zur I-70 und bog nach Osten ab. Auf der einen Spur, die offen gehalten wurde, waren Militärfahrzeuge unterwegs. Auf den anderen Spuren marschierten Ströme von Fußgängern unaufhaltsam nach Westen, beaufsichtigt von Soldaten und Cops in Pkws und Lkws.

Sie erreichten die Kreuzung der I-70 mit der E-470, Denvers zusammengestückelter Umgehungsstraße. Die Kreuzung war jedoch mit Dynamit gesprengt worden, die Überführungen waren eingestürzt und die Fahrbahnen durch Trümmer blockiert. Ein Drahtzaun mit Geschütztürmen zog sich in nördlicher und südlicher Richtung an der 470 entlang, auf der keinerlei Verkehr herrschte. Hinter dem Zaun sah Holle weitere Stacheldrahtbarrieren und sich bewegende Gestalten, die sich als Silhouetten gegen den Osthimmel abhoben, und sie hörte fernes Geschrei.

Die Lastwagen hielten, und sie mussten absteigen.

»Hilf mir mal, Engelchen, ich bin schon ganz steif vom ewigen Stehen.«

Die Leute aus den Lastwagen mussten eine Schlange bilden und wurden zu einer Art Palisadenzaun aus Stahlträgern und Betonplatten gef?hrt, der sich ?ber den Highway spannte; er ?hnelte einer Mautstelle. Holle sah, dass sie nach einer raschen Beurteilung in vier Reihen sortiert wurden. Die Menschen bewegten sich unterw?rfig vorw?rts und f?gten sich dem ?ber sie verh?ngten Urteil.

Holle und Mary Green stellten sich zusammen in die Schlange. »Warum sind Sie nicht mit den anderen nach Westen gegangen, Mrs. Green?«

»Jeder von uns muss das Seinige tun. Hast du die letzte Rede des Präsidenten nicht gehört? Man muss bis zu den Rockies marschieren. Dann muss man helfen, neue Städte zu bauen, und so weiter. Das kann ich nicht mehr, in meinem Alter. Aber ich konnte ja auch nicht einfach zu Hause sitzen bleiben, nicht wahr? Also bin ich hier und tue mein Bestes, um die anderen zu beschützen. Der Präsident hat versprochen, uns zu helfen, sobald die Krise vorbei ist.«

»Andere beschützen? Wie denn?«

»Es gibt mehr als eine Methode, einen Krieg auszufechten.« Mary Green musterte sie. Der Staub der Straße klebte an ihrem Gesicht, das mit einer dicken Schicht Sonnenschutzcreme überzogen war, und ihre Stimme wurde streng. »Du hast keine Ahnung, wovon ich rede, nicht wahr? Vielleicht bist du wirklich eine Kandidatin. Mir kam’s schon immer so vor, als würden sie diesen Kandidaten nichts Nützliches beibringen. Ich weiß nicht, was sie mit euch vorhaben, niemand weiß das. Aber was für einen Sinn hat es zu überleben, wenn man keine Ahnung hat, was wirklich zählt?«

Sie näherten sich den Tischen. Holle lauschte den kurzen Befragungen und bekam einen ungefähren Eindruck davon, was hier vorging. Jede Person wurde von einem Polizisten und einer Ärztin, wie es schien, ins Verhör genommen. Sie notierten den Namen, stellten Fertigkeiten fest und f?hrten einen fl?chtigen Gesundheitscheck durch. Eine Identifizierung nach biologischen, retinalen oder anderen Merkmalen fand nicht statt. Wenn man irgendwelche Papiere hatte, zeigte man sie vor. Die ganz Alten, die ganz Jungen und die Behinderten wurde in einer Kolonne zu einer Reihe von H?tten am Stra?enrand gef?hrt. Sonderbehandlung vielleicht. Die relativ Jungen und Gesunden sortierte man in zwei Gruppen. Eine wurde in einen Hof gebracht, wo man ihnen Waffen aush?ndigte, wie Holle sah ? nur Kn?ppel, Spie?e und Messer, keine Schusswaffen ?, und ihnen ein rudiment?res Kampftraining angedeihen lie?. Die andere wurde auf dem gesperrten Highway zu den provisorischen Befestigungsanlagen gef?hrt. Ein Bautrupp?

Mrs. Green trat vor Holle an den Tisch und wurde als zu alt zum Bauen oder zum Kämpfen eingestuft. Darum wurde sie der vierten Kolonne zugeteilt – dem »Ehrenkorps«, wie der Polizist es nannte. Er gab ihr ein Abzeichen zum Anstecken. Sie lächelte Holle an. »Sieh einer an, mein eigenes kleines Abzeichen. Sogar mit Sternenbanner.«

»Passen Sie auf sich auf, Mrs. Green.«

»Ich glaube, dafür ist es zu spät, Engelchen. Viel Glück.«

Holle trat an den Tisch vor. Der Polizist musterte sie. Er war vielleicht vierzig Jahre alt und hatte eine blau-rote Narbe auf einer Wange. Er trug eine Uniform, jedoch ohne ein Abzeichen oder eine andere Erkennungsmarke. »Name?«

»Holle Groundwater.«

Er lachte nur. »Die vierte heute. Hast du Papiere?«

»Nein.«

»Da rüber zur ärztlichen Untersuchung.«

Sie erwog, sich zu weigern, auf ihren Rechten zu bestehen, aber sie war von Leuten mit Schusswaffen und Schlagstöcken umgeben. Sie trat einen Meter nach links, wo die Frau, die wie eine ?rztin aussah ? sie war nicht ?lter als drei?ig ?, sie anl?chelte. Die Frau krempelte Holles ?rmel hoch, f?hlte ihr den Puls, ma? ihren Blutdruck, nahm eine winzige Blutprobe und lie? sie in einen Beutel pusten.

Der Polizist redete weiter. »Wahrscheinlich erzählst du mir gleich, deine Kumpels seien mit der Air Force One weggeflogen und hätten dich zurückgelassen, stimmt’s?«

Holle überlegte. »Nein.«

»Was machst du dann?«

»Beton mischen.«

»Wirklich?« Er lachte, dann sah er sie nüchterner an. »Wo hast du gearbeitet?«

»Zuletzt auf den Schutzwällen um die Akademie. Ich meine, um das Naturkundemuseum. Im Park, wissen Sie?« Sie zwang sich zu einem Grinsen. »Jeden Tag hab ich die Kandidaten gesehen. Hochnäsige Arschlöcher. Sie können’s mir nicht übelnehmen, dass ich’s versucht habe.«

»Okay.« Er machte zögernd einen Haken in ein Kästchen auf seiner Liste. »Sagst du mir jetzt deinen richtigen Namen?«

»Vielleicht lieber nicht. Es gibt Leute, die nicht zu wissen brauchen, dass ich hier war.«

Er machte einen weiteren Haken. »Okay, Jane Doe, deine Sache. Dritte Reihe, hinter mir.«

Sie sah erleichtert, dass es die Schlange der Bauarbeiter war, wie sie sie fürs Erste genannt hatte. Die meisten waren jungen Männer. Einige trugen sogar Helme und Werkzeugkästen. Sie fing sich ein paar schiefe Blicke ein, aber niemand rief sie zurück. Vermutlich war sie nicht die einzige falsche Hilfsarbeiterin, Maurerin oder Elektrikerin in dieser Schlange.

Sie schlurfte zusammen mit den anderen vorwärts.


30



Der Bautrupp verließ die Kreuzung und marschierte auf der schnurgeraden E-470 vielleicht einen halben Kilometer weit nach Süden.

Holle erhaschte hin und wieder einen Blick auf den Wirrwarr von Befestigungsanlagen östlich des Straßenverlaufs. Alles, was dort einmal gestanden hatte, war zerstört oder planiert worden, so dass eine hundert Meter breite Narbe in der Landschaft zurückgeblieben war. Diese freie Fläche wurde von mehreren hintereinander angeordneten Stacheldrahtzäunen und massiven Betonblöcken von Holles Größe eingenommen, die in unregelmäßigen Reihen wie Panzersperren aufgestellt waren. Überall wimmelte es von Menschen; sie standen oder saßen in großen Gruppen schweigend beieinander oder marschierten zielstrebig irgendwohin. Einige trugen Uniform. Die eindrucksvollste Befestigungsanlage war ein Graben, in dem ganze Bagger Platz gefunden hätten. Er wurde von einem steilen Hang auf der näher liegenden und einem flacheren Hang auf der anderen Seite eingefasst. An seinem diesseitigen Rand hatten Gruppen von MG- und Scharfschützen Stellung bezogen. Holle verstand den Grundgedanken; wenn man von Osten kam, stolperte man hinein, ohne es richtig zu merken, und war bis zum Boden des Grabens den Waffen ausgesetzt, aber man würde nur unter großen Schwierigkeiten an diesem steilen Westhang emporklettern können und dabei direkt vor den Mündungen der Waffen landen. Es war wie ein Schanzwerk aus der Zeit der Stahlgewitter.

Dann kamen sie zu einer leichten Anhöhe, und Holle konnte weiter nach Osten schauen, an der Linie der alten I-70 entlang und über die jenseitige Grenze der Befestigungen hinaus. So weit das Auge reichte, war die Straße voller Menschen, ein graues Band, ein Menschenstrom, der auf dem Highway in Richtung Denver flutete, sich auf die Bankette ergoss und unter den ramponierten Straßenschildern hindurchquoll. Das war die Invasionsarmee, die mit all diesen Verteidigungsanlagen abgewehrt werden sollte. Sie hörte ferne Gewehrschüsse und das Krachen von Granaten.

»Du bist also die Betonmischerin«, sagte eine männliche Stimme in ihrem Rücken. »Ich hab in der Schlange direkt hinter dir gestanden.«

Sie drehte sich um. Der Mann trug einen geflickten AxysCorp-Overall; er war vielleicht fünfzig Jahre alt, sah jedoch kräftig aus, wie ein Farmer, mit großen, schmutzverkrusteten Händen. »Na und?«, sagte sie trotzig. »Wollen Sie mich verpfeifen?«

»Ich doch nicht. Ich hab nicht viel Ahnung vom Bauen.« Er schaute auf seine großen Hände. »Aber ich hatte eine kleine Farm am Ostufer des Back Squirrel Creek. Ich bin’s gewohnt, mit den Händen zu arbeiten. Einen Graben ausheben oder einen Zaun ziehen, das kriege ich schon hin, glaube ich. Jedenfalls bin ich lieber hier als in den Kampfeinheiten oder im Ehrenkorps. «

»Was ist das Ehrenkorps?«

»Schau.« Er zeigte auf eine große Gruppe von Menschen, die unmittelbar vor den Befestigungen teilnahmslos auf dem Asphaltband des Highways saßen. »Wenn unsere Eye-Dee-Freunde den Zaun überwinden, werden sie sich da durchkämpfen m?ssen. K?nntest du mit der Machete auf einen behinderten Jungen im Rollstuhl losgehen? Es ist ein menschlicher Schutzschild, eine alte Taktik, die Saddam Hussein perfektioniert hat ? na ja, von dem hast du vermutlich noch nie was geh?rt. ?

»Funktioniert nie im Leben«, sagte jemand, ein stämmiger Mann mit einem Helm. »Wenn die Eye-Dees sich durch die Nationalgarde gekämpft haben, machen sie doch vor denen nicht halt.«

»Aber sie sind keine Ungeheuer«, wandte der Farmer sanft ein. »Sie sind wie wir. Amerikaner.«

»Ich sag euch, was ich täte. Ich würde mir die Burschen an der Spitze schnappen, ihnen eine Knarre in die Hand drücken und sie umdrehen. Das würde funktionieren, sollen sie sich doch gegenseitig abmurksen. Scheiß-Eye-Dees …«

»Sieht so aus, als hätte ich dich gerade noch rechtzeitig gefunden. «

Holle fuhr herum. Kelly stand direkt hinter ihr, in einem tristen, olivgrünen Overall, ein Gewehr in der Hand, ein Handy ans Ohr gedrückt. Holle verspürte eine sonderbare Mischung intensiver Gefühle und zugleich eine Art Enttäuschung. Sie merkte, wie der Farmer von ihr zurückwich, während er sie beobachtete. Sie umarmte Kelly. »Du bist mich holen gekommen.«

»Tja, du hast mir doch die Taschen mit den Windeln gebracht«, sagte Kelly. »Komm, Mel wartet in einem Jeep hinter den Abfertigungstischen. Wir können die Busse noch einholen, aber wir werden querfeldein fahren müssen.«

Sie eilten an der Schlange entlang zurück. Kelly hatte einen Passierschein, den sie den Aufsicht führenden Soldaten und Cops immer wieder vorzeigte. Holle blickte sich um, hielt Ausschau nach dem Bauern und nach Mrs. Green in den Schutzschild-Einheiten, sah sie aber nicht. Es war kaum zu glauben, wie verloren sie sich nur Sekunden zuvor gef?hlt hatte.

»Wie hast du mich gefunden?«

»War nicht leicht«, rief Kelly. »Du wärst überrascht, wie viele Holle Groundwaters heute hier durchgekommen sind. Aber du hast die richtige Entscheidung getroffen, dich in den Bautrupp zu mogeln. Wärst du an die Front geschickt worden, in diesen verdammten Ersten Weltkrieg, den sie da draußen inszenieren, wäre ich nicht an dich rangekommen. Ich hätte aber gern gesehen, wie du Beton mischst. Ha! Ach, übrigens, es hat geklappt. «

»Was denn?«

»Der Warp-Test. Wir haben’s gesehen. Oder vielmehr, Venus und die Planetensucher in Alma haben’s gesehen. Die optische Verzerrung – die Gravitationslinse, als die Blase vor dem Mond vorbeigezogen ist – es war unverkennbar. Sie haben einen Clip an die Busse geschickt.«

»Mein Gott.« Holle schaute zum Himmel hinauf und versuchte sich das relativistische Wunder vorzustellen, das sich hoch über ihr ereignet hatte, genau am selben Tag wie die urbanen Schrecknisse, die sie durchgemacht hatte. Es schien nicht zusammenzupassen, als könnte unmöglich beides zugleich stimmen. Entweder das eine oder das andere musste falsch sein.

Schüsse aus automatischen Waffen knatterten. Kelly zerrte sie zu Boden. Holle schlug schwer hin; ihre alten blauen Flecken taten weh.

Und dann ging eine Bombe hoch, eine mächtige, überwältigende Detonation. Der Boden erbebte, und heiße Luft strich über sie hinweg. Holle stellte fest, dass sie von Staub bedeckt war; ein dröhnender Lärm, der ganz aus der Nähe kam, erfüllte ihre Ohren.


Kelly bewegte sich und half Holle auf die Beine.

Nicht alle hatten so schnell reagiert wie Kelly. Überall um sie herum waren Leute zu Boden geschleudert worden. Ihre Münder bewegten sich, aber Holle konnte ihre Stimmen nicht hören.

Ein metallisches Glitzern zu ihrer Rechten, draußen an der Linie des Highways im Osten, lenkte sie ab. Der Angriff auf die Kreuzung schien das Signal für einen Vorstoß des Eye-Dee-Heeres gewesen zu sein. Sie hieben sich ihren Weg durch die Reihen der Wehrpflichtigen-Armee der Stadt, ein grauer Schwarm, der durch die braunen Linien flutete, erkennbar am Funkeln der Messer und Macheten, die in der Morgensonne auf- und niederfuhren, und an den emporsteigenden Rauchwölkchen der Schusswaffen.

Kelly zerrte an ihrem Ärmel und schrie ihr ins Gesicht, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Kellys Gesicht war staubverkrustet, Blut rann ihr aus dem Mund, und ihr Haar war eine verfilzte Masse. Holle hörte kein Wort von dem, was sie sagte.

Von der Kreuzung aus, wo die Bombe explodiert war, wälzte sich eine Mauer aus Staub die 470 entlang und trieb Menschen wie Vieh vor sich her.

Sie drehten sich um und rannten los.


31



AUGUST 2041



Im Innern bestand das kastenförmige Bürogebäude in Alma aus Gängen, Büros und Computerräumen, die vom Summen einer Klimaanlage erfüllt waren. Grace fühlte sich an Einrichtungen wie die Brücke oder den Maschinenraum an Bord von Lammocksons Arche Drei erinnert, jenem Schiff, das sie erst an diesem Morgen verlassen hatte und zu dem sie nie mehr zurückkehren würde.

Sie und Holle Groundwater begegneten niemandem, bis sich der Gang zu einem Raum mit Gruppen von Stühlen, Mikrofonen und Bildschirmen vor einer Glaswand öffnete. Durch das Glas sah Grace einen größeren Saal, der ein Stück weit in den Boden eingelassen war, so dass sie auf Reihen von Menschen vor Konsolen hinabschaute, über deren helle Monitore Texte und Bilder liefen. Zwei riesige Bildschirme nahmen die Wand vor ihnen ein. Auf dem einen sah man eine von diversen Bahnen überzogene Weltkarte, die Kontinente blau umrissen, noch existierende hoch gelegene Gebiete leuchtend grün. Auf dem zweiten lagen konzentrische Kreise um einen hellen Punkt; jeder Kreis war mit einer Scheibe markiert. Gary hatte in seinem amateurhaften Bildungsprogramm immer einen Schwerpunkt auf die Naturwissenschaften gelegt. Grace erkannte, dass sie eine Karte des Sonnensystems vor sich sah.

Holle beobachtete sie neugierig. Grace kam sich in dieser technologischen Höhle völlig deplatziert vor; sie trug immer noch die Kleidungsst?cke, die sie an diesem Morgen auf der Arche Drei angezogen hatte, und ihre mickrige Sammlung von Habseligkeiten war ein f?r alle Mal verloren.

»Das hier ist das Nervenzentrum unseres Projekts«, sagte Holle.

»Was ist das?«

»Das Kontrollzentrum. Wir führen gerade eine Simulation durch …«

»Und das hier?« Grace hielt den Schlüsselring mit der Kugel hoch, den Gordo ihr gegeben hatte.

»Unser Raumschiff.« Holle lächelte; eine elementare Menschlichkeit schien hinter ihrer vom Konkurrenzdruck geprägten Reserviertheit auf. »Komm. Du siehst aus, als könntest du einen Kaffee brauchen. Dann reden wir darüber, wie Harry Smith getötet wurde. Und ich erzähle dir, wie wir hier angefangen haben.«


Das Restaurant war karreeförmig und schlicht und erinnerte Grace an eine der Abfütterungsstationen auf der Arche Drei. Holle ging Kaffee holen, und Grace setzte sich an einen Tisch mit Kunststoffplatte und schaute sich um. Wenn man etwas essen wollte, bediente man sich selbst aus großen Töpfen und von großen Platten; Getränke gab es im Automaten. Die Speisen türmten sich zu wahren Bergen. Das Hauptgericht schien eine Art Chili aus echtem Fleisch zu sein, nicht aus dem haltbar gemachten Fisch oder Seetang, den Grace die letzten paar Jahre an Bord der Arche Drei gegessen hatte. Von dem Geruch bekam sie Hunger; sie hatte nichts mehr zu sich genommen, seit sie vor Stunden, die sich wie Tage anfühlten, von der Arche Drei weggebracht worden war. Und ihr alter Walker-Instinkt sagte ihr noch immer, dass sie essen sollte, was es gab, wenn es etwas gab. Aber sie hatte einen Knoten im Magen, und sie fragte sich, ob das Essen nicht zu gehaltvoll f?r sie war.

Die Wände waren kahl und ungestrichen. Alles war funktionell, es gab nichts Dekoratives. Eine Wand wurde von einer riesigen Uhr beherrscht, auf der ein Countdown lief:

124 TAGE 6 STUNDEN 12 MINUTEN 14 SEKUNDEN 124 TAGE 6 STUNDEN 12 MINUTEN 13 SEKUNDEN 124 TAGE 6 STUNDEN 12 MINUTEN 12 SEKUNDEN

Und da war wieder dieser Spruch, den sie schon über der Eingangstür gesehen hatte:

Nunmehr wird ihnen nichts unmöglich sein, was immer sie sich vornehmen. 1. Mose 11,6.

Eine große, animierte Karte unter der Uhr und dem Spruch zeigte den nordamerikanischen Archipel. Grace hatte ein ganz ähnliches Display auf der Arche Drei gesehen, obwohl die schon etwas älteren Prozessoren des Schiffes kein Bild von dieser Qualität projizieren konnten. Hier in Colorado befand sie sich tatsächlich auf der größten noch existierenden zusammenhängenden Insel, einer Insel, die von den Rockies beherrscht wurde und deren Ausläufer sich in die alten Hochlagen der Nachbarstaaten Idaho und Wyoming im Norden sowie Nevada, Arizona und New Mexico im Süden und Westen erstreckten.

Auf dem Meer im Osten, das auf der Restaurant-Karte täuschend nichtssagend aussah, brannte und sank vielleicht jetzt gerade das Schiff, auf dem sie sechs Jahre ihres Lebens verbracht hatte, kämpften und starben die Menschen, mit denen sie zusammengelebt hatte. Sie wusste nicht genau, was sie dabei empfand. Es war nicht ihre Entscheidung gewesen, auf dem Schiff zu sein, und sie hatte auch nicht beschlossen, es am heutigen Tag zu verlassen und hierherzukommen.

Doch all das war bedeutungslos. Die Flut sammelte sich um dieses letzte Überbleibsel von Amerika. Und sie war hier, mit dem Baby, das in ihr wuchs. Es war so, wie Gordo Alonzo gesagt hatte. Egal, wie sie hierhergekommen war, sie musste an ihr eigenes Überleben und das ihres Babys denken.

Holle brachte ihr einen angeschlagenen Becher mit Kaffee. Grace nippte daran; sie konnte sich nicht erinnern, je einen so aromatischen Kaffee getrunken zu haben.


»Ich untersuche also einen Mord. Sag mir, wer gestorben ist«, verlangte sie ohne Umschweife.

Holle stützte die Ellbogen auf den Tisch, faltete die Hände und sah sie offen an. »Ein Mann namens Harry Smith. Einer unserer Tutoren.«

»Was hat er unterrichtet?«

»Er hatte allgemeinere Aufgaben. Unterstützung bei der Entwicklung der Persönlichkeit. Er war so was wie ein übergeordneter Berater.«

»Wie ist er gestorben?«

»Ein Unfall in Gunnison. Im Weltraumbahnhof. Der Test einer Pulseinheit ist schiefgegangen. Es gab eine Explosion.«

Grace würde herausfinden müssen, was eine »Pulseinheit« war. »Dieser Smith ist also bei der Explosion umgekommen? Warum glaubt man, dass es Mord war?«

»Weil jemand die Einheit manipuliert hat. Der Test fand mit konventionellen, also nicht-nuklearen Sprengstoffen statt. Aber die Detonationsprodukte sollten wie bei einer richtigen Orion-Pulseinheit geformt sein.« Sie stellte mit den Händen ein zylindrisches Gebilde dar. »Die Verdampfungsprodukte konzentrieren sich axial, was die Impuls?bertragung auf die Prallplatte erleichtert ??

»Wer hat herausgefunden, dass diese Einheit manipuliert worden war?«

»Zane Glemp. Er ist einer von uns, einer der Kandidaten. Er hat spezielle Studiengebiete – so wie wir alle. Wir beschäftigen uns mit Aspekten der Entwicklung des Projekts und beobachten, wie es mit ihnen vorangeht. Die Pulseinheiten gehören zu Zanes Gebieten.«

»Okay. Smith ist also ermordet worden. Was meinst du, wer ihn getötet haben könnte?«

Holle schaute schockiert drein. »Warum stellst du mir so eine Frage? Das würde ein Cop nicht tun.«

»Ich bin aber kein Cop.« Grace musterte Holle. Wenn sie hier überleben wollte, würde sie mit exotischen, fremdartigen Geschöpfen wie dieser Kindfrau, dieser Holle Groundwater, zusammenarbeiten müssen. »Sieh mal, Holle. Du hast dein Leben in einem funktionierenden Staat verbracht, den Vereinigten Staaten, mit einer Kontinuität von Institutionen und Gesetzen, die bis in die Zeit vor der Flut zurückreicht. Bei mir war das anders. Von meinem fünften bis zwanzigsten Lebensjahr habe ich in einer umherziehenden Flüchtlingsgemeinschaft gelebt. All unsere Gesetze haben wir uns selbst gegeben und selbst angewandt. Ich bin weder ein Cop noch eine Regierungsangestellte. Gordo Alonzo will, dass ich dieses Verbrechen aufkläre. In Ordnung. Aber ich habe keine bestimmten Verfahrensweisen, keine Regeln. Ich werde einfach so schnell wie möglich zur Wahrheit vordringen – und wenn ich’s nicht schaffe, gebe ich den Auftrag zurück.«

Holle nickte interessiert. »In gewisser Weise ergibt das wohl einen Sinn. Auf der Arche werden wir eine selbst verwaltete Gemeinschaft sein. Wir m?ssen unsere eigenen Methoden finden, solche Probleme zu l?sen. Vielleicht will Gordo mit dir ein Beispiel geben, wie das funktionieren k?nnte.?

Grace spürte leisen Abscheu. »Jemand ist gestorben. Du redest, als wäre das bloß irgend so eine Trainingsübung.«

Holle schaute verlegen drein, aber dann machte sich wieder ihr natürlicher Trotz geltend. »Wir sind unser ganzes Leben lang dafür trainiert worden, seit ich sechs war. Wie soll ich deiner Ansicht nach sonst reagieren? Außerdem wirst du vielleicht feststellen, dass einige von uns umfangreichere Erfahrungen haben, als du offenbar denkst. Und ist Gordos Auftrag nicht als eine Art Aufnahmeprüfung für dich gedacht?«

»Mag sein. Aber ich habe mich noch nicht entschieden, ob ich dabei mitspiele. Also, darf ich meine Frage nochmal stellen? Was meinst du, wer Harry Smith getötet hat?«

»Eine von drei Personen, allesamt Kandidaten. Zane Glemp. Venus Jenning. Matt Weiss.«

»Ich brauche was, um mir Notizen zu machen.«

»Ich besorge dir einen Handheld.«

»Du hast gesagt, dieser Zane hätte entdeckt, dass die Pulseinheit manipuliert worden war. Aber er hätte natürlich bluffen können, er hätte es selbst gewesen sein können. Was ist mit den anderen?«

»Sie standen Harry alle nahe. Näher als wir anderen.«

»Nahe?« Holle hatte das auf eine seltsame Art gesagt; offenbar gab es da einen Subtext. »Du meinst Sex?«

»Ich glaube schon. Ich weiß es aber nicht.«

»Und alle drei stehen noch auf der Auswahlliste für die Crew?«

Holle schüttelte den Kopf. »Zane nicht. Er ist vor einem Monat rausgeflogen. Du weißt ja, es sind nur noch ein paar Monate bis zum Start. Das ist unser neuestes revidiertes Ziel – es gab eine Menge Fehlschl?ge. Urspr?nglich h?tten wir schon letztes Jahr losfliegen sollen. Jedenfalls wird es allm?hlich hektisch.? Holle musterte Grace von der Seite. ?Auf einmal werden jede Menge Leute f?r die Crew nominiert, darunter einige, von denen wir noch nie was geh?rt haben. Wie du. Aber es gibt nur achtzig Pl?tze. Jedes Mal, wenn jemand an Bord kommt, muss jemand anders gehen. Das gilt selbst f?r uns, die Kerngruppe, obwohl wir von Kindesbeinen an daf?r ausgebildet worden sind.?

»Das ist hart.«

»Und ob. Selbst Kelly Kenzie ist ausgeschieden, weil sie ein Baby bekommen hat, obwohl sie unseretwegen weiter am Trainingsprogramm teilnimmt … Du wirst sie noch kennenlernen. Der Punkt ist, sie überprüfen uns fortwährend, suchen nach Möglichkeiten, uns rauszuschmeißen. Zane hat einen Psychotest absolviert, und sie haben ihm erklärt, er sei emotional nicht stabil genug. Übrigens auf Harrys Empfehlung hin. Zane hat das sehr schwer genommen. Sein Vater war der Hauptinitiator des gesamten Programms. Aber Sechsunddreißig gab’s eine Katastrophe. Jerzy wurde verletzt; er musste aus dem Programm ausscheiden und ist ein paar Jahre später gestorben. Du siehst also, weshalb es für Zane hart war, aus dem Pool für die Endauswahl ausgeschlossen zu werden. Er wollte am Vermächtnis seines Vaters beteiligt sein.«

»Dieser Zane könnte also ein Motiv haben. Und die Mittel – er hat ja an diesen Pulseinheiten gearbeitet.«

»Ja, aber das gilt auch für Matt Weiss. Zane ist eigentlich eher ein Spezialist für den Warp-Generator. Ich bin sicher, Venus hätte den Test ebenfalls manipulieren können, wenn sie gewollt hätte, vielleicht mit fremder Hilfe. Jeder von uns hätte es tun können; wir sind alle mit den Schiffssystemen vertraut. Aber wir haben alle unsere Spezialgebiete.«

»Und was ist deins?«

»Die internen Systeme des Schiffes. Lebenserhaltung, Stromversorgung. Sanitäre Anlagen«, sagte sie mit einem selbstironischen Grinsen. »Momentan arbeite ich an der Installation von HeadSpace-Kabinen. Virtual-Reality-Systeme, gespendet von dem Konzern, der sie hergestellt hat. Die Sozialingenieure glauben, dass sie im Hinblick auf die Moral von Nutzen sein werden, aber was die Computerressourcen betrifft, sind sie ganz schön anspruchsvoll.«

»Und – wie war der dritte Name – Venus?«

»Sie ist eine Planetenjägerin. Sucht nach unserem Ziel. Aber wie gesagt, wir machen alle mehrere Sachen. Jeder der drei hätte die Sprengladung anbringen können, denke ich.«

»Ich werde mit allen dreien sprechen müssen.«

»Venus und Zane sind hier in Alma. Matt ist drüben in Gunnison. «

»Ich dachte, Zane wäre raus aus dem Projekt.«

»Er arbeitet immer noch im Bodenteam mit. So ist das bei uns nun mal, so sind wir. Hör zu, wenn du hier wartest – du kannst dir noch mehr Kaffee oder was zu essen holen –, schicke ich Zane oder Venus runter. Dann organisiere ich dir eine Fahrt nach Gunnison, wenn du willst.«

»Ich weiß deine Hilfe zu schätzen.«

Holle grinste. »Falls Gordo Alonzo mich einem Test unterzieht, will ich ihn unbedingt bestehen.« Und sie marschierte in ihrer leuchtend bunten Uniform, mit selbstsicheren Schritten davon.


32



Als Grace allein war, holte sie sich einen neuen Becher Kaffee und betrachtete die bedrückende Wanduhr.

124 TAGE 5 STUNDEN 55 MINUTEN 1 SEKUNDE 124 TAGE 5 STUNDEN 55 MINUTEN 0 SEKUNDEN 124 TAGE 5 STUNDEN 54 MINUTEN 59 SEKUNDEN

Sie fand alles abstoßend, was sie bis jetzt vom Projekt Nimrod gesehen hatte. Die gewaltige Technik, die arroganten alten Männer wie Gordo Alonzo, die es zu leiten schienen, die verwöhnten Gören wie Holle Groundwater, die man ihre ganze Kindheit hindurch verhätschelt hatte, während Grace und so viele andere als Wanderarbeiter umhergezogen, verhungert und ertrunken waren. Instinktiv wäre sie immer noch am liebsten weggegangen. Aber die Arche Eins schien die einzige sinnvolle Perspektive zu sein.

Ein dunkelhäutiges Mädchen, ungefähr im selben Alter wie Holle, betrat das Restaurant. Eine weitere Kandidatin, nach ihrer farbenfrohen Uniform zu urteilen. Sie kam auf Grace zu und legte einen Handheld-Computer, einen Stift und einen Block auf den Tisch. »Die sind für dich. Ich bin Venus Jenning. Holle hat gesagt, du wolltest mich sprechen. Geht’s um Harry?«

»Ich fürchte ja.«

»Noch einen Kaffee?«

Grace schüttelte den Kopf. Das Mädchen ging zum Automaten, um sich einen zu holen.

Grace inspizierte den Handheld und das Papier. Der Handheld war ein Museumsstück, abgenutzt vom jahrelangen Gebrauch und schwer, vielleicht für militärische Anforderungen gebaut. Das Papier hatte einen eigentümlichen glatten Schimmer und trug als Aufdruck das Geborgene-Erde-Logo von AxysCorp. Sie kannte das Zeug; es war auf der Arche Drei aus Muschelschalen hergestellt worden.

Sie nahm den Stift und schrieb vier Namen auf. Harry Smith. Zane Glemp. Venus Jenning. Matt Weiss.

Venus setzte sich. »Ich hab ihn nicht umgebracht«, sagte sie unumwunden. Sie sah Grace an, nahm offenen Blickkontakt auf. Sie erschien Grace taff, clever und motiviert, aber auch reserviert. »Holle hat dir meinen Namen genannt, stimmt’s?«

»Ich brauchte irgendeinen Tipp, um in die Sache einsteigen zu können. Ihr seid alle Fremde für mich, ihr Kandidaten und eure Lehrer, eure merkwürdige kleine Familie. Mach Holle keine Vorwürfe, wenn sie falsch liegt.«

»Ich mache ihr keine Vorwürfe. Du musstest die Frage stellen, sie musste dir eine Antwort geben. Aber sie weiß nicht Bescheid. Sie weiß nur, was sie von außen gesehen hat. Ich habe nie mit ihr darüber gesprochen, und auch mit sonst niemandem. « Sie verzog das Gesicht. »Ich hatte gehofft, die ganze Sache würde mit Harry sterben. Als ich dann erfahren habe, dass es Mord war, ist mir klargeworden, dass alles auf den Tisch kommen würde. Also schieß los, stell mir deine Fragen!«

»Hattest du Sex mit ihm?«

»Ja, ich hatte Sex mit ihm. Er war mein Tutor, er war unser aller Tutor, seit wir ins Programm aufgenommen wurden. Ich bin mit elf Jahren dazugekommen. Ich war unglücklich. Ich habe meine Familie in Utah vermisst, mein Zuhause. Alle anderen waren schon seit Jahren im Programm ? Holle, Kelly Kenzie, solche Leute eben. Ich war eine Au?enseiterin.?

»Harry hat dich getröstet.«

»Er hat mich beraten. Das war sein Job. Anfangs war es nicht mehr als das. Ich mochte ihn, und ich habe ihm vertraut. Aber nach ein paar Jahren haben sich die Dinge allmählich verändert. «

»Inwiefern?«

»Er hat angefangen, mit mir über die Art und Weise der Endauswahl zu reden. Du weißt ja, es gibt nur achtzig Plätze auf der Arche. Aber wir waren viel mehr als achtzig. Hin und wieder ändert sich die Politik, und dann muss ein ganzer Schwung von uns gehen.

Harry hat mit mir über meine Hautfarbe, meine Rasse gesprochen. Er hat gesagt, die Sozialingenieure machten sich Sorgen wegen ethnischer Spaltungen und dächten daran, eine rein weiße Crew zusammenzustellen. Diese Politik werde von einer Clique weißer Rassenfanatiker innerhalb der Organisation des Projekts aktiv unterstützt, habe jedoch im Hinblick auf die Stabilität der Crew auch eine gewisse Logik und werde sich deshalb womöglich durchsetzen. All dies sei vertraulich, hat er gesagt. Ich müsse Stillschweigen darüber bewahren. Na, ist ja klar, wie sich das auf meine Chancen ausgewirkt hätte. Aber Harry hat gesagt, er würde mich beschützen.«

»Als Gegenleistung für Sex.«

»So einfach war das nicht.« In ihrem Gesicht spiegelten sich Ärger und Zorn. »Er war schlau. Vermutlich hat er sich schon andere als mich geangelt. Als Gegenleistung, so schien es mir damals, wollte er bloß Respekt. Loyalität. Zuneigung. Liebe, wenn man so will. Weißt du, ein guter Lehrer kann all das kriegen.«

»Und wann es ist mit dem Sex losgegangen?«

»Wir waren auf einer Exkursion zum Monarch Pass. Zu der Zeit war ich fünfzehn. Es war ein schlechter Tag gewesen. Damals gab es immer noch sporadische Kämpfe zwischen Utah und der Bundesregierung in Denver. Utah hatte gerade einen Überfall im Norden verübt, und es hieß, dass es Vergeltungsmaßnahmen geben würde. Ich hatte Angst um meine Angehörigen in Salt Lake City; sie waren zwar keine Mormonen, aber einige von ihnen befanden sich noch im Kriegsgebiet. Und ich hatte Angst um mich selbst. Es ging nicht nur darum, dass ich aus dem Programm fliegen konnte. Ich dachte, ich würde am Ende vielleicht in einem Internierungs- oder Arbeitslager landen.«

»Und da ist Harry zu dir gekommen.«

»Ich habe mir mit Cora Robles ein Zweimannzelt geteilt, aber sie war weg, auf einer Nachtübung. Ich schlief. Er hat den Reißverschluss meines Schlafsacks geöffnet und ist hinter mir reingeschlüpft. Willst du Details?«

»Ich …«

»Er hat mich gezwungen, ihm einen runterzuholen. Dazu musste ich nach hinten langen.« Sie zuckte die Achseln. »Das war’s. Als er weg war, hab ich saubergemacht. Ich dachte immer, dass Cora irgendwas geahnt hat. Vielleicht hat sie ihn gerochen. Würde mich nicht überraschen. Ich konnte es gar nicht erwarten, am nächsten Morgen unter die Dusche zu kommen. Die ganze Sache hat mich geschockt. Nicht so sehr der Sex selbst, ich war ja keine Jungfrau mehr. Aber alles, was er für mich getan hatte, war beschmutzt.«

»Und von da an ging es so weiter.«

»Ich hab keine andere Möglichkeit gesehen. Er hatte echte Macht über mich. Ehrlich gesagt, ich dachte, ich kämpfe um mein Leben. Und der Sex war mir egal. Harry hat mich einfach nur angewidert. Er hat mich gern angefasst, und ich musste die H?nde oder den Mund benutzen. Ich glaube, Jungs waren ihm lieber, wenn du die Wahrheit wissen willst. Er hat mich eher wie einen Jungen benutzt. Vielleicht hat ihm auch blo? die Macht einen Kick gegeben.?

»Und das ging so bis zu seinem Tod?«

»Zum Teufel, nein. Ich schätze, es hat ein paar Jahre gedauert. Dann hab ich die Wahrheit über die ethnische Selektionspolitik der Sozialingenieure rausgefunden.«

»Nämlich?«

»Es gibt keine. Ihr Mantra ist genetische Diversität in der ersten Generation und auch danach. Sie werden eher eine regenbogenfarbene Crew auswählen als eine weiße. Ich habe sogar rausgefunden, dass es tatsächlich eine Lobby gab, aber nicht für eine weiße, sondern für eine ausschließlich afroamerikanische Crew, weil die Diversität bei Afrikanern größer ist als irgendwo sonst; die Menschheit kommt schließlich aus Afrika. Harry hat also die ganze Zeit gelogen.

Als ich das entdeckte, hab ich ihm in die Eier getreten, wenn du’s wissen willst.« Ihr Blick verhärtete sich bei der Erinnerung daran. »Ich war inzwischen alt genug, um zu wissen, dass ich ebenso viel Macht über ihn hatte wie er über mich. Projektmitarbeiter ist ein heiß begehrter Job, selbst wenn man kein Kandidat ist, und Harry wollte kein Eye-Dee werden. Er hatte es gern gemütlich, der gute alte Harry. Aber ich bin so richtig ungemütlich geworden. Am Ende hat er geweint, weißt du, und nicht nur wegen des Tritts in die Eier. Er hat mich gefragt, warum ich ihn nicht mehr liebte. Vielleicht hat er wirklich geglaubt, ich hätte ihn geliebt. Oder vielleicht hat er sich selber in die Tasche gelogen. Ist mir, ehrlich gesagt, egal, was in seinem Kopf vorging.«

»Hast du Harry Smith getötet?«

»Nein«, sagte sie geradeheraus. »Warum sollte ich?«

»Er hat dich missbraucht. Dich belogen. Er hat seine Macht über dich missbraucht.«

»Ach, weißt du, es gibt einen Haufen Leute auf dieser Welt, die zu viel Macht besitzen. Das hast du doch bestimmt auch schon bemerkt. Harry mit seinem schmierigen, erbärmlichen Gefummel war auch nicht schlimmer als viele andere. Letztendlich habe ich die Kontrolle erlangt. Ich brauchte ihn nicht zu töten. Er war schon lange vor seinem Tod aus meinem Leben verschwunden.« Sie sagte das ausdruckslos, sehr gefasst. »Glaub’s oder lass es bleiben. Ich könnte nichts davon beweisen. Hast du sonst noch Fragen?«


33



Holle kam Grace im Restaurant abholen und brachte sie zu einem wartenden kleinen Konvoi von Panzerfahrzeugen hinaus. »Wir fahren mehrmals am Tag nach Gunnison und zurück. Dies ist die nächste Tour.«

Zane Glemp war ebenfalls da, etwas jünger als Holle und Venus, dünn, blass und ernst unter seinem schwarzen Haarschopf. Er trug keine Kandidatenuniform und sah aus, als wäre er darin ohnehin fehl am Platz gewesen. Er hatte einen Laptop dabei. Holle hatte vorgeschlagen, dass er mit Grace nach Gunnison fuhr – er hatte dort zu tun – und unterwegs mit ihr redete.

So saß Grace schließlich allein mit Zane in einem selbst gesteuerten Fahrzeug mit dicken Glasfenstern und geschlossener Klimaanlage, eingeklemmt zwischen zwei schweren, waffenstarrenden Trucks. Die Fahrzeuge fuhren in lebhaftem Tempo los, so schnell, dass Grace in den Sitz gedrückt wurde. Sie hielt sich an einem Haltegriff fest.

Zane hatte seinen Laptop aufgeklappt. »Alles in Ordnung?«

»Ich bin bloß nicht an hohe Geschwindigkeiten gewöhnt. Ich habe den größten Teil meines Lebens auf Wanderschaft verbracht, und die letzten sechs Jahre auf einem Kreuzfahrtschiff. Die Beschleunigung einer Motorbarkasse ist für mich schon so ziemlich das höchste der Gefühle.«

Er holte eine Karte auf den Bildschirm seines Laptops. »Das hier ist unsere Strecke.« Es war eine Fahrt von vielleicht hundertfünfzig Kilometern durch Bergland, s?dlich des Hoosier-Pass durch Buena Vista und Poncha Springs und dann nach Westen durch Monarch nach Gunnison. ?Es sind Gebirgsstra?en, aber das Milit?r hat sie verst?rkt und Stra?ensperren errichtet, und sie sind ziemlich gut. Es ist sicherer, das offene Land schnell zu durchqueren, aber man wird halt ein bisschen hin und her geworfen. Pass mal auf ?? Er zeigte ihr, wie man den Gurt straffer zog.

»Warum ist es sicherer, schnell zu fahren?«

Zur Antwort zeigte er aus dem Fenster. Hinter dem dicken Drahtzaun, der die Straße säumte, war das Land von Menschen übersät, die aus Zelten und Hütten blickten, als der Konvoi vorbeifuhr. An manchen Stellen schienen sie sich in Ackerbau zu versuchen; ins dünne Erdreich waren Furchen gekratzt, und die Parzellen wurden eifersüchtig bewacht. Woanders saßen sie nur stumm an der Straße. Kinder sahen mit leerem Blick zu, wie die Fahrzeuge vorbeifuhren.

»Manchmal schießen sie auf uns«, sagte Zane. »Oder sie versuchen, die Straße zu blockieren. Zwischen Gunnison und Alma gibt es ein System von Wachtürmen. Wenn es Ärger gibt, kommen schwerere Truppen von einer der beiden Endstationen, manchmal auch aus Twin Lakes oder Monarch.«

»Sieht aus, als hätte es Menschen geregnet.«

»Tja, Colorado ist ein großes Land, aber wir haben schon längst keinen Platz mehr. Das Meer ist nicht mehr weit von Gunnison entfernt. Wenn der Wind richtig steht, kann man’s riechen. Die Ingenieure machen sich Sorgen wegen Salzkorrosion am Raumfahrzeug und an den Montagetürmen. Aber in Canaveral hatten sie dasselbe Problem.« Zanes Gesicht war seltsam ausdruckslos, als stünde er nicht so richtig in Kontakt mit der Welt, mit Grace. »Du bist hier, um mich wegen Harry Smith zu befragen.«

»Ja.« Zane war offenkundig eine komplexere Persönlichkeit als Holle oder Venus. Grace versuchte, Zugang zu ihm zu finden. »Er ist von einer Pulseinheit getötet worden.«

»Einem Modell, ja.«

»Für mich ist das alles neu. Ich weiß nicht, was eine Pulseinheit ist.«

Er rief die Schnittzeichnung eines Objekts auf, das einer Vase ähnelte, mit rundem Korpus und ausgestelltem Hals in einer zylindrischen Hülle. Oben war es mit einer Platte verschlossen. »Du weißt ja, dass die Orion-Startstufe von einer Reihe nuklearer Explosionen angetrieben wird.«

Sie erstarrte. Das hatte sie nicht gewusst. In was, zum Teufel, geriet sie hier hinein? »Sprich weiter.«

»Es geht darum, jede Explosion so zu formen, dass ihre Energie sich nicht einfach in alle Richtungen verteilt, sondern ebenso wie die Impulsübertragung auf die Prallplatte des Raumschiffs kanalisiert wird.« Er stellte es mit den Händen mimisch dar. »Die Prallplatte ähnelt einem großen Beckenteller, der über dem Hals der Pulseinheit sitzt, hier oben. Wenn die Bombe also hochgeht, wird die Energie durch die Strahlenschutzhülle um die Ladung – eine Schale aus Uran – eingedämmt und dann durch diese Kanalfüllung aus Berylliumoxid im Hals nach oben gelenkt und auf die Scheibe mit dem Treibmittel konzentriert – diesen Deckel aus Wolfram obendrauf. Du musst dir klarmachen, dass all das im Bruchteil einer Sekunde geschieht; alles wird in Atome zersprengt, aber die Vorrichtung hält gerade lange genug, um der Bombenenergie eine Richtung zu geben. Die Wolfram-Platte verdampft, und das dabei entstehende Produkt schießt nach oben und trifft die Prallplatte.

Die frühen Atomingenieure fanden einige interessante Sachen darüber heraus, wie Objekte verdampfen, wenn sie von einer atomaren Explosion getroffen werden. Bei einem pfannkuchenf?rmigen Objekt wie dieser Wolfram-Scheibe bekommt man eine zigarrenf?rmige Plasmawolke. Das liegt daran, dass das Zentrum als Erstes verdampft und gewisserma?en voranfliegt. Umgekehrt wird ein zigarrenf?rmiges Objekt zu einer pfannkuchenf?rmigen Wolke, weil sich die Energie von unten nach oben vorarbeitet. Die Zigarrenwolke ist besser f?r uns, denn dabei konzentriert sich die Impuls?bertragung auf eine kleine Fl?che. All das kann man mit Bombenbau-Software demonstrieren. Wir haben einen Teil des alten Codes aus den 1950er Jahren ausgegraben und die Algorithmen mit modernen Methoden implementiert. Darum ist diese Konstruktion ??

»Und so ein Ding hat Harry Smith getötet.«

Zane zögerte. Offenkundig fühlte er sich bei technischen Themen wohler. »Harry hat ein paar Kandidaten beaufsichtigt, die an dem Test beteiligt waren. Es sollte eine kontrollierte Detonation mit konventionellen Sprengstoffen geben, um einige der Prinzipien zu demonstrieren. Irgendwer hat eine Ladung von der zehnfachen Stärke eingesetzt. Die Art, wie die Explosion geformt war – sie hat den Bunker, in dem sie sich befand, weit aufgerissen. Sie hat Harry und einen weiteren Mann getötet.«

»Du denkst also, es war Absicht?«

»O ja. Jemand hat es so arrangiert, um Harry zu töten. Dass es noch einen anderen erwischt hat, war bestimmt reiner Zufall. «

»Aber kein Unfall.«

»Nein.«

»Wie viele Leute aus dem Projekt hätten so was hingekriegt?«

Zane hob die Schultern. »Eine Handvoll Bodentechniker. Aber keiner von denen kannte Harry gut, und das ist der springende Punkt, oder? Von den Kandidaten Matt Weiss oder ich, ohne fremde Hilfe. Viele der anderen h?tten es mit Unterst?tzung von au?en tun k?nnen, sie kennen die Prinzipien.?

»Venus Jenning vielleicht.«

»Die hätte Hilfe bei den Details gebraucht.«

»Dann bleiben also nur Matt und du.«

»Sieht so aus.«

»Venus hat mir von ihrer Beziehung zu Harry erzählt.«

Zanes Miene wurde ausdruckslos. »Und nun willst du dasselbe von mir hören?«

»Ich weiß, es ist schwer. Erzähl mir einfach, wie es angefangen hat.«

Es war am Tag des Unfalls im Jahr 2036 geschehen, bei dem Zanes Vater fast ums Leben gekommen wäre. »Das war der Tiefpunkt. Die Gelegenheit für ihn.« Er erzählte ihr etwas über diese erste sexuelle Begegnung. Es glich dem, was Harry Venus beim ersten Mal angetan hatte – eine erprobte Technik, wie es schien. Aber Zane erzählte es auf merkwürdige Weise; er beschrieb die Vorfälle und Handlungen mit passiven Verben, völlig unpersönlich.

»Hat er dir gesagt, dass er dich liebt?«

»Diese Bemerkung fiel.«

»Hat er dich gefragt, ob du ihn liebst?«

»Diese Frage wurde gestellt.«

»Hast du ihn geliebt?«

»Da gab es ein Problem zu lösen.«

Grace starrte ihn an. Sie hatte im Lauf ihres Lebens viele verletzte Menschen getroffen; es war eine verletzende Welt. Aber Zane war außergewöhnlich. »Glaubst du, einer der anderen hat ihn geliebt?«

»Matt hat ihn geliebt, glaube ich, Matt Weiss. Er hat es mir mal erzählt, als er betrunken war.«

»Habt ihr irgendwen um Hilfe gebeten? Habt ihr jemandem erzählt, was da vorging?«

»Er hat den Vater gefragt«, sagte er seltsamerweise. Dann, etwas verzögert: »Ich habe meinen Vater gefragt.«

»Und?«

»Er hat gesagt, ein Kandidat für die Arche-Crew sollte solche Dinge selbst regeln. Er meinte, ein Opfer solcher Taten sei schmutzig und unwürdig.«

Sie versuchte, ihm weitere Details zu entlocken, und er antwortete auf dieselbe entrückte, unpersönliche Art.

Bei Zane hatte es keinen jähen Bruch seiner Beziehung zu Harry gegeben, keine ans Licht gekommenen Lügen, keinen Krach, keine Zurückweisung wie bei Venus. Zane hatte nie die Kontrolle erlangt. Die Beziehung war immer weitergegangen, der Sex auch. Dennoch hatte es zuletzt eine Krise gegeben.

»Harry hat gesagt, er würde dich beschützen. Aber am Ende hat er versagt, nicht wahr? Du bist ausgesiebt worden.«

»Es war ein Psychotest. Zane Glemp ist technisch begabt, aber ihm fehlt die emotionale Intelligenz. Das haben die Ärzte gesagt.«

»Letztendlich hat Harry also die Abmachung nicht eingehalten. All der Sex, die ganze Herumschleicherei, der Zorn deines Vaters – die Scham, die du empfunden haben musst. Trotz all dem hat er dir das Einzige, was du wolltest, nicht beschafft: einen Platz in der Crew.«

»Vielleicht war das gar nicht möglich. Sein Einfluss war immer eher negativ als positiv – er konnte jemanden durch ein nachteiliges Gutachten stoppen, aber niemandem einen Platz sichern.«

»Dann war also alles eine Lüge. Du hast ihn dafür gehasst«, sagte sie provozierend. »Du hast ihn gehasst, weil er dich erpresst hat, weil er dir keinen Platz auf der Arche verschafft hat. Du hattest die Mittel und das Motiv, ihn zu t?ten.?

»Da war kein Hass. Da war nichts. Mord war nicht nötig.«

Und instinktiv glaubte sie ihm. Zane war ein Opfer, kein Täter; er hätte nie die Kontrolle an sich reißen können, wie Venus es getan hatte, und wie es der Mörder allem Anschein nach auch getan hatte.

»Wenn du ihn nicht getötet hast, wer dann? Es klingt, als müsste es Matt gewesen sein.«

»Ich weiß es nicht.«

»Aber die Logik legt nahe …«

»Die Logik?« Zum ersten Mal drehte er sich um und sah sie direkt an. Seine Augen waren verblüffend sanft und charaktervoll. »Wenn du die Logik verstehen willst, frag dich, was Matt wollte. Und auch, was Harry wollte. Wir sind da. Gunnison.«

Der Wagen wurde langsamer. Grace schaute neugierig zu den Fenstern hinaus. Es hatte aufgeklart, der Himmel zeigte ein tiefes Blau, und die alte Stadt war ein hübscher, von Kiefern umstandener Ort aus Schindelgebäuden vor den am Horizont schwebenden Rockies. Aber er wurde vom Projekt Nimrod überwältigt; es wimmelte nur so von neu aussehenden Fertigbauten und Industrieanlagen, Montagetürmen, Gleisen, die Straße überbrückenden Rohrleitungen und riesigen Speichertanks, die selbst in der Augusthitze mit Reif bedeckt waren. Sie glaubte, eine Startrampe zu erkennen, ein schlankes, aufrechtes Gebilde, von dem Treibstoffschläuche baumelten.

Der Wagen hielt am Fuß eines massiven, fabrikähnlichen Gebäudes, eines rechteckigen Blocks mit einer Kantenlänge von vielleicht dreißig Metern und der dreifachen Höhe. Er war von einem Gerüst umgeben, in dem sich ein Gewirr zylindrischer Tanks und riesiger Sprungfedern befand.

»Und wo ist nun euer Raumschiff?« Sie hatte so etwas wie die mottenförmigen Space-Shuttle-Orbiter auf den Fotos erwartet, die Gary Boyle ihr immer gezeigt hatte.

Er deutete lächelnd auf das große Industriegebäude. »Das ist es.«


34



Während Harry Smiths Tod Venus Jenning und Zane Glemp nicht sonderlich nahegegangen zu sein schien, hatte er Matt Weiss das Herz gebrochen.

Grace sprach in einem kleinen Konferenzraum im Untergeschoss eines der Gebäude im Weltraumbahnhof mit ihm. Es war ein kahler, karger Raum mit ungestrichenen Putzwänden und Betonboden. Trotz der geräuschvollen Klimaanlage war es heiß und stickig, und die Luft war abgestanden. Offenbar gab es in keiner dieser neuen Einrichtungen des Projekts auch nur den geringsten Luxus.

Grace trank einen weiteren kräftigen Schluck Kaffee. Sie hatte einen höllisch langen Tag hinter sich. Sie wusste nicht einmal, wo sie in der kommenden Nacht schlafen würde. Sie versuchte, sich auf den jungen Mann vor ihr zu konzentrieren.

Matt Weiss war ungefähr im selben Alter wie die anderen – Zane war einundzwanzig, Holle und Venus waren zweiundzwanzig. Er wirkte stämmig und kräftig, mit breitem Gesicht, breiter Nase, wulstigen Lippen und militärischem Bürstenschnitt. Er trug nicht den üblichen rot-blauen Kandidatenanzug, sondern Jeans und Weste, weil er an einem Schwermaschinenprojekt gearbeitet hatte. Sein Gesicht und seine Hände waren sauber, aber die bloßen, muskulösen Arme waren mit Öl beschmiert, und seine Stiefel hinterließen Schmutzflecken auf dem Fußboden. Matt schaute auf die im Schoß gefalteten H?nde hinab. Er sah aus, als w?rde er gleich in Tr?nen ausbrechen.

»Ich wusste, das mit dem Sex war irgendwie falsch«, sagte er. »Ich war nie so. Ich hatte Freundinnen, bevor ich auf die Akademie gekommen bin. Zuvor war ich Polizeischüler beim Denver Police Department. Aber als ich dann hier war und gemerkt habe, wie groß die Konkurrenz ist und wie leicht man rausfliegen kann, hab ich’s mit der Angst bekommen.« Er hatte einen breiten texanischen Akzent.

»Angst davor, wieder zur Polizei zurückgeschickt zu werden. «

Er blickte hoch. »Ich weiß ja nicht, was du so alles erlebt hast. Meine Eltern sind bei einem Hungeraufstand in Dallas ums Leben gekommen, als ich noch klein war. Bei den Cops war ich dann an der Front, sogar als Schüler. Es gibt nie genug Cops. Ich war aber noch ein Kind. Einmal, in Nebraska, haben die Floßbewohner versucht, die Absperrungen niederzureißen. Wir hatten Schutzschilde, und wir haben uns eingehakt, sind einfach auf der alten Straße vorgerückt und haben sie ins Wasser zurückgetrieben. Da waren Mütter, die uns ihre Babys entgegenhielten. Alle schrien.«

»Ich verstehe …«

»Seit ich zwölf war, hatte ich jede Sekunde meines Lebens Angst, dass ich irgendwie Mist bauen und auf der anderen Seite landen würde. Bei den Eye-Dees. Ich meine, was ist der Unterschied zwischen denen und mir? Wir sind alle bloß Amerikaner, bloß Menschen.«

»Und Harry Smith hat gesagt, er würde verhindern, dass du zurückgeschickt wirst.«

Das Muster, wie es begonnen hatte, war Grace mittlerweile vertraut. Harry zielte auf den wundesten Punkt seiner Schüler, verf?hrte sie, indem er ihnen Loyalit?t und Sicherheit versprach, und unterwarf sie dann der seltsamen Choreographie seines ersten n?chtlichen Besuchs. Und genauso, wie er es bei den anderen gemacht hatte, erkl?rte er auch Matt, er liebe ihn.

»Und ich liebte ihn auch«, sagte Matt trotzig und wischte sich die laufende Nase mit dem Rücken einer massigen Hand ab. »Wieso auch nicht? Er hat mich beschützt, wie ein Vater oder ein Bruder. Man liebt die Menschen, die einen beschützen. Das ist es, was Liebe bedeutet. Ich musste seinen Schwanz lutschen. Na und? Die Hälfte der beschissenen Kandidaten lutscht wahrscheinlich irgendwelche Schwänze, um im Programm zu bleiben. Wen interessiert’s?«

Er sprach noch ein wenig länger über seine Beziehung zu Harry und erklärte, dass sie bis zu dessen Tod weitergegangen war. Und er sprach über den Unfall. Er erläuterte die technischen Details der Manipulation an der Testbombe, wie die zusätzliche Sprengladung eingebaut worden war. Nachdem Zane die Manipulation entdeckt hatte, hatte Matt den Kriminaltechnikern geholfen, das Puzzle der Geschehnisse zusammenzusetzen. Ja, er hätte derjenige sein können, der es getan hatte. Nein, er habe es nicht getan. »Frag Zane«, sagte er kalt. »Ich hab ihn geliebt, Harry. Wirklich. Zane hat ihn nicht geliebt.«

»Der Einbau der Sprengladung«, sagte sie. »Der Bombe, die Harry getötet hat. Wie viel Planung würde das erfordern? Ich meine, hätte man es im Handumdrehen tun können, aus einem spontanen Impuls heraus, sobald man auf die Idee kam? Oder hätte es einige Vorbereitung erfordert?«

Er zögerte. »Man könnte es schnell machen. Wenn man wüsste, wie es geht, und am richtigen Ort wäre, mit Zugang zu dem erforderlichen Material. Da wären keine großen Vorbereitungen nötig. Frag Zane.«


Als sie fertig war, ließ sie sich von Matt ins Freie hinausbegleiten. Gordo Alonzo war von Alma heruntergekommen und wartete auf sie. Er nickte ihr zu, die Augen hinter einer großen schwarzen Sonnenbrille verborgen.

Sie gingen die paar Hundert Meter zum Orion-Raumschiff in seinem riesigen, glänzenden, unvollendeten Gerüst. Den Abschluss der Konfiguration bildete ein pyramidenförmiges Gebilde aus schwarzen, glänzenden Kacheln. Sie hörte ein Zischen aus den Tiefen der Konstruktion und sah Funkenschauer – Schweißbrenner vielleicht. Das Schiff wirkte so massiv, als würde es eher in der Erde versinken als sich von ihr zu erheben. Es wurde sorgfältig bewacht; bewaffnete Soldaten patrouillierten an einem Drahtzaun, der es umgab, andere schlenderten an Montagetürmen in den Eingeweiden des Konstrukts entlang.

Als sie beim gewaltigen Fundament des Schiffsgebäudes standen, nahm Gordo Alonzo eine Zigarre aus einem schlanken Metalletui. Beiläufig bot er auch Grace eine an.

»Danke, nein. Meine Generation hatte wohl keine Gelegenheit, sich das anzugewöhnen. Die müssen sehr wertvoll sein.«

»Ach was. Wir haben noch einen ganzen Haufen im Kühlraum unseres Bunkers in Cheyenne. Aus dem Kalten Krieg, von 1960.« Er steckte sie unangezündet in den Mund. »So«, sagte er energisch. »Hast du unseren Mörder?«

»Matt Weiss«, sagte sie.

Er zuckte zusammen. Seine Augenbrauen fuhren in die Höhe. Er nahm die Mütze ab und strich sich über die schweißnasse Kopfhaut. »Du überraschst mich. Ich hatte Zane Glemp im Verdacht. Die kleine Ratte ist schließlich aus der Crew geflogen.«

»Zane ist ein Opfer, kein Mörder. Er hätte es nicht tun können. Und Venus brauchte es nicht zu tun. Sie hatte Harry auf ihre Weise bereits besiegt. Bleibt nur noch Matt.«

»Okay. Aber von den dreien hat gerade Matt Weiss sich auf seine verkorkste Weise offensichtlich was aus Harry gemacht. Und Matt ist in der Crew geblieben, also hat Harry sein Versprechen gehalten. Welches Motiv hätte Matt, ihn zu töten?«

»Eifersucht. Matt glaubte, Harry zu lieben, und darum muss er auf die anderen eifersüchtig gewesen sein, auf Zane, Venus und vielleicht noch weitere – ich weiß nicht, ob Harry noch mehr Opfer hatte.«

Gordo schüttelte den Kopf. »Falls ja, macht keiner den Mund auf.«

»Betrachten Sie’s aus dem Blickwinkel eines eifersüchtigen Liebhabers. Harry hat Matt in den Weltraum geschickt, aber Zane auf dem Boden behalten, ganz in seiner Nähe.«

»Verdammt. Matt hat also seine Aufnahme in die Crew als Zurückweisung durch Harry aufgefasst?«

»Ich glaube schon. Er hat sich nichts anmerken lassen. Eure Kinder scheinen gelernt zu haben, ihre Gefühle zu verbergen. Aber als Harry zufällig hergekommen ist, um sich diesen Bombentest anzusehen …«

»… hat Matt eine Chance gesehen, sich zu rächen.«

»Ja. Er hat selbst gesagt, es wäre leicht gewesen, den tödlichen Sprengsatz einzubauen, wenn man wüsste, wie es geht.«

»Na, da soll mich doch …« Gordo nahm die Zigarre aus dem Mund, schnitt sie ab und zündete sie an. »Natürlich hast du nicht den geringsten Beweis dafür.«

»Nein. Aber ich glaube, Matt wird gestehen, wenn man ihn unter Druck setzt. Ich wollte das nicht tun …«

»Das übernehmen wir.«

»Was ist mit Matts Platz in der Crew?«

»Tja, er ist draußen.« Gordo grinste. »Ironischerweise öffnet er damit wieder die Tür für Zane. Der beste Ersatzmann. Matt Weiss hat sich alles gr?ndlich vermasselt. Du hattest einen h?llischen Tag, Grace. Aber ich w?rde sagen, du hast die Pr?fung bestanden, der ich dich unterzogen habe.? Er musterte sie. ?Wir werden einen dieser schicken Overalls weiter machen m?ssen.?

»Ich weiß nicht, ob ich eine Ihrer Kandidatinnen werden möchte.«

»Okay. Das verstehe ich. Und es gibt keine Garantie, dass du’s schaffst, selbst wenn du wolltest; ich nehme an, du weißt, wie hart der Ausleseprozess ist.« Er wedelte mit seiner Zigarre zu dem Raumschiff. »Und es gibt keine Garantie, dass dieses klapprige Ding überhaupt fliegen wird. Aber hör zu. Auch ich bin gegen meinen Willen zu diesem verdammten Projekt berufen worden. Ich fand, ich hätte mit meinen restlichen Jahren Besseres anfangen können als so einen Quatsch – eine Horde Kinder und ein bescheuerter Plan. Aber schau dir an, wie die Dinge jetzt stehen. Die Flut hat jede Hoffnung auf Besserung, jeden anderen Plan weggespült. Auf einmal ist Projekt Nimrod die einzige Hoffnung, die uns noch bleibt, unsere einzige Chance, die Erinnerung an das, was wir waren, in die Zukunft zu schicken.

Deshalb habe ich mir den Arsch aufgerissen, damit es funktioniert. Habe den Eierköpfen die dicken Schädel zusammengeschlagen, damit sie einen realisierbaren Entwurf zustande bringen, ein Schiff, das wir bauen und testen können und das fliegen wird. Und mir alle Mühe gegeben, diese Bande von Kindern zu einer Crew zu formen. Aber genau das sind sie eben: Kinder. Sie wissen nicht mal, wovor sie gerettet werden. Ich denke, sie brauchen dich und Menschen wie dich. Ich weiß noch, wie ich dich zum ersten Mal in deiner Okie-Stadt gesehen habe, da warst du sechzehn und hattest gerade irgendeinem alten Knaben den Bauch mit einem Faden zugenäht.«

»Das war Michael Hurley. Und es war Angelschnur.«

Er lächelte sie über seine Zigarre hinweg an, und sie sah sich in den beiden Gläsern seiner Sonnenbrille gespiegelt, die Hände auf dem Bauch, das strähnige Haar, ihr abgehärmtes, müdes Gesicht. »Also, was sagst du? Fliegst du mit uns zu den Sternen?«


35



NOVEMBER 2041



Holle erwachte in einem leeren Bett. Sie spürte es, spürte die Kälte einer zurückgeschlagenen Steppdecke, noch bevor sie sich bewegte.

Sieben Tage. Das war ihr erster Gedanke. Nur noch sieben Tage bis zum Start, nach einer Ewigkeit der Ausbildung, der Freundschaft und Rivalität, der Triumphe und Pannen, der Wunder und Tragödien. Aber zuerst musste sie den heutigen Tag hinter sich bringen.

Sie schlug langsam die Augen auf. Der Raum war von grauem Licht erfüllt, dem Licht eines weiteren trüben Novembermorgens; das Wetter war seit Wochen lausig und deprimierend. Sie drehte sich auf den Rücken, spürte die Schmerzen in ihren steifen Muskeln, die Erinnerung ihres Körpers an die Stunden, die sie gestern in der Zentrifuge verbracht hatte. Sie war sogar zu erschöpft gewesen, um mit Mel zu schlafen. Als sie in das Zimmer geschwankt waren, das sie sich hier im Wohnheim der Crew in Gunnison teilten, hatten sie sich eine Stunde lang gegenseitig massiert, um die schmerzenden Verspannungen im Körper des anderen zu lösen, bevor sie sich dem Schlaf ergeben hatten.

Jetzt stand Mel vor dem Fenster, nackt bis auf eine Boxershorts. Sein Körper zeichnete sich vor dem Himmel ab, und sie sah die harten Konturen seiner Taille, seine muskulösen Arme. Nach diesen letzten intensiven Monaten des Trainings waren sie alle superfit.

»Mel? Komm wieder ins Bett.«

Er rührte sich nicht.

Holle stand mühsam auf, schlang sich eine Decke um die Schultern und schlurfte zum Fenster. Sie befanden sich im zehnten Stock der Wohnanlage, eines hastig errichteten Betonblocks zur Unterbringung der Kandidaten, aber auch der Techniker, Manager, Ausbilder und anderen Angehörigen des Bodenpersonals, die der potenziellen Crew zahlenmäßig um ein Vielfaches überlegen waren. Als sie nach unten schaute, sah sie den Dreifachzaun, die Gräben, Wachtürme und patrouillierenden Hunde, die sie an diesem eigentümlichen Zufluchtsort vom Rest einer zerbröckelnden Welt abschotteten.

Der Osthimmel drüben zu ihrer Rechten wurde heller, und sie hatte einen großartigen Ausblick auf das von den massigen Rockies umschlossene Tal von Gunnison. Ihr Blick wurde von der Startkonfiguration der Orion angezogen, einem komplexen, in Scheinwerferlicht getauchten Block. Sie war zehn Kilometer von dem Schiff entfernt, und sie konnte die Traube der Unterstützungseinrichtungen drumherum erkennen, hässliche, funktionale Betonbauten mit dem Lichtschein von Schotterstraßen, die sich zwischen ihnen dahinschlängelten. Das war die Zone, wie sie das Gelände mittlerweile nannten, das zwei Kilometer durchmessene Startzentrum mit dem monströsen Raumschiff in seinem Herzen. Die alte Stadt Gunnison selbst lag etwas abseits im Osten, rechts von der Startanlage. All dies wurde von einer größeren, gesicherten Einfriedung umschlossen, die das Hinterland umgab, wie die Militärplaner es nannten, eine Konzentration von Industrieanlagen mit einem Durchmesser von sechzehn Kilometern. Überall krochen Fahrzeuge umher; die Scheinwerfer der Konvois waren wie Juwelenketten, und wenn sie das Ohr ans Glas legte, konnte sie das Dröhnen starker Motoren h?ren. Dort wurde vierundzwanzig Stunden am Tag und sieben Tage die Woche gearbeitet, und so ging es nun schon seit Monaten.

Mel hatte nur Augen für die Arche selbst. »Schau dir diesen Vogel an.«

Holle schlang die Arme um seine Taille. »Und er gehört uns.«

»Oder er wird uns gehören. In einer Woche.«

Es sah Mel nicht ähnlich, so früh auf den Beinen zu sein. Im Allgemeinen schlief er wie ein Murmeltier; er war lange genug beim Militär gewesen, um zu lernen, wie man jede sich bietende Gelegenheit nutzte, um eine Mütze Schlaf zu bekommen. »Alles in Ordnung mit dir heute Morgen?«, fragte sie.

»Glaub schon. Ist wohl bloß die wachsende Anspannung.«

»Diese verdammten Uhren, die überall die Sekunden wegticken. «

»Und noch was anderes. Spürst du’s nicht?«

»Was denn?«

»Euphorie«, sagte er. »Ich glaube, so nennt man das. Fühlt sich an, als wären wir das Zentrum der ganzen Welt. Wir sind jung, fit, bereit, ins All zu fliegen und zu tun, wozu wir unser ganzes Leben lang ausgebildet worden sind. Glaub nicht, dass ich mich jemals besser fühlen werde. Gordo Alonzo erzählt ja immer, wie es für die Shuttle-Crews vor dem Raumflug war. Manche Dinge ändern sich wohl nie.«

Er hatte Recht. Alles war gesteigert, als wäre es realer – selbst jetzt: die Wärme von Mels Haut an ihrer Wange, das Kratzen des groben Teppichs unter den Füßen, die blinkenden Lichter der schlaflosen Industrielandschaft vor ihr. »Ja. Wir sind voll auf Adrenalin. Ich werde wahrscheinlich eine Woche lang schlafen, sobald wir in dem verdammten Schiff sind.«

Er drehte sich um und nahm sie in die Arme. Sein Gesicht lag im Schatten, als er auf sie herunterschaute. »Bereust du irgendwas? «

»Was zum Beispiel?«

»Tut’s dir nicht leid, dass wir nicht versucht haben, ein Kind zu kriegen?«

Viele der Kandidatinnen hatten das in den letzten Wochen versucht. Einige hatten Erfolg gehabt, darunter Susan Frasier, die das Kind ihres langjährigen Freundes Pablo Mason unter dem Herzen trug, eines Eye-Dees, der sich als Mathe-Genie erwiesen und dank Susan, die mit Engelszungen auf Gordo eingeredet hatte, einen Platz im Bodenteam des Projekts ergattert hatte. Andere hingegen waren schließlich zu krank geworden, um das Trainingsprogramm abzuschließen, und hatten sich dadurch selbst hinauskatapultiert.

»Es hätte unsere Chancen verbessern können.«

»Nein«, sagte Holle mit fester Stimme. »Das haben wir doch schon ausdiskutiert.« Wenn Mel sie geschwängert hätte, wären seine Gene redundant geworden. »Ich hatte nicht vor, dich hierzulassen. Wir können auf der Erde II Kinder bekommen.«

»Erst in acht Jahren.«

Sie zuckte die Achseln. »Ich kann warten.«

Ein Wandpaneel leuchtete auf und piepste leise.

Sie lösten sich voneinander. »Ein«, rief Holle.

Der Bildschirm leuchtete auf und zeigte Alonzos zerfurchtes, tief gebräuntes Gesicht. »… ist eine Endlosschleife. Die Endauswahl der Crew beginnt um null-achthundert.« In einer Stunde also. »Wenn Sie glauben, dafür infrage zu kommen, begeben Sie sich rechtzeitig zum Crew-Center. Wenn Sie nicht da sind, sind Sie draußen, selbst wenn Sie Neil Armstrong heißen. Ich hoffe, das ist klar. Bringen Sie nur das mit, was Sie brauchen.« Er schaute auf einen Notizzettel hinab. ?Das ist alles.? Ein Flackern, dann begann die Aufzeichnung von Neuem. ?Dies ist eine Endlosschleife. Die Endauswahl der Crew beginnt um null-achthundert ??

Mel und Holle sahen sich eine Sekunde lang an. Es hatte keinerlei Vorwarnung gegeben. »Beeil dich«, sagte er.

»Ja.«

Mel lief zur Dusche.

Holle holte ihrer beider Unterwäsche aus den Schränken und schnappte sich ihre rot-blauen Kandidatenuniformen. »Was glaubst du, was er damit gemeint hat: ›Bringen Sie nur das mit, was Sie brauchen‹?«

»Dass wir nicht zurückkommen«, rief Mel aus der Dusche.

»Scheiße.« Aber sie hätte mit so etwas rechnen sollen. Jetzt beginnt also das Endspiel, dachte sie. Sie griff sich Rucksäcke und fing an, das Zimmer nach den Dingen zu durchsuchen, die ihr am kostbarsten waren – Bücher, Tagebücher, Datensticks, Fotos auf Papier, Briefe ihres Vaters, ihr Angel. Was konnte sie auf gar keinen Fall zurücklassen?

Sie hörte das Dröhnen schwerer Motoren, das selbst durch das dicke Fensterglas hereindrang. Als sie nach unten schaute, sah sie gepanzerte Busse halten, die sie zur Startanlage bringen würden. Sie schaute auf eine Uhr. Fünf nach sieben. Sie stopfte aufs Geratewohl Sachen in die Rucksäcke. »Mach mal schneller da drüben in der verdammten Dusche!«


36



Ein Spalier von Fotografen, im Zaum gehalten von aufgereihten Soldaten, wartete auf die Kandidaten, als sie zu zweit und zu dritt mit ihrem Gepäck und in ihren bunten Uniformen, die sich von den tristen Militärfarben abhoben, aus dem Gebäude kamen. Blitzlichter flammten auf, Scheinwerfer leuchteten ihnen ins Gesicht. Es gab sogar kurzen Beifall. Kelly, die sich wie immer in Szene zu setzen verstand, warf mit der behandschuhten Hand ein paar Arche-Schlüsselringe in die Menge. Leute sprangen hoch, um sie aufzufangen. Geblendet von den Blitzlichtern, gewahrte Holle undeutlich eine mürrische Schar von Zuschauern hinter den Gratulanten.

Der Bus fuhr genau um halb acht am Fuß des Gebäudes ab, ein panzerartiges Vehikel mit Raupenketten und winzigen Fenstern. Er reihte sich in einen Konvoi ein, der in flottem Tempo den Sicherheitszaun passierte und dann in Richtung Gunnison fuhr. Das kurze Straßenstück war von Soldaten gesäumt, die im ungewissen Morgenlicht schattenhaft wirkten.

Sie bremsten an einer Kontrollstelle an der Außengrenze des Hinterlands, einem riesigen Kreis aus Zäunen, Gräben und Wachtürmen mit einem Radius von rund acht Kilometern um Gunnison herum. Hier warteten weitere Zuschauer; einige applaudierten, die meisten glotzten nur. Die Sicherheitsmaßnahmen waren penibel und scharf.

Auch die Straße im Hinterland selbst war von einem Drahtzaun und noch mehr bewaffneten Soldaten ges?umt. Hinter dem Zaun schufteten zivile Arbeitskr?fte; sie buddelten L?cher und Gr?ben auf den freien Fl?chen und pflanzten h?ssliche Metalleier in den Boden. Sie legten Minen, sah Holle, pflanzten Tod ins Erdreich, vermutlich im ganzen Hinterland. Vielleicht w?rde sogar die Stra?e, auf der sie gerade unterwegs waren, nach ihrer Durchfahrt vermint werden. Nach ihnen sollte niemand mehr kommen. Das war der Sinn und Zweck dieser Vorbereitungen. Sie hatte das Gef?hl, dass riesige T?ren hinter ihr zuschlugen, eine nach der anderen.

Einen Kilometer von der Arche entfernt wurden sie an einem weiteren Sicherheitszaun angehalten, der die Zone umgab, den inneren Bodennullpunkt mit der Startanlage und der dazugehörigen Infrastruktur. Diesmal stiegen bewaffnete Soldaten in die Busse, überprüften die Ausweise und biometrischen ID-Signaturen der Fahrgäste und fuhren mit ihnen weiter.

Als die Busse vor den großen Türen des Candidate Hilton hielten, war es fünf vor acht. Holle hatte in den letzten paar Jahren so viel Zeit in diesem großen Trainingszentrum verbracht, dass sie sich darin schon fast wie zu Hause fühlte. Hier würden sie in ein paar Tagen die letzten Startvorbereitungen absolvieren. Als die Kandidatinnen und Kandidaten in ihren farbenfrohen Kostümen nun schwatzend und nervös aus ihren Bussen quollen, wollte Holle nur möglichst rasch ins Innere gelangen, um nicht zu spät zu kommen. Doch selbst hier wurden die Sicherheitsvorkehrungen rigoros eingehalten, und sie mussten sich zu einem weiteren ID-Check anstellen, bevor sie eingelassen wurden.

Allmählich wurde es nun heller. Während Holle auf die Abfertigung wartete, schaute sie sich um. Es war wirklich bemerkenswert, dass diese ganze Startanlage innerhalb der letzten paar Jahre aus dem Boden gestampft worden war, einschlie?lich der Produktionsanlagen, Treibmittelspeicher, Test-, Montage- und Verschaltungseinrichtungen, diesem Trainings- und Vorbereitungsgeb?ude f?r die Crew, den Kontrollzentren. Und alles konzentrierte sich auf das Schiff selbst, das von Scheinwerfern angestrahlt wurde und ?ber die klobigen Bauten drumherum aufragte.

An diesem Morgen herrschte viel Aktivität in der Umgebung von Rampen, die vom Boden zu den weit offenen Laderaumtoren der beiden Module führten. Holle wusste, dass das Svalbard-Depot eingeladen wurde. Dabei handelte es sich um eine Saatgutbank, die vor ungefähr vierzig Jahren tief im Innern eines Berges auf einer norwegischen Insel eingerichtet worden war und ungefähr zwei Milliarden Samen enthielt – Samen, die beim Aufbau einer neuen Welt auf Erde II helfen würden, sobald sie einen solchen Planeten ausgewählt und erreicht hatten. Gerüchten zufolge war die Saatgutbank der Preis gewesen, den Nathan Lammockson bezahlt hatte, um seinen Schützling, Grace Gray, an Bord der Arche zu bekommen. In den Tiefen des Laderaums der Arche lagerten bereits Zygotenbanken – die tiefgefrorenen Embryos von Tieren, von Hunden, Katzen, Pferden, Kühen, Schafen, Schweinen, diversen Fischen und einem umfangreichen Sortiment von Geschöpfen aus dem ganzen reichhaltigen lebendigen Teppich der Erde, wenn auch nicht unbedingt in Zweiergruppen. Und Holle wusste, dass heute auch genauso kostbare, aber weniger greifbare Schätze über Glasfaser-Verbindungen und Laserstrahlen ins Schiff geladen wurden: Millionen von Büchern bis zurück zu den ersten sumerischen Kritzeleien, Musik in Form von Noten und Aufnahmen, Unterlagen der Library of Congress, selbst die großen, von den Mormonen angelegten Gen-Bibliotheken – der Inhalt digitaler Banken, die die Weisheit und das kollektive Ged?chtnis der Menschheit enthielten, ergoss sich in die strahlungsgesch?tzten Speicher der Arche.

Selbst während die Arche beladen wurde, pickten Kräne wie Vögel an dem riesigen Konstrukt herum; Scheinwerfer strahlten, Schweißbrenner sprühten Funken, Dampf zischte aus Ventilen und loderte im Scheinwerferlicht weiß auf. Es hieß, dass die Ingenieure erst in dem Moment aufhören würden, an dem Schiff zu bauen, wenn es abhob. Es war kaum zu glauben, dass so ein Ding überhaupt fliegen konnte.

Und es war ebenfalls kaum zu glauben, dass von allem, was sie um sich herum sah, nur die Arche selbst die Mikrosekunde nach der ersten jener thermonuklearen Detonationen überdauern würde, die Holle in den Weltraum tragen sollten.


Um zwei Minuten vor acht hatten Mel und Holle die letzten Sicherheitschecks hinter sich gebracht und eilten, einem Hinweisschild folgend, zur großen Aula des Hilton.

Gordo Alonzo stand auf der Bühne, vor einem Apparat aus Glas und Kunststoff, der wie eine Lotteriemaschine aussah. Edward Kenzie war bei ihm, ebenso Liu Zheng, Magnus Howe und andere Ausbilder. Ihren Vater sah Holle nicht.

Aus dem Bereich vor der Bühne war das übliche Durcheinander von Stühlen und Tischen entfernt worden; dort wimmelte es nun von Kandidatinnen und Kandidaten in ihren leuchtend bunten Uniformen. Holle und Mel schoben sich in die Menge hinein und suchten nach ihren Freunden. Es waren auch viele Fremde hier, junge Leute ungefähr in Holles Alter, einige in den Uniformen des Militärs, des Heimatschutzes, der Polizei oder der Nationalgarde, andere in Zivil, in AxysCorp-Overalls oder auch nur in schlichten Jeans. Sie sah Grace Gray, die allein dastand, abseits der anderen; sie musste eine der ?ltesten im Publikum sein, und der weite Overall, den sie trug, verbarg ihre Schwangerschaft nicht.

Bald entdeckten sie Kelly, wie immer im Mittelpunkt weiterer Angehöriger ihres Kaders: Susan und Pablo, Venus Jenning und Wilson Argent, Thomas und Elle, außerdem Mike und Miriam sowie die hochschwangere Cora Robles, die noch Zeit gefunden hatte, Make-up aufzulegen, und Zane Glemp, der von ihnen allen am unaufgeregtesten wirkte. Don Meisel stand in seiner Polizistenuniform und seiner Schutzweste neben Kelly, der Mutter seines Kindes. Holle verspürte großes Mitleid mit Kelly, die ihre Chance auf einen Platz auf der Arche mit der Entscheidung verspielt hatte, ihr Kind auszutragen, den kleinen Dexter, der jetzt zwei Jahre alt war. Sie war jedoch im Programm geblieben und hatte mit den anderen trainiert, um ihre Kenntnisse und Erfahrungen zur Verfügung zu stellen, und hier war sie nun mit ihren alten Kolleginnen und Kollegen, bis zum Ende.

Holle zupfte Kelly am Ärmel. »Bist du hergekommen, um dich zu verabschieden? Wo ist Dexter heute?«

Kelly hob nur die Finger an die Lippen und lächelte.

Holle schaute sich um. »Hier sind garantiert weit mehr als achtzig Leute. Ich nehme an, das Rekrutierungsprogramm war schon immer umfangreicher, als wir dachten.«

»Ja. Und ich weiß zufällig, dass es in letzter Minute noch eine Menge Auswechselungen gegeben hat. Uns werden die Kinder von Militärs und Politikern aufgezwungen. Gut, dass Präsident Peery ein kinderloser Witwer ist, sonst hätten wir ein Dutzend seiner Blagen an Bord.«

Holle runzelte die Stirn. »Und wie viele von uns haben sich qualifiziert?«

Die große Doppeltür am hinteren Ende des Raumes schlug zu. Man hörte das Pfeifen von Rückkopplungen, und auf der Bühne tippte Gordo Alonzo mit dem Finger an ein Mikrofon.

Kelly flüsterte: »Ich schätze, wir werden’s gleich erfahren.«


Gordo Alonzo räusperte sich.

»Okay. Willkommen zum Endauswahlverfahren für die Crew der Arche Eins, zum Höhepunkt des Projekts Nimrod. Das wird eine verdammt melodramatische Angelegenheit werden, aber uns ist keine bessere Methode eingefallen, wie man das regeln kann.

Also, hört zu. Ich kenne die beste Crew. Ich habe die letzten achtzig in meinem Kopf gespeichert, hier oben.« Er tippte sich an die Stirn. »Dabei habe ich alle Kombinationen von Fertigkeiten, die Diversität und diesen ganzen Mist sowie den Pferdemarkt berücksichtigt, der in den letzten paar Tagen stattgefunden hat. Aber wir können nicht einfach nur eine Liste vorlesen. Nicht jeder, der qualifiziert ist, hat es überhaupt bis in diesen Raum geschafft. Und einige, die es bis hierher geschafft haben, wollen jetzt, wo es drauf ankommt, vielleicht gar nicht mehr weg. Immerhin ist dies ein Flug ohne Wiederkehr.

Also werden wir einen Entscheidungsprozess durchführen. Wir haben eine intelligente Software, die in jeder Phase eine Liste der optimalen Crew aus den übrig gebliebenen qualifizierten Anwärtern aufstellt. Dieses Expertensystem wird die endgültigen individuellen Entscheidungen treffen. Alles klar?

Okay, Phase eins. Ich möchte, dass jeder von euch, der kein Flieger ist, in den hinteren Teil der Aula zurücktritt. Dazu gehören Mama und Papa und die Liebsten, die ihr zurücklasst.« Er funkelte sie alle an. »Und dazu gehört ihr, wenn ihr zu guter Letzt doch nicht mitfliegen wollt, selbst wenn ihr glaubt, für die Crew infrage zu kommen, ganz egal, wie lange ihr trainiert habt oder wer euch den Platz auf diesem Kahn bezahlt hat. Es ist eure Entscheidung. Tretet jetzt zur?ck.?

In die Menge kam Bewegung, und sie begann sich zu sortieren. Venus, Wilson, Mel, Zane und die anderen traten vor, auf Alonzo zu. Susan Frasier küsste Pablo – und trat zu Holles Entsetzen zusammen mit ihm zurück, wobei sie sich an seinem Arm festhielt.

Holle ergriff ihre Hände. »Susan, was tust du? Du bist dein ganzes Leben lang dafür ausgebildet worden. Du hast dich sogar schwängern lassen, um deine Chancen zu verbessern!«

Susan setzte nur ein breites ozeanisches Lächeln auf und sah Holle mit tränennassen Augen an. »Es ist einfach nicht das, was ich will, Holle. Ich glaube, ich hab’s noch nie gewollt. Allein schon die Vorstellung, dass ich Pablo verlassen müsste – das hat mir immer mehr zu schaffen gemacht. Und ich will auch für mein Kind keine solche Zukunft, kein Leben in einer Konservendose. « Sie holte Luft, und das Blut stieg ihr in die Wangen. »Ich meine, selbst wenn es auf einem Floß aufwächst, wird es zumindest die Sonne und den Himmel und das Meer haben … Auf der Arche hätte es das alles nicht. Ihr werdet das alles nicht haben. Ich glaube, ich würde sterben, wenn ich’s nicht hätte.«

Der Gedanke, dass diese vernünftige, bodenständige Frau nicht zu den achtzig gehören würde, schockierte Holle. »Wir brauchen dich. Ich brauche dich. Bitte, Susan.«

Susan schüttelte den Kopf. Die Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Ich kann nicht. Tut mir leid.«

Pablo lächelte Holle an und zog Susan davon.

Holle drehte sich verwirrt zu Kelly und Don um. Plötzlich wurde ihr klar, dass ihr ein weiterer Abschied bevorstand, weil Kellys Weg hier zu Ende war.

Aber Don küsste Kelly hart auf die Lippen. Als er sich von ihr löste, waren seine Augen feucht, während Kellys Augen trocken waren und leuchteten. »Das war’s dann also«, sagte Don mit rauer Stimme.

Kelly legte ihm die Hand an die Wange. »Es war so unfair, wie du rausgeflogen bist – eine pure Machtdemonstration von Gordo, damals an diesem ersten Tag. Aber du bist nie verbittert gewesen. Was für eine unglaubliche Stärke. Das werde ich nie vergessen.«

»Herrgott nochmal, Kelly …«

»Wir sehen uns vor dem Start«, sagte Kelly. »Und bring Dexter mit. Es ist noch Zeit.« Sie schaute sich zu der Schlange um, die sich vor der Bühne mit Alonzo und seiner Lotteriemaschine bildete. »Hör zu, ich muss gehen.«

Don nickte. »Geh nur. Geh.« Er schien drauf und dran zu sein, noch etwas zu sagen. Stattdessen machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte davon, in den hinteren Teil der Aula, steif und aufrecht in seiner Polizeiuniform.

Kelly blieb neben Holle stehen. Sie nahm Holles Hand. »Komm – schauen wir mal, ob wir gewonnen haben.«

Aber Holle zog benommen ihre Hand zurück. »Was machst du, Kelly?«

Kelly versteifte sich. »Muss ich das erklären? Alonzo hat mich vor ein paar Monaten gefragt, ob mein Name wieder auf die Liste gesetzt werden sollte. Ich hatte Zeit, darüber nachzudenken. Ich habe mit Don darüber gesprochen. Und ich habe Ja gesagt.«

Holle verstand es einfach nicht. »Du hast Ja gesagt? Aber das heißt, dass du Dexter verlassen musst.«

»Er hat seinen Vater. Mein Dad wird sich um die beiden kümmern. Er wird am Leben bleiben.«

»Du bist seine Mutter«, stieß Holle hervor.

»Ich bin bestimmt nicht die erste Mutter auf dieser versinkenden Welt, die ein Kind zurücklässt«, sagte Kelly in schroffem Ton. »Ich hätte gedacht, gerade du würdest das verstehen. Meine Güte, wir sind zusammen aufgewachsen, wir haben zusammen diese verdammte Akademie absolviert. Aber du bist wirklich ein kleines Mäuschen geblieben, stimmt’s? Es geht nicht mal ums Überleben. Es geht um die Mission. Sie haben mir die Rolle der Kommandantin in der Trans-Jupiter-Phase angeboten, Holle! Das ist an sich schon eine Mission. Anschließend habe ich die besten Voraussetzungen, um Kapitän der interstellaren Phase zu werden. Sag mal ehrlich, Holle, wie hätte ich das ablehnen können? Ich soll die Arche fliegen. Dafür bin ich geboren. Ich habe mein ganzes Leben lang dafür trainiert. Für mich gibt es nichts anderes.«

»Nicht mal deinen kleinen Jungen?«

»Ich dachte, du würdest das verstehen«, wiederholte Kelly nur. »Komm jetzt.« Sie drehte sich um und ging vor Holle her durch die sich lichtende Menge zur Bühne und zu Alonzos Lotteriemaschine.


37



Die Kandidaten wurden jeweils zu acht oder zu zehnt auf die Bühne gerufen und von Gordo über das Verfahren informiert. Holle sah, wie Grace Gray an die Reihe kam. Sie legte die Hand auf ein Feld an der Maschine, die sich drehte und eine münzenähnliche Scheibe auswarf. Gordo reichte ihr die Scheibe mit einem Lächeln. Grace nahm sie desinteressiert entgegen und ging weiter.

Holle und Kelly stellten sich hinter Mel, Venus, Wilson und Zane in die langsam vorrückende Schlange. Zwischen ihnen stand ein Junge in einer schlecht sitzenden Militäruniform, den Holle noch nie gesehen hatte. Er wirkte unsicher und deplatziert und mied jeden Blickkontakt. Holle hatte den Eindruck, dass die regulären Kandidaten in ihren Uniformen nicht mehr als die Hälfte der Schlangestehenden ausmachten, die Hälfte dieser Leute, die offenbar alle ein Anrecht auf einen Platz auf der Arche zu haben glaubten.

Mel kam zu Holle zurück. Sie ergriff seine Hand und drückte sie fest.

Er warf ihr einen Blick zu. »Alles okay?«

Sie schüttelte den Kopf und presste die Lippen zusammen.

»Wer, zum Teufel, ist dieser Junge in der Army-Uniform?«, wandte sich Kelly leise an Wilson. »Ich könnte schwören, dass er diese Uniform heute zum ersten Mal trägt.«

»Angeblich der Sohn von General Morell«, flüsterte Wilson. »Du weißt schon, der Kerl, der für die Sicherheitsmaßnahmen an der Grenze um die Zone verantwortlich ist. Er hat uns mal gebrieft ??

»Tja, er hat keine Chance, auf unser Schiff zu kommen, ganz gleich, wessen Balg er ist.« Kellys Gesicht war hart, ihr Blick lebhaft, und sie war mit jeder Faser ihres Wesens auf das Auswahlverfahren konzentriert. Sie schaute Don kein einziges Mal nach.

Zane schenkte all dem keinerlei Aufmerksamkeit. Mit seinem schmächtigen Körper in der leuchtend bunten Lycra-Uniform wirkte er unbeholfen und irgendwie losgelöst, als wäre er sich der Vorgänge um ihn herum kaum bewusst – als wäre ihm die Bedeutung dieses Augenblicks, der sein ganzes Leben prägen konnte, gar nicht richtig klar.

Sie näherten sich der Selektionsmaschine, und die Schlange vor ihnen wurde kürzer. Sie gehörten alle zur nächsten Zehnergruppe, die nach vorn gerufen wurde und vor Gordo Alonzo Aufstellung nahm. Holle bemerkte einen Bewaffneten hinter Gordo und einen weiteren bei der Maschine, die alles schweigend beobachteten. Hinter ihnen standen hochrangige Mitarbeiter des Projekts wie Edward Kenzie und Liu Zeng. Holle schaute sich um. Von ihrem Vater war immer noch nichts zu sehen.

Gordo trat vor sie hin, die Uniform akkurat gebügelt, die Hände gefaltet. »Okay, Leute, auf zur nächsten Runde. Indem ihr hier steht, bekundet ihr eure Bereitschaft, auf der Arche zu dienen. Ja? Jetzt werden wir sehen, ob ihr ausgewählt worden seid.

Ihr tretet der Reihe nach vor und legt die rechte Hand auf dieses Feld.« Er zeigte es ihnen. »Wenn die Maschine sich eurer Identität nicht sicher ist, werdet ihr einen Stich im Daumen spüren. Eine Blutprobe. Okay? Und wenn ihr auf der Liste steht, bekommt ihr eine Marke.« Er hielt eine goldfarbene Münze hoch. ?So eine. Nummer eins bis achtzig. Verliert sie nicht. Wirkt irgendwie primitiv, ich wei?, aber sobald die Marken ausgegeben sind, habt ihr eure Eintrittskarte f?r die Arche, komme, was da wolle, selbst wenn wir gehackt werden, wenn die Systeme abst?rzen oder was auch immer. Aber falls ihr keine Marke bekommt, seid ihr nicht ausgew?hlt worden, und wir bitten euch, weiterzugehen.? Der bewaffnete Soldat hinter ihm versteifte sich, das Gewehr im Arm. ?Wer ist der Erste??

Zane trat vor. Er legte die Handfläche an die Stelle, die man ihnen gezeigt hatte, die Maschine drehte sich und spuckte eine Marke aus. Gordo gab sie Zane, der die Hand darum schloss, ohne sie sich anzusehen, und weiterging.

Auch Wilson und Venus kamen problemlos durch. Venus zitterte; sie wirkte ungeheuer erleichtert, es geschafft zu haben, und drückte die Marke an die Brust.

Als Nächste war Kelly an der Reihe. Sie trat mit selbstsicheren Schritten vor. Gordo gab ihr die Marke, und sie reckte sie in die Höhe und stieß einen Jubelschrei aus, als hätte sie eine olympische Medaille gewonnen. Ihr Vater, Edward, klatschte mit seinen leberfleckigen Händen. Holle fand es unglaublich, wie Kelly sich benahm.

Der Junge von der Army, Morell, kam als Nächster. Er zitterte sichtlich. Gordo musste ihm zeigen, wohin er die Hand legen sollte; der Junge wischte sie sich am Hosenbein ab und streckte sie nervös vor. Aber die Maschine warf eine Münze für ihn aus; er nahm sie und ging rasch weiter.

»Ich glaub’s nicht, verdammt nochmal«, sagte Mel. Er klopfte Holle auf die Schulter. »Jetzt du, Schatz. Wir sehen uns auf der anderen Seite.«

Holle trat allein vor. Auf einmal war sie nervös, ihr Herz klopfte wie wild, und sie fühlte sich irgendwie ganz leicht. Sie war sich der Menschen um sich herum bewusst: Gordo, der sie beobachtete, der Wachposten an seiner Seite, Kelly und die anderen erfolgreichen Kandidaten, die auf sie warteten, Mel hinter ihr. Es war so, wie Kelly gesagt hatte. Ihr Leben lang hatte sie sich auf diese Mission vorbereitet. Sie w?rde nie erfahren, wie viel sie daf?r geopfert hatte, was f?r eine Kindheit sie sonst vielleicht gehabt h?tte. Und alles schnurrte auf diesen einen Moment zusammen, auf eine Entscheidung, getroffen von einem ungreifbaren Expertensystem, das von Gordo und den Sozialingenieuren ausgeheckt worden war.

Es hatte keinen Sinn zu zögern. Sie klatschte die flache Hand auf das Feld. Es war schmierig vom Schweiß ihrer Vorgänger. Die Maschine drehte sich. Eine Marke klapperte in den Schlitz. Sie sah sie eine lange Sekunde nur an; sie konnte es kaum glauben. Dann gab Gordo ihr die Marke, und sie umklammerte sie fest, während sie zu Kelly und den anderen hinüberging. Niemand klopfte ihr auf den Rücken, niemand umarmte sie – niemand grinste, außer Kelly. Die Situation war nicht danach. Der kleine Morell stand einfach nur zitternd da; vielleicht machte es ihm mehr Angst, dass er es geschafft hatte, als wenn er durchgefallen wäre.

Mel ging zu der Maschine. Er legte die Hand auf das Feld. Die Maschine drehte sich, aber es fiel keine Marke heraus. Mel runzelte die Stirn und starrte die Maschine an. Er wollte die Hand noch einmal auf das Feld legen, aber der Wachposten trat vor.

Gordo legte ihm die Hand auf die Schulter. »Tut mir leid, mein Junge.«

Mel stand eine lange Sekunde aufrecht da. Dann nickte er, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte davon, ohne zu Holle zurückzuschauen.

Holle konnte es nicht glauben. »Das war ein Irrtum.«

Kelly sagte: »Jemand musste für Daddys kleinen Soldaten Platz machen. Pech.«

»Nein!« Holle sprang nach vorn. Kelly packte sie an den Armen und hielt sie fest.


38



Die erfolgreichen Mitglieder der Crew, die endgültigen achtzig, wurden von Gordo und seinem Stab aus der Aula in einen kleineren Hörsaal geführt. Gordo stieg auf die Bühne, wo ein Podium mit einem blauen Siegel auf der Vorderseite errichtet worden war. In einem Abteil mit Glaswänden im hinteren Teil des Raums befanden sich Zuschauer. Die Kandidaten – nein, die Mitglieder der Crew, dachte Holle – nahmen in den Sitzreihen Platz; sie füllten den Hörsaal nicht einmal zu einem Viertel. Sie waren so schrecklich wenige. Und sie schätzte, dass nicht mehr als sechzig Prozent die Uniform der offiziellen Kandidaten trugen.

Kelly und Wilson begleiteten Holle zu einem Sitzplatz und ließen sich links und rechts von ihr nieder, um dafür zu sorgen, dass sie blieb, wo sie war. Kelly konnte ihr Hochgefühl nicht verbergen. Wilson machte ein grimmiges Gesicht; er wirkte wuchtig in seiner Entschlossenheit.

Holle konnte nicht glauben, dass Mel nicht hier war, dass er nicht neben ihr saß. Sie fühlte sich wie auf Autopilot, außerstande, eigene Entscheidungen zu treffen, unfähig, sich eine Zukunft ohne Mel vorzustellen. Sie wusste nicht einmal, ob man ihr erlauben würde, ihn noch einmal wiederzusehen, sofern sie nicht doch noch irgendwie aus der Crew ausschied.

Alle um sie herum erhoben sich schwerfällig. Sie warf einen Blick zur Bühne und sah, dass Präsident Peery ans Podium trat. Pat Peery war ein kleiner, st?mmiger Mann mit kahlem Sch?del und breitem Gesicht; er trug einen dunkelblauen Anzug mit Anstecknadeln, links eine amerikanische Fahne und rechts seine ureigene Ganze-Erde-Nadel. Eine Phalanx von M?nnern und Frauen in dunklen Anz?gen oder Kost?men folgte ihm auf die B?hne, einige davon zweifellos Sicherheitsleute, andere vielleicht Berater. Holle hatte Peery noch nie pers?nlich gesehen. Er wirkte eher wie ein Kom?diant als wie ein Pr?sident, dachte sie, wie einer jener Standup-Komiker, deren improvisierte schwarzhumorige Erg?sse ?ber Nahrungsmittelknappheit, Eye-Dees und Epidemien in den fr?hen Morgenstunden auf den Nachrichtenkan?len herausgepumpt wurden, um an Schlaflosigkeit Leidende abzulenken.

Peery breitete die Hände aus. »Bitte setzen Sie sich. Ich kann mir vorstellen, wie Sie sich nach dieser Lotteriegeschichte da draußen fühlen.« Er tätschelte seinen Bauch. »Schmetterlinge, stimmt’s? Ich möchte nicht, dass mir jemand ohnmächtig wird.«

Sein Publikum setzte sich. Die Anspannung ließ spürbar nach, fand Holle, und es gab sogar gedämpftes Gelächter.

»Nun«, sagte Peery, »gerade einmal neun Jahre, nachdem meine Vorgängerin zu Mitarbeitern und Verantwortlichen dieses Projekts gesprochen hat, haben wir unsere achtzig, haben wir unsere Crew. Und ich dachte mir, bevor Sie sich zu Ihrer Himmelfahrt rüsten, sollte ich zu Ihnen sprechen und Ihnen ins Gedächtnis rufen, woher Sie kommen, wohin Sie gehen und warum dies alles geschieht.« Er spreizte die Hände. »Dies sind außergewöhnlich schwierige Zeiten für uns alle. Aber das wissen Sie ja. Sonst würden Sie nicht auf einer Atombombe zu den Sternen reiten. Und auch für mich als Präsidenten dieses großartigen Landes war es eine außergewöhnlich schwierige Zeit. Mag sein, dass Sie nicht mit jeder Entscheidung einverstanden sind, die ich im Lauf meiner Amtszeit getroffen habe, mit jeder Ma?nahme, die ich angeordnet habe. Aber ich kann Ihnen versichern, dass ich mit jedem meiner Schritte daf?r Sorge tragen wollte, dass etwas von unserer Nation diesen schrecklichen historischen Endpunkt ?berlebt: ihr Herz und ihre Seele. Und jeden meiner Schritte habe ich vor den Augen des Herrn getan.

So sollte es auch sein. In gewissem Sinn war der ganze historische Weg unserer Nation eine Art Mission – und ich benutze dieses Wort im besten und schönsten Sinn. Ich habe Präsidentin Vasquez’ Politik der Säkularisierung des Staates rückgängig gemacht, aber ich möchte betonen, dass ich mich diesbezüglich nie in das Auswahlverfahren für die Crew der Arche eingemischt habe; die ganze Sache war bereits zu weit gediehen. Doch falls Sie mir in den letzten fünf Jahren überhaupt ihr Ohr geschenkt haben, werden Sie wissen, dass ich Gott ins Zentrum der Geschicke unserer Nation zurückgeholt habe.

Und damit, so glaube ich, habe ich Ihr großartiges Projekt gerettet. Ich habe in dieser Endzeit die Ansicht vertreten, dass Sie und Ihre Arche ein reiner und edler Ausdruck jener Mission sind, mit der unsere Gründerväter zu diesem Kontinent kamen, und das in der Zeit der größten Krise, einer Krise, die sie niemals hätten vorhersehen können. Damit habe ich die Unterstützung der Nation für Ihr Projekt gewonnen. Und ich habe auch die Weiterführung einer zweiten Mission angeordnet, den Bau einer zweiten Arche, um eine Zuflucht hier auf der Erde zu erschaffen. Nein, ich weiß, Sie haben noch nie etwas davon gehört – und die an dem anderen Projekt Beteiligten haben noch nie etwas von Ihnen gehört. In solchen Zeiten leben wir.

Und um sicherzustellen, dass diese großartigen Projekte geschützt und auf gebührende Weise unterstützt werden, musste ich Maßnahmen ergreifen, die viele von Ihnen widerwärtig fänden. Die ich widerwärtig finde. Ich will ein Beispiel herausgreifen, bei dem Sie selbst betroffen waren, hier und heute in Gunnison.

Wir haben Sie frühmorgens hier in die Zone gebracht, ohne Vorwarnung, um den Eye-Dees, den Saboteuren und anderen Verrückten nicht die geringste Chance zu geben, die Arche in die Luft zu sprengen, ihre Babys über den Zaun zu werfen oder die Mission auf andere Weise zu stören. Wir haben Sie in Sicherheit gebracht, bevor diese Leute überhaupt begriffen haben, was vorging.

Aber die schlichte Wahrheit ist: Um uns die Loyalität meiner Generäle, meiner hochrangigen Militärs zu sichern, musste ich ihren Kindern Plätze auf der Arche verschaffen. Das ist nicht willkürlich geschehen; die Kinder mussten grundlegenden Standards in puncto Gesundheit, genetischer Diversität, Kompetenz und so weiter genügen. Doch nun werden diese Männer, diese hochrangigen Personen ihre eigenen Kinder beschützen. Glauben Sie mir, sie werden gute Arbeit leisten. Allerdings ist der Prozess, dem manche von Ihnen Ihr ganzes Leben geweiht haben, dadurch in letzter Minute pervertiert worden. Vielleicht hassen Sie mich deswegen. Ich nähme es Ihnen nicht übel. Aber wenn ich es nicht getan hätte, dann, so glaube ich, hätte ich während der noch verbleibenden sieben Tage bis zum Start nicht für Ihre Sicherheit garantieren können. Ich hoffe, Sie verstehen das und werden mir verzeihen.

So, ich habe genug geredet. Sie haben ungeheuer viel zu tun, und Ihnen bleiben dafür nicht mehr sehr viele Stunden. Aber vergessen Sie nicht, dass ich und alle Angehörigen der Generation Ihrer Eltern Ihnen alles in unseren Kräften Stehende gegeben haben, um sicherzustellen, dass Ihre bemerkenswerte Reise erfolgreich verläuft. Einige von uns haben dabei ihre Seele befleckt. Vergessen Sie uns nicht auf der Erde II.? Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und sah dann seine Berater an. ?Ich sch?tze, das war?s.? Er verlie? das Podium.

Alle erhoben sich.


Als die Entourage des Präsidenten von der Bühne ging, kamen Edward Kenzie und Patrick Groundwater durch eine Seitentür herein. Sie eilten zur Bühne, um sich zu Gordo Alonzo zu gesellen, der sich in ernstem Ton mit Liu Zheng unterhielt. Patrick schaute sich um, ließ den Blick nervös über das Publikum schweifen, bis er Holle sah, und winkte sie eindringlich zu sich.

Holle ignorierte Kelly und die anderen. Sie schnappte sich ihren Rucksack, eilte die Stufen hinunter und lief zur Bühne. »Dad, oh, Dad …«

»Hallo, mein Schatz.« Patrick packte sie und drückte sie an sich. Er war heiß, verschwitzt und unrasiert, als hätte er die Nacht durchgearbeitet.

»Ich dachte schon, ich würde dich gar nicht mehr wiedersehen. «

»Sei nicht albern.« Patrick trat zurück und lächelte müde. »Ich musste nur warten, bis der Präsident fertig war. Was für eine Rede.«

Gordo grunzte. »Immer derselbe alte Scheiß von Pat Peery. Es ging nicht ums Projekt, er ist auf die Statuen aus, die ihr ihm auf der Erde II errichten werdet.« Er schüttelte den Kopf. »Tja, er ist schon ein knallharter Bursche. Dazu gehört auch, dass er die ganze Sache als heilige Mission verkleidet hat. Ist wohl auch nötig in diesen Zeiten.«

Holle interessierte sich nicht für Peery. »Dad. Weißt du schon, was passiert ist – das mit Mel?«

»Tut mir leid, mein Schatz. Du weißt, dass ich da nichts machen konnte. Wenn man in letzter Minute zwanzig Outsider dazuholt, muss man Platz schaffen, indem man zwanzig Insider rausschmeißt.«

»Ohne Mel fliege ich nicht.«

Patrick legte ihr die Hand auf die Wange, so wie früher, als sie noch ganz klein gewesen war. »Du hast dich dein ganzes Leben lang darauf vorbereitet. Du musst fliegen. Tu’s für mich.«

»Und außerdem«, murmelte Edward Kenzie boshaft, »bist du ja schließlich hier. Ich sehe nicht, dass du Gordo deine Marke zurückgibst.«

Patrick fuhr ihn an: »Sie Arschloch, Edward …«

»Kann das nicht bis später warten?«, fiel Gordo ihm ins Wort. »Wir haben da ein dringendes Problem, Holle, bei dem wir deine Hilfe brauchen.«

Holle funkelte ihn an. »Ich werde Ihnen garantiert nicht helfen.«

Gordo seufzte und rieb sich das Gesicht. »Herrgott nochmal – Kinder! Kannst du nicht einfach noch eine Stunde lang so tun, Holle, als würdest du noch zu der Scheiß-Crew gehören?«

Liu Zheng sagte: »Von allen Kandidaten bist du die Einzige, mit der er sprechen will.«

»Wer?«

»Matt Weiss. Er wartet auf uns.«

Verwirrt ließ sie sich wegführen, während Kelly und die anderen ihr nachstarrten.


39



Matts Zelle war primitiv, eine Höhle in einem Betonblock, die Wände rau und unverputzt. Er hatte eine Chemietoilette, ein Waschbecken, einen Schrank mit Büchern, ein Bett, einen Fernseher. Aber es gab keine Fenster, kein natürliches Licht.

Matt saß auf seinem Bett, als Gordo die Tür öffnete. Liu und Gordo folgten Holle hinein; Patrick blieb draußen.

Matt stand auf und wandte dabei den Blick ab, als schämte er sich. Er trug einen Overall aus einem groben Recyclingmaterial. »Hätte nicht gedacht, dass du kommst«, sagte er zu Holle. »Ich weiß, ich habe gesagt, dass ich mit dir reden würde, wenn du kämst, aber …«

Sie rang sich ein Lächeln ab. »Hätte auch nicht gedacht, dass ich hierherkommen würde.« Sie wusste immer noch nicht, was die drei von ihr wollten. Sie setzte sich aufs Bett, und Matt nahm neben ihr Platz. Liu Zheng setzte sich auf den einzigen Stuhl im Raum, einen harten Plastikstuhl mit senkrechter Lehne, und Gordo lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand.

»Tut mir leid, dass es hier drin so stinkt«, sagte Matt. »Ich dusche alle drei Tage. Aber die Zelle ist nun mal winzig.«

»In ein paar Wochen wird die ganze Arche wahrscheinlich genauso stinken.«

»Vielleicht. Ich werd’s nie erfahren, oder? Du hast bestimmt nicht gewusst, dass es auf dem Startgelände ein Gefängnis gibt.«

Sie zuckte die Achseln. »Überrascht mich nicht. Das ganze Gelände ist jetzt so was wie ein Gefängnis. Es wimmelt nur so von Cops, Soldaten und Nationalgardisten. Sie halten dich hier fest, seit …«

»Seit ich den Mord an Harry gestanden habe, ja.«

»Wie wär’s mit einem Prozess?« Sie hob den Blick zu Gordo.

»Wir haben eine Menge zu tun«, sagte Gordo. »Prozessvorbereitungen stehen da nicht gerade an oberster Stelle.«

»Ich will keinen Prozess«, erklärte Matt mit fester Stimme. »Wozu sollte das gut sein? Das Ergebnis wäre doch dasselbe.«

Holle hob die Schultern. »Okay. Aber wie geht’s jetzt weiter? Sie werden dich von hier wegbringen, nehme ich an.« In dieser Zelle waren sie nicht mehr als vierhundert Meter von der Orion entfernt.

Liu Zheng beugte sich vor. »Darüber müssen wir mit Ihnen sprechen, Matt. Wir brauchen Freiwillige.«

»Freiwillige?«

»Sehen Sie …« Liu zeigte nach oben und nach draußen, ungefähr dorthin, wo die Arche stand. »Sie wissen ja, wenn sich der Vogel in die Lüfte erhebt, wird im Umkreis von mehreren Hundert Metern um die Startrampe herum alles zerstört werden. Die Zone wird dem Erdboden gleichgemacht werden, ebenso wie ein großer Teil des Hinterlands …«

»Ich weiß, ich weiß. Nichts, was sich in der Nähe der Orion befindet, wird den Start überstehen. Und?«

»Aber jemand muss ›in der Nähe‹ bleiben«, sagte Gordo. »Bis zum Ende, bis zu dem Moment, wenn diese Kanonen anfangen, ihre thermonuklearen Geschosse durch die Prallplatte nach unten zu spucken.«

Liu Zheng seufzte. »Die Arche ist eine experimentelle Maschine, Matt. Es ist ein makabrer Witz, dass wir bis zu dem Moment, in dem sie abhebt, weiter an ihr herumbasteln werden. Aber es trifft zu. Reihe Modifikationen. Die meisten davon werden wir nicht mehr installieren, geschweige denn testen k?nnen. Sie wissen, dass der Startvorgang von einem Bunker beim Pikes Peak aus ?berwacht wird. Aber diese Kontrolle und Unterst?tzung aus der Ferne werden nicht reichen. Wir gehen davon aus, dass in den letzten Stunden des Countdowns etliche Fehlerm?glichkeiten auftreten werden ? einige davon k?nnen wir voraussehen, aber viele sicherlich auch nicht.

Darum werden wir ein Team zusammenstellen. Ein Team, das bis zur letzten Minute hier bleibt, bis es zu spät ist, aus der Explosionszone zu entkommen – das verstehen Sie bestimmt –, ein Team, das möglicherweise in der Orion herumkriecht und Lecks abdichtet, noch während die Atombomben zünden.«

»Ein Selbstmordkommando also«, sagte Matt langsam. »Und Sie wollen, dass ich dabei bin.«

Holle merkte, wie ihr die Luft wegblieb. Nach einem Tag voller Schocks war dies nun eine weitere Entwicklung, die sie nicht erwartet hatte.

Gordo sagte: »Deinen Eignungstests zufolge warst du ziemlich gut in Mathe, Physik und Nukleartechnik, aber vor allem warst du einer der besten Mechaniker im Kandidatenkorps. Also, das ist deine Chance, mein Junge. Eine Chance, etwas für das Projekt zu tun, dem du dein Leben gewidmet hast.«

Liu Zheng streckte die Hand aus und fasste ihn an der Schulter. »Und ich«, sagte er, »werde bei euch sein. Ich werde die Leitung übernehmen. Dies ist schließlich mein Projekt.« Er lächelte. »Es wird eine Ruhmestat sein. Denken Sie an die Ehre. Denken Sie an das Schauspiel, wenn der Vogel abhebt, eingebrannt in Ihre Netzhäute …«

»Bevor mein Gehirn verdampft.«

»Du wirst in vollem Umfang begnadigt«, erklärte Gordo. »Schriftlich, vom Präsidenten, wenn du willst. Wir brauchen dich, mein Junge. Holle braucht dich.«

»Was ist das für eine miese Manipulation«, fuhr Holle auf. »Es ist ein Todesurteil!«

Matt blickte sie an. »Fliegst du mit?«

Gordo und Liu sahen Holle ebenfalls an. Jetzt verstand sie, weshalb die beiden sie hergebracht hatten. Elend sagte sie: »Ja, Matt. Ja, ich fliege mit.«

Matt nickte. Er ergriff Lius Hand und schüttelte sie. »Geben Sie mir einen Schraubenschlüssel, und ich bin Ihr Mann, Boss.«

Holle konnte es nicht mehr ertragen. Sie lief zur Tür, die sich öffnete, um sie freizulassen, und fiel ihrem Vater in die Arme.


Auf dem Weg zum Wagen roch sie Feuer. Überall am Horizont stieg Rauch empor, schwarz und hässlich. Wie sich herausstellte, hatte Präsident Peery angeordnet, einen mehr als sechs Kilometer langen, mit kostbarem Öl gefüllten Graben anzuzünden, der die gesamte Kernzone umgab. Der Graben würde am Brennen gehalten werden, bis ihn das Triebwerk der aufsteigenden Arche auslöschte.


40



DEZEMBER 2041



Die Sirene hallte durch die Gänge. Ihre Pulsfrequenz betrug eineinzehntel Sekunden, passend zu dem Rhythmus, dachte Holle schläfrig, mit dem die thermonuklearen Sprengladungen unter der Prallplatte detonieren würden, um die Arche und sie selbst in den Weltraum zu stoßen.

Die Sirene.

Sie setzte sich kerzengerade auf. Die Decke fiel von ihrem nackten Oberkörper. Ein Paneel an der Schlafzimmerwand blinkte in grellem Rot. Auf der Wanduhr war es kurz nach sechs. Sie hatte seit Mittag geschlafen, nachdem sie wieder einmal eine Sechsunddreißigstundenschicht in den Simulationen absolviert hatte. »Ein!«

Der Bildschirm klärte sich und zeigte Gordos Gesicht. »… ist das Kontrollzentrum Pikes Peak. Schafft eure Ärsche in die Arche. Sofort! Der Start ist auf zwanzig-hundert festgelegt worden. « Flacker. »Hier ist das Kontrollzentrum Pikes Peak. Schafft eure Ärsche …«

Sie wälzte sich aus dem Bett, lief durchs Zimmer und schlug auf das Paneel. »Gordo! Hier ist Holle.«

Die Aufzeichnung brach ab und zeigte ein Live-Bild: Gordo Alonzo mit gelockerter Krawatte, im Hintergrund hektische Szenen im Startkontrollzentrum. Gordo verzog keine Miene. Sein Blick schweifte eindeutig nicht über ihren nackten Körper. »Guten Abend, Holle.«

»Was ist los, Gordo? Der Start war doch für null-achthundert morgen früh angesetzt.«

»Jetzt nicht mehr«, sagte er barsch. »Morell meint, er kann die Stellung höchstens noch ein paar Stunden halten.«

Sie war verwirrt. »Wir sind doch noch gar nicht bereit.«

»Das werdet ihr sein müssen.«

»Es sind noch Zivilisten hier, im Hilton. Mel ist hier irgendwo. Mein Vater …«

»Die müssen von dort verschwinden.« Er drückte auf ein Eingabefeld außerhalb ihres Blickfelds. »Nein, Argent, das ist keine Übung, verdammt nochmal. Schaff deinen mageren Arsch jetzt sofort rüber zur Startrampe.« Ein weiterer Tastendruck, und seine Hand blieb in der Nähe der gelockerten Krawatte hängen. »Mr. President. Ja, Sir, hier ist das Startkontrollzentrum beim Pikes Peak. Nach General Morells Mitteilung haben wir den Zeitplan beschleunigt. Ich bin zuversichtlich, dass wir – ja, Sir, ich verstehe. Wenn Sie mich für eine Sekunde entschuldigen.« Er schaute finster drein, als würde er Holle direkt anfunkeln. »Jedes von euch Arschlöchern aus der Crew, das mir zuhört, wie ich mit dem Präsidenten spreche, statt seinen Arsch zum Schiff rüberzuschaffen, wird viel Zeit haben, das zu bereuen. Ja, Sir, sprechen Sie weiter …«

»Aus.« Der Schirm wurde dunkel.

Benommen schaute sie sich um. Sie hatte halb mit so etwas gerechnet und schon einmal ihre Sachen vorbereitet. Ihr Startanzug lag ausgebreitet über einem Stuhl, ein lose sitzender Innenanzug mit eingenähten medizinischen Sensoren und Funkvorrichtungen sowie ein robuster, leuchtend blauer Overall aus AxysCorp-Stoff, ein klobiges Ding mit eingebauten Aufprallschutz-Luftkissen, Kühlsystem und Anschluss zum Entsorgungssystem. Und sie hatte den kleinen Beutel halb fertiggepackt, der die einzigen pers?nlichen Sachen enthalten w?rde, die sie an Bord der Arche mitnehmen durfte, Datensticks, Angels, Fotos auf Papier ? eine Haarlocke von Mel.

Sie setzte sich in Bewegung, lief umher und sammelte die letzten Dinge aus dem Schlafzimmer und dem Badezimmer ein, ihre Zahnbürste, ihre Box mit Monatsbinden.

Sie hörte laute Rufe, aufheulende Motoren, schnelle Schritte, das unaufhörliche Plärren der Sirene und ein Knallen, das wie Schüsse aus Handfeuerwaffen klang. Mit zitternden Händen legte sie die beiden Schichten des Fluganzugs an. Sie konnte nicht glauben, dass dies geschah, dass die Zeit gekommen war, der endgültige Abschied. Sie musste dringend aufs Klo, aber das konnte sie auch auf der Arche erledigen.

Sie suchte eilig nach ihren Stiefeln. Draußen vor dem Fenster flackerten rote Lichter in diesem unheildrohenden atomaren Rhythmus.


In der Eingangshalle im Erdgeschoss wimmelte es von Crew-Mitgliedern und Angehörigen des Bodenpersonals. Militärs mit Waffen im Anschlag geleiteten die Crewmitglieder zu den gepanzerten Bussen, die sie zur Arche bringen würden.

Quer durch den Raum war eine Glaswand errichtet worden, die ihn in zwei Hälften teilte. Seit Tagen schon hatten Unbefugte keinen Zutritt mehr zu den Crewbereichen; so wollte man die Besatzung bazillenfrei halten. Mel war nicht da. Aber inmitten der Handvoll Partner, Kinder und Eltern, die verlassen jenseits der Barriere standen, sah Holle ihren Vater.

Sie lief zu ihm, ließ die Tasche fallen und drückte die Hände ans Glas; er legte von der anderen Seite seine auf ihre. »Dad – oh, Dad. Ich würde dieses Glas am liebsten zerschlagen.«

Er zwang sich zu einem Lächeln. »Das wäre keine gute Idee.«

»Ich habe versucht, sie zu überreden, dich am letzten Abend reinzulassen. Ich wollte dir eine Paella machen.«

»Keine Sorge, die mache ich mir selbst – dir zu Ehren. Und ich werde sowieso über Funk mit dir sprechen; so leicht wirst du mich nicht los.«

»Mel ist nicht da. Er hat gesagt, er würde hier sein.«

»Es ist schwer für ihn, Schätzchen. Ich rede mit ihm. Ich sorge dafür, dass es ihm gutgeht.«

Jemand ließ eine Pfeife ertönen, der letzte Aufruf für die Busse.

»Dad …«

»Eins will ich dir noch sagen, Liebes; das habe ich dir noch nie erzählt. Deine Mutter und ich haben Thandie Jones zugehört, als sie dem IPCC in New York ihre Weltuntergangstheorie dargelegt hat. Danach bist du gezeugt worden. Du warst ein Kind der Hoffnung. Aber ich habe dir nie erklärt, warum wir dich Holle genannt haben. Auf Orkney hat mir meine Großmutter alte nordische Geschichten erzählt … Du bist nach der alten nordischen Göttin des Lebens nach dem Tod benannt – Holle, Hel, Hulda. Holle ist die Göttin der Verwandlung.« Er weinte jetzt. »Ich habe immer gehofft, dass du dieses Versprechen irgendwie einlösen würdest. Und hier bist du nun und gehörst zum Leben nach dem Tod der ganzen Welt.«

Das war mehr, als sie ertragen konnte. »These are the days of miracle and wonder, stimmt’s, Dad?«

Er trat behutsam zurück. »Nicht weinen, Baby.« Seine Stimme war gedämpft.

Kelly Kenzie kam herbeigelaufen und packte sie am Arm. »Bist du immer noch hier? Komm schon, verdammt, der Scheiß-Bus fährt jetzt los.«

Holle ließ sich von ihr wegziehen. Als sie zurückschaute, war Patrick in der Menge verschwunden.


Sie zwängten sich in den gepanzerten Bus. Er fuhr an, bevor Holle sich hinsetzen konnte, bevor die Tür richtig geschlossen war. Alle stolperten herum, die Reißverschlüsse ihrer Anzüge halb zugezogen, und zerrten an ihrem Gepäck; dies hatte keinerlei Ähnlichkeit mit der ordnungsgemäßen Einschiffung, die sie geprobt hatten.

Holle bahnte sich einen Weg zu einem Sitzplatz, aber er war zu klein für sie in ihrem klobigen, mehrschichtigen Anzug. Eine Fehlkonstruktion, dachte sie. Mach eine Notiz für den Integrationsausschuss. Aber dieser Bus würde in ein paar Stunden mitsamt seiner fehlkonstruierten Sitze und allem vaporisiert werden. Sie spürte, wie ein hysterisches Lachen in ihr hochbrodelte. Sie schaute aus dem Fenster. Brauner, fettiger Rauch von dem Ölfeuer im Graben stieg in die Luft, wie seit mittlerweile sechs Tagen.

Ein dumpfes Dröhnen steigerte sich zu einem Crescendo, das auf sie alle herabstürzte und sie dazu brachte, sich zu ducken. Zwei Düsenjäger mit strahlend hellen Lichtern schossen kreischend über den Himmel und verbrannten noch etwas mehr vom schwindenden Flugbenzin-Vorrat der Nation. Sie fragte sich, zur Bekämpfung welcher Gefahr sie in die Luft geschickt worden waren.

Der Bus kam mit einem Ruck zum Stehen. Die Fahrerin öffnete die Türen, stand auf und wedelte mit den Armen. »Raus! Raus! Schnell!« Sie war eine Frau mittleren Alters in einem ABC-Overall, einem Anzug, der vor atomaren, biologischen und chemischen Gefahren schützte. Holle verstand ihre Eindringlichkeit; wenn es der Fahrerin nicht gelang, ihren Bus zu wenden und aus der Explosionszone zu verschwinden, würde sie den Start nicht überleben, ABC-Schutzanzug hin oder her.

Holle stieg aus dem Bus, ihren Beutel unter dem Arm. Die Arche ragte über ihr auf, schimmernd in dem Licht, in das sie von den starken Scheinwerfern unterhalb der Orion-Startstufe getaucht wurde. Tanklaster standen an der Basis des Schiffs; ihre Schläuche schlängelten sich in die Gerüstkonstruktion, während hoch oben Ventile weißen Dampf abließen.

Es gab keine Zeit zum Überlegen. Kelly eilte voran, und Holle folgte ihr.

Sie gelangten zum Fußende der Gangway, wo Angehörige der Boden-Crew und des Militärs, alle in ABC-Anzügen, ihre Bordmarken prüften und sie eiligen Netzhaut-Checks unterzogen. Eine letzte Sicherheitsüberprüfung – die allerletzte. Kelly und Holle wurden durchgelassen und schlossen sich der Schlange auf der schrägen Rampe zum Maul des Schiffes an.

Und dann traf es Holle wie ein plötzlicher Schlag. »Hey«, sagte sie schwer atmend. »Ich habe gerade zum letzten Mal den Fuß vom Boden der Erde genommen.«

Kelly schritt energisch aus, nahm die großen, tiefen Stufen wie eine Sportlerin im Training. »Du musst dich konzentrieren, Groundwater.«

Holle eilte ihr nach. »Das sind einzigartige Momente. Ich glaub’s einfach nicht, dass es auf diese Weise geschieht.«

»Du hast noch viele Jahre Zeit, um es zu glauben. Komm jetzt!«

Die Schlange wurde langsamer, als sie sich der Luke rund zwanzig Meter über dem Boden näherten. Leute rempelten sich im Versuch, an Bord zu gelangen, gegenseitig an. Von hier aus hatte Holle einen weiten Ausblick über die Zone mit ihrer hektischen Aktivität bis zu dem aufsteigenden Vorhang aus hässlichem Ölrauch und dem dahinterliegenden Gelände. Die Lichter von Gunnison leuchteten in der Dunkelheit des Dezemberabends, und ?berall im Hinterland stiegen Wolken aus Rauch und Staub empor. ?ber dem Zischen der riesigen Ventile der Arche h?rte sie das Knallen von Handfeuerwaffen, das dumpfe Krachen schwererer Munition und ferne Schreie, wie es schien. Die Arche war das Zentrum eines Kriegsgebiets. Sie konnte nicht glauben, dass alles, was sie von hier oben aus sah, vernichtet werden w?rde, sobald das au?ergew?hnliche Triebwerk der Arche z?ndete. Doch jenseits des weitl?ufigen, von den Menschen beanspruchten Terrains erhoben sich die Rockies, gewaltig und gleichm?tig, dunkel vor dem Himmel. Sie w?rden selbst dem Start einer Orion widerstehen. Holle fragte sich, ob es auf der Erde II Gebirge geben w?rde.

Kurz vor der Luke sog sie die Luft der Erde ein letztes Mal tief in die Lungen, aber sie schmeckte nach Benzin und dem Ammonium des Kolben-Kühlmittels, und ihr stieg der scharfe, metallische Geruch der Archenmodule in die Nase.

Und jetzt hörte sie Rufe von unten. Sie schaute zurück. Die Sicherheitsabsperrung am Fußende der Rampe brach zusammen. Einige Soldaten schienen gemeutert zu haben; sie kämpften mit Cops und Angehörigen des Bodenteams, um selbst an Bord des Schiffes zu gelangen. Alles löste sich auf, dachte sie.

Weitere Flugzeuge donnerten im Tiefflug über sie hinweg, unglaublich nah. Sie duckte sich und eilte ins Schiff.


41



»Das Leck ist hier.« Liu Zheng faltete eine große Schemazeichnung auf Papier auseinander und deutete mit behandschuhter Hand auf eine Leitung, die von einem Behälter mit sekundärem Kühlmittel wegführte. Matt und er trugen leichte ABC-Anzüge. Liu musste schreien, um sich über dem Zischen des Dampfs, dem Motorengebrumm um die Basis der Arche herumfahrender Busse und Lastwagen, dem eindringlichen Geschrei und dem unheildrohenden Rattern von Schüssen verständlich zu machen. »Sehen Sie? Direkt über diesem O-Ring.«

»Warum können die automatischen Systeme das nicht reparieren? «

»Die sind eingefroren«, sagte Liu. »Ein Mehrfachversagen. So was kommt vor. Deshalb sind wir ja hier. Das Leck muss abgedichtet werden; wenn sich einer dieser Federkolben ohne das Kühlmittel während des Fluges überhitzt und festfrisst, fällt die Arche vom Himmel. Haben Sie Ihr Werkzeug?«

Matt schulterte einen Rucksack.

»Okay. Nehmen Sie Fahrstuhl drei.« Liu grinste. »Das ist Ihr großer Augenblick, Mr. Weiss.« Er stopfte die Schemazeichnung in Matts Rucksack. »Los, los!«

Matt lief zum Käfig des Fahrstuhls, der wie elf weitere zu Wartungszwecken Zugang zur Arche gewährte. Er schlug das Scherengitter zu und umfasste den Totmannschalter, der den Käfig in die verschatteten Innereien des Schiffes aufsteigen ließ, vorbei an der gekr?mmten Flanke eines der Crew-Module. Eine Wand aus wei?em Isoliermaterial sauste an seinem Gesicht vorbei, zernarbt von Wartungsluken, Sicherheitswarnungen, Ventilsockeln ? und Handhelds, markiert mit auf dem Kopf stehenden Schablonenschriften f?r die Weltraumspazierg?nger jener au?ergew?hnlichen Zukunft, in der dieses Schiff im Jupiter-Orbit auseinandergenommen und f?r den interstellaren Flug neu zusammengesetzt werden w?rde. Ihm war ein wenig schwindlig, und alles kam ihm irgendwie unwirklich vor. In der letzten Zeit hatte er nicht viel geschlafen. Seit der Entlassung aus dem Gef?ngnis vor einer Woche hatte er seine gesamte Zeit darauf verwendet, sich jeden Aspekt der Systeme einzupr?gen, f?r die er zust?ndig sein w?rde. Er dachte sich, dass er den Schlaf nachholen konnte, wenn er tot war. Und durch den vorgezogenen Start der Arche hatte er nat?rlich auf einen Schlag zw?lf Stunden seines Lebens verloren. Einen ganz sch?n gro?en Prozentsatz, wenn einem sowieso nur noch ein Tag blieb.

Er schaute nach oben und versuchte, die problematische Leitung ausfindig zu machen. Das Innere der Arche war ebenso hell erleuchtet wie das Äußere, eine Masse glänzenden Metalls, Rohre, riesige, durch Leitungen und Kabel miteinander verbundene Tanks, alles von den mächtigen Streben des Gerüsts umschlossen. Er sah sich drehende Kameras und einen Wartungsroboter, der über die Wand eines der großen Crewmodule krabbelte, ein Ding wie eine Spinne, bewaffnet mit einer Kamera anstelle eines Kopfes, Saugnäpfen als Füßen, so dass es senkrechte Wände erklimmen konnte, und einem Waldo-Arm mit einem Werkzeugsortiment wie ein Schweizer Messer.

Während es immer höher hinaufging, schaute er an der Flanke des Crewmoduls hinab und sah tief unten, durch Lücken in der Traube von Tanks und Rohren, die gleichmütige, massive Prallplatte. Eine umgedrehte Sch?ssel aus geh?rtetem Stahl, schon f?r sich allein ein wundersch?nes St?ck Technik mit einem Durchmesser von vierzig Metern, und dabei nur zehn Zentimeter dick. Die Bomben w?rden unterhalb der Platte zur Explosion gebracht werden, Waffen von der f?nffachen St?rke der Hiroshima-Bombe, die jede in eineinzehntel Sekunden Abstand detonierten. Der Abwurf w?rde durch die simpelste vorstellbare Methode erfolgen, indem man sie aus einer genau in der Mitte der Prallplatte sitzenden Kanone nach unten schoss. Das von jeder Pulseinheit produzierte Treibmittel w?rde gegen die Prallplatte schlagen und dabei seinen Impuls ?bertragen, aber zu rasch verdunsten, um die zus?tzlich durch eine kontinuierlich erneuerte Schicht Antiablations?l gesch?tzte Platte zu besch?digen. Der daraus resultierende Schub w?rde vom Sto?d?mpfersystem aufgenommen werden, gewaltigen, hoch aufragenden Kolben mit einem Hub von elf Metern und einem komplexen dualen Wirkmechanismus, der die anf?lligen Teile des Schiffes vor der R?ckfederung sch?tzte, falls eine Pulseinheit versagte.

Nachdem die Konstrukteure der Arche noch einmal ganz von vorn begonnen hatten, sich mit den technischen Problemen zu beschäftigen, waren sie zu einem Konzept zurückgekehrt, das jenem Entwurf nahekam, der sich im Verlauf des ursprünglichen Kalte-Krieg-Projekts Orion schließlich als Standard durchgesetzt hatte: ein Viertausend-Tonnen-Ungetüm, bei dem diese Masse gleichmäßig zwischen Prallplatte, Schiffskörper, Bomben und tausend Tonnen Nutzlast aufgeteilt war. Im Vergleich dazu hatte die Saturn V, jene Rakete, die, allein von chemischen Energien angetrieben, Apollo zum Mond getragen hatte, um die dreitausend Tonnen gewogen, davon nur vierzig Tonnen Nutzlast. Selbst jetzt war es schwer, die Realität zu erfassen. Wenn das Schiff unterwegs war, w?rde dieser ganze Raum Schauplatz enormer technischer Aktivit?ten sein; ?berall um den Rand der Prallplatte herum w?rde glei?endes atomares Licht aufstrahlen, und die Kolben w?rden bei jedem m?chtigen Hub erzittern.

Als Matt nun nach oben schaute, sah er, dass er sich den riesigen, in ihren Gerüsten hängenden Tanks mit Kühlflüssigkeit und Ablationsöl sowie dem komplexen Rohrnetz näherte, das beide verband. Dort war sein Leck. Während des Fluges wurden die Kolben nach jedem Hub mit einer Ammoniakverbindung gekühlt. Das dabei entstehende komprimierte Hochtemperaturgas trieb dann die Pumpen an, die vor der nächsten Detonation eine Schicht Antiablationsöl auf die Prallplatte sprühten, und wurde zum Auswurf der nächsten Pulseinheit im Sprengladungsmagazin verwendet. Für einen Ingenieur war es befriedigend, mit den Produkten eines Hubs den nächsten vorzubereiten; es war ein Prozess, der nach thermodynamischer Effizienz roch. Aber diese Komplexität zeitigte vielfältige Fehlermöglichkeiten.

Das Licht in seinem Fahrstuhlkäfig erlosch, und er kam ruckartig zum Stehen.

»Scheiße.« Matt drückte auf seinen Totmannschalter und rüttelte an der Käfigtür. Weder im Käfig selbst noch in der Seilhydraulik schien es noch Strom zu geben. Matt schaltete sein Kehlkopfmikro ein. »Liu, hier ist Matt.«

Als die Verbindung hergestellt wurde, hörte Matt, wie Liu Zheng ein anderes Gespräch abbrach. »Sprechen Sie weiter.«

»Ich habe keinen Strom mehr in Fahrstuhl drei.«

»Moment … ja, ich sehe es. Wir haben überall auf dieser Seite Stromausfall, ein Generator hat den Geist aufgegeben. Verdammt.« Liu klang ungeheuer angespannt. Was sie mehr als alles andere fürchteten, war Mehrfachversagen, ein Problem, das ein anderes verschlimmerte. ?Sind Sie immer noch mit diesem K?hlmittel-Leck besch?ftigt? Haben Sie?s schon beseitigt??

»Negativ.« Matt widerstand dem Drang, Liu anzublaffen; natürlich hatte er das Leck in den paar Minuten, seit er Liu verlassen hatte, noch nicht beseitigt. Liu jonglierte mit hundert Aufgaben zugleich, die alle so dringend waren wie die von Matt; in dieser letzten Stunde seines Lebens musste sich die Zeit für ihn dehnen. »Ich bin immer noch auf dem Weg nach oben.«

»Wir bekommen erst wieder Strom, wenn – ich weiß es nicht. Matt, können Sie improvisieren? Ja, Mary, was ist? …«

Matt unterbrach die Verbindung. Improvisieren. Nun, ihm blieb keine Wahl, und überall am Schiff gab es Zugangsleitern.

Er schnallte den Werkzeugrucksack auf dem Rücken fest, griff nach der manuellen Bedienung und zog das Gitter auf. Die nächste Leiter war unmittelbar draußen vor dem Käfig, und es gab auch ein Geländer, in das er eine Sicherungsvorrichtung an seinem Gürtel einklinkte. Er hielt sich am Geländer fest, schwang einen Fuß hinaus und erreichte die nächste Sprosse. Er zog an der Sicherungsvorrichtung, um sie zu prüfen. Dann schaute er nach oben in die Kathedrale aus glänzenden Metallgebilden über ihm und begann emporzuklettern.

Überwachungskameras drehten sich, als er an ihnen vorbeikam, und blickten ihm nach.


42



Holle folgte Kelly von der Gangway aus über einen Gitterboden und durch eine hell erleuchtete Kammer, bevor sie sich einer weiteren Schlange anschlossen, um zu den höher gelegenen Decks zu gelangen.

Holle schaute durch Fußbodenschichten nach oben. Dieses Crewmodul war ein aufrecht stehender Zylinder. Tatsächlich war es ein umgebauter großer Treibstofftank der Ares-V-Trägerrakete, ein Überbleibsel des problembehafteten Konstruktionsprozesses des Projekts; als die Entscheidung getroffen wurde, auf Ares-Raketen zu verzichten und mit einer Orion zu fliegen, hatten sich die Ingenieure dafür eingesetzt, die Komponenten der aufgegebenen Ares-Technologie weiterzuverwenden. Das Modul war durch Gitterelemente, die sich zur Vergrößerung des Innenraums abmontieren ließen, in Decks unterteilt. Momentan standen die ausklappbaren Andruckliegen der Crew auf den Decks. Im Zentrum durchstieß eine Stange, die einer Feuerwehrrutsche ähnelte, die Gitterböden. Einer nach dem anderen kletterten die Mitglieder der Crew die seitlich an der Stange befestigten Metallsprossen hinauf.

Holle und Kelly erreichten diese zentrale Leiter. Kelly stieg als Erste hinauf, Holle folgte ihr. Sie kletterten durch das Modul nach oben.

Die Innenarchitektur des Moduls griff auf, was sich auf der ISS als nützlich erwiesen hatte: Farbcodes und Lichtstreifen, die bei der Orientierung in der Schwerelosigkeit helfen sollten, eine Vielzahl zusammenlegbarer Aufbewahrungsbeh?lter, Workstations und Konsolen. ?berall waren Klett-Pads und Haltegriffe, bereit f?r den freien Fall. Gegenw?rtig befanden sich die einzigen wichtigen Funktionalit?ten jedoch auf den beiden Br?cken in der Nase der Crewmodule, und die Bildschirme der Workstations zeigten allesamt Gordo Alonzos gleichm?tiges, beruhigendes Gesicht vor einem verschwommenen Bild des Startkontrollzentrums Pikes Peak sowie einen Countdown-Timer.

Gordos Stimme ging jedoch unter. Auf allen Decks herrschte Chaos. Leute lagen auf den Liegen, zogen ihre Gurte fest und schlossen sich an Kommunikations- und Entsorgungssysteme an. Aber Holle sah, dass andere sich um Plätze stritten und einander mit Marken vor dem Gesicht herumfuchtelten. Die meisten trugen zwar normale Fluganzüge wie sie selbst, viele aber auch nicht. Eine ganze Reihe der Leute an Bord kannte sie nicht einmal.

»Wo ist der Sicherheitsdienst?«, rief sie zu Kelly hinauf. »Wie, zum Teufel, sind die alle an Bord gekommen?«

»Spielt keine Rolle«, rief Kelly herunter, während sie die Leiter so entschlossen hochkletterte, wie sie die Gangway hinaufgestiegen war. »Es gibt keinen Sicherheitsdienst mehr, Holle, nicht hier drin. Jetzt sind wir auf uns selbst gestellt. Wir werden die Sache im Weltraum klären. Das hier ist dein Deck, stimmt’s?«

»Ja.« Kelly musste weiter, zur Brücke. »Gute Reise, Kel.«

Kelly grinste aufgeregt und furchtlos. »Darauf habe ich mein ganzes Leben lang gewartet. Es wird garantiert eine gute Reise. Wir sehen uns jenseits des Mondes.« Sie kletterte weiter und verschwand nach oben, während Holle von der Leiter trat.

Sie fand ihre Liege problemlos; es war eine von zweien, die unmittelbar nebeneinander standen. Die Liegen waren nummeriert; die Nummern entsprachen denen auf den Bordmarken. Die Liege, ein schlichtes, zusammenklappbares Ding aus Plastik und Schaumstoff, war nach den Konturen ihres Körpers geformt, und Holle hatte sich im Training daran gewöhnt; nun ließ sie sich erleichtert darauf nieder und verstaute ihr Gepäck in dem Fach darunter.

Sie sah, wie Theo Morell, der Sohn des Generals, in einem viel zu großen Overall die Rutschstange herunterzuklettern versuchte, entgegen dem Strom der anderen. »Theo«, rief Holle ihm zu. »Hey, Theo!«

Er schaute sich um, verwirrt von dem Lärm. Dann erblickte er sie und kam zögernd herüber. »Holle?«

»Du siehst aus, als hättest du dich verlaufen.«

»Da liegt jemand auf meiner Liege«, sagte er unglücklich. »Oben auf Deck neun. Eine Frau. Ich hab ihr meine Marke gezeigt, mit der Nummer, aber sie hat bloß gesagt …«

»Mach dir nichts draus.« Sie blickte in sein gequältes Gesicht. Sie sollte ihn hassen; er hatte Mels Platz eingenommen. »Hier. Nimm die, neben mir.«

»Aber die passt nicht zu meiner Nummer.« Er wühlte in seiner Tasche. »Ich habe die Marke …«

»Momentan ist alles ein bisschen chaotisch. Setz dich einfach, schnall dich an, und wenn jemand mit der Nummer für diesen Platz kommt – tja, darum kümmern wir uns, wenn es so weit ist. Verstau dein Gepäck unter der Liege. Du hast doch Gepäck, oder?«

»Hab ich verloren«, sagte er. »Ich bin von der Stange gestoßen worden.«

»Herrgott, Theo, du bist vielleicht ein Hanswurst. Na ja, du hast viele Jahre Zeit, es zu finden, bevor wir zur Erde II kommen. Bete einfach, dass es niemandem auf den Kopf f?llt, wenn wir starten. Komm schon, setz dich hin und schnall dich an.?

Anfangs zaghaft, aber dann voller Erleichterung gehorchte er ihr und schloss seine Gurte. Sie lagen wie in Zahnarztstühlen auf dem Rücken und schauten zum Deck über ihnen hinauf. Irgendwo dort oben nahm ein Streit um eine Liege an Lautstärke zu.


43



Don Meisel packte Mel am Arm und zog ihn aus der Schlange vor den Bussen, die ihn aus der Explosionszone gebracht hätten. Don trug seine Kampfausrüstung, eine schwere, kugelsichere Weste und eine Schnellfeuerwaffe. Sein Gesicht unter dem Helm war mit dunkler Creme bestrichen, die jedoch auf der Stirn und unter den Augen vom Schweiß verschmiert wurde. »Lust auf ein bisschen Action?«

»Ist das dein Ernst? Ich hab schon seit Jahren keine Kanone mehr abgefeuert.«

»Wir brauchen jeden, den wir kriegen können. Obwohl ihr Flieger sowieso noch nie vernünftig zielen konntet. Komm mit!« Er lief los, zu einem großen, stumpfnasigen Militärlastwagen in Flaschengrün.

Mel musste warten, während ein Bus durch den gründlich gesicherten Korridor an ihm vorbeirauschte, weg vom Candidate Hilton und aus der Explosionszone hinaus. Dann folgte er Don hilflos.

»Na«, sagte Don im Laufen, »hast du dich von Holle verabschiedet? «

»Ich hab gekniffen«, gab Mel zu. »Sie durch eine Glaswand zu sehen – was hätte das schon gebracht?«

»Wie du meinst. Am besten, man sorgt dafür, dass man immer was zu tun hat.«

»Also, was ist los?«

»Kampfhandlungen überall auf dem Gelände. Hier.« Neben dem Laster lag ein Haufen Schutzkleidung und Waffen; Don gab Mel eine Panzerweste der Polizei, einen Helm und eine Schusswaffe. »Momentan kommen sie vermehrt von Westen. Wir glauben, dass es sich um eine Dulder-Gruppe handelt. Aber es ist schwer zu sagen bei dem heillosen Durcheinander von Eye-Dees und abtrünnigen Elementen der Cops, des Militärs und der Nationalgarde, die überall rumlaufen. Montur angelegt? Dann alle Mann an Bord.« Er half Mel, auf die Ladefläche des Lastwagens zu klettern.

Rund zwanzig Personen drängten sich dort zusammen, Cops, Nationalgardisten und reguläre Soldaten der Army. Ein Offizier schloss die Heckklappe, und sie fuhren mit aufheulendem Motor und einer in die abendliche Dunkelheit emporsteigenden Staubwolke los, nach Westen. Der Lastwagen folgte einem mit weißen, an Zweige gebundenen Stofffetzen markierten Weg, der offensichtlich durch ein Minenfeld führte.

Don starrte nach vorn. Mel konnte seine Stimmung nicht einschätzen. »Und – wie kommst du mit all dem klar? Mit dem Start und so weiter?«

Don rang sich ein Lächeln ab und rückte seinen Kinnriemen zurecht. »Na ja, wie zu erwarten. Wir hätten beide lieber Dexter geschickt, aber sie nehmen keine Zweijährigen. Kelly ist unseretwegen gegangen, um auf einer neuen Welt zu leben, was uns nie vergönnt sein wird. Was mich betrifft: Nur Gott weiß, was die Zukunft bringt. Früher hatte ich mal einen Beruf mit Aufstiegschancen, weißt du. Hab in der City gearbeitet, in einer CAPs-Truppe unter einem Offizier namens Bundy. Guter Mann.«

»CAPs?«

»Crimes against persons – Straftaten gegen Personen. Mord und Körperverletzung. Es war reguläre Polizeiarbeit. Und ich war schlau. Ich dachte daran, zu den Sonderermittlern zu gehen. Es war eine Entsch?digung f?r den Rauswurf aus der Akademie. Aber wir wurden immer wieder abgezogen, um die eine oder andere Barrikade zu bemannen oder einen weiteren Hungeraufstand in einem weiteren Eye-Dee-Lager niederzuschlagen. Jetzt zerrinnt alles irgendwie. So viel zu meinen Karrierepl?nen.? Er sah Mel an. ?Aber es gibt immer noch genug zu tun. Wenn du willst, leg ich ein Wort f?r dich ein, und ? hey, wir sind da.?

Der Lastwagen kam brummend zum Stehen. Der Offizier ließ die Heckklappe herunter, und die Soldaten stiegen ab. Mel hörte das Knallen von Schüssen; Brandgeruch stieg ihm in die Nase, und er sah eine Rauchwolke.

Don winkte ihn zu sich. Bleib bei mir. Sie bahnten sich ihren Weg über unebenes Gelände, die zertrümmerten Fundamente irgendeines Gebäudes. Die Schüsse, Rufe und Schreie wurden lauter. Ich sollte jetzt auf der Arche sein, dachte Mel. Nicht hier.

Sie gelangten zu einem Grabensystem, sprangen auf das Zeichen des Offiziers hinein und gingen im Gänsemarsch darin entlang. Mel hielt sich dicht hinter Don. Dieser Graben war mit Bedacht ausgehoben worden. Plastikplanen überzogen die Wände, und er wand sich schlangenartig hierhin und dorthin, um den Schaden durch einen Granattreffer zu vermindern, der einen geraden Graben leerfegen würde. Die Verteidigung des Startgeländes der Arche an diesem letzten Tag war über Monate und Jahre hinweg geplant worden.

Mel hörte ein tiefes, zweifaches Rattern. Er schaute nach Westen und sah das unverkennbare Profil eines Chinook-Hubschraubers emporsteigen, riesig und hässlich. Mit seinen kreisenden Doppelrotoren zeichnete er sich als Silhouette gegen den dunkler werdenden Himmel ab. Er strich im Tiefflug über den Boden hinweg, und die Gesch?tze in seiner Nase spuckten sichtbares Feuer in die Gr?ben.

»Der ist nicht von uns«, rief Don.

Mit Donnergetöse kamen zwei Flugzeuge angebraust; sie flogen von Norden nach Süden und schossen kreischend über den Chinook hinweg. Mel, auf Air-Force-Basen aufgewachsen, war ziemlich sicher, dass es F-35 waren, Lightnings. Alle duckten sich; die Maschinen verbreiteten einen gewaltigen, einschüchternden, furchteinflößenden Lärm. Aber sie schossen nicht; vielleicht hatten sie zu wenig Munition. Er brüllte: »Woher, zum Teufel, haben die einen Chinook?«

»Irgendeine abtrünnige Gruppe in der Army oder der Air Force. Vielleicht sind’s auch die Mormonen. Ich hab ja gesagt, es ist das pure Chaos …«

Ein dumpfes Krachen war zu hören.

»Mörser!«

»Runter!«

Die Granate kam in hohem Bogen heran. Mel spürte Dons Hand in seinem Genick; er wurde mit dem Gesicht nach unten auf eine zerrissene Plastikplane gedrückt. Die Granate flog über sie hinweg und explodierte. Der Boden erbebte.

Mel stand vorsichtig auf. »Jemand hat sich einen Mörser beschafft. «

»Ja«, sagte Don leise. »Und jetzt haben sie die richtige Schussweite. «

Der Offizier, der sie anführte, zeigte auf ein paar Männer. »Du, du und ihr beiden – schaltet diesen verdammten Mörser aus. Die anderen folgen mir.«

»Das sind wir«, sagte Don. Die anderen beiden, die der Offizier ausgesucht hatte, waren bereits über die Grabenwand geklettert und arbeiteten sich westwärts vor, dorthin, woher die M?rsergranate gekommen war. Don kroch hinter ihnen nach oben und hinaus.

Mel folgte ihm, ohne lange nachzudenken. Er sprang über den Grabenrand und warf sich in den Dreck, robbte, so schnell es ging, hinter den drei anderen her, um nicht zurückzubleiben, kroch im Schlamm auf die Mörserstellung zu. Das tun wir für euch, Holle, dachte er. Wir tun das alles für euch.

Die anderen gelangten zu der Mörsergrube, bevor Mel sie einholen konnte, und griffen sie an. Mel hörte das Krachen einer Granate, Schreie, und dann ein blutiges Gurgeln.

Als er bei der Grube ankam, kletterte Don bereits hinein. Der Mörser selbst sah veraltet aus; er war zerstört, aber daneben lag ein Haufen Granaten, deren Bergung sich zu lohnen schien. Don und die anderen wühlten darin herum. Es stank nach Blut und verbranntem Fleisch, wie in einer Metzgerei. Mel sah, dass zwei Personen in der Grube gewesen waren. Die eine, ein Mann, war von der Granate, die den Mörser zerstört hatte, in Stücke gerissen worden; seine Beine waren zerfetzt. Aber er hielt eine Pistole in der Hand, und Blut lief ihm über die Brust. Offenbar hatte er Widerstand gegen die Angreifer geleistet.

Die andere Person in der Grube war eine Frau. Ihr Kleid bestand nur noch aus Fetzen, und sie war blutüberströmt. Sie hielt ein Baby in den Armen, sah Mel erstaunt. Der kleine Junge, nicht mehr als ein paar Monate alt, war in eine schmutzige Decke gehüllt. Er war wach, schien jedoch zu benommen zu sein, um zu weinen. Als die Mutter Mel sah, hielt sie ihm das Baby entgegen und taumelte vorwärts. »Bitte …«

Einer der Soldaten fällte sie mit einem einzigen Schuss, und sie blieb mit ausgebreiteten Armen und Beinen auf dem zerklüfteten Boden liegen, ihr Rücken, wo die Kugel ausgetreten war, ein blutiges Bild der Zerstörung.

Von oben brach Triebwerkslärm über sie herein.

»Runter!«, schrie Don.

Mel warf sich flach auf den Boden. Er riss der Mutter das Baby aus den Armen, versuchte es unter seiner Panzerweste an sich zu drücken und zog sich den Helm tief ins Gesicht. Das Getöse über ihnen wurde lauter, und alles um ihn herum wurde in helles Licht getaucht. Er riskierte einen Blick nach oben. Der Chinook stand direkt über ihnen, kaum sichtbar hinter seinem grellen Scheinwerferlicht. Mel glaubte, Gestalten in einer offenen Luke zu sehen, die mit einer panzerfaustartigen Waffe auf den Boden zielten.

Ein Flugzeug kam kreischend herangeschossen, eine F-35, nicht mehr als fünfzig Meter über dem Boden. Der Chinook ließ von den Gräben ab. Er stieg empor, senkte die Nase und flog nach Osten, direkt auf das Zentrum der Zone und die Arche zu, zweifellos sein Endziel. Die F-35 blieb auf ihrem Kurs. Mel wartete darauf, dass sie mit ihrer Kanone das Feuer eröffnete, eine Luft-Luft-Granate abschoss oder auswich. Sie tat nichts von alledem. Keine Munition, fiel ihm wieder ein.

Das Flugzeug rammte den Chopper.

Die Explosion hämmerte auf den Boden ein und erfüllte den Himmel mit Feuer. Mel hockte gebückt in dem aufgewühlten Schlamm, umklammerte das Baby und wartete darauf, dass die Trümmer herabregneten.

Das Baby begann zu weinen.


44



Wilson lag neben Kelly und Venus auf der Brücke des CrewModuls B der Arche, genannt Seba.

»Eine Minute«, sagte Venus.

Wilson konnte nicht aufhören zu reden. »Du lieber Himmel. Wir müssen irre sein. Gleich wird genau unter meinem Arsch eine Scheiß-Atombombe explodieren.«

Kelly grinste ihn an. »Zu spät, um auszusteigen.«

Venus sagte: »Und das wird Gunnisons schlimmster Tag, seit Alien gegen Predator gekämpft hat.«

»Was?«

»Nicht so wichtig. Alles im grünen Bereich.« Geschäftsmäßig wie immer beobachtete sie die Displays vor ihnen.

Die Arche war ein sehr komplexes Stück Technik, aber sie war auch sehr einfach, und es gab nur wenige Instrumente. Abgesehen von Housekeeping-Displays für den Zustand der Luft im Innern der Druckkörper und die Beschleunigung, der die Crew ausgesetzt sein würde, gab es Messgeräte für die Taktfrequenz der Puls-Detonationen, den Pegel in den Tanks mit Antiablationsöl und Kühlflüssigkeit sowie den Druck in den Dampfleitungen. Die Bedienungselemente waren ebenfalls simpel, eine manuelle Steuerung für die Fallgeschwindigkeit der Pulseinheiten, ein Knüppel mit T-Griff zur Justierung der Fluglage. Sie waren eine letzte Zuflucht, falls die Automatik versagte. Wilson wusste allerdings, dass noch niemand eine Katastrophensimulation ?berlebt hatte, bei der man diese Bedienungselemente hatte benutzen m?ssen.

Und jetzt, in diesen letzten Sekunden, spürte er, wie sich die Bestie regte, als die nuklearen Pulseinheiten in ihren Magazinen im Rachen der Auswurfmechanismen aufgereiht wurden und die Kühlflüssigkeiten um die riesigen Kolben herumgepumpt zu werden begannen. Er warf einen Blick auf die Monitore, die Crewmitglieder auf ihren Reihen von Liegen tief in den Eingeweiden des Moduls zeigten. Die leuchtend gelben Lämpchen für den unmittelbar bevorstehenden Start blinkten, und auf jeder Ebene ertönte eine akustische Ansage. Aber die Leute stritten sich immer noch um die Liegen.

»Zwanzig Sekunden«, sagte Kelly nüchtern.

Wilson spürte, wie sich sein Schließmuskel verkrampfte. »Scheiße, Scheiße.«


»Fertig, verdammt«, brüllte Matt, und seine Stimme hallte von den Metallwänden um ihn herum wider.

»Fünfzehn Sekunden«, rief Liu Zheng vom Boden herauf.

»Ich weiß. Ich höre die Kühlflüssigkeiten.« Matt ließ den Blick über die mächtigen Metallwände schweifen, die sein Stäubchen von einem Körper umgaben. »Kann nicht glauben, dass ich hier bin und mir das anhöre.«

»Zehn … neun … Ich glaube, wir brauchen keinen Countdown.«

»Nein. Ich habe meine Aufgabe erfüllt, nicht wahr?«

»Das haben Sie, Matt. Gute Arbeit.«

»Wo sind Sie?«

»Genau unter der Prallplatte. Wo sonst?«

»Wenn es schiefgeht, werden Sie’s als Erster wissen, Liu.«

Das Zischen von Dampf, ein Poltern. Das musste die erste Pulseinheit sein, die ihre Auswurfrinne hinunterschlitterte. In diesem letzten Moment versp?rte Matt einen Anflug von Furcht. ?Liu, ich glaube ??

Er sah die Detonation, die um den Rand der Prallplatte herumschlug. Er sah sie. Und dann …


Eine ungeheure Faust krachte in den Rücken ihrer Liege. Holle hörte Laute des Erschreckens überall um sie herum, und ein gewaltiges Ächzen, als würde das Schiff in Stücke gerissen.

Und trotzdem bin ich nicht tot, dachte sie. Sie befand sich nur dreißig Meter über der Plasmawolke einer Fünf-Kilotonnen-Atombombe und einer Prallplatte, die mit tausend Ge nach oben geschleudert worden war. Aber das Stoßdämpfersystem funktionierte offenbar, die riesigen Kolben hatten den Stoß abgefangen. Wenn nicht, wäre sie jetzt schon tot und das Schiff zerstört, weil die tausend Tonnen schwere, von dieser ersten Explosion nach oben getriebene Platte die gargantuaeske Konstruktion der Arche durchschlagen hätte.

Die Schwerkraft ließ auf Übelkeit erregende Weise nach. Das Ende des ersten Pulses. War das nur eine Sekunde gewesen?

Und dann kam der nächste, ein weiterer, nicht mehr ganz so harter Stoß, der sie in ihre Liege presste. Wieder ließ der Druck nach. Dann ein weiterer Stoß. Und noch einer. Es funktionierte. Sie hörte Menschen jubeln und klatschen.

Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, dass sie auf einer Kinderschaukel in den Trainingseinrichtungen von Gunnison saß und harmlos hin und her schwang. Es war nicht allzu schlimm, eine vorwärts gerichtete Beschleunigung von etwa einem Ge, eine leichte Trainingssession. Gar nicht so schlimm, mit einer Atomrakete in den Weltraum zu fliegen.

Aber die Startanlage sowie alle Mitglieder des Bodenteams, denen es nicht gelungen war, die Zone rechtzeitig zu verlassen, existierten bereits nicht mehr, die unglückliche Stadt Gunnison war dem Erdboden gleichgemacht, wie Hiroshima. Und dabei hatte die Reise noch nicht einmal richtig begonnen.

Jetzt spürte sie, wie das Schiff erschauerte, sich heftig von einer Seite zur anderen verlagerte und sie auf ihrer bequemen Liege durchschüttelte. Die Arche war mit mächtigen Hilfstriebwerken ausgerüstet, Steueraggregaten zur Lageregelung, die ihre Flugbahn gegen die brutalen Stöße der Atombomben berichtigen sollten. Schaukel, schaukel, schaukel …

Sie wurde vorwärts in ihre Gurte geworfen, als wäre das Schiff gegen eine Ziegelmauer geknallt. Der Applaus verwandelte sich in Geschrei.

Pulseinheit ausgefallen. Sie hatten das simuliert.

Holle schaute sich um. Morell machte ein entsetztes Gesicht. »Eine Pulseinheit ist ausgefallen, Theo!«, schrie sie. »Nur eine einzige Einheit von Hunderten. Das ist alles …« Es war immer eine riskante Angelegenheit, eine so komplexe Apparatur wie eine thermonukleare Bombe in die sich ausdehnende Plasmawolke hineinzuwerfen, die nur eine Sekunde zuvor von einer anderen hinterlassen worden war, und zu erwarten, dass sie explodierte. Aber wenn auch die nächste und übernächste Einheit versagte, würden sie in ihren eigenen radioaktiven Dreck zurückfallen …

Ein weiterer Schubs. Herrgott, war das wieder nur eine Sekunde gewesen? Die Zeit war elastisch.

Noch ein Schubs. Und noch einer. Jetzt gab es einige pogoartige, längslaufende Erschütterungen, als die massige Arche diesen versäumten Stoß absorbierte. Dann pegelten sich die Beschleunigungsabfälle wieder auf den stetigen Schaukelrhythmus ein.

Sie spürte, wie Theos Hand nach ihrer tastete. Sie ergriff sie, hielt sie fest und wünschte sich, Mel und ihr Vater wären hier. Schaukel, schaukel, schaukel, der Pulsrhythmus war etwas langsamer als ihr Ruhepuls, schaukel, schaukel, und der Rumpf der Arche ächzte, als sie wie ein dunkler Engel aus der Asche ihrer Startrampe emporstieg.

Etwas klatschte ihr ins Gesicht. Es war Urin, der vom Deck über ihr herabtropfte.

Schaukel, schaukel.


45



Thandie Jones stand im Kontrollraum von Pikes Peak inmitten einer Szenerie, die sie nie wieder zu sehen geglaubt hatte, einer Szenerie, die sie wie so vieles andere aus der Welt vor der Flut für verloren gehalten hatte: ein Startkontrollzentrum, Reihen ernster Techniker, die leise in Mikrofone sprachen, während sie ein Raumschiff bei seinem Aufstieg von der Erde überwachten.

Aber was für ein Raumschiff!

Gordo berührte sie an der Schulter. »Schau. Wir haben ein paar Bilder der Momente vor der ersten Explosion.« Die Bilder waren von einer Kamera direkt unter der Prallplatte aufgenommen worden. »Siehst du das?« Gordo zeigte konzentriert hin. »Dieses Dampfwölkchen ist der Einschuss der Sprengladung. Da ist die Pulseinheit selbst …« Ein vasenförmiges Objekt fiel aus einem Loch in dem riesigen Metalldach über ihm herab. »Das Antiablationsöl wird auf die Prallplatte gesprüht. Und – peng – die Detonation der Bombe.« Die Sequenz endete, als die Kamera pulverisiert wurde.

Thandie hatte zum ersten Mal vor vierundzwanzig Jahren mit Gordo Alonzo zusammengearbeitet, als sie in einem museumsreifen U-Boot getaucht waren und Beweise für unterirdische Meere gesucht hatten. Nachdem es ihr mit dem Thema Grace Gray gelungen war, wieder seine Aufmerksamkeit zu erringen, hatte er sie nun eingeladen, hierherzukommen und sich den Höhepunkt des Projekts anzuschauen. Sie hätte sich nie träumen lassen, dass sie und Gordo nach all diesen Jahren unter solchen Umst?nden hier stehen w?rden, Seite an Seite. Sie hatte den Mann nicht einmal gemocht.

Laute des Erstaunens ertönten, als Bilder von einem Flugzeug unmittelbar außerhalb der Explosionszone auf die Bildschirme übertragen wurden. Thandie drehte sich um und sah sie sich an.

Ein Krater mit einem Durchmesser von mehreren Kilometern war in die Erde gebrannt worden. Darüber erhob sich der vertraute Anblick eines nuklearen Feuerballs, ein Atompilz. Doch aus dieser Wolke stieß überraschenderweise der Kondensstreifen eines Raumschiffs empor, das von einer ganzen Kette weiterer Detonationen, weiterer Feuerbälle angetrieben wurde. Bald überstrahlte der grelle Plasmaschein des aufsteigenden Schiffes die atomare Glut am Boden und warf Licht auf die Überbleibsel des Landes und das heranrückende Meer, eine tödliche aufgehende Sonne.

»Was habe ich da bloß losgetreten, Gordo? Vielleicht hätte ich die Klappe halten sollen.«

Er grunzte. »Du hast schon immer versucht, die ganzen Lorbeeren allein einzuheimsen, du unverschämte Lesbe.«


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