57
SEPTEMBER 2044
Eine Stunde vor Kellys Parlamentssitzung versuchte Holle aus einer Laune heraus, in die Kuppel zu gelangen. Sie wollte mit Venus über das Treffen mit Zane sprechen, auf das sie sich innerlich vorbereitete.
Aber Thomas Windrup, der in der Luftschleuse saß und auf einem Laptop eine Datenreduktionsübung durchführte, fungierte als Torwächter. Schlank, dunkel und mit gebrochener Nase – ein Geschenk von Jack Shaughnessy, das ihm seinen Stubengelehrten-Look ruiniert hatte – schaute er in einem Einlassplan nach.
»Ach, Herrgott nochmal, lass mich einfach rein«, bat Holle. »Ich brauche nur ein paar Minuten.«
»Wir haben hier drin viel zu tun«, sagte Thomas mit dem prononcierten Omaha-Akzent, den er während ihrer Jahre auf der Akademie beibehalten hatte. »Und dann ist da die Dunkeladaptation. «
»Was glaubst du denn, was ich tun werde, euch mit einer Taschenlampe blenden? Lass mich rein, oder ich schalte die Wasserzufuhr zu eurer Kaffeemaschine ab.«
Daraufhin drehte Venus sich um. Ihre Augen leuchteten in der klösterlichen Dunkelheit der Kuppel. Über ihrer Schulter sah Holle Elle Strekalow, und hinter den beiden einen sternenübersäten Himmel. »Das ist wirklich nicht komisch«, sagte Venus. »So was ist in diesem Dreckloch eine reale Macht, Holle. Selbst wenn Kelly Kenzie glauben m?chte, dass wir alle eine gro?e, gl?ckliche Familie sind. Ach, nun lass sie schon rein, Thomas.?
Thomas trat mit einem widerwilligen Grinsen beiseite.
Holle betrat die Kuppel und nahm auf einem leichten Drehstuhl neben Venus Platz. Nachdem die Module nun in Rotation versetzt worden waren, betrug die Schwerkraft hier oben in der Nähe der Nase von Seba etwas weniger als die halbe Erdschwerkraft. Jeder Stuhl, auf den man sich setzte, fühlte sich federweich an, und diese transparente Blase an der Flanke von Seba war zu einer Kuppel geworden, die seitlich an einer senkrechten Wand hing und von Gitterböden in horizontale Ebenen unterteilt wurde. Venus und ihr Team arbeiteten an Stationen, die zum Schutz ihrer an die Dunkelheit angepassten Augen mit matt beleuchteten Bildschirmen und roten Lampen ausgestattet waren. Die geweiteten Pupillen verliehen Venus ein unheimliches, drogenberauschtes Aussehen.
Holle schaute durch das gekrümmte Fenster in die tiefere Dunkelheit hinaus, auf die gestochen scharfen, hellen Sternenfelder. Das Licht erlitt auf seinem Weg durch die Wand der Warp-Blase nur eine geringfügige Verzerrung, zumindest wenn man den Blick von der Bewegungsachse der Blase abwandte, und die Sterne sahen weitgehend genauso aus wie schon seit Ewigkeiten am Himmel über Colorado. Doch als ihre Augen sich anpassten, war es, als kämen immer mehr Sterne aus der samtenen Schwärze hervor, als träten sie Schicht um Schicht unter den verstreuten, weit gespannten Sternbildern zutage, die ihr von der Erde vertraut waren. Dieses grandiose Panorama drehte sich, sämtliche Sterne im Universum kreisten alle dreißig Sekunden einmal um die Arche.
Venus bot ihr keinen Kaffee an. Sie geizte immer mit Kaffee. Vielleicht war es auch eine Strafe für den Spruch über die Wasserversorgung.
»Na«, sagte Venus schließlich, »was gibt’s Neues an der Sanitärfront? «
»Alles plangemäß und im Rahmen des Etats.«
»Und wie läuft’s mit deinen illegalen Brüdern?«
»Die Shaughnessys machen sich gut. Jedenfalls bei den simpleren Sachen – dem großen Zeug, das man sehen und an dem man rumfummeln kann, wie das Sauerstofferzeugungssystem und die Wasserrückgewinnungsracks. Aber es fällt ihnen schwer, die Systemströme insgesamt zu erfassen oder auch nur zu begreifen, wozu sie das können sollten.«
Venus tat es geringschätzig ab. »Sind halt nun mal bloß einfache Soldaten.«
»Sie sind mehr als das. Sollten wir jedenfalls hoffen.«
Venus nickte und betrachtete Holle mit diesen seltsamen, großen Augen. »Ich will dir was sagen. Es gibt niemandem, dem ich es mehr zutrauen würde als dir, solche lebenswichtigen Subsysteme zu betreuen, Holle. Das könnte von Bedeutung sein, wenn wir später mal größere Probleme kriegen.«
Holle mochte dieses apokalyptische Gerede nicht, das Venus, Wilson und ein paar andere gelegentlich anstimmten. »Dann sollten wir dafür sorgen, dass es gar nicht erst so weit kommt.«
»Ja. Na, Lust auf ein bisschen Sternebeobachten? Kannst du mir sagen, in welche Richtung wir fliegen?«
Das war keine leichte Frage. Holle drehte sich auf ihrem Sitz um. Sie schaute durchs Fenster hinaus und an der Flanke des Moduls entlang nach oben, eine vertikale, gekrümmte Wand, die mit Isoliermaterial verkleidet und von Handhelds, Instrumentensockeln und Mikrometeoritennarben übersät war. Sie sah den gro?en Teilchenbeschleunigerring des Warp-Generators, der ?ber ihr schwebte, und dahinter erblickte sie Hawila, einen Zylinder, der mit der Nase nach unten im Himmel hing, das Seil ein gl?nzendes Band zwischen den beiden Modulen. All dies wurde vom Sternenlicht und den Lichtern des Schiffes hervorgehoben. Die Module drehten sich um den Mittelpunkt des Seils; ihre Ausrichtung in jedem gegebenen Moment hatte nichts mit der allgemeinen Bewegungsrichtung der Arche zu tun. Holle wusste jedoch, wie sie sich orientieren konnte. ?Halt Ausschau nach dem Orion ?? Sie suchte den Himmel ab, und es dauerte nicht lange, bis sie die stolze Gestalt des J?gers mit seinem charakteristischen Sterneng?rtel fand. ?Und Eridanus ist dieser ausgedehnte Fleck rechts davon.? Ihr Zielstern der G-Klasse lag im Sternbild des Flusses, immer noch mehr als neunzehn Lichtjahre entfernt.
»Nicht schlecht«, sagte Venus. »Mir scheint, unsere Ausbildung in ›Astronomie mit bloßem Auge‹ zahlt sich aus – all diese Sternguckerausflüge in die Berge. Weißt du noch, wie Magnus Howe uns immer angebrüllt hat, wenn es uns langweilig wurde, auf eine Lücke in den Wolken zu warten? Aber Magnus hat Glück gehabt. Nach dem Rückgang der vom Menschen verursachten Luftverschmutzung und vor dem Weltmeer-Wetter mit all den Wolken und Stürmen gab es ein Zeitfenster, in dem man die beste Sicht seit der Steinzeit hatte. Das Ergebnis war eine Generation natürlicher Amateurastronomen. Grace Gray weiß das noch. Aber wir sind ein kleines bisschen zu spät geboren.«
Holle, die noch nie sonderlich viel Ahnung von Warp-Physik gehabt hatte, war immer ein wenig überrascht gewesen, dass man das äußere Universum im Innern der Blase überhaupt sehen konnte. Das konnte man, aber das Bild war verzerrt. Eine Warp-Blase war ein Patchwork von Universen, die durch eine d?nne, dynamische, stark deformierte Raumzeitschicht miteinander vern?ht waren. Diese Deformierung bedeutete ein starkes Gravitationsfeld, und der Weg eines Lichtstrahls konnte von der Schwerkraft gekr?mmt werden ? so war Einsteins Relativit?tstheorie anfangs bewiesen worden, als man w?hrend einer Sonnenfinsternis beobachtet hatte, dass die Schwerkraft der Sonne das Sternenlicht kr?mmte. Die Warp-Blase fungierte also als eine Linse, die das Schiff umh?llte, eine Gravitationslinse, die das ?ber die Arche hinwegsp?lende Sternenlicht ablenkte.
Am stärksten waren die Verzerrungen »vorn« – in der Bewegungsrichtung des Schiffes – und »hinten« – dort, woher es kam. Vorn schien der Raum um den Zielpunkt herum zerknüllt zu sein wie eine zusammengeraffte Decke. Hinten jedoch, in Richtung der Sonne und der Erde, sah es ganz anders und seltsamer aus. Die Sonne lag im Sternbild Ophiuchus, des Schlangenträgers, direkt gegenüber von Orion und Eridanus am Himmel. Aber in dieser Richtung war nur Dunkelheit, eine trübe, schlammige Scheibe, umgeben von schwach leuchtenden Sternen. Das Schiff flog einfach den Photonen davon, die von der Sonne und ihren Planeten kamen.
Holle sagte: »Wenn wir das Sonnensystem sehen könnten …«
»Stell dir eine Scheibe von der Größe des Mondes vor, von der Erde aus gesehen. Etwa dort in deinem Blickfeld. Von hier aus würde diese winzige Scheibe ein zehnmal so großes Raumvolumen wie jenes innerhalb der Umlaufbahn des Neptun abdecken. Nach sechs Monaten haben wir ungefähr anderthalb Lichtjahre zurückgelegt – ein Drittel des Weges nach Alpha Centauri, wenn wir in diese Richtung geflogen wären. Aber wir befinden uns auch jetzt noch gerade so eben innerhalb des Sonnensystems; wir nähern uns dem äußeren Rand der Oortschen Wolke.« Eine andeutungsweise sphärische Hülle kleiner Eiswelten und tr?ger Kometenkerne auf Jahrmillionen-Umlaufbahnen, die dennoch genau wie die Erde der Schwerkraft der Sonne unterlagen.
Kurz nachdem die Warp-Blase sich um das rotierende Schiff gewickelt hatte, waren sie in erstaunlicher Geschwindigkeit an einem gewaltigen Markstein nach dem anderen vorbeigeflogen. Trotz des mächtigen Schubs des Orion-Antriebs hatten sie für die Reise zum Jupiter ein ganzes Jahr gebraucht. Unter Warp hatten sie schon innerhalb der ersten paar Stunden die Umlaufbahnen der äußersten Planeten passiert und bald darauf auch die sich seit Jahrzehnten dahinschleppende Voyager Eins überholt, jenes Raumfahrzeug, das vor der Arche am tiefsten in den Weltraum vorgedrungen war.
Und es überstieg schlichtweg die Vorstellungskraft, dass das Schiff und seine Crew mitsamt all ihren Träumen, Ambitionen und Konflikten von außen betrachtet nahezu vollständig unsichtbar sein würden, dass die Warp-Blase nur ein winziger, nicht einmal mikroskopisch kleiner Fleck wäre, der wie eine Pistolenkugel aus dem Sonnensystem hinausschoss.
»Und«, sagte Venus, »hast du schon mit Zane gesprochen?«
»Ich warte noch auf den richtigen Moment. Vielleicht nach der Parlamentssitzung. Zumindest wird ihn das für eine Weile von seiner Arbeit ablenken.«
Venus schnitt eine Grimasse. »Ich an deiner Stelle würde mit der Wahl deines Lebenspartners noch ein bisschen warten. Dass du Mel verloren hast, ist immer noch eine offene Wunde, das merkt doch jeder. Schau dich um, ob es noch jemand anderen an Bord gibt, in den du dich verlieben könntest.«
»Hab ich schon«, sagte Holle ernst. »Glaub mir.«
Venus zuckte die Achseln. »Deine Entscheidung. Dein Risiko. «
Holle wünschte sich oft, sie könnte mit ihrem Vater über diese Angelegenheit reden. Oder sogar mit Mel. Aber seit sie auf Überlichtgeschwindigkeit gegangen waren, konnte niemand auf der Erde mehr mit der Arche Kontakt aufnehmen. Vielleicht war es ganz gut, dachte Holle, dass diese Scheibe aus verzerrtem Raum die Sonne und die Erde verbarg. Es war, als hätte alles vor dem Warp sowieso nie existiert, als enthielten die Zwillingswelten der Module die gesamte Realität.
Venus wuchtete sich aus ihrem Stuhl hoch. »Zeit für Kellys Quasselbude. Kommt, bringen wir’s hinter uns, damit wir mit der richtigen Arbeit weitermachen können.«
58
Holle und Venus kehrten durch die kleine Luftschleuse zwischen der Kuppel und Seba in das Modul zurück und kamen auf einem Gerüst heraus, das an Sebas gekrümmter, grün gestrichener Innenwand angebracht war. Sie befanden sich hier oben in der Nähe der Nase, und Holle schaute durch ein Gitternetz aus Decks, Trennwänden und Ausrüstungselementen nach unten. Das Licht war hell; eine Reihe von Bogenlampen spendeten während eines Schiffs-»Tages«, der immer noch nach Alma-Zeit verlief, so etwas wie Sonnenlicht. Es war, als befände man sich im Innern eines großen, offen angelegten Gebäudes, dachte Holle, ein bisschen wie im Naturkundemuseum in Denver. Dies war Holles Welt, oder vielmehr die Hälfte ihrer Welt. Die fernste Punkt, den sie sehen konnte, die gekrümmte Basis der Druckhülle unterhalb all der Decks, war nur ungefähr vierzig Meter entfernt, und als sie quer durchs Modul zur gegenüberliegenden Wand schaute, überbrückte ihr Blick eine Distanz von lediglich acht bis zehn maßvollen Schritten.
Heute wimmelte es überall von Menschen. Ein stetiges Stimmengewirr erfüllte das Modul, unterbrochen von gelegentlichem Kindergeschrei. Die meisten Mitglieder der Crew waren wegen der Parlamentssitzung nach Seba herübergekommen, obwohl manche sicher – den Schiffsregeln gemäß – in Hawila geblieben waren. Diese Sitzung war etwas Besonderes, weil sie zum Zeichen des Endes der ersten sechs Monate abgehalten wurde, in denen die Crew nach der Montage des Warp-Generators aus den Elementen in den beiden Lader?umen den inneren Umbau der Module beendet hatte.
Kelly hielt ihre Parlamentssitzung auf dem achten der fünfzehn Decks des Moduls ab, von oben nach unten gezählt, so dass Holle und Venus über ein Spinnennetz aus leichten Stegen und Leitern hinunterkletterten. Die Module hatten während der Reise zum Jupiter und der Jahre ihres dortigen Aufenthalts als Nullschwerkraft-Weltraumhabitate gedient; so weit möglich, war alles im Weg Stehende entfernt worden, so dass die Crewmitglieder im geräumigen Innern der Module ungehindert in der Schwerelosigkeit manövrieren, Frisbee spielen und dem Mikrogravitations-Sumoringen frönen konnten. Nun waren die Innenräume für eine lange Reise unter permanenter Schwerkraft umgebaut worden. Decks durchzogen die Module, um Bodenfläche zu liefern, und Trennwände schufen Plätze zum Arbeiten und zum Schlafen und sorgten auch für ein wenig Privatsphäre. Das Design war ausgeklügelt. Ausrüstungsgegenstände, die nach einer Missionsphase nicht mehr benötigt wurden, baute man für die nächste um; so waren die Stege und Leitern an den Wänden aus den Gestellen von Beschleunigungsliegen gebaut worden. Die Innenraumgestaltung der Sozialingenieure in ihren Büros in Denver und Gunnison beruhte auf der Dynamik von Jäger- und Sammlergruppen, der ältesten Gesellschaftsform des Menschen, mit einem »Dorf« auf jedem Deck und einem »Clan«, der jedes Modul vereinte. Aber die Sozialingenieure mussten natürlich auch nicht hier leben.
Die grünen Schatten wurden tiefer, je weiter sie hinabstiegen. Die Module sollten maximale visuelle Stimuli für die Crew bieten, und darum sah das überkandidelte Design-Konzept für Seba vor, dass jedes Deck ein anderes Terrain auf der Erde repräsentierte. Die untersten Ebenen, wo die effektive Schwerkraft am h?chsten war, sollten Regenwald sein ? dort war die gr?ne Farbe am dunkelsten ?, die mittleren Ebenen temperierter Wald oder Grasland, und die h?chsten Bergland, gestrichen in den blassen Farben von Mosen und Flechten. Inmitten des Anstrichs nisteten echte Pflanzen, Lebewesen von der Erde, die in an die W?nde geschwei?ten Metallrohren wuchsen, Pflanzen, Gr?ser und sogar Zwergb?ume. Zur F?rderung der Moral musste sich die Crew selbst um die Pflanzen k?mmern. Es hatte funktioniert; selbst als ein verstopftes Filteraggregat die R?ckgewinnungssysteme f?r vierundzwanzig Stunden lahmgelegt hatte und die Crew gezwungen gewesen war, das verf?gbare Trinkwasser zu rationieren, hatten sie die kleinen Pflanzen nicht sterben lassen.
Als sie das achte Deck erreichten, war Kelly bereit, mit der Parlamentssitzung zu beginnen.
Kelly saß an dem Tisch, den sie regelmäßig als Kommandoposten benutzte. Sie wurde von jenen Kandidaten flankiert, die Gordo Alonzo immer als die höheren Offiziere bezeichnet hatte, Leuten wie Wilson Argent und Mike Wetherbee, dem Arzt.
Holle und Venus nahmen ihre Plätze ein, und Holle ließ den Blick über ihre Crew-Kameraden schweifen. Zane stand mit geistesabwesender Miene in der Nähe von Kellys Schreibtisch. Masayo Saito saß ein wenig abseits der anderen; er wirkte wachsamer. Wilson hatte sich erheblich verändert, seit sie den Jupiter verlassen hatten, fand Holle. So baute er beispielsweise ziemlich viel Muskelmasse auf; sie sollten alle trainieren, um dafür zu sorgen, dass die geringe Schwerkraft ihrer Physiologie keine dauerhaften Schäden zufügte, aber Wilson verbrachte lange Stunden auf den Laufb?ndern und an den Kraftmaschinen auf dem untersten Deck von Seba, wo die Schwerkraft am h?chsten war. Ger?chte besagten, dass er Kelly Kenzie v?gelte, aber Holle hatte keinen Beweis daf?r, und es gab auch jetzt keinerlei Anzeichen daf?r in ihrer K?rpersprache.
Die restlichen Mitglieder der Crew standen um den Tisch herum, saßen auf dem Deck oder auf Stühlen und drängelten sich, um besser sehen zu können. Es gab nicht viel Platz; die Trennwände standen nah beieinander. Holle erhaschte einen Blick von Grace Gray mit der schlafenden Helen in den Armen, die jetzt zweieinhalb war; der blonde Lockenschopf des Mädchens leuchtete im künstlichen Sonnenlicht. Joe Antoniadi stand neben Sue Turco, der einzigen weiblichen Illegalen; sie war bereits schwanger mit Joes Baby. Jack und Paul Shaughnessy, die illegalen Brüder, waren ebenfalls da, Seite an Seite. Holle sah, dass Jack seinen Werkzeuggürtel mit Stolz trug. Der Anblick löste eine unklare Freude in ihr aus; vielleicht vermisste er seine Schusswaffe jetzt nicht mehr ganz so sehr.
Nachdem sich nun alle versammelt hatten, fiel Holle wieder einmal auf, wie jung sie waren – keiner viel älter als Grace mit ihren neunundzwanzig Jahren, keiner viel jünger als Theo Morell mit seinen neunzehn, abgesehen von der Handvoll während des Fluges geborener Kinder. Selbst der Einfall der Illegalen und Eindringlinge hatte nicht viel an dieser grundlegenden Balance geändert. Holle hatte das Gefühl, wenn jetzt ein echter Erwachsener hereinkäme, jemand wie Gordo Alonzo, würden sie sich ihm alle binnen einer Sekunde fügen. Aber Gordo würde das nie wieder tun; sie waren jetzt auf sich selbst gestellt.
Kelly hüpfte auf ihren Tisch – bei einem halben Ge eine leichte Übung –, so dass jeder sie sehen konnte. »Willkommen«, begann sie. »Ihr wisst, weshalb ich diese Sitzung anberaumt habe. Dies ist ein ganz besonderer Tag. Heute endet die Anfangsphase unserer Reise zu 82 Eridani und hoffentlich zur Erde II. Im Schiff funktioniert endlich alles in vollem Umfang, die Warp-Blase ist stabil und bringt uns im Nu zu den Sternen, und jetzt k?nnen wir alles, was bisher geschehen ist, hinter uns lassen und nach vorn schauen.
Und wir müssen über die Befehlsstruktur im Schiff nachdenken.
Auch als wir beim Jupiter waren, hatten wir immer noch Gordo Alonzo und die Leitung des Projekts Nimrod als Befehlskette über uns. Aber jetzt gibt es außerhalb der Arche keine Befehlskette mehr. Und wir müssen neue Wege finden, dafür zu sorgen, dass alles gut läuft.
Dies ist kein Kriegsschiff; es ist unsere Heimat. Deshalb glaube ich nicht, dass eine Befehlshierarchie im militärischen Stil angemessen wäre. Aus diesem Grund gefiel mir Graces Vorschlag, diese zwanglosen Diskussionsrunden mit dem Rat ›Parlamentssitzungen‹ zu nennen – ein Vorschlag, der darauf basiert, wie Nathan Lammockson die Dinge auf der Arche Drei geregelt hat, stimmt’s, Grace?« Grace nickte. »Ein Parlament ist, wie der Name sagt, ein Ort, wo man miteinander redet.
Was Führung betrifft – nun, wir brauchen einen Anführer oder eine Anführerin, einen Brennpunkt für Entscheidungen und Diskussionen. Bevor wir in den Warp-Modus gegangen sind, hat Gordo mich zum Kapitän für die interstellare Reise ernannt, und das war eine Ehre für mich, ich bin stolz darauf. Was ich jedoch nicht brauche – und nicht haben sollte –, ist die absolute Autorität des Kapitäns eines Schiffes auf See. Ich schlage vor, dass man mich als ›Sprecherin‹ tituliert, also als Präsidentin des Parlaments – das heißt, mein einziges echtes Privileg ist, dass ich bei diesen Sitzungen als Erste das Wort ergreifen darf und dass jeder von euch, der etwas sagen will, mich anspricht. Okay??
Ohne jemandem die Chance zu geben, darauf zu reagieren, fuhr sie fort.
»Des Weiteren: Was die Gesetze angeht, mit deren Hilfe wir unser Leben ordnen, so haben wir ein Handbuch, ein Gesetzbuch, das von den Sozialingenieuren in Denver ausgearbeitet worden ist. Aber sie sind nicht hier – ebenso wenig wie die Hälfte der Kandidaten, für die es gedacht war. Wir können es als Richtlinie benutzen, aber ich schlage vor, dass wir stattdessen ein ›Schiffsgesetz‹ entwickeln, wie wir es ohnehin schon nennen. Eiserne Regeln in puncto Sicherheit sowie Wartung des Schiffes und seiner Systeme, Regeln, die wir alle akzeptieren, können als Grundlage einer Reihe von Gesetzen dienen, die sich bei Bedarf herausbilden werden, durch Präzedenzfälle, also von Fall zu Fall. Ein Gesetz, das wir nicht brauchen, ist für mich ein schlechtes Gesetz. Arbeiten wir es selbst aus. Ich sollte vielleicht sagen, dass ich diese Vorschläge nach einer Beratung mit meinen hochrangigen Kolleginnen und Kollegen hier mache; es sind also gemeinsame Vorschläge.
Des Weiteren …«
Bei diesem zweiten »Des Weiteren« bemerkte Holle eine leichte Unruhe in der Menge, die ersten Anzeichen strapazierter Geduld.
»Des Weiteren will ich nicht, dass ich oder jemand anders der Crew, also euch, Entscheidungen aufzwingt. Dazu ist das Schiff zu klein. Ich möchte wirklich gern per Konsens regieren. Nicht einmal per Mehrheitsbeschluss, bei dem immer eine abgelehnte Minderheit zurückbleibt. Ich mochte Einmütigkeit erreichen, wenn es irgend geht. Wenn es Streit gibt, diskutieren wir es einfach aus, so lange es eben dauert. Wir haben weiß Gott die Zeit dafür, zwischen hier und 82 …«
»Oh, gut«, sagte Theo Morell leise. »Wir können auf dem ganzen Weg zu den Sternen reden, reden und reden. Ich kann mir vorstellen, was mein Dad dazu gesagt hätte.«
Holle wagte in einem solchen Forum nicht einmal zu grinsen. Sie fragte sich jedoch, wie lange diese schönen Ideen vorhalten würden. Während Kelly sprach, saß Venus mit ausdrucksloser Miene hinter ihm am Tisch, und Wilson ließ den Blick herausfordernd über die Crew schweifen, wie ein Affe. Holle glaubte, dass Venus, Wilson und vielleicht auch noch andere ein langfristig angelegtes Spiel in der zunehmend komplizierten politischen Arena der Arche trieben. Nachdem sie mit diesen äußerst konkurrenzorientierten und begabten Individuen in der Akademie aufgewachsen war, wusste Holle, dass so etwas unvermeidlich war. Sie selbst scheute vor solchen Spielen zurück. Aber ihr schwante, dass die wie auch immer beschaffene Macht- und Befehlsstruktur, die sich in den kommenden Monaten und Jahren herausbilden würde, wenig mit Kellys utopischen Visionen gemein haben würde.
Sie versuchte sich auf das zu konzentrieren, was Kelly gerade sagte.
Teilweise schien es wohlüberlegt zu sein. Kelly hatte sich einige Gedanken über das Wesen der Freiheit in der Lebenswelt der Arche gemacht. Die Notwendigkeit, grundlegende gemeinsame Systeme aufrechtzuerhalten, würde eine natürliche Tendenz zur Zentralisierung von Macht hervorrufen. Doch auf so engem Raum konnte man sich vor einer Tyrannei nicht verstecken, man konnte nicht fliehen – und die Arche war derart fragil, dass keine Rebellion geduldet werden konnte. Die üblichen Mechanismen, mit denen sich Tyranneien auf der Erde infrage stellen ließen, standen hier also nicht zur Verfügung.
»Und das könnte auch noch so sein, nachdem wir die Erde II erreicht haben«, fuhr Kelly fort. »Auch dort werden wir – zumindest anfangs ? in geschlossenen Schutzr?umen leben; wir werden sogar f?r unsere Atemluft auf gemeinsame Systeme angewiesen sein. Also m?ssen wir einen Weg finden, daf?r zu sorgen, dass jeder sich an die grundlegenden, lebenserhaltenden Regeln h?lt, die unser Leben immer beherrschen werden, ohne dabei in Tyrannei zu verfallen. Es ist ein ganz neues Experiment, die menschlichen Angelegenheiten zu organisieren ? unser Experiment. Und wenn wir es richtig hinkriegen, könnte die Art, wie wir unsere Angelegenheiten jetzt organisieren, den kommenden Generationen als Modell dienen.« Sie sagte das mit einem Lächeln und mit ausgebreiteten Armen, aber niemand reagierte so recht darauf.
So war das mit Kelly. Sie war enorm tüchtig, intelligent, beredt, überzeugend, und insoweit eine natürliche Anführerin. Aber in all den Jahren, die sie zusammen aufgewachsen waren, hatte Holle immer und in erster Linie Kellys starken, alles überlagernden Ehrgeiz wahrgenommen – einen Ehrgeiz, der sie dazu gebracht hatte, ein Kind auf der Erde zurückzulassen, wie viele wussten. Die Menschen verstanden Kelly Kenzie einfach nicht so recht. Statt von ihrer visionären Rede inspiriert zu sein, wandten jetzt viele den Blick ab.
Nun begannen die Diskussionen. Es ging um gemeinsamen Besitz und kollektive Kindererziehung. Jemand schlug vor, sich für ihre neue Gesellschaft die alten Kibbuzim in Israel zum Vorbild zu nehmen. Kelly reagierte heftig. Bald ähnelte die Atmosphäre jener auf der Akademie in den alten Zeiten, wenn ein Tutor ihnen irgendein heißes Thema hinwarf, an dem sie herumnagen konnten.
Kellys hochrangige Kolleginnen und Kollegen saßen geduldig am Tisch. Venus schaute diskret auf ihre Armbanduhr. Doch am Rand der Menge schlüpften bereits die Ersten davon.
Als Zane auf dem Absatz kehrtmachte und ging, ohne auch nur ein Wort gesagt zu haben, entschuldigte sich Holle mit einer Handbewegung bei Kelly und verließ die Versammlung, um ihm zu folgen. Für sie kam nun erst der wirklich wichtige Programmpunkt dieses Tages. Ihr Herz schlug schneller.
59
Sie folgte Zane zu seiner kleinen, einsamen Kabine. Es war nicht sonderlich weit.
Er wirkte überrascht, sie zu sehen, und wollte ihr nicht in die Augen schauen. Aber er sagte nicht Nein, als sie fragte, ob sie hereinkommen und mit ihm reden könne. Ihre Nervosität wuchs, als sie ihm in die Kabine folgte, und sie fragte sich, wie sie das Thema anschneiden sollte, das ihr auf dem Herzen lag.
Seine Kabine lenkte sie allerdings ab. Sie war lediglich eine Schachtel aus Trennwänden. Alle anderen hatten ihren Kabinen auf die eine oder andere Art eine persönliche Note verliehen. In Holles kleinem Raum befanden sich ihre privaten Sachen, ihre Kleidung, ihre Fotos von ihrem Vater und ihrer Mutter, ihr Angel. Und wenn man ein Kind hatte, wie Grace Gray, verfügte man ohnehin über jemanden, der spontan ein Zuhause schuf. In Zanes Raum gab es jedoch nichts dergleichen. Die Möbel waren funktionell: ein Bett, zwei Stühle, ein Schrank. Holle sah Arbeitsmaterialien, eine komplizierte Workstation und ein paar kostbare Papierhandbücher über Relativität, den Warp-Antrieb und Raumfahrttechnik. Aber das war es auch schon, abgesehen von Kleiderhaufen auf dem Boden. Zane hielt sich an diesem Ort nur auf, aber er lebte nicht hier.
Sie setzte sich auf einen Stuhl; zuerst musste sie einen Haufen Strümpfe wegräumen. Zane nahm auf der Bettkante Platz, die Hände auf den Knien gefaltet. Sie konnte nicht recht erkennen, in welcher Stimmung er war, und der Raum, in dem er wohnte, machte sie nerv?s; ihre Unsicherheit wuchs, ob ihr Vorhaben klug war. ?berw?ltigt von ihrer eigenen Nervosit?t und Befangenheit, machte sie jedoch trotzdem weiter.
»Es ist so, Zane«, sagte sie.
Sein Kopf drehte sich ihr zu.
»Ich habe nachgedacht. Du weißt ja, worum es bei dieser Mission geht – du kennst das soziale Konzept. Bei der Auswahl der Crew ist auf möglichst große genetische Diversität geachtet worden, damit unsere Kinder die besten Chancen haben, Inzucht zu vermeiden. So hat man es uns auf der Akademie eingetrichtert. Aber das heißt zunächst einmal, dass wir alle eine Pflicht haben. Wir müssen Eltern werden. Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass all unsere Gene in den Pool der Kolonisten auf der Erde II eingehen.«
»Und warum erzählst du mir das?«
Sie biss sich auf die Lippe. Musste sie es wirklich aussprechen? Sie begann zu argwöhnen, dass hier etwas nicht stimmte, dass es nicht nur an ihrer eigenen Nervosität lag. Aber sie sprach weiter. »Du hast gesehen, dass sich Leute Partner gesucht haben, Zane, besonders seit dem Jupiter. Angeblich sind Kelly und Wilson jetzt ein Paar.«
Er runzelte erneut die Stirn. »Wilson. Der Ingenieur für Außensysteme. «
»Ja«, sagte sie, verwirrt von seiner Reaktion. »Dieser Wilson, Wilson Argent, mit dem du aufgewachsen bist … Die Wahrheit ist, Zane, ich habe Mel auf der Erde zurückgelassen. Das weißt du ja. Ich kann mir nicht vorstellen, mich auf diesem Rosteimer in jemand anderen zu verlieben. Und ich kann mir, offen gesagt, auch nicht vorstellen, dass du dich mit jemandem zusammentust.«
Er machte ein verdutztes Gesicht.
Holle verspürte Besorgnis und eine Aufwallung von Zuneigung. Sie ging zu ihm hinüber, kniete sich auf den Boden und nahm seine Hände. »Kann sein, dass wir keine Seelenverwandten sind, Zane. Aber wir kennen uns nun schon fast unser ganzes Leben lang. Wir haben gemeinsam für dasselbe Ziel gearbeitet. Und wir haben einander immer unterstützt. Ich weiß noch, wie du an meinem ersten Tag auf der Akademie auf mich gewartet und dir deswegen Ärger eingehandelt hast. Ich wüsste gern, ob – ich meine, das gilt nicht für jetzt, nicht bis wir auf der Erde II sind. Aber vielleicht sollten wir darüber nachdenken, zusammen Kinder zu bekommen. Du und ich. Dort. Also, was meinst du?«
Er hob den Kopf und sah sie zum ersten Mal direkt an. »Glaubst du an die Warp-Blase?«
Sie ließ sich auf ihre Knöchel zurücksinken. »Was hast du gesagt ?«
»Glaubst du an sie?« Er warf einen Blick auf seine Workstation, lachte und sprach schnell. »Ich meine, ich habe mich ausführlich mit der Theorie beschäftigt. Aber es ist unmöglich! Elementare physikalische Prinzipien müssten verletzt werden, damit es funktioniert. Mal ganz abgesehen von auf der Hand liegenden Fragen der Kausalität und vom Verstoß gegen die schwache, starke und dominante Energiebedingung divergiert der Vakuum-Energie-Impuls-Tensor eines skalaren Quantenfelds in einer Alcubierre-Raumzeit, wenn das Schiff die Lichtgeschwindigkeit überschreitet. Er divergiert! Das würde zur Bildung eines Horizonts führen, der, der …« Seine Stimme brach, und er hörte auf zu sprechen, als wäre ihm die Kraft dazu ausgegangen. »Ich kann dir die Gleichungen zeigen.«
»Zane? Ich verstehe nicht, was du da sagst. Der Warp funktioniert – wir sind unterwegs. Du hast doch selbst zusammen mit Liu Zheng und den anderen an den Konstruktionsl?sungen gearbeitet, die uns hierhergebracht haben ?? Sie hielt noch immer seine H?nde. Die ?rmel seines Overalls hatten sich allm?hlich hochgeschoben, und nun sah sie ein Muster kleiner, kreuzf?rmiger Markierungen auf der Haut beider Unterarme. Sie ber?hrte sie behutsam. Einige waren verschorft und fast schon verheilt, andere bl?ulich verf?rbt. Es sah aus, als h?tte er sich die Spitze eines Kreuzschraubenziehers ins Fleisch gesto?en.
»Ich kann keine Kinder mit dir bekommen.« Er lachte, aber es war ein schauerlicher, hohler Laut.
Sie blickte hoch. »Warum nicht?«
»Ich bin schmutzig. Das musst du doch wissen.«
»Schmutzig?«
»Ist alles im Tagebuch.« Er entzog ihr die Hände und tippte auf seiner Workstation herum. Auf dem Bildschirm erschien eine Art Tagebuch mit Texten und kurzen Videoclips: Zanes Kopf in Großaufnahme. »Er erzählt es dort alles.«
»Wer?«
»Zane. In einigen dieser Clips sagt er, er wird sich umbringen. Sie sind so was wie Abschiedsbriefe.«
»Er … Zane, das bist du. Ist das der Grund, weshalb du dir selbst Verletzungen zufügst?«
»Wovon sprichst du?«
Sie nahm seinen rechten Arm, drehte ihn mit festem Griff um und zeigte auf die Schraubenzieher-Markierungen. »Da, und da.«
Er zuckte die Achseln. »Ich erinnere mich nicht, dass ich das getan habe. Wahrscheinlich war ich nicht hier.«
»Wo warst du dann?«
»Ich täusche nur etwas vor, weißt du«, sagte er abrupt. Er lachte erneut. »Das ist die Wahrheit.« Er starrte sie an. »Ich weiß nicht, wer ihr seid. Ihr alle. Ich höre euch zu, wenn ihr sprecht, ich notiere mir, wie ihr einander nennt, und ich suche im System nach Nachnamen und so weiter. Ich mache mir Notizen und versuche, mich zu erinnern. So ist es seit dem Jupiter.«
Sie starrte ihn an. »Und an was erinnerst du dich?«
»Ich bin aufgewacht«, sagte er.
»Aufgewacht?«
Die Worte sprudelten jetzt nur so aus ihm heraus. Offenbar hatte er noch nie mit jemandem darüber gesprochen. »Ich trug einen Druckanzug. Ich schwebte im Raum. Um mich herum war der Warp-Generator, der Collider. Er war bei mir.«
»Wer?«
»Der Ingenieur für Außensysteme.«
»Wilson?«
»Ja. Da war so ein Schimmern um mich herum, ein optischer Effekt, die Sterne. Wilson hat mich gepackt und mir auf den Rücken geklopft. Große behandschuhte Hände. Er hat gesagt, wir hätten es geschafft, ich hätte es geschafft.«
Holle erinnerte sich daran. Sie war in Seba gewesen und hatte genau diese Szene gesehen – am 13. März 2044, dem Tag, als der Warp-Generator erstmals aktiviert worden war.
»Ich wusste nicht, was ich geschafft hatte«, flüsterte Zane.
»Zane – du hast den Warp in Gang gesetzt. Nur dafür hattest du gearbeitet.«
»Wilson hat mich auf eine Inspektionstour zum Collider-Torus mitgenommen. Ich bin ihm einfach gefolgt. Als ich wieder drinnen war, haben alle gelächelt und genickt und mir die Hand geschüttelt, und ich habe einfach zurückgelächelt und ebenfalls genickt. Ich kannte nicht mal ihre Namen. Als ich an eine Workstation herankam, habe ich die Relativitätstheorie nachgeschlagen. Die habe ich verstanden, sie ist so schlicht. Und ich habe den sogenannten Warp-Generator studiert. Er kann nicht funktionieren!?
»Was vor dem Warp-Tag war, weißt du nicht mehr?«
»Ich habe auch Gedächtnislücken.«
»Gedächtnislücken?«
»Andere, spätere Situationen, an die ich mich nicht erinnern kann. Es ist, als würde ich einfach nochmal aufwachen.« Er rieb sich das Gesicht. »Aber ich bekomme nicht viel Schlaf.«
Sie lächelte und wich zurück. Ihr wurde klar, dass sie zu Mike Wetherbee gehen und ihm erzählen musste, ihr einziger Warp-Ingenieur sei möglicherweise schizoid. Und so viel zu gemeinsamen Babys.
»Warte einfach hier, Zane. Versprichst du mir das? Wir müssen unser Gespräch fortsetzen.« Sie ließ ihn auf dem Bett sitzen, drehte sich um und floh.
60
DEZEMBER 2046
Holle wurde von einem leisen Wispern geweckt, das aus der Snoopy-Haube auf dem niedrigen Schrank neben ihrem Bett kam. Die Führungscrew hatte die anzuginternen Systeme als geheimen Kommunikationskanal für Krisenzeiten adaptiert. Im Dunkeln ergriff sie das Headset und zog es übers Kissen zu sich heran. »Groundwater.«
»Holle? Wilson. Ich könnte hier drüben ein bisschen Hilfe gebrauchen. «
»Drüben in Hawila?« Sie schlief noch halb und war noch ein wenig benebelt. »Licht.« Ein sanfter Schein erfüllte den Raum, und sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Vier Uhr früh, noch nicht mal Tagesanbruch hier in Seba oder in Hawila, in keinem der beiden Module der Arche. Sie stützte sich auf den Ellbogen. »Sprich weiter, Wilson. Was ist los?«
»Wir haben ein Kind verloren.«
»Ein Kind?«
»Meg Robles.«
Meg, die inzwischen vier Jahre alt war und auf die fünf zuging, gehörte zur ersten Gruppe von Babys, die auf der Arche zur Welt gekommen waren. Ihre Mutter, Cora Robles, war bei der Einschiffung schwanger gewesen.
»Wie verliert man ein Kind, Wilson? … Ach, schon gut.«
»Wir suchen sie. Aber die Kleine ist nur die Hälfte meines Problems.«
Meines Problems, bemerkte Holle. Wilson mochte Kellys Partner sein, aber er hatte so eine Art, ganz Hawila wie ein privates Lehnsgut zu behandeln. »Die Mutter?«
»Theo kriegt sie nicht aus HeadSpace raus, und er macht sich Sorgen, wie sie reagieren wird, wenn er den Stecker zieht.«
»Und du rufst mich an, weil …«
»Weil ich bei dieser Sache deine weibliche Intuition brauche, Holle.«
»Ach, verpiss dich, Wilson.« Aber er wusste, dass sie eine Bitte um Hilfe nicht abschlagen würde; das tat sie nie. »Okay. Gib mir ein paar Minuten.«
»Out.«
In ihrem Schlafanzug stolperte sie aus ihrer Kabine in das kühle, halbdunke Grün des nächtlichen Seba und lenkte ihre Schritte zum gemeinschaftlichen Sanitärblock des Decks. Niemand war in der Nähe, niemand bewegte sich auf den Decks über oder unter ihr. Sie nahm sich vor zu überprüfen, ob der oder die Wachhabende in dieser Nacht nicht irgendwo schlief oder in einer HeadSpace-Zelle herumhing. Wenn das Modul so leer war, kam es ihr irgendwie größer und imposanter vor, fast wie eine Kirche. Man nahm die Geräusche und Gerüche deutlicher wahr, den scharfen Geruch von Elektrizität und Metall, der einen niemals vergessen ließ, dass man sich im Bauch einer großen Maschine befand – und den ständigen muffigen Dunst, einen Abwassergestank, die Signatur von über dreißig Personen, die schon seit fast fünf Jahren, seit dem Start von Gunnison, in diesem Tank lebten.
Der Sanitärblock gehörte zu einer Säulenstruktur, die das Modul der Länge nach durchzog, von einem Ende zum anderen; die Waschbecken, Duschen und Toiletten auf jeder Ebene bildeten einen gemeinsamen Sanit?rkomplex. Holle ging aufs Klo und wusch sich das Gesicht. Das reibungslose Funktionieren ihrer Systeme, das frische kalte Wasser auf ihrem Gesicht und das gleichm??ige Summen von Pumpen, Ventilatoren und Filtern verschafften ihr eine gewisse Befriedigung. Dies war ihr Werk, ihres und das ihrer Lehrlinge, und es st?rte sie auch nicht weiter, dass inmitten all der Politisiererei, des Gez?nks und der t?glichen Krisen niemand jemals davon Notiz zu nehmen schien.
Zurück in ihrer Kabine, zog sie Unterwäsche, Overall und Stiefel an.
Dann kletterte sie eine Reihe stählerner Leitern hinauf, die zur Nase des Moduls und zur Luftschleuse führten, von wo aus man den Transit nach Hawila antreten konnte. Wandkameras drehten sich und folgten ihren Bewegungen. Das Naturgrün-Konzept, eine Hinterlassenschaft der Erde, war bisher nicht modifiziert worden, obwohl die Farbe nach fünf Jahren abplatzte und abblätterte. Und nichts deutete auf das bevorstehende Tausend-Tage-Fest hin. Kelly hatte Gordo Alonzos Anregung beherzigt und war ganz wild darauf, Feiern zu veranstalten, wann immer es einen Anlass dafür gab, einen Jahrestag der Mission, einen Geburtstag. Angesichts der Knappheit an Ausgangsmaterialien wie Papier und Stoff drückten sich die künstlerischen Neigungen der Crew jedoch in flüchtigeren Formen aus: Gedichtvorträge, Musik, Tanz. Am Festtag, dem tausendsten Tag seit dem Warp-Start vom Jupiter, würde es im Modul für kurze Zeit hoch hergehen. Aber vorläufig schlummerten die künstlerischen Aktivitäten der Besatzungsmitglieder noch in ihren Köpfen, zusammen mit ihnen.
In der Nase des Moduls schlüpfte Holle aus ihren Stiefeln, zog ihre Snoopy-Funkhaube über und kletterte in einen der drei Transitanz?ge, die dort aufbewahrt wurden; sie hingen wie Puppen an der Wand. Der Anzug lie? sich problemlos schlie?en ? Anschl?sse und Abdichtungen waren gut geschmiert ?, aber es roch darin nach abgestandenen F?rzen. Sie f?hrte die wichtigsten Dichtigkeitspr?fungen durch. Dann stieg sie in die Nasenschleuse hinauf und wartete, bis die Pumpen die kostbare Luft aus der kleinen Kammer entfernt hatten.
Diese Druckanzug-Sparversionen waren eine Innovation von Wilson, dem irgendwann der Geduldsfaden gerissen war, weil ein Raumspaziergang von einem Modul zum anderen immer so viel Zeit erforderte. Die wichtigste Änderung war am Luftinhalt des Anzugs vorgenommen worden, einem Sauerstoff-Stickstoff-Gemisch von ungefähr demselben Druck wie im Innern der Module. Dieser höhere Druck machte den Anzug so starr, dass man sich damit kaum noch bewegen konnte, aber das spielte keine Rolle, wenn man lediglich von einem Modul zum anderen fliegen wollte. Das Wichtigste war, dass dank des höheren Drucks das stundenlange Voratmen entfiel, das vor einem richtigen Außenbordeinsatz nach wie vor erforderlich war.
Die Luke öffnete sich. Sie stieß sich in den Weltraum ab und stand gleich darauf auf der Nase des Moduls. Das weiche Isoliermaterial unter ihren gestiefelten Füßen war abgenutzt von den Jahren im Weltraum, perforiert von Mikrometeoritennarben, verbrannt von der Sonnenstrahlung und leicht angegilbt von den Schwefelverbindungen, die Io emittierte. Aber das Sternenbanner leuchtete noch immer in den Lichtern des Schiffes, und von ihrer Position aus konnte sie das fette schwarze U und N und I der Worte UNITED STATES sehen, die an der Flanke des Moduls gemalt worden waren, die Identität eines im Wasser versunkenen Staates, den Sternen zur Schau gestellt.
Sie klinkte sich in die Winde ein und begann durch die nachlassende Schwerkraft zum Beschleunigerring emporzusteigen. Im Gegensatz zu manchen Crewmitgliedern bereitete ihr der Transit selbst keine Probleme, ebenso wenig wie die eigentümlichen Sinneseindrücke, während die Schwerkraft auf null sank und dann jenseits des Mittelpunkts, zu Beginn des Abstiegs nach Hawila, umschlug. Wie immer fand sie jedoch den unnatürlichen Anblick gewaltiger, im Himmel hängender Massen von Technik beunruhigend; irgendein animalischer Teil von ihr war stets davon überzeugt, dass der ganze Krempel herabstürzen würde.
Nur Minuten, nachdem sie Seba verlassen hatte, sanken ihre gestiefelten Füße zu Hawilas Nase hinunter.
»Willkommen an Bord«, sagte Wilson leise über Funk. »Ich bin unten auf sechs.«
»Verstanden. Ich finde dich schon.«
61
Hawila regte sich, beendete eine weitere Schiffsnacht, aber die Lichter waren ebenso gedämpft wie an Bord von Seba. Die von der Erde angeordnete Routine unterschiedlicher Tag-Nacht-Zyklen in beiden Modulen, dank deren immer eine Häfte der Crew wach und einsatzfähig sein sollte, war wegen der Spannungen, die sie zwischen zwei Gruppen von Crewmitgliedern in unterschiedlichen Wachzuständen verursachte, bald aufgegeben worden. Es hatte sogar einen kleinkarierten Disput darüber gegeben, welchem Modul die Ehre zuteilwerden sollte, die Uhren auf Alma-Zeit einstellen zu dürfen, und in welchem die Zeit um acht Stunden versetzt sein sollte. Jetzt war der Taktzyklus beider Module identisch, beide spiegelten die Alma-Zeit, und in jedem Modul gab es einen Dienstplan für eine kleine Nachtwache.
Die Anmutung dieses Moduls war jedoch verblüffend anders. Der Farbanstrich der Sozialingenieure, urbanes Design im Kontrast zu Sebas Naturfarben, war sorgfältig weggeschrubbt worden, um die unverfälschte Textur der künstlichen Oberflächen darunter freizulegen, den Kunststoff, das Metall, das Glas. Selbst die Gitterelemente der Deckböden waren nackt. Die Bewohner von Hawila hatten das alle miteinander als eine Art künstlerischer Geste beschlossen – sie hatten sich dafür entschieden, mit der kühlen mechanischen Realität ihrer Umgebung zu leben, statt sie mit den Farben eines Planeten zu kaschieren, den keiner von ihnen jemals wiedersehen würde. Holle war Ingenieurin genug, um an der n?chternen Sch?nheit des Ergebnisses Gefallen zu finden.
Manche Flächen wurden jedoch von Kunstwerken in Form kostbarer Kleckse aus Wand-, Kreide- und Buntstiftfarben eingenommen. Auf dem fünften Deck hielt Holle bei einem Gemälde inne, das so etwas wie ein lichterfülltes Haus zeigte, umgeben von einem dunklen, bedrohlichen Himmel – und ein Klopfen an die Tür, dargestellt durch gelbe Farbbögen. Das Gemälde war signiert: HAWIL. TRAUMZIRKEL 4.
»Psst.«
Das Flüstern kam von unten. Sie schaute durch den Gitterboden und sah Wilson auf dem nächsten Deck unter ihr, in Unterhose und einer Weste, die seinen muskulösen Oberkörper zur Geltung brachte. »Gefällt dir das Kunstwerk?«
»Nicht besonders. Ist ganz gut gemacht. Aber das Thema ist offensichtlich, oder?« Dies war einer der häufigsten Träume oder Alpträume der Crewmitglieder. Hier waren die (möglicherweise) letzten lebenden Menschen, und sie flohen in diesen Metallhülsen durchs Weltall: Was, wenn jemand an die Wand klopfte?
Wilson grunzte. »Ich mag diese verdammten Traumzirkel nicht. Die recyceln doch nur morbiden Blödsinn wie den da. Ernähren sich wechselweise vom Seelenmüll der anderen.«
»Kann sein. Aber an manchen Tagen gibt’s nichts zu tun, außer die Wände abzuschrubben, Wilson. Die Leute brauchen irgendwelche äußeren Stimuli.«
Damit konnte sie Wilson nicht beeindrucken. »Ist doch bloß wieder so ein bescheuerter Spleen. Die Zirkel sind erst populär geworden, als wir den Zugang zu den HeadSpace-Zellen eingeschränkt haben. Apropos HeadSpace …«
»Gehen wir zu Theo.«
»Ja.«
Holle folgte Wilson durch ein paar weitere Decks nach unten. Sie passierten Kabinendörfer, die sich auf subtile Weise von denen in Seba unterschieden. Die Besatzungsmitglieder bastelten an den Trennwänden herum und modfizierten alles allmählich nach ihrem eigenen Geschmack.
»Ich nehme an, ihr habt die kleine Meg noch nicht gefunden«, sagte Holle.
»Nein. Ich habe die Nachtwache auf die Suche geschickt, und wenn die anderen alle aufgewacht sind, inspizieren wir das Modul von oben bis unten. Wahrscheinlich müssen wir das verdammte Schiff dazu auseinandernehmen.«
»Diese Kinder wachsen hier auf. Vermutlich kennen sie diese Module besser, als wir sie je kennen werden.«
»Ja. Arme kleine Hunde. Morgen, Theo.«
Theo Morell wartete vor einer kleinen Kabine auf sie, der HeadSpace-Zelle auf Deck elf. Er lehnte mit verschränkten Armen an einer Wand, und ein Handheld baumelte von seiner Taille. »Wie ich sehe, hast du Unterstützung mitgebracht. «
»Dachte mir, es wäre am sichersten, eine Frau hier zu haben, falls Cora wieder ausflippt.«
»Oh, das wird sie«, sagte Theo leichthin. »So wie immer.«
Wilson warf einen Blick auf die Zelle. Über der Tür leuchtete ein rotes Lämpchen. »Ist sie da drin?«
»Ja. Schon die ganze Nacht. Sie ist allein. Nimmt nicht mal ihre Kleine mit rein. Wollt ihr mal sehen?« Theo hob seinen Handheld hoch und drückte auf eine Taste.
Ein Wandbildschirm leuchtete auf und zeigte ein kleines Mädchen. Es spielte auf einer sonnenbeschienenen Terrasse vor einer Wohnung mit Blick auf ein funkelndes Meer. Schattenhafte Avatare waren bei ihr. Die Terrasse war groß, das Meer eine schimmernde Ebene, die sich zu einem scharfen Horizont mit blauem Himmel erstreckte.
Die grundlegende Prämisse der Szene lag auf der Hand: Es ging um Raum, Raum zum Laufen und Spielen, allein und ohne den Druck von Menschen überall um einen herum, ohne die Verantwortung, die Erwachsene trugen. Einem Copyright-Stempel mit der Jahreszahl 2018 zufolge war das lose auf Sorrent in Italien basierende Szenario von Maria Sullivan, einer HeadSpace-Nutzerin in Manchester, Großbritannien, als ihr privater Raum kreiert und dem Nimrod-Projekt von dem Unternehmen gespendet worden. Holle fragte sich, was aus Maria Sullivan geworden war.
»Das kleine Mädchen ist Cora?«
»Du hast es erfasst. Ich hab versucht, sie da rauszuholen. Hab’s mit sämtlichen Taktiken probiert, die du mir empfohlen hast, Wilson. Zum Beispiel Abmachungen treffen – noch eine halbe Stunde, aber dann kommst du raus. Nichts funktioniert, nicht bei ihr. Glaub mir, ich wusste mir nicht mehr anders zu helfen, als dich zu rufen.«
»Ich will deine Rechtfertigungen nicht hören«, sagte Wilson. »Schalte einfach aus.«
Theo hob seinen Handheld und ließ den Daumen über einer Taste schweben. »Seid ihr bereit?«
»Mach schon.«
Theo ließ den Daumen niedersausen und trat zurück. Das Licht über der Tür wechselte von Rot zu Grün.
Fast im selben Moment flog die Zellentür auf, und Cora Robles kam herausgetaumelt. Sie schob sich eine Sensormaske vom Gesicht. Cora trug einen schwarzen Ganzkörperanzug sowie Handschuhe mit dicken berührungsstimulierenden Fingerpads, und sie zog ein dickes Kabel hinter sich her, das in die Zelle f?hrte. Sie starrte Theo w?tend an. ?Du hast es ausgeschaltet? Ich war noch nicht fertig!?
Er wich zurück. »Hör mal, Cora, ich habe dich oft genug gebeten …«
»Gib mir die Konsole.«
»Nein, Cora.«
»Schalt wieder ein, du Arschloch!« Sie stürzte sich auf Theo, die behandschuhten Fäuste erhoben.
Holle sprang vor und stellte sich zwischen Cora und Theo. Sie steckte ein paar Hiebe auf die Brust ein, dann gelang es ihr, die Arme um Coras Oberkörper zu schlingen. Cora schlug um sich und versuchte, an Theo heranzukommen, aber trotz ihres Zorns war sie schwach und nicht schwer zu bändigen. Ihr Anzug war so eng, dass Holle spürte, wie dünn sie war – ihre Knochen standen vor, die Schulterblätter, die Hüften. Entweder hatte sie Mahlzeiten ausgelassen, oder sie hatte Essen gegen HeadSpace-Credits getauscht. Wilson zerrte an dem Datenkabel, das Cora mit der Zelle verband, und zog sie von Holle weg. Cora rutschte aus und fiel rücklings auf den Gitterboden. Sie lag schwer atmend da, mit verzerrtem Gesicht.
Coras Verfassung schockierte Holle. Sie verspürte Schuldgefühle, weil sie nichts davon bemerkt hatte. Schließlich war sie mit dieser Frau aufgewachsen. Cora war immer schön, intelligent und kokett gewesen, ein energiegeladendes Partygirl. Vielleicht hatte sich all diese Energie hier, im Gefängnis der Arche, nun gegen sie selbst gerichtet.
Holle kniete sich neben sie. »Hör mal, Cora, tut mir leid, aber es ging nicht anders. Du musstest da rauskommen. Deine kleine Tochter ist weg.« Da Cora Megs Vater auf der Erde zurückgelassen hatte, kümmerte sie sich nun meistens um das Kind.
»Sie weiß es«, fauchte Wilson. »Wir haben es in die Zelle eingespeist. Aber es war ihr egal. Sie interessiert sich mehr für ihre HeadSpace-Fantasien als für ihr eigenes Kind.«
»Und sie hat keine Credits mehr«, sagte Theo und schaute grinsend auf sie hinunter.
Wilson war wenig angetan von seinem Gebaren. »Worüber lachst du? Du betreibst dieses Scheiß-System, Eindringling. Also liegt es doch wohl in deiner Verantwortung, mit solchen Scherereien fertigzuwerden.«
Theo hob die Hände. »Als ich das letzte Mal versucht habe, Cora da rauszuholen, hat sie mich beschuldigt, ich hätte sie tätlich angegriffen. Das riskiere ich nicht nochmal. Immerhin ist sie Kandidatin, eine von euch. Ich will wenigstens Zeugen dabei haben.«
Als sich herausgestellt hatte, dass der Zugang zu den HeadSpace-Zellen eingeschränkt werden musste, war Holle auf die Idee gekommen, die Verantwortung für die Organisation des Zuteilungssystems Theo zu übertragen. Er erledigte das durchaus kompetent, indem er ein System von Credits einführte, das in den öffentlichen Bereichen des Archen-Archivs galt. Aber er war einfach zu großspurig. Vielleicht war etwas dran an den Gerüchten, dass er einen schwunghaften Tauschhandel mit HeadSpace-Credits betrieb und zu einer Art Dealer für Süchtige wie Cora geworden war. Holle hatte es nicht glauben wollen. Theo hatte seit dem Start eine erhebliche Entwicklung durchgemacht, dachte sie, obwohl er noch immer erst einundzwanzig war. Und es war keine ausschließlich positive Entwicklung gewesen.
Sie wandte sich ab und legte den Arm um Cora. »Komm, ich helfe dir, aufzustehen und diesen dämlichen Anzug auszuziehen. Du siehst aus, als bräuchtest du dringend was zu trinken, was zu essen und ein bisschen Schlaf, wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Und dann musst du uns helfen herauszufinden, wo Meg sein k?nnte?? Sie f?hrte sie weg.
Wilson machte sich mit einem letzten zornigen Blick auf Theo davon.
62
In Seba hatte Kelly den Tag an ihrem Tisch auf Deck acht mit der üblichen Abfolge von Besprechungen begonnen. Holle erschien, um zu berichten, was sich drüben in Hawila in Bezug auf Meg tat. Sie ließ sich mit einem Kaffee am Tisch nieder; ihr war klar, dass sie warten musste, bis sie an der Reihe war.
Kelly wirkte müde und übernächtigt. Das Tausend-Tage-Fest zwang sämtliche Fraktionen und Rivalen auf der Arche, bei einem einzigen Ereignis zu kooperieren, und bereitete Kelly und ihren Führungsleuten darum noch mehr Kummer als üblich. Im Augenblick hörten Kelly und Masayo Saito jedoch Elle Strekalow zu, die sich über die von Kelly vorgeschlagenen neuen Fortpflanzungsregeln beklagte.
Eine Mutter kam mit einem kleinen Kind vorbei, das noch keine zwei Jahre alt war. Kelly deutete mit großer Geste auf die beiden. »Schaut euch das an! Sue Turco mit ihrem Balg von Joe Antoniadi – wie haben sie die Kleine genannt, Steel? –, und Gerüchte besagen, dass sie schon einen zweiten Braten in der Röhre hat. Ihr kennt die grundlegende Regel: Keine Geburten mehr, bevor wir die Erde II erreichen. Wir müssen nur noch vier, fünf Jahre warten. Die einzigen Kinder auf diesem Schiff sollten diejenigen sein, die im Mutterleib an Bord gekommen sind, wie die kleine Helen Gray. Aber es gibt immer wieder mal neue Schwangerschaften. Die Leute kriegen Kinder, weil sie welche kriegen wollen!«
»Doc Wetherbee hat gesagt, Fortpflanzung sei eine natürlich Reaktion nach einem Trauma, so wie die Geburtenrate nach einem Krieg steigt«, sagte Masayo. »Die Flut, die ganze Startprozedur, die Loslösung von allem, was wir kennen – das war bestimmt traumatisch genug.«
»Vielleicht langweilen sie sich auch bloß«, gab Holle zu bedenken.
»Warum auch immer sie’s tun, es entspricht nicht unserer Politik, es entspricht nicht den von den Sozialingenieuren aufgestellten Regeln für maximale genetische Diversität, es entspricht nicht dem Schiffsgesetz.« Kelly betonte ihre Worte, indem sie mit der flachen Hand auf den Tisch schlug.
»Aber das hat nichts mit meinem Problem zu tun«, mischte sich Elle Strekalow ungeduldig ein. »Mir geht’s um dieses Gerede über die Vaterwahl für Zweitkinder.«
Holle, die den Anfang des Gesprächs nicht mitbekommen hatte, fragte: »Was ist los, Elle?«
Elle lächelte sie an. Sie sah müde aus. »Es ist wegen Jack Shaughnessy. Kellys neue Politik hat dazu geführt, dass er wieder um mich ›herumschnüffelt‹. So drückt Thomas es jedenfalls aus. Ich will nichts mit Jack zu tun haben, ebenso wenig wie zuvor. Thomas glaubt es aber nicht. Er denkt, Kellys Politik wird Jack die Tür öffnen.«
Kelly schüttelte den Kopf. »Es ist nicht meine Politik. Momentan ist es bloß die Empfehlung der Sonderkommission, die ich gebeten habe, über das Problem nachzudenken. Sieh mal, wir haben einen Konflikt zwischen zwei Pflichten. Wir müssen versuchen, in der nächsten Generation für maximale genetische Diversität zu sorgen. Gleichzeitig haben wir dank der Anwesenheit der Ungebetenen und der Illegalen ein unausgewogenes Geschlechterverhältnis auf der Arche …«
Es gab mehr Männer als Frauen. Drei homosexuelle Paare, zwei männliche und ein weibliches, verringerten die Last ein wenig, obwohl ein weiteres Problem darin bestand, dass auch von den Schwulen und Lesben ein Beitrag zum Genpool der nächsten Generation erwartet wurde; aber die Sozialingenieure hatten zumindest Leitlinien hinterlassen, wie man damit umgehen sollte. Was das grundlegende Problem der Unausgewogenheit betraf, boten diese Leitlinien jedoch keine Hilfe.
Elle sagte hitzig: »Ich habe das Recht, mir auszusuchen, wer mein Lebensgefährte sein soll.«
»Ja, natürlich«, sagte Kelly geduldig. »Aber die überzähligen Männer haben ebenfalls Rechte. Und wir als Gruppe haben die Pflicht, einen möglichst großen Genpool für die Zukunft zu bewahren. «
»Ich muss also die Beine für irgendeinen Illegalen breit machen? «
Holle lachte. »Nett ausgedrückt.«
»Künstliche Befruchtung ginge auch«, sagte Kelly zu Elle. »Du müsstest mit niemandem schlafen.«
»Manchmal kann ich einfach nicht glauben, was für Gespräche wir führen«, warf Masayo milde ein.
»Aber ich hätte trotzdem das Balg irgendeines Illegalen im Bauch«, erwiderte Elle. »So wird Thomas es jedenfalls garantiert sehen.«
»Wir schlagen uns permanent mit derartigen Fragen herum, Elle, das weißt du«, sagte Kelly mit erzwungener Geduld. »Dein Recht, über deinen Körper zu bestimmen, liegt im Konflikt mit den Rechten und Pflichten der Gruppe als Ganzer. Der Vorschlag lautet, dass jede von uns Frauen sich unter den betroffenen Männern einen zweiten Partner aussuchen, dass jede von uns Kinder von mehr als einem Mann kriegen soll. Wenn du selbst niemanden aussuchen kannst, wird eine Wahl durchgef?hrt ??
Elle schnaubte. »Manipuliert wie jede Abstimmung auf diesem Kahn seit dem Start.«
»Da wird nichts manipuliert. Wir alle müssen dem ins Auge blicken, Elle. Alle Frauen, und alle Männer übrigens auch. Wir werden zwischen Lebensgemeinschaften und Partnerschaften zur Fortpflanzung unterscheiden müssen. Über Erstere bestimmt man ganz allein, da braucht die Mission sich nicht einzumischen, aber bei Letzeren muss die Crew als Ganze ein paar Zielvorgaben setzen, damit wir unsere größere Verpflichtung erfüllen können. Nur auf diese Weise kann eine so kleine Crew die genetische Diversität aufrechterhalten. Wir sind nun mal in einer einmaligen Situation, die …«
»Also wirklich, jetzt reicht’s mir aber.« Elle stand auf und stieß dabei ihren Stuhl um; er kippte in der halben Schwerkraft träge nach hinten. »Dauernd kommst du einem mit diesem hypermoralischen Schwachsinn, Kelly. Du konzentrierst dich nie auf den Menschen, den du vor dir hast. Na schön, ich werde mit Venus in der Kuppel sprechen. Die wird dir schon in den Arm fallen. Und vielleicht tut sie irgendwas, um Thomas und Jack voneinander fernzuhalten, bevor die beiden sich gegenseitig umbringen.« Sie stolzierte davon.
Kelly seufzte und trank einen Schluck Wasser aus einem abgedeckten Glas. »O je, o je.«
»Ich rede mal ein Wörtchen mit Jack Shaughnessy«, versprach Holle. »Unter vier Augen. Um sicherzustellen, dass er Elle in Ruhe lässt.«
»Ich habe keine Anzeichen dafür gesehen, dass er immer noch hinter ihr her ist. Diese Schlägerei mit Thomas scheint ihn davon überzeugt zu haben, dass Elle bleiben will, wo sie ist. Wahrscheinlich ist Thomas einfach blo? paranoid. Sei vorsichtig, Holle, wenn du was Falsches sagst, machst du alles vielleicht nur noch schlimmer.?
»Solche Konflikte werden wir immer wieder erleben«, meinte Masayo.
»Ich weiß«, sagte Kelly. »Auf dem ganzen Flug bis zur Erde II. Aber was sollen wir sonst machen? Darum geht’s doch bei der Mission. Es wäre nicht halb so schwierig, wenn die Crew wie vorgesehen aus der vollen Zahl von Kandidaten bestünde, mit einem ausgewogenen Geschlechterverhältnis und einer Ausbildung in diesen Dingen.«
Masayo verdrehte die Augen.
Kelly wandte sich an Holle. »Wie steht’s mit dem vermissten Kind drüben in Hawila?«
»Wilson sagt, er meldet sich, wenn es Neuigkeiten gibt.«
»Die verdammten Kinder«, sagte Kelly. »Die sind so merkwürdig. Weißt du, ich habe gesehen, dass sie Spinnen und Fliegen fangen und als Haustiere halten. Nicht zu glauben. Man sollte meinen, sie müssten den Verstand verlieren, weil sie in so einem Einweckglas aufwachsen. Aber sie haben ja nie was anderes gekannt. Was ist mit Cora?«
Holle gab ihr einen kurzen Überblick über die Geschehnisse und erzählte, wie sie und Wilson geholfen hatten, Cora aus der Zelle zu holen. »Ich habe Doc Wetherbee gebeten, sie sich mal anzusehen. Ich glaube, sie hat in letzter Zeit noch nicht mal richtig gegessen.«
»Ihr Problem ist nicht das Essen«, meinte Kelly, »sondern ihre HeadSpace-Sucht. Wir haben dafür gesorgt, dass es an Bord weder Alkohol noch sonst welche Drogen gibt, und trotzdem wachsen uns ständig Süchtige nach. Irgendeinen Mist gibt es immer.« Sie sah Holle scharf an. »Wie denkst du über Theo? Glaubst du, er dealt mit HeadSpace-Credits, wie Wilson sagt??
»Kann sein«, sagte Holle vorsichtig. »Aber Theo ist naiv. Oder er war es, als er an Bord gekommen ist. Vielleicht versteht er gar nicht, was er tut, welche moralischen Implikationen und Auswirkungen auf andere Leute das hat.«
Masayo lachte. »Er erfindet den Drogenhandel also von Grund auf neu. Gott segne die menschliche Natur.«
Kelly schüttelte den Kopf. »Wisst ihr, ich habe im Archiv ein paar Recherchen über Gefängnisse angestellt. Die Insassen markieren ihr Territorium, prügeln sich um Essen, erzählen sich aus Mangel an Stimulation ihre Träume und handeln mit Drogen. Genau wie wir. Ist das alles, was wir hier aufgebaut haben – ein Gefängnis zwischen den Sternen?«
»Grace Grays Mutter hat in Barcelona jahrelang in Geiselhaft gesessen«, sagte Masayo Saito. »Man hat sie in Kellern an Heizkörper gekettet. Grace ist das Ergebnis einer Vergewaltigung durch einen der Wachposten; sie ist in Gefangenschaft zur Welt gekommen. Eine unglaubliche Geschichte. Und doch, sind wir nicht alle Geiseln auf dieser Arche, Geiseln der Ziele der Missionsplaner? «
»Ich würde sagen, es waren auch unsere Ziele«, erwiderte Holle.
»Das weiß nur Gott allein«, meinte Masayo.
»Manchmal denke ich, das ist das Problem«, sagte Kelly. »Gott, meine ich. Die Sozialingenieure haben immer versucht, Gott aus unserem Leben fernzuhalten. Die Arche ist eine Mission eines ausdrücklich säkularen Staates, der das Gegenbild des Mormonenstaates in Utah sein wollte, mit dem er im Krieg lag. Und trotz der Ungebetenen und Illegalen haben sie dieses Ziel erreicht, nicht wahr? Viele auf der Arche sind religiös, aber wir sind keine religi?se Gemeinschaft. Manchmal w?nschte ich, wir w?ren es ? wir h?tten eine gemeinsame Mission im Auftrag des einen oder anderen Gottes. Ein Kloster w?re sicher ein besseres Gesellschaftsmodell als ein Gef?ngnis.?
Masayo schüttelte den Kopf. »Dafür ist es zu spät, Kelly. Ich glaube, wir haben Gott auf der Erde zurückgelassen.«
Holle stand auf. »Ich muss los. Doc Wetherbee sagt, er möchte Zanes Therapie überprüfen.«
»Tja, das gehört auch zu den Dingen, die ganz oben auf der Liste stehen. Und halte mich auf dem Laufenden, was sich mit dem Kind tut. Okay, Masayo, was kommt als Nächstes?«
63
Mike Wetherbee lud Holle, Venus und Grace in den OP ein, wie er die kleine Kabine mit den Etagenbetten, dem hartnäckigen antiseptischen Geruch und den Schränkchen mit medizinischer Ausrüstung nannte, mit der er alles von Augenleiden bis hin zu schlechten Zähnen behandelte. Auf einem Monitor zeigte er ihnen eine Aufnahme, die ihn selbst und Zane bei einer Therapiesitzung zeigte, der letzten eines Programms, das nun seit über zwei Jahren lief. Auf dem Bildschirm unterhielten sich Zane und Wetherbee leise miteinander, während sie Unendlichkeitsschach spielten.
»Das ist der Teil, wo wir nur rumquatschen«, sagte Wetherbee leise. »Wie war dein Tag und so. Es dauert immer eine Ewigkeit, bis er auftaut. Meistens rede ich. Und ich hasse dieses verdammte Spiel.«
»Schauen wir einfach zu«, murmelte Grace. Sie hockte auf der Kante eines Krankenbettes.
Unendlichkeitsschach war eine Erfindung von Zane. Man spielte es mit normalen Figuren auf einem normalen Brett, aber die Spieler mussten sich vorstellen, dass das Brett um sich selbst geschlungen war, so dass der rechte Rand am linken und der obere am unteren klebte. So konnte sich eine Figur bei den üblichen Zugregeln rechts über den Rand ihrer Welt hinausbewegen und auf der linken Seite wieder erscheinen. Zane behauptete, das erzeuge die Illusion von Unendlichkeit auf einem endlichen Spielfeld, und er zeigte gern Computergrafiken, auf denen man sah, dass das um sich selbst geschlungene Brett topologisch einem Torus entsprach, einem Donut. Die Dame wurde besonders stark; mit einer leeren Diagonale, Reihe oder Linie konfrontiert, konnte sie mit einer einzigen Bewegung theoretisch eine unendliche Zahl von Feldern ?berspringen. Zane und andere leidenschaftliche Spieler arbeiteten eifrig Varianten f?r Standardregeln und Standardspielz?ge aus. So hatte Wei? beispielsweise mit dem ersten Zug einen sofortigen Vorteil. Die Dame konnte r?ckw?rtsziehen und auf der anderen Seite der Welt wieder erscheinen, um dort die Dame des Gegners zu schlagen, obwohl sie dann dem gegnerischen K?nig zum Opfer fallen w?rde. T?rme, die r?ckw?rts in die hintere Reihe des Gegners zogen, konnten eine Menge Schaden anrichten, bevor sie geschlagen wurden. Die Endspiel-Analyse war weniger betroffen, weil das Brett dann ohnehin so leer war.
Das Spiel war eine augenfällige psychologische Metapher für die Freiheit, die sie alle in einer umschlossenen Welt suchten, aber es war verdammt schwer zu spielen. »Der Mistkerl schlägt mich jedes Mal«, knurrte Mike Wetherbee.
»Du hast viel Geduld«, meinte Grace.
»Ja, stimmt«, sagte Wetherbee säuerlich. »Wenn er sich in dieser Phase befindet, ist er so depressiv, so passiv, er sitzt nur da und suhlt sich in seinem Elend. Er saugt einem das Leben aus.«
Holle wusste, dass Wetherbee sich bei dem Therapieprogramm unwohl fühlte, obwohl er in Anbetracht von Zanes Bedeutung für die Mission schließlich bereit gewesen war, diese Aufgabe zu übernehmen. Darum hatte er andere zu der Behandlung hinzugezogen: Holle, die Zane zu ihm geschickt hatte, Venus, die ebenfalls von Harry Smith missbraucht worden war – ein wahrscheinlicher Ausl?ser f?r Zanes Zustand ?, und Grace Gray, die nach dem Mord an Harry mit Zane gesprochen hatte. Grace erwies sich als eine der f?higeren von Wetherbees Hilfskr?ften, da sie in ihren Jahren in der Wanderarbeiterstadt auf den Great Plains eine Menge praktischer Erfahrungen gesammelt hatte. Sie bildeten ein gutes, emotional starkes Team, dachte Holle, selbst wenn sie keine Erfahrung mit solchen F?llen hatten.
In Wirklichkeit verteilte Wetherbee die Last jedoch nur auf mehrere Schultern. Er besaß eine Mentalität, die Holle von vielen Medizinstudenten und Ärzten auf der Erde kannte. Lebhaft, gut aussehend und tüchtig, hatte er keine feste Partnerin, war aber eine Abfolge von Beziehungen mit Frauen aus der Crew eingegangen – eine Menge Leute wollten den einzigen Arzt des Schiffes an sich und ihre Kinder binden. Aber er zeigte niemals auch nur einen Hauch von Überlebensschuld oder irgendein Interesse am Schicksal seiner versunkenen Heimat. Und er wahrte eine Distanz von seinen Patienten, bei der man sich manchmal fragte, warum er überhaupt in die Medizin gegangen war.
Jetzt beugte Mike sich vor und berührte den Bildschirm, um den Ton lauter zu stellen. »Wir hatten über das Schachspiel gesprochen. Dann fing er plötzlich an, von seinem Vater zu reden. Schaut, seht ihr die Veränderung hier?«
Holle sah, wie Zane sich kerzengerade aufrichtete und sich umschaute, fast so, als wäre er gerade erst hereingekommen. »Doc Wetherbee?«
»Ich bin hier, Zane.«
»Wir sind im OP. Wir spielen Schach.« Er warf einen Blick auf das Brett. »Schachmatt in zwei Zügen.« Er lächelte. Alles an ihm schien auf einmal heiterer zu sein, dachte Holle, als wäre er ein ganz anderer Mensch.
»In zwei Zügen? Ich seh’s nicht, aber das überrascht mich auch nicht.«
»Ich spiele Schach mit meinem Vater.«
»Beachtet das Präsens«, sagte Wetherbee leise zu den Frauen.
»Ich schlage meinen Vater nie. Das könnte er nicht ausstehen. «
»Hast du … ich meine, lässt du ihn gewinnen?«
»O nein. Er könnte es nicht ausstehen, sich selbst für schwach zu halten. Und er könnte es auch nicht ausstehen, wenn ich gefühlsduselig wäre. Das Spiel ist alles, man muss gewinnen …«
»Ihr seht den Konflikt«, kommentierte Wetherbee. »Ich glaube, er hat den Vater doch gewinnen lassen und es dann verdrängt. Der alte Mann hat immer wieder Barrieren aufgebaut, die der Junge nicht durchbrechen konnte. Hört euch an, womit er jetzt anfängt.«
»Ich habe versucht, Dad von Harry Smith zu erzählen«, sagte Zane auf dem Bildschirm.
»Das, worüber wir gesprochen haben? Die intimen Berührungen und so weiter.«
»Ja. Ich hab’s mehr als einmal versucht. Beim ersten Mal wollte Dad einfach nicht zuhören. Beim nächsten Mal hat er mich geschlagen. Er hat gesagt, ich würde lügen, Harry Smith sei ein ehrenwerter Mann, er kenne ihn gut. Und er hat gesagt, ich sei schmutzig, dreckig. Ich solle ja den Mund halten. Wenn ich irgendjemandem diese Lügen erzählte, würde ich damit nur mir selber Ärger einhandeln und von der Arche fliegen, und dann würden mich die Eye-Dees vergewaltigen und töten, und wenn die’s nicht täten, würde ich eben ertrinken.«
»Aber jetzt ist das alles vorbei. Du bist auf der Arche. In Sicherheit.«
Zane lächelte mit wissender Miene. »Na ja, ich bin immer noch Kandidat, Doc Wetherbee. Das ist ganz und gar nicht dasselbe. «
»Als wäre er in der Vergangenheit gefangen«, sagte Venus. »Er weiß nicht, dass er auf der Arche ist.«
»So ähnlich, ja, manchmal … hört zu.«
Auf dem Bildschirm fragte Wetherbee: »Wenn du es doch auf die Arche schaffst, was meinst du, wie sich das alles auf dich auswirken wird? Das mit Harry Smith und deinem Vater.«
Zane runzelte die Stirn. »Darüber denke ich nicht viel nach. Es sind noch Jahre bis zum Start.«
»Du wirst eine Pflicht haben«, bohrte Wetherbee nach. »Du wirst nicht nur als Person dabei sein, sondern auch als Genquelle. Als jemand, der zur genetischen Diversität beiträgt.«
»Ich interessiere mich für die Triebwerke, die Theorie des Warp-Feldes …«
»Ja, aber das ist ein entscheidender Aspekt der Mission, ihre menschliche Seite. Du wirst Kinder zeugen müssen, auf der Arche oder auf der Erde II. Das ist der zentrale Punkt. Wie fühlst du dich dabei?«
»Schmutzig.«
»Das hat dein Vater gesagt. Aber es muss nicht unbedingt wahr sein.«
»Schmutzig, schmutzig!« Zane fegte mit einer weit ausholenden Handbewegung die Spielfiguren vom Brett. Dann sackte er in sich zusammen.
Wetherbee hielt die Aufzeichnung an.
»Du hast ihm ganz schön zugesetzt«, sagte Grace.
»Ich weiß, ich weiß.« Wetherbee seufzte und massierte sein blasses, stoppelbärtiges Gesicht. »Aber als er mit diesem Anknüpfungspunkt ?ber seinen Vater kam, dachte ich, das w?re eine Gelegenheit, die ich nicht verpassen sollte. Ich glaube, die Beziehung zum Vater ist der Schl?ssel zu dem ganzen Schlamassel.
Seht euch den Widerspruch an, den er zu lösen versucht. Sein Vater hat ihm den ganzen Schmerz und die Schande des sexuellen Missbrauchs aufgeladen, dazu seinen eigenen Antrieb und Ehrgeiz und vielleicht auch noch seine eigene Scham darüber, was aus seinem Sohn wurde. Zane ist also schmutzig wegen dieser Sache mit Harry Smith, und er ist nicht geeignet, Kinder zu haben. Andererseits sollte er aber nicht auf der Arche sein, wenn er nicht zum Genpool beitragen kann. Er hätte auf der Erde in den Händen der Ungeheuer bleiben sollen, die sein Vater ihm so drastisch dargestellt hat. Das ist eine grundlegende Wahl zwischen Leben und Tod. Man hätte ihn kaum unter größeren Druck setzen können. Vielleicht ist er tief im Innern diesem ganzen Thema immer ausgewichen, hat den Widerspruch begraben. Dann hat er sich in den Erinnerungslücken, der Selbstverletzung gezeigt. Und schließlich …«
»Und schließlich habe ich die Krise ausgelöst«, sagte Holle. »An dem Tag, an dem ich ihm vorgeschlagen habe, ein Kind mit ihm zu bekommen.«
»Das war eine der nettesten Gesten gegenüber einem Mann wie Zane, die ich mir vorstellen kann«, sagte Grace. »Du konntest ja nicht wissen, was in seinem Kopf vorging. Er wusste es nicht mal selbst.«
»Auch ich weiß es nach Jahren meiner tollpatschigen Therapie immer noch nicht«, sagte Wetherbee. »Aber ich glaube, er leidet unter irgendeiner dissoziativen Störung. Seine Identität hat sich aufgespalten, verursacht von den Widersprüchen, die er nicht lösen kann, und dem Schmerz, den er begraben muss. Das erkl?rt die Erinnerungsl?cken, die offenkundigen Ver?nderungen seiner Identit?t ? die Art, wie er ?aufzuwachen? scheint und nicht genau wei?, wo oder auch nur wann er ist.?
Venus sagte: »Du meinst, unser einziger Warp-Ingenieur ist eine Art Dr. Jekyll und Mr. Hyde?«
»Und was machen wir nun?«, fragte Holle.
Er zuckte die Achseln. »Meine Möglichkeiten zur Durchführung von Kernspintomografien sind begrenzt. Ich hab’s ausprobiert, aber ich sehe keine physischen Anomalien in seinen Gehirnfunktionen, ganz egal, welcher Aspekt seines Ichs gerade dominierend ist. Ich denke, die einzige Antwort heißt Therapie – um ihn und den angerichteten Schaden vollständig zu verstehen. Und dann müssen wir eine Methode finden, den Heilungsprozess einzuleiten. In solchen Fällen arbeitet man häufig mit Hypnose. Ich habe in meinem ganzen Leben noch niemanden hypnotisiert, aber im Archiv gibt es Verfahren, die ich vielleicht anwenden könnte.« Er schnitt eine Grimasse. »Das wird noch Jahre dauern, wenn es überhaupt klappt.«
»Ich schätze, wir haben keine große Wahl«, sagte Holle. »Danke, Mike. Ich weiß, dafür bist du nicht angeheuert worden.«
»Stimmt.« Wetherbee machte ein ärgerliches Gesicht, dann grinste er. »Aber Zane ebenso wenig.« Als sie aufstanden, um zu gehen, löschte er den Bildschirm und wandte sich einem Computerprogramm zu.
Das erregte Venus’ Aufmerksamkeit. »Was ist das?«
»Ich versuchte, der KI des Schiffes Unendlichkeitsschach beizubringen. Mit einem kleinen Mann im Ohr könnte ich Zane vielleicht wenigstens mal einen richtigen Kampf liefern …«
In den frühen Morgenstunden des folgenden Tages wurde Holle von zwei weiteren Anrufen geweckt. Der erste kam von Wilson Argent in Hawila. Sie hatten das kleine M?dchen, Meg Robles, gefunden.
»Sie ist in einen Druckanzug geschlüpft und hat ihn geschlossen. Man sollte meinen, eine Vierjährige wäre zu so was gar nicht fähig. Dann saß sie in dem Ding fest und kam nicht mehr raus.«
Sie hörte es an seinem Ton. »Sie ist tot.«
»Leider ja. Der erste Todesfall seit dem Start. Und das erste tote Kind.«
»Ich bin gleich drüben.«
»Nein, wir kommen schon zurecht. Wir kümmern uns um Cora. Aber sag Kelly Bescheid.«
»Klar.«
Und später bekam sie einen Anruf von Mike Wetherbee.
»Ich habe eine E-Mail von Zanes Nutzer-ID bekommen. Sie ist in einem etwas gebrochenen Englisch abgefasst und bittet um ein Treffen, um meine Hilfe.«
»Und?«
»Der Absender hat mit ›Jerry‹ unterschrieben. Es gibt keinen Jerry auf dem Schiff, Holle. Und ich habe auf den Überwachungsmonitoren nachgesehen: Zane war allein in seinem Raum, als er sie abgeschickt hat.«
64
MAI 2048
Das gutturale Blöken der Sirene übertönte beinahe die Durchsage: FEUER, SEBA DECK ZEHN. FEUER, SEBA DECK ZEHN. FEUER…
Holle hatte an einem Ersatzteil für eine ausgefallene Komponente des primären Sauerstoffkreislaufs gearbeitet und sich eine vereinfachte Konstruktion ausgedacht, die die Maschinenwerkstatt der Arche trotz ihrer begrenzten Kapazitäten würde anfertigen können. Sie hörte sich gerade Paul Simons »Darling Lorraine« auf ihrem Angel an – das Gerät war auf Wiederholung eingestellt –, ein Lieblingslied ihres Vaters, weil es ihn seinen eigenen Worten zufolge an seine Beziehung zu ihrer Mutter erinnerte. Und sie träumte von den Jahreszeiten auf der Erde, vom Herbst. Sie brauchte eine Sekunde, um einen klaren Kopf zu bekommen.
Sie schaltete den Angel ab und griff nach ihrer Snoopy-Haube. »Groundwater. Wache, was ist los?«
Masayo Saitos Stimme ertönte über Funk. »Komm runter, Holle, wir haben hier ein Problem.«
Holle roch Rauch. Vielleicht hatte das ihren Traum von welken Blättern ausgelöst. Sie sah, wie Rauch unter ihrer Kabinentür hindurchdrang. Sie zog sich die Snoopy-Haube über den Kopf und stöberte in einem Schrank nach einer Schutzmaske.
Kelly Kenzies Stimme plärrte aus den Bordlautsprechern. »Hier ist Kelly. Wir haben einen schweren Zwischenfall. Seba-Crew, auf eure Brandbek?mpfungsposten, wir haben das oft genug geprobt, ihr kennt den Ablauf. Hawila, macht alles dicht und bereitet euch auf Unterst?tzungsoperationen vor. Falls jemand im Transit nach Seba ist, kehrt nach Hawila zur?ck. Beeilt euch, Leute!?
Holle stürzte aus ihrer Kabine und befand sich sofort mitten im dicksten Chaos.
Das Feuer war ein paar Decks weiter unten. Ein glutroter Lichtschein drang durch den Gitterboden herauf, als stünde sie über einem Hochofen. Heiße Luft und Rauch stiegen durchs ganze Modul nach oben, sammelten sich in den oberen Decks und unter dem Kuppeldach. Menschen rannten hierhin und dorthin. Holle hörte laute Rufe und das Zischen von Feuerlöschern und Sprinklern; kostbare flüchtige Stoffe wurden zur Bekämpfung des Feuers verbraucht. All das wurde überlagert vom Lärm der Sirene und Kelly Kenzies dröhnender Stimme, deren Anweisungen von den Metallwänden widerhallten.
Holle sah Grace Gray auf der anderen Seite des Moduls. Sie kletterte unbeholfen die Leitern zwischen den Decks hinauf; die kleine, nunmehr sechs Jahre alte Helen klammerte sich an ihren Rücken, und in einem Arm hielt sie die dreijährige Steel Antoniadi. Grace floh offenkundig vor dem Feuer unten. Oben sammelte sich jedoch der Rauch, und einige Crewmitglieder stiegen bereits wieder würgend aus der Kuppel herab. Das Modul wurde zu einer sich schließenden Falle. Grace traf eine schnelle Entscheidung; sie verschwand in eine Kabine und knallte die Tür zu. Wenn sie die Tür mit nassen Handtüchern blockierte, waren sie und die beiden Kinder vielleicht in Sicherheit.
Aber Holle war nicht nur für Grace, Helen und Steel verantwortlich.
Ein paar Herzschläge lang stand sie einfach nur vor ihrer Kabinentür und wusste nicht recht, was sie tun sollte. Vier Jahre nach dem Aufbruch vom Jupiter waren dieses winzige, zerbrechliche Modul und sein Zwilling Hawila die einzige Zuflucht, die innerhalb von zwölf langen Lichtjahren zu finden war. Ein außer Kontrolle geratenes Feuer war ihr schlimmster Alptraum. Holle gehörte zu den Führungspersönlichkeiten der Crew und war wie jeder andere an Bord darauf trainiert, mit der Situation fertigzuwerden. Sie spürte, dass sie ein schnelle Entscheidung treffen musste – aber welche?
»Holle!« Paul Shaughnessy kam eine Leiter herunter. Er trug die Außenschicht eines Druckanzugs und hatte noch eine weitere dabei, die wie eine abgezogene Haut über seinem Rücken baumelte. Er hielt sich an das, was sie ihm beigebracht hatte; die Anzüge waren in gewissem Maß feuerfest, und ihre Träger konnten dank der Sauerstoffversorgung weiter aktiv bleiben, selbst wenn die Luft giftig wurde. Paul wirkte angespannt, besorgt und beunruhigt.
Er reichte ihr den überzähligen Anzug. Sie schlüpfte mit den Beinen hinein. »Alles in Ordnung mit dir, Paul? Weißt du, wie das angefangen hat?«
»Es war Jack. Ich war oben in der Nase. Mein Bruder war unten auf Zehn, im Instandhaltungsbereich. Er hat einen Riss in seinem Anzug geflickt. Der Anzug ist einfach explodiert! Ich hab’s auf den Monitorbildern gesehen. Er ist in Flammen aufgegangen, und dann hat sich Feuer ausgebreitet.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das ergibt keinen Sinn.« Die Luftversorgung der Anzüge bestand aus reinem Sauerstoff, so dass immer das Risiko eines Feuers bestand, aber die Sicherheitsvorkehrungen boten eigentlich die Gewähr dafür, dass sich ein solcher Unfall niemals ereignen konnte.
»Ich hab’s ja gesehen. Ich muss runter zu Jack. Masayo ist auch da unten.«
»Dann beeil dich. Ich muss mit Kelly und Venus sprechen.«
Er nickte, ließ sein Visier zuschnappen und stieg weiter in den Hochofen hinab.
Holle schloss ebenfalls ihren Helm. »Venus, bist du da?«
»Groundwater, Jenning. Wir sind in der Kuppel.«
»Okay, bleibt dort. Und bereitet euch darauf vor, die Kuppel abzutrennen und mit ihr nach Hawila hinüberzufliegen.«
»Sind schon dabei, das ist das reguläre Verfahren.«
Holle stellte sich das ruhige Zwielicht der Kuppel vor, die lautlosen, kreisenden Sterne draußen, auf den Monitoren die Bilder der Verwüstung im Innern des Moduls. »Könnt ihr sehen, was hier drin vorgeht?«
»Die meisten Kameras funktionieren noch, obwohl immer mehr ausfallen, und die Funkverbindungen brechen ebenfalls zusammen. Die Decks neun bis elf sind völlig ausgebrannt. Die Gitterböden schmelzen und tropfen in die Hydrokulturbeete auf vierzehn. Gegenmaßnahmen funktionieren nicht allzu gut. Das Feuer hat sich hinter die Ausrüstungs-Racks vorgearbeitet. Das hätte nicht passieren dürfen. Opferzahl unbekannt, wir können einfach nichts sehen.«
Kellys verstärkte Stimme verstummte plötzlich, und das Modul füllte sich mit einer Kakofonie von Schreien und dem Brausen des Feuers.
»Was ist mit der Temperatur im Modul?«
»Sie steigt, Holle. Ich kann diesen Anzeigen nicht vertrauen, aber …«
»Verstanden.« Die größte Gefahr bestand darin, dass sich das Feuer durch die Hülle fraß und den Druckkörper des Moduls beschädigte. Es gab eine letzte Notmaßnahme, um diese finale Katastrophe zu verhindern, einen drastischen Schritt. Holle gelangte allm?hlich zu der ?berzeugung, dass ihnen keine andere Wahl mehr blieb. Sie schaltete erneut ihr Mikrofon ein. ?Bist du auf Empfang, Kelly??
»Wir haben die Verbindung zu ihr verloren, Holle«, meldete Venus.
»Venus, ich denke daran, das Seil zu durchtrennen.«
»Kelly ist nicht erreichbar. Ich unterstütze deine Entscheidung. Tu es!«
Holle begann eine Leiter hinaufzusteigen, weg vom Feuer, hinein in den immer dichter werdenden Rauch. »Könnt ihr alles Weitere von da drin aus erledigen? Warnt Hawila. Gebt die internen Warnungen raus, bereitet alles auf Mikrogravitation vor. Übernehmt die Fluglageregelung …«
»Schon dabei, Holle. Wird schon gutgehen, wir haben das ja geprobt.«
Holle sagte nichts mehr. Sie stieg hastig weiter nach oben. Ihr Anzug fühlte sich schwer und starr an, und ihre Hände wurden rasch müde, als sie gegen die Biegesteifigkeit der Handschuhe ankämpfte, um die Metallsprossen zu packen. Venus hatte Recht. Ja, sie hatten auf der Erde und auch nach dem Start geprobt, hatten fast so drastische Situationen wie diese simuliert. Doch auch ihr jahrelanges Training hatte weder den Ausbruch des Feuers verhindert noch die Entwicklung der Lage bis zu diesem tödlichen Punkt gestoppt.
Sie erreichte die Kuppeldecke des Moduls. Mit einer unbeholfenen Drehung sprang sie auf die Oberseite eines der Stege hinüber, die unterhalb des Kuppel verliefen, und befestigte einen Sicherheitsgurt am Geländer. Schwer atmend hielt sie inne. Der Rauch war hier so dicht, dass man kaum noch etwas sehen konnte. Mit einem Anzughandschuh wischte sie Ruß von ihrem Visier.
Sie fand die Abdeckung über dem Griff, mit dem man das Seil durchtrennen konnte, tippte einen Sicherheitscode ein und klappte sie auf. Der Griff selbst war von Warnungen in Großbuchstaben umringt. Sie legte ihre behandschuhten Finger um den Griff.
»Es wird immer schlimmer, Holle«, rief Venus. »Mach schon!«
Holle drückte den Griff nach unten.
An einer Nahtstelle des Seils zwischen den Modulen, nah am Mittelpunkt, explodierte eine kleine Sprengladung lautlos im Vakuum. Eine winzige Wolke von Trümmerteilchen zerstob rasch. Seit dem Jupiter hatten sich die beiden Module alle dreißig Sekunden einmal um den Warp-Generator in ihrem gemeinsamen Mittelpunkt gedreht. Jetzt war das Seil, das sie verbunden hatte, durchtrennt; die Module drifteten auseinander, und das Seil, befreit von mehreren Hundert Tonnen Spannung, ringelte sich träge. Die Trümmerteilchen erreichten die Wand der Warp-Blase und funkelten kurz auf, als ihre Substanz von wilden Gezeiten zerrissen wurde.
Es war, als stürzte das ganze Modul wie ein fallender Fahrstuhl in die Tiefe. Holle hob vom Steg ab und krallte sich mit einem Anflug von Panik am Geländer fest, obwohl sie sicher verankert war.
Sie schaute durch den Steg in das Inferno hinab. Auf den Decks hatten sich in der plötzlichen Schwerelosigkeit Wolken von Krimskrams in die Luft erhoben, Möbel, Handhelds, Kleidungsstücke, Essensreste, Werkzeug, ja sogar lose Bolzen und Schrauben, alles nicht fest Verankerte war plötzlich mobil. Das eigentliche Problem war jedoch das Feuer. Ihr schien, dass sich die Art, wie der Rauch wogte, abrupt verändert hatte, und vielleicht leckten die Flammen ein bisschen weniger eifrig an den Decks und den Ausr?stungs-Racks.
Das war der Grundgedanke. Durch das Kappen des Seils hatte Holle die künstliche Schwerkraft im Modul beseitigt. Ohne Schwerkraft gab es keine Konvektion; heiße Luft konnte nicht aufsteigen, und die Prozesse, die das Feuer aufrechterhalten hatten, der Luftzug von unten, der frischen Sauerstoff heranführte und die Flammen nährte, waren beendet worden. Trotzdem musste das Feuer noch gelöscht werden, und es gab andere Gefahren, die von Bränden in der Schwerelosigkeit ausgingen; sie konnten tage- oder sogar wochenlang unsichtbar schwelen. Doch wenn das Feuer an seinen eigenen Produkten erstickte, stiegen zumindest die Chancen, dass das Modul als Ganzes überleben würde.
Der Klang des Alarms änderte sich, und jetzt ertönte Venus’ Stimme, übertragen aus der Kuppel. »Bereitmachen für Zündung der Korrekturtriebwerke. Alle Mann bereitmachen für Zündung der Korrekturtriebwerke …«
Das war der nächste Schritt. Momentan wurden die beiden nicht mehr vom Seil gehaltenen Module aus dem Zentrum weggeschleudert. Sie konnten es sich jedoch nicht erlauben, zu weit zu fallen; eine Begegnung mit der Wand der Warp-Blase würde sie vernichten. Darum würden Hilfstriebwerke gezündet werden, um die Module irgendwo in der Nähe des Blasenzentrums festzuhalten und die Rotation zu stoppen. Später konnte man die Module dann wieder zusammenführen, mit einem Seil verbinden und das gesamte Gebilde erneut in Rotation versetzen.
Aber nur, wenn die Korrekturtriebwerke überhaupt zündeten, dachte Holle. Wenn sie oder ihre Kontrollsysteme nicht vom Feuer zerstört worden waren. Wenn noch genug Treibstoff übrig war, um die Module wieder zusammenzuführen und umeinanderkreisen zu lassen. Wenn, wenn, wenn. Holle hatte immer ein Bild der langen Kette von Ereignissen im Kopf gehabt, die alle genau nach Plan ablaufen mussten, wenn es ihr jemals verg?nnt sein sollte, einen Fu? auf den Boden der Erde II zu setzen. Jetzt sp?rte sie, wie diese Kette sich spannte, wie ihre schw?chsten Glieder knirschten.
Ein kleines Bündel schwebte unter ihr; es zappelte merkwürdig. Holle sah, dass es ein Baby war. Nur ein paar Monate alt, in eine Windel gewickelt, trieb es im offenen Raum und ruderte mit seinen bloßen Armen und Beinen. Augen und Mund waren weit geöffnet. Das Baby genoss es offenbar, in der Luft zu schweben. Doch nun erdröhnte die Hülle, als würden riesige Fäuste an die Außenwand hämmern. Das waren die Korrekturtriebwerke, die in harten Schüben feuerten. Holle, die sich an ihrem Geländer festhielt, spürte die ruckartigen Stöße, die jeder Impuls dem Modul versetzte. Das Baby prallte von einem Bodenelement ab und stieg wieder in die Luft, mit fuchtelnden Gliedmaßen. Es hatte jetzt Angst und weinte. Holle löste sich vom Steg, sank wie ein Engel in die Tiefe und barg das Baby in versengten Raumanzugärmeln.
65
JUNI 2048
An dem Morgen, an dem das Urteil über Thomas Windrup verkündet werden sollte, wachte Holle in einem Raum mit seltsamen Metallfarben und fremdartigen Gerüchen auf, den sie nicht kannte. Dies war nicht ihre Kabine, nicht Seba, nicht das Modul, das sie mittlerweile als ihre Heimat betrachtete. In den Wochen seit dem Brand war sie in Hawila stationiert gewesen, wo sie sich mit Paul Shaughnessy schichtweise eine winzige Kabine teilte, einen ehemaligen, provisorisch umfunktionierten Wartungsraum. Sie hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt.
Sie brauchte nicht lange, um sich anzuziehen.
Paul war mit ihren Druckanzügen draußen vor der Kabine. Er wartete, während sie den Sanitärblock benutzte. Dann machten sie sich auf den Weg zur Luftschleuse in der Nase des Moduls, wo sie rasch in ihre Anzüge schlüpften. Holle versuchte nicht, Paul in ein Gespräch zu verwickeln. Heute ging er nach Seba hinüber, um bei der Verurteilung des Mannes dabei zu sein, der versucht hatte, seinen Bruder zu töten, indem er dessen Anzug sabotierte. Paul hatte seinen Zorn seit dem Vorfall nur mühsam im Zaum halten können, und es war am besten, ihn in Ruhe zu lassen.
Sie passierten die Schleuse, schwebten in die Dunkelheit hinaus und klinkten ihre Gurte in das Seil, das die Module jetzt verband. Es war kein straff gespanntes Rotationsseil, sondern nur eine Orientierungsleine zwischen den Modulen, an der sie sich die zweihundert Meter bis Seba Hand ?ber Hand entlanghangelten. Er war ganz sch?n anstrengend, sich auf diese Weise fortzubewegen, aber es sparte Treibstoff.
Die Module trieben im Raum, stationär in Bezug aufeinander, aber nicht Seite an Seite, nicht einmal parallel; Hawila war im Vergleich zu Seba gekippt, so dass die beiden Module wie Schiffswracks auf dem Grund des immer tiefer werdenden Ozeans der Erde beieinanderlagen. Weitere Seile verbanden Hawila mit dem Warp-Generator, so dass die von Außenscheinwerfern beschienenen Komponenten der Arche in einer Art Spinnennetz hingen. Und jenseits der Module lagen die stillen, stetig leuchtenden Sterne.
An Bord von Seba begaben sich Holle und Paul sofort zu Deck zehn hinunter, indem sie sich von der Nase des Moduls aus an Haltegriffen entlang abwärtsbewegten. Kelly hatte angeordnet, dass die Urteilsverkündung genau dort stattfinden sollte, wo Thomas Windrups Sabotageakt den katastrophalen Brand ausgelöst hatte. Ohne Rotation gab es in dem Modul praktisch keine Schwerkraft, und überall schwebten Menschen, die sich von einem Haltegriff zum anderen abstießen. Die Kinder, alle zu jung, um sich an den schwerelosen Flug von der Erde zum Jupiter zu erinnern, fanden es toll, und durch die Luft fliegende oder purzelnde Kinder, die Fangen spielten, waren zu einer kleinen Gefahr geworden. Im Modul roch es jedoch immer noch nach Rauch und verbranntem Kunststoff.
Auf Deck zehn wartete Kelly vor einer kleinen Kabine, deren Tür geschlossen war. Trotz wochenlanger Aufräumarbeiten gab es hier keine Möbel, nicht einmal irgendwelche intakten Decksböden, an denen Möbel befestigt werden konnten. Allerdings hatte man Seile über das Deck gespannt, von einer geschwärzten Wand zur anderen, und die sich versammelnden Menschen hielten sich an ihnen fest oder suchten sich Ecken mit daf?r geeigneten Vorrichtungen an den W?nden.
Holle schien das letzte noch fehlende Mitglied der Führungs-Crew zu sein. Sie sah Wilson, Venus, Mike Wetherbee, Masayo Saito – sogar Zane, und sie fragte sich, welche seiner alternierenden Persönlichkeiten zu dieser Zusammenkunft erschienen war. Doc Wetherbee vermied es geflissentlich, irgendjemand in die Augen zu schauen. Wilson, immer noch Kellys Liebhaber, hatte unübersehbar noch bis vor kurzem hart gearbeitet; er trug eine Weste und Shorts, und seine muskulösen Arme und Beine waren mit Asche beschmiert.
Jack Shaughnessy war nicht da. Nach den massiven Verbrennungen an den Armen und auf der Brust, die er erlitten hatte, war er vermutlich noch so schwach, dass Doc Wetherbee ihn nicht entlassen hatte. Und Thomas Windrup war auch nicht da, um das Urteil zu hören, das über ihn gefällt werden sollte. Venus schaute misstrauisch drein. Thomas Windrup war einer ihrer Navigations- und Astronomie-Kollegen, gehörte also zu »ihren« Leuten.
Kelly, auf subtile Weise von der Menge isoliert, ging Notizen in ihrem Handheld durch. Sie trug einen schmutzstarrenden Overall. Sie hatte sich die blonden Haare abrasiert, und die Linien um Mund und Augen waren von Rauch und Ruß eingefärbt, so dass sie weitaus älter aussah als ihre dreißig Jahre. Die fast sieben Jahre als Anführerin hatten sie härter gemacht, dachte Holle, entschlossener und klarer im Kopf. Sie hatte ihre Aufgabe durchaus kompetent erledigt. Doch all ihre harte Arbeit und selbst ihre unablässige Suche nach Einmütigkeit, die stundenlangen Gespräche, hatten nicht bewirkt, dass die Menschen sie mochten. Holle dachte manchmal, dass die Belastung sie zu sehr mitnahm.
Kelly ließ den Blick über ihre schweigende Mannschaft schweifen. »Okay«, begann sie. »Ich schätze, jeder, der hier sein möchte, ist hier. Ich habe alle regulären Dienstpflichten bis auf die Wachen aufgehoben. Ihr könnt die Sitzung über das Überwachungssystem live verfolgen oder euch die Aufzeichnungen ansehen, die wir anfertigen werden, und schließlich werden wir auch Transkripte zur Erde schicken.
Heute möchte ich einen Schlussstrich unter den Brand ziehen. Die Reparatur von Seba wird uns Jahre kosten – wir werden wahrscheinlich noch in drei Jahren daran arbeiten, wenn wir zur Erde II kommen. Aber wir haben schon eine Menge geschafft. Wir haben unsere Toten begraben.«
Vier Mitglieder der Crew – ein Kandidat, ein Eindringling, ein Illegaler und ein auf dem Schiff geborenes Baby – waren vom Rauch erstickt worden. Vier nackte Leichen waren in den Raum hinausgeschwebt, um von den wilden Gezeitenkräften der Warp-Blasenwand in Fetzen gerissen zu werden – nackt, weil sie keine Ressourcen für Särge, Fahnen oder auch nur Kleider erübrigen konnten.
»Wir haben ausführlich über die Mängel in unseren Standardverfahren gesprochen, die dazu geführt haben, dass der Ausbruch des Feuers derart ernste Folgen hatte«, fuhr Kelly fort. »Das gilt insbesondere für die Mängel in unseren Wartungsroutinen. Der schlimmste Faktor, der dabei eine Rolle gespielt hat, war eine Ansammlung von Staub und anderem brennbaren Zeug hinter den Ausrüstungs-Racks in ihren Gestellen an den Modulwänden. Eigentlich sollten alle Racks einmal pro Woche – in manchen Bereichen auch öfter – herausgezogen und ihre Anschlüsse gereinigt werden. Aber einige haben ausgesehen, als wären sie seit dem Jupiter nicht mehr bewegt worden.«
Kellys gründliche Untersuchung hatte ergeben, dass Holle und ihr Wartungsteam für die internen Systeme keinerlei Schuld traf. Der Fehler hatte in der von Jahr zu Jahr schlimmer werdenden Nachlässigkeit der regulären Crew bei der Ausführung ihrer routinemäßigen täglichen Reinigung der kleinen Räume gelegen, die sie alle bewohnen mussten. Doc Wetherbee hatte sich schon seit längerem darüber beklagt, und nach einer Welle von Lebensmittelvergiftungen, verursacht von mangelnder Hygiene in Hawilas Kombüse, hatten ein paar Leute einen Tritt in den Hintern bekommen. Aber die Ausbreitung des Feuers war eine viel ernstere Folge gewesen.
»Wir werden das ab sofort korrigieren. Aber jeder von uns, der seine routinemäßigen Reinigungsprozeduren abgekürzt hat, wird mit einem Teil der Verantwortung dafür leben müssen, was Peri, Anne, Nicholas und der kleinen Sasha zugestoßen ist.
Allerdings hat nur einer von uns den Brand, der solchen Schaden angerichtet hat, tatsächlich gelegt. Nur einer von uns trägt die volle Last der Schuld. Thomas Windrup hat gestanden, sobald wir das Feuer unter Kontrolle hatten, und wie ihr wisst, haben wir uns die Aufzeichnungen der Überwachungskameras angesehen, um seine Schuld eigenständig festzustellen. Es besteht kein Zweifel, dass er der Brandstifter war, wie er ausgesagt hat. Er wollte Jack Shaughnessy umbringen. Beinahe hätte er uns alle umgebracht.«
Holle nahm an, dass man es als Affekthandlung bezeichnen konnte. In der Crew, die in der Arche festsaß, während die Jahre langsam verstrichen, gingen Obsession, Lust und Misstrauen allmählich in Zersetzung über. Thomas hatte nie aufgehört zu glauben, dass Jack Shaughnessy immer noch scharf auf Elle war, dass er auf Zeit spielte und abwartete, bis sie alle auf der Erde II ankamen, wo er unter Berufung auf das neue Schiffsgesetz zum Thema ?mehrere V?ter? Anspruch auf sie erheben w?rde. Auf der Arche konnte man seinen Feinden nicht entkommen, nicht einmal seinen Freunden. Zahllose zuf?llige Begegnungen mit Jack hatten Thomas am Ende verr?ckt gemacht ? zumindest so verr?ckt, dass er versucht hatte, Jack zu t?ten.
Aber Thomas behauptete mit Nachdruck, er habe nicht vorgehabt, jemand anderem etwas zuleide zu tun. Er wusste, dass Jack den Druckanzug überholen sollte, den er meistens benutzte. Thomas hatte den Anzug so manipuliert, dass ein Funke erst einen Sauerstoffstrahl und dann die Materialien des Anzugs entzünden würde, wenn jemand ein Prüfventil an der Sauerstoffzufuhr betätigte; er hatte das Innenfutter des Anzugs mit einer brennbaren Lösung getränkt. Die Vorbereitungen hatte Thomas großenteils im Dunkeln ausgeführt, um dem allgegenwärtigen Blick der Überwachungskameras zu entkommen. Seinem Plan zufolge sollte das Feuer jeden Hinweis auf sein Motiv, seine Schuld vernichten. Aber irgendwie war sein Plan fehlgeschlagen. Der Anzug war geradezu explodiert, und Jack war nicht getötet, sondern weggeschleudert worden, mit schlimmen Verbrennungen, aber lebendig, und das so entstandene Feuer hatte sich rasch über den Anzug hinaus ausgebreitet.
»Doch nun müssen wir uns mit der Frage befassen, welche Strafe wir dafür verhängen sollen. Dies ist das schwerste Verbrechen, das es an Bord dieser Arche gegeben hat, seit wir die Erde verlassen haben – und ich hätte nicht erwartet, jemals mit etwas derart Schwerwiegendem konfrontiert zu sein. Ich habe lange und gründlich nachgedacht. Ich bin zu einer Entscheidung gelangt. « Sie sah sie der Reihe nach an, mit unbewegtem Gesicht. »Und ich habe diese Entscheidung mit Hilfe von Masayo und Doc Wetherbee in die Tat umgesetzt. Ihr wisst, ich habe immer versucht, auf der Grundlage von Konsens und, wenn möglich, Einm?tigkeit zu handeln. Aber ich fand, dass die Entscheidung in diesem Fall zu hart, die Konsequenzen zu gravierend waren, um offen diskutiert zu werden. Diese Entscheidung habe ich ganz allein getroffen. Ich trage die Verantwortung daf?r.
Bitte hört euch meine Begründung an. Thomas hat einen Mordversuch verübt. Auf der Erde wäre er, als die Regierung in Denver noch funktionierte, ins Gefängnis gekommen oder einem Sträflingstrupp im Arbeitseinsatz zugeteilt worden, mit dem er unaufhörlich Deiche oder Auffanglager für Eye-Dees gebaut hätte. Und wenn es ihm gelungen wäre, Jack Shaughnessy zu töten, wäre er dafür vielleicht sogar hingerichtet worden. Was also sollten wir hier mit ihm machen? Wir haben solche Fragen auf der Akademie diskutiert – die Kandidaten unter euch werden sich daran erinnern –, aber auch während der Reise zum Jupiter, als wir noch unter der Schirmherrschaft von Gunnison standen. Zudem haben wir einen Präzedenzfall, nämlich Gordo Alonzos Urteil aus dem Jahr ’43, als Jack Shaughnessy seinerseits Thomas angegriffen hatte. Jack wurde wieder an die Arbeit geschickt.« Sie warf Venus einen Blick zu. »Wie Venus mir unablässig ins Gedächtnis gerufen hat, ist Thomas ihr bester Astronom. Wir brauchen ihn wieder in der Kuppel, damit er hilft, weitere Informationen über die Erde II zu sammeln. Wir können ihn nicht einmal sozial isolieren, weil wir seine Gene benötigen. Aber sein Verbrechen ist schwer, es hätte uns alle beinahe das Leben gekostet, und ich glaube nicht, dass wir einfach so zur Tagesordnung übergehen können. Also, was sollten wir tun?
Ich habe einige Recherchen im Archiv angestellt. Wir sind nicht die einzige Gesellschaft, die jemals vor einer solchen Herausforderung gestanden hat – trotz Ressourcenknappheit vor die Aufgabe gestellt zu sein, mit einzelnen Übeltätern fertigzuwerden. Das mittelalterliche England beispielsweise, aber auch Westeuropa. Sie haben sich Strafen ausgedacht, mit denen der Verbrecher bis ans Ende seiner Tage leben musste, die einerseits eine sichtbare Abschreckung f?r andere waren, ihn andererseits aber nicht an der Arbeit hinderten. Und darum ?? Sie warf Masayo einen Blick zu. ?Du kannst ihn jetzt rausholen.?
Masayo sah aus, als wäre ihm äußerst unbehaglich zumute, fand Holle. Er zog sich zu der Tür der Kabine hinter Kelly hinüber, aber bevor er sie öffnete, blickte er mit verschränkten Armen und gereckter Brust in die Runde. »Ich will nicht, dass es deswegen Ärger gibt. Wir alle müssen bei dieser Sache die Ruhe bewahren, ganz gleich, was ihr empfindet. Okay?«
Venus schaute wütend drein. Wilsons Augen waren kalt und wachsam. Zane wirkte belustigt.
Masayo öffnete die Kabinentür. Im Innern war es dunkel. »Komm raus!« Er hielt sich am Türrahmen fest, um das Gleichgewicht zu wahren, und streckte einen Arm in die Kabine.
Thomas Windrup kam ins Licht. Er klammerte sich an Masayos Arm und vermied es, irgendjemandem in die Augen zu schauen. Sein Gesicht war noch verschwollen von den Prügeln, die er bezogen hatte, als Paul und ein paar seiner Illegalen-Kumpels ihn zu fassen bekommen hatten. Aber Holle fand, dass er blasser, kranker aussah; ihm war etwas Schlimmeres als eine Tracht Prügel widerfahren.
»Zeig es ihnen«, befahl Kelly.
Voller Scham hob Thomas ein Bein. Der Stiefel baumelte herab, schwebte frei in der Luft, und das Hosenbein verdrehte sich; es war leer.
Man hörte Laute des Erschreckens und leise Flüche. Zane Glemp lachte laut auf.
»Scheiße«, rief Venus. »Ihr habt ihm den Fuß abgenommen!«
»Im freien Fall wird das keinen Unterschied machen«, sagte Kelly. »Unter Schwerkraft wird er natürlich behindert sein, sowohl auf der Arche als auch auf der Erde II. Aber der Doc arbeitet schon an einer Krücke für ihn, sogar an einem künstlichen Fuß. Was die Arbeit betrifft, die er für dich erledigt, Venus, spielt das ja offensichtlich keine Rolle …«
Venus wandte sich an Wetherbee. »Hast du das gemacht? Du bist Arzt. Hast du ihn verstümmelt?«
Holle hatte Mike Wetherbee noch nie so unglücklich gesehen wie in diesem Augenblick. »War ja klar, dass du das sagen würdest. Jeder weiß, dass Thomas zu deinen Leuten gehört. Jedenfalls war’s ein direkter Befehl. Wär’s dir lieber gewesen, jemand anders hätte es getan? Hätte ich Paul Shaughnessy mit einer Kettensäge auf ihn loslassen sollen?«
»Gib ihm nicht die Schuld.« Kelly sank nach unten, bis sie sich zwischen Venus und Wetherbee befand. »Die Entscheidung, die Verantwortung lag allein bei mir.«
Venus holte tief Luft. »Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sagen würde, Kelly. Du weißt, ich bewundere dich – was du für uns getan hast. Du hast uns einige harte Jahre lang zusammengehalten, besonders seit wir den Kontakt zur Erde verloren haben. Aber ich kann deine Haltung zu dieser grotesken Verstümmelung nicht akzeptieren. Du hast ein gesundes Mitglied der Crew zum Krüppel gemacht. Du hast den Doc ebenso kompromittiert wie Masayo, der durch dich zu einem brutalen Schläger geworden ist. Du hast deine Position als Sprecherin auf Konsensbasis inne, Kelly. Nun, ich kündige diesen Konsens hiermit auf.«
Tödliche Stille trat ein.
Holle war sich sehr wohl bewusst, dass es hinter den Kulissen stets hitzige Auseinandersetzungen gegeben hatte, wenn Kelly versuchte, zu Entscheidungen zu gelangen. Aber dies war das erste Mal, dass ein auch nur ann?hernd so hochrangiges Crewmitglied wie Venus ihr ?ffentlich den Kampf ansagte.
»Willst du den Job haben, Venus?«, blaffte Kelly zurück.
»Das habe ich nicht gesagt. Ich sage nur, dass du zurücktreten musst. Wenn du weg bist, werden wir uns überlegen, wie es weitergehen soll.«
»Du bist doch bloß sauer, weil ich mich in deinen Machtbereich eingemischt habe. Nun, auf die Kampfansage einer einzelnen Person brauche ich nicht zu reagieren …«
»Venus hat Recht«, sagte Wilson. Er hatte auf einem Mikrogravitations-T-Hocker gesessen, die Beine um dessen Streben geschlungen. Nun richtete er sich auf, so dass er Kelly ins Gesicht sah.
Kelly machte große Augen. »Wilson? Was tust du?«
»Du hast hervorragende Arbeit geleistet, Kelly. Aber die Dinge laufen schon seit einer ganzen Weile aus dem Ruder. Wir haben die Putzpläne nicht eingehalten – sonst wären wir gar nicht erst in diesen Schlamassel geraten.« Er deutete auf Thomas. »Und das war auf jeden Fall ein Fehler. Das ist nicht der richtige Weg für uns. Jemand anders sollte dir diese Bürde abnehmen.«
»Und wer? Du?« Aber er gab nicht nach. In Kellys Gesicht arbeitete es. Ihre Augen waren hart, aber rot gerändert, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. »Du Scheißkerl, Wilson. Du lässt mich im Stich. Habt ihr beiden das inszeniert? Habt ihr’s gemeinsam hinter meinem Rücken ausgekocht?«
Wilson spreizte die Hände. »Wir sind bloß zwei Mitglieder der Crew, die ihre Meinung zum Ausdruck bringen.«
»Schön. Wenn ihr es so wollt. Ich trete zurück.« Sie verschränkte die Arme und stieß sich nach hinten ab, so dass sie zwischen Masayo und Thomas hindurchschwebte.
Ein langes Schweigen trat ein. Niemand rührte sich.
Holle erkannte, dass Kelly nicht nur ihren Posten als Sprecherin aufgegeben, sondern auch die Leitung dieser Versammlung niedergelegt hatte. Holle selbst zog es instinktiv vor, im Hintergrund zu arbeiten; sie exponierte sich nicht gern, schon gar nicht in einer solch aufgeladenen Atmosphäre. Aber die Pflicht, die Pflicht war ein ewiger Ansporn für sie. Wenn niemand sonst den Dreck wegschaufelte, würde sie es tun. Manchmal sogar buchstäblich.
Sie zog sich in den Raum, den Kelly verlassen hatte. »Wir müssen weitermachen. Irgendwelche Einwände dagegen, dass ich die Versammlung von jetzt an leite?«
Zustimmendes Gemurmel. Den Ausschlag gab, dass Kelly, Venus und Wilson nickten. Aber Wilson grinste spöttisch. »Typisch für dich, Groundwater. Warum bist du nicht hier oben und bringst selbst deine Ablehnung zum Ausdruck? Kleine graue Maus.«
Holle beachtete ihn nicht. »Bringen wir die Sache so schnell wie möglich hinter uns. Wir brauchen einen neuen Sprecher. Gibt es Kandidaten? Hebt die Hand, wenn ihr euren Hut in den Ring werfen wollt.«
Kellys Arm fuhr in die Höhe.
Venus hob würdevoll die Hand.
Und dann, langsam, beinahe widerstrebend, als würde sein Arm nach oben gezogen, hob Wilson die rechte Hand. Kelly schleuderte ihm einen Blick puren Abscheus zu.
Holle machte vorsichtig weiter. »Okay. Kelly Kenzie, Venus Jenning und Wilson Argent erklären ihr Interesse. Aber es sind nicht alle Mitglieder der Crew anwesend.« Sie schaute zur nächsten Kamera hinauf. »Grace, bist du in der Kuppel?«
Grace Gray hatte an diesem Tag Wachdienst. Ihre Stimme dröhnte aus den Bordlautsprechern. »Ich bin hier, Holle. Wir sehen dich. Helen sagt Hallo.«
Holle grinste. »Ich wünschte, ich wäre bei euch«, bekannte sie trübselig. »Bitte gib an alle in Seba und drüben in Hawila durch: Wer seine Kandidatur für diesen Posten erklären möchte, soll sich jetzt melden.« Sie blickte in die nächste Kamera hinauf. »Lasst uns das ordentlich machen, Leute, damit es hinterher keine Kritik gibt. Wenn euer Nachbar schläft, dann weckt ihn, damit er seine Chance nicht verpasst. Ihr habt fünfzehn Minuten für eure Antwort. Alle einverstanden?« Sie schaute sich erneut um. Es gab keine Einwände.
Es waren die längsten fünfzehn Minuten in Holles Leben, zumindest seit sie auf der Startrampe in Gunnison darauf gewartet hatte, dass unter ihrem Hintern eine Atombombe explodierte. Auf Deck zehn blieb jeder, wo er war, stumm wie ein Stein.
Nach den fünfzehn Minuten gab es zu Holles Erleichterung keine weiteren Kandidaten.
»Okay«, sagte sie. »Dann schlage ich vor, wir gehen zur Wahl über. Wie wollt ihr’s machen – per Handzeichen? Grace, wenn du verfolgen kannst, was in Hawila passiert …«
»Nein«, sagte Wilson. Er sprach in entschiedenem Ton und mit klarer Stimme. »Diese Entscheidung ist so wichtig, dass wir dabei keinen Mist bauen sollten. Es ist nicht so wie bei unserem Aufbruch vom Jupiter, als wir keine ernsthaften politischen Meinungsverschiedenheiten und keine persönlichen Differenzen hatten. Jetzt muss es eine Diskussion geben.«
»Was schlägst du vor?«
»Dass wir uns Zeit lassen. Sagen wir, eine Woche. Wozu die Eile? Bis dahin kann Holle als kommissarische Sprecherin amtieren. In dieser Zeit werden wir Gelegenheit haben, darüber zu reden, wohin wir als Crew und als Gemeinschaft wollen. Und dann können wir eine richtige Wahl abhalten.«
Weder Venus noch Kelly schienen damit sonderlich glücklich zu sein, aber keine der beiden erhob Einwände.
»Okay. Und was geschieht am Ende dieser Woche? Versammeln wir uns zu einem Votum durch Akklamation?«
»Nein, zum Teufel. Wir führen eine geheime Abstimmung durch. Wir finden schon eine Möglichkeit, das hinzukriegen. Ich schlage vor, wir setzen zwei Runden an – zunächst scheidet der dritte Platz aus, dann kommt eine Stichwahl zwischen den ersten beiden …«
Kelly schnaubte. »Eine geheime Abstimmung? Würdest du wirklich eine solche Ressourcenverschwendung in Kauf nehmen? «
Wilson sah sie lange an, dann richtete er den Blick vielsagend auf Masayo. »Es darf keine Einschüchterungsversuche geben. Eine geheime Wahl ist eine geeignete Methode, um das zu gewährleisten. «
Er setzte sich durch. Und als sich die Versammlung erregt schwatzend auflöste, hielt Holle die drei – Kelly, Venus und Wilson – zurück, um einen grundlegenden Ablaufplan für die kommende Woche auszuarbeiten. Grace schaute von fern als Zeugin zu. Kelly und Wilson hielten Abstand voneinander und wollten sich nicht einmal ansehen.
Als es schließlich vorbei war, entfloh Holle ungeheuer erleichtert in die Ruhe und Stille ihrer Kabine, wo sie daran ging, Kellys Arbeitspensum zu übernehmen und sich zu überlegen, wie sie es mit ihren eigenen Aufgaben vereinbaren konnte.
Aber dann klopfte Wilson Argent an die Tür. »Ich muss mit dir reden. Ich brauche deine Stimme – uns allen zuliebe.«
66
»Mach’s dir auf der Couch bequem«, sagte Wetherbee.
Von einem locker sitzenden Gurt gehalten, lag Zane auf einer Klappliege in Wetherbees OP in Hawila; der OP in Seba war noch immer außer Betrieb. Er sagte: »Im freien Fall kann man es sich kaum nicht bequem machen, Doc.«
Wetherbee unterdrückte seinen Ärger. Dies war das »Alter Ego«, die Teilpersönlichkeit, die er versuchsweise als Zane 3 bezeichnet hatte, jenes passive, schattenhafte, depressive Relikt, das übrig geblieben war, als die anderen Alter Egos ihre diversen Frachten von Schuld- und Verantwortungsgefühlen mitgenommen hatten. Doch selbst Zane 3 war ein Klugscheißer. Wetherbee behielt einen moderaten Ton bei. »Du weißt, was wir vorhaben – das Hypnoseverfahren?«
»Kein Problem. Hat bei uns ja auch früher schon geklappt. Du weißt vielleicht, dass ich auf der Akademie als leicht hypnotisierbar galt.«
»Das stimmt.« Und tatsächlich war die Bereitschaft, sich Hypnosebefehlen zu fügen, charakteristisch für Leute mit Zanes spezieller Störung, wie Wetherbee gelernt hatte. »Also, fangen wir an. Atme tief und langsam. Achte darauf, wie die Spannung aus deinen Armen, deinen Händen, deinen Füßen weicht. Die Schultern entspannen sich, der Nacken ebenfalls. Lass den Kopf einfach schweben. Du fällst ganz sanft, fällst in dich selbst hinein. Tiefer, immer tiefer, du entspannst dich immer mehr. Du bist in der Akademie, in deiner Kabine im alten Museumsgeb?ude in Denver ?? Lange vor dem sch?dlichen Serienmissbrauch durch Harry Smith, als sein Vater noch in der N?he und die Flut noch eine ferne Bedrohung gewesen war, hatte Zane sich im Museum so sicher gef?hlt wie nur jemals in seinem Leben. Jetzt versetzte Wetherbee ihn dorthin zur?ck, an diesen Ort und in diese Zeit, um mit seiner Analyse zu beginnen.
»Was siehst du?«
»Meinen Handheld, meine Bücher, meine Sportsachen. Meine AxysCorp-Overalls. Wir gehen morgen auf eine Wanderung.«
»Okay. Jetzt schau dich um, Zane. Siehst du diese spezielle Tür, von der wir gesprochen haben? Die zusätzliche Tür, die in den anderen Raum führt.«
»Ich sehe sie. Sie ist offen.«
»Gut. Gut.« Die »Tür« war zuvor immer geschlossen und manchmal sogar abgesperrt gewesen. »Kannst du durch die Türöffnung schauen? Was siehst du?«
»Leute.«
»Wie viele? Wer sind sie?«
»Da sind ein Junge, ein junger Mann und ein älterer Mann.«
»In Ordnung. Glaubst du, einer von ihnen würde gern mit mir sprechen?«
»Der ältere Mann, glaube ich. Er lächelt und nickt.«
»Kannst du ihn beschreiben?«
»Er hat ungefähr meine Größe. Ist ein bisschen beleibt. Hat silberweiße Haare und eine Brille.«
Wetherbee war ziemlich sicher, dass dies das Alter Ego namens Jerry war. Die Beschreibung passte ziemlich genau auf Zanes Vater, wie auch der Name – »Jerry« für »Jerzy«. Zane war ein Klugscheißer, aber nicht immer sehr erfindungsreich, was die Details seiner Alters betraf.
»Würdest du den Mann mit mir reden lassen? Du musst bloß ein kleines Stück zurücktreten.«
»Das haben wir schon mal gemacht.«
»Ja. Du bleibst in deiner Kabine, an deinem sicheren Ort. Und du weißt, wenn du dich irgendwann unwohl fühlst, kannst du einfach zurückkommen, dann geht der Mann wieder hinaus und die Tür wird abgeschlossen, einfach so.«
»Okay.«
Zane 3 klang eher teilnahmslos als überzeugt. Er war so formbar, ihm fehlte jede innere Motivation, es war außerordentlich schwer, ihn nicht zu lenken. »Danke, Zane. Wir unterhalten uns später.«
Wetherbee wusste, dass er ein paar Minuten Zeit hatte, bis das Alter Ego mit ihm kommunizieren würde. Er flüsterte in die Kamera über ihm hinauf: »Wetherbee, ärztlicher Tagesbericht, 30. Juni 2048. Zane Glemp ist bei mir. Ich glaube, ich habe mit dem Alter Ego kommuniziert, das ich Zane 3 nenne, dem Alter Ego, das sich als Erstes gezeigt hat. Ich rechne damit, dass ich gleich mit dem Alter Ego namens Jerry sprechen werde, dem älteren Mann. Fürs Protokoll: Vor drei Tagen habe ich zuletzt das passende strukturierte klinische Interview wiederholt, wie im Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen der American Psychiatric Association, Ausgabe 2015, empfohlen; ich halte nach wie vor meine Diagnose aufrecht, dass es sich hier um eine dissoziativen Identitätsstörung handelt …«
»Hi, Doc Wetherbee.« Zane lächelte, und seine Augen waren offen; er schaute sich neugierig um. Seine gesamte Körperhaltung hatte sich verändert. Er wirkte hellwach, wissbegierig und selbstsicher, nicht passiv, und er hatte eine leichten mitteleuropäischen Akzent.
»Hallo. Mit wem spreche ich?«
»Ich bin Jerry, aber ich glaube, das hast du schon erraten. Wie geht es dir?«
»Sehr gut.«
»Und wie läuft die Pseudo-Mission? Noch zufrieden mit eurem Hotel in Las Vegas?«
Jerry machte sich offen über Zane 3’s Vermutungen lustig, dass die ganze Mission irreal sei, ein auf der Erde inszenierter Schwindel. »Nicht genug Eis im Champagnerkübel, den der Zimmerservice gebracht hat.«
Jerry lachte. Er mochte es, wenn man mitspielte und ihn als Gleichrangigen behandelte.
»Du hattest eine ganze Menge zu tun, Jerry.« Wetherbee hielt seinen Handheld hoch. »Anscheinend leitest du Wilsons Argents Wahlkampagne.«
»Ja, sieht so aus. Deshalb existiere ich, weißt du, um zu arbeiten. Zane hat mich abgespalten, weil er Organisationsfähigkeiten braucht, und die trage ich bei. Ich komme heraus, um das Ruder zu übernehmen, wenn ihm alles über den Kopf wächst. Aber Zane führt ein ziemlich anspruchsloses Leben. Ich habe genug Zeit, um noch andere Dinge zu tun.« Er zwinkerte Wetherbee zu. »Wilson weiß, dass ich bloß ein Alter Ego bin. Oh, er würde es nicht so ausdrücken … Wenn er Zane eine Frage stellt, die etwas mit mir zu tun hat, und Zane sich an das vorherige Gespräch nicht erinnern kann, lächelt Wilson nur, hält sich zurück und wartet, bis ich herauskommen kann, um mit ihm zu reden. Den medizinischen Kram kennt er nicht, aber er hat ein intuitives Verständnis für Menschen, glaube ich. Sogar für uns!« Er lachte.
»Vielleicht wird ihn das zu einem guten Sprecher machen. «
»Ich glaube schon«, sagte »Jerry«. »Hast du dich schon entschieden, wem du deine Stimme geben wirst, Doc?«
»Ich überlege noch. Mir imponiert, dass ihr ein Manifest herausgegeben habt.« Er ließ es über den Bildschirm des Handheld laufen. »Damit habt ihr die anderen Kandidaten überrumpelt. «
»Nichts spricht gegen Professionalität. Wir haben eine Menge Gehirnschmalz in die darin enthaltenen Vorschläge gesteckt, besonders in den Grundrechtekatalog.«
»Das sehe ich.« Das noch im Entwurfsstadium vorliegende Dokument würde der Crew grundlegende Menschenrechte garantieren, wie Wilson sich ausdrückte. Dazu gehörte das Recht auf die Lebensgrundlagen, auf kostenlose Luft und kostenloses Wasser – ein Recht, das man auf der Erde nicht ausdrücklich zu erwähnen brauchte, aber in einem Schiff wie diesem, wo jeder Kubikzentimeter Luft von einer Maschine geliefert werden musste, die jemand anders instand hielt, war es keine Selbstverständlichkeit. »Neben unseren Rechten legt ihr auch unsere Pflichten dar. Instandhaltung der Systeme des Schiffes, keine Bedrohung seiner Integrität. Und ihr habt vor, ein Kreditsystem einzuführen, wie ich sehe.«
»Ja, genau.« Er lächelte. »Das war eine meiner Ideen. Wir brauchen einen elementaren Anreiz. Leiste mehr gute Arbeit, und du häufst Reichtum an, du kannst Dinge von anderen Leuten kaufen, und dein Status erhöht sich. Die simple menschliche Natur. Wir müssen weg von dem diffusen sozialistischen Gewäsch, das Kelly von sich gegeben hat. Das hier ist kein Kibbuz. Wir sind allesamt Amerikaner, Herrgott nochmal.«
»Ich nicht.«
»Na ja, größtenteils. Nichts für ungut. Ein paar der Dinge im Schiffsgesetz können stehen bleiben. Das meiste haben wir schlie?lich anhand von Pr?zedenzf?llen entwickelt, und vieles davon ist brauchbar. Aber was den Rest betrifft, brauchen wir klarere Gedanken.?
»Zum Beispiel, wie ihr hier näher ausführt, die Freiheit, seinen Wunschpartner zu heiraten und mit ihm Kinder zu bekommen. «
»Ja. Wir geben jeder Frau das Recht auf ihren eigenen Körper, ihren eigenen Bauch zurück.«
»Aber das widerspricht den Empfehlungen der Sozialingenieure in puncto optimaler genetischer Vermischung. Das war eine Grundanforderung der Mission.«
»Die Sozialingenieure sind nicht hier«, sagte Jerry mit fester Stimme. »Wir schon. Und eine Politik, die von den Menschen abgelehnt wird, bleibt flügellahm, ganz gleich, wie schlau diese längst ertrunkenen Burschen waren, die sie sich ausgedacht haben. Wilson und ich sind der Überzeugung, dass wir unser Vertrauen in die kollektive Vernunft der Crew setzen sollten – in uns.«
»Ihr schlagt auch eine Bildungsreform vor.«
»Aber sicher. Das Curriculum, das wir bisher für die Kinder entwickelt haben, beruht auf Wischiwaschi-Zeug aus der Akademie. Ethik, um Himmels willen. Philosophie. Vergleichende Theologie. Blablabla. Gott sei Dank ist keines der Kinder alt genug, um schon allzu sehr von diesem Zeug geschädigt worden zu sein. Wir sollten uns daran halten, was diese Kinder lernen müssen, um überleben zu können.«
»Zum Beispiel, nimm das Lebenserhaltungssystem nicht auseinander? Ihr schränkt sogar das naturwissenschaftliche Unterrichtsangebot ein. In einer Schule würde man Neugier, Initiative und Lernfähigkeit normalerweise belohnen.«
»Bei dieser Mission geht es vor allem um Ausgewogenheit. Neugier kann später kommen, wenn wir uns auf der Erde II sicher eingerichtet haben und uns den Luxus leisten k?nnen zu fragen, was hinter dem n?chsten H?gel ist.?
»Hm. Interessantes Experiment.«
Zane lächelte. »Im Lauf der Zeit wird sich die elementare menschliche Natur schon wieder behaupten. Aber dies ist nicht der richtige Moment dafür. Im Augenblick müssen wir davon ausgehen, dass wir uns im Krieg mit einer Umwelt befinden, die uns töten wird, wenn es uns nicht gelingt, unsere Schutzvorkehrungen aufrechtzuerhalten, ohne auch nur einmal in unserer Konzentration nachzulassen. Das ist die Botschaft, die wir den Kindern eintrichtern müssen.«
»Ihr gesteht uns das Recht auf Luft- und Wasserversorgung zu. Aber damit erhalten die zentralen Funktionen, die diese Ressourcen aufrechterhalten, eine Menge Macht.«
»Natürlich. Deshalb wirbt Wilson um Holle Groundwater, um sie auf seine Seite zu ziehen, wie du bestimmt schon weißt. Weil diese Macht bei ihr und ihrem Team liegt.«
Wetherbee kam zum umstrittensten Element des Gesetzesvorschlags. »Ihr wollt die Überwachung im Innern der Module, die Routineaufzeichnung aller Geschehnisse beenden.«
»Außer sie dient einem bestimmten Zweck – ja. Menschen haben ein Grundrecht auf den Schutz der Privatsphäre, in ihrem Denken und Handeln. Wir müssen unseren Leuten vertrauen, Doc.«
»Thomas Windrup …«
»… war eine Ausnahme. Und außerdem hat ihn die Überwachung nicht aufgehalten, sie hat nur seine Schuld bewiesen, als er sein Verbrechen bereits begangen hatte, erwischt worden war und gestanden hatte.« Er lachte. »Zane 3 denkt natürlich, wenn wir diese Reality Show abbrechen, kommen die Controller in Las Vegas herein und schalten uns ab oder bestrafen uns.«
»Du weißt, dass es viele Diskussionen über diese Dinge gibt. Die Crew wird keine Möglichkeit haben, euch zu überwachen, ich meine Wilson und sein Team.«
»Ach, das ist doch bloß eine theoretische Spitzfindigkeit.«
»Theoretisch? Vielleicht.« Wetherbee presste die Finger an die Lippen und fragte sich, wie weit er diese Diskussion treiben sollte. Sein Interesse galt Zane, nicht Wilson und seinem Manifest. Sein langfristiges Ziel war die Reintegration aller Teilpersönlichkeiten von Zane. Doch um das zu erreichen, musste er jede von ihnen verstehen und mit ihnen arbeiten. Vorsichtig sagte er: »Kelly Kenzie bezeichnet das offen als Putsch.«
Zane lachte. »Tja, wen wundert’s.« Er zwinkerte Wetherbee tatsächlich zu. »Hör mal, Doc – ich glaube, wir beide können offen miteinander reden. Ich meine, dir droht keine Gefahr, ganz egal, wer am Freitag gewinnt. Man kann das alles auf mehreren Ebenen betrachten. Die Sozialingenieure haben versucht, unsere kleine Schiffsgemeinschaft so zu organisieren wie die Jäger- und Sammlergruppen damals. Dort gab es geduldete Anführer, deren wichtigste Eigenschaft Prestige war – Leistungsfähigkeit. Das ist Kelly, wie sie leibt und lebt, nicht wahr? Aber Wilson sieht härtere Zeiten voraus – Zeiten wie diese, Zeiten, in denen wir nah daran sein werden, von unserem erbarmungslosen Feind, der Umwelt, vernichtet zu werden. In solchen Zeiten braucht man eine primitivere Art von Anführer.«
»Primitiver in welcher Hinsicht?«
»Nun ja, Wilson war schon immer größer als Kelly. Er hat sich jahrelang Muskeln antrainiert. Und er ist ein Mann …«
»Dass er ein starker Mann ist, qualifiziert ihn zum Anführer? Soll das ein Witz sein?«
Zane lächelte erneut. »Du musst daran denken, was den Leuten ein Gefühl der Sicherheit gibt. Und dann ist da der Zeitpunkt. In diesem Jahr trägt die Flut den Sieg davon …«
Sie hatten nichts mehr von der Erde gehört, seit sie in den Warp-Modus gegangen waren, aber sie alle hatten den wahrscheinlichen Fortschritt der Flut mit Hilfe von Simulationen verfolgt, die auf den besten verfügbaren wissenschaftlichen Modellen basierten. In diesem und im nächsten Jahr würden ganze Kontinente untergehen. Im Januar musste Europa endgültig verschwunden sein, wenn das Wasser den Berg Elbrus, den höchsten Punkt Russlands, bedeckt hatte. Im Mai war Afrika an der Reihe gewesen, als der Kilimandscharo im Wasser versunken war. Und mittlerweile würden auch die kontinentalen Vereinigten Staaten verschwunden sein, bis auf ein paar Berge in Alaska. Nächstes Jahr würde es Südamerika treffen, die Gipfel der Anden, und dann würde in der westlichen Hemisphäre nichts mehr übrig sein, keine Spur von Land.
Zane sagte: »Wilson hat immer gedacht, in diesem Jahr – dem Jahr, in dem die Überlebensschuld sich wirklich bemerkbar macht – würde es Ärger geben. Die Menschen sehnen sich in erster Linie nach Stabilität, und die wird Wilson ihnen verschaffen. Die Leute werden seine Herrschaft willkommen heißen, glaub mir.« Sein Lächeln flackerte. »Ich glaube, Zane 3 wird unruhig. Vielleicht sollte ich mich jetzt wieder zurückziehen?«
»Wenn du nichts dagegen hättest.«
»Es ist immer anregend, sich mit dir zu unterhalten, Doc Wetherbee.«
»Gleichfalls. Danke, Jerry … Zane? Bist du da?«
Zane sackte auf seiner Liege zusammen, und sein Gesicht legte sich in Falten, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. »Doc Wetherbee?«
»Erinnerst du dich an irgendetwas?«
»Ich glaube nicht. Ich dachte, ich hätte dich gesehen … ich weiß es nicht mehr.«
»Es ist sehr gut gelaufen. Schließ die Tür und sperr deinen Raum jetzt ab. Hast du das getan?«
»Ja.«
»Okay, komm mit mir zurück in den OP. Es geht los – komm zurück, während ich von fünf an rückwärts zähle. Fünf, vier, drei …«
67
JULI 2048
Sie hielten die Wahl mit Hilfe von Papier aus einem geopferten Handbuch der Sozialingenieure über optimale Zuchttechniken ab. Holle leitete die Abstimmung mit Beobachtern aus allen wichtigen Fraktionen der Crew. Es gelang ihr sogar, die kleine Helen Gray und Steel Antoniadi, sechs und drei Jahre alt, dazu zu bewegen, beim Einsammeln und Auszählen der Stimmzettel zu helfen, eine Methode, die neue, auf dem Schiff geborene Generation an die Ergebnisse einzubinden.
In der ersten Runde wurde Venus Dritte und schied aus. Und in der Stichwahl schlug Wilson Kelly mit zwei Dritteln zu einem Drittel. Zu Holles großer Erleichterung focht niemand das Ergebnis an.
68
SEPTEMBER 2049
»Könnte sein, dass wir ein Problem haben.« Venus’ Stimme war sehr leise, und mehr wollte sie über den Snoopy-Hauben-Funk des Führungsteams nicht zu Holle sagen.
Also begab Holle sich zur Kuppel, nahm Platz und wartete in der summenden Stille, während Venus und Cora Robles irgendeine komplexe Berechnung durchführten, bei der die Daten in Form von Zahlenkolonnen, wirbelnden Kurven und schwindelerregenden multidimensionalen Displays zwischen ihren Bildschirmen hin und her wanderten.
In der Kuppel gewöhnte man sich an lange Phasen der Stille. Das war Venus Jennings Art. Die Kuppel war eine Insel der Ruhe; es roch nach Kunststoff, Metall und Elektronik, sogar ein Neuer-Teppich-Geruch von Sauberkeit lag in der Luft, und man hörte das sanfte Summen der Luftzirkulationsventilatoren. Es war, als säße man in einem Computerkern. Und jenseits der Glaswände waren nur die geduldigen Sterne. Hier drin konnte man völlig vergessen, dass die von Wilson und seinen Verbündeten mit ihrer unnahbaren, leicht bedrohlichen Macht beherrschten Module mit ihrem Chaos, ihrer Schäbigkeit und ihren unaufhörlichen Streitereien überhaupt existierten.
Die Kuppel war ein Refugium für Holle, das gab sie freimütig zu, und sie war offensichtlich auch ein Refugium für diejenigen, die hier arbeiteten. Venus’ Leute waren allesamt auf die eine oder andere Weise lädiert; alle waren Kandidaten, um die dreißig, ungef?hr im selben Alter wie Venus und Holle selbst: Cora Robles, die ein Kind verloren hatte, Thomas Windrup, verst?mmelt durch Kellys letzte Amtshandlung als Sprecherin, und Elle Strekalow, traumatisiert von dem endlosen Streit zwischen Thomas und Jack Shaughnessy.
Selbst Venus war seit den verletzenden Ereignissen vor vierzehn Monaten, die Kelly weiterhin als Wilsons Putsch gegen sie bezeichnete, in sich gekehrter. Venus hatte immer geargwöhnt, dass Wilson sie irgendwie dazu gebracht hatte, Kelly als Erste die Gefolgschaft aufzukündigen. Sie fühlte sich verraten. Sie gab zu, dass sie Wilson eine gewisse Stabilität verdankten, die unter Kelly gefehlt hatte. Aber sie wies auch immer wieder daraufhin, dass nach Wilsons Amtsantritt ausgerechnet jene Klausel seines Verfassungsentwurfs still und heimlich gestrichen worden war, mit der die Amtszeit eines Sprechers auf vier Jahre begrenzt wurde. Zumindest war diese eigentümliche Beziehung zwischen Venus und Wilson stabil. Holle hoffte, dass es für die verbleibenden paar Jahre der Reise zur Erde II so bleiben würde.
Und um über die Erde II und Venus’ neueste Daten über sie zu sprechen, war Holle heute in die Kuppel gerufen worden.
Die beiden Astronominnen erreichten einen Punkt, an dem sie ihre Arbeit unterbrechen konnten. Sie lehnten sich zurück, atmeten tief durch und streckten sich, als kämen sie an die Oberfläche, um Luft zu holen. Cora lächelte Holle an und verließ die Kuppel durch die Luftschleuse. Venus und Holle blieben allein zurück. Venus drückte eine Taste auf einem Laptop, und Holle hörte das leise Klackern von Riegeln.
»Du hast uns eingeschlossen«, sagte Holle überrascht.
»Ganz recht.« Venus nahm eine Thermosflasche aus dem niedrigen Regal neben ihrer Workstation. »Einen Schluck Kaffee?«
»Ich fühle mich geehrt.«
Venus schenkte zwei Becher voll.
Holle trank dankbar. Dass die Verarbeitungssysteme fast acht Jahre nach dem Start von Gunnison immer noch eine heiße Flüssigkeit produzierten, die halbwegs wie richtiger Kaffee schmeckte, war eines der kleinen Wunder der Arche. »Du scheinst hier drin immer das beste Gebräu zu haben, Venus.«
Venus lächelte. Der schwache Widerschein ihres leuchtenden Bildschirms erhellte ihr Gesicht. »Irgendeinen Anreiz muss man den Leuten ja bieten, damit sie einen besuchen kommen. Übrigens, wenn diese Luke verschlossen ist, ist auch der Datenstrom ins übrige Schiff unterbrochen. Wir sind also ganz unter uns.«
Holle starrte sie an. »Du hast sogar die Verbindung zu Wilson unterbrochen?«
»Oh, unser großer Führer sieht und hört immer zu.« Sie zwinkerte Holle zu. »Was nicht heißt, dass er auch immer die ungeschminkte Wahrheit zu sehen und zu hören kriegt.«
»Du manipulierst den Datenstrom?«
»Wilson braucht uns, unsere Arbeit. Solange ich keine direkte Gefahr für ihn bin, lässt er mir meine kleinen Geheimnisse, glaube ich.«
Und das beschrieb zugleich die elementarste Überlebenstaktik auf dieser Arche: sich ein wenig Macht zu verschaffen und sie festzuhalten.
»Und heute hast du also ein ›kleines Geheimnis‹?«
Venus nickte. »Ich erzähle Wilson davon, wenn ich so weit bin. Wir brauchen noch mehr Daten, um Klarheit zu gewinnen. Aber …«
»Du hast gesagt, es gibt ein Problem.«
»Mit der Erde II«, bestätigte Venus. »Ich glaube, es gibt ein Problem mit unserem Ziel, Holle. Du musst mir helfen – ich weiß noch nicht recht, wie ich damit umgehen soll.«
»Scheiße.«
Venus grinste. »Das trifft es nicht mal annähernd.« Sie drehte einen Bildschirm zu Holle herum. »Wir haben Bilder von der Erde II. Noch rudimentär, aber …«
Holle war erstaunt. »Wow. Bilder. Und ihr habt sie für euch behalten?«
»Bisher.«
»Ich fühle mich auf einmal wie Kolumbus.«
»Eher wie die Crew von Apollo 8«, sagte Venus. »Weißt du noch, dass Gordo immer behauptet hat, er habe sie alle kennengelernt, Borman, Lovell und Anders? Die Ersten, die zum Mond geflogen sind, die Ersten, die unsere Erde im Ganzen gesehen haben …« Ihr Finger hing über einer Taste. »Ich zeige dir, wie wir an die Daten gekommen sind.«
Auch nach dem Übergang in den Warp-Modus hatten Venus und ihr Team die Arche als mobile Teleskop-Plattform für die Beobachtung der nahe gelegenen Sterne und ihrer Planeten benutzt. Sie spähten bei ihrem Suchaktionen tiefer ins All hinein und erzielten detailliertere und bessere Ergebnisse, als es von der Erde und sogar von der Arche beim Jupiter aus möglich gewesen war. Holle fand es erstaunlich, dass man im Innern der Warp-Blase so hervorragende Arbeit leisten konnte; immerhin mussten die Teleskope durch eine Wand aus gefalteter Raumzeit hinausschauen. Aber die Linsenwirkung, der das Licht ausgesetzt war, ließ sich leicht eliminieren; man verfolgte den Weg der Strahlen einfach zurück, folgte Lösungen durch den Wald relativistischer Gleichungen, die den Alcubierre-Warp beschrieben.
Selbst jetzt, wo sie draußen unter den Sternen waren, blieb es jedoch schwierig, das schwache Licht eines Planeten zu entdecken, der nur einen Bruchteil der Strahlungsmenge seines Muttergestirns reflektierte. Darum lie? Venus ihre Teleskope Ausschau nach den kaum merklichen Helligkeitsver?nderungen eines Sterns halten, vor dessen Antlitz ein Planet vorbeizog ? eine Technik, die nur funktionierte, wenn die Umlaufbahn des Planeten zuf?llig auf der Ebene der Flugbahn der Arche lag. Oder sie suchte nach den Schwankungen in der Bewegungscharakteristik eines Sterns, die von der umlaufenden Masse von Planeten hervorgerufen wurden. Bei der in Holles Augen raffiniertesten Technik brauchte man zwei Teleskope, die in gewissem Abstand voneinander denselben Stern beobachteten. Licht verhielt sich wie eine Welle, und wenn sich Wellen ?berlagerten, ergab sich eine konstruktive oder destruktive Interferenz. Die Signale der beiden Teleskope wurden so kombiniert, dass eine destruktive Resonanz zwischen den beiden Lichtstr?men des Sterns auftrat ? und wenn der Stern dann unsichtbar war, konnte man etwaige Planeten ausmachen, deren Helligkeit nur etwa ein Milliardstel der Leuchtkraft des Sterns betrug.
Mit solchen Techniken konnte man einen Planeten eingehend beobachten, man konnte seine Masse und Schwerkraft schätzen und sein Lichtspektrum auf Anzeichen von Wasser und Atmosphärenbestandteilen wie Methan und Sauerstoff analysieren. Vor dem Aufbruch der Arche vom Jupiter waren solche erdähnlichen Signaturen bei einem Planeten von 82 Eridani festgestellt worden, einem Stern, der Ähnlichkeit mit der Sonne besaß.
»Aber wir starren nicht nur die ganze Zeit auf die Erde II«, sagte Venus. »Wir haben weiter hinausgeschaut, so weit es ging, über eine Sphäre mit einem Radius von hundert Lichtjahren hinweg, und alles zu kartografieren versucht, was wir erfassen können. Warum auch nicht? Selbst wenn wir zur Erde II gelangen, wird es lange dauern, bis wieder jemand eine Chance bekommt, nach Planeten Ausschau zu halten, und dann garantiert nicht von einer Plattform wie dieser aus. Es gibt Grenzen der Nachweisbarkeit, ein astrophysikalisches Grundrauschen, durch das man nicht hindurchschauen kann. Aber unsere Instrumente sind auf jeden Fall empfindlich genug, um einen erd?hnlichen Planeten in einer erd?hlichen Entfernung von einem sonnen?hnlichen Stern zu finden, zum Beispiel anhand stellarer Geschwindigkeitsoszillationen von einem Zentimeter pro Sekunde oder so. Wir stellen also einen Katalog zusammen, ein Verm?chtnis f?r k?nftige Generationen.? Sie grinste, und die Venus, mit der Holle aufgewachsen war, lugte aus dem Innern dieser ernsten drei?igj?hrigen Frau hervor. ?Au?erdem, was sollen wir sonst den ganzen Tag lang machen? Entweder das, oder die W?nde abschrubben.?
»Ich glaube dir.«
»Also, bist du bereit für die Erde II?«
»Nur zu.«
Der Bildschirm vor Holle leuchtete auf, und sie sah eine Scheibe, eine Welt. Sie war fast voll, nur eine Sichel auf der linken Seite lag im Schatten. Und der helle Teil, die rechte, ins Sonnenlicht von 82 Eridani getauchte Hemisphäre, wurde von einem grau glänzenden Ozeanschild beherrscht. Holle sah ein blendendes Glanzlicht am rechten Rand, das von dem nicht sichtbaren Stern geworfen wurde. In dieser taghellen Halbkugel gab es einen Wolkenwirbel, irgendein großes Sturmsystem. Woanders sah sie Land, einen schmalen grauen Gürtel um die Taille des Planeten, darunter eine weitere Landmasse und eine Art Archipel darüber. Das Bild war verschwommen, ein Artefakt der Teleskopie; Details unterhalb der Größe von Kontinenten waren nicht zu erkennen.
Venus beobachtete sie grinsend. »Selbst Wilson hat das noch nicht gesehen.«
Holle schüttelte den Kopf. »Sieht aus wie ein Spezialeffekt in einem HeadSpace-Spiel. Und so erdähnlich. Keine Polkappen?«
»Nein, obwohl die Oberflächentemperatur nicht viel anders ist als auf der Erde. Aber es hat ja auch Zeiträume in der Vorgeschichte gegeben, in denen die Erde eisfrei war.«
»Sind das Echtfarben? Die Landmassen sind vielleicht ein bisschen dunkler als auf der Erde.«
Venus nickte. »Stimmt. Nicht so grün wie die Erde. 82 Eridani ist eher ein G5-Stern als ein G2-Stern wie Sol, und das Licht ist ein wenig anders. Wir vermuten, dass es da unten eine andere Photochemie gibt.«
»Aber es gibt Leben.«
»O ja, davon sind wir überzeugt. Sonst hätte der Planet nicht diese typische Sauerstoff-Stickstoff-Atmosphäre.«
Holle schaute angestrengt auf die verstreuten Landmassen. Würden die Formen dieser seltsamen Kontinente den Kindern der Arche ebenso vertraut werden, wie es die von Afrika, Amerika und Asien einst, bevor sie in den Fluten versanken, ihren Eltern und Großeltern gewesen waren? »Für mich sieht das ziemlich gut aus, Venus. Wo liegt das Problem?«
»Schau dir diese Sequenz an. Der Tag auf der Erde II ist länger als der Erdtag, ungefähr dreißig Stunden. Diese Bilder wurden im Abstand von ein paar Stunden aufgenommen.«
Es war wie eine primitive, verschwommene Animation, die zeigte, dass die Welt sich auf einer horizontalen Achse drehte. Die langgestreckte, zentrale Landmasse bewegte sich abwärts, und der andere Kontinent verschwand unter dem Bauch der Welt. Der Schattengürtel veränderte sich nicht. Die Sonne war außer Sicht, irgendwo rechts von ihr …
Auf einmal verstand sie. »Oh. Es ist ein Uranus. Die Achse ist umgekippt und zeigt auf die Sonne.«
»Die Achsneigung beträgt fast neunzig Grad. Gegenüber wie viel, dreiundzwanzigeinhalb Grad bei der Erde? Tatsächlich glauben wir, dass es eher so ist wie beim Mars, wo die Achse über Perioden von Jahrhunderttausenden hin und her schwankt. Die Erde wird vom Mond stabilisiert; dem Mars fehlt ein Mond von ausreichender Größe – und der Erde II auch. Die Achsneigung scheint mit Gezeiteneffekten der beiden Riesenplaneten weiter draußen zusammenzuhängen.«
»Deshalb gibt es kein Eis.«
»Ja. Jeder Pol wird ein halbes Jahr lang pausenlos von Sonnenlicht beschienen, während der andere ständig im Schatten liegt.«
»Wie kann es dazu gekommen sein?«
»Planeten und Planetensysteme sind etwas Alltägliches, Holle. So viel haben wir gelernt – der Himmel ist voll davon. Aber ihre Entstehungsprozesse sind chaotisch. Sie bilden sich aus Staubund Eiswolken und erleiden dann eine Abfolge immer stärkerer Einschläge, von aufeinanderprallenden Staubkörnchen bis zur Kollision planetengroßer Massen. Und nicht nur das, es gibt auch noch die sogenannte Migration. Sterne werden in überfüllten Sternenwiegen geboren, und die verbleibende Wolke wird ziemlich schnell vom Licht benachbarter Babysterne weggeblasen. Vorher kann die Gezeitenreibung mit der Wolke allerdings dazu führen, dass Welten mit der Masse des Jupiter einwärts durchs System driften und kleinere Welten wie eine Schar Vögel auseinandertreiben. Bei diesem Prozess spielt der Zufall also eine große Rolle. Jedenfalls ist das wahrscheinlich der Grund, weshalb wir so wenige ›Erden‹ in hübschen, stabilen, kreisförmigen Umlaufbahnen in genau der richtigen Entfernung von ihrem Stern entdeckt haben. Und wenn man auch noch bestimmte Arten von Sternen ausschließt, bleibt eine noch kleinere Auswahl übrig.«
Holle zupfte sich an der Nase. »Ich habe das Gefühl, du willst mich in eine Auseinandersetzung hineinziehen.«
Venus seufzte. »Na ja, diese Auseinandersetzung war schon gestorben, bevor wir den Jupiter verlassen haben. Wir haben Erden gefunden, die andere Arten von Sternen umkreisen, Holle, Sterne, die ganz und gar nicht so sind wie Sol. Zum Beispiel rote Zwerge der M-Klasse. Wenn die Umlaufbahn nah genug an einem solchen Stern liegt, ergeben sich brauchbare Temperaturen. Einige dieser M-Erden sind bessere Kandidaten als die Erde II – sogar auf Grundlage dessen, was wir schon beim Jupiter wussten. Aber eine Fraktion im Kontrollzentrum wollte nicht gutheißen, dass wir woanders hinfliegen als zu einer gelben Sonne.«
»Ich erinnere mich«, sagte Holle. »Ich habe versucht, mich da rauszuhalten. Gordo Alonzo hat schließlich ein Machtwort gesprochen, nicht?«
»Ja. ›Ich schicke diese Crew doch nicht zu dem verdammten Planeten Krypton!‹ Im Grunde haben wir uns auf eine Wette eingelassen, dass dieser Kandidat aus der begrenzten Menge der Planeten, die wir in Erwägung zu ziehen bereit waren, so sein würde, wie wir es uns erhofft haben. Tja, wir haben verloren. Wir arbeiten gerade an ein paar Modellen für die Oberflächenbedingungen der Erde II. Es gibt komplexe Wettersysteme, ganz anders als auf der Erde. Einfache Lebensformen können sich dort offenbar halten. Aber …«
»Aber es ist vielleicht keine Welt für Menschen.«
»Ich weiß es nicht. Ich hoffe, es ist eine. Ich fürchte aber, das ist sie nicht.« Venus seufzte und schaltete ihre Bildsequenz aus. »Das sollte uns lehren, dass schon ein einziger astronomischer Parameter, in diesem Fall die Achsneigung, eine Welt aus der Sicht des Menschen zugrunde richten kann. Vielleicht haben wir deshalb nirgends eine Spur von intelligentem Leben gefunden.?
Holle machte große Augen. »Ihr habt danach gesucht?«
»Ja, natürlich. Würdest du das nicht tun? Wir haben in unserer Flugrichtung gesucht, und auch im Zentrum der Galaxis, wo die meisten Sterne sind. Wir haben nichts gesehen, Holle, keine Anzeichen von orbitalen Infrastrukturen in der Umgebung der Planeten – keine Dyson-Sphären, keine Ringwelten – , keine Hinweise darauf, dass sich jemand in die Evolution der Sterne eingemischt hat. Und keine Spur von organisierten Daten im Funkrauschen. Es ist eine große, leere Galaxis. Leer bis auf uns. Und das ist unheimlich.« Ihre Stimme war dünn, und die Pupillen ihrer an die Dunkelheit angepassten Augen waren im schwachen Licht ihres Bildschirms riesengroß, als sie zu den Sternen hinausschaute.
Holle sah sie an und fragte sich, was für langfristige Auswirkungen das Betrachten eines schweigenden Universums auf Venus und ihre Leute haben mochte. Die Arche brauchte jedenfalls ganz bestimmt keine weiteren Verrückten. »Ich finde, wir sollten mit den Leuten darüber reden, Venus. Über deine Skepsis in Bezug auf die Erde II. Je eher wir anfangen zu planen, wie wir damit umgehen, desto besser.«
Venus grunzte. »Klar. Fang mit Wilson an, der wird sowieso mitgehört haben. Aber halte es vorläufig noch vor der Crew geheim. Hat keinen Sinn, negative Reaktionen auszulösen.«
»Danke für den Kaffee. Ähm … Könntest du die Luke entriegeln? «
69
Holle wollte zwar mit Wilson über Venus’ Probleme sprechen, aber sie verschob den Besuch bei ihm noch ein wenig. Sie hatte das Gefühl, dass sie Zeit brauchte, um alles gründlich zu durchdenken.
Stattdessen stieg sie nach ihrer Rückkehr ins Modul zu Deck zehn hinunter, wo sie mit Doc Wetherbee und Grace Gray verabredet war, um sich anzusehen, welche Fortschritte Zane Glemps Therapie machte. Wetherbee hatte gesagt, Zane nehme dort heute an einem Traumzirkel teil, und Wetherbee wollte ihn dabei beobachten.
Als Holle die Luftschleuse zur Kuppel verließ, traf sie Grace, und sie überquerten das Deck und gingen zur Leiter, die nach unten führte. Im offenen Bereich im Zentrum des Decks musste Grace Holle zurückreißen, damit sie nicht mit dem harten Körper eines Kindes zusammenprallte, das an der Rutschstange von ganz oben nach ganz unten sauste.
»Juhu!«
»Heilige Mutter Gottes«, sagte Holle schwer atmend. »Diesmal hätte es mich beinahe erwischt.«
»Ja. Die werden jeden Tag schneller. Sie veranstalten einen regelrechten Wettstreit, wie weit sie fallen können, ohne sich an der Stange festzuhalten.« Die beiden Frauen erreichten die Leitern und machten sich an den Abstieg. »Ich habe Wilson überredet, ein Netz über das Loch in Deck vierzehn zu spannen, damit sie wenigstens nicht in die Hydrokulturen knallen.?
»Die kleinen Bastarde sind nicht ganz dicht.«
Grace, die unter Holle hinabkletterte, grinste. »Es ist schwer, sie rund um die Uhr unter Kontrolle zu halten, Holle. Ich meine, Helen ist jetzt sieben.«
»Ich höre ihnen manchmal zu. Selbst ihre Sprache ist anders als unsere. Sie veranstalten komplizierte Fangspiele und haben bestimmt fünfzig Worte für ›hab dich!‹.«
»Ja. Aber keins für ›Himmel‹ oder ›Meer‹ …«
Sie erreichten Deck zehn. Mehr als ein Jahr nach dem Brand bot das Deck mit seinen geschwärzten Wänden und ausgebrannten Instrumenten-Racks immer noch ein Bild der Verwüstung. Selbst der Fußboden war nur ein behelfsmäßiger Ersatz für die geschmolzenen Gitterelemente. Im Grunde hatte sich das gesamte Modul nie richtig erholt; alles wirkte irgendwie schäbig und alt.
Der Traumzirkel begann gerade, und die Träumer entrichteten ihre Teilnahmegebühren mit einem Daumendruck auf das Eingabefeld am Handheld des Kassierers. Wilson hatte eine neue Währung aus Credits eingeführt, die elektronisch abgebucht und im Datenspeicher des Schiffes verwahrt wurden; man bekam Lohn für seine Arbeit und musste seinerseits für alles außer Luft und Wasser bezahlen – sogar dafür, dass man seine Träume auf einem ausgebrannten Deck mit anderen teilen durfte. Und ein bestimmter Prozentsatz jeder Zahlung wanderte direkt in die gemeinsame Kasse, die Wilson verwaltete.
Einer der Träumer war Zane. Er wirkte schüchtern und bedrückt. Holle fragte sich, welches Alter heute dominant war.
Grace redete immer noch über die Kinder. »Die Kleinen passen sich wohl einfach an den Ort an, wo sie aufwachsen. Auf der Arche Drei hatten wir h?ufig mit Flo?gemeinschaften zu tun. Handelsgesch?fte, du wei?t schon. Dabei haben wir Kinder getroffen, die ?lter waren als Helen und ihr gesamtes Leben auf dem Meer verbracht hatten, die nie trockenes Land sahen ? Sie waren alle durchaus zufrieden, oder konnten es sein. Man h?lt die Umgebung, in die man hineingeboren wird, eben f?r v?llig normal ? sie ist die ganze Welt, alles, was man jemals braucht.?
»Aber sie sind so anders als wir.«
»So wie wir anders waren als die Generation unserer Eltern. Das ist nun mal der Lauf der Dinge. Vermutlich werden die nächsten Kinder, die Kolonisten auf der Erde II, wieder anders sein.«
»Falls wir jemals dorthin kommen.«
»Wie bitte?«
»Ach, nichts. Hey, da ist Mike.«
Mike Wetherbee kam von den oberen Decks herunter. Wie immer wirkte er abgespannt; seine Haare wurden grau, und er schien rasch zu altern. Er trug eine Notfalltasche an der Taille und hatte eine kleine Kamera dabei. Er war hier, um Zane bei seiner Teilnahme am Traumzirkel aufzunehmen. Mittlerweile sah man nirgends mehr eine Kamera, außer bei solchen besonderen Anlässen.
Als Wetherbee seinen Platz neben Holle und Grace einnahm, begannen die Träumer gerade, Theo Morell zuzuhören, der als Erster sprach. »Ich war in so einem Tunnel gefangen. Als säße man hinter einem Ausrüstungs-Rack fest, wisst ihr? Ich war ganz allein, alle anderen waren tot – nein, sie hatten gar nicht erst existiert. Bloß ich war da, ich war eingeschlossen, und ich bekam keine Luft. Dann schlug jemand von außen gegen die Wand, und ich fing an zu rufen und zu schreien, aber ich hörte blo? das Echo meiner eigenen Stimme. Dann habe ich mich vorw?rtsgeschl?ngelt und so was wie ein Licht gesehen ??
Die anderen hörten gebannt zu. Das Dutzend Träumer war eine Mischung aus den diversen Fraktionen der Arche, Kandidaten, Eindringlinge und Illegale. Holle bemerkte, dass ein Mädchen sich Notizen auf einem Handheld machte; sie zeichnete die Erzählungen auf. Zane schaukelte lediglich hin und her und stieß sich ein Plastikspielzeug, einen Kinderschraubenzieher, in den Unterarm. Holle fand es paradox, dass ausgerechnet Theo Morell als Erster das Wort ergriffen hatte. Er war nach wie vor der König des HeadSpace, aber seit Wilson den Zugang zu den Zellen mit dem schlichten Mittel einer deftigen Benutzungsgebühr eingeschränkt hatte, florierten die billigeren Traumzirkel.
»Klassischer Archentraum«, sagte Mike Wetherbee leise. »Gefangenschaft, Klaustrophobie, Angst vor dem, was draußen ist, aber auch Sehnsucht nach Freiheit.«
»Für mich klang es wie eine Erinnerung an seine Geburt«, flüsterte Grace. »Als würde er sich durch einen Geburtskanal arbeiten, eine monströse Vagina.«
Wetherbee grinste. »O ja, das auch. Bei den Träumen geht’s immer um Sex.«
»Keine Kinder heute«, murmelte Holle. Für gewöhnlich nahmen auch ein paar Kinder an solchen Sitzungen teil. Die Mitschriften zeigten, dass die Kinder Visionen von der Erde erzählten, die in ihnen emporsprudelten, Fantasien über den Planeten, für den die Evolution sie vorbereitet hatte, den sie nun jedoch niemals zu sehen bekommen würden. Holle fand sie faszinierend, aber auch schrecklich traurig.
»Nein«, sagte Wetherbee, »aber die Kinder mögen Zane. Man sollte meinen, sie würden Angst vor ihm haben. Sie finden ihn komisch oder so, die verschiedenen Personen, die aus seinem Mund sprechen. Er ist etwas Ungew?hnliches in einer Umgebung, der es an ungew?hnlichen Dingen fehlt.?
»Und wie sind seine Träume?«, fragte Grace mit leiser Stimme.
»Kommt darauf an, welches Alter Ego gerade spricht.« Wetherbee deutete auf hin. »Ich glaube, das ist Zane 1, der Jüngste. Seht euch an, was er mit diesem Plastikschraubenzieher macht. Er tut so, als würde er sich Selbstverletzungen zufügen. Ich habe ihm das Ding gegeben, damit er sich nicht wirklich verletzt. Zumindest kann er damit die Haut nicht durchbohren. Zane 1 hat sehr sexuelle Angstträume. Die Träume von Zane 3 sind am beunruhigendsten, ausgeklügelte Fantasien über Flüsse, Schlangen und Jäger, in denen nichts real ist, sondern einfach dahinschmilzt, wenn man den Blick darauf richtet.«
Grace schüttelte den Kopf. »Denkst du, dass du inzwischen alle Alter Egos erfasst hast?«
Wetherbee schaute gequält drein. »Hoffentlich, nach drei Jahren. Ich glaube noch immer, dass er unter einer dissoziativen Identitätsstörung leidet – mehr als eine Persönlichkeit in dem einen Kopf. Diese Alter Egos werden in Zeiten extremer Belastung oder extremer Leiden abgespalten.
Das da, Zane 1, ist erschaffen worden, als Zane ungefähr siebzehn Jahre alt war und von Harry Smith sexuell missbraucht wurde. Zane konnte die seelische Belastung, die das für ihn bedeutet hat, nicht ertragen, die Scham, das Lügen, die tyrannische Reaktion seines Vaters. Also hat er Zane 1 abgespalten, der als Gefäß für den ganzen Schmerz dient. Es ist ein Bewältigungsmechanismus, versteht ihr.
Die nächste große Krise für Zane kam, als er ungefähr vierundzwanzig war und wir uns beim Jupiter darauf vorbereitet haben, in den Warp-Modus zu gehen. Diese Krise hat zwei Abspaltungen ausgelöst, glaube ich. Er fühlte sich bereits schuldig, weil er sich auf der Arche befand, obwohl er zu ›schmutzig‹ war, um seine Gene zum Pool beitragen zu können. Zane 2 war ein Gefäß für all diese Scham und Reue. Und nun hatte er das Gefühl, dass es ihm in dieser entscheidenen Phase nicht gelang, seine Aufgaben zu erfüllen – was, wenn man darüber nachdenkt, das zentrale Thema seines ganzen Lebens war. Darum hat er eine weitere Person namens Jerry erschaffen – einen älteren, ruhigeren Mann, der mit all den Adoleszenzkrisen nichts zu tun hat. Jerry kommt oftmals bei Nacht heraus, wenn Zane schläft, und erledigt Zanes Arbeitsaufträge. Hinterher wacht Zane gewissermaßen einfach auf, stellt fest, dass alles erledigt und geregelt ist, und kann sich nicht daran erinnern, es getan zu haben; auch körperlich gibt es keine Hinweise darauf, außer vielleicht Schlafmangel. Jerry ist das gesundeste seiner Alter Egos, falls man dieses Wort benutzen kann. Aber auch eine echte Nervensäge. Mag sein, dass es noch andere Abspaltungen gegeben hat, andere Alter Egos, die in früheren Krisenmomenten erschaffen wurden – beim Start von der Erde zum Beispiel. Ich bin nicht sicher.
All diese Alter Egos haben einen Großteil von Zanes Funktionen übernommen. Das Alter Ego, das übrig bleibt, ist dasjenige, das ich Zane 3 nenne. Er ist eine leere Hülse. Er hat keine echte Erinnerung an sein Leben vor dem Jupiter. Es ist, als wäre er einfach voll ausgeformt erwacht, nachdem wir in den Warp gegangen sind. Und er hat keinerlei Kenntnis von der Arbeit, die er an Bord des Schiffes verrichtet; das macht alles Jerry, versteht ihr. In mancher Hinsicht ist Zane 3 der verrückteste. Ich glaube, er ist tatsächlich fest davon überzeugt, dass er sich gar nicht auf einem Schiff befindet.«
Grace fragte: »Und wo ist Zane in all dem?«
Wetherbee zuckte die Achseln. »Es sind alles Teile von ihm. Ich glaube, Zane 3 dient als eine Art zentraler Punkt, aber er ist nicht der Führer.«
»Klingt fantastisch.«
»Ich weiß. Viele Kommentatoren glaubten, eine DIS sei stets iatrogen – das heißt, ein Produkt der Diagnose, eine Art Fantasievorstellung, die vielleicht unbewusst vom Arzt und seinem Patienten ausgebrütet wurde. Ich kenne Ärzte, die liebend gern einen DIS-Fall gehabt hätten. Man könnte ein Buch drüber schreiben.«
»Aber du nicht«, sagte Holle.
»Nein, zum Teufel. Ich bin nicht schlau genug, um so etwas zu erfinden, glaubt mir.«
»Und wie lautet die Prognose?«, wollte Grace wissen. »Was kannst du tun?«
»Es gibt Methoden, die diversen Persönlichkeiten zu einem Ganzen zu reintegrieren. Aber das bedeutet eine weitere jahrelange Therapie. Ich glaube, ich warte damit bis nach ’51, wenn wir die Erde II erreicht haben. Dann werden wir Zane, den Warp-Ingenieur, zum letzten Mal brauchen. Er funktioniert ja, auf seine seltsame, kaputte Weise. Ich glaube nicht, dass ich es riskieren kann, das zu gefährden. Wenn meine Klinik auf der Erde II in Betrieb ist – dann habe ich vielleicht die Zeit, um Zane zu heilen.«
Holle fragte: »Welches von seinen Alter Egos magst du am wenigsten?«
»Gute Frage. Das da.« Wetherbee zeigte auf Zane. »Die Teilpersönlichkeiten sind dem Alter verhaftet, in dem sie erschaffen wurden. Zane 1 wird für immer siebzehn Jahre alt sein. Und er durchlebt den Missbrauch, den internalisierten Schmerz immer wieder. Seine Funktion besteht darin, Zane diese Erinnerungen abzunehmen. Aber es bedeutet, dass er in einer ewigen Gegenwart gefangen ist, wie in einer auf permanente Wiederholung geschalteten Aufzeichnung. Zane 1 ist in der H?lle.?
Sie verstummten und beobachteten Zane, der mit den Träumern zusammensaß und sich wieder und wieder den Spielzeugschraubenzieher in den Arm stieß. Dies waren die Menschen, die mit den dramatischen, unerwarteten Herausforderungen der Erde II konfrontiert sein würden, dachte Holle. Wie sollten sie die jemals meistern?
70
DEZEMBER 2051
Sämtliche Mitglieder der Crew versammelten sich in Hawila, um sich Venus’ Bericht über die Erde II anzusehen und anzuhören. Nur eine Wach-Crew blieb in Seba zurück, aber Holle wusste, dass auch sie am Kommunikationssystem kleben würde. Für ihre Präsentation baute Venus eine Kristallkugel auf, ein dreidimensionales Display, das noch nie ausgepackt worden war, seit sie die Erde verlassen hatten. Es summte und glänzte, während seine Flächen so schnell rotierten, dass das Auge ihnen nicht folgen konnte. Holle wusste, dies war ein Geschenk von Thandie Jones an die Arche; mit ebendiesem Gerät hatte Thandie einst die LaRei-Leute in Denver informiert, während Holle und Kelly auf dem Boden herumgerannt waren, und sie hatte es auch davor schon einmal benutzt, beim Weltklimarat in New York.
Holle selbst fand einen Platz auf einem Steg neben Kelly Kenzie. Venus hatte die Gitterelemente über drei Decks hinweg herausgenommen, um im Herzen des Moduls eine Art Auditorium zu schaffen, so dass jeder gut sehen und hören konnte, und nun drängten sich einschließlich der Kinder und Babys mehr als achtzig Personen darin, hielten sich an Stegen und Leitern fest und warteten auf die Show. Das Stimmengewirr aufgeregter Gespräche erfüllte den Raum, und man hatte das seltene Gefühl, einer großen Menschenmenge anzugehören. Holle sah überall bekannte Gesichter, die Gesichter der Leute, mit denen sie so viel geteilt hatte, in manchen Fällen schon seit ihrer gemeinsamen Kindheit in Denver: Mike Wetherbee, der neben Zane Glemp stand, seinem widerspenstigsten, aber auch wertvollsten Patienten; Theo Morrell, der korrupte K?nig der HeadSpace-Zellen; die Shaughnessy-Br?der, beide solide, harte Arbeiter, Jack mit einer M?tze, die er in sein von Brandnarben gezeichnetes Gesicht gezogen hatte; Thomas Windrup und Elle Strekalow, trotz aller Widrigkeiten noch immer ein Paar; Masayo Saito, Lieutenant der Army, der sich unversehens in einer unertr?glichen und unerwarteten Lage wiedergefunden und als kluger, couragierter Br?ckenbauer erwiesen hatte; und die arme Cora Robles, die nie ?ber den Verlust ihrer kleinen Tochter hinweggekommen war, nurmehr ein Schatten ihres fr?heren, strahlenden Ichs ? aber nun erneut schwanger. Helen Gray, inzwischen neun Jahre alt, stand neben ihrer Mutter auf einem Steg auf der anderen Seite des Moduls. Sie spielte mit der sechsj?hrigen Steel Antoniadi backe backe Kuchen. Als sie Holle erblickte, winkte sie ihr zu. Sie wuchs zu einem h?bschen M?dchen mit dem sehr englischen Teint ihrer Mutter heran. Holle kam der Gedanke, dass Helen noch nie in ihrem Leben so viele Menschen in einem Raum gesehen hatte. Aber Helens Blick wurde nun wie der der anderen Kinder von Venus’ glitzerndem Spielzeug angezogen.
Holle verspürte eine Hochstimmung, ein Gefühl der Zugehörigkeit. Trotz all ihrer Triumphe und Tragödien, ihrer Schwächen und Stärken waren sie hierhergekommen, über zehn Jahre seit Gunnison und mehr als zwanzig Lichtjahre hinweg. Sie hatten 82 Eridani erreicht. Und sie hatten den Lohn ihrer Mühen, die Erde II, mit bloßem Auge gesehen. Venus hatte die anderen Mitglieder der Crew in ihre kostbare Kuppel eingelassen, immer ein paar auf einmal, damit sie auf die riesige Welt hinunterschauen konnten, die sich ein paar Hundert Kilometer unter der Arche in ihrer Umlaufbahn drehte, mit ihren gekräuselten Meeren, verstreuten Wolken und rostfarbenen Landmassen. Endlich gab es ein Gef?hl der Einheit; gemeinsam hatten sie einen gewaltigen Triumph errungen.
Aber die Erde II war nicht, was sie sich erhofft hatten. Und jetzt, heute, sechs Monate nach dem Eintreffen der Arche bei 82 Eridani, mussten sie schwerwiegende Entscheidungen treffen. Holle fragte sich, wie viel von dieser wunderbaren Einheit den Tag überdauern würde.
Wilson Argent kam übers Deck stolziert, und die Gespräche verstummten. Wilson ließ den Blick über die Mitglieder der Crew auf den Decks und Stegen und Leitern schweifen. Er war ein großer, schwerer Mann, imposant und eindrucksvoll. Drei Jahre, nachdem er das Ruder von Kelly übernommen hatte, herrschte er mit absoluter Macht über die Crew, und man betrachtete ihn mit einer Mischung aus Bewunderung, Ehrfurcht und Angst. Heute hatte er die wichtigste Entscheidung zur Diskussion gestellt, die sie seit ihrem Start von der Erde treffen mussten, eine Entscheidung über die gesamte Zukunft der Mission, der Arche; selbst er konnte das nicht einfach so durchpeitschen. Das hatte jedoch zur Folge, dass dieser Tag der Entscheidung für Wilson ein Moment relativer Verwundbarkeit war.
Aus einem Impuls heraus sah Holle Kelly an. Ihre Miene war hart und unbewegt. Holle kannte Kellys »ehrgeiziges« Gesicht, das Gesicht, mit dem sie verkündet hatte, sie werde ihr Kind zurücklassen, um ihren Platz auf der Arche zu behalten. Seit Wilson sie gestürzt hatte, hatte er sie in Ruhe gelassen, aber im besten Falle waren sie wie zwei kriegführende Heere unter einem Waffenstillstand. Nun, heute sah Kelly so aus, als führte sie etwas im Schilde, und Holle verspürte einen Anflug tiefen Unbehagens.
»Ihr wisst alle, warum wir hier sind.« Wilson kaum merklich verstärkte Stimme dröhnte durch das gesamte Modul. »Wir haben den ersten Flug der Menschheit zu den Sternen hinter uns gebracht, wir haben die Erde II erreicht, und wir haben eine tolle Party gefeiert. Aber der Job ist noch nicht erledigt ? nicht, bevor wir unten auf der neuen Erde sind, den Boden umgraben und unsere ersten Feldfr?chte pflanzen. Venus wird jetzt zusammenfassen, was wir bisher ?ber den Planeten wissen. Und dann entscheiden wir als Gruppe, was wir tun werden.? Das war Wilson, unverbl?mt und sachlich. Er nickte Venus zu und trat zur?ck, so dass er bei der Gruppe von Illegalen und Eindringlingen stand, die es an seinen Hof gezogen hatte.
Venus trat vor und schaute in die erwartungsvollen Gesichter vor ihr. Sie drückte eine Taste auf ihrem Handheld. Die Kristallkugel leuchtete auf, und ein Bild der Erde II formte sich.
Es war eine Kugel von über einem Meter Durchmesser, die sich langsam um eine horizontale Achse drehte. Sie war hell und detailreich, und ihr Lichtschein, blau und grau, braun und weiß, erhellte die Gesichter der Zuschauer. Venus schwieg und gab ihnen ein paar Sekunden Zeit, alles in sich aufzunehmen. Das letzte Gemurmel verstummte.
Holle erinnerte sich an die ersten verschwommen Bilder des neuen Planeten, Bilder, die aus einer Entfernung von mehreren Lichtjahren aufgenommen und mit außerordentlicher Sorgfalt von Venus’ Planetensucher-Technologien erstellt worden waren. Diese neue Abbildung war so detailreich wie nur irgendein aus dem Weltraum aufgenommenes Bild der Erde, das sie je gesehen hatte. Und der Planet war kein abstraktes Gebilde mehr; jetzt, nach ihren Monaten im Orbit, war er eine Welt, die bereits lauter menschliche Namen trug. Sie hatten den Rotationspol, der gegenwärtig zur Sonne wies, vorläufig als »Norden« bezeichnet; von einem Beobachter über diesem Pol aus gesehen, drehte sich die Welt gegen den Uhrzeigersinn. Der Pol, monatelanger ununterbrochener Hitze von 82 Eridani ausgesetzt, war in Wolken geh?llt, und St?rme spalteten sich sichtbar von einem massiven zentralen Strudel ab.
In niedrigeren Breiten sah Holle Landmassen, die jedem an Bord bereits vertraut waren. Ein großer Streifen Land, der sich von Norden nach Süden über den Äquator zog, war »der Gürtel«, und er sah aus wie eine Art riesiges Norwegen mit tief eingeschnittenen Fjorden, die eine mehrere Tausende Kilometer lange Küstenlinie ritzten. Die nördliche Hälfte des Gürtels war momentan eisfrei, aber die südliche Hälfte, die sich ins Schattenreich erstreckte, war vereist, und Schneefelder reichten nordwärts bis zum Äquator. Über einen großen Teil der östlichen Hemisphäre breitete sich jener annähernd kreisrunde Kontinent aus, den sie »Frisbee« nannten, eine rostrote Masse, durchsetzt vom leuchtenden Blau von Seen und gesäumt von verwitterten Bergen. Das Zentrum wurde von einem riesigen Gebilde beherrscht, einem Berg mit einer Basis von mehreren Hundert Kilometern Durchmesser und einer zerklüfteten Caldera auf dem Gipfel. Der Berg hatte so große Ähnlichkeit mit Olympus Mons auf dem Mars, so dass er unausweichlich denselben Namen bekommen hatte; er verlieh dem ganzen Kontinent eine riesige, aber flache Wölbung und bestimmte damit sein Gesamtprofil in solchem Maße, dass der Spitzname »Frisbee« gut passte. Im Westen des Gürtels erstreckte sich ein Archipel, eine weit verstreute Gruppe von Inseln, manche so groß wie England oder Neuseeland, die sie »die Streusel« nannten. Ein weiterer Kontinent am Südpol namens »die Kappe« war gegenwärtig in Dunkelheit getaucht und unter Hunderten von Metern Winterschnee begraben. Das Weltmeer selbst hatte noch keinen Namen; die Meere konnten getauft werden, wenn sie bereit waren, sie zu befahren, dachte Holle.
Die aufregendsten Merkmale waren die purpurroten Flecken an den Küsten der Kontinente und den Seeufern: Leben, einheimisches Leben auf der Erde II, irgendwelche Pflanzen, die eifrig das Licht von 82 Eridani nutzten, um mit ihrer eigenen, einzigartigen photosynthetischen Chemie Kohlendioxid in Sauerstoff umzuwandeln.
Venus begann ohne Einleitung.
»Ihr habt alle Zugriff auf die vollständigen Berichte im Schiffsarchiv. Heute werde ich nur die wichtigsten Erkenntnisse zusammenfassen.
Wir sind seit sechs Monaten hier in diesem System. Wir haben die Atmosphäre, das Land und die Meere spektroskopisch auf allen Wellenlängen untersucht, haben mit Hilfe von Radar den Untergrund sondiert und die Meeresböden kartographiert, und wir haben auch eine Reihe von Penetratorsonden hinuntergeschickt, um vor Ort Proben zu nehmen.« Das waren Landefahrzeuge, die schlanken Raketen ähnelten, gehärtet, um einen heftigen Aufprall zu überstehen und sich ein paar Meter tief in den Boden zu graben, ausgerüstet mit Erdbildmesskameras, die Nahaufnahmen von den letzten Phasen des Abstiegs lieferten, sowie Seismometern, chemischen Sensoren, Wärmefühlern und Magnetometern.
»Hier ist die gute Nachricht«, sagte Venus. »Allem Anschein nach haben wir eine Welt vor uns, die ungefähr die richtige Masse und das richtige Sortiment flüchtiger Stoffe besitzt, die in einem stabilen, kreisförmigen Orbit ungefähr in der richtigen Entfernung von ihrer Sonne kreist, so dass sich an der Oberfläche stabile Wassermeere bilden konnten. ›Richtig‹ heißt, sie ist erdähnlich.
Und im Prinzip bewohnbar. Wenn man mit einer der Raumfähren landen und ins Freie treten würde, wäre man einer Schwerkraft von ungef?hr achtzig Prozent der Erdschwerkraft ausgesetzt; die Erde II ist nicht so massiv wie die Erde und hat einen kleineren Durchmesser. Momentan ist der n?rdliche Sommer etwa zur H?lfte vorbei. St?nde man am Pol, s?he man die Sonne nah am Zenit kreisen, unmittelbar ?ber sich. Am ?quator kreist die Sonne um den Horizont, sinkt vielleicht f?r ein paar Stunden pro Tag darunter, je nachdem, wo genau man sich befindet. Es ist kalt, am Boden liegt Schnee, aber es ist nicht schlimmer als ein Wintertag in einer der gem??igten Zonen der Erde.
Wenn die Sonne am Himmel steht, bräuchte man nicht mehr Schutz als eine anständige Jacke, feste Stiefel und eine Schutzmaske, um draußen herumzulaufen. Rein von der Sonneneinstrahlung her könnte man die Haut entblößen; es gibt eine gesunde Ozonschicht. Man bräuchte aber einen gewissen Schutz vor der kosmischen Strahlung; das Magnetfeld des Planeten ist erheblich schwächer als das der Erde. Die Luft ist atembar, glauben wir. Es ist im Grunde ein Stickstoff-Sauerstoff-Gemisch von ungefähr denselben Proportionen wie die Erdatmosphäre. In der ersten Zeit müsstet ihr eine Schutzmaske tragen, falls Spurengifte geologischen oder vielleicht auch biologischen Ursprungs vorhanden sind.
Wir wissen, dass es da unten Leben gibt. Leben auf mikrobieller und, wie es scheint, schlichter Mehrzeller-Ebene, vielleicht so was wie Stromatolithen. Dadurch gelangt der Sauerstoff in die Luft. Es ist unwahrscheinlich, dass es uns Schaden zufügen wird, unwahrscheinlich, dass es zu einer signifikanten Interaktion mit unserer fremden Biochemie kommen wird, aber wir werden es überprüfen müssen. Wir glauben, dass eine erdähnliche Flora Fuß fassen wird, sobald wir dort unten terrestrisches Erdreich ausgebracht haben: Unsere Feldfrüchte werden wachsen, und wenn wir unsere Tiere ausbrüten, werden sie genug zu fressen bekommen. Unsere Kinder werden herumlaufen und spielen k?nnen.? Daf?r bekam sie vereinzelten Applaus. In ihrem Gesicht lag jedoch keine rechte Freude.
»So viel ließ sich anhand der Beobachtungen von der Erde und vom Jupiter aus schon vermuten«, sagte sie. »Aber vom Sonnensystem aus konnten wir nur einen verschwommenen Punkt mit einigen Indizien bezüglich Masse, Umlaufbahn und Atmosphärenzusammensetzung sehen. Mehr nicht. Auf dieser Grundlage wirkte der Planet vielversprechend. Doch wie sich inzwischen herausgestellt hat, ist die Erde II keine so enge Schwester der Erde I.
Geologisch ist dies eine weitaus weniger aktive Welt als die Erde. Man kann das an den erodierten Gebirgsketten, den ebenen Landschaften erkennen. Die Seismometer der Penetratoren haben nur wenige Erdbeben entdeckt. Und wir sehen keine signifikanten Hinweise auf eine Kontinentaldrift, keine aktiven Gebirgsketten im Meer, die Platten formen, keine Subduktionszonen an Plattengrenzen – keine kollidierenden Platten, die Vulkanismus auslösen und Gebirgsketten aufwerfen, wie auf der Erde.
Die tektonischen Verschiebungen sind hier zum Erliegen gekommen. Sie fehlen nicht völlig, aber sie finden eindeutig in viel geringerem Tempo statt als auf der Erde. Und das Ergebnis ist die Geologie, die wir sehen. Der Frisbee hat gewisse Ähnlichkeit mit Australien; er ist uralt und stabil, so alt, dass seine Berge abgetragen, die Felsen zu Staub zerkleinert und vom Rost rot gefärbt sind. Der große Vulkan im Herzen des Frisbee ist ein Schildvulkan, wie Hawaii auf der Erde und genau wie Olympus Mons auf dem Mars – der Name, den wir ihm gegeben haben, ist gut gewählt. Er wurde von einem Magma-Diapir erzeugt, einem fontänenartig aufsteigenden Strom heißen Materials aus dem Mantel des Planeten. Olympus sitzt seit langer Zeit über diesem Diapir ? seit mehreren Hundert Millionen Jahren vielleicht. Auf der Erde gleiten die Kontinente in ?hnlichen Zeitr?umen vom ?quator bis zum Pol.
Ist das wichtig? Wir glauben schon, weil es um die langfristige Bewohnbarkeit des Planeten geht. Auf der Erde spielt die Plattentektonik eine Schlüsselrolle in den gewaltigen geologischen und biologischen Kreisläufen, die Gaia am Leben erhalten. Diese Welt, in der die tektonischen Prozesse stark reduziert sind, kann keine derart bedeutende Fracht des Lebens tragen.
Woran liegt es nun, dass die Erde II so viel weniger aktiv ist als die Erde? Erstens ist sie viel kleiner als die Erde. Wie der Mars muss sie einen größeren Teil ihrer inneren Entstehungswärme abgegeben haben, und ein größerer Teil ihres Bestands an radioaktiven Stoffen wird zerfallen sein. Die große innere Wärmekraftmaschine, die die Plattentektonik antreibt, ist also zum Stillstand gekommen. Und zweitens glauben wir, dass die Erde II tatsächlich weitaus älter ist als die Erde, um eine Milliarde Jahre oder mehr; was immer die Planetenbildung in diesem System ausgelöst hat, sie ist viel früher erfolgt als bei uns daheim.«
»Vor einer Milliarde Jahren hat diese Welt also vielleicht weitaus erdähnlicher ausgesehen«, warf Wilson ein.
»Ja. Und sie hatte auch eine viel reichhaltigere Biosphäre. Ich glaube, wir können davon ausgehen, dass wir Spuren einer vergangenen Komplexität finden werden, die verlorenging, als der Planet erschöpft war. Vielleicht ist das der Grund, warum wir keine Spuren noch existierenden intelligenten Lebens finden.«
Kelly stürzte sich auf diese Worte. »›Noch existierend‹? Soll das heißen, ihr habt Spuren nicht mehr existierender Kulturen gefunden?«
Holle verspürte eine unvernünftige Erregung.
Zur Antwort tippte Venus auf eine Taste eines Handhelds.
Die sich drehende Welt verschwand abrupt und machte einer der größeren Streusel-Inseln Platz, wie von einem niedrig fliegenden Flugzeug aus gesehen. Früher einmal mochte sie gebirgig gewesen sein; jetzt waren ihre Berge zu stummelförmigen Erhebungen verwittert. »Wir nennen sie Klein-Jamaika.« Venus zeigte auf eigentümliche Merkmale auf einer Ebene in der Nähe des Meeres. »Seht ihr das?« Es waren schwach sichtbare Kreise, Andeutungen von Gebilden mit geraden Linien. »Wir wissen nicht, was das ist. Ihr müsst euch ins Gedächtnis rufen, dass diese Insel in jedem lokalen Winter von Packeis bedeckt ist; etwaige Spuren von Oberflächenstrukturen, von Gebäuden und Städten, wären schon längst zerstört worden. Wir meinen, dass es sich möglicherweise um Überreste eines Steinbruchs handelt. Die könnten bis zu einer Milliarde Jahre lang erhalten bleiben. Vielleicht ist es auch was anderes, zum Beispiel eine Stadt. Es gibt noch mehr Indikatoren für Intelligenz. Wir haben keine Anzeichen von tief liegenden Kohlenstofflagern gefunden. Falls es auf dieser Welt Öl oder Kohle gegeben hat – oder die lokalen Entsprechungen –, sind sie längst verschwunden. Keine Anzeichen von besonders reichhaltigen oberflächennahen Mineralerzschichten. Und auch nur eine geringe Zahl von Asteroiden in diesem System.«
Wilson verschränkte die Arme. »Das verstehe ich nicht. Wofür sind das Indikatoren?«
»Dafür, dass jemand die leicht zugänglichen Ressourcen verbraucht hat – das Öl, die einfach abzubauenden Erze, ja sogar nicht planetengebundene Ressourcen in den Asteroiden. Und dann sind sie ausgestorben oder weggegangen. Kann sein, dass wir irgendwelche direkten Beweise finden, wenn wir unten auf der Oberfläche anfangen, richtige Archäologie zu betreiben.« Sie zuckte die Achseln. »Da gibt’s eine Menge Sand zu sieben.«
»Mein Gott«, flüsterte Holle.
»Ich weiß«, sagte Kelly. »Es ist nicht gut für uns. Aber ist es nicht grandios?« Und einen Moment lang war es, als wären sie wieder Kandidaten, die gemeinsam über ein wissenschaftliches Wunder staunten. Heute waren sie jedoch nicht wegen der Wissenschaft hier.
Jemand rief: »Und was ist mit der Schiefe der Ekliptik? Ich dachte, das wäre das große Problem.«
Venus gestattete sich ein trübseliges Lächeln. »Das Beste habe ich mir bis zum Schluss aufgehoben.«
Sie rief ein neues Display auf. Es zeigte die Erde II und ihre Sonne, 82 Eridani. Das Schaubild war nicht maßstabsgetreu, Planet und Stern sahen aus wie zwei Glühbirnen, und die Umlaufbahn des Planeten war ein leuchtend gelber Kreis um die Sonne. Die Rotationsachse des Planeten war ein heller, durch seinen Korpus getriebener Splitter, der fast genau auf die Sonne wies.
»Während der Planet um die Sonne läuft«, erklärte Venus, »zeigt die Achse immer in dieselbe Richtung – genau wie bei der Erde. Ihr seht, was für Folgen das hat.« Sie tippte auf eine Taste, und der Planet sauste um seinen Stern, ohne dass die Achse ihre Ausrichtung im Weltraum veränderte. Das Jahr auf der Erde II war ungefähr genauso lang wie das Erdjahr, so dass der Nordpol nach sechs Monaten im Schatten lag, der Südpol hingegen im Licht. »Die Schiefe der Erdekliptik – ihre Achsneigung – beträgt ungefähr dreiundzwanzig Grad, die der Erde II hingegen neunzig Grad. Das Leben auf der Erde hat sich so entwickelt, dass es einen moderaten Jahreszeitenverlauf bewältigen kann. Hier haben wir es jedoch mit dem denkbar extremsten Jahreszeitenverlauf zu tun.
Jeder Teil des Planeten außer einem Äquatorialstreifen muss Monate permanenter Dunkelheit und Monate permanenter Helligkeit durchstehen. Abseits des ?quators leidet man unter extremer Hitze und Trockenheit, gefolgt von Monaten arktischer K?lte ? wir sch?tzen, dass die Oberfl?chentemperatur auf einem gro?en Teil der zum Weltraum zeigenden Hemisph?re auf hundert Grad unter Null absinkt und dass sich dort eine gewaltige Schnee- und Eisdecke bildet. Auch am ?quator zu leben w?re eine Herausforderung, denn selbst im Hochsommer beider Hemisph?ren w?rde die Sonne dort niedrig stehen, die W?rmeausbeute w?re minimal, das Klima winterlich.?
Venus rief erneut das Bild des Planeten auf, die umgekippte Welt mit ihren freundlich aussehenden Kontinenten. Jetzt ließ sie das Bild eine beschleunigte Simulation der Jahreszeitenzyklen durchlaufen. Eis überzog die Kontinente, gab sie dann wieder frei und ließ sie ausgetrocknet zurück, ziegelrot. »Wir können das nicht überleben«, sagte sie. »Nun ja, vielleicht könnten wir uns an das eine oder das andere Extrem anpassen. Aber nicht an diese Umschwünge Jahr für Jahr, von glutheißer Trockenheit zu antarktischer Kälte. Unsere Pflanzen, unsere Tiere könnten ebenso wenig damit fertigwerden. Die einzige möglicherweise für Siedlungszwecke geeignete Region läge am Äquator, aber es gibt nur sehr wenig äquatoriales Land, ein paar Inseln und ein Stück des Gürtels … Wir haben Pech gehabt. Von der Erde aus konnten wir die Rotationsachse nicht erkennen. Wir haben diese Merkmale nicht vorhersagen können.«
Sie verstummte. Ihr Publikum schwieg, bis auf die herumzappelnden Kinder, und sah düster zu, wie der Spielzeugplanet seine zyklischen Jahreszeiten durchlief.
Theo Morell überraschte Holle, indem er von oben rief: »Du sagst, das sei von der Erde aus nicht zu sehen gewesen. Okay. Aber einige dieser Probleme musst du doch schon aus größerer Entfernung bemerkt haben, vor allem diese Achsengeschichte. Schlie?lich hast du die letzten zehn Jahre damit verbracht, aus deiner Kuppel ins All zu starren.?
»Ja, ich …«
»Wann hast du gewusst, dass die Erde II ein Schlag ins Wasser sein würde?«
Venus warf Wilson einen Blick zu, der die Achseln zuckte und wegschaute. »Vor ungefähr zwei Jahren. Damals begannen sich die Daten zu erhärten – einige Vermutungen hatten wir auch schon vorher gehabt. Vor zwei Jahren war ich beispielsweise sicher genug, um damit zu Wilson zu gehen.«
Indem sie Wilson erwähnte, stellte sie sich unter seinen Schutz, erkannte Holle. Aber die Stimmung im Raum schlug um, Schock und Enttäuschung wichen einer Art Zorn. Theo rief: »Und ihr habt sie geheim gehalten, eure ›Vermutungen‹?«
Wilson schaltete sich ein. »Das war alles, war wir hatten. Vermutungen. Wir mussten hierherkommen, um sicher zu sein. Und außerdem, wir konnten wohl kaum den Kurs ändern. Ihr wisst, dass man eine Warp-Blase nicht von innen kontrollieren kann. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, sich mit der Sache zu befassen, und genau das tun wir gerade, ganz offen.« Er wandte sich an Venus. »Du hast immer noch das Wort. Was schlägst du vor?«
Sie blickte mit unbewegter Miene auf. »Ich denke, dass wir auf der Erde II nicht leben können. Die Reise ist noch nicht vorbei. Wir müssen weiter. Tut mir leid, aber so ist es.«
Einen Moment lang herrschte schockierte Stille. Dann begannen die Leute, durcheinanderzurufen und auf Venus zu zeigen, die trotzig neben ihrem Modell stand und sich zweifellos wünschte, wieder in der Zuflucht ihrer Kuppel zu sein.
Wir müssen weiter, hatte Venus gesagt. Aber, fragte sich Holle fasziniert und überwältigt, weiter wohin?
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Wilson trat in die Mitte des Raums und brüllte: »Schnauze! Ich bin der Sprecher, vergesst das nicht. Also hört auf zu quatschen. « Das löste ironisches Gelächter aus und brach die Stimmung ein bisschen auf. »Immer einer nach dem anderen. Elle.« Wilson zeigte auf Elle Strekalow, die auf einem Steg stand. »Du hast bei all dem mit Venus zusammengearbeitet. Was hast du zu sagen?«
»Dass ich anderer Meinung bin«, rief Elle herunter. Holle fragte sich sofort, ob Wilson sie als Erste aufgerufen hatte, weil er wusste, dass sie Venus nicht zustimmen würde. »Vielleicht schaffen wir’s hier. Du hast selbst gesagt, Venus, dass es zumindest etwas äquatoriales Land gibt, das wir besiedeln könnten. Eine andere Möglichkeit wären aneinandergekoppelte Flöße …«
Paul Shaughnessy brach in johlendes Gelächter aus. »Flöße? Wenn wir auf Flößen leben wollten, hätten wir auf der verdammten Erde bleiben können.«
»Wo ihr Illegalen auch besser geblieben wärt«, erwiderte jemand laut, und es gab wütendes Murren, die üblichen, kaum unterdrückten Spannungen.
»Immer einer nach dem anderen«, knurrte Wilson. »Sprich weiter, Elle.«
»Okay, keine Flöße. Wir müssen da runter und verstehen, wie das einheimische Leben überlebt – denn es überlebt ja, das sehen wir. Bäume zum Beispiel. Weil das Eis jährlich wegschmilzt, d?rfte die Dicke der Eisschicht gering sein, vielleicht zwei oder drei Meter. Man k?nnte sich einen Baum mit langen Wurzeln vorstellen, der Wasser und N?hrstoffe tief unter der gefrorenen Oberfl?che anzapft. Nadelartige Bl?tter wie eine Konifere, die er nie abwirft. Irgendeine Anpassung der Transpiration w?hrend der trockenen Monate. Wir k?nnten B?ume von der Erde gentechnisch so manipulieren, dass sie auf diese Weise leben k?nnen?, beharrte Elle. ?Was Tiere betrifft, ihr entscheidendes Merkmal ist Mobilit?t. Aus unserem Zuchtstock k?nnten wir Wanderherden entwickeln. Insbesondere der G?rtel ist ein Nord-S?d-Korridor, in dem die Herden der Trockenheit und dem Eis entkommen und dorthin ziehen k?nnten, wo das Klima in einem gegebenen Monat gem??igt ist.?
»Und was ist mit den Menschen?«, rief Masayo. »Werden wir auch wandern müssen?«
»Nein«, sagte Elle trotzig. »Wir könnten uns Schutzräume suchen, in denen wir überwintern und übersommern können. Die Extreme überstehen. Höhlen vielleicht.«
»Höhlen?«, rief Paul Shaughnessy. »Erst Flöße, und jetzt Höhlen?«
»Seht mal«, fuhr Elle fort, »dieser Planet ist nicht unbewohnbar. Es gibt Regionen, in denen die Vegetationsperiode länger ist als auf der Erde – obwohl man noch viel länger auf die nächste Wachstumsphase warten muss. Mit der Zeit und einem Programm genetischer Modifikation, kontinentweiter Aussaat, dem Bau oder Umbau geeigneter Schutzräume und letztlich vielleicht auch einem gewissen Maß an Terraformung …«
»Wir werden nicht die Mittel haben, all das zu bewerkstelligen, selbst wenn es möglich wäre«, wandte Venus ein. »Wir werden vom Tag unserer Landung an ums Überleben kämpfen.«
»Noch jemand?«, fragte Wilson.
Holle hob die Hand. »Venus, du hast gesagt, wir könnten nicht hier bleiben, wir müssten weiter. Wohin denn?«
Venus lächelte. »Danke, Holle. Wisst ihr, während unserer interstellaren Reise haben wir die schon auf der Erde begonnene astronomische Durchmusterung ferner Himmelsregionen ausgeweitet und nach bewohnbaren Planeten gesucht, so weit unser ›Auge‹ reichte. Wir dachten, es sei eines der größten Vermächtnisse, die wir der nächsten Generation hinterlassen könnten. Und dabei sind wir auf das hier gestoßen – ein alternatives Ziel.« Sie schnippte effekthascherisch mit den Fingern.
Das große Bild der Erde II löste sich auf und gab den Blick auf einen tristen roten Stern und einen Planeten frei, der ihn umkreiste, grau-schwarz im zinnoberroten Licht, mit glänzenden Ozeanen. Der blutige Schein des Sterns erfüllte das improvisierte Auditorium.
»Die Erde III«, verkündete Venus. »Zumindest glaube ich, sie könnte es sein. Der beste erreichbare Kandidat, den wir bei unserer Durchmusterung gefunden haben. Und viel bewohnbarer als die Erde II. Ich habe relevante Daten ins Archiv gestellt.«
»Scheiße«, sagte Wilson. »Das ist ein Krypton! Gordo hat immer geschworen, er würde uns nicht zu einem Krypton schicken. Du wärmst doch bloß diese alten Diskussionen von vor zehn Jahren auf.«
»Ja, das stimmt«, sagte Venus verbissen. »Ja, es ist kein Klon der Erde. Ja, wir hatten diese Diskussionen damals in Gunnison. Aber – na ja, die meisten Sterne in der Galaxis sind nicht wie Sol. Zwei Drittel von ihnen sind Sterne der M-Klasse, wie dieses Baby. Wenn wir lernen können, dort zu leben, können wir überall leben.«
»Blödsinn!«, schrie jemand, und die Massenstreitereien brachen erneut aus. Die Leute schrien sich wütend an und zeigten mit Fingern aufeinander.
Holle hingegen wurde von Venus’ Rhetorik mitgerissen. Aber es gab natürlich ein entscheidendes Faktum, das Venus bisher nicht angesprochen hatte.
Grace Gray hob die Hand. »Venus – welcher Stern ist das?«
»Von der Erde aus gesehen befindet er sich im Sternbild Lepus, der Hase. In der Nähe des Orion. Nicht mit bloßem Auge sichtbar; er hat keinen Namen, nur eine Katalognummer.«
»Und wie weit ist es bis dorthin?«
Venus holte tief Luft. »Er ist weiter draußen, weiter von der Erde entfernt. Noch einmal neunzig Lichtjahre.«
Bei dreifacher Lichtgeschwindigkeit hieß das: eine Reise von weiteren dreißig Jahren.
Mehr Empörung. »Noch dreißig Jahre in diesem stinkenden Tank?«
Kelly trat abrupt an den Rand des Stegs vor, den sie sich mit Holle teilte. Bei der Art, wie sie sich bewegte, wurde Holle bang ums Herz. Dies war ihr Moment, und sie nutzte ihn.
Wilson wirkte nicht gerade begeistert, aber er nickte und erteilte Kelly damit das Wort.
»Kommen wir doch zur Sache«, sagte sie. »Diese Geschichte mit der Erde III ist ein Ablenkungsmanöver, eine Chimäre. Die Lösung ist offensichtlich. Wenn es uns größere Anstrengung kostet, hier zu überleben, als wenn wir auf der Erde geblieben wären, hätten wir nicht hierherkommen sollen, es war die Mühe nicht wert.«
»Und deshalb …«, soufflierte Wilson.
»Und deshalb sollten wir heimfliegen.« Sie schaute mit zornigem Blick in die Runde, als wollte sie sagen: Wagt es bloß nicht, mich niederzubr?llen. ?Wir setzen die Reise nicht bis in alle Ewigkeit fort. Wir fliegen nach Hause, zur Erde.«
»Das ist unmöglich«, protestierte Venus. »Nach Hause fliegen – was soll dort sein? Nächstes Jahr geht der Mount Everest unter.«
»Ganz egal, was wir dort vorfinden, wir kommen schon damit zurecht. Die Arche ist so konstruiert, dass sie uns mindestens fünfzehn Jahre lang am Leben erhält; ich bin sicher, wir können diese Spanne so ausdehnen, dass sie auch die sieben Jahre umfasst, die wir für die Heimreise mit Überlichtgeschwindigkeit brauchen würden. Zane, wir haben doch noch genug Antimaterievorräte, um die Warp-Blase wieder aufzubauen, nicht wahr? Wir können heimfliegen. Wir müssen! Wir haben unser Bestes getan, wir haben diesen weiten Weg zurückgelegt, aber es sollte nicht sein. Dies ist kein geeigneter Ort für uns, für unsere Kinder. Bringen wir sie nach Hause. Mal sehen, was wir auf der Erde aufbauen können.«
Erneut brachen im Publikum zornige Diskussionen los. Holle versuchte völlig schockiert, durch dieses harte, ehrgeizige Gesicht in Kellys Seele zu schauen.
Wilson wandte sich Kelly zu. Seine Miene war wütend. »Das kommt nicht aus heiterem Himmel, stimmt’s? Wie lange hast du diesen kleinen Schachzug schon geplant?«
Sie lächelte ihn mit starrem Blick an. »Und wie lange hast du geplant, mich zu stürzen, während wir noch das Bett miteinander geteilt haben? Beurteile mich nicht nach deinen Maßstäben, Wilson.« Sie machte kehrt, entfernte sich von ihm und war sofort von einer schnatternden Unterstützerschar umgeben.
Wilson, die Arme verschränkt, das Gesicht von enormer Frustration gefurcht, blieb nichts anderes übrig, als die hitzige Debatte weiterlaufen zu lassen. Das Geschrei hallte von den nackten Modulwänden wider.
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Schließlich löste Wilson die Versammlung auf. Die Arche würde sich nicht von selbst fliegen, während sie sich stritten, und Kinder mussten gefüttert werden.
Aus einer spontanen Überlegung heraus teilte Wilson die Crew jedoch in Studiengruppen ein, die sich eingehender mit den verschiedenen Optionen befassen sollten. Wie groß waren die Chancen wirklich, auf Erde II zu überleben? Konnten sie auf Venus’ Erde III tatsächlich ein neues Zuhause finden, und würden das Schiff und die Crew die noch längere Reise dorthin aushalten? Und wenn das Schiff die sieben Jahre zurück zur Erde überstand, was sollten sie bei ihrer Ankunft auf einer Meereswelt tun? Er sagte, er werde die Versammlung während der ersten Wache am nächsten Morgen wieder einberufen; vielleicht könnten sie dann zu einer durchdachteren Entscheidung über die Zukunft gelangen.
Holle sorgte dafür, dass in ihren eigenen Zuständigkeitsbereichen alles in Ordnung war, dass während der Nachtwache nichts kaputt oder in Flammen aufgehen würde. Dann holte sie sich etwas zu essen und wanderte von einer Gruppe zur anderen. Die Leute hockten in Ecken und Winkeln von Hawila beieinander und redeten in einem fort; manche diskutierten per Handheld oder luden sich Daten aus dem Schiffsarchiv herunter. Einige kehrten nach Seba zurück, aber die meisten blieben in Hawila. Auch Stunden später, als die Lichter der Arche zum matten Schein der Nachtzeit ged?mpft wurden, hatten die Gespr?che noch kein Ende gefunden; das Gemurmel erf?llte das ganze Modul.
Die Menschen reagierten emotional, bemerkte Holle, nicht jedoch auf die Wissenschaft, auf die Fakten. Einige sehnten sich einfach danach heimzufliegen. Masayo Saito, der sein Kind vermisste, gehörte zu dieser Gruppe, und Holle nahm an, dass die Shaughnessys sowie andere Illegale und Eindringlinge, die ursprünglich gar nicht damit gerechnet hatten, in die Crew eines interstellaren Raumschiffs aufgenommen zu werden, ebenso empfanden. Es war möglich, dass eine solche Sehnsucht auch in Kellys Herz nistete, so etwas wie der Wunsch, mit dem Kind, das sie zurückgelassen hatte, ins Reine zu kommen. Aber Holle war ziemlich sicher, dass schlichte Rache an Wilson ebenfalls ein Motiv war.
Andere, die den Gedanken nicht ertragen konnten, noch mehr Jahre ihres Lebens in diesen Blechdosen zu vergeuden, wollten nur hinaus – die Reise beenden, sich hier niederlassen, ganz gleich, als welch unwirtliches Gestade die Erde II sich erweisen würde. Wer Kinder hatte, neigte zu solchen Gefühlen, weil er seine Kinder nicht zu einem Leben in einem Tank verurteilen wollte.
Wieder andere waren von Venus’ visionärer Rhetorik fasziniert. Warum nicht weiterfliegen und nach der ganzen Galaxis greifen, statt in die strapaziöse, vielleicht sogar tödliche Falle der Erde II zu gehen? Dafür schlug auch Holles Herz. Aber sie schreckte vor dem Gedanken zurück, weitere dreißig Jahre in diesen Metallhülsen verbringen zu müssen. Sie war zweiunddreißig Jahre alt. Sie versuchte zu erfassen, was es bedeutete, wenn sie mit sechzig noch immer in einem Raumschiff saß, aber es gelang ihr nicht.
Und dann diese brutale Politik der Arche, die bereits seit einer Dekade schwärte, Kelly und Wilson, die Leute wie Eisenspäne zu entgegengesetzten Magnetpolen zogen und die Crew auseinanderrissen.
In dieser Nacht fand Holle keinen Schlaf, ebenso wenig wie viele andere. Dennoch erschienen ihr die Stunden kurz und die offenen Fragen noch nicht ausreichend geklärt, als Wilson sie erneut in dem improvisierten Auditorium auf Deck acht zusammenholte.
Thandies Kristallkugel war an diesem Morgen inaktiv, ein lebloses Stück Technik. Im hellen Licht der Bogenlampen wirkten die Leute müde, erschöpft und bedrückt.
Wilson schaute sich mit finsterer Miene um, die Hände in die Hüften gestemmt. Holle sah, dass er mit dieser Situation kaum besser hätte umgehen können. Er hatte den Leuten Zeit gegeben, sich zu beruhigen, und jetzt, am Morgen, schien das Universum ein kälterer und rationalerer Ort zu sein. Wilsons Führung hatte ihre Mängel, aber er legte ein nüchternes Verständnis für die menschliche Natur an den Tag.
»Ich möchte in dieser Angelegenheit keine Zeit verschwenden«, begann er. »Versuchen wir, eine Entscheidung zu treffen, uns hinter sie zu stellen und sie in die Tat umzusetzen. Alle einverstanden? Okay. Soweit ich sehe, liegen drei Optionen auf dem Tisch. Erstens: hier bleiben, Erde II besiedeln. Zweitens: mit der Arche zur Erde zurückfliegen. Drittens: weiterfliegen zu Venus’ Erde III, im Lepus. Ist das richtig so? Also, stimmen wir ab. Wir fangen mit Handzeichen an, und ich hoffe bei Gott, dass wir eine bequeme Mehrheit für die eine oder andere Option bekommen. « Er warf einen Blick auf einen Monitor. »Ihr da drüben in Seba, seht ihr mich? Also gut. Ich bitte um Handzeichen f?r die Erde II ? und f?r die Erde ? und f?r die Erde III. Schei?e.?
Gedämpfte Belustigung unter den Mitgliedern der Crew, schwarzer Humor. Alle drei Alternativen hatten beträchtliche Unterstützung gefunden.
»Plan B«, rief Wilson. »Wir teilen uns in Gruppen auf. Dann bekommen wir eine akkurate Zählung und sehen weiter. Wer zur Erde II will, kommt runter und versammelt sich hier drüben. Erde links von mir. Erde III rechts …«
Bei Holle schrillten die Alarmglocken. Sie befürchtete sofort, dass die Gruppe vielleicht nie wieder zusammenfinden würde, wenn Wilson die unterschiedlichen Meinungen in eine physische Spaltung umsetzte. Aber es war zu spät. Ihr blieb nichts weiter übrig, als sich in Bewegung zu setzen und ihrer eigenen Entscheidung Ausdruck zu verleihen.
Sie gesellte sich zu der Gruppe um Venus, die zur Erde III weiterfliegen wollte. Wilson kam ebenfalls dazu. Grace Gray schloss sich ihnen zusammen mit Helen an, ebenso wie Theo Morell. Desweiteren Zane, was für Holle keine Überraschung war, und Doc Wetherbee. Das war eine.
Holle sagte: »Du bleibst also bei deinem Warp-Antrieb, Zane?«
»Nicht nur das.« In seinen Augen war ein Glanz, eine Art manischer Berechnung. Holle glaubte, dass dies Zane 3 war, die Amnestiker-Hülse, die übrig geblieben war, als seine anderen Alter Egos sich abgespalten hatten.
»Was dann?«
»Außerhalb des Schiffes ist nichts. Nichts! Wenn die anderen rausgehen, hören sie auf zu existieren. Ich habe gar keine andere Wahl, als an Bord zu bleiben.«
Wetherbee schenkte Holle ein grimmiges Lächeln. »Wie könnte ich meinen Starpatienten allein lassen?«
Venus sah Wilson an. »Hätte nicht gedacht, dass du zu uns kommen würdest, Wilson, nach dem, was du über ›Kryptone‹ zu sagen hattest.«
Wilson grinste. »Pure egoistische Berechnung. Schau dich um. Hier in diesem Schiff, bin ich ein großer Mann. Unten auf einem Planeten bin ich gar nichts. Ich will kein Bauer sein. Und wenn ich zur Erde zurückfliege, wird man mich wahrscheinlich vor den Kadi zerren. Nein, ich bleibe bei dem, was ich habe.«
Holle schaute sich um und beobachtete, wie sich die anderen Gruppen bildeten. Wie zu erwarten, wurde die Erde-Fraktion von Kelly Kenzie angeführt, mit Masayo Saito und einer Reihe anderer Illegaler, einschließlich der Shaughnessys, an ihrer Seite. Zu den Möchtegernkolonisten der Erde II gehörten Elle und ihr Partner Thomas Windrup, außerdem Cora Robles, eine werdende Mutter. Holle nahm eine rasche Zählung vor und schätzte, dass Venus’ Erde-III-Gruppe, die größte, etwas über vierzig Erwachsene mit ihren Kindern umfasste, Kellys Erde-Gruppe ungefähr neunzehn und das Erde-II-Lager vielleicht fünfzehn Personen.
Als die Versammlung sich in Gruppen aufgeteilt hatte, trat Wilson vor. »Und was nun? Ich denke, das naheliegende Verfahren wäre, den dritten Platz zu streichen. Dann, je nach den Zahlen …«
»Von wegen«, fauchte Kelly Kenzie. Sie trat vor und baute sich vor Wilson auf. »Ich sehe genau, wohin das führen würde. Auf gar keinen Fall werde ich mich dir und deinen Manipulationen unterwerfen. Nicht mehr, nicht in dieser Frage.«
»Ach ja? Das heißt, bloß weil du es sagst, treten wir das ganze Verfahren in die Tonne? Du hast nichts als Scheiße im Kopf, Kelly. Hier geht’s gar nicht um die Erde, sondern bloß um mich, stimmt?s? Um dich und mich. Gordo Alonzo w?rde das als Meuterei bezeichnen.?
»Gordo ist nicht hier. Du kannst es nennen, wie du willst.«
Sie standen sich unversöhnlich gegenüber. Holle sah, dass Wilsons hartgesichtige junge Männer im ganzen Raum Position bezogen. Auf einmal war die Krise da.
Und Zane trat mit beherzten Schritten in die Mitte des Decks. Er grinste tatsächlich.
»Verdammt«, sagte Doc Wetherbee leise zu Holle. »Ich hoffe, das ist Jerry.«
Wilson funkelte Zane an. »Hast du irgendwas zu sagen, du Spinner?«
Zane ließ den Blick in die Runde schweifen und lenkte damit die Aufmerksamkeit der Anwesenden allmählich auf sich. »Wusste ich’s doch, dass das dabei herauskommen würde. Diese Unentschiedenheit. Wir sind wie eine Horde Kinder. Wir werden uns nie auf irgendwas einigen. Während ihr alle die Nacht damit verbracht habt, darüber zu diskutieren, wie man auf der Erde II Bäume züchten kann, habe ich also die technischen Aspekte der nächstliegenden Lösung ausgearbeitet.«
»Und die wäre?«
»Wir teilen uns auf«, sagte Zane munter.
»Das ist verrückt«, sagte Wilson sofort.
Zane tippte ihm unverfroren mit dem Finger gegen die Brust. »Nein. Du willst bloß nicht, dass dein Königreich in drei Teile aufgespalten wird. Technisch geht es. Wir verfügen über erhebliche Redundanzen. Wir können die Archen trennen, eine für die Erde, eine für die Sterne. Mit unseren Ersatzteilen können wir einen separaten Warp-Generator bauen! Und wir haben vier Weltraum-Boden-Shuttle-Gleiter. Mit einem können die Erde-II-Kolonisten landen, bleiben einer für die Rückkehr zur Erde und zwei f?r die Erde III. Es wird Zeit und M?he kosten, aber wir k?nnen es schaffen ??
Es gab unverzüglich Einwände, vor allem wegen der damit einhergehenden Gefährdung des Konstruktionsprinzips der Redundanz – keine Ersatzteile mehr, wenn mit ihnen jetzt ein weiteres Schiff gebaut wurde. Außerdem wären die Pläne der Sozialingenieure für genetische Diversität damit hinfällig; Holle hatte keine Ahnung, ob selbst vierzig Personen für eine lebensfähige Kolonie ausreichen würden, ohne dass es zu tödlicher Inzucht käme. Jeder Instinkt in ihrem Innern sagte ihr, dass dies falsch war, dass drei kleinere Gruppen viel verwundbarer sein würden als eine große.
Aber sie sah auch, dass Zanes Vorschlag auf sofortige Zustimmung gestoßen war. Wenn sie sich aufteilten, käme Kelly von Wilson weg. Thomas Windrup würde Jack Shaughnessy und dessen Narben los sein. Ihre Zukunft, und vielleicht die Zukunft der gesamten Menschheit, würde davon bestimmt werden, dass sie einander nach einem Jahrzehnt auf der Arche samt und sonders satthatten.
Mike Wetherbee knurrte: »Merkst du, was da passiert ist? Der Verrückteste auf dem Schiff hat gerade über unsere ganze verdammte Zukunft entschieden. Und zwar, indem er uns alle in eine Art Spiegel seines zerbrochenen Ichs verwandelt hat. Gütiger Gott! Er sollte uns therapieren, nicht andersrum.«
73
NOVEMBER 2052
Es dauerte fast ein Jahr, die Aufteilung ins Werk zu setzen.
Unter Zane Glemps erratischer Leitung demontierten sie den Warp-Generator und rekonstruierten ihn mit Hilfe der Ersatzteile in doppelter Ausfertigung. Kelly und Wilson handelten aus, welche Gruppe welches Modul nehmen würde; sie gelangten zu dem Schluss, dass es fairer war, wenn Kellys Crew mit ihrer kürzeren Rückreise zur Erde das vom Feuer beschädigte Seba, Wilson hingegen Hawila nehmen würde. Diese Entscheidung schien logisch zu sein, aber Holle fragte sich, in welchem Maße dabei wieder einmal persönliche Dinge eine Rolle gespielt hatten. Und sie beluden einen einzelnen Shuttle-Gleiter, der Elles Crew auf die Erde II hinunterbringen sollte, mit einem Anteil am Werkzeug, an den Rohstoffen und dem Saatgut in dem Speicher, den Nathan Lammockson dem Projekt vor langer Zeit vermacht hatte.
Dann begannen sie sich voneinander zu verabschieden. Als Erste waren die Kolonisten der Erde II an der Reihe. Wilson arrangierte eine Art Feier, bei der jeder der Siedler einen kleinen, in der Maschinenwerkstatt der Arche hergestellten Globus ihres neuen Planeten aus rostfreiem Stahl bekam. Holle fiel es ungeheuer schwer, sich von Kandidatinnen und Kandidaten wie Cora, Thomas und Elle zu verabschieden, mit denen sie aufgewachsen war, mit denen sie ihr Leben lang ein gemeinsames Ziel verfolgt und mit denen sie alt zu werden erwartet hatte. Jetzt würde sie sie nie wiedersehen.
Die beiden Module waren noch immer mit einem Seil verbunden, drehten sich über dem Stahlozean der Erde II noch immer um ihr gemeinsames Schwerezentrum, als die Kolonie-Fähre ablegte. Alle, die an Bord der Arche geblieben waren, sahen zu, wie das kleine Raumfahrzeug in die hohe, dünne Atmosphäre der neuen Welt eintrat und einen leuchtenden Kondensstreifen aus glühendem Plasma erzeugte, der zu seinem Landeplatz auf dem Gürtel hinunterführte.
Dann kamen die letzten Umzugsaktionen zwischen den beiden Modulen, Seba und Hawila, der letzte Materialtransfer, die letzten Händedrücke. Holle ließ die Shaughnessys, mit denen sie seit dem Start in Gunnison eng zusammengearbeitet hatte, nur höchst ungern gehen. Aber sie wollten nach Hause.
Und schließlich wurde das Seil zum zweiten Mal seit dem Jupiter von seiner explosiven Guillotine durchschnitten, und die Module trieben auseinander.
Seba sollte als erstes Modul seine Warp-Blase erzeugen. Von Hawila aus schaute Holle, die neben Venus in der Kuppel saß, neugierig zu. Aus Holles Blickwinkel geschah es, als Seba gerade über das Antlitz der Erde II hinwegzog. Ein ganzer Teil des Planeten, eine unregelmäßige Scheibe, schien wie von einer unsichtbaren Faust zerknittert zu werden; die Farben von Land und Meer verliefen wie nasse Farbe. Aber dann nahm alles wieder seine ursprüngliche Form an, und Seba war fort.
Erst da entdeckte Wilson, dass Kelly Kenzie Mike Wetherbee, den einzigen Arzt, entführt und zur Erde mitgenommen hatte. Wilsons Zorn währte tagelang.