Fünfter Teil. 2059



74



JULI 2059



Es war Boris Caistor, der dreizehnjährige Boris mit seinen scharfen jungen Augen, der als Erster das neue Licht am Himmel bemerkte, einen Funken, der durch die tiefere Dunkelheit zwischen Wolkenbänken segelte.

»Thea hat ihn auch gesehen«, erklärte er Thandie Jones. »Sie sagt, sie kann eine Form erkennen. So was Langes und Dünnes, wie ein Splitter.«

Thandie, die auf einem Floß saß, das sich mitten auf dem Ozean auf den Wellen wiegte, schaute zum wolkenverhangenen Himmel hinauf und runzelte die Stirn. »Bestimmt zwei Splitter hintereinander, verbunden durch einen Faden …«

»Nee. Bloß einer. Kann natürlich sein, dass sie lügt. Thea lügt ständig oder denkt sich irgendwelches Zeug aus. Einmal hat sie gesagt, sie hätte so einen Wal gesehen, der …«

»Schon gut!«

Thandie war ziemlich sicher, dass Boris nicht verstand, was er da eigentlich gesehen hatte, und auch nicht erfasste, was es möglicherweise bedeutete. Und noch schlimmer, sie war ebenso sicher, dass es ihn nicht die Bohne interessierte. Thandie war Lily Brookes Beispiel gefolgt und versuchte, eine Art Bildungsprogramm für die Kinder auf dem Floß aufrechtzuerhalten. Aber viel mehr als Astronomie war nicht drin; der sich verändernde Sternenhimmel war das Einzige, was es zu sehen gab, das Einzige, was das Interesse dieser Kinder erregte, abgesehen von Essen, Schwimmspielen und den h?bschen K?rpern der anderen. Thandie vermutete, dass Boris? Gehirn sich ebenso aufl?ste wie das der anderen Angeh?rigen seiner Generation.

Aber er war ein anhängliches Kind und nett zu Thandie, seiner Ehrentante, so wie er damals, als sie ihm in einer Ansammlung von Flößen über dem versinkenden Gipfel des Mount Everest zum ersten Mal begegnet war, auch schon die Launen einer anderen alten Dame ertragen hatte, seiner Urgroßtante Lily Brooke. Außerdem war er aufgeweckt und aufmerksam, und obwohl auf diesem neuen, stürmischen Ozean immer so phänomenal schlechte Sichtverhältnisse herrschten, hatte er das neue Licht am Himmel als etwas Besonderes erkannt; vielleicht war es ja das, was Thandie schon seit einem Jahr zu sehen erwartete, wie sie ihm erklärt hatte.

Wenn Boris es gesehen hatte, dann andere auch. Also holte Thandie einen ihrer kostbaren Handhelds aus seinen solebeständigen Plastikhüllenschichten und lud den Akku über die Solarzellen auf. Sie postete Boris’ Sichtung an die Kaminrunde und erkundigte sich nach weiteren Beobachtungen; insbesondere wollte sie wissen, wann das Ding zum ersten Mal in der Erdumlaufbahn erschienen war.

Aber sie musste es mit eigenen Augen sehen, um vielleicht eine Vorstellung von seinen die Erde umkreisenden Bestandteilen zu bekommen.

Danach saß sie für ein, zwei und schließlich drei Nächte – Teufel nochmal, so lange es eben dauern würde – in ihrem alten, weitgereisten Klappstuhl auf dem Floß, eine Decke um die Beine gewickelt, und wartete darauf, dass die Wolken sich lichteten. Sie nickte immer wieder kurz ein. Mit ihren dreiundsiebzig Jahren und nach einem ziemlich harten Leben war sie zwar mit passabler Gesundheit gesegnet, aber die Feuchtigkeit setzte ihr zu und sie schlief viel.

Das Floß war groß, nach den Maßstäben derjenigen, die zwanzig Jahre oder mehr auf einem Ozean überlebt hatten, über dem der Fleck und seine Sturmsprösslinge ihre Runden drehten. Sein Grundgerüst bildeten Pontons aus Plastik-Ölfässern und Tonnen, überzogen von glitschigen, imprägnierten Planen, die mit orangefarbenen Stricken festgezurrt waren. Diese Konstruktion war früher durch eine Basis aus genmanipuliertem Seetang verstärkt worden, ein von AxysCorp entwickeltes Substrat, das sich von Sonnenlicht und den Produkten des Meeres ernährte, das wuchs und sich selbst reparierte. Nathan Lammockson hatte gehofft, dass diese Wundersubstanz die Rettung einer durchnässten Menschheit sein würde, doch wie sich herausgestellt hatte, wies sie einige fatale genetische Mängel auf. Nachdem sie schwarz geworden und zerbröckelt war, hatte Thandies Floßgemeinschaft Ersatzmaterialien von den Wracks anderer, noch unglücklicherer Flöße ergattern können, wiederverwerteten Abfall der untergegangenen Zivilisation unter ihren Kielen.

Auf dieser Basis stand eine Art schwimmender Hüttensiedlung aus Plastikplanen und Wellblech, abgedichtet gegen das Wetter und die Salzluft des Meeres. Die Menschen lebten von Fisch und anderen Meeresgeschöpfen, von Vogeleiern und verarbeitetem Seetang, und sie sammelten ihr Trinkwasser in Eimern, wenn es regnete. In der Mitte des Floßes befand sich so etwas wie eine Farm, ein Haufen Mutterboden von dem Hang in den Anden, an dem das Floß gebaut worden war. Dort wuchsen magere Feldfrüchte, liebevoll gehegt und gepflegt von alten Leuten. Es gab sogar Hühner in einem großen, an eine Wand gebundenen Plastikkäfig. Zur Stromerzeugung diente eine Reihe von Windmühlen, die über der Farm aufragten, und es gab leuchtend gr?ne Solarpaneele von AxysCorp, die sich, selbst fast so etwas wie Lebewesen, eigenst?ndig reinigten und reparierten. Es war ein fortw?hrender Kampf, all dies instand zu halten, weil das Salzwasser unabl?ssig die Erde vergiftete, die Feldfr?chte verdorren lie? und die Elektrik sowie alle Metallteile zerfra?.

Die jüngeren Generationen halfen widerwillig. Sie interessierten sich nicht für Farmen. Sie interessierten sich nicht mal für künstliches Licht. Sie fertigten Fischöllampen an, benutzten sie aber nur selten. Wenn der Himmel klar war, gab es Mondschein und Sternenlicht sowie die Lumineszenz von Lebewesen im Meer. Und außerdem, wer brauchte nachts Licht? Man benötigte kein Licht, um zu schlafen oder zu vögeln. Während die letzten an Land geborenen Veteranen sich also abmühten, all dieses alte Zeug am Laufen zu halten, sprangen die jungen Leute, Boris und seine Generation, vom Rand des Floßes und tauchten im endlosen Ozean.

Thandie wurde geduldet. Die Leute ließen sie allein mit ihren Obsessionen, ihrer Naturwissenschaft, ihren Apparaturen und Theorien. Das Floß war voller Kinder und voller Eltern, die sich um sie kümmerten, sie ernährten, mit ihnen spielten, ihnen Kleider aus ausgeblichenen, abgenutzten Resten zusammennähten – obwohl viele Kinder und sogar einige der jüngeren Erwachsenen in der ewig warmen, feuchten Luft zur Nacktheit übergingen. Die Strömungen ihres Lebens umspülten Thandie, als wäre sie ein Monument in einer Flut, die Statue einer längst vergessenen Heldin …


Der von der Decke geschützte Handheld in ihrem Schoß piepste leise.

Sie war wieder eingenickt. Dies war die fünfte Nacht, der Himmel ein Deckel aus schwarzen Wolken. Sie holte den kleinen Computer hervor und suchte in ihrem Mantel fluchend nach ihrer uralten Lesebrille.

Die Nachricht kam von Elena Artemowa, Thandies ehemaliger Geliebter, die jetzt durch das Alter, das Meer und eine Art müder Gleichgültigkeit von ihr getrennt war. Elena befand sich auf einem anderen großen Floß, das über dem Wasserleichnam Rio de Janeiros trieb. Auf das neue Licht am Himmel aufmerksam geworden, hatte sie eine zufällige Beobachtung eines Floßes über Los Angeles entdeckt. »Das heimkehrende Schiff erscheint also zuerst am Himmel über Nordamerika«, mailte Elena. »Das ist doch bestimmt kein Zufall …«

Thandie sah sich die Beobachtung aufmerksam an, eine kurze Videosequenz mit schlechter Auflösung, aufgenommen durch ein Teleskop auf einem Floß.

Dann wartete sie, bis Boris aus dem Wasser kam, tropfnass, dreizehn Jahre alt, mit harten Muskeln und flachem Bauch, der Mund verschmiert von Fischöl, der Penis schlaff vom enthusiastischen Unterwassersex. Sie forderte ihn auf, sich neben sie zu setzen, und erklärte ihm die Abfolge von Bildern.

»Schau – hier siehst du die Ankunft des Objekts, das du gesehen hast, des hellen neuen Satelliten. Diese Bilder sind von einem Teleskop aufgenommen worden, das zufällig in die richtige Ecke des Himmels schaute, genau dorthin, wo er zuerst erschienen ist. Ich wusste, es musste jemanden geben, der ihn eingefangen hat. Jetzt warte … schau auf die Uhr … Da!« Ein heller Blitz erschien, rechts vom Zentrum des Sternenfeldes – das Schiff selbst, und ein Lichtschimmer ging von ihm aus, wanderte in schnurgerader Linie nach links und verblasste, als hätte das Schiff eine helle visuelle Botschaft dorthin zurückgeschickt, woher es gekommen war. »Siehst du?«, fragte Thandie triumphierend und starrte Boris an. ?Verstehst du, was das ist, was dieser Beobachter gesehen hat??

»Nein«, sagte Boris unverblümt. Er wirkte unruhig, sein Blick schweifte ab. Die Kinder hatten so gut wie gar keine Aufmerksamkeitsspanne mehr.

Thandie unterdrückte ihren Ärger. »Das ist ein Schiff, das schneller als das Licht geflogen ist. Man kann es sehen, während es unterwegs ist; seine Warp-Blase gibt eine Kaskade exotischer Strahlungsenergie ab, die teilweise ins sichtbare Spektrum herunterreicht. Aber es ist schneller als sein eigenes Bild. Das Schiff kommt also zuerst an, und das Licht muss es einholen, all die Photonen, die es auf seiner Bahn emittiert hat, treffen lediglich mit Lichtgeschwindigkeit ein. Die älteren Bilder kommen zuletzt, und das wirkt, als würde das Schiff sich entfernen und nicht ankommen …« Sie spielte die kurze Sequenz immer wieder ab. »Das ist die Signatur der Ankunft eines überlichtschnellen Raumschiffs, Boris. Es ist die Arche, die Arche Eins. Ich wusste, dass sie zurückkommen würden.«

Er runzelte die Stirn, der komische Versuch eines Dreizehnjährigen, Interesse zu heucheln. Wenigstens war er höflich. »Und was willst du nun tun?«

»Die Funkbake einsatzbereit machen. Mal sehen, ob die Batterien noch ein bisschen Saft haben. Holen wir sie nach Hause.«


75



Zane kam in Holles OP geschwebt, ein stämmiger, gedrungener Mann von neununddreißig Jahren, selbstbewusst, mit entschlossenen Bewegungen in der Mikrogravitation. Er zog sich auf eine Liege hinunter und legte sich einen Gurt lose um die Taille. »Ah«, sagte er. »Nach mehr als zehn Jahren Therapie kommt es mir so vor, als wäre diese alte Couch ein Teil von mir.«

Holle hatte zusammen mit Theo Morell auf ihn gewartet. Während Theo die Kameras auf ihre Wandhalterungen montierte, um die Sitzung zu filmen, ließ sie sich auf ihrem Stuhl nieder, das Gesicht zur Liege, ihren Handheld auf dem Schoß. »Ich nehme an, ich spreche mit Jerry.«

»Ich habe meine heutigen Aufgaben erledigt, bevor ich hergekommen bin. Die Warp-Blase arbeitet innerhalb sämtlicher nominalen Parameter, nebenbei bemerkt. Treibt uns weiter zur Erde III. Ich dachte, ich sollte draußen bleiben, um … ähm … Zane 3 sozusagen hierherzubringen. Er weiß, was du heute vorhast, es hat ihn sehr beschäftigt. Er ist nervös deswegen, das muss ich dir sagen. Er hat Angst davor, im Integrationsprozess einen Teil von sich selbst zu verlieren. Ihm ist bewusst, dass er bei der Crew, den Jüngeren, beliebt ist. Das gibt ihm eine gewisse Bestätigung.« Er musterte Holle. »Was einer der Gründe ist, weshalb du weitermachen willst, nicht wahr? Ich weiß, dass es Vorbehalte wegen des Einflusses gibt, den Zane auf die jungen Leute ausübt.«

Es hatte keinen Sinn, in diesem Punkt zu lügen. »Wilson hat gewisse Bedenken zum Ausdruck gebracht.«

Zane schnaubte. »Wilson sollte sich lieber mal um seinen eigenen Umgang mit den Jugendlichen kümmern. Wir wissen ja alle, was da läuft.«

»Aber das ist nicht der Grund, weshalb wir beschlossen haben, mit dem Prozess zu beginnen, Jerry. Wenn wir nicht glauben würden, dass du bereit bist, würden wir’s nicht versuchen. Du bist natürlich sehr wichtig für uns. Deine Bedürfnisse haben Vorrang.«

»Na schön. Die Frage ist, bist du bereit? Es ist erst sieben Jahre her, seit du Mike abgelöst hast!«

»Sei nicht so streng mit mir«, sagte Holle. »Ich musste die Seelenheilkunde von Grund auf lernen. Es ist nicht leicht, Jerry. Und ich glaube nicht, dass wir es ohne dich geschafft hätten, so weit zu kommen.« Das stimmte. Das Alter Ego namens Jerry war wie ein Studienpartner gewesen, als Holle, Theo und Grace die im Schiffsarchiv gespeicherten Psychiatrie-Zeitschriften, Bücher und Expertensysteme sowie Mike Wetherbees unvollständige Notizen über den Fall durchgegangen waren. »Und du hast keine Einwände dagegen, dich dem Verfahren zu unterziehen? «

»Selbst eine teilweise Integration wird uns – uns alle – stärken, dessen bin ich mir sicher. Und außerdem bin ich heute nicht bedroht; ich rechne nicht damit, eine Veränderung zu spüren.«

In dem Programm, das sie entwickelt hatten, eine Abfolge von Schritten ohne festen Zeitplan, würde Jerry das letzte Alter Ego sein, das integriert wurde.

Theo beugte sich vor. »Jerry, du weißt, dass es noch einen anderen Grund gibt, weshalb wir beschlossen haben, heute mit dem Prozess zu beginnen. Wenn alles nach Plan gelaufen ist, m?sste Seba ungef?hr um diese Zeit wieder bei der Erde eintreffen. Und wenn sie das geschafft haben, verdanken sie das ganz allein dir. Du hast die Warp-Blase programmiert.? Theo tat so, als w?rde er einen Basketball werfen. ?Du hast sie genommen und im Korb versenkt.?

Zane grinste. »Na ja, dessen bin ich mir natürlich bewusst. Wenn alles geklappt hat, ist es ein großer Triumph – wenn. Aber wir werden es nie erfahren, nicht wahr?«

Holle berührte Theo am Arm. »Ich glaube, das reicht. Es war schön, mit dir zu sprechen, Jerry.«

»Ist mir immer ein Vergnügen, Holle.«

»Ist Zane 3 da? Vielleicht könntest du ihn nach vorn kommen lassen.«

»Gleich.« Zane schloss die Augen und legte sich hin. Einen Moment lang schien es, als wäre er eingeschlafen. Dann bewegte er sich unruhig. Sein Gesicht wurde weicher, die Lippen schoben sich vor und formten eine Art Schmollmund. Er schlug die Augen auf und schaute sich im OP um. »Ach du Scheiße, ich bin immer noch hier.«

»Hallo. Spreche ich mit Zane?«

»Du weißt, wer ich bin.«

»Und du weißt, weshalb du heute hier bist.«

»Du willst diese alberne sogenannte Reintegrationsprozedur ausprobieren.«

»Hast du was dagegen?«

Er lachte, ein dumpfer, bitterer Laut. »Was spielt es schon für eine Rolle, ob ich etwas dagegen habe oder nicht?«

Theo sagte: »Seba sollte ungefähr um diese Zeit bei der Erde eintreffen. Macht dich das nicht stolz?«

»Sie haben das Modul verlassen«, sagte Zane. »Kelly und die anderen. Sie sind entweder tot oder sitzen irgendwo in einem K?fig. Wir werden sie nie wiedersehen.? Er starrte Theo an, bis dieser den Blick abwandte.

»Darf ich davon ausgehen, dass du der Prozedur zustimmst?«, fragte Holle.

»Ja, ja. Bringen wir’s einfach hinter uns.« Seine Augen schlossen sich.

Holle begann mit dem geduldigen Hypnoseprozess. »Entspann dich einfach. Du fühlst, wie die Spannung, die Energie aus deinen Fingern, deinen Zehen strömt, wie eine Flüssigkeit. Du sinkst tiefer in dich hinein …« Die Schlüsselworte, mit denen Wetherbee Zane in hypnotischen Trance versetzt hatte, wirkten immer sehr schnell.


Wie schon seit sieben Jahren merkte Holle auch diesmal wieder, wie anstrengend es war, einfach nur mit Zane 3 im selben Raum zu sein. Seine Passivität, seine Depressionen, sein abgrundtiefes Selbstmitleid waren schrecklich. Es bedeutete nur einen schwachen Trost für sie, dass Mike Wetherbee den Randbemerkungen in seinen Aufzeichnungen zufolge oftmals dasselbe empfunden hatte.

Nach der Aufteilung und Mike Wetherbees Entführung hatte Wilson Freiwillige finden müssen, die verschiedene Aspekte von Wetherbees ärztlicher Rolle übernahmen. Grace Gray, ernst und ängstlich, aber auch verantwortungsbewusst, war mit gutem Beispiel vorangegangen und als Autodidaktin in die Rolle des Schiffsarztes geschlüpft, so gut sie konnte. Und Holle hatte sich erboten, Zanes komplexen Fall zu übernehmen. Sie hatte bereits einige von Wetherbees Sitzungen miterlebt, wusste ungefähr, was die Arbeit umfasste, und war sich im Klaren darüber, dass sie weitergeführt werden musste, wenn Zane gerettet werden sollte.

Und es war Wilson gewesen, der vorgeschlagen hatte, dass Theo sie unterstützen sollte. Wilson, der seine übrig gebliebene Crew nach Kellys Meuterei, wie er es nannte, umstrukturiert hatte, war der Ansicht gewesen, dass Theo einen anderen Schwerpunkt brauchte, eine andere Hauptaufgabe neben seiner Rolle als HeadSpace-Türsteher. Nach anfänglichem Widerstreben hatte Theo gute Arbeit geleistet. Er hatte sich in die Unterlagen vertieft. Seine Erfahrung mit virtuellen Systemen war in gewissem Sinn hilfreich, denn es war, als lebte Zane in einer eigenen, defekten virtuellen Realität.

Als Holle ihn besser kennenlernte, bekam sie allmählich mit, was für eine Erziehung der armen Theo genossen hatte. Sein Vater, den er immer »der General« nannte, war – zu Recht oder zu Unrecht – zu dem Schluss gelangt, dass es für seinen Sohn nur eine einzige Option in einer im Wasser versinkenden Welt gab, nämlich eine militärische Laufbahn. Jede davon abweichende Entwicklungstendenz hatte er unterbunden. In anderen Zeiten hätten sich Theos Persönlichkeit und seine Talente vielleicht auf ganz andere Weise entfalten können, wenn er die Gelegenheit dazu bekommen hätte.

Aber das galt wahrscheinlich auch für sie selbst. Keiner von ihnen würde es jemals erfahren.

In Zane 3s Gegenwart wurde ihr bewusst, wie müde sie war. Seit der Aufteilung waren sieben Jahre verstrichen, und die Bürde, das Modul intakt zu erhalten, lastete immer schwerer auf ihr. Sie besaß nur sehr wenige Ersatzteile, Redundanzen oder Reserven gab es kaum, und die Reparatur jedes Defekts, ja sogar die Herstellung von Ersatzteilen in der Maschinenwerkstatt, die nie so gut waren wie das Original, verlangte Erfindungsreichtum. Der Gedanke, dass die Reise vielleicht noch weitere zweiundzwanzig Jahren dauern würde, drückte sie nieder. Sie war ständig müde.

Aber sie musste dieses Gefühl draußen vor der Tür des OPs lassen und sich auf Zane konzentrieren. Vielleicht tat es ihr gut, zwei Bürden zu haben, die sie ablenkten, statt bloß eine.


Als Zane hypnotisiert war, vergewisserten sie sich, dass die Aufzeichnungsgeräte funktionierten, und Holle trug Datum und Uhrzeit in ein Tagebuch ein. »In Ordnung, Zane. Wir werden versuchen, dir zu helfen, das Alter Ego willkommen zu heißen, das wir Zane 1 nennen.«

Theo warf einen Blick auf die Notizen in seinem Handheld. »Zane 1 ist siebzehn Jahre alt. Er trägt die Scham in sich, die du empfunden hast, als Harry Smith dich auf der Akademie missbraucht hat. Das war seine Aufgabe, deshalb ist er erschaffen worden. Um dir zu helfen, damit fertigzuwerden.«

Zane grinste spöttisch. »Das sagst du

»Bist du an deinem sicheren Ort?«

»Ich bin im Museum. In meinem Zimmer.«

»Was siehst du?«

»Die Tür ist offen.«

Holle fragte: »Was siehst du, wenn du durch die Tür schaust?«

»Einen Jungen. Er hat Angst.«

»Ich weiß. Aber du kannst ihm helfen, Zane. Kannst du zu ihm gehen und ihn zu dir ins Zimmer holen?«

»Ich weiß nicht.« Zane zuckte auf der Liege.

»Du kannst ihn jederzeit wieder hinausschicken, wenn du willst.«

Zane lag eine Minute lang schweigend da, dann bewegte er sich.

»Ist er da?«

»Er steht neben mir. Er ist kleiner als ich. Mager. Er zittert irgendwie. «

»Kann ich mit ihm sprechen?«

Zane erschauerte, und als er wieder sprach, klang seine Stimme ein kleines bisschen höher. »Ich sehe nichts. Es ist dunkel.«

Es war immer dunkel gewesen, wenn Harry Smith zu Zane gekommen war. »Weißt du, wer ich bin?«

»Doc Wetherbee?«

Diesen Dialog wiederholten sie jedes Mal. »Nein. Ich bin Holle. Doc Wetherbee hat mich um Hilfe gebeten. Weißt du noch, dass wir darüber gesprochen haben?«

»Ja.«

»Und weißt du noch, was wir heute tun wollten?«

»Du hast gesagt, du wolltest mich dazu bringen, in Zane 3 hineinzugehen.«

»Und wie findest du das?«

»Ich weiß nicht, was es bedeutet.« Er rieb sich die Arme. Sie waren von den kleinen Narben der Selbstverletzungen übersät, die er sich immer noch gelegentlich zufügte. »Ich bin schmutzig. Ich sollte mich vorher waschen. Zane wird mich nicht haben wollen.«

»Nein, du bist sauber. Innen drin. Zane weiß das, Zane 3. Er möchte dich willkommen heißen, weil er dir dadurch helfen kann, er kann dir deinen Schmerz nehmen, und du kannst ihm helfen, weil er sich an das erinnern muss, woran du dich erinnerst. Es ist also eine rundum gute Sache, nicht?«

»Wenn ich in ihn hineingehe, verschwinde ich.«

»Nein. Du wirst noch da sein, all das, was dich einzigartig macht. Du wirst lediglich in Zane 3 drin sein, nicht mehr außerhalb von ihm. Ich werde dich nicht vergessen.«

Auf einmal schlug Zane die Augen auf und sah Holle direkt an. Sein Gesicht war verzerrt. »Versprich mir das.«

Holle hatte Zane, Venus oder Matt nie geholfen, während der Missbrauch tatsächlich stattfand, obwohl alle Kandidaten geahnt hatten, was Harry Smith tat. Jahrelang hatte sie nichts sehen und nichts h?ren wollen, weil sie Angst um ihre eigene Position gehabt hatte. Als sie nun diese flehentliche Bitte um Hilfe vernahm, als k?me sie aus dem Mund des kleinen Jungen, der Zane damals gewesen war, aber ausgesprochen mit der rauen Stimme eines Neununddrei?igj?hrigen, brach es ihr das Herz. ?Ich verspreche es. Vielleicht k?nntest du zur?cktreten und mich nochmal mit Zane 3 sprechen lassen.?

Nach einer weiteren Pause kam das Alter Ego Zane 3 wieder zum Vorschein. »Und was nun? Wie machen wir das? Wie hole ich ihn in mich herein?«

Holle warf Theo einen Blick zu. Die Texte und Fallstudien waren vage, was die genauen Mechanismen dieses entscheidenden Augenblicks betraf.

Theo beugte sich vor. »Siehst du ihn? Was tut er gerade?«

»Er weint.« Zane klang ein wenig angewidert.

»Dann halte ihn einfach fest«, sagte Theo. »Leg die Arme um ihn. Schau, ob du ihn dazu bringen kannst, mit dem Weinen aufzuhören.«

»Okay.« Zanes Stimme klang widerstrebend, aber seine Oberarme zuckten, ein Anflug von Bewegung. »Ich halte ihn fest. Er macht mir das Hemd nass. Er hört auf zu weinen. Ich … Na komm. Ist schon gut.«

»Was geschieht jetzt gerade?«, fragte Holle.

»Es ist, als würde ein Schatten über mich fallen, ich – oh, ich sehe ihn, aber er ist jetzt in meinem Kopf. Hinter meinen Augenlidern! «

»Keine Angst«, sagte Holle beruhigend. »Es läuft gut. Alles in Ordnung. Hörst du seine Stimme? Hörst du, was er denkt?«

»Ich höre ihn, ich sehe ihn, o Gott. Ich sehe seine Erinnerungen. Es ist wie ein HeadSpace-Porno. Ist das mir zugestoßen? Ich erinnere mich jetzt, ich erinnere mich an das erste Mal, Harry hat mich wegen des Antimaterie-Unfalls getr?stet, er hat seinen gro?en, schweren Arm um mich gelegt ? oh, verdammt!?

»Ist schon gut, Zane, du machst das prima.«

»Und das arme Kind hat diesen Dreck all die Jahre mit sich herumgetragen?«

»Er hat es für dich getan, Zane. Ich zähle von fünf an rückwärts, und dann wachst du auf, du wirst hier bei mir und Theo im OP sein. Okay? Fünf. Vier …«


Als Zane aufwachte, war er auf kaum merkliche Weise verändert. Gequälter. Zorniger.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Holle. »Möchtest du irgendwas, einen Schluck Wasser vielleicht?«

»Kein Wasser. Mir geht’s gut.« Es klang allerdings ganz und gar nicht so. Zane wirkte verwirrt; er beschattete die Augen. »Alles ist so hell. Oh, und so laut.« Aber das einzige Geräusch im Raum war das unablässige Summen der Pumpen und Ventilatoren des Lebenserhaltungssystems. »Ich höre meinen Herzschlag. «

Holles Stimme war sehr leise. »Woran erinnerst du dich?«

»Woran ich mich bislang nicht erinnert habe, meinst du? An jahrelangen systematischen Missbrauch durch Harry Smith, diesem Arschloch. Und im Rückblick, an frühere Jahre der Vorbereitung darauf.« Seine Augen klappten auf. Plötzlich war er spöttisch und wütend. »Aber vielleicht habt ihr mir diese Scheiße auch bloß in den Kopf gepflanzt. Nichts anderes an dem, was wir hier erleben, ist real. Weshalb sollten diese Erinnerungen zuverlässiger sein?«

Holle fühlte sich besiegt. »Zane, wir haben lediglich …«

»Sind wir fertig? Kann ich gehen?«


76



Fünf Tage, nachdem Seba in die Erdumlaufbahn eingeschwenkt war, rief Masayo Kelly über Funk an und bat sie, ins Cockpit des Shuttles zu kommen.

Sie schwebte durch die Schleuse hinüber. Mike Wetherbee und Masayo warteten auf sie, lose auf die beiden Pilotenliegen in der Nase des Shuttles geschnallt. Kelly gab Masayo einen innigen Kuss, dann schwebte sie hinter den beiden Männern und schaute ihnen über die Schulter. Lange Minuten blickten sie schweigend zu den großen Cockpit-Fenstern hinaus.

Draußen vor den Fenstern ragte die Erde über ihnen auf. Selbst nach fünf Tagen fiel es ihnen schwer zu glauben, dass sie hier waren, dass sie es nach einem siebenjährigen Rückflug von der Erde II tatsächlich geschafft hatten, wieder nach Hause zu kommen. Doch dies war die nüchterne Realität.

Die Welt war ein Schild aus klumpigen Wolken, so nah, dass ihre Krümmung kaum sichtbar war. Wenn Kelly zum Horizont schaute, sah sie die Wolkenbanken in ihrer dreidimensionalen Pracht, kontinentgroße Stürme, gekrönt von riesenhaften Gewitterwolken. Seba näherte sich dem Terminator, der diffusen Grenze zwischen Nacht und Tag, und in der irgendwo hinter dem Modul stehenden Sonne warfen diese gewaltigen Gewitterwolken Schatten auf die Wolkenbänke darunter. Über die Monitore plätscherten und blinkten unterdessen Daten und Bilder von der Erde, Informationen über das Klima, die Ozeanographie, die Atmosph?renzusammensetzung und alles andere, zusammengetragen von Instrumenten, die zur Untersuchung einer neuen Welt gedacht, deren elektronische Augen jetzt jedoch auf die alte gerichtet waren.

»Und, wie geht’s Eddie?«, fragte Masayo.

»Gut. Er flippt gerade mal wieder ein bisschen aus. Du weißt ja, wie er ist, bevor er endlich sein Nickerchen macht.« Eddie, Kellys zweites Kind – der Vater war Masayo Saito –, inzwischen vier Jahre alt, gezeugt und geboren in der Mikrogravitation, war ein spindeldürres Energiebündel. Eddie war eins von nur vier Kindern, die während der Rückreise von der Erde II zur Welt gekommen waren, was die Anzahl der Crewmitglieder auf dreiundzwanzig erhöht hatte. In dem für eine nominelle Crew von vierzig oder mehr Personen konstruierten Modul gab es für Kinder reichlich Platz zum Spielen. »Jack Shaughnessy ist bei ihm. Er steckt ihn ins Bett, wenn er sich beruhigt hat.«

»Gut.« Masayo lächelte. Sein breites Gesicht war ins Licht der Erde getaucht.

Kelly verspürte eine Aufwallung von Zuneigung für ihn. Masayo war jetzt einundvierzig. Er hatte sein jungenhaftes, gutes Aussehen an sich lichtendes Haar und einen immer dicker werdenden Hals verloren, und wie alle Crewmitglieder war er nach achtzehn Jahren in der Arche viel zu blass, mit einer Dunkelheit um die Augenfalten. Doch aus seiner Miene sprach seine unverwüstliche gute Laune, und die natürliche, unverkrampfte Autorität, der ihm einst die Loyalität der Shaughnessys und seiner anderen bunt zusammengewürfelten Illegalen eingetragen hatte, brachte ihm nun die Liebe seines Sohnes ein.

Liebte sie Masayo? Liebte er sie? Diese Fragen waren nicht zu beantworten, hatte sie vor langer Zeit entschieden. Ohne die einzigartigen Umstände der Mission wären sie niemals zusammengekommen und schon gar nicht zusammengeblieben. Aber dies war nun einmal das Gef?ge, in dem sie lebten und in dem jede Beziehung gedeihen musste. Auf jeden Fall glaubte sie, dass er gut f?r sie war.

Aber Mike Wetherbee beobachtete Kelly auf seine klinische, leicht wertende Art und Weise. »Jack ist ziemlich zuverlässig«, sagte er in spitzem Ton. »Du kannst ihm vertrauen. Glaube ich.«

Nach außen hin schien Mike darüber hinweggekommen zu sein, dass er vor sieben Jahren betäubt und gefesselt aus Hawila entführt worden war. Doch sobald er die Chance dazu bekam, setzte er Kelly unter Druck, vor allem wegen ihrer Kinder, bohrte in diesem dumpfen Schmerz herum, dieser schrecklichen Erinnerung daran, dass sie ein Kind aufgegeben hatte. Mike hatte keine Ausbildung zum Psychiater absolviert; all seine diesbezüglichen Fähigkeiten hatte er durch die Behandlung von Patienten, insbesondere von Zane, nach dem Start erworben. Er schien viel gelernt zu haben, wenn man nach der langsamen, subtilen Folter ging, der er Kelly unterzog.

Heute jedoch lag Kellys Augenmerk auf der Gegenwart, nicht auf der Vergangenheit, und sie beachtete ihn nicht. »Also, was haben wir in Erfahrung gebracht?«

Masayo grunzte. »Nichts Gutes. Falls wir gehofft hatten, die Erde wäre irgendwie geheilt worden – nun, dann werden wir enttäuscht.« Er blätterte in Bildern und summarisch zusammengefassten Daten auf einem Bildschirm vor ihm. »Es gibt kein sichtbares Land, überhaupt keins. Dem Radar zufolge ist das Wasser allerdings nicht so tief, wie wir vielleicht erwartet haben. Der neue Meeresspiegel liegt ungefähr fünfzehn Kilometer über dem alten, während wir aufgrund der von den Ozeanographen vor unserer Abreise entwickelten Modelle eher mit fünfundzwanzig gerechnet haben.«

Mike Wetherbee verzog das Gesicht. »Nur fünfzehn Kilometer? «

Masayo grinste. »Ja. Wie sollen wir das der Crew beibringen? Wollt ihr die guten Nachrichten oder die schlechten Nachrichten hören?« Er rief eine schematische Karte des Klimasystems der Erde auf. »Jetzt, wo keine Kontinente mehr im Weg sind, keine Saharas und Himalayas, ist das Wettergeschehen simpler geworden. Seht es euch an.«

In jeder Hemisphäre erzeugte die äquatoriale Erwärmung durch die Sonne drei gewaltige, parallel zum Äquator verlaufende Konvektionsgürtel, die Wärme zu den kühleren Polen transportierten. Diese riesigen Kreisläufe schufen so etwas wie eine Spirale stabiler Winde, die sich um den rotierenden Planeten schlängelte. Es war ein Jahrmilliarden altes, weiterhin existierendes Muster, das auch jetzt noch einen großen Teil der langfristigen Klimamuster der Welt bestimmte. Zugleich war das Strömungsnetz im Ozean jetzt viel simpler, denn die Kontinente lagen kilometertief unter der Wasseroberfläche und konnten der Zirkulation der Strömungen keinen Widerstand mehr entgegensetzen. Selbst die riesigen Wirbel – tote Zonen im Ozean, wo sich der Abfall der Menschheit gesammelt hatte, das Ziel leidgeplagter Floßgemeinschaften auf der Suche nach irgendetwas Brauchbarem – waren mittlerweile verschwunden. Ein primitives System atmosphärischer Zirkulation, mächtige Meeresströmungen, die schlichten Mustern folgten, keine Spur von Land oder auch nur Polareis irgendwo auf der Welt: Dies war eine Erde, die auf Elementargewalten reduziert war, dachte Kelly, wie eine Lernhilfe in Klimakunde. Nichts als die grundlegenden physikalischen Gesetzmäßigkeiten eines sich drehenden Planeten.

Und dennoch war diese Meereswelt nicht einförmig, sondern besaß ausgeprägte Besonderheiten. Masayo rief das Bild eines gewaltigen Sturms auf, der in den niedrigeren Breiten der n?rdlichen Hemisph?re umherstrich, eine milchige Spirale von der Gr??e eines Kontinents, die unabl?ssig Tochterst?rme abspaltete, eigenst?ndige, b?sartige Hurrikane. ?Soweit wir wissen, ist dies noch immer derselbe Sturm, den sie vor achtzehn Jahren ?der Fleck? genannt haben?, sagte er. ?Vielleicht wird uns das irgendjemand da unten best?tigen k?nnen. Er erzeugt Winde von Geschwindigkeiten von ungef?hr dreihundert Stundenkilometern. Das sind ungef?hr null Komma zwei-f?nf Mach ? ein Viertel der Schallgeschwindigkeit. M?ssen bei diesen Abfallfl??en h?llische Sch?den anrichten.?

»Also wassern wir weit entfernt von ihm«, sagte Kelly leise. »Aber wo?«

»Es gibt kein auf der Hand liegendes Ziel«, sagte Masayo. »Offensichtlich kein Land. Nichts als lauter einzelne Flöße. Manchmal sieht man ihre Lichter bei Nacht. Einige scheinen gar keine Lichter zu haben. Sie neigen dazu, sich über den alten Kontinentalschelfen zu sammeln, besonders über ehemaligen Stadtgebieten, den Großstädten.«

Mike sagte: »Wir haben ein paar Funkbotschaften aufgefangen, die größtenteils nicht an uns gerichtet waren.«

»›Größtenteils‹?«

»Bloß Geplapper. Leute, die nach Verwandten und vermissten Kindern fragen und Neuigkeiten über Stürme und Fischgründe austauschen. Ein paar Leute beobachten nach wie vor das Klima, die weiterhin stattfindenden Veränderungen. Die Kommunikation läuft über das noch vorhandene Satellitennetz. Ich glaube, ein paar von ihnen versuchen, den Mond als Reflektor zu benutzen …«

»Nochmal von vorn, Mike. Du hast gesagt, ›größtenteils‹. Die Signale seien ›größtenteils‹ nicht an uns gerichtet gewesen.«

Er grinste. »Deshalb haben wir dich geholt, Kelly. Vor einer halben Stunde haben wir das hier aufgefangen, von einem Floß über Nordamerika.« Er tippte auf seinen Bildschirm, und aus einem Lautsprecher kam eine knisternde, immer wieder abgespielte Aufzeichnung:

»… wusste, dass ihr zurückkommen würdet. Ich warte seit einem Jahr darauf, dass ihr auftaucht, seit dem frühestmöglichen Rückkehrzeitpunkt. Die Erde II ist nicht der Knaller, hm? Tja, wenn ihr eine einheimische Führerin braucht, kommt hier runter und schaut bei mir vorbei. Ihr könnt dieses Signal zurückverfolgen … Hier ist Thandie Jones, irgendwo über Wyoming, auf dem Panthalassa-Meer. Thandie ruft die Arche Eins. Ich sehe euch! Ich wusste, dass ihr zurückkommen würdet …«


77



In der dämmrigen, summenden Stille der Kuppel – draußen vor den Fenstern reihten sich Hawila und die schweigenden Sterne – schaute Grace Gray auf wunderschöne, spektakuläre Bilder junger Sternsysteme, die, höchstens eine Million Jahre alt, im Entstehungsprozess aus einer interstellaren Wolke begriffen waren, und gab sich große Mühe zu verstehen, was ihre Tochter ihr erzählte.

Die ernste, siebzehnjährige Helen sagte: »Es ist, als würden wir ein Album von der Geburt eines Sonnensystems zusammenstellen, Bild für Bild. Man sieht, wie der junge Stern nach der Implosion aus der Wolke mit deren Überresten zu interagieren beginnt. Eine zentrale, kollabierte Scheibe schneidet die größere Wolke entzwei …« Die zerteilte und von dem unsichtbaren Stern von innen erhellte Wolke erinnerte Grace an ein Kinderspielzeug, ein Jojo; das Planetensystem entstand in der Lücke zwischen den beiden Hälften, wo die Schnur sich um den Mittelsteg wickeln würde. Gewaltige Jets schossen aus dem Polen der Sterns nach oben, rechtwinklig zum Jojo. Helen sprach weiter, von Eislinien, wandernden Riesenplaneten und Fotoevaporation, davon, dass das Sternenlicht den Mantel eines Jupiter wegreißen konnte, um einen Neptun oder Uranus freizulegen.

Die Kuppel war leer bis auf die beiden und Venus, die sich mit aufgesetzten Kopfhörern und Virtual-Brille in ihre Arbeit vertieft hatte und praktisch abwesend war.

Helen war schön, dachte Grace, die ihre Tochter, deren Profil sich als Silhouette vor dem Sternenfeld abzeichnete, eingehend betrachtete. Schön auf eine Art, wie sie selbst es nie gewesen war, nicht einmal mit siebzehn, wenn jeder schön war, obwohl sie denselben Teint wie Helen besaß. Helens Vater, Hammond Lammockson, Nathans Sohn, war klein, gedrungen und bullig gewesen wie sein Vater. Grace sah nur wenig von Hammond in Helen – vielleicht etwas von Nathans Entschlossenheit. Vielleicht war sie auch eine Expression königlichen saudischen Blutes. Möglicherweise hatte es aber auch etwas mit der Mikrogravitation zu tun, die sie alle seit nunmehr sieben Jahren ertrugen, seit die Aufteilung die Erzeugung künstlicher Rotationsschwerkraft unmöglich gemacht hatte. Helen war damals erst zehn gewesen. Alle seither aufgewachsenen Kinder waren schlank und anmutig, wenn auch wider Erwarten nicht groß. Vielleicht sah sie auch wie Graces Mutter aus, deren Namen sie trug und an die Grace selbst sich nicht mehr erinnern konnte.

Wie dem auch sein mochte, Helen war eine Gewinnerin der Gen-Lotterie – »begabt«, hatte Venus Jenning sie einmal genannt, eine der Handvoll Angehörigen der nächsten Generation, die man für intelligent genug hielt, um ihnen eine intensive Ausbildung angedeihen zu lassen. Grace hatte das immer vermutet, schon damals, als Helen ihr die Regeln von Zanes Unendlichkeitsschach beizubringen versucht hatte. Und sie sah nie schöner aus, als wenn sie sich auf ihre Studien konzentrierte.

Grace merkte, dass Helen aufgehört hatte zu reden.

»Kommst du noch mit?«

»So einigermaßen.«

»Möchtest du vielleicht einen Kaffee, bevor ich dir mehr zeige?«

Venus schob die Brille in ihr ergrauendes Haar hinauf. »Hat da jemand was von Kaffee gesagt?«

»Vielleicht ist noch welcher in der Thermosflasche.«

»Ich glaube, der ist inzwischen schon ziemlich abgestanden. Warum füllst du sie nicht für uns auf?«

»Oh.« Helen schaute von einer zur anderen. »Ihr wollt ohne mich miteinander sprechen, stimmt’s?«

Grace lächelte und strich eine schwebende blonde Locke in den Knoten zurück, den ihre Tochter am Hinterkopf trug. »Nun ja, ich bin hergekommen, weil ich Venus besuchen wollte, Schatz.«

»Ich versteh schon.« Helen hatte die Beine um einen T-Hocker geschlungen; jetzt löste sie sie voneinander, stieg in die Luft, schoss mit fischartiger Präzision nach unten und nahm die Flasche aus der Halterung neben Venus. »Ich gebe euch zehn Minuten. Dann muss ich dir noch mehr tolle Sachen zeigen, Mum. Abgemacht?«

Grace lächelte. »Abgemacht.«


Als sie durch die Luftschleuse hinausgesegelt war, wandte sich Venus an Grace. »Ich nehme an, du bist hier, um über Wilson zu reden.«

»Ja. Und über Steel Antoniadi. Bei diesem Mädchen ist er zu weit gegangen. Das ganze Modul redet darüber. Ich treffe mich später mit Holle. Vielleicht könntest du auch kommen. Wenn wir ihn zu dritt zur Rede stellen …«

»Okay.« Venus gähnte und reckte sich; sie trug keinen Gurt, und als sie den Rücken wölbte, stieg sie von ihrem Stuhl empor. »Es geht wohl nicht anders. Ich muss zugeben, dass es mir immer schwerer fällt, mich mit so einem Scheiß zu befassen.« Sie starrte zu den Sternen hinaus. »Manchmal verliere ich mich einfach hier drin. Und Gott sei Dank ist Wilson Sprecher geworden und nicht ich. Helen ist wirklich eine der Besten, die wir haben, wei?t du. Hast du was dagegen, wenn ich sie hierherhole, um ihr was beizubringen??

»Nein. Sie verbringt sogar noch mehr Zeit mit der Ausbildung zur Shuttle-Pilotin als hier drin. Ich bin dankbar, dass sie diese Möglichkeiten hat. Aber es gibt eine Menge Gemecker über deine Schüler und ihre Privilegien. Eins muss man Wilson lassen, er verteidigt dich, er betont immer, wie sehr wir die Planetensuch- und Navigationsfunktionen brauchen.«

»Ist ja auch so. Aber wie steht er zu meinen Grundlagenforschungsprogrammen? Grundbegriffe der Physik, der Kosmologie …«

»Darüber habe ich mit ihm noch nie gesprochen.«

Venus schaute wieder zu den Sternen hinaus. »Ich finde einfach, wir sollten mehr tun als – na ja – Wände abschrubben und verstopfte Latrinen reinigen. Und wenn man darüber nachdenkt, ist das eine einmalige Chance. Selbst wenn alles gutgeht, werden Helens Kinder Kleinbauern auf der Erde III sein. Von allen Generationen seit Adam ist nur diese eine Generation, die von Helen, unter den Sternen aufgewachsen, fern von der alles beherrschenden Gegenwart eines Planeten. Wer weiß, welche Auswirkungen das auf ihr Bewusstsein hat? Es ist ein Experiment, Grace. Außerdem sind das richtig aufgeweckte, neugierige Kinder, die nichts erforschen dürfen, damit sie bloß nicht das Schiff kaputt machen. Deshalb versuche ich, ihre Neugier dort hinaus zu lenken.« Sie verstummte, wie sie das immer tat, wenn sie in das private Universum ihres eigenen Kopfes driftete.

Grace bohrte ein wenig spöttisch nach: »Und fördert ihr irgendetwas Nützliches zutage?«

Venus lachte. »Jetzt klingst du wie Holle, die Klempnerkönigin. Wer weiß das schon? Schau dir Zanes Warp-Generator an. Wir haben es geschafft, eine Vereinheitlichte-Physik-Maschine zu bauen, bevor es uns überhaupt gelungen ist, die Physik zu vereinheitlichen. Es ist, als hätten wir sie zufällig gebaut. Vielleicht wartet Helens Generation mit etwas auf, demgegenüber Zanes Antrieb wie eine Dampfmaschine aussehen wird. Dann haben wir ein bisschen Spaß.«

All diese Planetenjägerei und sich potenzierende wissenschaftliche Theoretisiererei hatte jedoch nichts mit der komplexen menschlichen Realität zu tun, dachte Grace, die sich innerhalb der schäbigen Wände der Arche entfaltete.

Die Schleuse öffnete sich, und Helen kam geschäftig herein, schwebte geschickt durch die Luft und jonglierte dabei mit zwei Thermosflaschen und mehreren Bechern. Sie erweckte den Eindruck, als fühlte sie sich in diesem Mikrogravitations-Observatorium ganz und gar zu Hause, und ihr Gesicht war aufmerksam und voller Intelligenz. Aber sie hatte noch nie fremdartiger ausgesehen. Grace verspürte eine Aufwallung hilfloser, hoffnungsloser Liebe.


78



Die Raumfähre, die von der Arche kam, war ein Funke, der am Mittagshimmel in die Tiefe stürzte. Thandie hatte einen solchen Anblick seit Jahren nicht mehr gesehen. Während er fiel, wurde der Funke zu einem weißen, klobigen Gleiter. Er legte sich über dem Floß einmal in die Kurve. Dann sank er zu einer vorsichtigen Bauchlandung herab, bei der eine gewaltige Wasserfontäne aufspritzte.

Das war buchstäblich das Aufregendste, was im Leben der meisten Floßbewohner jemals passiert war. Die Kinder hüpften und klatschten. Einige der älteren Flößer wie Boris’ Eltern Manco und Ana hatten eher Angst, als würde dieser Einbruch von Technologie das ruhige, relativ sichere Leben stören, das sie sich sorgfältig aufgebaut hatten.

Die Fähre blieb nur ein paar Hundert Meter vom Floß entfernt liegen, eine eindrucksvolle Punktlandung nach einer Reise von zweiundvierzig Lichtjahren. Das Raumfahrzeug sah völlig harmlos aus, wie es so in der sanften Ozeandünung dümpelte; der obere Teil des Rumpfes war mit Isoliermaterial überzogen, an einigen Stellen war es schwarz verkohlt, und das Sternenbanner und die Worte UNITED STATES waren immer noch als schwacher Rest der verblichenen Lackierung zu erkennen. Thandie, die über eine Funkverbindung zum Cockpit Anweisungen von Kelly Kenzie bekam, sorgte jedoch dafür, dass sich ein paar Stunden lang niemand dem Fahrzeug näherte. Der schwarze Schild, der die gesamte Unterseite der Raumf?hre bedeckte, war immer noch gl?hend hei? von der atmosph?rischen Reibung, und die Crew war damit besch?ftigt, Gase und andere Toxine aus Lageregelungssystemen und Treibstoffzellen abzulassen.

Der Tag neigte sich bereits dem Ende zu, als die Luke des Shuttles schließlich aufschwang. Die Floßkinder, einige erst vier oder fünf Jahre alt, tauchten ins Wasser und planschten hinüber. Sie zogen Plastikseile hinter sich her.

Ein blasses Gesicht erschien in der Luke des Fahrzeugs, eine spindeldürre Gestalt in einem blauen Overall, die unsicher dastand. Pakete wurden ins Wasser geworfen; begleitet von weiteren Lauten des Entzückens vonseiten der Kinder, bliesen sie sich auf und wurden zu leuchtend orangefarbenen Rettungsbooten. Die Crew begann, das Shuttle zu entladen, ließ zuerst Ausrüstungsgegenstände und dann die jüngsten Kinder hinab, vier kleine Menschen, die in klobige Schwimmwesten gehüllt waren. Dann kamen die Erwachsenen und die älteren Kinder heraus, insgesamt neunzehn Personen, und stiegen die kurze Treppe des Shuttles hinunter. Nackte braune Floßkinder mussten diesen mageren, bleichen Geschöpfen aus dem Weltraum helfen, ihre eigenen Boote zu erklimmen. Es war wie ein Treffen zwischen verschiedenen Spezies, dachte Thandie. Die Floßkinder kletterten an Bord des Shuttles und suchten nach Souvenirs.

Die Rettungsboote hielten über das Wasser aufs Floß zu. Ein paar der Insassen beugten sich über den Rand und erbrachen sich. Ein kleiner Junge aus der Fähre jammerte: »Ich will wieder zurück! Bringt mich zurück!«

Beim Floß benötigte die Shuttle-Besatzung erneut Hilfe, um die kurze Entfernung zwischen den tanzenden Rettungsbooten und dem gravitätischeren Floß zu überbrücken. Sie hatten alle Probleme mit dem Stehen, insbesondere die Kinder, die heftig keuchten und sich erb?rmlich anstrengen mussten, die dicke Luft einzuatmen.

Thandie hatte dafür gesorgt, dass alle dreiundzwanzig in einer hastig geräumten Hütte untergebracht werden konnten, wo sie auf Deckenlager mit einer Polsterung aus getrocknetem Seetang gelegt wurden. In dieser ersten Nacht kam sie ein paarmal zu ihnen, während Manco und Ana die Bemühungen der Flößer organisierten, es ihren seltsamen Besuchern bequem zu machen, und brachte ihnen Becher mit Regenwasser und Schüsseln mit Fischsuppe. Es war wie in einer Krankenstation; der Gestank von Erbrochenem und Exkrementen war durchdringend. Die Floßkinder schauten fasziniert und ängstlich herein, wurden jedoch von dem Gestank vertrieben. Thandie sollte erst noch erfahren, was aus der Arche geworden war und warum nur eine Hälfte von ihr und viel weniger als die halbe Crew heimgekehrt war.

Am nächsten Morgen brachte man auf Kellys Bitte hin sie selbst und zwei andere hinaus und setzte sie nebeneinander auf aus dem Shuttle geborgene Liegen, so dass sie mit Thandie sprechen konnten.


Thandie saß vor ihren Gästen in Yoga-Haltung auf dem Boden des Floßes, mit geradem Rücken, die Beine gekreuzt, die Hände auf den Knien.

Die Raumfahrer saßen im Freien auf ihren Liegen, zurückgelehnt und mit Decken zugedeckt. Ihre Gesichter waren geisterhaft blass. Sie alle nahmen dankbar Becher mit heißem Seetangtee von Manco entgegen. Das Meer war kabbelig, und sie schienen sich vor einem Himmel zu ducken, an dem dicke graue Wolken brodelten. Eine Handvoll Floßkinder lungerte um sie herum und starrte sie mit gro?en Augen an. Thandie ignorierte die Kinder, ?berzeugt davon, dass sie bald schwimmen gehen und die zur?ckgekehrten Astronauten vergessen w?rden.

Thandie erinnerte sich an Kelly Kenzie, einen der hellsten Köpfe unter den damaligen Kandidaten. Sie war als Mädchen Anfang zwanzig in den Raum geflogen und nun als einundvierzigjährige Frau zurückgekehrt, zu dünn, zu blass, mit grauen Strähnen im blonden Haar. Sie war immer noch schön, aber in ihrem Gesicht sah man die Jahre, die sie gelebt, und die Entscheidungen, die sie getroffen hatte. Thandie erfuhr, dass eines der Kinder aus dem Shuttle Kellys Sohn war. Die anderen beiden Erwachsenen waren Männer, einer davon ein weiterer Kandidat, an den Thandie sich undeutlich erinnerte; er hieß Mike Wetherbee. Den zweiten, einen stämmigen Mann in den Vierzigern namens Masayo Saito, kannte sie nicht. Kelly stellte ihn als ihren Partner vor, den Vater ihres Kindes, und sagte, er sei ein ehemaliger Militärangehöriger.

Thandie drehte den Kopf nach rechts, atmete ein und drehte ihn dabei nach vorn, atmete aus und drehte ihn dabei nach links, dann wieder nach vorn, während sie erneut einatmete. »Vergebt einer alten Dame ihre Dehnübungen. Also, wie geht es euch heute Morgen gesundheitlich?«

Kelly grunzte. »Mike hier ist der Arzt.«

Mike Wetherbee rieb sich die Brust. Offenbar fiel auch ihm das Atmen schwer. »Ich hatte Probleme mit der Schwerkraft erwartet«, sagte er. »Spröde Knochen, Probleme mit dem Flüssigkeitshaushalt, all das. Wir haben Kinder da drin, die im freien Fall geboren wurden, darunter Kellys kleiner Eddie. Und ich hatte erwartet, dass wir für Viren und Bakterien anfällig sein würden, deshalb habe ich uns alle gründlich mit Antibiotika und Antihistaminen geimpft, bevor wir das Shuttle geöffnet haben. Mit dieser verdammten Kurzatmigkeit hatte ich allerdings nicht gerechnet.? Er sprach mit einem breiten, nasalen australischen Akzent, der von den Jahren kaum abgeschw?cht worden war.

»Ich hätte euch wohl warnen sollen. Die Luft ist dicker als früher – wir haben einen höheren Luftdruck als damals auf der Höhe des alten Meeresspiegels –, aber der Sauerstoffgehalt hat sich deutlich verringert.«

Kelly nickte behutsam, als wäre ihr Kopf zu schwer für den Hals. »Wir haben in der Umlaufbahn ein paar Spektrometerdaten gesammelt. Ich konnte es nicht glauben.«

»Die Welt ist nicht so fruchtbar wie damals. Jedenfalls noch nicht. Als die Flut kam, sind an Land natürlich viele Arten ausgestorben, aber im Meer auch. Keine Nährstoffe mehr, die vom Land hineingespült wurden. Die Produktivität der Biosphäre hat sich insgesamt drastisch verringert, und infolgedessen auch der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre – er ist einigen Teilnehmern der Kaminrunde zufolge auf sechzehn Prozent gesunken, also um fünf Punkte. Das entspricht dem früheren Sauerstoffgehalt in einer Höhe von dreitausend Metern.«

»Na toll«, sagte Mike Wetherbee. »Wir haben die Welt ertränkt, und trotzdem fühle ich mich, als hätte ich einen Berg bestiegen. «

»Noch schlimmer, die Luft ist wärmer als früher. Man hechelt, um sich kühl zu halten, und vermisst den Sauerstoff noch mehr.«

»Wärmer«, sagte Masayo Saito. Er schien noch mehr Schwierigkeiten beim Atmen zu haben als die anderen, und er sprach in kurzen Stakkato-Schüben. »Treibhausgase?«

»Ja. All die versunkenen, verrottenden Regenwälder. Allerdings glauben wir, dass die Flut nun doch endlich abflaut. Wie es scheint, steuert sie auf eine Asymptote von ungef?hr achtzehn Kilometern ?ber dem Wasserspiegel von 2012 zu. Was hei?t, dass der Erdozean ungef?hr das f?nffache Volumen wie vor der Flut haben wird, und das entspricht wiederum einigen meiner Modelle der ?Freisetzung unterirdischer Meere?, wie ich es genannt habe. Ihr seht, ich bin auch jetzt noch von dem Gedanken besessen, dass die wissenschaftliche Forschung von gr??ter Bedeutung ist.?

Kelly lächelte. »Auf der Akademie habe ich mit Leuten wie Liu Zheng zusammengearbeitet. Ich weiß das zu schätzen.«

»Ja. Ich habe überlebt, um das scheußlichste ›Ich hab’s euch ja gesagt‹ der Geschichte verkünden zu können. Toller Trost. Kann sein, dass wir auf ein neues klimatisches Gleichgewicht irgendwo da draußen im Parameterraum zusteuern. In der Kaminrunde zirkuliert ein Modell – das sogenannte Boyle-Modell –, und Boyle, dieses alte Arbeitstier, wäre begeistert, wenn er wüsste, dass er damit unsterblich geworden ist.« Da jedoch keiner von ihnen je etwas von Gary Boyle oder der Kaminrunde gehört hatte, einer losen, vernetzten Gemeinschaft alternder Klimatologen und Ozeanographen, erntete sie nur verständnislose Blicke. »Die Atmosphäre der Boylewelt wird einen sehr hohen Kohlendioxid- und einen sehr niedrigen Sauerstoffgehalt aufweisen. Die extreme Erwärmung wird noch heftigere Stürme hervorrufen, die die Meeresschichten durchmischen und dadurch das Leben fördern könnten, insbesondere die Fotosynthese des Planktons …«

»Wodurch Kohlendioxid gebunden würde«, warf Kelly ein.

»Ja. Ihr seht, da muss eine Rückkopplungsschleife geschlossen werden. So bekommt man Stabilität. Bei höheren Temperaturen macht sich auch die Kalksteinverwitterung unter Wasser bemerkbar. Aber das ist alles sehr umstritten. Niemand hat mehr die Computerkapazit?ten, um solche Modelle zu pr?fen. Und selbst wenn die Boylewelt tats?chlich entst?nde, k?nnen Menschen darin vielleicht nicht ?berleben. Zu warm.?

Masayo ließ den Blick über das Floß schweifen und zeigte auf ein Gestell mit Fischen. »So unproduktiv ist das Meer offenbar nicht. Und sind das Möweneier?«

»Einige Tiefsee-Arten scheinen sich trotz der fehlenden Nährstoffe im Meer irgendwie zu erholen, nachdem wir nun aufgehört haben, alles leerzufischen und Schadstoffe hineinzupumpen. Es ist, als würde die Erde einen Seufzer der Erleichterung ausstoßen. Die Vögel haben natürlich gelitten. Kein Land, nirgends eine Möglichkeit zu nisten. Doch einige Möwen scheinen überlebt zu haben. Wir glauben, dass sie ihre Nester auf schwimmendem Abfall bauen.«

»Wir haben nicht viele Ansammlungen von Flößen gesehen«, sagte Kelly. »Und wenn, dann meist über den größeren Städten. Aber auch dort sind die Menschen ziemlich weit verstreut.«

»Wir kommen wegen des Mülls«, sagte Thandie unverblümt. »Selbst nach so vielen Jahren. Austretende Giftstoffe vertreiben die Fische, aber im Gegenzug werden sie von den nach oben steigenden Nährstoffen wieder angelockt.« Sie erläuterte nicht näher, was für Nährstoffe das sein mochten, aber Mike Wetherbee betrachtete den trocknenden Fisch misstrauischer. »Wir halten aber Kontakt, wir haben Funkgeräte, wir tauschen Informationen und Kinder aus. Wir machen uns Sorgen wegen der Inzucht, genau wie die Sozialingenieure auf eurer Akademie.« Sie zeigte auf ein Kind. »Der Kleine da drüben, der die Vertäuung an der Ecke des Floßes repariert – er heißt Boris. Dreizehn Jahre alt. Ich bin vor sieben Jahren auf dieses Floß gekommen, nachdem ich eine Frau namens Lily Brooke besucht hatte, um zusammen mit ihr den Untergang des Mount Everest zu beobachten. Lily war mit Boris verwandt ? seine Urgro?tante, glaube ich. Vielleicht habt ihr von Lily geh?rt. Sie war eine Freundin von Grace Gray. Sie hat daf?r gesorgt, dass Grace auf die Arche Eins kam.?

»Grace ist in Hawila«, sagte Kelly, »dem anderen Modul, das nicht zur Erde zurückgekommen ist.«

»Sie war schwanger, als sie in die Crew aufgenommen wurde.«

»Sie hat das Baby bekommen, noch bevor wir beim Jupiter waren. Ein Mädchen namens Helen. Sie ist jetzt erwachsen, schätze ich, sie muss siebzehn Jahre alt sein.«

Thandie nickte. »Gut zu hören. Lily und Grace kannten sich schon sehr lange. Lily hat alles dafür getan, Graces Leben zu retten, sie vor der Flut zu bewahren. Ich nehme an, das ist ihr gelungen. «

»Grace hat nie von ihr gesprochen«, sagte Kelly.

Lily war nicht lange nach dem Everest gestorben. Sie hatte für Grace getan, was sie konnte. Thandie war froh, dass sie nie etwas von Graces langsamer Rache erfahren hatte. Manche Leute verzeihen es einem nie, wenn man ihnen das Leben rettete.

»Nach dem Everest haben Manco und Ana, Lilys Großneffe und seine Frau, mich aufgenommen. So wie sie nun euch alle aufnehmen werden. Sie sind von Natur aus großzügige Leute.«

Kelly starrte die Kinder an. Die meisten langweilten sich inzwischen, wie Thandie erwartet hatte, und waren zu ihrem ewigen Spielplatz, dem Meer, verschwunden. »Sie wirken – fremdartig. Aber nicht mehr als wir für sie, schätze ich.«

»Sie sind aufgewachsen, ohne etwas anderes zu kennen als das hier«, sagte Thandie. »Nur das Floß und das Meer. Einige von ihnen lernen kaum laufen, bevor sie über Bord springen. Einige sprechen so gut wie gar nicht. Es ist nicht so, als w?ren sie pr?verbal, aber sie scheinen eine eigene Sprache zu entwickeln, W?rter, Gesten, K?rperformen, die sie unter Wasser benutzen k?nnen. Letztendlich verschwinden manche von ihnen einfach. Sie springen vom Flo?, und man sieht sie nie wieder. Vielleicht erwischen sie die Haie; davor haben die Eltern Angst. Ich frage mich, ob sie sich nicht einen eigenen Ort zum Leben suchen. Vielleicht auf den gro?en nat?rlichen Fl??en, wo die M?wen leben, lauter Treibholz und Guano. Ich w?nsche ihnen alles Gute.?

Mike Wetherbee sagte: »Klingt wie die Mutter aller Generationskonflikte. «

»Ist es auch. In fünfhundert Jahren werden ihre Kindeskinder wahrscheinlich Schwimmhäute zwischen den Zehen haben. Aber ich hoffe, sie erinnern sich an ihre Menschlichkeit, an die Geschichte, die sie hervorgebracht hat, an die von ihren Vorfahren errichtete Zivilisation. Ich versuche, Boris Astronomie beizubringen …«

Die Kinder waren nett zu Thandie, aber sie hörten ihr nur selten zu. Das machte ihr nichts aus, es störte sie nicht, dass sie ignoriert wurde, so wie seit vierzig oder mehr Jahren, seit sie erst die Überflutung von London und New York und dann die gewaltigen, erstaunlichen marinen Transgressionen miterlebt hatte, bei denen das Wasser plötzlich breite Streifen tief liegender kontinentaler Landflächen bedeckte und die menschliche Zivilisation auf der Flucht zerfiel. Die Flut war einfach zu groß; man konnte nur danach streben, sie zu beobachten. Tatsächlich war es ein Privileg, diesen Übergangsmoment miterlebt zu haben. Und schließlich war keines dieser Kinder und Enkelkinder von ihr. Die Zukunft dieser Kinder interessierte sie nicht. Die Gegenwart und die Vergangenheit waren genug …


Die anderen beobachteten sie neugierig.

Sie war weggedriftet in die ozeanischen Tiefen in ihrem eigenen Kopf, war in ihrer Lotusstellung eingeschlafen. »Entschuldigung«, sagte sie. »Altersnarkolepsie.«

»Und ich muss mich entschuldigen, dass ich Sie so anstarre«, sagte Mike Wetherbee. »Ist lange her, dass jemand von uns einen alten Menschen gesehen hat. Vergeben Sie mir.«

»Ihr habt eine ›Aufteilung‹ erwähnt. Erzählt mir davon.«

Kelly warf Masayo und Mike einen Blick zu. Sie zuckte die Achseln und erzählte eine Schnellversion ihrer Geschichte, von den Auseinandersetzungen, die sich zugespitzt hatten, als sie die Erde II erreichten, und der anschließenden Aufteilung in drei Gruppen. Kelly wirkte nervös, als fürchtete sie, sie würde all dies vor einer Art Tribunal wiederholen müssen. Thandie fragte sich, was für andere Versionen dieser Saga sie wohl von Wilson Argent oder Holle Groundwater zu hören bekommen hätte.

Als Kelly fertig war, nickte Thandie. »Ich dachte mir schon immer, dass ihr vielleicht wieder nach Hause kommen würdet. Der Grundgedanke von Projekt Nimrod, in den Weltraum zu fliegen, hat mich noch nie überzeugt. Die Erde ist uns fremd geworden, aber nicht so fremd wie ein ganz anderer Planet. Ich hätte allerdings nicht vermutet, dass ihr euch in drei Gruppen aufteilen würdet. Vom technischen Standpunkt aus muss das so ziemlich die dümmste Entscheidung sein, die ihr treffen konntet. Gordo Alonzo würde an die Decke gehen. Aber, wow – drei Wege, drei Ziele. Ich bin gespannt, wie das ausgeht.«

»Nun ja«, sagte Masayo, »die Erde II ist einundzwanzig Lichtjahre entfernt. Wir haben jedes Signal überholt, das sie senden könnten. Vielleicht hören wir in vierzehn Jahren etwas von ihnen. Aber von der Erde III werden wir frühestens in hundert Jahren hören.« Er runzelte die Stirn. »Komischer Gedanke.«

Thandie rief sich ins Gedächtnis, dass er im Grunde ein Militär war; er hatte lernen müssen, mit einigen sehr seltsamen Gedanken zurechtzukommen. »Sie haben sich entschieden, zur Erde zurückzukehren, Masayo. Weshalb?«

»Ich habe einen Sohn aus einer früheren Beziehung«, sagte Masayo unbeholfen. »Auf der Erde, meine ich. Ich hatte nie vor, ihn zurückzulassen. Es war nur ein unglücklicher Zufall, dass ich überhaupt an Bord der Arche war.«

»Ich habe auch ein Kind«, sagte Kelly. »Ich glaube, das hat mich dazu gebracht, nach Hause zu kommen.«

»Und dein Ehrgeiz«, fauchte Mike Wetherbee. »Dein verdammter Stolz.«

Kelly hätte etwas darauf erwidert, aber Thandie hob die Hand. »Das sind alte Streitereien. Ihr könnt sie ebenso gut hinter euch lassen, sie oben im Weltraum zurücklassen.« Ihr Blick schweifte über die Wasser von Panthalassa, ein Weltmeer, dessen Name von einem der Pioniere der Erforschung der Kontentaldrift geprägt worden war. »Ich weiß nicht, was ihr erwartet habt. Das hier ist alles, was wir euch zu bieten haben. Hier werdet ihr den Rest eures Lebens verbringen …«

»Es gibt noch etwas, wonach wir suchen«, sagte Kelly. »Wir haben von der Umlaufbahn aus gelauscht. Ich hatte gehofft, wir könnten Kontakt aufnehmen, aber wir haben nichts gehört.«

Thandie nickte; damit hatte sie gerechnet. »Ihr hattet gehofft, etwas von der Arche Zwei zu hören.«

»Es war ein Projekt meines Vaters. Kann sein, dass er sogar noch am Leben ist«, sagte Kelly ein wenig wirr. »Es ist bloß eine vage Vermutung. Er müsste jetzt in den Neunzigern sein, aber …«

»Ich habe nicht gehört, dass er gestorben ist. Und auch nicht, dass die Arche Zwei ein Fehlschlag war. Hab seit Jahren nicht mehr mit ihnen gesprochen, aber das hei?t nicht, dass sie nicht noch immer dort hocken. Ich kann es arrangieren, dass ihr mit ihnen reden k?nnt, wenn ihr wollt. Ich kann es zumindest versuchen. ?

Kellys Augen wurden groß. »Und dorthin reisen?«

»Das ist Sache der Crew der Arche Zwei. Wir haben nicht die Mittel, euch dorthin zu bringen.« Sie musterte Kelly und die anderen, die unsicher dreinschauten. »Sind Sie sicher, dass Sie sich auf die Jagd nach der Vergangenheit machen wollen?«

Kelly Gesicht wurde hart. »Ich würde es zu schätzen wissen, wenn Sie den Anruf tätigen könnten, statt mich zu psychoanalysieren. «

Ihre Aggressivität schien Masayo zu beunruhigen. Mike Wetherbee lächelte nur.

Thandie verbeugte sich und legte die Hände erneut auf ihre angewinkelten Knie.

»Mom?« Der kleine Eddie Saito kam auf Kelly zugestolpert. Nur vier Jahre alt, ging er wie ein neugeborenes Rehkitz, dachte Thandie, die wahrscheinlich als Einzige auf dem Floß noch wusste, wie ein Rehkitz aussah. »Ich hab mit den Kindern gespielt. Darf ich schwimmen gehen?«

Kelly beachtete ihn nicht. »Also, wo ist die Arche Zwei?«

Mike Wetherbee lächelte gehässig. »All diese Jahre, und dein teurer Vater hat dir das nie erzählt. Tolle Beziehung habt ihr gehabt.«

»Sagen Sie’s mir einfach, Thandie.«

Thandie zeigte nach unten. »Yellowstone.«

Eddie zupfte an Kellys Ärmel. »Mom? Darf ich schwimmen gehen?«


79



Auf dem Weg zu Wilson, den sie wegen seiner Beziehung zu Steel zur Rede stellen wollte, trafen sich Holle und Grace im oberen Teil des Kegels von Hawila, wo sie auf Venus warteten.

Sie schauten durch den gesamten offenen Tank nach unten. In der Mikrogravitation nach der Aufteilung waren die meisten Decksböden erneut herausgenommen worden, um den großen Innenraum des Moduls zu öffnen. Die lange Rutschstange verlief immer noch in der Achse des Moduls, und auf ihrer gesamten Länge drängten sich Kabinen aneinander, die mit Klammern und Seilen befestigt waren und in allen Winkeln abstanden. Der Arbeitstag war in vollem Gange. Überall schwebten Menschen, die mit ihren Angelegenheiten beschäftigt waren. Das ganze Modul war erfüllt von Geräuschen und Stimmen; der Abbau der Decks hatte es in einen Hallraum verwandelt. Unten, ungefähr auf Höhe von Deck fünf, sah Holle einen versammelten Traumzirkel, fast alles junge Leute. Einer von ihnen war Zane Glemp; er redete und hielt sie in seinem Bann. Um Deck acht herum war die Hälfte des Fußbodens an Ort und Stelle belassen worden. Er diente nun als Basis für Wilsons Kabine, ein imposantes Gebilde aus Trennwänden und Decken, ein Abfall-Palast. Der ganze Innenraum war in den künstlichen Sonnenschein der großen, an den Wänden angebrachten Bogenlampen getaucht; die staubige Luft streute das Licht.

Man konnte die verschiedenen Generationen mühelos auseinanderhalten. Wie Holle und Grace gehörten die meisten Leute an Bord noch zu der Generation, die das Schiff vor achtzehn langen Jahren auf der Erde bestiegen hatte. Jetzt wurden sie allmählich alt; sie waren größtenteils Ende dreißig oder Anfang vierzig, und sie bewegten sich mühelos, aber ohne Eleganz.

Dann kamen die Teenager wie Helen Gray, die nach dem Start von Gunnison geboren waren, ihre Jugendjahre in der Mikrogravitation verbracht hatten und sich mit unbewusstem Geschick bewegten. Die meisten von ihnen besaßen jedoch keine große Ähnlichkeit mit Helen. Sie trugen primitive Kittel, die ihre Arme und Beine frei ließen; ihre Haut war mit Tätowierungen geschmückt, die zu den Graffiti an den Wänden passten, für die Erwachsenen unverständliche Zeichnungen, die jedoch ihre Zugehörigkeit zu dem einen oder anderen Stamm symbolisierten. Sie bewegten sich in Schwärmen wie exotische Fische in einem Bassin, ohne die Erwachsenen zu beachten, und behielten einander misstrauisch im Auge. Holle wusste, dass nur wenige dieser Kinder jemals am offiziellen Unterricht teilnahmen. Es bereitete ihr Sorgen, dass sie so wenig mit dem Schiff und seiner Mission verbunden waren; dies war immerhin die nächste Generation der Crew. Wilson behauptete, ihm sei das egal. Wenn er ihnen überhaupt einmal entgegentreten musste, schickte er seine Illegalen-Kumpane hin, eine größere, härtere Gang als die anderen. Andererseits hatte Wilson so seine eigene Art, mit diesen jungen Leuten umzugehen. Das war der Grund, weshalb Holle und Grace jetzt mit ihm sprechen wollten.

Und schließlich kamen die Jüngsten von allen, die Kinder von sieben Jahren und darunter, die im freien Fall geboren und aufgewachsen waren. Da sie nie etwas anderes kennengelernt hatten, schossen sie furchtlos durch die Luft. Eine Gruppe von Kindern arbeitete sich gerade an einer Wand nach oben, um sie zu s?ubern; sie hatten Reinigungsschw?mme in den H?nden und Wasserkanister auf den kleinen R?cken. Trotz des allgemeinen L?rms konnte Holle das Nonsense-Lied vernehmen, das die Kinder mit ihren Piepsstimmen bei der Arbeit sangen: ?Lieblich Meer, sei mein Taifun / du bist mein Engie, mein Tiffie / lieblich Meer, sei mein Taifun ?? Sie sangen es als Kanon, wobei sich die fragmentarischen Zeilen ?berlappten, und rieben mit ihren Schw?mmen im Rhythmus der Musik ?ber die Wand. Sie waren eine magere Brut, dachte Holle immer, ?berraschend kleinw?chsig, bleich wie die blinden W?rmer, die einst in den lichtlosen Tiefen der Erdmeere geschwommen waren.

Und in einem vergleichsweise ruhigen Moment drang Zanes dünne Stimme aus dem Traumzirkel zu ihr herauf.

»Die Ärzte – aber sie sind keine richtigen Ärzte, und sie geben es sogar zu –, die sagen, ich existiere nicht. Ich bin nur ein Konstrukt der Beziehung zwischen diesen Teilmenschen, die in meinem Kopf wohnen und auch nicht existieren. Vielleicht ist das bei uns allen so. Vielleicht existiert keiner von uns, außer in der Art und Weise, wie wir uns aufeinander beziehen. Wenn wir einer nach dem anderen dieses Modul verließen, würde jeder von uns da draußen, allein im Dunkeln, vielleicht aufhören zu sein. Und wenn schließlich nur noch der Letzte von uns übrig wäre, eine Person, die sich noch im Modul befände – vielleicht würde er oder sie sich dann auch einfach in Nichts auflösen …«

Das war eindeutig Zane 3; Holle erkannte den Inhalt seiner Worte, die Manierismen wieder. Aber es war ein energischerer Zane 3, zorniger, stärker, irgendwie entschlossener. Vielleicht angespornt vom reintegrierten Schmerz von Zane 1.

»Weißt du, Wilson macht sich Sorgen wegen dem, was Zane so von sich gibt«, sagte Grace leise. »Zane bestreitet, dass irgendetwas außerhalb des Moduls existiert, und sagt, er erinnere sich an nichts, was vor dem Warp-Start vom Jupiter geschehen sei. Na ja, die meisten dieser Kinder waren auch noch nie außerhalb des Moduls, und sie erinnern sich ausschließlich an die Reise. Er sagt, was sie irgendwo tief in ihrem Innern hören wollen, denke ich.«

»Es ist bloß Unterhaltung. Die HeadSpace-Zellen sind zu teuer, deshalb tauschen sie Träume aus. Zane ist nur ein Geschichtenerzähler. Zwar ein unheimlicher, aber nicht mehr.«

»Bist du sicher? Er hat jahrelang Begründungen für seine Theorien entwickelt. Zum Beispiel behauptet er, ein Warp-Antrieb sei unmöglich; er könne das von den Grundprinzipien ausgehend beweisen.«

»Aber jedes dieser Kinder kann in die Kuppel gehen und zu den Sternen hinausschauen. Wie erklärt er das weg?«

»Es sei eine Simulation, mit offenkundigen Fehlern. Die Linsenwirkung des Warp-Feldes etwa, die sei nur eine Verwürfelung einer Sternenfeld-Projektion.«

»Und was für ›offenkundige Fehler‹ gibt es noch?«

»Seltsame Übereinstimmungen. Wir fliehen angeblich vor einer Flut, aber die Erde II lag in einem Sternbild namens Fluss. Flut, Fluss? Um unser Ziel in der Sternenlandschaft zu finden, hält man Ausschau nach dem Orion – und zugleich behaupten wir, mit einem sogenannten Orion-Antrieb von der Erde gestartet zu sein. Zane vertritt die Ansicht, diese Namensgleichheiten seien Symptome eines faulen Design-Regimes. Oder vielleicht von einem dissidenten Sim-Designer eingeschmuggelte Fingerzeige, die uns helfen sollen, die Wahrheit über unsere Situation herauszufinden.«

»Das sind doch alles bloß Zufälle!«

»So was wie Zufälle gibt’s in Zanes Welt nicht. Nur Verschwörungen. Und das ist noch nicht alles. Um festzustellen, woher wir kommen, schaut man zum Ophiuchus zurück, dem Schlangenträger. Dieser Teil des Himmels ist ausgelöscht, so dass man Sol, die Heimat des Menschen, nicht sehen kann. Aber warum der Schlangenträger? Zane hat im Archiv gewühlt und einen Bericht über Ouroboros gefunden, einen altägyptischen Mythos, eine Schlange, die unablässig ihren eigenen Schwanz verschlingt. Was wir also hinter uns sähen, sagt Zane, sei kein Warp-Kegel oder so etwas, sondern das Maul von Ouroboros, der fortwährend unsere falsche Realität verschlingt, während vor uns fortwährend eine neue Realität konstruiert wird, um uns die Illusion von Bewegung zu verschaffen.«

»Mein Gott. Ich hatte keine Ahnung, dass seine Fantasien mittlerweile so ausgeklügelt sind.«

Grace zuckte die Achseln. »Sogar ich glaube ihm manchmal. Nach achtzehn Jahren in diesem Tank scheint die Erde nur noch eine ferne, unwirkliche Erinnerung zu sein. Wenn mir nicht immer noch so die Füße wehtäten, weil ich all diese Jahre auf den Plains herumgewandert bin …«

Holle schüttelte den Kopf. »Ob wir nun in einem Käfig in der Wüste von Nevada begraben sind oder nicht, die Sanitäranlagen müssen trotzdem repariert werden. Daran halte ich mich fest. Da kommt Venus. Gehen wir zu Wilson und bringen wir das mit ihm und Steel hinter uns.«


In seiner Kabine trug Wilson nur schmutzige Shorts, Weste und Strümpfe, und er lag faul herum, lose an einen Haufen Decken geleint. Er setzte Fett an, und seine Haut war teigig.

Zwei seiner Kumpane waren bei ihm, Illegale namens Jeb Holden und Dan Xavi. Sie waren beide ehemalige Eye-Dees, die zu den Sicherheitsdiensten gegangen waren und sich beim Start der Arche mit Gewalt Zugang zum Schiff verschafft hatten. Jetzt waren sie ?bergewichtige Vierzigj?hrige, die wort- und tatenlos in den Ecken der Kabine hingen und die Frauen mit leicht einsch?chterndem Gehabe beobachteten.

Von Steel, dem Zankapfel, war nichts zu sehen.

Wilson wusste, warum sie hier waren. Holle ergriff das Wort; gehemmt und nervös schlich sie um den heißen Brei herum.

Soweit sie wusste, hatte Wilson nach der Aufteilung Kelly nicht durch eine andere Dauerpartnerin ersetzt. Aber er hatte sich zahlreiche Geliebte aus der ganzen Crew zugelegt. Er hatte auch ein paar Kinder gezeugt. All dies war mit Zustimmung der beteiligten Frauen geschehen, und die Sozialingenieure in Colorado hätten es gutgeheißen, dass er seine Gene verbreitete. Doch dann war ihm bei einer Party Steel Antoniadi ins Auge gefallen. Nach der Farbe der Wände in diesem leergeräumten Modul benannt, war sie in der Mikrogravitation zu einem dunklen, gertenschlanken, unbewusst anmutigen Geschöpf herangewachsen, exotisch in ihrem Kittel und mit ihren Tattoos und erst vierzehn Jahre alt. Ihre Mutter, eine Illegale namens Sue Turco, hatte zu viel Angst vor Wilson gehabt, um etwas dagegen zu unternehmen. Aber ihr Vater, Joe Antoniadi, ein ehemaliger Kandidat, hatte sich bei den anderen Eltern darüber beschwert, insbesondere bei Holle, seiner Chefin.

Wilson schnitt Holle das Wort ab. »Was soll der Scheiß, Holle. Ich zwinge die Kleine zu nichts.«

»Darum geht es nicht, Wilson …«

»Schau mich an. Ich bin der mächtigste Mann auf dem Schiff. Seit zehn Jahren. Und reich bin ich auch! Ein Kredit-Millionär. Aber ich kann mir nichts kaufen. Also, was ist für mich drin? Ich will’s dir sagen. Nur das Appetitlichste auf dem Schiff. Ich rede von jungem Fleisch, Holle. Jung, heranreifend und genial biegsam nach einem Leben in der Schwerelosigkeit. Das ist f?r mich drin ? habe ich jedenfalls beschlossen, als ich gesehen habe, wie Steel da durch die Luft gewirbelt ist.?

»Bei der Mission geht’s um die Kinder, Wilson«, sagte Venus hitzig. »Die sind nicht bloß irgendwelche ›Appetithappen‹, an denen du dich gütlich tun kannst. Was kommt als Nächstes, suchst du die Schülergruppen heim, um Köder für deine Handlanger zu finden? Ich kann einfach nicht glauben, was aus dem Jungen geworden ist, mit dem ich aufgewachsen bin.«

Wilson lachte nur. Einer seiner Kumpels furzte, ein obszön feuchtes Geräusch.

»Du legst es anscheinend drauf an, Ärger zu kriegen, Wilson«, sagte Holle. »Wir sind hier nicht in einem feudalen Dorf. Letztendlich regierst du auf Konsensbasis. Und du treibst es zu weit.«

Wilson warf Jeb und Dan einen Blick zu. Die beiden grinsten ihn an. »Ich lass es mir durch den Kopf gehen. Kann ich sonst noch was für die Damen tun?«


80



AUGUST 2059



An dem Morgen, an dem das U-Boot von der Arche Zwei kommen sollte, herrschte große Aufregung.

Kelly betrachtete ihre Raumfahrergefährten, die sich am Rand des Floßes drängten und darauf warteten, dass das U-Boot auftauchte. Gegenüber der gesunden, robusten Besatzung des Floßes mit ihrer gebräunten Haut und den straffen Schwimmmuskeln wirkten die Seba-Leute wie Gespenster, wie geisterhafte Wesen mit zu langen Gliedmaßen und zu großen Köpfen. Ihr Eifer beunruhigte Kelly ein wenig. Sie hatten den größten Teil ihres Lebens, wenn nicht sogar ihr ganzes Leben in einer künstlichen Umgebung verbracht und ließen sich zu leicht von dem schäbigen Müll-Floß ablenken, auf dem sie den Rest ihres Lebens würden verbringen müssen. Aber schließlich war es Kelly selbst gewesen, die Thandie Jones bei ihrem ersten richtigen Gespräch nach der Arche Zwei gefragt hatte.

Während sie warteten, begann es zu regnen; die Tropfen pladderten ins Meer. Am Himmel verweilten noch die letzten Reste einer roten Morgendämmerung, und ein schwacher Schwefelgestank lag in der Luft. Thandie schnupperte. »Vulkanwetter. Regen kondensiert um Ascheteilchen …«

Stürmischer Jubel ertönte, als das U-Boot die Wasseroberfläche durchbrach. Nackte, braunhäutige Kinder schwammen zu ihm hinaus. Kelly sah einen stromlinienförmigen Rumpf, einen Kommandoturm mit Periskop und Funkmasten und ein kräftiges Sternenbanner auf der Flanke. Das U-Boot kam so nah heran, dass Leitern vom Flo? zum Boot gelegt werden und man trockenen Fu?es hin?bergehen konnte. Die Flo?kinder flitzten unbek?mmert ?ber die Leitern hin und her und spielten im Wasser, das vom Rumpf des Unterwasserfahrzeugs herabstr?mte.

Zwei Angehörige der U-Boot-Besatzung kamen heraus, ein Mann und eine Frau. Sie waren jung, vielleicht Anfang zwanzig, trugen einigermaßen sauber aussehende blaue Overalls und Stiefel und hatten einen militärischen Kurzhaarschnitt. Kräftig gebaut, aber blass, hatten sie mehr mit den Seba-Leuten als mit den Flößern gemein, fand Kelly. Sie überquerten die Leitern zum Floß jedoch mühelos. Kleine Kinder wimmelten um sie herum, zupften an ihren Händen und Hosenbeinen.

Thandie Jones ging steif zu den beiden hinüber, und Kelly folgte ihr.

Der junge Mann hatte ungefähr Kellys Größe. Seine Haare waren blond, seine Augen blassblau. Er trug Aufnäher an seinem Overall, eine amerikanische Flagge und ein Missionsemblem; sie ähnelten den Astronautenabzeichen, die Gordo Alonzo den Kandidaten immer gezeigt hatte. Der Aufnäher war ein auf der Spitze stehendes Dreieck mit einem keilförmigen Stück des Erdquerschnitts, einem Streifen Ozean und den fetten Worten ARCHE ZWEI über einem schematisch dargestellten Himmel. Kelly starrte den Aufnäher an. Er war der erste reale Beweis dafür, dass es die Arche Zwei, deren Existenz ihr Vater ihr durch allerlei Lügen und Ausflüchte verheimlicht hatte, tatsächlich gab.

»Miss Kenzie«, sagte der junge Mann.

Sie starrte ihn an. Verwirrt sagte sie: »Nennen Sie mich Kelly.«

»Willkommen daheim. Ich kann mir nicht vorstellen, was Sie getan und gesehen haben.« Sein Akzent klang für Kellys Ohren seltsam, gestelzt, nicht richtig amerikanisch. Er schien Probleme zu haben, ihr in die Augen zu schauen. ?Ich w?nschte, ich k?nnte Ihr Schiff sehen.?

Mike schnaubte. »Wünschen Sie sich das mal lieber nicht. Nach achtzehn Jahren ist es ein fliegendes Klosett; am besten, man lässt es verbrennen.« Er streckte die Hand aus. »Mike Wetherbee.«

»Ich weiß, wer Sie sind, Doktor Wetherbee. Wir alle haben die Tagesberichte gelesen, die Sie zur Erde gesendet haben. Ihr seid allesamt Helden für uns. Es ist uns eine Ehre.« Er schüttelte Mike und Masayo die Hand und bückte sich dann, um Eddie zu inspizieren, der ihn angrinste. »Und ich weiß auch, wer du bist.«

»Das hier ist die Gruppe, die zur Arche will«, erklärte Thandie. »Ich, Kelly, Mike, Masayo, der kleine Eddie hier. Habt ihr Platz für uns in eurem Kahn?«

»Es ist nicht die Trieste, aber wir tun unser Bestes.« Er drehte sich zu Kelly um, sah sie kurz an und wandte den Blick ab. »Ihr habt einen so weiten Weg zurückgelegt, mehr als vierzig Lichtjahre. Aber es sind noch einmal zwölf Kilometer bis zur Arche Zwei – senkrecht nach unten. Seid ihr bereit?«

»Helfen Sie mir über diese Leiter, dann gehöre ich ganz Ihnen«, sagte Kelly. »Ihr seid sehr großzügig zu uns – ich weiß nicht mal eure Namen.«

Er starrte sie mit einer seltsamen Intensität an. »Sie erkennen mich nicht.«

»Tut mir leid.«

Sein Gesicht wurde rot. »Ich bin dein Sohn. Dexter. Dein erster Sohn.«

Das kam völlig unerwartet. Kelly fühlte sich, als hätte man ihr einen Faustschlag verpasst. Eddie quiekte, und sie merkte, dass sie seine Hand zu fest gepackt hielt. Sie ließ mit einer bewussten Anstrengung los.

»Meine Kollegin heißt Lisa Burdock.« Dexter schien noch mehr sagen zu wollen. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und ging über die Leiter zum U-Boot zurück.

Mike Wetherbee grinste. »Der Sohn, den du wegen der Sterne verlassen hast. Sieh an, sieh an.«

»Halt dein verdammtes Maul, Doc.« Verwirrt und niedergedrückt von der Schwerkraft, merkte Kelly, dass sie in Gefahr war, an Ort und Stelle zusammenzubrechen. Nun, dazu würde es nicht kommen. Sie tätschelte Eddie den Kopf, nahm erneut seine Hand und trat vor. »Wer hilft mir über die Leiter?«

Der Regen nahm zu und wurde zu einem richtigen Wolkenbruch.


Um in das U-Boot zu gelangen, musste Kelly durch den Kommandoturm in einen engen Schacht steigen, an dessen Wand Haltegriffe angebracht waren. Er führte tiefer in den Rumpf hinab, als sie erwartet hatte. Es stank nach Metall, Elektrik, Benzin und Urin.

Sie landete in einer runden Kammer von ein paar Metern Durchmesser mit einem simplen Steuerstand vor einer Wand voller Monitore. Dicke Fenster waren in die Kugelwände eingelassen; durch die meisten schaute man in trübes blaues Wasser hinab. Gitterelemente bildeten einen ebenen Boden; der Bereich darunter wurde als Lagerraum für lose Ausrüstungsgegenstände und Pressluftflaschen benutzt. Lisa Burdock stellte Klappliegen auf. Kelly setzte sich dankbar auf eine der Liegen, um die Schwäche in ihren Beinen, ihrem Rücken und ihrem Hals zu verbergen. Dexter verteilte Decken und dicke, gefütterte Jacken, obwohl es in der Kugel heiß und eng war. Eddie musste heruntergetragen werden; er wurde von Hand zu Hand gereicht, weil die Haltegriffe für ihn zu weit auseinanderlagen. Aber sobald er unten in der runden Kammer war, schien sich seine Stimmung aufzuheitern.

Sobald sie alle auf ihren Liegen Platz genommen hatten, schlug Dexter die Luke zu. Die Ballasttanks füllten sich gurgelnd mit Wasser, und sie sanken sofort nach unten. Kelly hatte das Gefühl, in die Tiefe zu stürzen. Ihr drehte sich der Magen um.

Die Konstruktion des U-Boots beruhte in der Tat auf jener der Trieste, eines klassischen Tieftauchbootes, das fast ein Jahrhundert zuvor die extremen Tiefen des Ozeans erreicht hatte. Nach Beginn der Flut hatte Thandie Jones viele Erkundungstauchfahrten in einer rekonstruierten Trieste unternommen, deren Komponenten Nathan Lammockson in diversen Museen zutage gefördert hatte. Nun gehörte dieses neue U-Boot zu einer Flotte von Fähren, die den Meeresboden erreichen konnten. »Sie ist in Jackson, Wyoming, gebaut worden«, sagte Dexter. »Damals noch weit vom Meer entfernt. Aber als ’43 die Flut kam, ist sie einfach losgeschwommen.« Er schlug mit der Faust gegen die Metallwand. »Das ist unser Druckkörper. Der restliche Raum des U-Boots wird größtenteils von Auftriebskörpern eingenommen. Sie sind mit Benzin gefüllt, das selbst in extremer Tiefe kaum komprimierbar ist; konventionelle Lufttanks würden einfach zerdrückt werden, obwohl wir welche für die Navigation in der Nähe der Wasseroberfläche haben. Wir haben auch Ballastsilos mit Steinen, die wir abwerfen können, wenn wir rasch aufsteigen müssen, obwohl wir in solchen Notfällen meistens abbrechen und zur Arche unten zurückkehren. Dort bekommen wir eher Hilfe als hier oben.«

»Gibt’s auch Kaffee in diesem Kahn?«, fragte Thandie.

Masayo hatte Eddie locker auf einer Liege festgeschnallt, aber der Junge kletterte bald herunter und fing an, über den Boden zu krabbeln und seine Finger durchs Gitter zu stecken.

Dexter beobachtete ihn neugierig. »Wir befördern nicht viele kleine Kinder in diesen Fähren, wie ihr euch denken könnt. Er sieht aus, als fühlte er sich wie zu Hause.«

»Er ist in einer Kiste zur Welt gekommen«, sagte Mike Wetherbee. »Er ist an so was wie das hier gewöhnt. Die Sicherheit des Eingesperrtseins.« Er holte tief Luft. »Und die eigentümliche, tröstliche Abgestandenheit wiederaufbereiteter Luft.«

Danach verebbten die Gespräche. Dexter verteilte Kaffee.

Binnen Minuten wurde der Ozean draußen vor den Fenstern dunkel. Thandie hatte Kelly erklärt, dass nur wenig Licht von der Wasseroberfläche tiefer als rund hundert Meter drang. Kelly hörte, wie der Druckkörper knackte und knarrte, als er sich auf den zunehmenden Wasserdruck einstellte. Wie seltsam, dass sie zwei Jahrzehnte in Druckkörpern verbracht hatte, die Atemluft vor dem Entweichen ins Vakuum bewahren sollten, und jetzt war die Situation genau umgekehrt: Sie befand sich einem weiteren Druckkörper, umgeben von Wasser, das sich wie eine Faust um ihn zusammenballte.

Sie sah ihre Gefährten an. Thandie lag auf ihrer Liege, eine Decke bis zum Kinn hochgezogen, die Augen geschlossen. Mike Wetherbee schien sich insgeheim für die Technik zu interessieren. Masayo behielt Eddie im Blick, der auf dem Boden saß und fröhlich am Gitter herumfummelte. Lisa Burdock saß den Passagieren schweigend gegenüber. Kelly fiel auf, dass das Mädchen noch kein einziges Wort gesagt hatte. Sie war offenkundig ein Geschöpf der Arche Zwei, vielleicht ihr ganzes Leben lang für einen einzigen Zweck ausgebildet und nun eigentlich nicht mehr an anderen Dingen interessiert – nicht einmal an zurückgekehrten Sternenfahrern. Kelly fragte sich, ob sie als Kandidatin früher auch so monomanisch gewesen war.

Und Dexter konzentrierte sich auf seine Bedienungselemente. Das war sein Job, aber Kelly war ziemlich sicher, dass er sich derart demonstrativ in seine Aufgaben vertiefte, um sich nicht mit ihr, Masayo und Eddie, seinem Halbbruder, unterhalten zu müssen.

Sie war erleichtert und schuldbewusst zugleich. Sie brauchte unbedingt Zeit, um mit der Situation fertigzuwerden. Obwohl sie immer behauptet hatte, eines der Motive für ihre Rückkehr zur Erde sei ihr dort zurückgelassener Sohn, hatte sie im Grunde nicht geglaubt, ihn jemals wiederfinden zu können. Ihr war nicht in den Sinn gekommen, dass ihr Vater seinen Enkel wahrscheinlich in die Arche Zwei mitnehmen würde, wenn er einen solchen Zufluchtsort für sich selbst erbaute. Sie hatte sich nicht einmal vorgestellt, dass Dexter heranwachsen würde, erkannte sie jetzt. In ihrem Kopf war er immer der Zweijährige geblieben, dem sie an jenem letzten Morgen einen Abschiedskuss gegeben hatte; dann war sie aus seinem Zimmer geschlüpft, bevor er aufwachte und merkte, dass sie fort war, und zu dem Bus gerannt, der sie nach Gunnison brachte. Es war, als wäre Dexter gestorben, nicht, als hätte sie ihn verlassen.

Nun, jetzt war sie zusammen mit ihm hier eingeschlossen, bereit zu allen Auseinandersetzungen und Versöhnungen, die vor ihr lagen.

Die Lufttemperatur sank stetig, je tiefer es hinab ging. Dexter wischte mit dem Ärmel Kondenswasser von den Steuerelementen. Die Erwachsenen hüllten sich in die dicken Jacken, die Lisa und Dexter ausgegeben hatten. Eddie sagte, er brauche keine Jacke, aber Masayo legte ihm eine Decke um die schmalen Schultern. Ein wenig später wurde der Junge allmählich müde, und Masayo hob ihn auf seinen Schoß, wickelte ihn in seine eigene Jacke und ließ ihn ein wenig schlafen.

In der kräftezehrenden, feuchten Kälte, der summenden, tröstlichen Stille des U-Boots fühlte sich Kelly trotz der Kilometer Meereswasser, die sich über ihr türmten, auf seltsame Weise geborgen; es war ein wenig wie in der Arche.

Vielleicht schlief sie.


Sie wurde abrupt von einem heftigen Schaukeln und dem Surren von Motoren aufgeweckt. Lisa zeigte auf eines der kleinen Fenster, hinter dem sich Lichter im Dunkeln bewegten.

Kelly erhob sich steif und frierend von ihrer Liege und bückte sich, um durch den Glasstöpsel eines Bullauges zu blicken. Sie sah Kugeln auf dem Meeresboden liegen, befestigt mit Kabeln und erhellt von Scheinwerfern, schimmernd wie eine Industrieanlage. Die Kugeln berührten einander an kreisrunden Schnittstellen, die sie verbanden. Jede Kugelhülle war mit einer Bemalung versehen, dem Sternenbanner, einem fetten UNITED STATES und diesem dreieckigen Arche-Zwei-Logo. Ein weiteres U-Boot, das ihrem glich, schwebte über der Anlage, mit lose herabhängenden Stahlseilen vertäut.

Sie schienen über einer Straße und einem Hügel im Schmutz zu schweben, der früher irgendein Fahrzeug gewesen sein mochte. Doch der Schlick des Meeresbodens lag überall wie trüber Schnee, und seltsame Fische und Krebse, hellrosa und weiß in den Scheinwerfern des U-Boots, zogen ihre Bahnen über geborstenem Asphalt. Ein von den Scheinwerfern des U-Boots aus dem Dunkeln gerissener Maschendrahtzaun erstreckte sich bis zum Rand des Blickfelds, durchbrochen von Gebilden, die wie Wachtürme aussahen.

Dexter tippte auf eine Taste. Auf einem der Bildschirme erschien ein menschliches Gesicht, breit und verhutzelt, und eine raue Stimme schnarrte: »Fähre Drei, Sie haben Erlaubnis anzudocken. Und ihr Passagiere, ihr seid jetzt zw?lf Komma vier Kilometer tief unter den Wellen, tiefer als jeder Punkt auf dem Meeresboden vor der Flut. Willkommen in der Arche Zwei.?

Kelly machte große Augen. »Dad?«

Edward Kenzie funkelte sie an. »Bist du das, Kelly? Ich wusste, dass du’s vermasseln würdest. Wir sehen uns, wenn du die Regularisierung durchlaufen hast. Arche out.« Der Bildschirm flackerte und wurde blau.


81



Die »Regularisierung« erwies sich als langwierige Prozedur. Jeder, der »oben« gewesen war, auch die Besatzung der Fähre, musste sich einem Druckausgleich unterziehen; dazu gehörte, dass sie ein paar Stunden in einer Art Luftschleuse saßen, während Sanitäter Blut- und Gewebeproben aus ihren Nasenschleimhäuten entnahmen und eine gründliche ärztliche Untersuchung durchführten. Dexter zufolge sollte damit sichergestellt werden, dass sie keine unbekannten Bazillen in die Arche einschleppten. Die Luftschleuse selbst wies weitere Ähnlichkeiten mit der Arche Eins auf: die abgewetzten Metallflächen, die durch häufige Benutzung glattpolierten Türgriffe, das leicht verkratzte Glas der dicken Portale. Wie die Arche Eins war auch dies inzwischen eine alte Maschine.

Jenseits des Behandlungsraums stießen Gänge mit Metallwänden aufeinander. Dort wurden sie von Mel Belbruno empfangen. Er stand in Habachtstellung da, als die Tür der Luftschleuse aufging. Doch als er Kelly sah, löste er sich aus seiner militärischen Haltung, lief zu ihr und umarmte sie. »Mein Gott. Ich hätte nie gedacht, dass ich dich nochmal wiedersehen würde.«

»Tja, war auch nicht so geplant.« Sie hielt ihn auf Armeslänge entfernt. Er war mit den Jahren korpulenter geworden, und seine Haare lichteten sich, aber über seinem dicker gewordenen Hals war ein sehr vertrautes, ein wenig nervöses Gesicht. Er trug den gleichen Overall wie die anderen, aber bei ihm wirkte er elegant; die Hosenbeine sahen aus, als wären sie gebügelt worden. »Gut siehst du aus, Mel. Du hast schon immer so ausgesehen, als gehörtest du in eine Uniform.«

»Wir haben alle euer Schiffstagebuch gelesen. Was für ein unglaubliches Abenteuer. Ich habe euch immer beneidet. Was ihr gesehen habt, wohin ihr gekommen seid …«

»Wir reden noch über Holle. Wir nehmen uns die Zeit.«

»Das wäre sehr nett.«

»Sie hat gute Arbeit geleistet, Mel. Sehr gute. Und sie hat keinen anderen gefunden. Jedenfalls nicht, soweit ich weiß, also bis zur Aufteilung. Es gab immer nur dich.«

Er nickte mit zusammengepressten Lippen.

»Mel, mein Vater …«

»Er schläft gerade. Er ist vierundneunzig.«

»Ich weiß, wie alt mein Vater ist«, fuhr sie auf.

Er zuckte zurück. »Entschuldige. Weißt du, er möchte dich sehen, aber er braucht viel Ruhe. Ich würde gern für eine Weile als euer Gastgeber fungieren. Wollt ihr euch ausruhen, schlafen, etwas essen?«

»Allein hier zu stehen, macht mich schon müde. Warum führst du uns nicht herum – wenn ich mich dabei auf dich stützen darf?«

»Sicher.« Er warf einen Blick auf die Gruppe, einschließlich Eddie, der sich an der Hand seines Vaters festhielt. »Und das ist Eddie? Wir haben ein Spielzimmer für die Kinder.«

»Es gibt Kinder hier unten?«

»Wir sind auf Dauer hier. Lisa, vielleicht könntest du Eddie …«

»Nein«, sagte Kelly. »Entschuldige, Mel, ich habe eine bessere Idee. Dexter, warum nimmst du ihn nicht mit?«

Dexter wandte sich zu ihr um. »Warum sollte ich?«

»Weil er dein Halbbruder ist.«

Seine Miene war ausdruckslos. »Großvater hat gesagt, dass du so wärst. Manipulativ.« Er schaute auf Eddie hinunter, der aus eigenen unerkennbaren Gründen lächelte. »Aber ich schätze, das ist nicht seine Schuld. Komm, Kleiner. Wir müssen aufpassen, dass die anderen Kiddies beim Spielen nicht zu grob sind, du verletzt dich wahrscheinlich ein bisschen schneller als sie.«

»Ich komme auch mit«, sagte Masayo.

Eddie nahm Dexters Hand. »Ich heiße Eddie. Wie heißt du?«

»Dexter. Ich bin Dexter.« Sie gingen zusammen davon. Masayo folgte ihnen.

»Familien«, spöttelte Mike Wetherbee.


»Seid ihr so weit?«, fragte Mel.

Er erlaubte Kelly, sich bei ihm einzuhängen, und setzte sich zusammen mit ihr in Bewegung. Mike, Thandie und Lisa schlossen sich ihnen an. Mel legte ein langsames Tempo vor, als wären sie sehr alte, sehr schwache, aber hochrangige Besucher.

Sie stiegen eine Metalltreppe hinauf und folgten einem Gang, der um eine der großen Kugeln herumführte, aus denen dieses Habitat bestand – den »Tanks«, wie die Bewohner die Kugeln Mel zufolge nannten. Das Licht der Neonröhren war kalt und grell. Auf den vom Gang abgehenden Türen standen die Namen von Einrichtungen wie Luftversorgung, Wasserfiltrierung, Biomasseverarbeitung, Isolierstation und Geothermie. Offenbar beherbergte dieser Tank zentrale technische Funktionen.

Sie kamen an einer robusten Dekompressionskammer vorbei, die nach Mels Worten auch als innerer Schutzraum für den Fall eines Wassereinbruchs diente. »Die anderen Tanks sind offener als dieser. Wir haben gro?e Gemeinschaftsr?ume, einen Speisesaal, ein Amphitheater. Und Fabriken, eine gro?e Hydrokultur-Anlage ? obwohl wir gr??tenteils auf Produkte aus dem Meer angewiesen sind ? und gut ausgestattete Labors, vor allem f?r biologische Forschungen. Unseren Strom erzeugen wir aus Geothermie, der Energie der Erde selbst.?

Mike fragte: »Wie viele seid ihr?«

»Ungefähr hundert, darunter rund dreißig Kinder unter achtzehn Jahren. Unsere Gemeinschaft hat ungefähr dieselbe Größe wie die Crew der Arche Eins, und das Raumvolumen pro Kopf entspricht auch in etwa dem euren. Obwohl ihr im freien Fall wahrscheinlich mehr aus eurem Raum machen konntet. Wir sind eine menschliche Tiefsee-Kolonie.«

Die leicht gekrümmte Außenwand war von dicken Fenstern unterbrochen, deren sich verjüngende Rahmen Schutz davor boten, dass sie von außen eingedrückt wurden, wie Kelly vermutete. Sie blieben an einem Fenster stehen und schauten hinaus. Der Schein der Außenlampen reichte nicht weit in die Dunkelheit. Kelly sah glänzende Bogen, die Wände anderer Tanks. Noch mehr der krebsartigen Geschöpfe krabbelten im Schlick herum, und ein Fisch schwamm vorbei, knochig und eckig. Kelly rief sich ins Gedächtnis, dass sie sich zwölf Kilometer unter dem Meeresspiegel befand, tiefer als der tiefste Ozeangraben vor den Überschwemmungen. Etwas anderes bewegte sich über den Schlick. Es war ein niedriger, tischförmiger Roboter mit gegliederten Beinen, einem Kamerabündel und einem Manipulatorarm, der wie eine Miniaturausgabe des Manipulatorarms der Arche Eins aussah. Er kroch aus ihrem Blickfeld, mit unbekannten Angelegenheiten beschäftigt.

»Das Wasser steigt immer noch«, sagte sie. »Diese Kugelschalen müssen doch eine maximale Zerstörungstauchtiefe haben.«

»Schon jetzt widerstehen sie einer Tonne pro Quadratzentimeter«, sagte Thandie. »Aber sie sind noch für wesentlich höhere Drücke ausgelegt – sollten eine Meerestiefe von hundert Kilometern aushalten können, das theoretisch mögliche Maximum. Tatsächlich hat es den Anschein, als würde die Flut einen Höchststand von achtzehn Kilometern über dem alten Mittelwert erreichen, weit unter dieser Obergrenze. Und da dieses Gebiet vor der Flut ungefähr zweitausend Meter hoch lag, wird es keine Probleme geben.«

»Warum sind hundert Kilometer das Maximum?«, fragte Mike.

»Oberhalb dieser Grenze ist der Druck so hoch, dass Wasser sich zu einer Art Eis verfestigt. Auf keiner Welt mit ähnlicher Schwerkraft wie die Erde könnte es einen tieferen Ozean geben, obwohl die exakte Gefriertiefe von der Oberflächentemperatur und der thermischen Durchmischung abhängt …«

Mel sagte: »Als wir hier herunterkamen, war noch nicht abzusehen, dass der Höchststand bei achtzehn Kilometern liegen würde. Wir dachten, wir würden am Ende vielleicht lebendig in exotischem Eis begraben sein.«

Kelly schaute in die Dunkelheit hinaus. »Dieses Gebiet lag vor der Flut zweitausend Meter hoch? Wo sind wir hier?«

»In Wyoming«, sagte Mel.

Thandie sagte: »Im Yellowstone Park, um genau zu sein. Warst du schon mal hier, Kelly? Geysire, Schlammvulkane, Fumarolen, Parkplätze, Kiefern und Touristen an den Geländern um Old Faithful herum. Na ja, als ihr geboren wurdet, gab es solche Dinge wie Touristen schon gar nicht mehr, aber vielleicht habt ihr ja mal eine Trainings-Expedition hierher unternommen. Nein?«

Mel stand neben Kelly und spähte hinaus. »Edward Kenzie und Gordo Alonzo haben mich ’44 hierhergebracht, unmittelbar nachdem wir Alma aufgeben mussten. Ich wusste nicht mal, dass diese Anlage ?berhaupt existierte, obwohl Ed ihr Jahre seines Lebens gewidmet hat.?

»Ich auch nicht«, sagte Kelly mit Nachdruck.

»Die Arche Zwei sollte auch eine letzte Zuflucht für den Präsidenten der Vereinigten Staaten und seine Regierung sein. Präsident Peery hat’s aber nicht geschafft. Ich glaube, es ist lange her, dass wir offiziellen Funkkontakt mit irgendeiner Regierung hatten. Ich weiß nicht mal, wer jetzt Präsident ist. Wir finden es irgendwie gut, dass wir auf uns selbst gestellt sind, schätze ich.«

Thandie sagte: »Ich weiß, dass ein LaRei-Konsortium in den 2020ern mit dem Bau dieser Anlage begonnen hat, als es auch mit dem Arche-Eins-Projekt richtig losging, lange bevor die Flut hierherkam. Sie haben diese Tanks unter freiem Himmel gebaut, auf dem Gelände des alten Yellowstone Volcano Observatory, und darauf gewartet, dass sich das Wasser über ihnen schließen würde. Die U-Boot-Fähren haben sie drüben in Jackson gebaut und einfach aufschwimmen lassen.«

»Die Flut kam ’43«, sagte Mel. »Aber dann fanden die Eye-Dees diese Anlage und belagerten sie. Sie haben nicht mal damit aufgehört, als das Wasser kam; sie sind einfach auf Flöße umgezogen und haben weitergemacht. Als ich ’44 hierhergebracht wurde, bei der Evakuierung aus Alma, waren die großen Kuppeln fast schon vom Wasser bedeckt. Wir wurden aus den Hubschraubern zu Luken in den Dächern runtergelassen. Die ersten Wochen waren furchteinflößend, Kelly. Selbst als wir endgültig unter Wasser waren, konnten die Eye-Dees noch tauchen, um an uns heranzukommen. Es ist ihnen gelungen, eine der Kuppeln mit Haftminen zu zerstören. Bei diesem Vorfall kam Gordo Alonzo ums Leben. Aber das Wasser stieg damals um dreihundert Meter pro Jahr. Das ist fast ein Meter pro Tag. Wir haben zugesehen, wie die Eye-Dees auf der Brust des Meeres immer h?her gehoben wurden, bis sie schlie?lich nicht mehr zu sehen waren und uns nicht mehr gef?hrlich werden konnten. Dann wurde es immer dunkler, und nach ungef?hr drei Monaten drang gar kein Sonnenlicht mehr zu uns durch. Unglaubliche Zeiten.?

Kelly versuchte, ruhig zu bleiben. »Und was ist mit Don Meisel?«

Er sah sie überrascht an. »Er ist bis zum Schluss in Alma geblieben. Hat das Kontrollzentrum geschützt. Dort habe ich ihn zum letzten Mal gesehen; ich hab’s geschafft, von dort wegzukommen, er nicht. Wusstest du das nicht?«

»Niemand hat es mir erzählt.« Mike Wetherbee beobachtete sie, wartete darauf, dass sie zusammenklappte. Sie rang sich ein Lächeln ab. »Und warum Yellowstone, Thandie? Was ist hier?«

»In diesem Park befindet sich die Hälfte aller geothermischen Naturschauspiele der Welt«, erklärte Thandie. »Sogar zwei Drittel aller Geysire. Ich denke, dein Vater und seine Berater haben davon geträumt, hier unten mit Hilfe von Erdwärme und den Produkten der Schwarzen Raucher zu überleben. Ich und ein paar andere, wir haben uns für eine große seismische Überwachungsanlage eingesetzt.«

Mike runzelte die Stirn. »Was ist ein Schwarzer Raucher?«

»Ein Unterwasser-Geysir«, sagte Thandie. »Erhitztes Wasser steigt aus der Tiefe der Erde nach oben und baut schließlich schornsteinartige Schlote auf. Man hat sie in den tiefsten Meeren gefunden, in den Gräben. Jeder von ihnen zieht Leben an, extremophile Bakterien – also solche, die Wärme, hohen Salzgehalt und extremen Druck lieben –, von denen sich die Krebse, Fische und Würmer ernähren. Eine ganze Nahrungskette, gespeist von der Hitze im Erdinnern und völlig unabhängig vom Sonnenlicht, von dem, wie ihr ja schon bemerkt habt, hier nicht viel ankommt. Und Ed Kenzies Idee ist, dass Menschen vielleicht davon leben könnten. Außerdem hätte man Zugang zum Meeresboden und den damit im Zusammenhang stehenden Ressourcen, an die man von einem Floß an der Meeresoberfläche aus nicht herankäme. Man könnte nach Metallen, nach Öl und so weiter schürfen.«

»Und die Seismologie?«, fragte Kelly.

Yellowstone war ein geologisch höchst aktives Gebiet, weil es direkt über einem Manteldiapir lag, einem Hotspot, einer Gesteinsfontäne, die wie eine Flüssigkeit aus dem tiefer gelegenen Erdkern nach oben stieg.

»Tatsächlich gibt es hier einen Supervulkan«, sagte Thandie. »Er ist in der Vergangenheit schon mehrmals ausgebrochen – zum letzten Mal vor über sechshunderttausend Jahren. Einige von uns vertreten die Theorie, das zunehmende Gewicht des Wassers über dem Land könnte eine neue Eruption auslösen, die in der Tat überfällig ist. Deshalb wollten wir hier eine Station haben. Schon bevor das Wasser kam, gab es Anzeichen für eine Hebung; so ist Old Faithful beispielsweise im Jahr 2039 erloschen.

Darüber hinaus sind seismisch-tomografische Untersuchungen durchgeführt worden, um die Gesteinsströme im tiefen Mantel zu erforschen. Wir arbeiten noch an Theorien, weshalb das ganze unterirdische Wasser gerade jetzt freigesetzt worden ist. Kann sein, dass es etwas mit den Aktivitäten des Menschen zu tun hat, kann aber auch nicht sein. Vielleicht liegt es an der Konfiguration der Kontinente. Sie gleiten umher, wie ihr wisst, Granitflöße, die auf dem Mantel treiben, und alle paar Hundert Millionen Jahre verschmelzen sie zu gewaltigen Superkontinenten. Das bezeichnet man als chelogenen Zyklus. Die Superkontinente sind wie riesige Deckel, die den W?rmestrom der Erde blockieren, so wie Yellowstone die Hitze des Manteldiapirs staut. Irgendwann bewirkt diese Hitze, dass der Superkontinent zerbricht, und die St?cke driften davon. Der letzte Superkontinent, Pang?a, ist vor zweihundertf?nfzig Millionen Jahren zerbrochen, und der n?chste wird erst in weiteren zweihundertf?nfzig Millionen Jahren entstehen. Wir befinden uns also genau in der Mitte dieses Zyklus, und vielleicht stellen sich die Mantelstr?me irgendwie auf diesen einzigartigen Moment ein. Wir sind womöglich völlig belanglos …«

Kelly merkte, dass Thandie vom Thema abgekommen war. Sie führte Selbstgespräche, verlor sich in einem Nebel unbeweisbarer Spekulationen.

Mel starrte aus dem Fenster. »Es war toll, die verschiedenen Lebensformen kommen und gehen zu sehen. Ich meine, im Park gab es Grizzlys, Wölfe, Bison- und Elchherden und riesige Wälder. Als das Wasser sich über uns schloss, wussten wir nur, dass sie allesamt ertranken. Wie heißt es im Ersten Buch Mose über die Sintflut? ›Alles, was Lebensluft atmete, was auf dem Trockenen war, das starb.‹ Aber dann wurde das Gebiet erneut besiedelt, und zwar von all den seltsamen Geschöpfen, die von den Raucher-Chemikalien leben. Riesige Würmer, Garnelen und Krebse, Seegurken und Xenophyophoren – simple Einzeller von der Größe einer Hand. Unglaubliche Dinger.«

Thandie sagte: »Aber auch unter den Geschöpfen der Tiefsee gab es ein Artensterben. Die Tiefseegräben waren räumlich so strikt voneinander getrennt, dass jeder Graben seine eigene, einzigartige Fauna und Flora hatte. Als die Flut kam, sind diese Pflanzen und Tiere alle miteinander vermischt worden und in Konkurrenz zueinander geraten, und einige von ihnen sind dabei auf der Strecke geblieben.«

»Da draußen gibt’s Wesen, die im Holz bohren«, sagte Mel. »Venusmuscheln, Würmer, Krustentiere. Früher waren sie auf Holz von den Kontinenten angewiesen, das auf den Meeresboden gesunken war. Jetzt haben sie einen kompletten versunkenen Wald als Nahrung. Diese Kerlchen sind in einem Vielfraß-Himmel, überall um uns herum …«

Kelly fing Mikes Blick auf. In ihren Stahltanks auf dem Meeresgrund begraben, waren Mels Leute introvertiert und selbstbezogen geworden – fremdartig, selbst nach den Maßstäben von Sternenreisenden, die achtzehn Jahre in einem umgebauten Treibstofftank verbracht hatten. Kelly berührte Mel am Arm. »Vielleicht könnte ich jetzt meinen Vater sehen.«

Er schien zu sich zu kommen, als erwachte er aus einem Traum. »Verzeihung. Ja. Ich bringe dich zu ihm. Mal sehen, ob er schon aufgewacht ist.«

Sie gingen um die Rundung des kugelförmigen Tanks herum, vorbei an einem Fenster nach dem anderen, das den Blick auf die unendliche Dunkelheit des Ozeans freigab.


82



Edward Kenzie und seine Tochter trafen sich in einem Schutzraum, einer baulich verstärkten Kammer im Herzen eines Tanks, die offensichtlich als eine Art Sitzungssaal benutzt wurde; die Wände waren mit Holz vertäfelt, und ein großer, dreieckiger Tisch aus Kiefernholz beherrschte den Raum. Der Boden war sogar mit einem dickflorigen Teppichboden ausgelegt, in den das Erdkeil-Symbol der Arche Zwei eingewebt war.

Edward Kenzies schwerer Körper steckte in einem Rollstuhl, und sein völlig haarloser Kopf war von Leberflecken übersät. Er trug einen Anzug und eine stramm um den Hals sitzende Krawatte. Kelly durfte ihm einen Kuss auf die Wange geben, und er schaute auf seinen zweiten Enkel, Eddie, hinab. Nichts deutete darauf hin, dass er seine Töchter wiedererkannte, geschweige denn, dass er sich freute. Seine massige Präsenz im Rollstuhl machte Eddie Angst. Der Junge weinte und klammerte sich an seinen Vater, Masayo, den Edward als illegalen Enterer der Arche Eins gar nicht erst zur Kenntnis nahm.

Damit war das Familiäre abgehakt, und alle außer Kelly, Edward und Dexter mussten den Raum verlassen. Sie saßen einander jeweils in der Mitte einer der drei Seiten des Tisches gegenüber. Das Schweigen zog sich in die Länge.

»Ich komme mir vor, als stünde ich vor Gericht«, entfuhr es Kelly schließlich.

»Ha!«, blaffte Edward. »So hast du das schon immer gemacht. Als Erste das Wort ergreifen und die Kontrolle an sich reißen, stimmt’s? Nun, das hier ist kein Prozess. Aber ich will dir sagen, wem man einen machen sollte: deinem Freund da draußen und den anderen Illegalen, die den Kandidaten und anderen ihre rechtmäßigen Plätze auf der Arche Eins geraubt haben.«

»Masayo hat sich das nicht ausgesucht. Wie auch immer, was geschehen ist, ist geschehen, und selbst du und deine ganze Verbitterung können nichts mehr daran ändern, Dad.«

»Verbitterung? Glaubst du, darum geht es hier?«

»Womit wollt ihr anfangen?« Sie funkelte die beiden Männer an. »Dass ich dich im Stich gelassen habe, Dexter, indem ich in den Weltraum geflogen bin? Oder dass ich dich im Stich gelassen habe, Dad, indem ich zurückgekommen bin?«

Dexters Gesicht, in dem eher Verwirrung lag, war nun von Zorn gerötet. Kelly sah, dass er diese Situation in seiner Fantasie oft durchgespielt, dass er von einer Konfrontation mit der Mutter geträumt haben musste, die ihn verlassen hatte. Jetzt, wo sie hier war, fand er nicht die passenden Worte.

»Er hat seinen Vater verloren, weißt du«, sagte Edward. »Don Meisel ist in Alma gestorben, nachdem …«

»Ich weiß! Ich weiß.«

»Gut, dass ich da war, um den Jungen zu retten, findest du nicht?«

»Ach, halte mir keine Predigten, du alter Heuchler. Wenn ich mich nicht freiwillig wieder um die Aufnahme in den Auswahl-Pool beworben hätte, hättest du’s mir befohlen, und das weißt du auch. Es ging einzig und allein um die Mission. Immer. Ich war die beste Kandidatin, die sie hatten, ich habe jahrelang an der Spitze jeder Bewertungsskala gestanden. Während des Fluges war ich eine kompetente Kommandantin. Ich bin sogar Beziehungen eingegangen, ich war bereit, weitere Kinder zu bekommen und meine Verpflichtungen in Bezug auf den Genpool zu erf?llen.?

»Ja. Du hattest immer deinen Fan-Club, du Superstar. Nun, deine große Zeit liegt hinter dir, falls du überhaupt je eine hattest. Und jetzt bist du hier, kannst nirgends anders hin und hast nichts als ein schreiendes Gör von irgend so einem Renegaten. Also, reden wir über die Mission. Was ist schiefgegangen?«

»Du hast doch die Schiffstagebücher gelesen. Du weißt, was passiert ist. Ich habe getan, was ich tun musste.«

»Dummes Zeug.«

»Es stimmt. Meiner Meinung nach war die Erde II keine akzeptable Alternative. Und über drei Jahrzehnte hinweg zu einem anderen hoffnungsvollen Kandidaten weiterzufliegen, war auch nicht akzeptabel. Die Rückkehr war die einzige Möglichkeit.«

Edward schlug mit seiner knochigen Faust auf den Tisch. »Ich sag’s nochmal: Dummes Zeug! Ich kenne dich, Fräulein. Ich habe dich herangezüchtet wie eine Treibhaustomate. Ich kenne deine Stärken und Schwächen. Ja, du warst bei weitem die beste Kandidaten, die warst du immer. Du hattest Köpfchen, sportliche Fähigkeiten, Führungsqualitäten, Charisma. Zum Teufel, du hattest sogar einen guten Body und das dazugehörige Gesicht. Aber du hattest einen Fehler, einen einzigen großen Fehler, nämlich deinen verdammten Stolz. Du wolltest nicht akzeptieren, dass du von Wilson Argent zum Rücktritt gezwungen worden warst. So was passiert einer Kelly Kenzie doch nicht! Statt also deine Fähigkeiten für irgendwas anderes einzusetzen, hast du eine Multimilliardendollar-Operation in den Sand gesetzt und dabei auch gleich noch die beste Hoffnung der Menschheit zunichtegemacht, auf Dauer zu überleben. Und keine Ausrede von wegen dem Wohl der Crew, der Durchführbarkeit der Mission oder wie sehr du dich danach gesehnt hast, dein verlorenes kleines Baby wiederzusehen, wird bei mir ziehen! « Er schrie jetzt; seine Stimme war schrill, sein Körper reglos. »Du hättest deine Crew lieber in die Hölle geführt, statt Wilson oder jemand anderem ins Paradies zu folgen. Darum bist du nun auf die Erde gefallen, wie Satan.«

»Du hast mich mit deinem übermäßigen Ehrgeiz und deinen Lügen zu dem gemacht, was ich bin, Dad. Du hast mir nicht mal erzählt, dass es diese Anlage hier gibt! Meine Fehler sind deine Fehler.«

»Und hast du mich zu dem gemacht, was ich bin, Kelly?«, fragte Dexter.

Kelly verspürte einen Anflug von Scham, weil sie in der Hitze der Konfrontation mit ihrem Vater kurzzeitig vergessen hatte, dass Dexter überhaupt im Raum war.

Edward schnaubte. »Herrgott. Schau uns an, da sind wir drei in einer Metallschachtel auf dem Grund des verdammten Meeres gefangen und zanken uns wie die Kesselflicker. Was für eine Familie.«


Die Tür ging auf. Masayo stand zaghaft da; er hielt Eddie an der Hand. Thandie stand neben ihm. »Tut mir leid. Er hat seine Mom vermisst«, sagte Masayo. »Ich glaube, er hat ein bisschen Angst.«

»Komm her, Süßer.« Kelly streckte die Arme aus. Eddie lief zu ihr, und sie hob ihn mit ein wenig Unterstützung von Masayo auf ihren Schoß.

Edward sah ihnen zu. Sein schweres, froschähnliches Gesicht war unergründlich. Sein Wutausbruch schien ihn erschöpft zu haben. »Nun ja, wenigstens hattest du so viel Verstand, nach Hause zu kommen, zum sichersten Ort, den es gibt.«

»Sicher?«, sagte Kelly.

»Aber ja. Die letzte Zuflucht. Darum geht es hier. Die Erde hat schon früher schwere Zeiten durchgemacht, erklären mir die Intelligenzbestien wie Thandie. In der Frühzeit ihrer Entstehung, als sie von Einschlägen mondgroßer Asteroiden übel zugerichtet wurde, hat sich das Leben immer dorthin zurückgezogen, wo es am sichersten war. Nach unten und nach innen. Du weißt, dass es in den tieferen Schichten der Erdkruste Lebensformen gibt, die sich vom Gestein selbst ernähren, also von den mineralischen Ausfällungen und der Wärme leben, die es seit Anbeginn dort gab. Und nun sind wir auch hier und leben, so gut wir können, von den Fischen und den Schwarzer-Raucher-Ökologien.

Aber diese Arche ist nur eine Zwischenstation. Auf längere Sicht sollten wir dem Leben in seine tiefer gelegenen Rückzugsräume folgen. Ich spreche von einer Verschmelzung der menschlichen DNA mit Extremophilen. Ich spreche davon, mit der Substanz der Menschheit versetzte Prokaryoten in die tiefe heiße Biosphäre zu schicken, und vielleicht sogar noch tiefer hinunter. Es wird wie eine der großen endosymbiotischen Verschmelzungen der Vergangenheit sein, bei denen wir Organellen wie die Mitochondrien in unsere Zellsubstanz aufgenommen haben. Die Essenz der Menschheit, die in die Erde sinkt, wo in einem heißen Eden eine neue Genesis stattfinden wird. Im Herzen der Erde ist ein Eisenkern von der Größe des Mondes. Vielleicht werden unsere Nachfahren Städte auf der Oberfläche dieser Innenwelt errichten …« Er verstummte. Seine wässrigen Augen wurden feucht. Er holte ein Taschentuch hervor, tupfte sich die Augen ab, putzte sich die Nase und hustete dann. Sein massiger Rumpf ließ den Rollstuhl erzittern. »Das ist die Vision.« Er schwieg erneut.

Dann begann er zu schnarchen.

»Das U-Boot liegt bereit, um euch wieder nach oben zu bringen, sobald ihr so weit seid«, sagte Thandie leise.

»Wir sollten warten, bis Großvater wieder aufwacht«, meinte Dexter.

»Ja.« Eddie schlief ebenfalls ein. Er rutschte auf Kellys Schoß herum und versuchte, seinen Kopf bequem auf ihren Bauch zu betten. In der Anziehungskraft der Erde war er enorm schwer, eine kostbare Last. »Ja, wir warten.«

Kelly fragte sich, wo Holle, Wilson und Venus in diesem Moment wohl sein mochten.


Загрузка...