Kapitel Sechs Außerhalb der Zeit

Die Nordmänner glaubten, dass Hel ein Platz des endlosen Eises und gefrorenen Wassers sei, eine grauenhafte Kälte, die die Seele auf ewig verdorren lässt. Es gibt Orte auf dieser Erde, die das erklären.


Diesmal waren wir nur noch vier, die von den Teleportarmbändern rund um die Welt geschleudert wurden. Ich selbst, Honey Lake, Peter King und Walker. Zwei Missionen hatten wir erfüllt, und schon zwei von uns waren tot. Wenn wir das nächste Rätsel gelöst hatten, würde es dann nur noch drei von uns geben? Alexander King hatte gesagt, es könne nur einen geben und es sah so aus, als nehme einer in unserem Team das sehr wörtlich.

Die heißen und feuchten Urwälder von Arkansas verschwanden, und im nächsten Moment standen wir mitten in einem gefrorenen Wald. Die grimmige Kälte traf uns wie ein Hammer und wir alle schrien erschrocken auf. Harter, toter Boden unter unseren Füßen, große dunkle Bäume mit blattlosen Zweigen überall um uns herum. Ein bitterkalter Wind blies, der uns bis auf die Knochen ging. Ich hatte gedacht, dass Loch Ness kalt war, aber das war nichts im Vergleich zu diesem Ort. Wohin ich auch blickte, ich sah nichts als tote Bäume in einem toten Land unter einem rauen, grauen Himmel. Auch als die Sonne direkt über uns durch die Wolken brach, konnte ihre Wärme uns nicht erreichen. Die Luft brannte bei jedem Atemzug in unseren Lungen, und mein nacktes Gesicht und meine Hände taten furchtbar weh. Ich schauderte hilflos zusammen und schlang die Arme eng um mich, um meine Wärme bei mir zu behalten.

Wir vier taumelten aufeinander zu und stolperten immer wieder über den unebenen und gnadenlos gefrorenen Boden. Wir kuschelten uns aneinander, um uns zu wärmen, geleitet von dem brutalen Überlebensinstinkt, der Schafe in den Mooren zueinander treibt. Unsere Zähne klapperten laut und unkontrollierbar, der Atem bildete in der bitterkalten Luft dicke Dampfwolken. Honey gab bei jedem Atemzug einen kleinen Schmerzenslaut von sich. Sie wusste gar nicht, dass sie das tat. Peter stöhnte laut. Walker hatte seine beste steife Oberlippe aufgesetzt, doch er zitterte und schauderte genauso schlimm wie der Rest von uns. Wir drängten uns dicht aneinander. Schulter an Schulter, Gesicht an Gesicht, die Köpfe gegen die grimmige Kälte des böigen Windes gesenkt. Für eine Weile war das alles, was wir taten. Die Kälte war einfach überwältigend, selbst unsere Gedanken erfroren, genau wie unsere Körper.

Schließlich zwang ich mich, den Kopf zu heben und mich umzusehen. Wir würden bald einen Unterschlupf finden müssen, oder eine derartige Kälte würde uns umbringen. Aber ich sah nur die weithin reichenden Bäume und den harten, steinigen Boden, der sich in alle Richtungen bis zum Horizont ausbreitete. Meilen und Meilen nichts als Wald. Mein Gesicht und meine Hände waren schon taub, und ich konnte Raureif sehen, der sich auf den Gesichtern der anderen bildete - Flecken von grauem Eis über blaugrauer Haut. Das Eis, das sich auf meinen Wimpern gebildet hatte, machte meine Augen schwer.

»Wo zur Hölle hat uns dein Großvater diesmal hingeschickt?«, zwang Honey eine Frage über ihre tauben Lippen, als sie ihre Hände gegeneinander schlug, um ihren Kreislauf anzuregen.

»Frag mich nicht«, erwiderte Peter. »Du bist diejenige mit einem Computer im Kopf.«

»Kein Wunder, dass ihr Area 52 in die Antarktis verlegt habt«, bemerkte Walker zu Honey. »Der sicherste Platz für die Alien-Technologie, die ihr über die Jahre hinweg gesammelt habt und von der ihr noch nicht wisst, wie sie funktioniert.«

»Eins nach dem anderen«, sagte ich schnell. »Wir müssen einen Unterschlupf finden, oder allein der kalte Wind wird uns den Garaus machen. Weiß jemand, wie man ein Iglu baut?«

»Ich glaube, dafür braucht man Schnee, oder?«, fragte Peter.

»Kontaktieren Sie Langley!«, forderte Walker Honey auf. »Sie sollen rausfinden, wo wir sind und uns dann eine Überlebensausrüstung schicken.«

»Das habe ich versucht!«, presste Honey durch ihre gegen das Klappern zusammengebissenen Zähne hindurch. »Sie antworten nicht. Ich schnappe überhaupt keine Kommunikation auf. Das Beste, was ich diagnostizieren kann, ist, dass etwas das Trägersignal blockiert. Das würde eine Menge Kraft erfordern, also muss die Quelle in unmittelbarer Nähe sein.«

»Gut«, sagte Peter. »Dann gehen wir gleich dahin und werden warm. Bevor Körperteile, an denen ich sehr hänge, abfrieren.«

»Sieh dich um«, sagte ich. »Hier ist nichts außer Bäumen. Wir sind allein hier draußen.«

»Was?« Peter sah sich panisch um. »Aber irgendetwas muss hier sein!«

»Vielleicht sollten Sie nicht gar so laut in Panik ausbrechen«, murmelte Walker. »Es ist schlimm genug, dass man bis auf die Knochen friert, man muss auf einem Ohr nicht auch noch taub werden.«

»Ach, leck mich doch«, sagte Peter. »Ich kann nicht mal mehr meine Eier spüren!«

»Also, wenn das ein Hilferuf war, dann stehst du allein da«, meinte Honey.

»Ich glaube, wenn man Schnee draufreibt, dann kann man Frostbiss vermeiden«, fügte ich hinzu.

»Reib doch deine eigenen damit ein!«, meinte Peter ungnädig. »Meine sind kalt genug, so wie sie sind!«

»Einige Leute wollen sich eben einfach nicht helfen lassen«, sagte Walker.

»Lasst mich mal was versuchen«, sagte ich.

Ich zwang mich aus der relativen Wärme der Gruppe heraus, murmelte die aktivierenden Worte und rüstete auf. Die goldene, seltsame Materie glitt im selben Moment vom Scheitel bis zur Sohle über mich. Es war, als versänke ich in einem gut geheizten Pool. Ich keuchte auf, als die Rüstung mich vor dem Wind und der Kälte isolierte, und konnte merken, wie das Gefühl in meine tauben Extremitäten zurückkehrte. Ich biss die Zähne zusammen, denn es stach wie tausend Nadeln, während mein Kreislauf wieder in Schwung kam. Durch meine gesichtslose goldene Maske sah ich mich langsam um. Die Maske verstärkte meine Sicht, sodass ich kilometerweit sehen konnte. Meine Augen schossen über den toten und gefrorenen Boden. Immer noch war nichts zu sehen, bis ich schließlich auch mein zweites Gesicht einsetzte. Und erst dann entdeckte ich eine schwache Strahlung in der Ferne. Eine Energiequelle dieser Größe und Stärke versprach eine mittelgroße Stadt. Aber sie war etwa elf oder zwölf Kilometer entfernt; zu Fuß, durch kalte und tote Wildnis.

Unter normalen Umständen wäre das ein ausgedehnter Spaziergang gewesen. Hier war es vielleicht das Todesurteil für einige von uns.

Ich rüstete ab und keuchte auf vor Schock und Schmerz, als mich die grauenvolle Kälte wieder erwischte. Ich wies mit einer zitternden Hand in Richtung Nordwest.

»Da ist eine Stadt, in dieser Richtung. Glaube ich. Ich kann nicht sagen, wie wir aufgenommen werden, aber es ist unsere beste Chance. Ach zum Teufel, es ist unsere einzige Chance.«

»Wie weit?«, fragte Walker.

»Elf Kilometer. Höchstens.«

Wir sahen uns an. Keiner sagte etwas. Keiner musste das tun. Wir alle wussten, was das hieß.

»Lasst uns gehen«, sagte ich. »Je eher wir da sind, desto eher können wir uns vor einem großen, wunderbaren Feuer mit einem steifen Grog und einem dampfenden Käsefondue einkuscheln.«

»Fondue«, murmelte Peter geringschätzig, als wir losgingen. »So was Beklopptes. Das ist doch bloß Brot und Käse, wenn man's genau nimmt.«


Ich ging durch die Bäume voran und die anderen stolperten hinter mir her. Wir konnten uns nicht einmal mehr wegen der Wärme aneinander kuscheln, der unebene Boden ließ uns ständig stolpern. Für eine ganze Weile also kämpften wir uns schweigend vorwärts, mit gebeugten Köpfen, um unsere empfindlichen Gesichter aus dem schneidenden Wind herauszuhalten und unsere Energie so gut wie möglich zu sparen. Der unnachgiebige Boden machte jeden Schritt zu einer Anstrengung; es war, als würde man am Meeresboden mit Ketten um die Knöchel laufen. Kein Laut war irgendwo im Wald zu hören. Kein Vogelgesang, nicht der leiseste Ruf eines Tiers. Als wären wir vier die einzigen lebendigen Wesen in diesem toten, verlassenen Land. Meine Füße wurden so taub, dass ich fest auf den Boden stampfen musste, um sie zu spüren und dann wurden meine Beine so müde, dass ich nicht einmal mehr das tun konnte. Ich ging dennoch weiter. Klagen halfen nicht und würden nur Energie kosten, die ich nicht entbehren konnte. Außerdem sollte mich der Teufel holen, wenn ich der Erste war, der anhielt und eine Pause brauchte.

Nicht zuletzt aus folgendem Grund: Ich war nicht sicher, ob wir dann alle in der Lage wären, wieder aufzustehen. Wirkliche Kälte ist konstant und unerbittlich, und sie tötet einen Zentimeter für Zentimeter, wenn man nicht aufpasst.

Nach einer Weile bemerkte ich, dass Honey ein wenig aufgeholt hatte, um neben mir herzutrotten. Ich hob meinen Kopf ein wenig, um sie anzusehen. Honeys kaffeefarbene Haut war vor Kälte grau geworden, und ihre Augen hatten einen erschöpften, verletzten Blick.

»Warum trägst du nicht deine Rüstung?«, fragte sie mich plötzlich. »Dann würde dir die Kälte nichts ausmachen.«

»Ich habe mich entschieden, das nicht zu tun«, sagte ich. Meine Lippen waren so taub, dass ich jedes Wort sorgfältig und konzentriert formen musste. »Weil … wir als Team zusammenarbeiten müssen. Zusammen arbeiten, zusammen etwas erreichen. Als Gleiche, die einander respektieren. Weil wenn wir ein Team sind … werden wir vielleicht aufhören, einander zu töten.«

»Du hast nicht eine Minute geglaubt, dass Katts oder Blues Tod Unfälle waren, oder?«

»Nein. Du?«

»Natürlich nicht. Ich bin bei der CIA. Wir werden darauf gedrillt, in jeder Situation und bei jedem Plan das Schlimmste anzunehmen. Und du hast den Autonomen Agenten gehört. Nur einer von uns kann zurückkehren und den Preis einstreichen. Einander zu töten ist ab einem bestimmten Punkt unvermeidlich.«

»Töten ist niemals unvermeidlich«, sagte ich grob. »Ich bin ein Agent und kein Killer.«

Honey warf mir einen bedeutungsvollen Blick unter ihren eisverklebten Augenwimpern zu. »Glaubst du wirklich, dass du diese Gruppe davon abhalten kannst, einander an die Kehle zu gehen?«

»Klar. Ich bin ein Drood. Ich kann alles. Ich habe das auch schriftlich, irgendwo.«

»Du könntest deine Rüstung anlegen«, meinte Honey. »Und in die Stadt vorlaufen und Hilfe holen.«

»Keiner kann sagen, wie lang das wohl dauert. Oder wie viele von euch noch am Leben wären, wenn ich wiederkäme.«

»Du kannst nicht für uns alle sorgen.«

»Das wirst du ja sehen.«

Sie kicherte kurz. »Du bist ein guter Mann, Eddie Drood. Aber wie du jemals ein aktiver Agent werden konntest, liegt jenseits meiner Vorstellungskraft.«

»Ich habe den Prüfer bestochen.«

Wir gingen weiter, kämpften um jeden Schritt und jeden Atemzug und zwangen unsere langsam absterbenden Körper durch den toten Wald. Ich verlor mein Zeitgefühl. Die Sonne schien immer über uns zu sein, die Schatten bewegten sich nicht, und ein Teil des Waldes sah aus wie der andere. Keine besonderen Landmarken, nichts, das man anpeilen konnte. Nichts, was anzeigte, dass wir weitergekommen waren. Wir standen alle dicht vor dem Zusammenbruch. Das letzte bisschen unserer gesammelten Kraft verbrauchte sich und nur Willenskraft und brutale Sturheit hielten uns aufrecht. Keiner beklagte sich, fluchte oder bat um Hilfe. Wir waren immerhin Profis.

Ja, ich hätte aufrüsten können. Weitergehen und sie zurücklassen können. Aber ich konnte das nicht tun. Einer hatte in dieser Gruppe ein Vorbild zu sein und unglücklicherweise sah es aus, als müsse ich das sein. Wenn man bedachte, wie viel Ärger ich immer mit Autoritäten gehabt hatte, war es schon erstaunlich, wie oft ich mich selbst als eine wiederfand. Manchmal denke ich, das ganze Universum wird von Ironie angetrieben.

Und dann, lange nachdem ich den Punkt erreicht hatte, an dem ich es einfach nicht mehr aushielt und nicht mehr weiterkonnte und trotzdem weiterging, blieben die Bäume zurück. Ich blieb stolpernd an der Kante eines langen und sanften Abhangs stehen, der hinunter zu einer Stadt mitten auf einer weit offenen Ebene führte. Es gab nicht viel zu sehen. Nur hohe Steinmauern, die grobe und funktionale Gebäude umgaben. Nicht sehr viel größer als eine mittlere Stadt, wirklich mit nur einer Straße, die hinein- oder hinausführte. Es hätte überall sein können, überall. Kein Verkehr auf der Straße, keine Anzeichen von Leben. War es möglich, dass wir den ganzen Weg gekommen waren, über totes Land hinweg, nur um eine Geisterstadt zu erreichen?

Es spielte keine Rolle. Es war Obdach. Und in der Stimmung, in der ich war, hätte ich den ganzen Ort niedergebrannt, nur um ein Feuer zu machen.

Die anderen drängten sich neben mir zusammen und sahen auf die Stadt auf der Ebene hinunter, zu kalt und taub und zu erschöpft, um selbst die offensichtlichsten Fragen zu stellen. Ich begann, den sanften Abhang herunterzugehen. Es ergab keinen Sinn, zu streiten. Wir hätten nirgendwo sonst hingehen können.


Wir folgten der einzigen Straße, die auf das Haupttor zuführte, das tief in die hohe Mauer eingelassen war. Das Ziegelwerk war vom Wetter stark angegriffen, aber es stand dennoch fest und stark, was mehr war, als man vom massiven Haupttor hätte sagen können. Irgendetwas hatte das Tor aus seinen Angeln gerissen und es auf den formlosen, kalten Boden außerhalb der Mauer geworfen. Das hätte gestern oder auch vor Jahren gewesen sein können; es gab keine Möglichkeit, das herauszufinden. Innerhalb der immens hohen Mauern lag die Stadt still, offen und völlig schweigend da. Die Straßen waren verlassen, ohne Zeichen von Leben in einem der Gebäude und ohne einen Laut irgendwo, der von Menschen oder Maschinen hätte stammen können. Eine kurze kyrillische Inschrift war tief in den Stein über dem Portal eingraviert.

»Kyrillisch!«, sagte Walker. »Wir sind in Russland! Kann jemand zufällig kyrillisch lesen?«

»Ich kann's«, sagte Honey.

»Na klar kannst du«, erwiderte ich. »Man sollte seinen Feind kennen. Also, was steht da?«

»Wahrscheinlich Ihr, die ihr eintretet, lasst alle Hoffnung fahren«, grummelte Peter.

»Naja«, sagte Honey und versuchte, ihre halb eingefrorene Stirn zu runzeln. »Ich kann zumindest einen Buchstaben und zwei Zahlen lesen: X25.«

»Oh, scheiße«, sagte ich.

»Das klingt irgendwie immer besonders schlimm, wenn er das sagt«, meinte Walker. »Was ist los, Eddie? Müssen wir annehmen, dass du diesen Ort kennst?«

»Wenn es irgendwie möglich wäre, woanders hinzugehen, würde ich das tun«, sagte ich. »So schnell ich kann. Ich kenne den Ruf dieser Stadt. Ich weiß, was sie ist und wozu sie da war. Und wir sollten nicht hier sein.«

»Ich will nach Hause«, sagte Peter kläglich.

»Russland«, sagte Honey nachdenklich. »Ich habe Kontakte hier. Wenn ich nur eine funktionierende Kommstation finden könnte … Was ist denn so schlimm an diesem Ort, Eddie?«

»Das ist eine von den alten, geheimen Wissenschaftsstädten der Sowjets«, sagte ich. »Eine, die vor Jahren verlassen wurde. X25 heißt, dass wir uns im Tunguska-Territorium befinden, in Nordsibirien.«

»Warte mal«, sagte Peter. »Tunguska wie in ›Tunguska-Ereignis von 1908‹? Dann sind wir deswegen hier!«

»Das hoffe ich«, sagte ich. »In X25 gab es auch ein Geheimnis, aber ich glaube wirklich nicht, dass ich wissen will, was das ist. X25 war ein schlimmer Ort, an dem schlimme Dinge passiert sind und vielleicht immer noch passieren.«

»Zumindest bietet sie Obdach und die Möglichkeit warmer Kleidung und Nahrung«, sagte Walker. »Eines nach dem anderen.«

Und so wurden wir die ersten Menschen, die seit Jahren X25 betraten. Lämmer auf der Schlachtbank. Wir gingen die leeren Straßen auf der Suche nach einem passenden Laden entlang, in den man einbrechen konnte. Um unsere Gedanken von der Kälte und die anderen von zu vielen Fragen über X25 fürs Erste abzuhalten, zog ich meine Ein-Drood-ist-die-Quelle-allen-Wissens-Show ab und klärte sie über das auf, was ich über das große Tunguska-Ereignis wusste.


Im Jahr 1908, am 30. Juni um 7:17, traf in Nordsibirien etwas auf, das genug Kraft hatte, die ganze Welt zu erschüttern. Es war eine enorme Explosion im entfernten und unbewohnten Tunguska-Territorium, die man später auf eine Stärke von zehn bis zwanzig Megatonnen TNT bezifferte - stärker als jede Atombombe, die je explodiert war. Die Druckwelle der Explosion fällte um die 70 Millionen Bäume, entwurzelte sie und legte sie auf einer Fläche von 2000 Quadratkilometern völlig flach. Das Licht, das von diesem Einschlag verursacht wurde, war so hell, dass man in London um Mitternacht noch eine Zeitung auf der Straße lesen konnte, und hielt drei Tage an.

Aber der Vorfall wurde erst rund zwanzig Jahre später richtig untersucht. Der Erste Weltkrieg und die Russische Revolution lagen dazwischen, und die sowjetischen Behörden lehnten hartnäckig jedes ausländische Angebot wissenschaftlicher Hilfe ab. 1928 machte sich ein russisches Team von Wissenschaftlern auf die lange und schwierige Reise ins gefrorene Herz Nordsibiriens, um nachzuforschen. Das war der Zeitpunkt, an dem das Rätsel begann. Denn das, was die Wissenschaftler dort fanden, ergab überhaupt keinen Sinn.

Jedermanns erster Gedanke war gewesen, dass ein richtig großer Meteor es geschafft hatte, durch die Atmosphäre zu kommen und uns eigentlich wie ein »globaler Killer« hätte auslöschen sollen, aber es gab keinen Krater. Nichts. Nicht einmal eine Delle im Boden. Also konnte es kein Meteor gewesen sein. Der nächste Gedanke war ein Komet. Weil Kometen zum größten Teil aus Eis und Gas bestehen, wäre es nur einem wirklich großen Kometen möglich gewesen, durch die Atmosphäre zu kommen und knapp über dem Boden zu explodieren. Solche Dinge waren schon vorgekommen, aber viel kleiner. Doch in jedem dieser Fälle hatte der explodierende Komet ganz bestimmte Chemikalien und Elemente im Boden hinterlassen und diese gab es in Tunguska nicht. Also war es auch kein Komet.

Dann hatte jemand die Idee, es sei eine große vulkanische Explosion unter der Erde gewesen, die durch überstarken Druck entstanden war. Nur hätte auch das einen Krater hinterlassen müssen. Im Laufe der Jahre gab es eine Menge Theorien: ein abgestürztes außerirdisches Raumschiff, ein Schwarzes Loch in Miniaturgröße auf seiner Reise durchs Weltall, sogar ein Ausbruch der Hölle. Aber von denen hätte meine Familie gewusst. Ein Jahrhundert nach dem Tunguska-Ereignis diskutieren die Wissenschaftler immer noch ohne Ergebnis.

»Das ist ja alles ganz cool und schön«, sagte Peter. »Aber das ist doch irgendwo passiert und wir sind hier. Was sollen wir hier? Warum hat dieser Ort keinen anständigen Namen? Und - das Wichtigste! - warum: Oh, scheiße

»Alle diese alten wissenschaftlichen Städte haben einen schlechten Ruf«, meinte ich. »Aber X25 spielte in einer Sonderliga. Und - Zufall oder nicht - wir sind nicht weit entfernt von einem der großen Drood- Geheimnisse. Einige Meilen von hier schläft etwas Altes und unaussprechlich Mächtiges unter dem Permafrostboden. Wir müssen echt vorsichtig sein, während wir hier sind, damit wir nichts tun, was es weckt.«

»Einfach mal so, um einen Grund zu haben«, meinte Walker. »Was würde denn passieren, wenn wir das täten?«

»Das Ende aller Dinge«, sagte ich. »Die Zerstörung der Welt und der Menschheit, wie wir sie kennen. Die Hölle auf Erden, für immer und ewig.«

»Oh«, sagte Walker. »Dann sollten wir das besser nicht tun.«

»Besser wäre das«, erwiderte ich.

»Manchmal kannst du eine richtige Dramaqueen sein«, sagte Honey. Sie sah mich misstrauisch an. »Wieso wisst ihr Droods überhaupt so viel über diese gottverlassene Gegend?«

Ich lächelte so gut ich das mit meinen halb erfrorenen Lippen konnte. »Das würdest du wohl gerne wissen.«

Wir trotteten durch die verlassene Stadt. Immer noch gab es kein Lebenszeichen. Die einzigen Laute waren unsere unregelmäßigen Schritte, die von den kahlen, abweisenden Mauern widerhallten. Wir waren alle zu Tode erschöpft, innerlich und äußerlich, jede Bewegung wurde zur Anstrengung. Ich hatte das Gefühl, ich müsse schreien, um die Stille zu unterbrechen und zu sehen, ob jemand antwortete, aber ich tat es nicht. Wenn jemand an diesem verlassenen Ort noch lebte, dann war ich recht sicher, dass er nicht zu der Sorte Leute gehörte, die ich gerne träfe. Und selbst darüber hinaus - die Stadt war zu still, zu ruhig. Wie eine kauernde Katze, zum Sprung auf die Beute bereit. Es fühlte sich an, als würden wir beobachtet. Von überallher.

Die Straßenlampen leuchteten nicht und hinter keinem der Fenster war ein Licht auszumachen. Kein Anzeichen von irgendeiner Energie in irgendeinem Teil der Stadt. Hier und da kamen wir an einem altmodischen Kastenwagen mit zerschlagener Windschutzscheibe vorbei, dessen Türen offen standen. Große Rostlöcher klafften in den Metallteilen, als ob sie vergammelten. Die Häuser waren in typischer Sowjetmanier gebaut: massive Betonklötze und krude Steingebäude, mit all dem Charme und dem Charakter einer Ohrfeige ins Gesicht. Kein Anzeichen dafür, dass sie bewohnt waren.

Endlich fanden wir einen Laden mit Kleidern. Hinter dem verschmierten Glas waren schwere Mäntel und Hüte ausgestellt. Wir versammelten uns vor dem Fenster wie hungrige Kinder vor einem All-you-can-eat-Buffet. Walker rüttelte an der Tür, doch sie war verschlossen.

»Lasst mich erst mal etwas Gefühl in meine Finger zurückbringen, dann mache ich euch das Schloss in einer Minute auf«, sagte Honey.

Ich rüstete hoch und trat die Tür ein. Mein goldener Fuß riss die Tür aus den Angeln und ließ sie mehrere Meter in den Laden hineinfliegen. Ich rüstete wieder ab. Die anderen sahen mich an. Sie hatten sich noch nicht daran gewöhnt, mich in der Rüstung zu sehen, und an all die Dinge, die ich dann tun konnte. Gut. Das hielt sie respektvoll und brachte sie aus dem Gleichgewicht. Vielleicht dachten sie dann zweimal darüber nach, bevor sie sich gegenseitig umbrachten. Honey sah beinahe neidisch aus, dass ich so etwas Nützliches besaß und sie nicht. Immerhin hatte es ihr gelbes Tauchboot um Längen geschlagen. Walker sah nachdenklich aus. Peter hielt Abstand und versuchte so zu tun, als starre er nicht auf den Torques an meinem Hals.

Im Laden griffen wir uns die dicksten Mäntel, die wir finden konnten, und nahmen sie den Schaufensterpuppen ab. Wir wickelten uns dick darin ein und stöhnten beinahe vor Vergnügen. Dann verbrachten wir einige Zeit damit, auf und ab zu laufen, die pelzigen Arme um uns geschlungen, während die Wärme langsam in unsere frierenden Körper zurückkehrte. Wir fluchten und schnitten Grimassen, als das Gefühl beißend in unsere tauben Extremitäten zurückkehrte. Als wir unsere Hände wieder fühlen konnten, schnappten wir uns alte Mützen, schwere Lederhandschuhe und lange Wollschals. Wir waren zwar nicht mehr draußen im bitterkalten Wind, aber dennoch dampfte unser Atem auch hier in der feuchtkalten Ladenluft. Walker schlug vor, die Möbel zu zerschlagen, um ein Feuer zu machen, aber ich musste ablehnen. Ich wollte nichts tun, was auf uns aufmerksam machte. Noch nicht. Peter hatte sich selbst unter dem dicksten Mantel begraben, den er hatte finden können, zusammen mit einer viel zu großen Pelzmütze und einem halben Dutzend Halstüchern. Die Farbe war langsam in sein Gesicht zurückgekehrt und das Eis auf seinen Wimpern war geschmolzen. Er bemerkte, wie ich ihn ansah, und sah mürrisch zurück.

»Mir ist immer noch kalt«, sagte er gedämpft durch seinen hochgezogenen Schal. »Und ich habe echt Hunger.«

»Außerdem siehst du total unmodisch aus«, meinte Honey. Unglaublicherweise hatte sie einen weißen langen Pelzmantel gefunden, der genauso aussah wie der, den sie in Arkansas zurückgelassen hatte. Und einen passenden weißen Pillbox-Hut, weiße Handschuhe und weiße Lederstiefel. Irgendwo lag ein nackter Eisbär zitternd in seiner Höhle und verfluchte die Menschheit.

Walker sah smart, aber leger aus, was in altrussische Schneiderkunst gehüllt nicht ganz einfach war, ging diese doch eher Richtung Kraft statt auf Qualität. Er sah auf die altmodische Registrierkasse mit messingfarbenen Tasten, die auf dem Tresen stand, und runzelte die Stirn.

»Meinen Sie, wir sollten … etwas hier lassen? Als Bezahlung? Sonst fühlt sich das so nach Stehlen an.«

»Für wen sollten wir es zurücklassen?«, fragte Honey. »Es ist niemand mehr da.«

»Das ist wirklich komisch«, sagte Peter aus den Tiefen seines überdimensionalen Pelzmantels. »Als wären alle einfach aufgestanden und gegangen. Vielleicht haben sie ja ein paar Konservendosen dagelassen. Gibt's auch einen Dosenöffner in dieser Rüstung, Drood?«

»Wie können Sie schon wieder Hunger haben?«, fragte Walker. »Sie hatten doch erst vor ein paar Stunden ein Stück wunderbaren, verkohlten Biber.«

»Ich versuche angestrengt, das zu vergessen«, erwiderte Peter. »Hört zu, ich bin so hungrig: Wenn wir jetzt in dieser Stadt auf ein Monster treffen, werde ich es töten, häuten und es komplett aufessen. Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Ehrlich, wir sollten verdammt schnell ein Monster finden, weil ihr Jungs zunehmend appetitlich ausseht!«


Mit der neuen Wärme kam auch unsere Kraft wieder zurück, und wir gingen hinaus auf die Straße. Eine Richtung schien so gut zu sein wie jede andere. Ich fragte mich immer noch, wonach wir hier suchen sollten, was das besondere Rätsel war, wegen dessen Alexander King uns hergeschickt hatte. »Wonach genau suchen wir eigentlich?«, fragte Walker.

Ich zuckte mit den Achseln, auch wenn man das unter meinem schweren Mantel kaum sehen konnte. »Wenn wir da sind, wo ich denke, dass wir sind, dann sind wir relativ weit von der Gegend entfernt, in der der Tunguska-Meteor eingeschlagen ist. Also nehme ich an, wir sind hier, um herauszufinden, was mit dieser Stadt, X25, passiert ist. Allerdings denke ich im Großen und Ganzen, dass ich meinen Willi lieber in eine Steckdose stecken würde, als das zu tun.«

»Sie haben immer noch nicht richtig erklärt, was das Problem mit dieser Stadt ist«, sagte Walker. »Warum wurde sie hier draußen gebaut, mitten im Nirgendwo? Ich dachte, die Sowjets haben Sibirien nur für ihre Zwangsarbeitslager gebraucht. Was ist hier passiert, Eddie? Wo sind alle?«

»Naja«, sagte ich widerwillig. »X25 war eine aus einer ganzen Reihe von geheimen Wissenschaftsstädten, die alle keinen offiziellen Namen trugen, nur eine Bezeichnung. Keine von ihnen existierte offiziell, höchstens auf sehr geheimen Karten in sehr geheimen Büros. Das Bauprogramm begann in den Fünfzigern, auf der Höhe des Kalten Krieges. Wissenschaftler auf beiden Seiten waren damals Soldaten, ihre Entdeckungen Munition für den Krieg. Die Wissenschaftsstädte wurden mithilfe der Zwangsarbeit der Lagerinsassen gebaut, absichtlich meilenweit von jeder Zivilisation entfernt. Teilweise aus Sicherheitsgründen, teilweise, weil einige der Experimente so extrem waren, dass nicht einmal die sowjetische Bevölkerung davon hätte erfahren dürfen; aber hauptsächlich aus dem Grund, den Schaden einzudämmen, falls einmal etwas so richtig schiefgehen sollte. Besonders, wenn man die ganze Stadt schließen oder zu Staub zerblasen musste, um unter dem Deckel zu halten, was passiert war. Das ist mehr als einmal vorgekommen, wie ich sicher weiß.«

»Also lebten hier nur Wissenschaftler?«, fragte Peter.

»Wissenschaftler und ihre Familien und genug Leute und Infrastruktur, um ihnen das Leben zu ermöglichen«, sagte ich. »Und natürlich Militär, um alle zu überwachen. Die meisten Leute, die hier lebten, wussten wahrscheinlich nicht einmal, welche Schrecken in den streng abgeschiedenen Laboren stattfanden. Neugier war in Sowjetrussland keine geförderte Tugend.«

»Über welche Art von … Experimenten reden wir hier genau?«, fragte Walker.

»Richtig fiese, wenn man den paar Dossiers glauben darf, die ich gelesen habe«, sagte Honey. »Frühe Organtransplantationen, die an Kriminellen und Dissidenten vorgenommen wurde. Ich habe einmal den verstörenden Schwarz-Weiß-Film eines Mannes gesehen, der zwei Köpfe hatte. Beide waren sehr lebendig und bei Bewusstsein. Andere Subjekte wurden Strahlung in verschiedenen Dosierungen ausgesetzt, nur um zu sehen, was dann passierte. Damals war man noch weit von jeglicher Heilung oder Schutz entfernt. Sie brauchten Informationen, um daran zu arbeiten.«

»Dann gab es die chemische Kriegführung«, sagte ich, »sowie die biologische, psychische und übernatürliche: All die verbotenen Waffen des Krieges. Bis hierher reicht die Genfer Konvention nicht. Aber … die Jahre verstrichen und der Druck des Kalten Krieges verstärkte sich, und deshalb nahm die Forschung in diesen komplett verleugneten Städten seltsamere und gefährlichere Formen an. Stadt X17 beispielsweise bekam den Auftrag, Portale in andere Dimensionen zu öffnen. Irgendwie müssen sie dabei Erfolg gehabt haben, denn die Stadt verschwand 1966 plötzlich. Nur ein Krater blieb zurück. X35 spezialisierte sich darauf, aus gewöhnlichen Menschen Supermenschen zu machen. Dabei verwendete man Drogen, Strahlung, Gewebeverpflanzungen und implantierte außerirdische Technologie. Was bei der ganzen Mühe herauskam, war eine Serie von sehr teuren Monstern. Die am Ende ausbrachen. 1985 machte das Militär die ganze Gegend mit einer Thermonuklearbombe platt. Keiner entkam.

X48 produzierte geklonte Duplikate von wichtigen Personen, denen Bomben in den Bauch implantiert waren. Die ultimativen Bomben und die besten unverdächtigen Killer. Mein Onkel James hat das Programm damals, 1973, mit großem Abscheu terminiert.

Aber X25 war … bei Weitem die Schlimmste.«

»Hat deine Familie die Stadt geschlossen?«, fragte Honey plötzlich. »Wart ihr das?«

»Nein«, sagte ich. »Die Sowjets haben hier sehr erfolgreich versteckt, was sie taten, bis es zu spät war. Als wir endlich Gerüchte über das hörten, was sie hier zu erreichen versuchten, war es ihnen bereits um die Ohren geflogen. Alles, was wir noch tun konnten, war, ein paar Agenten zu schicken, die aus sicherer Entfernung alles beobachteten und Gewehr bei Fuß standen, um im Eventualfall alles auszulöschen. Es war nicht nötig, X25 fraß sich selbst.«

»Was zum Teufel haben sie hier gemacht, das so furchtbar war?«, fragte Peter.

»Ja«, fügte Honey hinzu. »Das wüsste ich selber auch gerne, bevor ich noch einen Schritt weitergehe.«

»X25 spezialisierte sich in genetischer Forschung und Manipulation«, sagte ich. »Sie nahmen menschliche DNA auseinander, um herauszufinden, wie sie funktioniert. Grenzwissenschaftliches Zeug, in den frühen Neunzigern. Sie suchten nach Geheimnissen, nach Wundern und Sensationen. Und haben sie gefunden; die armen Teufel.«

Die anderen warteten, aber das war alles, was ich im Moment sagen wollte.

»Wenn ich mich recht erinnere, wurden die meisten dieser Wissenschaftsstädte in den Neunzigern geschlossen oder verlassen«, sagte Honey. »Zu teuer, um sie in den eher nüchternen Tagen der neuen Ordnung zu unterhalten, wo jedem die Wirtschaft um die Ohren flog. Eine Menge Wissenschaftler wurden nicht mehr bezahlt, also stimmten sie mit den Füßen ab und gingen fort. Die Soldaten haben sie nicht aufgehalten, weil sie selbst monatelang nicht bezahlt worden waren. Ein paar Städte überlebten noch eine Weile, weil sie sich gewöhnlicher Forschung zuwandten, mithilfe von freien Unternehmen oder der Mafia, aber zu Beginn des neuen Jahrtausends waren alle diese Orte verlassen und aufgegeben. Teure Relikte aus dem Kalten Krieg, im neuen Machtgefüge so gut wie vergessen. Keiner kümmerte sich mehr darum. Keiner erinnerte sich mehr daran, woran die meisten gearbeitet hatten.«

Sie hielt an und wandte sich mir zu. Peter und Walker taten das auch. Ich seufzte und fuhr widerwillig fort.

»X25. Genetische Forschung und Manipulation. Und nicht die Art, über die du gestolpert bist, Peter. Kein Frankenfood, kein Goldfisch, der im Dunkeln leuchtet, keine Mäuse mit Menschenohren, die aus ihrem Rücken wachsen. Und auch keine außerirdischen Eindringlinge, die sich frei an unserem Genpool bedienen. Nein. Die Wissenschaftler hier waren ausschließlich daran interessiert, die Geheimnisse der menschlichen DNA zu entdecken. Sie ist es, die uns zu dem macht, was wir sind, aber wir kennen das meiste, was sie tut, immer noch nicht. Wozu sie da ist, was sie machen soll. Die sowjetischen Wissenschaftler näherten sich dem Problem in der üblichen direkten und pragmatischen Weise. Sie experimentierten mit Leuten herum. Verbrecher und Dissidenten, Juden und Homosexuelle, jeder, der sich öffentlich äußerte oder einfach nicht vermisst werden würde. Es gab niemals zu wenig Unpersonen in den schlechten alten Tagen Sowjetrusslands. Keiner weiß genau, wie viele Leute in den geheimen Laboratorien von X25 gelitten haben und gestorben sind. Hunderte, Tausende, Hunderttausende … keiner weiß es.«

»Warum hat Ihre Familie nichts dagegen unternommen?«, sagte Walker.

»Das meiste, was wir jetzt wissen, haben wir erst danach herausgefunden«, sagte ich. »Als alles den Bach runterging und das sowjetische Militär den Ort stilllegen wollte und das nicht geschafft hat. Die Welt ist groß, und nicht einmal die Droods können überall gleichzeitig sein. Auch wenn wir intensiv daran arbeiten.

Die Wissenschaftler hier haben intensiv versucht, die DNA zu sequenzieren, stimulieren und einfach an jedem Teil davon herumzupolken, den sie nicht verstanden haben. All diese Informationen, die auf dem niedrigsten Level in uns gespeichert sind. Wenn sie Zugang zu jeder Sequenz hätten und auch nur einen Teil davon kontrollieren könnten, dann könnten sie vielleicht etwas schaffen, das mehr als nur menschlich ist. Also - hier waren sie, haben blind in der Dunkelheit gearbeitet und einfach zufällig Knöpfe gedrückt. Als liefe man in einem leeren Gastank herum und würde mit einem Streichholz nach dem Leck suchen.«

»Was ist passiert?«, fragte Peter ungeduldig.

»Wir wissen es nicht genau«, sagte ich. »Das erste Mal, dass die Sowjets daran dachten, dass etwas ganz schrecklich schiefgegangen war, war der Zeitpunkt, an dem X25 sich einfach nicht mehr meldete. Überhaupt kein Datenverkehr und keine Kommunikation mehr. Keine Antworten auf die immer dringlicher werdenden Anfragen. Die Sowjetbehörden folgten ihrem üblichen Prozedere und schickten das Militär. Und nicht nur einfache Soldaten, es waren Spetsnaz, ihre Antwort auf die britischen Special Air Service, eine Sondereinheit. Abgebrühte Veteranen und harte Kämpfer von der afghanischen Front. Sie hatten Befehl reinzugehen, die Ordnung unter allen Umständen wiederherzustellen und gezielt Fragen zu stellen, bis jemand antwortete.

Aber selbst sie konnten nicht mit dem fertig werden, was in X25 herumlief.

Fünfhundert schwerbewaffnete Männer gingen rein, neunzehn kamen wieder raus. Gebrochen, hysterisch und traumatisiert. Schrien irgendwas von Monstern. Der Kreml traf Anstalten, die Stadt mit einer Atombombe zu sprengen, aber in dem Moment bekamen wir Wind von der Sache und schritten ein, um sie aufzuhalten. Tschernobyl war noch gar nicht so lange her, und es gab keine Möglichkeit, dass die Welt eine zweite tödliche radioaktive Wolke toleriert hätte. Der Dritte Weltkrieg war in diesen Tagen näher, als die meisten Leute ahnten. Wir rissen uns den Arsch auf, traten Buschfeuer aus und brachten die Leute wieder dazu, fair zu bleiben. Wie auch immer, wir schickten zwei unserer Agenten vor Ort hin, um die Stadt aus sicherer Entfernung zu beobachten, aber X25 war ihre Größe und ihren Zweck betreffend ziemlich tot. Also erklärten wir die Region einfach für jeden zum Sperrgebiet, auf das Risiko hin, sie alle echt wütend auf uns zu machen, aber dafür schlafende Hunde nicht zu wecken.

Und wir sind jetzt hier und brechen nahezu jede Regel, die es gibt, einfach indem wir hier sind. Wenn wir auch nur ein wenig Verstand hätten, dann sollten wir verdammt noch mal abhauen, solange wir noch können.«

»Und wohin gehen«?«, fragte Honey. »Es gibt hier kein Anderswo.«

»Die Teleportarmbänder werden uns nicht wegbringen, bis wir das Rätsel gelöst haben«, sagte Peter.

»Ich mag diese Stadt nicht«, erklärte Walker. »Ich finde sie verstörend.«

Wir alle sahen ihn an. »Ach, kommen Sie«, sagte ich. »Sie sind die Polizei der Nightside! Einer der gefährlichsten und beunruhigendsten Orte in diesem oder jedem anderen Universum. Und Sie sind verstört?«

»Etwas Schlechtes ist hier passiert«, sagte Walker. »Ich kann das spüren. Ich fühle mich … verletzlich. Nichts, was ich gewöhnt bin zu fühlen. Es ist irgendwie erfrischend, denke ich. Ja. Es ist lange her, dass ich mich einer echten Herausforderung gegenübersah, ohne Verstärkung, ohne meine Stimme, nur - ich. Das Schicksal der ganzen Welt könnte auf unseren Schultern liegen und davon abhängen, was wir als Nächstes tun. Ist das nicht wundervoll?«

»Sie sind echt schräg«, sagte Peter.

»Nein«, sagte Honey sofort. »Eddie ist schräg.«

»Ich bin nicht schräg!«, protestierte ich. »Ich bin bloß auf andere Weise normal.«

Keiner hatte danach noch viel zu sagen, also gingen wir weiter, tiefer in die Stadt hinein. Wie die meisten Designerstädte der Sowjets folgten die Straßen einem einfachen Muster, und jede Straße war gerade breit genug, um einen Panzer hindurchzulassen, sollte es einen Aufstand geben. Kein Lebenszeichen irgendwo, weder ein vergangenes noch ein gegenwärtiges. Aber nach einer Weile konnten wir Anzeichen von Kämpfen sehen, von einer bewaffneten Auseinandersetzung und von Massakern. Aus- oder eingetretene Türen. Fenster mit wenig oder gar keinem Glas mehr darin. Brandschäden, rußschwarze Wände, ausgebrannte Häuser. Ganze Gebäude waren in die Luft gejagt worden, reduziert auf einzelne Wände und Trümmerhaufen. Einige ließen vermuten, dass sie von innen gesprengt worden waren. Und massenweise Einschusslöcher.

»Hier gab es einen intensiven Schusswechsel«, sagte Walker. »Eine Menge Schusswaffen, alle möglichen Kaliber. Granaten und auch Brandbomben. Warum also sehen wir keine Leichen?«

»Die paar Soldaten, die hier raustaumelten, haben von Monstern geredet«, meinte ich. »Jedenfalls die, die nicht so traumatisiert waren, dass sie nie wieder sprachen. Also, wen oder was haben sie beschossen? Irgendwo muss es Leichen geben, Soldaten und Zivilisten. Wer hat sie also weggeräumt?«

Keiner von uns hatte eine Antwort darauf, also gingen wir einfach weiter. Wir kamen an einem Gebäude vorbei, dass nur noch so schwach und unsicher stand, dass unsere Schritte ausreichten, es endgültig zu Fall zu bringen. Es sackte langsam in sich zusammen, beinahe entschuldigend, sodass wir Zeit genug hatten, uns in Sicherheit zu bringen. Die Wände falteten sich einfach zusammen und fielen um, und das ganze Ding kippte auf die Straße. Eine große Wolke erhob sich, sowohl von Staub als auch von Rauch, aber der Klang des Zusammenbruchs war seltsam gedämpft, die Echos hallten nicht nach. Die Stille war bald wieder da, als ob sie nicht gern gestört würde.

Honey hatte ihre schimmernde Kristallwaffe in der Hand und warf böse Blicke um sich, bereit, die Waffe auf jeden loszulassen, aber nichts zeigte sich. Ein Teil einer Wand bröckelte unerwartet ab, und Honey wirbelte herum und schoss darauf. Die strahlende Energie ließ die Ziegel auseinander fliegen, Bruchstücke flogen durch die Luft. Wir alle duckten uns. Dann richteten wir uns wieder auf und starrten Honey vorwurfsvoll an. Sie sah uns mit ihrem besten Das-war-Absicht-Blick an und ließ die Kristallwaffe wieder verschwinden.

»Gut gemacht«, sagte Walker ziemlich heftig. »Die Wand wird nie wieder jemanden angreifen. Und wenn es hier irgendwelche Überlebenden gibt, dann wissen sie jetzt sicher, dass sie Besuch haben. Besucher mit Knarren und dem absoluten Willen, sie zu benutzen. Vielleicht wollen Sie auch einem von uns in den Fuß schießen, wenn Sie schon mal dabei sind?«

»Bringen Sie mich nicht in Versuchung«, meinte Honey.

»In gefährlichen Situationen ist Selbstkontrolle eine Tugend«, bemerkte Walker.

»Belehren Sie mich nicht, Sie steifärschiger Brite«, sagte Honey. »Manchmal muss man eben einfach etwas erschießen.«

»Typisch CIA«, sagte Peter.


Wir gingen tiefer in die Stadt und die Überreste des harten Kampfs wurden immer extremer. Ganze Gebäude waren in die Luft gejagt worden und hinterließen jetzt Lücken in den Häuserreihen wie Zähne, die man aus einem Kiefer gezogen hatte. Die, die noch standen, waren ausgebrannt, bis sie von allein zusammenfielen. Wir überprüften einige der noch sicher aussehenden Ruinen von innen. Immer noch keine Leichen. In den Wänden gab es lange, gerade Risse, wie Krallenspuren, und klaffende Löcher wie Wunden. Es war etwas … Fremdes um das alles. Ich hatte meinen Teil an Kämpfen gesehen und auch den Schaden, den sie anrichten konnten, aber das hier war anders. Was hier passiert war, passte nicht zusammen, egal, wie lange ich auch darüber nachdachte.

Und dann kamen wir zu einer Straße, die völlig von getrocknetem Blut verkrustet war. Eher schwarz als rot, reichte der Fleck die ganze Länge der Straße entlang und in Wellen die Gebäudewände hoch, als sei ein wilder Strom Blut die Straße von einem Ende zum anderen entlanggeschwappt.

»So viel Blut«, sagte Honey nachdenklich. »Wie viele Leute sind hier gestorben?«

»Und wer hat sie umgebracht?«, meinte Peter und sah sich schnell um.

»Immer noch keine Toten«, sagte Walker, lehnte sich lässig auf seinen Regenschirm und betrachtete die Szene mit professionellem Interesse.

»Vielleicht hat jemand all die Leichen gefressen«, sagte ich. »Monster, schon vergessen? Irgendetwas ist immer noch hier. Ich kann's fühlen. Es beobachtet uns.«

»Ich hoffe, es sind keine Ratten«, sagte Peter plötzlich. »Ich kann Ratten nicht ausstehen. Mäuse mag ich auch nicht besonders.«

»Oh, Mäuse sind kein Problem«, sagte ich. »Als ich noch klein war, war eine meiner Aufgaben in Drood Hall, vor dem Frühstück eine Runde zu drehen und alle Mausefallen zu kontrollieren. Ich brachte die vollen Fallen zu den Toiletten und veranstaltete für die kleinen Leichen eine Seebestattung. Ich habe eine ziemliche Zeremonie daraus gemacht, wenn mir danach war.«

»Seht ihr?«, meinte Honey. »Schräg.« Dann unterbrach sie sich plötzlich und sah mich nachdenklich an. »Eddie, du sagtest vorhin, dass hier etwas Mächtiges tief unter dem Permafrost schliefe, nicht weit von hier. Könnte das nicht etwas mit dem zu tun haben, was hier passiert ist?«

»Nein«, sagte ich sofort. »Zuerst einmal: wir haben es rund hundert Meilen von hier begraben. Und außerdem, selbst wenn es sich im Schlaf rühren würde, hätten wir das schon lange vor derartigen Ereignissen gewusst. Wenn dieses Ding darin verwickelt wäre, dann wäre das hier viel schlimmer.«

»Wie viel schlimmer?«, fragte Walker.

»Apokalyptisch viel schlimmer«, erwiderte ich.

Walker zuckte mit den Achseln. »So was habe ich schon mitgemacht.«

Ich fragte nicht weiter nach. Möglicherweise hatte er recht. Ich hatte mal darüber nachgedacht, die Nightside zu besuchen. Und hatte mich dann brav mit einer kalten Kompresse auf der Stirn ins Bett gelegt, bis diese Idee wieder verschwunden war.

»Könnte das … Ding, diese Person, was auch immer, irgendetwas mit dem Tunguska-Ereignis zu tun haben?«

»Nein«, sagte ich. »Meine Familie hat ihn dort schon vor Jahrhunderten begraben.«

»Etwas oder jemand so gefährliches?«, fragte Honey vorwurfsvoll. »Und ihr habt niemandem je davon erzählt?«

Ich wich ihrem Blick nicht aus. »Das war eine Drood-Angelegenheit. Das ging sonst keinen was an. Niemand anderes hätte etwas tun können. Damals und heute. Es gibt eine ganze Menge Dinge, die wir anderen nicht erzählen. Du würdest nämlich nie mehr gut schlafen, wenn du es wüsstest. Die Droods bewachen die Menschheit, in jedem Sinn des Wortes.«

Honey sah mich an, als wolle sie über diesen Punkt streiten, aber sie wusste, dass das jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war. Sie begnügte sich damit, mir ihren besten bösen Blick zuzuwerfen, und wandte mir dann ostentativ den Rücken zu, um die blutdurchtränkte Straße herunterzusehen.

»Also«, sagte sie. »Was wollten die Wissenschaftler von X25 erreichen? Etwas, das mit der Entschlüsselung der Rätsel und des Potenzials der menschlichen DNA zu tun hatte. Potenzial - vielleicht ist das das Schlüsselwort. Haben sie vielleicht psychische Gaben fördern wollen, wie telepathisches Befehlen? Während des Kalten Krieges haben beide Seiten doch viel Zeit und Geld in die psychische Forschung gesteckt - in der Hoffnung, Menschen zu schaffen, die man als Waffen verwenden könnte.«

»Genau«, meinte Peter und kicherte. »Ich habe diese Dokumentation gesehen. Sie haben versucht, Soldaten zu züchten, die so lange auf Ziegen starren, bis sie umfallen. Dann gab es da diesen General bei euch, der überzeugt war, er könne lernen, durch Wände zu gehen, wenn er sich nur richtig konzentriert. Und nicht zu vergessen dieses ganze Fernsicht-Fiasko …«

»Am Ende haben wir Resultate erzielt«, meinte Honey und sah sich immer noch nicht um.

»Ja«, antwortete ich. »Davon habe ich gehört. Das Problem war wohl, dass ihr sie nicht aus Pamela Andersons Schlafzimmer raushalten konntet. Oder aus George Michaels Badezimmer.«

Honeys starrer Rücken rauchte vor Wut, während Peter, Walker und ich ein Lächeln austauschten. Ich brachte es nicht übers Herz, Honey zu sagen, dass die Droods aus Prinzip alle Regierungsprojekte dieser Art sabotieren. Wir haben die besten Weitseher und Medien der Welt, und wir sind fest entschlossen, es dabei zu belassen. Allerdings haben wir uns bei diesem Männer-die-auf-Ziegen-starren-Blödsinn nicht eingemischt. Das war nicht nötig.

»Diese Stadt ist ziemlich groß«, meinte Walker. »Wir könnten tagelang hier herumspazieren. Aber diese Zeit haben wir nicht.«

»Und mir ist immer noch kalt und ich habe immer noch Hunger«, sagte Peter. Wir sahen ihn an. Er schnüffelte laut. »Is' doch so.«

»Wir hätten dich im Auto lassen sollen«, sagte Honey.

»Es muss einen Weg geben, schneller zum Ziel zu kommen«, sagte Walker. Und dann sah er mich streng an. Peter auch. Honey drehte sich endlich um, damit sie es den anderen gleichtun konnte.

Ich seufzte und rüstete auf. Die goldene Rüstung glitt in einem Augenblick über mich. Sofort fühlte ich mich konzentrierter, stärker, eher in der Lage, mit allem fertig zu werden. Ich hatte nicht bemerkt, wie sehr mir die Stadt an die Substanz gegangen war, bis mich die Rüstung vor ihrem bösartigen Einfluss schützte. Es war interessant - die Rüstung lag immer noch eng an mir wie eine zweite Haut, der dick wattierte Pelzmantel darunter war nicht zu bemerken. Interessant, aber ein Gedanke, den man ein andermal zu Ende denken musste. Ich sah mich um und konzentrierte meine Sicht durch meine gesichtslose Maske.

Sofort war die ganze Straße voller Geister. Männer und Frauen und Kinder, sie rannten und schrien und starben aus keinem erkennbaren Grund, alle gefangen in sich ewig wiederholenden Zeitschleifen.

Bilder, Echos aus der Vergangenheit. Panische Menschen, die wie Tiere heulten und starben - Bilder, die sich auf die Umgebung geprägt hatten und sich ständig wiederholten. Selbst mit meiner Sicht konnte ich nicht sehen, was ihnen so Angst gemacht hatte oder was sie umbrachte. Es war nur etwas, das am Rand meiner mentalen Sicht aufblitzte. Schnelle Eindrücke von etwas unaussprechlich Schrecklichem, das wie ein Unwetter über der Stadt hing, durch die Straßen fegte, in der Nähe, bedrohlich und absolut unaufhaltsam. Innerhalb meiner Rüstung bekam ich eine Gänsehaut.

Als sei der Teufel selbst nach X25 gekommen und würde direkt hinter mir stehen.

Ich schickte meine Sicht hinauf in den harten, grauen Himmel und sah meilenweit über die Wälder hinweg, wo das furchtbare alte Ding lag, tief unten im Permafrost. Ich konnte seine Gegenwart spüren, wie eine Wunde in der Welt, aber er schlief fest, hoffentlich bis zum Jüngsten Tag. Ich sah herab auf die Stadt, die sich unter mir ausbreitete, und meine Sicht erkannte sofort eine seltsame Ausstrahlung, die bis in den Himmel hinaufreichte. Sie kam aus einem unberührten Forschungsgebäude, das sich ungefähr ein Dutzend Straßen von unserem Standpunkt entfernt befand. Ein zitterndes, stakkatoartiges Glühen unnatürlicher Energien, die hinauf in den Himmel ragten wie ein stotternder Suchscheinwerfer. Pure psychische Energie, die aus einem einzigen Punkt hervorbrach, als wolle sie sagen: Hier bin ich!, für alle, die über die Sicht verfügten, es zu sehen. Also gab es in X25 doch wenigstens einen Überlebenden.

Ich fiel wieder in meinen eigenen Kopf zurück, schaltete den Blick ab und schickte die Rüstung wieder in meinen Torques. Die kalte, bedrückende Düsternis der Stadt lastete wieder auf meinen Schultern. Es war tatsächlich wieder schwerer, klar zu denken. Ich sagte den anderen, was ich gesehen hatte, wies ihnen die Richtung, und wir gingen sofort los.

Wir waren froh, die blutige Straße hinter uns lassen zu können.


Die Atmosphäre der Stadt schien sich ein wenig zu ändern, als wir auf ihr geheimes Herz zugingen. Überall, wo ich hinsah, gab es Schatten, dunkel, tief, bedrohlich. Das Licht schien blasser zu werden, auch wenn die schmerzhaft grelle Sonne immer noch über uns war. Die Straßen wurden enger, schlossen sich um uns, und die Gebäude schienen sich über uns zu beugen, als ob die Ziegel- und Steinwände sich ausbeulen und uns im nächsten Moment einschließen wollten. Da war etwas in dieser Stadt, das nicht gefunden werden wollte. Ich beschleunigte meine Schritte und ging mit einem Selbstbewusstsein durch die engen Straßen, das ich nicht wirklich fühlte. Ich fühle mich immer am wohlsten, wenn ich meine Bedrohungen kenne. Je eher wir ins Zentrum dieses Chaos vorstießen und etwas dagegen unternehmen konnten, umso besser.

»Warum hast du es so eilig?«, fragte Peter. »Was auch immer hier passiert ist, es ist vorbei und wir haben's verpasst.«

»Nein«, erwiderte ich. »Das ist nicht vorbei. Es passiert immer noch. Das Untier wartet immer noch darauf, dass wir zu ihm kommen. Ich denke, es will uns etwas zeigen.«

»Untier?«, meinte Honey. »Keiner hat mir was von einem Untier gesagt.«

»Oh«, sagte ich. »Es gibt immer ein Untier. Na, komm schon, Peter. Nicht zurückbleiben. So wird man schnell geschnappt. Außerdem wird dir die Bewegung gut tun.«

»O Gott«, erwiderte Peter. »Erschieß mich einer und erlöse mich aus meinem Elend.«

»Lass es nicht drauf ankommen«, sagten Honey und Walker fast gleichzeitig.

Ich sah Honey an, sie fing den Blick auf und neigte leicht den Kopf. Ich fiel etwas zurück und überließ Walker die Führung. Peter trottete mit gesenktem Kopf weiter. Honey fing an zu reden, ohne mich direkt anzusehen.

»Ich wusste immer, dass es solche Orte gab. Versteckte Orte, geheime Städte, in denen die Sowjets schlimme Dinge taten, unaussprechliche Dinge, die sie an ihren eigenen Leuten verübten. Im Namen des Patriotismus und des allmächtigen Staates. Bis jetzt ist mir allerdings nie in den Sinn gekommen, dass es vielleicht auch in anderen Ländern solche Städte hat geben können. Ob alle sie hatten, einschließlich Amerika. Ich habe nie auch nur ein Flüstern darüber gehört, dass es sie gibt, aber während des Kalten Krieges haben wir alle schlimme Dinge im Namen der Sicherheit getan. Nicht nur meine Leute von der CIA; es gab eine ganze Buchstabensuppe von geheimen Abteilungen damals. Sehr verdeckte, sehr spezielle Agenturen, die notwendige, unaussprechliche Dinge taten, die immer ganz strikt nach dem Nur-was-man-wissen-muss-Prinzip gingen. Offiziell wurden sie alle geschlossen, nachdem wir den kalten Krieg gewonnen hatten. Aber in diesen Tagen des Terrorismus und der Schurkenstaaten - wer weiß schon, ob es nicht ein X25 in Amerika gibt? Welche Monster wir vielleicht gerade schaffen, sodass wir uns ein wenig sicherer fühlen können?

Eddie, wenn es solche Orte, solche Städte auf amerikanischem Boden geben sollte, dann wüsstest du das doch, oder? Und du würdest es mir sagen, wenn es sie gäbe?«

»Ich weiß es nicht«, sagte ich vorsichtig. »Das ist nicht mein Gebiet. Ich war jahrelang nur ein Agent, der in London aktiv war. Ich habe die Stadt kaum verlassen, bin bis zum Krieg gegen die Hungrigen Götter nicht einmal im Ausland gewesen. Frontagenten kriegen nur zu wissen, was sie wirklich wissen müssen und wenn sie es wissen müssen. Es ist dein Land, Honey. Was glaubst du?«

»Ich weiß es nicht, Eddie. Es scheint mir … je mehr ich von den Lösungen dieser Rätsel lerne, desto weniger bin ich mir über alles andere sicher.«

Sie lehnte sich an mich und ich legte einen Arm um sie. Unsere dicken Pelze dämpften die Geste, aber sie schmiegte sich dennoch an mich, wegen der Wärme oder um Trost zu erhalten. Oder vielleicht war es etwas ganz anderes. Immerhin waren wir beide Profis.


Wir kamen schließlich an das Gebäude, das das psychische Feuer in den Himmel schickte. Die Straße sah sehr dunkel aus, die Schatten waren tief und hinterhältig. Wir standen dicht beieinander, wachsam und bereit, einem versteckten Angriff entgegenzutreten, der sich nicht formte. Von außen sah das Gebäude, das zu finden wir so weit gegangen waren, nicht viel anders aus als die anderen Häuser in dieser Straße. Wuchtig und brutal, rußgeschwärzt und voller Einschusslöcher; aber die Vordertür war noch immer intakt und die Fenster nicht zerbrochen. Es gab keinerlei Anzeichen, die uns sagten, was drinnen vor sich ging.

Weil man es wahrscheinlich sowieso wusste oder es einen nichts anging.

»Bist du sicher, dass es das ist?«, fragte Honey. Irgendwann auf dem Weg hatte sie sich von mir gelöst und war absichtlich allein weitergegangen. Was auch immer für ein Moment der Menschlichkeit oder Schwäche oder Zuneigung sie bewegt hatte, er war vorbei.

»Etwas Böses passiert hier«, sagte Walker. »Ich kann das so stark fühlen, dass ich es fast riechen kann. Was haben sie hier nur getan?«

»Ich hab keine Ahnung«, sagte ich. »Aber es hat einen verdammt großen Eindruck auf die Umgebung gemacht. Schlechte Dinge dauern an, die wirklich bösen durchdringen alles. Und sie können eine ganze Menge Formen annehmen.«

Ich ging weiter vor, um einen näheren Blick auf die gewöhnliche, alltägliche Tür zu nehmen, die der einzige Eingang zu dem Haus zu sein schien. Ein großer Block stark verschmutzten Holzes mit einem erstaunlich kompliziert aussehenden elektronischen Schloss.

»Primitiv«, sagte Honey. »Das kann ich leicht knacken.«

Ich rüstete hoch und trat die Tür ein. Honey starrte mich böse an, als ich abrüstete.

»Hör auf damit, Eddie! Der Rest von uns will sich hier und da auch mal einbringen!«

»Tut mir leid«, meinte ich.

»Männer mögen es, Dinge einzutreten«, erklärte Peter ihr. »Das ist einfach ein Männer-Ding.«

Die Lobby war ein Chaos aus herumgeworfenen Möbeln und überall verteilten Papieren, keines von Letzteren in einem Zustand, in dem man es hätte entziffern können. Es gab keine Schilder an der Wand, keine Pfeile, die in verschiedene Abteilungen wiesen. Wieder: Entweder man arbeitete hier und wusste, wo man hinwollte, oder es ging einen nichts an. Die erste Überraschung war, dass die Heizung des Gebäudes arbeitete und es warm genug war, sodass wir unsere Mäntel ausziehen konnten. Als zweite Überraschung gingen plötzlich die Lichter an, ohne dass einer von uns einen Schalter angefasst hätte. Die Lobby sah sofort weniger düster und bedrohlich aus.

»Das ist das erste Mal, seit ich in dieser gottverlassenen Wildnis angekommen bin, dass ich mich wie ein Mensch fühle«, meinte Peter. »Dieser widerliche Betonhaufen muss eigene Generatoren im Keller haben. Auch wenn ich überrascht bin, dass die Bewegungsmelder nach all den Jahren immer noch arbeiten.«

»Die Russen haben Dinge für die Ewigkeit gebaut«, murmelte Walker und schielte irgendwie geistesabwesend um sich. »Ich frage mich, was hier noch alles überlebt hat.«

Ich rüstete hoch und sah mich durch meine goldene Maske um. Die anderen wichen ein wenig zurück.

»Eddie«, fragte Honey vorsichtig. »Was tust du da?«

»Ich suche nach Dingen, die vielleicht noch funktionieren«, sagte ich. »Radioaktivität, Strahlungsquellen, chemische oder bakterielle Verseuchungen - aber ich sehe nichts. Aber wenn ich meinen Blick benutze, dann ist das ganze Gebäude ein Hort vergangener Ereignisse: Geister, mentale Echos und Erinnerungen. Ausschließlich Erinnerungen, keine lebendige Präsenz, die ich entdecken könnte. Nur viele schlechte Emotionen. Schmerz, Schrecken und Tod. Und etwas, das sich ganz wie Verzweiflung anfühlt.«

Ich rüstete ab. Die anderen bemühten sich sehr, sich den Anschein zu geben, sich für etwas anderes zu interessieren, damit niemand glaubte, sie seien an meiner Transformation noch interessiert.

»Die Generatoren machen mir Sorgen«, meinte Honey plötzlich, »Sie sollten nicht einfach so arbeiten, nachdem sie so viele Jahre stillgelegt waren. Sowjetische Technologie war zum größten Teil nie so effizient oder verlässlich. Wenn die Stadtplaner ernsthaft Geld darauf verwendet haben, erstklassige Maschinen zu bauen - dann war die Arbeit der Wissenschaftler hier sehr wichtig.«

»Die psychische Energiequelle ist ganz sicher in den oberen Stockwerken«, sagte ich. »Sie ist so stark, dass sie förmlich aus dem Dach bricht. Also, es geht nach oben, Leute, und lasst uns mal schauen, ob wir nicht ein paar Geister aufscheuchen können.«

»Man weiß wirklich nie, wann er Witze macht«, murmelte Peter.


Wir fanden das Labor auf dem obersten Stockwerk. Es war ziemlich leicht, es zu finden, indem wir an den schweren elektrischen Kabelsträngen an der Wand entlanggingen. Später waren weitere Kabel hinzugefügt worden, und das etwas ungeschickt, als wäre es sehr eilig geschehen. Der ganze Ort schien seltsam sauber zu sein. Kein Staub, keine Spinnweben, nichts, was die Vernachlässigung so vieler Jahre anzeigte. Das Labor selbst schien ein großer, offener Raum zu sein, der von einem riesigen Einwegspiegel in zwei Hälften geteilt wurde, als ob damit jemand die Wissenschaftler habe beobachten wollen, ohne selbst gesehen zu werden. Das Ganze war ein Inbegriff des sowjetischen Denkens während des Kalten Krieges: Sie spionierten sogar sich selbst aus. Wir blieben im Beobachtungsraum und sahen uns die Halle durch den Spiegel an. Ich hatte ein wirklich schlechtes Gefühl, was den anderen Raum anging und die anderen waren jetzt so zittrig, dass sie froh darüber waren, dass wir hier blieben.

Das Labor war mit sperrigen, altmodischen Computern ausgestattet, auf brutale Weise effizient. Alte und neuere Modelle standen auf engem Raum beieinander und waren manchmal sogar miteinander verbunden. Ein einziges Deckenfenster ließ gedämpftes Dämmerlicht von außen herein. Und direkt unter diesem natürlichen Spotlicht stand etwas, das ganz so aussah wie ein Behandlungsstuhl beim Zahnarzt. Kalter Stahl und schwarzes Leder, komplett mit schweren Arm- und Beingurten. Der Stuhl war auf dem Boden verschraubt. Es sah nicht gerade wie die Art Stuhl aus, in die man sich freiwillig setzt.

Der Raum, in dem wir uns befanden, war zum größten Teil mit Aufzeichnungsgerätschaften angefüllt. Altmodische Tonbandgeräte, sperrige VHS-Recorder und ein einziger großer Fernseher, um sich die Videos anzusehen. Alles sah sehr ordentlich und organisiert aus, als ob nichts das alles seit Jahren gestört hätte. Und wieder war nirgendwo ein Staubkorn zu sehen. Irgendjemand, oder irgendetwas, hielt diesen Raum in dem Zustand, in dem er sich befunden hatte, bevor … das passiert war, was auch immer hier geschehen war. Honey beugte sich über einen Stapel VHS-Cassetten, ihre Lippen bewegten sich langsam, als sie sich durch die handgeschriebenen kyrillischen Aufschriften arbeitete.

»Irgendwas?«, fragte ich und bemühte mich angestrengt, ruhig und beiläufig zu klingen.

»Meist nur Namen und Daten. Nichts, was daraufhinweisen würde, was sie hier getrieben haben.«

»Das flößt nicht gerade Vertrauen ein«, sagte Peter. »Was haben sie in diesem Raum getrieben - dass sie einen kugelsicheren Einwegspiegel brauchten, der die Beobachtenden von den Beobachteten trennte?«

Wir sahen ihn alle an. »Wie konnten Sie wissen, dass es sich um kugelsicheres Glas handelt, Peter?«, fragte Walker.

»Ich … ich hatte es einfach im Gefühl«, erwiderte Peter mit gerunzelter Stirn. »Seit ich hier hereingekommen bin, hatte ich das Gefühl, als erinnere ich mich an die Erinnerungen von jemand anderem. Unheimlich …«

Am Ende nahmen wir einfach eines der Videos aus dem Stapel heraus und steckten es in den nächsten Recorder. Der alte Fernseher brauchte ein wenig um anzugehen, und als wir endlich ein Bild hatten, war es nur schwarz-weiß. Die Aufnahme zeigte genau, was die Wissenschaftler im anderen Raum getan hatten. Sie hatten an widerwilligen menschlichen Objekten herumexperimentiert und sie dabei zerstört. Wir sahen zu, wie diese Personen schrien, kreischten und Obszönitäten herausbrüllten. Wie sie sich heftig gegen die schweren Gurte wehrten, während Männer und Frauen mit leeren Gesichtern in schmuddeligen Laborkitteln sie mit Nadeln traktierten oder Strahlung aussetzten oder sie aufschnitten, um zu sehen, was sich in ihnen befände.

Es war in Schwarz-Weiß schlimm genug. In Farbe wäre es unerträglich gewesen.

Wir sahen die Bänder schnell durch und schauten uns ein jedes immer nur ein paar Minuten lang an. Das war alles, was wir aushalten konnten. Sie waren sich alle ähnlich. Kaltblütige Ausschnitte aus der Hölle.

Der Schädel eines Mannes platzte ziemlich plötzlich, und Blut und Gehirnmasse regneten feucht auf die anwesenden Forscher. Ein anderer Mann schmolz förmlich aus dem Stuhl heraus. Sein Körper verlor einfach jede Form und jeden Zusammenhalt, sein Fleisch rann durch die Haltegurte hindurch wie dicker, pinkfarbener Schlamm. Er schrie, solange er konnte, bis seine Stimmbänder zerfielen und ihm der Kiefer aus dem Gesicht fiel. Er endete in einer brodelnden pinkfarbenen Pfütze auf dem Boden. Einer der Wissenschaftler trat aus Versehen hinein, wurde hysterisch und musste fortgebracht werden.

Eine Frau mittleren Alters saß auf dem Boden und trug nichts als eine fleckige, überdimensionale Windel. Sie hatte eine weit vorspringende Stirn, die von gewaltigen schwarzen Nähten und kruden Metallklammern zusammengehalten wurde. Sie setzte ein seltsames Gerät zusammen, dessen Form und Funktion überhaupt keinen Sinn ergaben. Als die Forscher ihr Missfallen darüber ausdrückten, was sie da gebaut hatte und auf den Stuhl zeigten, hob die Frau still ein scharfes Metallstück auf und stieß es sich immer wieder in ihr linkes Auge, bis sie starb.

Und ein Mann mit einer Y-förmigen Autopsienarbe auf der Brust, die immer noch frisch war, und aus dessen Bauch mehrere Stahlröhrchen ragten, die man ihm implantiert hatte, riss alle Haltegurte ab, die ihn am Stuhl festhielten. Er tötete drei Wissenschaftler und sieben der Soldaten, die hereingeschickt worden waren, um ihn festzuhalten, bevor einer von ihnen nahe genug an ihn herankam, um ihm ein paar Kugeln in den Kopf zu jagen.

Wir sahen uns so viel an, wie wir ertragen konnten. Schließlich bat ich Honey, die Datumsangaben zu untersuchen und uns das Band vom letzten Experiment zu zeigen. Das allerletzte, woran die Wissenschaftler gearbeitet hatten, bevor alles den Bach runtergegangen war.

»Was auch immer hier passiert ist, sie haben es verdient«, sagte Walker. »Das hier ist kein wissenschaftliches Labor. Das ist eine Folterkammer.«

»Was haben die geglaubt, was sie tun?«, fragte sich Peter. »Was wollten sie damit erreichen?«

»Ich denke, die waren einfach alle verrückt«, sagte Honey. »Wenn sie's nicht waren, als sie angefangen haben, dann hat das, was sie hier getan haben, sie wahnsinnig werden lassen.«

»Nein«, widersprach ich. »Ich glaube nicht, dass man das so entschuldigen kann. Ich glaube … sie haben einfach nur getan, was ihnen gesagt wurde. Vielleicht weil sie selbst in dem Stuhl gelandet wären, hätten sie's nicht getan.«

»Wir sollten diese Stadt bis auf die Grundmauern niederbrennen«, meinte Walker. »Und den Boden mit Salz bestreuen.«

»Spielt das Band ab«, sagte Peter. »Je eher wir hier rauskommen, desto besser.«

Wir standen vor dem großen Bildschirm, Schulter an Schulter, um uns gegenseitig zu trösten und zu unterstützen. Eine ganze Weile gab es nur Schnee zu sehen, als hätte jemand den Versuch unternommen, das Band zu löschen: Als das Bild klar wurde, zeigte es einen Mann, der in dem Stuhl saß. Er war nackt, die Ledergurte schnitten tief in sein Fleisch. Er saß sehr aufrecht und war nicht in der Lage, einen Muskel zu bewegen. Er sah müde aus, missbraucht und ernsthaft unterernährt, aber es war sonst nichts weiter ungewöhnlich an seiner Erscheinung. Außer dem, was sie mit seinem Kopf gemacht hatten.

Zwei Forscher, ein Mann mittleren Alters und eine etwas jüngere Frau, beobachteten den Mann im Stuhl aus sicherer Entfernung. Sie sahen ebenfalls müde aus, und aus der Art, wie sie dem Spiegel immer wieder Seitenblicke zuwarfen, konnte ich erkennen, wie sehr sie unter dem Druck standen, Resultate zu liefern. Die Frau hatte ein Klemmbrett und einen Stift in der Hand. Sie trug eine hässliche Hornbrille. Der Mann paffte hastig eine Zigarette und diktierte der Frau irgendetwas. Er sah den Mann im Stuhl nicht einmal an. Er musste einen Job erledigen, und beide machten voran. Der Mann im Stuhl war für sie nicht wichtig, außer als Subjekt ihres derzeitigen Experiments.

Ich fragte mich, wer der Mann im Stuhl war, was er getan hatte und wie sein Leben verlaufen war, bevor man ihn hierher gebracht und seinen Namen gegen die Nummer eines Experiments ausgetauscht hatte. Ich fragte mich, ob ihm diese Nummer auf den Unterarm tätowiert worden war.

Der Kopf des Mannes war rasiert, blasse Narben von kürzlich erfolgten Operationen waren darauf zu sehen. Man hatte in regelmäßigen Abständen Löcher in seinen Schädel gebohrt, damit man elektrische Kabel direkt in sein Gehirn einführen konnte. Dunkles, erst kürzlich geronnenes Blut war um die Löcher herum zu erkennen. Die Kabel, sorgfältig nach Farben sortiert, führten zu einer Reihe von Maschinen am anderen Ende des Raums. Ich erkannte keine von ihnen.

Ohne zu wissen, warum oder wie, begann ich auf einmal zu verstehen, was passierte. Ich schien es einfach zu wissen. Die Forscher schwitzten nervös unter dem intensiven Druck, Resultate zu produzieren und all das Geld zu rechtfertigen, das man bisher investiert hatte. Praktische Resultate, die die Militäraufseher der Partei präsentieren konnten, um weitere finanzielle Mittel zu bekommen und die eigene kostbare Haut zu schützen. Also hatte man … Abkürzungen genommen.

Die Wissenschaftler in X25 hatten die Rätsel der menschlichen DNA nun elf Jahre lang erforscht und hatten nichts Nützliches vorzuweisen. Nur eine Riesenmenge Sackgassen und beinahe genauso viele tote Versuchssubjekte. Nicht, dass das etwas ausmachte, man konnte immer wieder Nachschub bekommen. Dennoch verzweifelte man langsam. Dieses besondere Experiment setzte genetisches Material bestimmten radioaktiven Elementen aus und pflanzte das neue Material direkt in das Gehirn der Testperson ein. So weit, so gut. Die Testperson hatte die Operation überstanden. Jetzt stimulierten die Wissenschaftler bestimmte Areale des Gehirns, um zu sehen, ob etwas passierte.

Die beiden Forscher, der Mann und die Frau, sprachen nervös miteinander, einiges klar dem Abhören geschuldet, und manchmal sprachen sie miteinander über die Monitore und Displays hinweg und diskutierten dabei die Ergebnisse. Ich schien zu verstehen, was sie sagten, obwohl ich nur ein paar Brocken Russisch sprach.

(Was ging hier vor? Wo kam all die Information her? Hatte sich die Vergangenheit in diesem Gemäuer so festgesetzt, dass es ausreichte, allein dieses Band abzuspielen, um alles wieder aufzuwühlen, in allen Details? Wachte das Labor auf?)

Der Forscher sprach von den Teilen der menschlichen DNA, die sich bisher einer Erklärung widersetzt hatten. Ganze Bereiche, deren Zweck und Funktion ein Rätsel geblieben war. Beide Forscher waren überzeugt davon, dass in der menschlichen DNA besondere Fähigkeiten verborgen lägen, die nur darauf warteten, dass man sie an die Oberfläche holte. Alte Fähigkeiten, die der zivilisierte Mensch schon längst vergessen hatte. Sein Name war Sergei. Er sprach von alter DNA, altem genetischem Material, das noch aus der Zeit stammte, in der der Mensch noch gar keiner war. Er sprach über die frühesten Zivilisationen, in denen die Menschen direkt mit den Göttern gesprochen hätten. Sie sahen das als etwas Gewöhnliches, Alltägliches an: ziemlich allgemein und kein bisschen bemerkenswert. Götter und Teufel, Monster und Engel wandelten offen unter den Menschen, ihre Gespräche hatte man detailliert in den ältesten Schriftstücken aufgezeichnet. Götter, die mit den Menschen redeten und sich unter sie mischten. Nichts Besonderes, so war es damals eben einfach gewesen. Wenn man den Schriftstücken glauben konnte, warf die Wissenschaftlerin ein, deren Name Ludmilla war. Wenn diese Aufzeichnungen akkurat waren, meinte Sergei, so akkurat wie alles sonst, was darin stand, zu wem hätten diese frühen Menschen denn sprechen sollen? Offenbar nicht zu Göttern; beide Forscher waren gute Parteimitglieder und glaubten nicht an so etwas. Aber … etwas Mächtiges war es sicher gewesen. Konnte es sein, dass diese Götter und Teufel immer noch unter uns waren, aber wir die Fähigkeit verloren hatten, sie zu sehen?

Ich dachte darüber nach. Sie sprachen über das Gesicht, die Fähigkeit von speziell ausgebildeten Leuten, die Welt im Ganzen zu sehnen und nicht nur den begrenzten Teil, in dem die meisten Leute leben. (Also wirklich, wenn die meisten Leute wüssten, mit wem oder was sie die Welt so alles teilen, dann würden sie sich in die Hosen machen.) Aber obwohl das Gesicht mir viele seltsame, wundervolle und auch gefährliche Dinge gezeigt hatte, hatte es mir nicht einmal einen Gott gezeigt.

Als ich das den anderen sagte, nickte Walker langsam.

»Es gibt ein paar Typen, die sehr gottähnlich sind, auf der Nightside. Sie haben eine ganze Straße nur für sich, damit sie für die Touristen angeben können. Aber so wahr ich hier stehe, ich bin völlig sicher, dass die meisten von ihnen einfach nur supernatürliche Kreaturen mit Größenwahn sind und den Atem nicht wert, den es bräuchte, sie zu verfluchen. Möchtegern-Götter und die, die vorgeben, es zu sein, gehören zu der ältesten Art von Betrügern, die die Menschheit hat aushalten müssen.«

»Ich habe mal mit dem Zauberer und Zeichner von Northhampton gesprochen«, meinte Peter schüchtern. »Er sagte, Götter und Dämonen sind nur künstliche Konstrukte der Tiefen des menschlichen Geistes. Wir kreieren diese Unterpersönlichkeiten, damit das Bewusstsein leichter mit dem Unterbewussten kommunizieren kann. Oder vielleicht … damit ein Individuum leichter Kontakt mit dem menschlichen Massenbewussten aufnehmen kann, dem, was Jung das kollektive Unbewusste genannt hat. Der Zauberer sagte, dass Götter und Dämonen einfach nur zwei Seiten der gleichen überlichtschnellen Münze sind.«

»Jaja, schon gut. Was zwanzig Jahre Comics zeichnen so alles mit einem anstellt …«, knurrte Walker.

»Ich kriege hier eine ganze Menge Informationen aus dem Labor«, sagte Honey plötzlich. »Ich weiß auf einmal Dinge, von denen ich gar nicht gewusst habe, dass ich sie weiß. Es ist, als erinnere ich mich plötzlich wieder an ein Buch, das ich vor langer Zeit gelesen habe, von dem ich aber weiß, dass ich es in Wirklichkeit nie angefasst habe. Mein Kopf tut weh.«

»Das sind die psychischen Abdrücke«, sagte ich. »Was hier passiert ist, war so machtvoll, so traumatisch, dass es buchstäblich in die Wände gesickert ist. Genius Loci und so. Eine steinerne Aufzeichnung. Und jetzt reicht aus, dass wir hier sind, um diese Aufzeichnung wieder abzuspielen. Ich weiß auch Dinge. Der Mann im Stuhl ist geisteskrank. Sein Name ist Grigor, und er hört Stimmen in seinem Kopf. Er ist beinahe sicher schizophren, auch wenn sich keiner die Mühe gemacht hat, das korrekt zu diagnostizieren. Offenbar haben Sergei und Ludmilla da drüben geglaubt, dass bei Leuten, die Stimmen hören und mit Leuten reden, die nicht da sind, zufällig alte DNA reaktiviert wurde. Also haben sie hauptsächlich mit Geisteskranken experimentiert, um diese Teile der menschlichen DNA zu lokalisieren und zu kontrollieren. Nur für den Fall, dass sie Götter und Teufel sehen.«

»Das ist doch verrückt«, sagte Peter.

»Bastarde«, meinte Walker knapp.

»Auf jeden Fall eine schlechte Idee«, sagte Honey und starrte angelegentlich auf den flackernden Schwarz-Weiß-Bildschirm. »Wenn die alten Götter und Monster wirklich nur eine Projektion des Unbewussten sind, nehmen sie es vielleicht nicht sehr freundlich auf, wenn sie an die Oberfläche gezerrt werden. Wir verdrängen diese Dinge ja nicht umsonst tief in unserem Kopf.«

»Man sollte schlafende Götter nicht wecken«, sagte Peter.

»So in etwa«, meinte Walker.

»Diese Unterhaltung wird zunehmend seltsam«, sagte ich. »Was hat irgendwas von all dem mit dem zu tun, was in der Stadt passiert ist?«

»Es hat was mit dem Kerl zu tun, der in dem Stuhl dort sitzt«, sagte Honey rundheraus. »Mit Grigor. Das kann ich spüren. Du nicht?«

»Könnte es sein, dass wir hier über die Jung'schen Archetypen reden?«, warf Walker ein. »Das war die große Mode, als ich noch jung war. Ideen und Konzepte, denen man Form und Gestalt und sogar Identität gegeben hat. Dunkle Träume aus den Tiefen des menschlichen Kollektivbewusstseins, die Menschen in Richtungen treiben, die sie sonst nie gewählt hätten. Launen und Vorlieben, Politik und Religion. Solche Sachen sind etabliert und steuern die Menschheit. Entschuldigung, ich weiß, ich schweife ab. Aber wir bewegen uns auf sehr dünnem Eis hier und ich glaube, es steht uns gut an, langsam vorzugehen. Erinnern Sie sich an diesen Film Alarm im Weltall? Die Monster, die aus dem Unbewussten entstanden? Unbesiegbar und unaufhaltsam, Wut und Schrecken und sämtliche unserer unaussprechlichen Begierden, denen eine Gestalt gegeben wurde und die auf die Welt losgelassen wurden? Wie der Hyde, nur noch viel mehr. Ist es das, was hier in X25 passiert ist?«

»Sie haben recht, Walker, Sie schweifen ab«, sagte Honey.

Ich sah immer noch den Mann im Stuhl und die beiden Forscher an. Grigor und Sergei und Ludmilla. Welche Informationen auch immer ich da aufschnappte, sie kamen nicht von dem Videoband. Sie kamen aus dem anderen Raum. In dem es spukte und der befleckt war von dem, was diese Leute darin getan hatten. Die Wissenschaftler hatten Zugang zur alten DNA haben wollen, um zu lernen, wieder mit den Göttern zu reden und ihnen den Willen der Partei aufzuzwingen.

Kinder, die mit Atombomben spielten.

Grigor bekam plötzlich einen Anfall. Sein ausgemergelter nackter Körper wehrte sich gegen die Lederschnallen, die ihn festhielten. Der Stuhl knirschte und stöhnte, aber die Gurte hielten. (Ich war jetzt direkt bei ihnen. Ich konnte alles sehen und hören; Grigors Schweiß riechen und die Statik fühlen, die sich in der Luft aufbaute.) Sergei kontrollierte die Anzeigen auf seinen Instrumenten, und Ludmilla kritzelte hektisch Notizen auf ihr Klemmbrett. Die Kameras zeichneten alles auf. Grigors Gesicht verzog sich, seine Augen traten hervor, sein Atem wurde schneller und schneller. Die Kabel, die aus seinem Kopf führten, wurden hin und her geworfen.

Und dann hörte er auf, sich zu bewegen. Er hielt sich selbst unnatürlich still, so als habe er Angst, irgendjemandes Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Schweiß rann seine vor Anstrengung pinkfarbene Haut herab. Grigor atmete jetzt kaum noch, sein Gesichtsausdruck fror ein und blieb starr. Er sah etwas, das konnte ich spüren. Etwas, das gar nicht da war oder zumindest für die menschlichen Sinne nicht da war. Er sah es, und ich glaube, es sah ihn auch. Sein Gesicht verzog sich vor Angst und Abscheu, von einem Schrecken, der beinahe nicht auszuhalten war. Er schrie wie ein kleines Kind, wie ein verwundetes Tier, wie eine Seele, die man gerade in die Hölle verdammt hatte.

Ich wusste, was passierte, auch wenn ich es nicht sehen konnte. Die Informationen strömten in meinen Kopf und erzwangen sich ihren Weg trotz allem, was ich versuchte, um sie dort herauszuhalten.

Die Wissenschaftler hatten es geschafft. Die alte DNA war wieder erwacht und aktiv. Grigors Augen sahen alles. Aber er hatte nicht nach außen gesehen, wie beabsichtigt, über die Bereiche hinaus, die wir kennen, in andere Welten und Dimensionen oder die vielen sich überlappenden Lagen unserer komplizierten Realität. Stattdessen hatte sich sein Gesicht von der Welt, die ihn so verletzt hatte, abgewendet. Es hatte sich nach innen gerichtet. Er sah tief in sich selbst hinein, in die Menschheit, in all die versteckten Geheimnisse in unserer DNA. Und dort fand er etwas. Etwas, das tief in unser aller genetischem Material verborgen war, etwas, das in seiner Bedeutung so furchtbar war, dass er es nicht aushielt.

Sein Wille brach, bäumte sich auf und verschwand dann. Seine künstlich erweiterten Gedanken drangen in das menschliche Massenbewusste ein, in das gemeinsame Unbewusste, das all die Leute in X25 miteinander verband. Er nahm sich von der Macht, die er dort fand, nahm sie und formte sie und schickte sie aus, alles Lebendige in der Stadt zu töten. Damit die grässlichen Experimente endlich aufhörten und das furchtbare Wissen, über das Grigor gestolpert war, mit ihm starb.

Lass sie alle sterben, hatte er gesagt. Sie sind alle schuldig. Sie alle wussten, was passierte.

Grigor hatte die Albträume gerufen. Alle Dinge, vor denen wir wirklich Angst haben. Monströse Formen und schreckliche Archetypen. All die privaten und persönlichen Schrecken, die in der Dunkelheit Macht über uns haben, in den frühen Morgenstunden, wenn wir furchtbare Träume von Dingen haben, denen wir nur entkommen können, wenn wir aufwachen und sie hinter uns lassen. Grigor beschwor sie alle aus dem Kollektivbewusstsein, gab ihnen eine materielle Form und Gestalt und ließ sie auf die Bewohner von X25 los.

Und die Stadt schrie auf.

Die Forscher bemerkten, dass etwas richtig schiefgelaufen war mit ihrem Experiment. Grigor schrie nicht mehr und wehrte sich auch nicht mehr gegen seine Gurte. Er saß absolut still. Sergei und Ludmilla näherten sich ihm vorsichtig. Er wandte ihnen langsam seinen gefolterten Kopf zu, um sie anzusehen. Blut rann in endlosen Tränen aus seinen Augen, die nicht blinzelten. Er hatte endlich die Wahrheit gesehen, und jetzt konnte er nicht mehr wegsehen, nicht einmal, wenn es ihn umbrachte. Aber er hatte doch ein Lächeln für seine Folterer übrig.

Sie kommen, sagte er. Sie kommen, um euch zu holen. Jeder Einzelne von ihnen und alle wollen sie ein Stück.

Er klang wie ein Toter, der sprach. Ein Mann, der unerträgliche Wahrheiten sagen kann, weil er nichts zu verlieren hat. Sergei wich zurück und rief hysterisch um Hilfe. Ludmilla warf ihr Klemmbrett weg, rannte zum Kontrollpaneel und schlug auf den Knopf zum Abbruch. Das hätte Grigor sofort töten, ihn mit massiver elektrischer Energie geradezu grillen sollen, aber noch war er nicht bereit, alles loszulassen. Große Funken erschienen, flogen in die Luft und breiteten sich bis zu den Geräten um den Stuhl herum aus. Ludmilla griff nach einer Feueraxt an der Wand und schlug mit hysterischer Kraft auf Grigor in seinem Stuhl ein. Die schwere Stahlklinge biss sich wieder und wieder in sein Fleisch, aber er schrie nicht auf und er starb auch nicht.

Sergei versuchte zu entkommen, aber die Tür öffnete sich nicht. Sicherheitspersonal pochte von außen gegen die Tür, aber sie gab nicht nach. Ludmilla wich vor der blutigen Masse im Stuhl zurück, die sie immer noch anlächelte, und sie lachte schrill durch das aufgelöste Haar, das ihr ins leichenblasse Gesicht fiel. Die Schneide der Axt hinterließ eine blutige Spur auf dem Boden, als sei es ihr zu schwer geworden, sie anzuheben.

Schließlich kamen sie durch die Wände, aus dem Boden und von der Decke herab. Wirklich und real; nicht lebendig, und immer noch mit den Wunden, an denen sie gestorben waren. All die Versuchsobjekte, mit denen man experimentiert hatte, die in dem Stuhl gelitten hatten und gestorben waren, die um Hilfe geschrien hatten, um Gnade und einfaches Mitleid, das nie jemand gehabt hatte. Sie kamen wegen Sergei und Ludmilla, die langsam starben, schreiend unter den Händen derer, denen sie das alles angetan hatten. Und als die Toten endlich mit ihnen fertig waren, ließen sie nur eine blutige Masse auf dem Boden zurück. Sie gingen hinaus aus dem Raum, in die Stadt und taten noch schlimmere Dinge.


Das Band hielt an. Ich sah mich verwirrt um. Ich hatte vergessen, wer ich war und wann ich war. Das Zimmer, in dem alles passiert war, hatte mich völlig eingenommen. Ich holte tief Luft und wischte mir mit dem Handrücken den Schweiß vom Mund. Honey hatte den Recorder abgeschaltet. Sie atmete schwer. Ich fragte mich, ob sie das Gleiche gesehen hatte wie ich. Walker sah auf den Boden. Peter hatte uns den Rücken zugewandt. Ich sah durch den Einwegspiegel in den anderen Raum. Er war leer und der Stuhl auch.

»Wie viel davon habt ihr mitbekommen?«, fragte ich nach einer Weile. Es klang nicht wie meine eigene Stimme. Es klang … schockiert und unsicher. Verloren.

»Genug«, sagte Walker. »Monster des ›Es‹. Das ›Es‹ der Stadt.«

»Er hat eine Stadt mit ihren eigenen Albträumen getötet«, sagte Honey. »Eine ganze Stadt …«

»Das eine, dem niemand ins Gesicht sehen kann«, sagte Peter. Er wandte sich um, aber er sah an uns vorbei in den anderen Raum.

»Gut immerhin, dass der verrückte Bastard tot und verschwunden ist«, meinte Honey und versuchte einen flotten, professionellen Ton anzuschlagen, was ihr aber nicht richtig gelang. »Wer weiß, was er sonst noch angestellt hätte. Kein Wunder, dass die Sowjets damit nicht fertig wurden.«

»Sie wollten eine Waffe«, sagte Walker. »Und sie haben eine gekriegt.«

»Ich glaube, er ist tot«, sagte ich. »Keiner könnte sehnen, was er gesehen hat, und das überleben. Aber ich glaube nicht, dass er weg ist. Was er getan hat, war so machtvoll, dass die psychischen Energien sich selbst in die materielle Umgebung eingeprägt haben. Bereit, jederzeit wieder hervorzutreten. Warum befindet sich Grigors Leiche nicht noch in dem Stuhl? Warum sind die Leichen der Forscher nicht mehr auf dem Boden oder wenigstens das, was von ihnen noch übrig war? Warum haben wir nicht eine einzige Leiche in der ganzen verdammten Stadt gefunden? Weil die Albträume immer noch hier sind. Immer noch aktiv. Immer noch hungrig.«

»Ich kann's fühlen«, sagte Walker. »Wie Spannung in der Luft, bevor ein Gewitter losbricht. Wie das Innehalten, bevor das Beil niedersaust …«

»Hören Sie damit auf!«, sagte Honey. »Ihr alle, nehmt euch zusammen! Wir sind Profis, wir können damit umgehen.«

»Bist du verrückt?«, Peters Stimme war schrill, beinahe hysterisch, alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Es war das erste Mal, dass ich ihn wirklich ängstlich sah. »Wir müssen hier raus! Die Stadt wird lebendig, und die Albträume kehren zurück! Alle schlechten Träume, die du jemals hattest. In Träumen gibt es Dinge, denen man nicht gegenübertreten kann!«

»Reißen Sie sich zusammen, Peter«, sagte Walker, aber seiner Stimme fehlten die übliche Überzeugung und Autorität.

»Still«, sagte Honey, und etwas in ihrer Stimme ließ uns sofort erstarren. »Ich glaube … es ist hier.«

Der Videorecorder schaltete sich von allein wieder an. Der Fernseher wurde wieder lebendig. Wir alle sahen unwillig hin. Grigor saß wieder in seinem Stuhl, zerhackt, aber immer noch lebendig. Die beiden blutigen Massen, die Ludmilla und Sergei gewesen waren, breiteten sich vor ihm auf dem Boden aus, wie Opfer, die man einem gnadenlosen Gott dargebracht hat. Von außerhalb des Raums, aus den umliegenden Straßen, kamen schreckliche Geräusche. Kreischen und Schreien und das Brüllen von etwas, das wilde Tiere sein könnten. Grigor drehte seinen blutigen Kopf und sah uns unmittelbar durch den Spiegel an. Er lächelte und nur wenig Menschliches und noch weniger Mitgefühl war darin. Es war das Lächeln eines Mannes, der hinter die Tore der Hölle gesehen und erkannt hatte, was man dort tat und was auf ihn wartete.

Ihr müsst sterben, sagte er. Ihr alle müsst sterben.

»Warum?«, fragte ich. »Wir haben dir nie etwas getan.«

Natürlich konnte er mich nicht hören. Grigor war tot, lange tot. Das war nur eine Aufnahme seiner letzten Botschaft an die Menschheit.

Wir sind nicht, was wir glauben, sagte er. Das waren wir nie. Ihr müsst sterben. Weil niemand jemals die Wahrheit erfahren darf.

»Welche Wahrheit?«, fragte Honey.

»Warum Albträume?«, fragte Walker. »Warum all diese Leute in der Stadt auf so eine schreckliche Weise töten?«

Weil wir das verdient haben.

Das Band hielt plötzlich an und der Bildschirm war wieder tot.

»Naja«, sagte ich und gab mir große Mühe, ruhig und beiläufig zu klingen. »Das war … besorgniserregend. Und mehr als nur ein wenig unheimlich.«

»Was hat er nur in unserer DNA gesehen?«, fragte Honey.

»Wahrscheinlich ist es besser, wenn wir das nicht wissen«, sagte ich.

»Könnte Grigor nicht noch irgendwo am Leben sein, was meinen Sie?«, fragte Walker. »Verborgen vielleicht. Vielleicht schickt er diese … Bilder.«

»Nein«, sagte ich. »Wenn hier irgendjemand in dieser verdammten Stadt noch am Leben wäre, dann wüsste ich das. Hier war seit Jahren nichts lebendig. Selbst die Tiere haben Verstand genug, nicht hierher zu kommen. Ich glaube, keiner könnte hier für lange leben; nicht nach alldem, was hier passiert ist. Das ist eine Stadt der Erinnerungen. Aufbewahrter, barbarischer Erinnerungen.«

Es wurde kälter und dunkler. Der Raum auf der anderen Seite des Spiegels war nun fast verschwunden, verschluckt von den Schatten. Die Lampen in unserem Raum wurden schwächer, als ob ihnen die Kraft entzogen wurde. Unser Atem begann, in der Luft zu dampfen, und wir schlossen unsere Mäntel wieder. Das Gefühl bevorstehenden Unheils wuchs, ganz als würde gleich etwas losbrechen. Wir vier rückten enger zusammen und dann wieder auseinander, weil wir in alle Richtungen gleichzeitig sehen wollten. Von außerhalb des Gebäudes drangen Stimmen zu uns. Stimmen … beinahe menschlich. Zuerst wie vereinzelte Individuen, dann immer mehr, bis sie schließlich zu einer Stimme der Masse, des Mobs wurden, der vor Angst und Schlachterei verrückt geworden war.

Der Klang einer ganzen Stadt, die von ihren Ängsten in den Wahnsinn getrieben und ermordet worden war.

»Was ist das?«, fragte Honey. Sie schlug die Hände vor die Ohren, vergeblich. »Was soll dieser Krach? Es ist doch keiner da, diese Stadt ist leer! Sie ist leer! Keiner ist da draußen unterwegs!«

»Die Toten bleiben nicht immer tot«, sagte Walker. Er sah verwirrt aus, als ob ihn jemand gerade geschlagen hätte.

»Nein«, sagte ich schnell. »Da ist niemand draußen. Nicht so. Es sind … die Erinnerungen an die Albträume. Als die Leute hier gestorben sind, als die Stadt starb, als alle Männer und Frauen und Kinder, gefangen an diesem Ort, ihren Albträumen zum Opfer fielen. Dieser Ausfluss der Emotion und des Traumas, das mit Grigor angefangen hat. Alles, was sie erfahren haben, wurde psychisch in Stein, Ziegel und den Beton von X25 geprägt. Der ganze Ort ist eine einzige gigantische Aufzeichnung aus Stein. Und als wir die Stadt betraten, haben wir sie wieder gestartet.«

»Also ist sie nicht real?«, fragte Peter.

»Real genug«, erwiderte ich. »Real genug, um uns zu töten, wenn wir das zulassen.«

»Aber wo kommt die Energie her, um diese Art der Manifestation immer wieder neu anzufeuern?«, fragte Walker. »Was treibt das Playback immer wieder an?«

»Wir«, sagte ich. »Was auch immer hier passiert ist, es passiert immer noch und wird immer passieren. Grigor hat damit angefangen, als er sich der Kraft des kollektiven Unbewussten bediente, und wir sind Teil davon. Nur dadurch, dass wir hier sind, haben wir die Aufnahme wieder gestartet und gleichzeitig wieder angefeuert. X25 ist eine Falle. Grigors Rache an einer Welt, die erlaubte, dass ihm so schlimme Dinge geschahen.«

»Wir müssen hier raus!« Peter schrie jetzt, seine Stimme war hässlich und durchdringend.

»Wo sollen wir denn hin?«, fragte Walker. »Da draußen ist nichts! Nur die Wälder, die Kälte und der sichere Tod. Also schlucken Sie es runter und ertragen Sie es wie ein Mann.«

»Etwas ist mit uns im Gebäude«, sagte Honey. »Ich kann es hören, es kommt die Treppe herauf. Und es klingt … nicht menschlich.«

»Wir werden alle bald anfangen, Dinge zu hören«, meinte ich. »Oder was auch immer uns Angst macht.«

»Es muss doch etwas geben, was wir tun können!«, meinte Peter. »Du bist ein Drood! Tu was!«

»Ich denke, Grigor ist immer noch hier in diesem Gebäude, in irgendeiner Form«, sagte ich. »Er ist die Quelle und das Zentrum der Steinaufzeichnung. Wir müssen das finden, was noch von ihm da ist und ihn stoppen.«

»Wie?«, fragte Walker.

»Ich bin offen für Vorschläge«, sagte ich. »Ich kann auch nur von einer gewagten These zur anderen springen.«

»Du hast doch das Gesicht«, sagte Honey. »Und die Rüstung. Find ihn für uns, Eddie. Bevor unsere Albträume uns finden.«

»So einfach ist das nicht«, meinte ich.

»Ich wusste, dass er das sagen würde«, sagte Peter. »Wusstet ihr nicht, dass er das sagen würde?«

»Halten Sie die Klappe, Peter«, sagte Walker. »Was ist das Problem, Eddie?«

»Die Betonaufzeichnung nahm auf, was Grigor ursprünglich sah«, überlegte ich. »Wenn ich ihn suchen gehe, dann könnte ich das auch sehen. Wenn das passieren sollte, dann tötet mich.«

»Kein Problem«, sagte Honey.

Ich rüstete auf. Die goldene seltsame Materie floss heraus und umgab mich einen Moment später. Sie schloss mich völlig vom psychischen Angriff der Stadt ab. Ich hatte nicht bemerkt, wie knapp ich vor dem Überschnappen gewesen war, bis die Rüstung mich wieder zurückholte. Alles in der Stadt war jetzt allein der Zerstörung des menschlichen Verstandes und der Seele gewidmet. Ich holte tief Luft, um mich zu stabilisieren, und sah dann durch meine gesichtslose goldene Maske über die Stadt. Mein Gesicht schickte meinen Sinn hoch über die zerstörten Straßen, um nach einem einzigen Muster zu suchen: Spuren der Überreste des Mannes, den man Grigor genannt hatte. Es gab auch andere Muster, fremd und schrecklich, die durch die Straßen strichen und auf das Haus zukamen, in dem meine Kollegen und ich uns versteckten, aber ich konnte mir diese Muster nicht genau ansehen. Der Mensch ist nicht dazu gemacht, die Medusa anzustarren.

Etwas zerrte an meinem Verstand, halb Warnung, halb Forderung, und ich wandte mein Gesicht in diese Richtung. Grigor sah mich an, er war auf ein Kreuz aus ineinandergreifender Technik genagelt. Die Computerverbindungen, die man in seinen Kopf gepflanzt hatte, hatten sich über seinen Augenbrauen zu einer Dornenkrone verbunden. Er lächelte mich an, ein kaltes und mitleidloses Lächeln. Seine Züge waren über seinen Wahnsinn hinaus geprägt, als ob er den Irrsinn hinter sich gelassen und jenseits dessen etwas anderes gefunden hatte.

Bekämpfe mich nicht, sagte er.

»Ich muss«, sagte ich.

Du musst es sehen. Um zu wissen, zu verstehen, warum es nötig ist. Warum du sterben musst, für dich selbst und um der Menschheit willen. Wenn du weißt, was ich erfahren musste, wirst du sterben wollen.

Ich konnte nicht genau sagen, mit wem oder was ich da sprach. Das war nicht nur die Aufzeichnung in den Wänden, eine Aufzeichnung vergangener Ereignisse. Etwas von Grigor selbst hatte sich in den Stein und den Beton von X25 gestempelt. Ich konnte seine Präsenz fühlen, den Geist in der Maschine. Ich nahm alle Willenskraft, die ich hatte, zusammen, um mich abzuwenden und mein Gesicht herunterzufahren. Ich wagte nicht zu sehen, was Grigor gesehen hatte. Ein Verrückter in einer Drood- Rüstung wäre sehr viel gefährlicher für die Welt als jeder Albtraum, der derzeit durch die Straßen von X25 raste. Grigors Gegenwart zog sich in die Ferne zurück. Doch er nagte immer noch an mir, als ich wieder in meinen Kopf zurückkehrte und abrüstete. Ich atmete schwer, als ob ich bei einem Wettlauf mitgemacht hätte und dem Verlieren zu nah gekommen sei. Meine Knie gaben nach, und ich glaube, ich wäre gefallen, wenn Walker mir nicht einen Stuhl untergeschoben hätte. Honey lehnte sich zu mir und schob ihr Gesicht in dem Bemühen, meine Augen einzufangen, dicht an meines.

»Was ist los?«, fragte sie. »Was hast du gesehen, Eddie?«

»Grigor ist mit ziemlicher Sicherheit tot«, meinte ich. »Aber unglücklicherweise ist er noch nicht ganz von uns gegangen. Er ist der Schlüssel zu all dem. Wenn wir ihn aufhalten, dann halten wir auch die Albträume auf, die Stadt, alles.«

»In Ordnung, was tun wir?«, fragte Peter.

»Es gibt nur eins, was wir tun können«, sagte ich. »Grigor ist Teil der Betonaufzeichnung, die dank der Stadt existiert. Also muss die ganze Stadt zerstört werden. Reduziert zu Asche und weniger als das. Ein physischer und psychischer Schlag, um Grigor und X25 auf allen Ebenen zu zerstören, auf denen sie sich derzeit befinden. Diese ganze Stadt ist spirituell korrumpiert worden, eine reale und gegenwärtige Bedrohung für die ganze Menschheit, ihren Leib und ihre Seele.«

»Wie zum Teufel sollen wir denn eine ganze Stadt auslöschen?«, fragte Honey.

»Er ist verrückt geworden«, meinte Peter. »Er fantasiert.«

»Nein«, sagte Walker. »Er hat recht. Die Stadt muss zerstört und der Boden mit Salz bestreut werden.«

»Wundervoll!«, meinte Peter. »Hat irgendjemand einen Exorzisten auf der Kurzwahl? Am besten einen, der sich hobbytechnisch mit nuklearer Zerstörung beschäftigt.«

»Halten sie die Klappe, Peter. Sie werden hysterisch.«

»Selbst wenn ich Langley kontaktieren könnte - was ich nicht kann - und ein Dutzend Langstrecken-­Bomber mit Stadtzerstörern herbeirufen könnte, würde Langley das nicht autorisieren«, sagte Honey. »Ein nicht provozierter Angriff auf russischen Boden? Wir reden hier vom Dritten Weltkrieg und Hallelujah! Die Raketen sind los!«

»Und wenn wir die russischen Behörden kontaktieren und alles erklären?«, fragte Walker.

»Können wir nicht«, erwiderte Honey. »Und überhaupt, was lässt Sie annehmen, dass die einem CIA-­Agenten, einem Drood und jemandem von der Nightside glauben?«

»Guter Punkt«, sagte Walker.

»Bomben wären sowieso nicht genug«, warf ich ein. »Nicht einmal thermonukleare. Man könnte die ganze Stadt auf einen Krater reduzieren, der im Dunkeln glimmt, aber der psychische Abdruck wäre immer noch vorhanden; er ist an diesen speziellen Ort gebunden. Genius Loci. Grigors Rache hat sich in den Raum selbst eingeprägt.«

»Was also können wir tun?«, fragte Honey. »Könnte deine Familie helfen?«

»Darüber … habe ich nachgedacht«, sagte ich langsam. »Ein psychischer Schlag, der die Region säubern würde. Aber dafür braucht man unglaublich viel Kraft, genug Energie, um den menschlichen Verstand oder eine Kombination von solchen auszubrennen. Selbst wenn ich mit dem Herrenhaus Kontakt aufnehmen könnte - was ich nicht kann -, keiner von denen könnte mir dabei helfen. Aber es gibt hier in der Nähe eine Kraftquelle … von der wir zehren könnten. Mehr als genug, um diesen Job zu erledigen. Aber das heißt, dass wir das, was da unter dem Permafrost schläft, aufstören müssten. Ich glaube … ich kann seine Kraft anzapfen, ohne ihn zu wecken. Aber wenn ich falsch liege … wenn er aufwacht … Wir könnten hinterher schlimmer dastehen als jetzt.«

»Schlimmer?«, fragte Peter und wedelte mit den Armen. »Die ganze Stadt ist zum Leben erwacht und will uns auf furchtbare Art mit unseren eigenen Albträumen töten! Was könnte schlimmer sein?«

»Zeit für die Wahrheit, Eddie«, sagte Walker. »Wir müssen das wissen. Wen oder was hat Ihre Familie hier begraben vor all den Jahren?«

»Einen von uns«, sagte ich, »Er gehört zur Familie. Ein Drood, den man wie einen unartigen Hund eingeschläfert hat. Wir haben ihn so tief begraben, dass er schon halb in der Hölle ist, in die er gehört. Mit Eisenketten gefesselt, in kraftvolle Zauber und Flüche gewickelt, damit er bis zum Jüngsten Tag schläft oder sogar noch länger. Unsere größte Peinlichkeit, unser größtes Versagen. Der Drood, der die Welt verschlingen wollte.

Unsere Torques und unsere Rüstung geben uns mehr Macht als alles, was ihr euch jemals vorstellen könntet, aber für einen von uns, einen gewissen Gerard Drood aus dem elften Jahrhundert, war das nicht genug. Er erforschte die Möglichkeiten des Torques, befasste sich viel tiefer damit als je einer von uns davor. Er … verbesserte seinen Torques, benutzte bestimmte verbotene Techniken und uralte Geräte und benutzte ihn dann dazu, die der anderen aufzusaugen. Hunderte von ihnen, Männer, Frauen und Kinder. Er wurde … unglaublich mächtig. Ein Seelenfresser. Ein lebendiger Gott.

Nachdem er die Familie besiegt und unterworfen hatte, machte er sich auf, die ganze Menschheit unter seinen Willen zu zwingen und die Welt nach seinem Abbild neu zu formen. Er hätte beinahe Erfolg damit gehabt. Ganze Länder fielen unter seinen Einfluss, Millionen von Menschen beugten die Knie und den Kopf und priesen seinen unheiligen Namen. Er grub seine Gesichtszüge in die Oberfläche des Mondes, damit die ganze Welt zu ihm aufsehen könnte und sah, wie er auf sie hinablächelte.

Aber es gab immer mehr Droods, als man öffentlich zugeben wollte; aktive Agenten und … so was in der Art. Die Matriarchin rief sie alle zu sich, alle Droods, die noch gegen den Verräter Widerstand leisteten. Sie bündelte sie, in ein kollektives Droodbewusstsein sozusagen, sodass Hunderte von Droodschen Torques gegen Gerards gestohlene standen. Am Ende war nicht einmal das genug, um ihn zu besiegen. All diese Macht - und alles, was sie erreicht haben, war, ihn einzuschläfern, fest zu bannen und ihn tief zu begraben.

Gerard Drood. Grendel Rex. Der unversöhnliche Gott.«

»Ich habe von ihm gehört«, rief Peter. »Er ist unter dem Silbury Hill begraben, im Südwesten Englands!«

»Eigentlich nicht, nein«, sagte ich. »Wir haben dieses Gerücht zur Ablenkung gestreut. Silbury Hill ist ein Grabhügel aus keltischen Zeiten mit so vielen Legenden, die sich darum ranken, dass eine mehr gar nicht auffällt. Nein. Wir haben ihn hierher gebracht, an einen Ort, der im elften Jahrhundert das Ende der Welt war. Einen harten und bitteren Ort, an dem keiner mit Verstand würde leben wollen. Wo ihn keiner stören konnte.«

»Wenn nicht er unter Silbury Hill begraben ist«, fragte Walker. »Wer dann?«

Ich brachte ein Lächeln zustande. »Sie können wohl kaum erwarten, dass ich Ihnen alle Familiengeheimnisse erzähle.«

»Warum überhaupt ein Gerücht streuen?«, fragte Peter.

»Weil Grendel Rex Anhänger hatte«, sagte ich geduldig. »Derartige Leute haben immer Anhänger. Sie können nun bis in alle Ewigkeit Tunnel in den Silbury Hill graben und niemals etwas finden.«

Honey rümpfte die Nase. »Ich habe bis heute noch nie von Grendel Rex gehört. Und ich habe ganz sicher auch nie von einer Machtübernahme in den Geschichtsbüchern gelesen.«

»Wir haben ihn aus der Geschichte getilgt«, erwiderte ich. »Jedes Zeugnis zerstört, jedes Buch und Manuskript verbrannt und jeden zum Schweigen gebracht, der versucht hat, zu reden. Damals konnten wir das noch tun. Nur Mythos und Legende blieben, und damit konnten wir leben. Den Mond sauber zu schleifen war schwierig, aber auch das haben wir geschafft.

Versteht ihr jetzt? Warum ich so zögere, etwas zu tun, was den Unversöhnlichen Gott wieder wecken und auf die Welt loslassen könnte?«

»Teufel noch mal«, sagte Peter. »Wenn das Tunguska-Ereignis ihn nicht geweckt hat …« Er hielt inne.

»Oder sollte es das, und es ging daneben?«

»Ein großer Teil meiner Familie hat sich das gefragt«, sagte ich. »Aber … er hat weitergeschlafen. Unsere Ahnen haben gute Arbeit geleistet. Das gibt mir das Vertrauen, es überhaupt zu versuchen. Aber … wenn ich zufällig die Fesseln breche, die ihn halten, dann wird er wiederauferstehen. Und vielleicht sind nicht einmal die Bemühungen aller Droods und all unserer Verbündeten und all unserer Waffen genug, um ihn diesmal niederzuzwingen.«

»Ach, komm schon«, sagte Honey. »Sei nicht so eingebildet, Drood! Die Welt hat sich seit dem elften Jahrhundert weiterentwickelt. Wir haben Zugang zu Waffen und Material, das in jenen Tagen nicht bekannt war. Ich spreche für die CIA, wir haben auch ein paar lebende Götter besiegt.«

Walker sah sie an und dann mich. »Eddie, was ist das Schlimmste, was passieren könnte, wenn er aufwacht?«

»Dass er beendet, was er angefangen hat«, sagte ich. »Dass er die ganze Menschheit unterwirft, die Kontinente nach seinem Gusto neu formt, die Seelen aller lebenden Dinge in sich aufnimmt und uns nur genug übrig lässt, um ihn zu lieben und anzubeten. Die Hölle auf Erden, für immer und ewig und drei Tage. Das könnte passieren, wenn ich's versaue.«

»Nun«, sagte Walker. »Dann sollten Sie das wohl nicht tun.«

Der Lärm draußen in den Straßen war unterdessen ständig lauter geworden. Kreischen und Heulen, das genauso viel von Tieren wie von Menschen in sich hatte. Sie kamen von allen Seiten und umgaben das Haus. Wir waren belagert von den wiedererwachten Geistern der alten Schrecken. Der Raum schien kälter als je zu sein, eine gespenstische Kälte, eine Lücke in der Seele. Die Schatten waren sehr dunkel, wie Löcher, die einen verschlingen konnten oder in denen man ewig fallen würde. Sie bewegten sich manchmal, wenn man nicht direkt hinsah. Der Raum änderte sich die ganze Zeit in kleinen subtilen Dingen. Er wurde größer oder kleiner oder tiefer, während die Ecken zu viele Winkel aufwiesen.

Mein Atem kam schnell und hart. Ich konnte spüren, wie mein Puls raste und eine Vene an meiner Schläfe beinahe schmerzhaft pochte. Ich habe schon Angst gehabt; ein Drood zu sein macht einen nicht immun dem Schmerz oder dem Tod oder dem Versagen gegenüber - aber das hier war anders. Eine andere Art von Angst: primitiv, beinahe rein. Wir waren von Albträumen umgeben, die in die reale Welt drangen und uns umzingelten. Gegen meinen Willen erinnerte ich mich an Dinge, vor denen ich in meinen Träumen davongerannt war: unaussprechlichen, unerträglichen und unerbittlichen Dingen, denen ich nur entkommen konnte, indem ich aufwachte. Und hier konnte ich nicht aufwachen.

Alles kann in Träumen passieren, in schlechten Träumen. Die Toten können wieder umgehen und unversöhnliche Dinge sagen. Physische Formen verlieren ihre Integrität, werden unsicher, ihre Kanten fransen aus und gleiten einem durch die Finger, nicht länger an eine Gestalt gebunden, mit der man fertig würde. Ich konnte ein Wimmern spüren, das sich in meinem Hals bildete. Honey hatte die Hand vor dem Mund und nagte an einem Knöchel. Walker stand mit dem Rücken zur Wand und wedelte mit seinem Regenschirm hin und her, als sei der ein Schwert. Peters vorspringende Augen schossen hin und her und erwarteten scheinbar die Ankunft von etwas ganz Furchtbarem, das immer von irgendwo anders kam.

Schon bald würden wir anfangen, uns gegenseitig als Albträume zu sehen. Vielleicht sogar einander angreifen, weil man niemandem und nichts in einem Albtraum trauen kann. Schatten stiegen von überallher hoch und nahmen verstörende Formen an, die eine schreckliche persönliche Bedeutung hatten. Der Boden unter meinen Füßen war weich und schwammig, die Wände lehnten sich zu uns herunter, kamen uns näher wie müde, alte Männer. Risse in den Mauern nahmen die Form von menschlichen Gesichtern an und lächelten in freudiger Erwartung des Kommenden.

Schwere Hände schlugen an die geschlossene Labortür. Sie zitterte in ihrem Rahmen, das Holz wölbte sich unnatürlich unter den kraftvollen Schlägen. Fürchterliche Stimmen kamen von draußen, die schrien: Lasst uns herein! Lasst uns herein! Ich rüstete auf, aber es half nicht mehr. Selbst das konnte mich vor der entfesselten Kraft meiner Albträume nicht mehr schützen. Ich schnappte mir das nächstbeste Technikteil, das schwer genug erschien, und zerrte es in Richtung Tür, um eine Barrikade zu errichten, aber das solide Metall wurde weich und faulig und zerfiel in meinen gerüsteten Händen. Ich konnte mich auf nichts mehr verlassen.

Das ist der wirkliche Schrecken von Albträumen.

Lethal Harmony of Kathmandu und der Blaue Elf kamen einfach durch die geschlossene Tür, als sei sie gar nicht da. Ich wich zurück. Sie sahen mich anklagend an, die Köpfe rollten haltlos auf ihren gebrochenen Hälsen. Honey sah sie ebenfalls. Sie eröffnete mit ihrer schimmernden Kristallwaffe das Feuer. Der Energiestrahl schoss direkt durch beide Gestalten hindurch und ließ die Tür hinter ihnen explodieren. Und dann welkte und wand sich die Waffe in ihrer Hand, rollte sich zusammen und schlug hin und her wie eine Schlange. Honey warf sie panisch weit von sich weg.

Katt und Blue verwandelten sich in meinen Vater und meine Mutter. Sie näherten sich mir langsam. Sie sahen nicht wie Zombies aus oder wie die lebenden Toten oder zwei Leute, die die meiste Zeit meines Lebens in einem Grab verbracht hatten. Sie sahen aus, wie sie immer aussahen, wenn ich an sie dachte: wie auf dem letzten Foto, das man geschossen hatte, bevor sie auf die Mission gegangen waren, auf der sie umgekommen waren. Nur lächelten sie jetzt nicht. Ich wich zurück, doch sie kamen näher. Sie sagten nichts. Das mussten sie nicht. Sie sahen anklagend aus, enttäuscht und als wollten sie mich verfluchen.

»Nein!« Ich schrie, so laut, dass mein Hals schmerzte. »Meine Eltern würden nie so von mir denken! Sie wissen es besser! Sie würden das nicht tun! Ihr seid nicht sie!«

Und angesichts meiner Überzeugung wurden sie langsam blasser und verschwanden still.

Honey schnappte sich meinen goldenen Arm mit einer zitternden Hand. »Wie hast du das gemacht?«, fragte sie.

»Ich habe schlimmere Dinge auf dem Gewissen«, sagte ich.

»Dann tun Sie was!«, schrie Walker. »Bevor diese schlimmeren Dinge auftauchen!«

Peter wirbelte jetzt in einem fort herum, davon überzeugt, dass sich etwas von hinten an ihn heranschlich, egal, wohin er blickte. Walker schien zu schrumpfen, in plötzlichen Zuckungen und Schaudern, bis er wieder nichts als ein Kind war, das in einem Herrenanzug unterzugehen drohte. Er versuchte, etwas zu sagen, aber er bekam die Worte nicht heraus und fing hilflos an zu weinen. Honey sackte plötzlich ab, sie sank in einen Boden, der die Konsistenz von Treibsand angenommen hatte und sie jetzt in langen, absichtlichen Schlucken einsaugte. Ich griff nach ihrem Arm und versuchte, sie herauszuzerren, aber der Sog des Treibsands war zu stark. Ich zog stärker und Honey schrie vor Schmerz auf.

»Lass los, Eddie! Du ziehst mir die Schulter aus dem Gelenk, bevor mich der Sand loslässt! Du musst riskieren, deinen schlafenden Gott zu wecken! Nichts ist schlimmer als das! Wenigstens ist er real!«

Also ließ ich sie los. Wandte ihnen allen den Rücken zu, nahm die ganze Kraft meines Torques und meiner Rüstung zusammen und stellte einen Kontakt mit Grendel Rex, dem Unversöhnlichen Gott, her. Dem Teufel in seiner kalten dunklen Hel, tief unter dem Permafrost.

Ihn zu finden war leichter, als ich erwartet hatte. Mein Verstand schoss in einem einzigen Augenblick über die Meilen hinweg, die uns trennten, mein Gesicht wurde wie ein Magnet von dem Band angezogen, das wir gemeinsam hatten. Das der Familie. Meine Vision sank tief in die gefrorene Erde und ich spürte seine alte Präsenz beinahe sofort wie einen Schlag; groß, abstoßend und immer noch unglaublich mächtig. Ich fühlte mich wie ein Sporttaucher, der durch die kalte Nacht des Ozeans schwimmt und unerwartet auf einen Blauwal oder eine Riesenkrake trifft. Ich fühlte mich klein, überwältigt von der schieren Größe und Gewalt seiner Gegenwart. Nur ein Staubkorn in seinen Augen.

Vorsichtig schob ich mich weiter vorwärts und berührte seine Kraft. Es war, als stecke man einen Strohhalm ins Meer oder ließe einen Eimer in einen bodenlosen Brunnen sinken. Die Kraft überschwemmte mich; üppig und reißend, alles, was ich brauchte - und mehr noch. Und ein riesiges Auge öffnete sich langsam in der Dunkelheit und sah mich an.

Nun also. Wer störet mich nach dieser Zeit?

Ich erstarrte auf der Stelle, fror vor Schreck völlig ein. »Ich bin Edwin Drood«, sagte ich schließlich. »Ich … tue meine Arbeit. Ich versuche, die Menschheit vor der Zerstörung zu retten.«

So haben die Schafe noch ihre Hirten. Warum kommet Ihr zu mir, dem alten Ausgestoßenen, um Hilfe zu erbitten?

»Weil das, was ich tun muss, notwendig und wichtig ist. Weil ich nirgendwo sonst hinkann. Und weil ich … zur Familie gehöre.«

Ah, ja. Natürliche. Alles für die Familie. Was ist diese Bedrohung, die Ihr so fürchtet, dass Ihr Euch bereit erkläret, einen Pakt mit dem Teufel zu tun?

Ich begann mit einer Erklärung, aber er schob sich mühelos an meinen geistigen Schilden vorbei und nahm sich, was er brauchte, aus meinem Gedächtnis.

Ja, ich verstehe. Nun gut, kleiner Drood. So nehmt, was Ihr braucht.

Ich hätte mir die Energie einfach nehmen und verschwinden können, aber ich musste es wissen.

»Was hat Grigor in den Tiefen unserer DNA gesehen? Was könnte er gesehen haben, dass ihn so zutiefst erschrecken konnte? Weißt du das?«

Viellicht. Hier ist die Wahrheit, für die, welche die Stärke haben, sie zu ertragen.

Wir alle können Götter oder Teufel sein. Wir alle können hell strahlen wie die Sterne. Wir waren nie dazu geschaffen, nur Mensch zu bleiben. Wir sind nur die Larve von etwas, aus dem etwas Größeres entstehen kann. Ich denke, euer Grigor erhaschte einen Blick auf das, was wir wirklich sind und sein könnten, und dies ertrug er nicht. Die Realität besteht aus so viel mehr als Mann und Frau, Göttern und Dämonen. So viel mehr.

Das große Auge schloss sich langsam, wie der Mond sich bei einer Sonnenfinsternis vor die Sonne schob. Ich bin müde. Es ist noch nicht an der Zeit zu erwachen. Sagt der Familie … wir werden uns wiedersehen.


Ich rannte und nur mein Wille hielt mich zusammen. Die Macht, die ich mir genommen hatte, brannte in mir und forderte ihre Entfesselung. Sie begann bereits, mich von innen zu zerfressen. Ich ließ den Permafrost hinter mir, mein Verstand setzte über den gefrorenen Wald und die Stadt erschien vor mir wie ein Käfer auf einer Windschutzscheibe. Die Straßen waren voller unaussprechlicher Dinge. Gebäude entstanden und fielen oder verschmolzen miteinander. Eine große Welle von kreischenden Gesichtern schwappte eine Straße hinab, wie eine Menge Besessener und erschrockener Masken.

Die Sonne war ein Gesicht, das vor Wut brüllte. Grigors Gesicht.

Ich rief alle Macht, die ich mir genommen hatte und zwang sie unter meinen Willen; hielt sie in einer Hand, spuckend und Funken sprühend wie eine Million Lichtblitze. Ich warf sie auf die Stadt. Ein großer Schrei stieg aus den aufgewühlten Straßen auf, der von Wut, Trotz und seelentiefem Schrecken widerhallte, aber ich führte den Blitz mit meinem Verstand. Ich warf ihn direkt ins dunkle Herz von X25 und verjagte die Albträume, hinauf und hinaus, in die Sonne, die Grigors Gesicht trug. Für einen Moment hielt ich all den sich windenden Horror von X25 an einem Ort fest, jedes bisschen von Grigors Rache - und dann schickte ich es fort. Warf ihn in die eine Richtung zurück, aus der es nie wieder zurückkehren konnte.

In die Vergangenheit.

Ich sah mit gottgleichen Augen zu, als die geballte psychische Energie durch die Zeit zurückschoss, die ganze Zeit kreischend und heulend, bis sie sich schließlich nicht mehr länger zusammenhalten konnte und sich über der leeren Ebene von Tunguska am 30. Juni 1908 um 7:17 am Morgen mit einer einzigen Explosion in Nichts auflöste.


Ich erwachte wieder in meinem eigenen Kopf. Ich lag auf dem Boden des Laboratoriums. Die Macht war verschwunden und ich fühlte mich nicht mehr wie ein Gott. Ich war erschöpft, mir tat alles weh, und meine Augen fühlten sich an, als habe Sandpapier darübergerieben. Ich setzte mich langsam auf und jammerte dabei vor mich hin. Ich trug auch meine Rüstung nicht mehr. Der Boden unter mir war hart und fest, die Wände waren einfach nur Wände, und sowohl das Gebäude als auch die Straße draußen waren still. X25 wurde nicht länger von den Gespenstern seiner eigenen Ungeheuerlichkeiten heimgesucht.

Der Boden hatte Honey wieder ausgespuckt. Sie saß auf einem Stuhl, erschüttert und zitternd, aber sie bekam sich schon wieder unter Kontrolle. Walker war wieder er selbst, ruhig und gesammelt richtete er all seine Aufmerksamkeit darauf, seine Manschetten zu ordnen. Peter bemühte sich sehr, so auszusehen, als wäre nichts passiert. Ich stand langsam auf, und sie alle wandten sich mir zu.

Ich sagte ihnen, was passiert war und was ich getan hatte. Ich sagte ihnen aber nicht, was Grendel Rex über die menschliche DNA gesagt hatte. Er war ein Teufel und Teufel lügen immer. Außer wenn einen die Wahrheit härter treffen kann.

»Also warst du der Grund für das, was hier 1908 passiert ist?«, fragte Peter. »Du bist für das Tunguska- Ereignis verantwortlich?«

»Ein Drood war's«, sagte Honey. »Das hätte ich mir denken können.«

»Das meinem Großvater zu beweisen dürfte allerdings ein kleines bisschen schwierig werden«, sagte Peter.

»Machst du Witze?«, fragte ich. »So was kann man doch nicht geheim halten! Hellseher und Telepathen der ganzen Welt werden von dem, was ich grade getan habe, taub geworden sein. Niemand wird sie davon abhalten können, darüber zu reden, auch wenn meine Familie das zweifellos zu unterdrücken versuchen wird. Glücklicherweise kennen nur wir vier die Details, und ich glaube, es ist besser, wir belassen es dabei.«

»Oder die Droods werden kommen und uns alles vergessen lassen, wie damals bei Grendel Rex?«, fragte Honey.

»Genau«, sagte ich.

»Noch ein Grund, warum wir euch nicht in der Nightside operieren lassen«, murmelte Walker. »Nur mir ist gestattet, so willkürlich zu sein.«

»Können wir bitte losgehen und ein Lebensmittelgeschäft suchen?«, fragte Peter. »Irgendwo muss es doch ein paar Konserven geben. Wenn ich noch mehr Hunger bekomme, dann kriecht mein Magen den Hals rauf und wird meinen Kopf fressen.«

»Weißt du, ich würde wirklich eine Menge Geld dafür bezahlen, das zu sehen«, sagte Honey.


Wir verließen das Labor und gingen durch die verlassenen Straßen. Ich blieb ein wenig zurück und dachte über die anderen nach, während sie noch immer einigermaßen offen und verletzlich waren. Peter interessierte mich am meisten. Ich hatte ihn vorher noch nie wirklich verängstigt gesehen. Eigentlich war er, bedachte man seine Jugend und Unerfahrenheit mit der erweiterten Welt, mit dem Ungeheuer von Loch Ness und dem Hyde ziemlich gelassen geblieben. War interessiert, sogar beeindruckt, aber als es Zeit geworden war zu handeln, hatte er nicht gezögert, sondern seinen Teil beigetragen wie wir anderen. Für jemanden, dessen einzige Bekanntschaft mit dem Agentengeschäft auf dem Gebiet der Industriespionage lag, war das mehr, als man hätte erwarten können.

Also war er wohl doch Alexander Kings Enkel.

Aber es war nützlich zu wissen, dass er seine Grenzen hatte. Die Albträume hatten sein Selbstbewusstsein erschüttert und nur Hysterie übrig gelassen. Vielleicht, weil sie so ausgesprochen außerhalb seiner Kontrolle lagen. Wenn man es genau nahm - als es dazu gekommen war, das Ungeheuer von Loch Ness und den Hyde zu bekämpfen, hatte er die erstbeste Möglichkeit genutzt, zurückzuweichen und uns andere die Drecksarbeit machen zu lassen, während er alles mit seinem kostbaren Kamerahandy filmte.

Was auch immer passierte, ich musste dieses Kamerahandy in die Finger bekommen.

Walker fiel ebenfalls zurück, um mir Gesellschaft zu leisten, und wir sprachen leise miteinander. Er verlangsamte absichtlich unsere Schritte, sodass sich ein wenig Abstand zu Peter und Honey entwickelte.

»Während Sie fort waren, hat jemand versucht, mich zu töten«, sagte er still und vollkommen sachlich. »Selbst mitten in diesem Schrecken, der da vor sich ging. Bei so viel Amok laufendem Irrsinn ist es schwer zu sagen, aber jemand hat von hinten ganz definitiv versucht, mir den Kopf von den Schultern zu drehen. Er hätte bei jedem anderen Erfolg gehabt, aber glücklicherweise haben meine Jahre in der Nightside es sehr schwer gemacht, mich zu töten.« »Selbst jetzt, wo die Autoritäten fort sind?«

»Besonders jetzt, wo sie fort sind. Ich bin auf Arten geschützt, die Sie sich nicht einmal vorstellen können. Aber der Punkt ist doch, wir wissen jetzt, wer Katt und den Blauen Elf getötet hat. Es muss entweder Honey oder Peter sein.«

»Immer vorausgesetzt, dass Sie die Wahrheit sagen.« »Ah«, meinte Walker. »So ist das, ja.«

»Keinem von uns kann man trauen. Wir sind alle Agenten.«

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