Kapitel Neun Casino Royale

Warum ist man Agent?

Ja, okay, Sie kriegen die schönsten Spielzeuge zum Spielen, Sie bekommen die Welt zu sehen (allerdings nur selten die schönen Gegenden), und hin und wieder bekommen Sie eine Chance, sich zwischen die Menschheit und die Kräfte zu stellen, die sie bedrohen …

Sie werden also ein Held oder der Bösewicht und manchmal beides. Aber was hat man unterm Strich davon? Außer Tod, Leid und dem Verlust derer, die man liebt. Was macht einen Menschen zum Agenten? Und was lässt ihn weitermachen - im Angesicht all dessen?

Warum ist man Agent?


Walker und ich standen zusammen in einer dreckigen Seitenstraße und sahen auf Honey Lakes Leiche herab. Ich würde gern sagen können, dass sie friedlich und ruhig aussah, aber das tat sie nicht. Sie sah wie ein Spielzeug aus, mit dem man zu brutal gespielt und das man dann beiseite geworfen hatte. Ich hatte in meinen Jahren als Agent eine Menge Leute gesehen, die so aussahen. Von denen bei all dem Spaß und den Spielen, all den Abenteuern und der Romantik nichts anderes übrig geblieben war als leuchtend rotes Blut auf einem weißen Overall.

»Sie war eine gute Agentin«, sagte Walker.

»Ja«, sagte ich.

»Sie hätte nicht gewollt, dass wir einfach hier herumstehen und darauf warten, geschnappt zu werden.«

»Nein.«

»Mein Teleport-Armband ist weg«, sagte Walker und sah auf sein leeres Handgelenk. »Ihres auch?«

»Ja«, sagte ich. »Und Honeys Armband ist ebenfalls weg.«

Walker schnaubte laut, seine tadellos weiße Manschette schoss nach vorn, um sein Gelenk zu bedecken. »Peter muss sie mitgenommen haben.«

»Es gibt nur eine Möglichkeit, wie er das getan haben kann«, sagte ich. Ich sah immer noch auf Honeys Leichnam herunter. »Peter hat schon die ganze Zeit mit seinem Großvater zusammengearbeitet. Der Autonome Agent wollte immer, dass sein Enkel das Spiel gewinnt, um seine kostbaren Geheimnisse in der Familie zu halten. Dieser ganze Wettbewerb war nichts weiter als eine Inszenierung, um Peter King als den neuen Autonomen Agenten zu etablieren. Das hätte ich wissen müssen. Es geht immer um die Familie. Der Rest von uns war nur Show. Dekoration für Peters großen Triumph.«

»Und wir sind in Roswell gestrandet«, sagte Walker. »Mit einer Leiche zu unseren Füßen und den örtlichen Gesetzeshütern dank eines anonymen Tipps zweifellos schon auf dem Weg hierher. Wie überaus seltsam. Zeit, sich auf den Weg zu machen, denke ich.«

»Wir müssen nach Place Gloria«, sagte ich. »Alexander und Peter sollen dafür bezahlen.«

»Ja«, sagte Walker. »Und das werden sie. Ich war immer ein großer Anhänger von Auge um Auge und Tod um Tod. Das kommt von der traditionellen englischen Internatserziehung, denke ich. Unglücklicherweise wird es nicht ganz einfach sein, die Zuflucht des Autonomen Agenten zu finden. Wir können nicht einmal sicher sein, wo Place Gloria eigentlich ist. Erinnern Sie sich an den Fluxnebel? Was wir außen gesehen haben, hat vielleicht nichts mit dem mehr als bequemen Alterssitz zu tun, durch den wir gegangen sind.«

»Sie reden nur, um mich abzulenken«, sagte ich. »Ich weiß diesen Gedanken zu schätzen, aber tun Sie das nicht. Was machen wir mit Honey?«

»Die Kommunikation sollte wieder arbeiten, jetzt, wo der außerirdische Hügel zerstört wurde«, sagte Walker. »Wir rufen Honeys Leute an und sagen, was passiert ist. Sie werden die örtlichen Behörden tun lassen, was nötig ist. Die CIA war immer ziemlich gut darin, hinter sich aufzuräumen.«

Ich sah Walker an, und das musste man ihm lassen: Er blinzelte nicht. »Einfach gehen und sie hier liegen lassen?«, sagte ich. »Hier allein auf der Straße?«

Walker wich meinem Blick nicht aus. »Sie verzeihen mir sicher, dass ich nicht übermäßig anteilnehmend bin, Eddie. Sie hat in Tunguska versucht, mich umzubringen. Und sie hat die arme kleine Katt und Ihren Freund, den Blauen Elfen, getötet.«

»Ich weiß«, sagte ich. »Sie war eine Agentin.«

»Ja«, sagte Walker. »Und genau deshalb würde sie es verstehen. An der Front tut man, was man tun muss. Sie hätte nicht gezögert, hier wegzugehen und die Bergung Ihres Leichnams den Droods zu überlassen.«

»Sind wir deshalb zu Agenten geworden?«, sagte ich, und ich war selbst von der Bitterkeit in meiner Stimme überrascht. »Um Spiele zu spielen? Nach Geheimnissen zu jagen, die selten das Blut wert sind, dass man für sie vergießt? Um dann damit zu enden, dass man ein Messer in den Rücken bekommt - gerade wenn man glaubt, gewonnen zu haben - um dann in einer namenlosen Seitenstraße zu verbluten? Ohne dass die meisten Leute überhaupt wussten, wer man war, was man tat oder warum es etwas bedeutete?«

»Man kann nicht in den Schatten arbeiten und gleichzeitig Beifall erwarten«, sagte Walker. »Die richtigen Leute werden davon erfahren, und manchmal ist das das Beste, worauf wir hoffen dürfen.«

»Alles für die Familie«, entgegnete ich. »Alles für England. Für die Menschheit. Aber für uns? Was ist mit uns, Walker?«

»Pflicht und Verantwortung sind sich selbst genug«, sagte Walker. »Das klingt altmodisch, ich weiß, aber manche Dinge ändern sich eben nicht. Die Dinge, die etwas bedeuten. Wir tun sie, weil sie getan werden müssen. Wir tun sie, denn wenn wir das nicht tun, wer dann? Wem können wir trauen, dass sie richtig gemacht werden?«

»Sie hätte hier nicht sterben sollen«, sagte ich. »Nicht so.«

»Irgendwie ist es immer so«, sagte Walker. »Das gehört zum Job. Haben … Sie sie geliebt, Eddie?«

»Nein«, sagte ich. »Aber sie war etwas Besonderes. Wenn die Dinge anders gewesen wären …«

»Wenn doch«, sagte Walker. »Das sind immer die schlimmsten aller Worte.«

»Warum sind Sie Agent geworden, Walker? Ich hatte keine Wahl, ich wurde ins Familiengeschäft hineingeboren. Honey ebenfalls, denke ich. Aber warum Sie?«

»Für den schieren, verdammten Glamour«, sagte Walker.

Ich brachte noch kein Lächeln für ihn fertig, aber ich nickte, um ihm zu zeigen, dass ich seine Bemühungen schätzte. Ich wandte Honey meinen Rücken zu und ging fort. Walker schlenderte ruhig neben mir her und wirbelte mit seinem Regenschirm wie mit einem Offizierstock herum. Man kann über Walker sagen, was man will - und es ist viel gesagt worden -, aber der Mann hatte Stil. Wir ließen den Hinterhof und die leere Straße hinter uns und gingen wieder in die Innenstadt von Roswell hinein, um uns wieder unter gesunden Dingen zu bewegen.

»Wir können nicht zulassen, dass Peter den Preis für sich beansprucht«, sagte ich. »Nicht nach allem, was wir durchgemacht haben. Nicht nach dem, was er getan hat. Er ist es nicht wert.«

»Ich bin der Erste, der ihn gern in der Hölle sähe«, stimmte Walker fröhlich zu. »Und seinen verdammten Großvater ebenfalls. Peter muss derjenige gewesen sein, der uns die ganze Zeit gefolgt ist. Ich sagte ja, dass es ein Profi war. Er hat wahrscheinlich die Einstellungen auf seinem Teleport-Armband geändert, während er noch in den Anderen Landen war, indem er einfach vor uns ging und dann von uns getrennt hier sein konnte.« Er zog eine Grimasse. »Er konnte vorher ganz sicher nichts über die Alien-Bedrohung gewusst haben. - … Nein. Nein; für ihn muss es eine wirklich fiese Überraschung gewesen sein, dass er hier mit uns anderen festsaß. Deshalb blieb er zurück, bis alles vorbei war, bevor er zuschlug.«

Ich nickte. Mir war das eigentlich egal. Es waren nur Details.


Walker fand ein öffentliches Telefon und erzählte der CIA von Honey. Ich kontaktierte meine Familie mit meinem Torques. Das wäre mit dem alten Torques, der von dem korrupten Herzen gestellt worden war, nicht möglich gewesen, aber Ethels Verbesserungen der seltsamen Materie hatten uns mit einer Menge neuer Optionen versehen. An einige mussten wir uns noch gewöhnen. Der Drood-Kommunikations- Offizier war Feuer und Flamme, als er meine Stimme erkannte. »Wo zur Hölle bist du gewesen, Edwin? Wir waren seit Tagen nicht in der Lage, dich zu erreichen! Du weißt doch, dass du dich regelmäßig melden musst!«

»Ich war beschäftigt«, sagte ich.

»Aber wo warst du? Es war, als seist du vom Planeten gefallen! Wir haben die ganze Familie nach einem Lebenszeichen von dir suchen lassen. Selbst Ethel konnte dich nicht lokalisieren, und sie kann in fünf Dimensionen sehen!«

»Gut für sie«, sagte ich. »Und jetzt halt endlich die Klappe und stell mich in den Lageraum durch. Ich will mit der Matriarchin reden. Das ganze Spiel ist beim Teufel und der Autonome Agent hat uns alle reingelegt.«

»Ich bin hier, Edwin.« Die kühle und vollkommen professionelle Stimme der Matriarchin klang so, als stünde sie direkt neben mir. »Wo bist du? Was ist passiert?«

»Das Spiel war von Anfang an getürkt«, sagte ich und tat mein Bestes, ebenso ruhig und konzentriert zu klingen wie sie. Selbst nach allem, was zwischen uns passiert war, wollte ich immer noch nicht vor ihr die Fassung verlieren. »Alexander King hat nie beabsichtigt, einem von uns zu erlauben, die schmutzige kleine Hand auf seine Schatzkiste an Geheimnissen zu legen. Also werde ich ein sehr schlechter Verlierer sein und sie mir trotzdem nehmen. Ich muss wissen, wo sein geheimer Unterschlupf wirklich ist, Großmutter. Sag's mir!«

»Wenn irgendeiner in dieser Familie auch nur einen starken Verdacht gehabt hätte, wo man den Autonomen Agenten in die Finger kriegen kann, dann hätten wir ihm schon vor langer Zeit die Tür eingetreten und ihn ausgeschaltet«, sagte die Matriarchin ruhig. »Wir mögen Konkurrenz nicht, wir mögen Leute nicht, die ihr Fähnchen nach dem Wind richten und wir waren mit seinen Methoden nie einverstanden. Wir würden also die Aufzeichnungen, Trophäen und verbotenen Waffen, die er gestohlen und um die er uns im Lauf der Jahre betrogen hat, liebend gern wiederbekommen. Alexander King ist kein Freund dieser Familie und war es nie. Es tut mir leid, Edwin, sein gegenwärtiger Aufenthaltsort ist uns ein vollständiges Rätsel. Die Raumzeit-Koordinaten, die er uns für deinen Transport nach Place Gloria gegeben hat, galten ganz klar nur für dieses eine Mal. Ich habe dir drei Agenten nachgeschickt, einfach auf gut Glück, aber sie endeten irgendwo auf einer Alm. Nicht einmal eine Berghütte war in Sicht. Besonders Callan hat sich furchtbar darüber aufgeregt.«

»Du kennst Alexander doch«, sagte ich. »Ihr wart euch mal sehr nah.«

»Da war ich jünger und sehr viel leichter zu beeindrucken.« Die Stimme der Matriarchin änderte sich nicht im Geringsten. »Und selbst damals hätte ich meinen Gefühlen nie gestattet, mich an einer Mission zu hindern. Die Familie kommt zuerst, Edwin. Du weißt das.«

»Ja«, antwortete ich. »Das weiß ich.«

»Ist alles in Ordnung, Edwin?«, fragte die Matriarchin. »Du klingst müde. Brauchst du Unterstützung?«

»Nein«, erwiderte ich. »Ich muss das allein erledigen.«

Ich unterbrach den Kontakt, bevor sie mir Fragen stellen konnte, die ich auf keinen Fall beantworten wollte. Ich sah zu Walker hinüber, der seinen Anruf beendet hatte und mich geduldig ansah.

»Meine Familie kann nicht helfen«, sagte ich.

»Aber ich«, sagte Walker.

»Sie wissen, wo man den Autonomen Agenten findet?«, fragte ich doch recht misstrauisch.

»Nicht unbedingt«, sagte Walker. »Aber ich kann uns dorthin bringen. Es war immer ein Teil meines Jobs, dorthin gehen zu können, wo ich gebraucht werde. Natürlich wird das bedeuten, dass wir durch die Nightside reisen. Und, Eddie, wenn ich Sie dorthin bringe, dann müssen Sie mir versprechen, dass Sie sich benehmen. Droods ist das Betreten der Nightside aus guten Gründen verboten. Werden Sie mir versprechen, dass Sie keinen Streit anfangen?«

»Ich werde nett sein«, sagte ich. »Egal, wie sehr ich provoziert werde. Ich kann das tun, um zu Alexander und Peter zu kommen. Aber wie kommen wir von hier zur Nightside?«

»Ich werde Ihnen eines der großen Geheimnisse der Nightside verraten«, sagte Walker. »Und das auch noch ausgerechnet einem Drood. Wie weit ist es eigentlich mit der Welt gekommen? - Egal, hier ist es. Zeitanomalien passieren nicht einfach. Nun, eigentlich tun sie's doch. Plötzlich und heftig und überall. Diese verdammten Dinger öffnen sich immer einfach so und bilden zeitlich begrenzte Tore in die Vergangenheit, die Zukunft und eine beliebige Anzahl von alternativen Erden. Anscheinend ist das das Ergebnis eines größeren Design-Fehlers in der ursprünglichen Schöpfung der Nightside. Aber Sie glauben doch hoffentlich nicht, dass die Mächte in der Nightside - also die armen Idioten, die glauben, dass sie wirklich das Sagen in der Nightside haben - das zulassen würden, ohne dass sie daraus ihren Nutzen zögen? Nein, sie fanden einen Weg, die darin involvierten Energien anzuzapfen und diese Energien für sich arbeiten zu lassen. Die Autoritäten haben mir nicht einfach nur die Stimme gegeben, wissen Sie, sie haben mir auch meine höchsteigene Taschen-Zeitanomalie überlassen, mit der ich kommen und gehen kann, wie es mir gefällt und mit der ich sein kann, wo immer ich gebraucht werde und wann immer ich gebraucht werde. Und manchmal auch etwas früher.«

Er zog eine große goldene Taschenuhr an einer verstärkten Goldkette aus seiner Westentasche. Er wog die Uhr gedankenverloren auf seiner Hand und hielt sie mir dann hin, damit ich sie ansehen konnte. Der Uhrendeckel trug eine Gravur der Schlange Ouroboros, die ihren Schwanz im Maul hatte und eine Sanduhr umgab. Walker ließ den Deckel aufklappen und darin war nichts als Dunkelheit. Wie ein bodenloses Loch, in das man ewig fiele. Ich zog meinen Kopf mit einem Ruck zurück, um nicht hineingesaugt zu werden. Walker lächelte flüchtig.

»Wenn man lange genug in den Abgrund sieht, wird der Abgrund zurückschauen. Und manchmal kennt er dann auch deinen Namen. Mir wurde gesagt, dass auf dem Boden der Uhr jemand oder etwas gefangen ist, das die Tragbare Zeitanomalie mit Energie versorgt. Ich habe mich nie berufen gefühlt, diesen Umstand näher zu untersuchen.«

»Meine Familie hat etwas Ähnliches«, sagte ich aus Stolzgründen. »Eine tragbare Tür, wir benutzen sie seit Jahren.«

»Das lässt einen fragen, wer die Idee wohl zuerst hatte, nicht wahr?«, meinte Walker. »Und wer da wem was verkauft hat. Droods sind traditionell schon lange aus der Nightside verbannt, aber die Geheimdienst-Gemeinde hatte immer schon Verbindungen auf vielen inoffiziellen Ebenen. Ihre tragbare Tür operiert in Zeit und Raum. Eine Tragbare Zeitanomalie ist ehrgeiziger. Die Autoritäten, in ihren ganz unterschiedlichen Inkarnationen, haben Jahrhunderte damit verbracht, Zeitanomalien zu untersuchen und langsam zu lernen, wie man sie beeinflusst und manipuliert. Nicht die Autoritäten selbst taten das, natürlich, sie haben Leute, um derartiges für sie zu tun. Aber diese kleine Uhr kann mich überall hinbringen, wohin ich will und wenn sie einmal da war, dann vergisst sie es nie. Was bedeutet, dass die genauen Koordinaten von Alexander Kings Unterschlupf sicher im Speicher dieser Uhr verschlossen sind.

Unglücklicherweise ist sie beinahe leergelaufen. Sie hat gerade genug metatemporalen Saft übrig, um uns beide zu einem vorbereiteten Ort in der Nightside zu bringen, wo ich sie wieder aufladen kann.«

»Ich wollte schon immer mal die Nightside besuchen«, sagte ich.

»Das sagen Sie nur, weil Sie noch nie dort waren«, entgegnete Walker.

Er drehte den Knopf zum Aufziehen hin und her, als handele es sich um ein Zahlenschloss und murmelte etwas in sich hinein, als er das tat. Er drehte ein letztes Mal dramatisch an dem Aufzug und dann sprang die Finsternis aus der Uhr heraus, um sich zu einer Tür zu formen, die vor uns in der Luft hing. Ein einfaches Rechteck von undurchdringlicher Dunkelheit, ein Fleck nächtlichen Himmels mit absolut überhaupt keinem Stern, der einen irgendwo hätte hinführen können. Walker winkte mir hindurchzugehen. Nur ein paar Tage früher hätte ich mich geweigert, Walker meinen Rücken zuzukehren. Aber jetzt kümmerte mich das nicht mehr. Ich wollte Gerechtigkeit und Rache, und wenn ich einen Pakt mit dem Teufel eingehen müsste, um beides zu bekommen, dann wäre das eben so. Ich ging in die Dunkelheit hinein und aus der anderen Seite wieder heraus. Ich fand mich selbst in der schmuddeligsten und schmierigsten Bar wieder, die ich je gesehen hatte. Walker erschien aus dem Nichts und stellte sich neben mich.

»Willkommen in der ältesten Bar der Welt«, sagte er großartig. »Willkommen im Strangefellows.«


Ich muss sagen, ich war nicht beeindruckt. Ich hatte vom Strangefellows natürlich gehört, jeder in meinem Job hat das. Es ist der Ort, zu dem man geht, um Dinge geschehen zu lassen. Träume können wahr werden in der ältesten Bar der Welt, ob man will oder nicht. Wunder können geschehen, Handel werden abgeschlossen und wenn man lange genug an einem Tisch sitzt, dann wird jeder, der in der Welt etwas zählt, vorbeikommen. Und während Sie sich das alles ansehen, wird jemand Ihre Brieftasche stehlen, Ihre Kleider und höchstwahrscheinlich auch Ihre Seele. Ins Strangefellows gehen Helden und Bösewichter, Götter und Monster, Mythen und Legenden. Um in Ecken zu schmollen und in ihre Drinks zu weinen.

Ich bevorzugte das anspruchsvollere, hell erleuchtete und sicher wesentlich zivilisiertere Ambiente des Wolfskopfklubs, der vielleicht auch einen Gutteil Kunden mit schlechtem Ruf hatte, aber immer wusste, wo die Grenze zu ziehen war. Der Wolfskopf glaubte an Sicherheit, lauten Jubel und grundsätzliche Hygiene - alles drei Qualitäten, die hier ganz offensichtlich fehlten. Die Beleuchtung war weniger gering als gedämpft, wahrscheinlich, damit man nicht sah, wie schäbig der Ort wirklich war und die Luft war dick von allen möglichen illegalen Formen von Rauch. Sie nur einzuatmen ließ meine Lungen degenerieren. Keiner achtete auf mein plötzliches Erscheinen; um genau zu sein, bekam ich den Eindruck, dass die Stammgäste daran gewöhnt waren, dass Fremde einfach so hereinplatzten. Eine Menge Leute beobachteten Walker aufmerksam aus den Augenwinkeln. Ich war schon drauf und dran, eine Bemerkung darüber zu machen, als ich eine Anzahl von kleinen, huschenden Dingern in den Schatten sah, in denen die Wände auf den Boden trafen. Ich wies Walker darauf hin, der mit den Achseln zuckte.

»Kümmern Sie sich nicht darum«, sagte er leichthin. »Sie sorgen für Charakter. Und gelegentlich für einen Barsnack.«

Ich versuchte, nicht allzu offensichtlich zu schaudern, als ich Walker durch die überfüllten Tische zur langen hölzernen Bar im hinteren Teil des Raums folgte. Ich kam an Vampiren und Ghoulen vorbei, an Mumien, die in meterlange verrottende Leinenbinden gewickelt waren, bemerkte eine Gruppe von weiblichen, gehörnten Dämoninnen auf einer Kneipentour und sogar ein paar Götter in reduziertem Zustand, die sich über ihre Drinks beugten und murmelten, dass sie in besseren Zeiten echte Anwärter auf die Präsidentschaft gewesen waren. Sie alle ignorierten mich mit einer Gründlichkeit, die ich nur bewundern konnte. Sie kannten Shaman Bond nicht, und mit so weit wie möglich hochgeschlagenem Hemdkragen konnten sie meinen Torques nicht sehen und mich als Drood identifizieren.

Keiner von ihnen sah aus wie jemand, den ich freiwillig angesprochen hätte, es sei denn, es hätte sich um einen Fall gehandelt. Ich habe meine Grundsätze. Ich kenne genug schäbige Kaschemmen in London; heruntergekommene Hinterhof-Etablissements, bei denen man den Türsteher bestechen muss, um reinzukommen - oder wieder raus. Ich bin durch genug »Nur Stammgäste!«-Klubs spaziert, in denen die Atmosphäre der Dekadenz und der Ausschweifungen so dick ist, dass man seine Initialen darauf einritzen kann. Ich habe mich unter Spionen und Verrätern bewegt, Außenseitern und Bösewichten, Freunden und Feinden und Verbrechern - und keiner von denen hat je meine Nackenhaare so aufrecht stehen lassen wie dieser Ort das tat.

Ins Strangefellows geht man, wenn der Rest der Welt einen an die Luft gesetzt hat.

Eine männliche Persönlichkeit, die größer war als das Leben, stand auf einer kleinen Bühne unter einem einzelnen Scheinwerfer und sorgte für Unterhaltung. Er trug eine schwarze, abgeschabte Lederweste, die er offen gelassen hatte, um mit den zahlreichen Narben anzugeben, die seinen unnatürlich blassen Oberkörper übersäten. Eine von Doktor Frankensteins Kreaturen. Er hielt das altmodische Mikrofon so, als könnte es entkommen, während er einen alten Janis Joplin-Hit killte: »Take another Piece of my Heart«.

»Der ist oft hier«, sagte Walker, obwohl ich gar nicht gefragt hatte. »Er taucht jedes Mal auf, wenn es irgendwo eine ›Offenes Mikrofon‹-Show gibt und wenn sie ihn haben wollen. Und sehen wir den Tatsachen ins Auge, die meisten sind vernünftig genug, ihn nicht abzulehnen. Aber er ist scheinbar mit der Arbeit des Barons nicht ganz zufrieden. Er hebt seine Ersparnisse für eine Geschlechtsumwandlung auf.«

Ich weiß nie genau, was ich sagen soll, wenn mir Leute so was erzählen. Also lächelte ich und nickte vage. Dann richtete ich meinen Blick auf die Bar vor uns.

»Ich brauche einen Drink«, sagte ich entschlossen. »Um genau zu sein, brauche ich mehrere große Drinks, vorzugsweise alle in einem großen Glas zusammengemixt, aber absolut ohne Papierschirmchen oder zerfetzte Scheiben von zwielichtigen Früchten, die ich nicht mal kenne. Gibt's hier so was?«

»Ja«, sagte Walker. »Aber was auch immer Sie tun, lassen Sie sich nicht zu einem Merowingischen Kirschwasser überreden. Das ist kein Alkohol, das ist plötzlicher Tod in Flaschen. Und versuchen Sie auch nicht den Engelsurin. Das ist kein Handelsname. Man muss die Flaschen in entweihter Erde vergraben. Ich würde beim Perrier bleiben, wenn ich Sie wäre. Und bestehen Sie darauf, die Flasche selbst zu öffnen.«

»Sie bringen mich an die schönsten Orte, Walker.«

Die Leute machten Platz für uns an der Bar, ohne dass es so aussah oder dass sie in unsere Richtung sahen. Walker lächelte die blonde Barkeeperin charmant an.

»Hallo, Cathy. Tun Sie mir bitte einen Gefallen. Und lehnen Sie nicht ab, oder ich werde Ihnen ein Team von Gesundheitsinspektoren samt bewaffneter Verstärkung auf den Hals schicken.«

Sie runzelte wirklich bedrohlich die Stirn. »Was wollen Sie, Walker?«

»Sie müssen meine Uhr aufladen, solange ich warte.«

»Schon wieder? Ich schwöre, das tun Sie nur, um Ihre Kosten zu fälschen. In Ordnung, geben Sie sie mir. Aber wenn es die Sicherungen wieder raushaut, dann zahlen Sie.«

Walker und ich standen mit dem Rücken zur Bar und sahen über die Menge. Das Perrier tranken wir direkt aus der Flasche. Walker trank natürlich mit abgespreiztem kleinem Finger. Die Geräuschkulisse der Kneipe schwoll an und ab, hin und wieder von Musik und Krach unterbrochen. Vielleicht war diese Kneipe nichts weiter als ein schäbiger Schuppen, aber es war ein lebhafter schäbiger Schuppen.

»Was wollen Sie tun, wenn Sie Alexander und Peter gestellt haben?«, fragte Walker. Er sah mich nicht an.

»Sie töten«, sagte ich, »Keine Entschuldigungen, kein Gnadengesuch. Ich werde beide umbringen.«

»Für Honey?«

»Für Honey und Blue und Katt und all die anderen Leute, die der Autonome Agent über all die Jahre hinweg reingelegt hat. Alexander King hat sich in unserer Branche zur Legende gemacht, indem er über jeden getrampelt ist, der ihm im Weg stand. Er hat gute Dinge getan, wichtige Dinge, das kann man nicht abstreiten. Aber nur um seinen Ruf aufzubauen und damit er mehr verdienen konnte. Darum geht es nicht, wenn man Agent ist. Die Welt ist viel zu gefährlich geworden, um Außenseitern wie ihm zu erlauben, einfach frei herumzulaufen.«

»Sie selbst haben sich weit aus dem Fenster gelehnt, um sich selbst als autonomer Agent für die Droods zu etablieren«, murmelte Walker.

»Das tue ich noch«, sagte ich. »Es geht nicht um das, was man tut. Es geht darum, warum man es tut. Ich halte meine Familie in einem gesunden Abstand, damit ich sie klar als das sehen kann, was sie ist, und auch als ihr Gewissen fungieren kann, wenn es nötig ist. Ich bin Agent und kein Killer. Aber ich werde Alexander und Peter King umbringen für alles, was sie getan haben. Nicht nur wegen Honey. Und Blue und Katt. Werde ich deshalb mit Ihnen Probleme kriegen, Walker?«

»Nicht im Geringsten. Aber Eddie, verstehen Sie mich richtig. Wenn es soweit ist und Sie entdecken, dass Sie es doch nicht können - sie töten, meine ich -, dann werde ich das tun. Und Sie stehen mir dann besser nicht im Weg. Ich war nie ein Agent, Eddie. Ich war immer Soldat.«

»Für Honey?«, fragte ich.

»Nein, sie lag mir nicht sonderlich am Herzen. Typisch arrogante CIA-Tussi. Nein, einige Leute müssen einfach getötet werden.«

In diesem Augenblick kam ein großer, muskelbepackter und mehr als modisch angezogener junger Mann plötzlich aus der Menge, um sich bedrohlich vor uns aufzustellen. Er fixierte Walker mit einem schäbigen Grinsen. Er war leidlich gut aussehend, auf eine arisch-blonde, steroiden-freakige Art und Weise, und aus der Nähe roch er nach Schweiß und Testosteron.

»Hallo, Georgie«, sagte Walker. »Sie sehen heute ganz besonders wie Sie selbst aus. Was macht Ihre Verdauung?«

»Lecken Sie mich, Walker«, sagte Georgie. »Ich muss mich von Ihnen nicht mehr blöd anquatschen lassen. Sie sind wohl nicht mehr so arrogant obenauf ohne Ihre Stimmte, was? Nicht mehr so allmächtig, seit Sie Ihre Stimme im Krieg gegen Lilith verloren haben! All diese Jahre haben Sie mir in meine Geschäfte gepfuscht, mich vor meinen Leuten gedemütigt, nur weil Sie das konnten - aber jetzt können Sie mit mir nicht mehr so reden! Jetzt bin ich dran! Und Sie werden bekommen, was Sie verdienen!«

»Ein Freund?«, fragte ich Walker.

»Nicht im Entferntesten.« Walker sah Georgie ruhig in die Augen und wenn ihm das Gerede etwas ausmachte, dann versteckte er das wirklich gut. »Dieser alarmierende und leicht hysterische Mensch ist Georgie Gutzeit. Ihr spezieller Mann in der Nightside für alles, was schlecht für Sie ist und wenn Sie es für wenig Geld haben wollen. Ob Sie nun Drogen, lose Sitten oder dämonische Besessenheit brauchen, Georgie kann es Ihnen für weniger Geld besorgen als jeder andere. Natürlich kann man bei solchen Preisen weder Qualität noch Kundenservice erwarten. Es gibt keine Geld-zurück-Garantie oder Entschuldigungen von Georgie Gutzeit. Aufgepasst, Kunde - und doch gibt es jede Minute einen neuen.«

»Das ist alles, was Sie jetzt noch haben«, sagte Georgie. »Worte. Keine Stimme, um etwas draus zu machen. Ich werde Ihnen sämtliche Knochen brechen, Walker, und Sie in den Boden stampfen. Keiner wird Ihnen hier helfen. Sie haben hier keine Freunde.« Er warf mir einen schiefen Blick zu. »Halten Sie sich da raus. Das geht Sie nichts an.«

»Du riechst komisch«, sagte ich. Dann sah ich Walker an. »Gestatten Sie mir …«

»Nicht nötig«, sagte Walker.

»Wirklich, es macht mir nichts aus. Es macht keine Mühe.«

»Das ist doch nur Georgie Gutzeit«, sagte Walker. »Ich könnte mit Georgie Gutzeit fertig werden, wenn ich bewusstlos wäre.« Er lächelte leicht in Georgies errötendes Gesicht, völlig unberührt von der Größe des Mannes, seiner bedrohlichen Ausstrahlung oder seiner Wut. »Wollen Sie das wirklich? Sind Sie sicher, dass ich meine Stimme nicht mehr habe? Wäre ich sonst hier im Stragefellows, ohne meine Stimmte, die mich beschützt? Vielleicht haben Sie all die schrecklichen Dinge vergessen, die ich Ihnen im Lauf der Jahre angetan habe. Oder die Sie sich unter meinem Einfluss selbst angetan haben. Sie sind nur ein billiger Schläger, Georgie, aber ich - ich bin Walker. Und jetzt hauen Sie ab und hören auf, mich zu belästigen. Oder ich werde Ihnen befehlen, etwas ganz Amüsantes und so Extremes zu tun, dass die Leute noch in dreißig Jahren über Sie lachen.«

Es war kein Körnchen Unsicherheit in Walkers Stimme. Er klang wie jemand, der jedes Wort meinte, das er sagte, auch die, die er nur andeutete. Georgie Gutzeit zögerte. Seine Wut verblasste angesichts Walkers Sicherheit. Georgie sah sich um. Eine Menge Leute hatten aufgehört mit dem, was sie taten, um zu sehen, was vor sich ging, aber keiner von ihnen sah aus, als hätte er die Absicht, sich einzumischen. Immerhin handelte es sich hier um Walker. Georgie drehte sich abrupt um und stakste davon. Walker nahm einen Schluck Perrier, seinen kleinen Finger abgespreizter denn je. Und jeder machte sich wieder daran, das zu tun, was er gerade tat.

»Furchtbarer Kerl«, murmelte Walker. »Ich hätte ihn schon vor Jahren einkassiert, aber dann würden zehn andere seine Stelle einnehmen. Für die, die hierherkommen, um Sünden für wenig Geld zu erstehen, wird es hier immer einen Markt geben.«

»Ich glaube, das haben Sie sehr elegant gedeichselt«, sagte ich.

»Danke. Ich habe viel Übung.«

»Wie lange glauben Sie, können Sie so weitermachen, bevor die Leute sicher wissen, dass Sie wegen Ihrer Stimme bluffen?«

»Warum glauben Sie, dass ich bluffe?«, fragte Walker.

Ich sah ihn nicht an. »Darf ich Sie was fragen? - Sie haben Ihre Stimme ursprünglich im Krieg gegen Lilith verloren? Lilith wie die biblische Lilith?«

»Ja.«

»Vergessen Sie's. Ich glaube nicht, dass ich das wirklich wissen will.«

»Sehr weise«, sagte Walker.

Hinter der Bar gab die Tragbare Zeitanomalie ein höfliches Zirpen von sich, um uns wissen zu lassen, dass die Ladezeit vorbei war. Die blonde Barkeeperin zog die Taschenuhr aus etwas, was wie ein Batterieladegerät auf Steroiden aussah, und knallte die Uhr mit so einem lauten Peng vor Walker auf die hölzerne Bar, dass wir beide zusammenzuckten. Walker lächelte höflich, tippte zum Abschied an seine Melone, nahm die Uhr und wandte sich mir zu.

»Das müssen wir draußen machen«, sagte er. »Hier in der Bar sind zu viele Schutzschilde und Verteidigungen eingebaut.«

»Um die Gläubiger draußen zu halten?«, fragte ich. »Das hab ich gehört!«, rief die Barkeeperin.

»Ich stelle fest, dass Sie es nicht abstreiten, Carol«, sagte Walker. »Also los, Eddie.«


Draußen vor der Bar konnte ich einen ersten wirklichen Blick auf die Nightside werfen. Walker gab mir ein paar Augenblicke Zeit, um mich umzusehen und mich mit der Umgebung vertraut zu machen. Die Nightside war alles, was ich immer dachte, dass sie sei: laut, schmierig, knallbunt und sie steckte tief in ihrem eigenen gefährlichen Glamour. Es war, als stünde man auf einem Boulevard der Hölle. Grellbunte Lichter blinkten über den halb geöffneten Türen von Nachtklubs, die nie schlossen, zusammen mit jeder Art von Musik, zu der man je bis zum Umfallen tanzen wollte, bis die Füße bluteten und einem das Herz brach. Läden und Kaufhäuser, die alles verkauften, wovon man selbst in seinen schlimmsten Albträumen träumte. Alle Sünden wurden angeboten, jede Sehnsucht ermutigt. Die Bürgersteige waren gepackt voll mit möglichen Kunden, die heiß auf Vergnügungen, Geheimnisse und in der Außenwelt verbotenes Wissen waren. Ungeheuer und Monster bewegten sich offen unter ihnen. An jedem anderen Ort hätte ich meine Sicht benutzen müssen, um so viel so klar zu sehen, aber das hier war die Nightside. Und das, alles das, war einfach nur Alltag.

Jeder weiß, dass es in der Nightside kein Gesetz gibt. Nur ein paar Aufseher, wie Walker, um die Dinge in Schach zu halten, bevor sie außer Kontrolle geraten. Alles ist erlaubt, alles ist zu verkaufen. Alles und jeder ist käuflich, man kann alles und jedes machen und tun, und keiner wird Sie aufhalten oder Sie zur Verantwortung ziehen. Oder Sie retten, wenn es mies läuft. Ein Platz für die beiläufige Sünde und unüberlegten Appetit, und keiner kümmert sich, weil es das ist, wofür die Nightside da ist. Mir juckte es in allen Fingern, aufzurüsten, mich zu mir selbst zu bekennen und Recht und Ordnung in die einzige Stadt zu bringen, in der die Nacht nie endet.

»Jetzt wissen Sie, warum wir hier drin keine Droods erlauben«, sagte Walker. »Sie sind wirklich viel zu einfach gestrickt und direkt für einen Ort wie diesen. Wir gehen hier anders mit den Dingen um.«

»Man kann die Sünde nicht ohne ein Opfer haben«, sagte ich. »Wer kümmert sich um die?«

»Und außerdem nehmen Sie die Dinge so unglaublich persönlich. Jeder, der in die Nightside kommt, weiß, was er zu erwarten hat, Eddie. Hier gibt es keine Unschuldigen.«

»Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«

Er seufzte kurz. »Es gibt ein paar, die tun, was sie können. Und das ist mehr als die meisten von denen, die hierherkommen, verdienen.«

»Wie halten Sie das aus?«, fragte ich. »In einer moralischen Jauchegrube wie dieser zu arbeiten?«

»Das ist mein Job«, sagte Walker. »Und ich bin sehr gut darin. Nun, es ist an der Zeit, dass wir gehen.«

Seine Finger hantierten sehr geschickt mit der Taschenuhr, bis die Finsternis darin hoch- und dann heraussprang. Sie bildete eine große, dunkle Decke über uns. Sie schoss herunter wie eine Fliegenpatsche und ich hatte nicht einmal mehr die Zeit, irgendwie zu reagieren, als wir plötzlich woanders waren.


Das Innere von Place Gloria sah genauso aus, wie ich es im Gedächtnis hatte: kitschige, knallbunte Erinnerungen aus einem Jahrzehnt, dessen Geschmack nicht meiner war. Ich sah mich schnell um, während Walker seine Taschenuhr wegsteckte, aber alles war ruhig und still. Ich kannte diesen Raum, es war der, in dem wir zu Beginn des Spiels alle versammelt gewesen waren, als wir alle noch dachten, wir hätten eine faire Chance zu gewinnen. Ich erwischte Walker dabei, wie er mich gedankenverloren ansah und zwang mich, meine Fäuste zu entspannen.

»Ich glaube nicht, dass wir einfach so auf gut Glück in der Hoffnung durch die Räume hetzen sollten, zufällig auf Alexander und Peter zu treffen«, murmelte Walker. »Höchstwahrscheinlich gibt es für die Unaufmerksamen und die, die es eilig haben, Schutzmechanismen, Alarmanlagen und vielleicht sogar Sprengfallen.«

»Diesen Ort gründlich zu durchsuchen könnte ewig dauern«, sagte ich. »Ich habe eine bessere Idee. Eine Menge Krach machen, damit sie zu uns kommen.«

Ich zog meinen Revolvercolt, die Waffe, mit der man nicht zielen muss und der nie die Munition ausgeht, und feuerte sie wieder und wieder ab. Kalt und ruhig zerstörte ich alles von Wert in diesem Raum. Alles, was wichtig aussah. Oder teuer. Oder schwer ersetzbar. Antikes Porzellan zerbarst, Glas und Spiegel zersprangen und der Raum war voll rachsüchtigem Krach. Fotos von Alexanders alten Fällen und Triumphen fielen von der Wand, kostbare Erinnerungen, in einem Moment zerstört. Die Fotos, die ihn zeigten, wie er mit den Mächtigen posierte, den Großen, den Guten, den Berühmten und den Berüchtigten. Lächelnde Gesichter, einfach in die Luft gejagt. Ich schoss Löcher in die Objekte von historischer Bedeutung und künstlerischem Wert und es kümmerte mich nicht. Ich zerstörte antike und moderne Möbel und zertrampelte die Stücke unter meinen Füßen, als ich durch den Raum wütete. Der pausenlose Lärm der Waffe in dem beengten Raum war beinahe unerträglich.

Einige Dinge hatten ihre eigenen Schutzmechanismen. Eine übergroße Uhr, deren Zeiger kontinuierlich rückwärtsgingen, wurde unsichtbar, bevor meine Kugel sie erreichte. Ein antikes Runenschwert, das man an der Wand befestigt hatte, begann bedrohlich in einer nichtmenschlichen Sprache zu singen. Meine Kugeln konnten es nicht berühren, also ging ich zum nächsten Stück. Und eine große Steinhand in einer undurchdringlichen Glasvitrine zeigte mir den Mittelfinger. War mir egal. Es gab noch andere tolle Sachen, die ich kaputt machen konnte.

Mir kam in den Sinn, dass ich wichtige Relikte der Spionage zerstörte oder doch zumindest demolierte, aber das spielte keine Rolle. Nicht im Vergleich zu Honeys Blut, das noch auf meinen Klamotten trocknete, da, wo ich sie gehalten hatte, als sie starb. Nicht mit den letzten Worten des Blauen Elfen noch frisch im Gedächtnis. Und nicht, solange Alexander oder Peter King noch lebten.

Schließlich hatte ich nichts mehr, dass ich zerschießen konnte und ließ den Revolvercolt langsam sinken. Er fühlte sich schwer in meiner Hand an. Die Echos des ständigen Feuers erstarben. Walker nahm die Hände von den Ohren. Der Raum war zerstört, Splitter und Scherben überall, aber keiner kam, um nachzusehen, was los war.

»Seltsam«, meinte Walker. Die Zerstörung um ihn herum ließ ihn völlig unbeeindruckt. »Kein Alarm? Keine Glocken oder Sirenen oder diese enervierenden Blitzlichter, die mir immer Kopfschmerzen bereiten? Und kein Versuch, die meisten Gegenstände zu schützen? Versuchen Sie das mal bei Sotheby's und die Sicherheitsroboter sammeln noch Wochen später Ihre Einzelteile auf. Ich glaube, wir müssen davon ausgehen, dass Alexander und Peter wissen, dass wir hier sind und nicht beabsichtigen, sich selbst einer Gefahr auszusetzen. Was verständlich ist. Wenn ich hier draußen hinter mir her wäre, dann würde ich mich auch nicht zeigen. Sie wissen, das könnte eine Falle sein.«

»Interessiert mich nicht«, sagte ich.

»Das sollte es aber«, sagte eine wütende und bekannte Stimme.

Ich wirbelte herum und da waren sie, alle drei. Sie standen in einer bedrohlichen, angespannten Reihe auf der anderen Seite des Raums. Sargnagel Jobe, der Tanzende Narr und die Seltsame Chloe. Meine drei Verschwörer-Kollegen vom Tower-Raub. Das schien alles so lange her … eine andere Welt. Aber hier standen wir nun, und sie waren ganz klar nicht auf meiner Seite. Sargnagel Jobe, der Nekroleptiker, der so oft starb und dann wieder ins Leben zurückkehrte, dass er die Welt viel klarer sah als der Rest von uns. Der Tanzende Narr, der seine eigene Kampfkunst entwickelt hatte, die auf Schottischem Schwerttanz basierte, und der jeden Kampf gewann, weil er wusste, was man tat, bevor man es selbst wusste. Déjà Fu. Und die Seltsame Chloe, gothic Goth mit ihren schwarzen und weißen Tattoos im Gesicht, die alles in der Welt verschwinden lassen konnte, wenn sie es nur genug hasste. Und sie hatte eine Menge Hass in sich.

Freunde irgendwie. Kollegen sicher. Alle drei mit einem guten Grund, mich tot sehen zu wollen. Das Leben ist halt manchmal so.

»Leute«, sagte ich. »Das ist jetzt echt nicht günstig. Könnten wir das ein anderes Mal ausdiskutieren?«

»Was ist los, Eddie?«, sagte der Tanzende Narr. Seine Stimme war hart und gereizt. »Du hast uns wohl ganz vergessen, was? Die drei Freunde, die du im Tower betrogen und hilflos für die Behörden hast liegen lassen? Die Kollegen, denen du in den Rücken gefallen bist und dann zum Verschimmeln liegen gelassen hast? Wenn Alexander King nicht gekommen wäre, uns zu retten, dann wären wir immer noch hinter Gittern!«

»Alexander?«, fragte ich. »Verdammt, wie lange hat er mich schon beobachtet?«

»Ach, nimm dich doch nicht so wichtig, Shaman!«, sagte die Seltsame Chloe. »Hier geht's nicht um dich! Hier geht's um uns!«

»Nur dass Shaman gar nicht dein richtiger Name ist, oder?«, fragte der Tanzende Narr. »Nicht einmal annähernd.«

»Drood«, sagte Sargnagel Jobe in seiner grauen, toten Stimme. »Schlimm genug, dass du uns betrogen hast, Shaman, aber du bist auch ein Drood?«

»Das ist eine hervorragende Verteidigungsstrategie, wie ich zugeben muss«, sagte Walker. »Sie dazu zu zwingen, erst Ihre eigenen Kollegen zu bekämpfen, um zu ihm zu gelangen. Alexander King hat seinen legendären Ruf dadurch begründet, dass er jedem anderen immer einen Schritt voraus war. Es ist beinahe eine Ehre, ein solches Talent bei der Arbeit zu sehen.«

Keiner von uns hörte ihm zu.

»Ich habe euer Leben gerettet«, sagte ich allen dreien. »Big Aus hatte geplant, uns alle zu töten, hätte er erst das in der Hand gehabt, was er wirklich haben wollte. Ihr habt doch diesen Blödsinn mit den Raben nicht geglaubt, oder? Er wollte die Kronjuwelen!«

»Ach ja, richtig«, sagte die Seltsame Chloe. »Und ich spiele Geige mit meinem Hintern. Du würdest doch alles sagen, um deine eigene Haut zu retten, oder?«

»Ich dachte, du wärst mein Freund, Shaman«, sagte Sargnagel Jobe. »Und jetzt bist du ein Drood?«

»Wie kannst du nur einer von denen sein?«, sagte die Seltsame Chloe. »Die professionellen Miesmacher, die Mobber und Spielverderber, die darauf aus sind, einem den Spaß am Leben zu nehmen! Du hast so getan, als wärest du einer von uns, dabei warst du in Wirklichkeit einer von denen! Und jetzt kriegst du, was du verdienst, Drood!«

»Alexander hat uns hergebracht, damit wir an dir Rache nehmen können«, sagte der Tanzende Narr. »Er wusste, dass du versuchen würdest, hier hereinzuplatzen, um den Preis zu stehlen, den du nicht ehrlich gewinnen konntest. Typisch Drood. Und wir alle waren wirklich heiß auf die Chance, es dir ein wenig heimzuzahlen!«

»Ihr habt doch keine Ahnung, was hier los ist«, sagte ich so fest und ruhig, wie ich konnte. »Er benutzt euch, wie Big Aus. Ihr seid nur ein weiteres Mittel, mich zu verletzen, damit ich meine Freunde bekämpfen muss, um zu ihm zu gelangen.«

»Hier geht es nicht um dich«, schrie die Seltsame Chloe und stampfte mit dem Fuß auf. »Es geht nicht immer um dich, nur weil du ein verdammter Drood bist!«

»Oh doch!« Etwas in meiner Stimme ließ sie innehalten. Ich sah alle drei an und fühlte mich eher müde als sonst irgendetwas. »Glaubt ihr wirklich, ihr könnt mich aufhalten?«, fragte ich. »Ich bin ein Drood, mit einer Droodschen Rüstung und Droodschem Training. Ihr wisst, was das heißt.«

Die drei sahen sich - zum ersten Mal unsicher geworden - an. Sie wussten, wozu ein Drood fähig war.

»Ich wollte schon immer mal zeigen, was ich gegen einen Drood tun kann«, sagte der Tanzende Narr schließlich.

»Und ich wollte einem Drood schon immer mal eins auswischen, so, wie sie mir immer eins ausgewischt haben«, fügte die Seltsame Chloe hinzu.

»Ich dachte, du wärst mein Freund, Shaman«, sagte Sargnagel Jobe. »Freunde sind alles, was ich noch habe.«

Ich konnte sehen, dass ihre Selbstsicherheit wieder wuchs, als sie sich gegenseitig überredeten. Der Tanzende Narr lächelte sogar.

»Wenn die Leute erfahren, dass ich einen Drood besiegt habe, kann ich mein Honorar verdoppeln«, sagte er.

»Und hast dann meine Familie auf den Fersen«, erinnerte ich ihn. »Du warst ja noch nie der Hellste, Nigel.«

Sargnagel Jobe und die Seltsame Chloe wandten sich zum Tanzenden Narren. »So heißt du?«, fragte die Seltsame Chloe. »Echt? Nigel?«

Der Tanzende Narr glotzte mich zornig an. Er war so wütend, dass er kaum sprechen konnte. »Du Arsch«, sagte er. »Du hast versprochen, dass du das nie verrätst.«

»Tut mir leid, Nigel«, sagte ich. »Aber in der Not frisst der Teufel Fliegen. Und du bist ja auch noch nicht einmal ein echter Kampfkünstler. Verdammt, du bist nicht mal Schotte! Du hast nur ein bisschen Talent für Vorhersagen mit ein paar Bewegungen gemischt, die du in ein paar Bruce Lee-Filmen gesehen hast. Ich dagegen bin ein echter Drood. Ich bin hier, um den Autonomen Agenten aus guten Gründen umzubringen. Wenn ihr nur über die Hälfte von dem Bescheid wüsstet, was er getan hat, dann würdet ihr mir helfen, es zu tun. Lasst nicht zu, dass er euch so benutzt, wie er mich benutzt hat. Ich werde keine Rücksicht auf euch nehmen, um ihn zu kriegen.«

»Typisch Drood«, sagte die Seltsame Chloe. »Du glaubst, du kannst dich aus allem rausreden. Aber Nigel hier ist vielleicht nicht ganz das Wahre, aber ich schon. Ich werde dich direkt aus dieser Welt in die nächste hassen, Drood; ich werde dich so lange anstarren, bis nichts mehr übrig ist, das mich daran erinnern könnte, dich zu hassen.«

»Und das sind Freunde von Ihnen?«, fragte Walker. Ich hatte vergessen, dass er da war.

»Manchmal«, sagte ich. »Es sind eher Kollegen. Leute, mit denen ich gelegentlich arbeite. Sie wissen ja, wie das ist.«

»Nur zu gut«, sagte Walker.

»Kennen Sie die Herrschaften?«, meinte ich. »Ich könnte sie vorstellen.«

»Nicht nötig«, sagte Walker. »Ich kenne sie alle dem Namen oder den Taten nach.« Er sah sie alle mit seinem ruhigen, kalten Blick an, und alle bewegten sich unbehaglich. »Kleine Gelegenheitsgangster mit geringer Begabung. Ihresgleichen tauchen immer wieder in der Nightside auf und sind darauf aus, sich einen Ruf zu machen. In der Regel halten sie sich nicht lange. Die meisten enden so oder ähnlich, in ihr Bier weinend, weil die großen Jungs so gemein sind.«

»Sie Arsch«, sagte die Seltsame Chloe. »Ich werde Ihnen schon zeigen, wer hier wenig Talent hat!«

»Halten Sie sich da raus, Walker«, sagte der Tanzende Narr und stieß mit einem Finger nach ihm. »Uns geht es um den Drood. Wenn Sie wissen, was gut für Sie ist, mischen Sie sich nicht ein.«

»Und wenn ich mich entschließe, mich doch einzumischen?« Walker lächelte knapp.

Die Seltsame Chloe schnaubte. »Sie haben Ihre Stimme nicht mehr. Das weiß doch jeder.«

»Und ohne die Stimme sind Sie nur ein weiterer Miesmacher in einem Anzug«, sagte der Tanzende Narr. »Also, halten Sie sich raus.«

»Wenn Sie das sagen, Nigel«, murmelte Walker.

»Leute, echt, tut das nicht«, sagte ich. »Zwingt mich nicht dazu. Ich habe schon drei Kollegen an Alexander King verloren, ich will nicht noch mehr verlieren.«

»Siehst du, wir waren nie Freunde«, sagte der Tanzende Narr. »Nur Kollegen.«

»Warum regen Sie sich dann so auf, dass Sie betrogen wurden?«, fragte Walker.

»Schnauze! Schnauze, Walker! Ich habe vor Ihnen keine Angst mehr!« Der Tanzende Narr war im Gesicht beängstigend rot geworden. »Ohne Ihre Stimme sind Sie nicht besser als wir.«

»Ich habe meine Stimme nicht«, sagte Walker. »Aber ich verfüge über andere Dinge.«

»Oh, bitte«, sagte die Seltsame Chloe verächtlich. »Ich könnte Sie mit geschlossenen Augen durch die nächste Wand starren.«

»Chloe«, sagte ich. »Das willst du doch gar nicht. Ich bin derjenige, der dich aus dieser schmierigen Ein-Zimmer-Wohnung geholt und dir Arbeit und Freunde gefunden hat.«

»Das hast du doch nicht für mich getan«, sagte sie. Ihre Stimme klang flach, kalt und gefühllos. »Das ist doch nichts als ein Haufen Scheiße. Alles. Wie ich immer gesagt habe. Warum hättest du anders sein sollen? Jeder lügt.«

»Da redet die Goth-Lady«, sagte ich. »Ich mochte dich als Punk lieber. Da hattest du mehr Energie. Und der pinkfarbene Iro stand dir.«

»Arsch«, sagte die Seltsame Chloe.

»Du warst ein Punk?«, fragte Sargnagel Jobe.

»Halt die Klappe, Jobe.«

»Wir haben alle unsere Geheimnisse«, sagte ich. »Komm drüber weg, Chloe. Das hier ist wichtiger als deine Gefühle.«

»Nichts ist wichtiger als meine Gefühle«, sagte die Seltsame Chloe.

Sie trat vor und starrte mich an. Ich konnte spüren, wie die Macht sich um sie aufbaute. Ich sprach hastig meine Worte und rüstete hoch. Sargnagel Jobe und der Tanzende Narr glotzten mich an, denn sie hatten noch nie gesehen, wie ein Drood hochrüstet. Nicht viele bleiben am Leben, um davon zu erzählen. Die Seltsame Chloe kümmerte sich nicht darum. Ihre Wut kochte und knisterte in der Luft zwischen uns, als sie einen weiteren Schritt vortrat. Ihr Blick traf mich wie eine Faust. Das war ihre Gabe, ihre Kraft und ihr Fluch: alles verschwinden zu lassen, was wagte, sie nicht zu lieben. Chloes Blick prasselte auf meine Rüstung ein. Furchtbare Energien füllten den Raum zwischen uns, als sie sich konzentrierte und die unnachgiebige Kraft ihrer Wut versuchte, einen Halt, irgendeinen Einfluss auf die undurchdringliche Sicherheit meiner Rüstung aus seltsamer Materie zu bekommen. Ich trat einen Schritt auf sie zu und ihr Gesicht wurde in seiner konzentrierten Wut beinahe unmenschlich. Die Dinge um uns herum begannen zu verschwinden, von den überquellenden Energien von Chloes Blick aus der Realität geschoben. Objekte, Trophäen und Möbelstücke verschwanden einfach, eines nach dem anderen, Luft rauschte in die Lücken, die sie hinterließen. Dicker, tiefer Teppich wurde fadenscheinig und war fort. Die Stelle zwischen uns, an der die Dielen darunter erschienen, wurde immer größer. Die Seltsame Chloe starrte mich an, ihr Gesicht verzerrte sich so, dass es ihr wehtun musste, aber alles, was ich ihr umgekehrt zu zeigen hatte, war meine gesichtslose, goldene Maske. Ich stand beinahe dicht genug vor ihr, um die Hand auszustrecken und sie zu berühren, als ihre Kraft sich an meiner Rüstung endgültig brach und sich gegen sie wandte. Die volle Macht ihres Blicks wurde von meiner unnachgiebigen Rüstung reflektiert und die Seltsame Chloe schrie lautlos auf, als sie verblasste und verschwand.

Ich rüstete ab.

»Tut mir leid, Chloe«, sagte ich zu der leeren Luft an der Stelle, an der sie gestanden hatte. »Ich hoffe, du bist glücklich da, wo auch immer du bist.«

»Du hast sie umgebracht!«, sagte der Tanzende Narr.

»Ihre eigene Kraft hat sich gegen sie gewandt«, sagte ich. »Und wag bloß nicht, so empört zu tun, Nigel! Du weißt verdammt gut, dass du sie nie hast leiden können. Nicht wirklich. Wag bloß nicht, so zu tun, als wärst du ihr Freund gewesen. Du hast sie nur in deiner Nähe geduldet, weil du glaubtest, sie könnte dir nützlich sein; eine große Kanone, mit der du den Leuten drohen konntest, wenn sie sich von deinen Kampfkünsten nicht haben beeindrucken lassen. Sie war immer eher meine Freundin als deine.«

»Du warst nie ihr Freund«, sagte der Tanzende Narr.

»Manchmal … hat man eben einfach keine Zeit dafür«, sagte ich.

Der Tanzende Narr lachte kurz. In dem Geräusch lag keine Freude. »Du hast mir einen meiner Kollegen genommen. Scheint nur fair, dass ich dir einen von deinen nehme. Ich hab Sie sowieso nie gemocht, Walker.«

Sein langer, schlanker Körper ging abrupt in eine Kampfkunst-Pose, als er sich gegen Walker wandte. Offenbar wollte er ihn überraschen, aber Walker wartete schon mit einer Pistole in der Hand auf ihn. Er lächelte kurz und schoss dem Tanzenden Narr ins Knie. Die Kugel zerschmetterte die Kniescheibe. Der Tanzende Narr gab einen schockierten, überraschten Ton von sich, als der Einschlag das Bein unter ihm wegriss und er auf den Boden fiel. Tränen strömten über sein Gesicht, als er sein blutiges Knie mit beiden Händen umklammerte, als glaube er, er könne es mit schierer Kraft zusammenhalten. Sein Atem kam kurz und schnell, als der Schmerz ihn in Wellen traf, eine schlimmer als die andere.

»Wie haben Sie das gemacht?«, fragte er Walker und presste die Worte heraus. »Ich bin schnell. Und ich kann Kugeln aus dem Weg gehen. Ich weiß immer, was kommt! Wie konnten Sie das tun?«

»Weil Sie noch nie jemanden wie mich getroffen haben«, sagte Walker gelassen.

Ich ging hinüber zu ihm, um dem verkrüppelten Tanzenden Narren etwas Raum zu lassen. »War das nötig, Walker?«

»Ich denke schon, ja«, antwortete er. »Wir haben nicht alle eine Rüstung, die uns beschützt.«

»Tut mir leid, Nigel«, sagte ich zum Tanzenden Narren.

»Schieb's dir sonst wohin«, sagte er. Beide Hände waren nun blutverschmiert und sein kaputtes Bein zitterte im Schock und von dem Schaden, den die Nerven davongetragen hatten. »Ich werde euch dafür kriegen, euch beide! Ich werde nicht aufgeben, niemals. Was von eurem Leben noch übrig ist, werdet ihr damit verbringen, immer über eure Schulter zu sehen, in der Erwartung, mich zu sehen. Und eines Tages werde ich da sein. Ich werde euch beide umbringen dafür!«

»Nein, das werden Sie nicht«, sagte Walker und zerschoss dem Tanzenden Narren die zweite Kniescheibe.

Er stieß nur noch einen kurzen Schrei aus, dann verlor der Tanzende Narr vor Schmerz, Schock und Schreck das Bewusstsein. Ich sah ihn an und dann Walker.

»Es war eine Gnade, wirklich«, sagte Walker und steckte die Waffe weg. »Rache ist so eine Lebenszeitverschwendung. Außerdem ist es nie weise, einem Feind die Möglichkeit zu geben, einen zu verfolgen.«

»So wird es wohl sein«, sagte ich. »Wenigstens werden sie ihn jetzt nicht mehr den Tanzenden Narren nennen.«

Wir beide sahen nach Sargnagel Jobe. Er lag tot auf dem Boden. Ich winkte Walker, um mir zu helfen, ihn aufzuheben und in einen Stuhl zu setzen, damit er es wenigstens bequem hatte, wenn er wieder ins Leben zurückkehrte. Ich ließ Nigel, wo er war. Ich wollte nicht riskieren, ihn zu wecken.

»Nun«, sagte Walker. »Das war ja alles eine nette Ablenkung, aber es hat uns nicht näher an Alexander und Peter herangebracht. Ich glaube sogar, dass wir nach alldem annehmen müssen, dass sie uns von dem Moment an beobachtet haben, in dem wir hier auftauchten und sich deshalb möglicherweise auf dem Weg zum nächsten Ausgang befinden oder sich gerade in einem geheimen Betonbunker einschließen.«

»Nein«, sagte ich. »Die hauen nicht ab. Nicht, wo noch so viel zwischen uns zu klären ist. Sie wissen, dass sie nicht gewonnen haben, bis ich geschlagen bin. Und zwar auf faire Weise geschlagen, um meine Familie davon abzuhalten, ihnen nachzustellen. Denn die andere Seite von ›Einer für die ganze Familie‹ ist ›Die ganze Familie für einen‹. Und die beste Chance der Kings zu gewinnen besteht darin, es hier auf ihrem eigenen Territorium auszutragen, wo sie über alle Vorteile verfügen.«

»Würden Sie immer noch mit sich handeln lassen?«, fragte Walker. »Finger weg, sichere Passage nach draußen, wenn Sie dafür die Geheimnisse des Autonomen Agenten opfern müssten?«

»Nein«, sagte ich. »Aber die denken, dass sie mich davon überzeugen können, genau das zu tun. So denken die.« Ich hob meine Stimme. »Ich weiß, Sie können mich hören, Alexander! Reden Sie mit mir! Sagen Sie mir, wo Sie sind, damit wir das von Mann zu Mann ausmachen können! Sie wissen selbst, dass Sie das wollen!«

Auf einmal erschien ein Abbild Alexander Kings, der bequem auf seinem großen, hölzernen Thron saß, vor uns in der Luft. Er sah genauso aus wie damals: ein gealterter Exzentriker in extravaganter Kleidung. Aber sein Lächeln war jetzt kalt und berechnend. Sein Gesicht wirkte dadurch um Jahre

gealtert.

»Kommt einfach geradeaus«, sagte er. »Ich warte.«

Das Bild war fort. Ich sah zu Walker und beugte mich dann vor, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. »Bestehen Sie nicht auf dem Protokoll. Wenn Sie die Chance haben, töten Sie ihn.« »Mit Freuden«, murmelte Walker.


Wir gingen weiter durch das Monument, das der Autonome Agent zum Ruhme des eigenen Genies geschaffen hatte, und kamen durch einen Raum nach dem anderen, alle voller Trophäen und Erinnerungen; ein Museum, das er dem Gedenken des eigenen Lebens errichtet hatte.

Endlose Bilder einer langjährigen und regen Karriere, aus allen Zeiten und Epochen, die einen jungen Alexander King zeigten, der beständig älter wurde. Aber nicht über einen bestimmten Zeitpunkt hinaus. Es gab keine Fotos, die einen Mann zeigten, der seine mittleren Jahre überschritten hatte, oder gar einen alten Mann, der ins Rentenalter humpelte. Nur Porträts des legendären Autonomen Agenten mit berühmten Gesichtern aus Politik und Religion, mit Filmstars und anderen Berühmtheiten und selbst ein paar Göttern und Monstern. (Obwohl Letztere kaum fotogen waren.) Alexander King war zu seiner Zeit wirklich herumgekommen.

Ich hielt vor einem Foto an, das hübsch gerahmt war, aber dennoch nur eines unter vielen. Ein junger und hübscher Alexander stand da und hatte seinen Arm um eine sehr junge Martha Drood gelegt. Ein einfacher Schnappschuss eines warmen Moments im Kalten Krieg. Martha, als sie noch nichts weiter gewesen war als eine junge Agentin. Sie war nicht einmal so alt wie ich und wunderschön, genau wie alle sagten.

Ein anderes Foto zeigte einen mittelalten, aber immer noch eleganten Alexander, der neben einem jungen Walker stand, der in etwas gekleidet war, was ganz nach seinem allerersten guten Anzug aussah. Ich sah zu Walker hinüber und er zuckte leicht mit den Achseln.

»Wenn man Arbeit hat, die getan werden muss, dann holt man sich den besten Mann für den Job. Und für lange Zeit war das Alexander King.«

»Haben Sie das bemerkt?«, fragte ich und wies mit einem Wink auf die ganzen Fotos an der Wand. »All diese Bilder von dem Mann selbst, seiner Welt und all den Leuten, die er kannte. Aber keines seiner Familie. Nicht Alexander mit seiner Ehefrau, wer auch immer sie war, oder seiner Tochter. Oder Peter. Welcher Mann hat keine Familienfotos?«

»Ein Mann, der für seine Arbeit lebt«, sagte Walker. »Man wird nicht zum größten Agenten aller Zeiten, indem man sich … Ablenkungen erlaubt.«

Kurz danach kamen wir durch einen Raum voller Hinweise auf Alexander Kings skrupellose Seite. Ausgestopfte Ausstellungsstücke von Männern und Frauen seiner Vergangenheit waren hier aufgetürmt: Feinde, die er überwunden und als Trophäen behalten hatte. Zuerst dachte ich, es seien Wachsarbeiten, aber aus der Nähe konnte ich die behandelte Haut und die Konservierungsstoffe riechen. Ich tippte mit dem Finger an ein Auge, und es stellte sich als Glas heraus. Die Ausstellungsstücke waren in die Mode ihrer Zeit gekleidet, von den 1920ern aufwärts. Die Gesichter waren straff, emotionslos. Für immer dazu verdammt, in beiläufigen Posen in diesem Zimmer zu stehen, als nähmen sie an einer höllischen Cocktailparty teil, die niemals endete.

Ein Museum des Mordes.

»Alte Feinde«, murmelte Walker und schlenderte gelassen durch die sorgfältig arrangierten Figuren und betrachtete gelegentlich eines der Gesichter näher. »Und vielleicht ein paar wenige Freunde und Verbündete, die sich zu weit vorgewagt haben. Welchen besseren Weg gibt es, den eigenen Sieg zu feiern, wenn man es der Welt schon nicht sagen kann, als zwischen den besiegten Feinden zu wandeln und sich in Schadenfreude zu ergehen, wie es einem gefällt? Ich frage mich, ob er mit ihnen spricht. Wahrscheinlich. Wahrscheinlich sind es sogar die einzigen Leute, mit denen er heutzutage sprechen kann.«

»Ist hier jemand, den Sie erkennen?« Dieser Ort war mir sehr unheimlich, aber lieber wollte ich verdammt sein, als Walker das zu zeigen.

»Keinen, den ich persönlich kannte«, sagte er. »Ich habe immer nur an den Rändern der geheimdienstlichen Branche gearbeitet. Wie steht's mit Ihnen?«

»Heiliger Jesus!«, sagte ich plötzlich und stürzte nach vorn. »Der da ist ein Drood! Und er trägt immer noch seinen Torques!« Ich wollte die Hand nach dem Torques ausstrecken, aber Walker griff im letzten Moment nach meinem Arm und riss mich zurück.

»Nein, Eddie. Ganz schlechte Idee. Sprengfallen, erinnern Sie sich?«

Ich hielt schwer atmend inne und nickte Walker dann kurz zu, um ihm zu zeigen, dass ich mich wieder unter Kontrolle hatte. Er ließ mich los.

»Später«, sagte ich. »Ich werde mir das später ansehen.«

»Ja«, sagte Walker. »Wir haben später noch für alles Mögliche Zeit.«

Schließlich gingen uns die Räume aus. Wir stießen eine letzte übergroße Tür auf, und vor uns lag das Zimmer, das ich im Hintergrund von Alexanders Projektion gesehen hatte. Ein nackter Raum mit nackten Wänden, nichts darin als ein großer hölzerner Thron, der mit dem Rücken zu uns stand. Ich blieb in der Tür stehen und sah mich gründlich um, aber da war niemand sonst. Walker formte mit den Lippen das Wort Peter in meine Richtung. Ich zuckte mit den Schultern. Wir schritten in den Raum hinein und die Tür schloss sich langsam, aber fest hinter uns. Der Thron begann sich langsam, von einem unsichtbaren Mechanismus angetrieben, zu uns zu drehen und da, auf dem Thron des Autonomen Agenten, saß Peter King. Er lächelte mich sorglos an und nickte Walker zu.

»Willkommen in meinem Heim, ihr beiden. Nun, habt ihr dem Autonomen Agenten nichts zu sagen im Moment seines größten Triumphs? Ich habe den größten Teil des letzten Jahrhunderts Intrigen um Leute wie euch gesponnen, aber ihr müsst zugeben, das ist eine meiner besten! Ach, kommt schon, sicher habt ihr das schon erraten? Sicher haben zwei Agenten, die sich solcher Fähigkeiten und Erfahrung rühmen wie ihr, zumindest einen kleinen Verdacht gehabt, das ich nicht der war, der ich schien; dass ich es eigentlich selbst war?«

»Sie haben sich als Ihr eigener Enkel ausgegeben«, sagte ich wie betäubt. Ich kam mir dumm vor. »Die ganze Zeit waren Sie das, Alexander.«

»Natürlich, natürlich!«, sagte er heiter. »Es war mein Spiel, meine Regeln und ihr hattet nie eine Chance.«

»Gab es jemals einen echten Enkel?«, sagte Walker. »Einen wirklichen Peter King?«

»Aber ja«, sagte der Autonome Agent beiläufig. »Bedauernswerter kleiner Kerl. Für niemanden nützlich, nicht einmal für sich selbst. Keine Energie, kein Ehrgeiz und nicht ein einziges Ergebnis, das den Namen King wert gewesen wäre. Ein langweiliger kleiner Mann mit einem langweiligen kleinen Job. Industriespionage. Gibt es etwas, das noch tiefer unter unserer Würde liegt? Ich habe ihn so gesehen nicht wirklich getötet. Nur von einem Leben befreit, dass er sowieso nicht nutzte. Ich nahm seine Lebensenergie und benutzte sie, um mich selbst zu verjüngen. Ein paar kleine Schönheitsoperationen hier, ein paar Botox-Spritzen da und schon hat man ein neues Gesicht. Das ist nicht schwer, wenn man weiß, was man tut. Ein teures Verfahren, sicher, aber jeden Penny wert. Wie ein großer Mann einst sagte: Wozu ist Wohlstand gut, wenn man nicht gesund ist? Ich fühle mich so jung! So lebendig! Ich fühle mich wieder - wie ich selbst!«

Er schwang ein Bein elegant über das andere und lächelte herablassend. Ich konnte spüren, wie meine Hände an der Seite sich wieder zu Fäusten ballten. Ich wollte ihn von seinem dämlichen Thron reißen und ihn mit bloßen Fäusten zu Tode prügeln. Aber das tat ich nicht. Ich zwang mich zu warten. Er hatte noch mehr zu sagen, hatte mehr Geheimnisse auszuplaudern, und ich musste sie hören.

»Ihr habt nicht wirklich gedacht, dass der legendäre Autonome Agent seine Rolle und seine Geheimnisse einfach so aufgäbe, nur weil er alt würde, oder?«, fragte Alexander durch Peter Kings Gesicht. Ich entschied mich dafür, ihn für mich als Alexander anzusehen. Das machte es für mich einfacher, ihn zu hassen. »Die Welt braucht mich, sie braucht den Autonomen Agenten, sie braucht mein Wissen, meine Erfahrung und meine Fähigkeiten mehr denn je. Zu viele verdammte Amateure rennen herum und bringen alles durcheinander. Wenn man ein wirkliches Problem hat, dann braucht man einen Profi. Jemanden, der weiß, was er tut.

Und kommt mir bloß nicht mit dem Zustand der offiziellen Organisationen! Verdammte Beamte haben da das Sagen, die mehr damit beschäftigt sind, mit dem Budget auszukommen, als dass sie wirklich etwas erreichen. Und was die Droods angeht - ich bin sprachlos, Eddie. Du hättest dich nie einmischen dürfen. Nun gut, deine Familie war korrupt, aber was soll's? Sie haben ihren Job erledigt, oder? Wusstest du, dass ich euch angeboten habe, euch während des Krieges gegen die Hungrigen Götter zu helfen und so ein verdammter Idiot mich abgewiesen hat?« Er beugte sich auf seinem Thron vor, um mich böse anzustarren. »Hast du wirklich geglaubt, ich würde alles aufgeben und einfach so in der Ewigkeit verschwinden? Mich hinlegen und sterben, weil ich alt würde? Ich habe nicht mein Leben damit verbracht, die Welt zu retten und die Dinge zurechtzurücken, nur um alt und schwach zu werden und zu sterben! Leute wie ich sterben nicht einfach! Die Welt braucht mich! Ich habe noch wichtige Dinge zu erledigen! Sterben ist etwas für die kleinen Leute, für die, die keine Rolle spielen.«

»Du schreist, Alex«, sagte Walker.

»Ah. Gut. Tut mir leid«, sagte der Autonome Agent und lehnte sich wieder in seinen hölzernen Thron zurück. »Dieser neue Körper ist bis zum Anschlag voller Hormone. Ich muss mich noch daran gewöhnen.«

»Dieser Wettbewerb war nie das, wofür wir es gehalten haben«, sagte ich. »Sie haben den Wettkampf ausgerufen, damit Sie daran teilnehmen und ihn gewinnen konnten. Sodass Sie uns alle schlagen können, vor der ganzen Welt. Sie mussten sich selbst beweisen - und auch jedem anderen -, dass Sie immer noch die Besten sind. Indem Sie sich die besten Agenten holten, die die Welt zu bieten hatte, und sie alle schlagen.«

»Oh, bitte, ihr wart wohl kaum die Besten«, sagte Alexander. »Ihr wart nur die fünf besten Neuzugänge. Die, die am ehesten meine Konkurrenten wären, wenn ich mein Leben wieder begänne. Diejenigen, die mir höchstwahrscheinlich im Weg stünden, wenn ich meine neue Karriere als Peter King aufbaute. Ich brachte euch in dieses Spiel, um allen zu zeigen, dass ich euch schlagen könnte, ja, aber hauptsächlich, um euch alle zu töten, bevor ihr zu einem Ärgernis würdet.«

»Entschuldigung«, sagte Walker. »Aber … warum ich? Ich bin wohl kaum ein Neuzugang. Ich bin ja kaum ein Agent. Warum nicht den derzeitigen Champion der Nightside auswählen, John Taylor?«

»Du warst mein einziger Luxus«, sagte Alexander und strahlte auf Walker herab. »Ich wollte jemanden, der einen guten Kampf liefern kann. Jemanden, der es wert war, ihn zu schlagen. Und ich wollte jemanden dabeihaben, der mein altes Ich kannte, um zu sehen, ob man mich in meiner neuen Identität wiedererkennt. Und du hast es nicht! Ich habe dich auf ganzer Linie hereingelegt!«

»Das ganze junge Blut steigt dir zu Kopf«, sagte Walker.

»Ich weiß«, sagte Alexander. »Ist das nicht wunderbar?«

»Wenn alles, was Sie wollten, war, wieder jung zu sein, gibt es doch eine ganze Menge Wege, wie Sie zu einem jungen Alexander King hätten werden können«, sagte ich. »Meist keine sehr schönen, aber das hätte Sie sicher nicht aufgehalten. Der Autonome Agent, wieder verjüngt! Solche Sachen sind in unserer Branche schon vorgekommen. Selten, und meist wird darüber die Stirn gerunzelt, aber sie sind nicht unbekannt. Aber wie auch immer, das haben Sie nicht getan. Sie konnten sich das nicht leisten. Sie haben sich im Laufe der Jahre zu viele Feinde gemacht, Alexander. Wirklich mächtige und wirklich üble Feinde. Sie konnten sie nicht alle töten und ausstellen. Nein, sie sind da draußen und spüren die Schwäche Ihres Alters: Schakale und Geier, die über dem sterbenden Löwen kreisen.

Die einzige Hoffnung sie abzuschütteln, bestand darin, Gerüchte über Ihren bevorstehenden Tod zu streuen und dann als Ihr eigener Enkel wieder aufzutauchen. Das Spiel zu gewinnen hätte Peter King als Gewinner aus eigener Kraft, als einen der Großen in der Branche etabliert, und dann hätten Sie die Geheimnisse, die Sie im Wettkampf gewonnen haben, als Währung verwendet, um wieder bei den ganz Großen mitmischen zu können. Sie wären der neue Autonome Agent gewesen, ohne dass Ihre alten Feinde ein Stück weitergekommen wären.«

»Aber warum diese verzweifelte Suche nach neuen Geheimnissen?«, fragte Walker. »Warum das Spiel überhaupt? Außer …«

»Genau«, sagte Alexander. »Ich wusste doch, dass du am Ende darauf kommen würdest. Es gibt keinen Hort des geheimen Wissens. Schon seit einiger Zeit nicht mehr. Es gab aber einen, zusammen mit ganzen Tresoren voller mächtiger Objekte und verbotener Waffen und Dingen dieser Art. Aber ich habe sie alle im Lauf der Jahre verkauft, um meinen wundervollen, extravaganten Lebensstil zu finanzieren. Immer nur eines und sehr diskret, aber jetzt sind sie alle weg. Manchmal habe ich sogar Dinge an die Leute zurückverkauft, von denen ich sie einst gestohlen hatte! Natürlich nur über eine ganze Reihe von Mittelsmännern; ich konnte schließlich nicht riskieren, dass sich Gerüchte verbreiten. Ach, ich werde beinahe albern, wenn ich daran denke, wie clever ich dabei war - die letzten paar Stücke gingen als Zahlung für meine Verjüngung drauf. Ich kann nicht sagen, dass ich sie vermisse. Sie waren die Vergangenheit, und ich darf mich jetzt nur auf die Zukunft konzentrieren.

So, wie das einem jungen Mann zukommt, der noch sein ganzes Leben vor sich hat.

Ich werde die neue Sensation dieses Zeitalters sein und jeden in Erstaunen versetzen! Nachdem ich Place Gloria in die Luft gejagt habe, um Alexanders Tod zu etablieren. Und natürlich auch euren. Eine Schande, dass ich diesen Ort zerstören muss; er war gut zu mir. Aber die Welt muss glauben, dass der alte Autonome Agent tot ist und der neue aus seiner Asche ersteht. Und ihr müsst sterben, damit ihr keinem erzählen könnt, was ihr wisst. Nichts Persönliches, das ist rein geschäftlich.«

»Falsch«, meinte ich. »Das ist persönlich.«

»Du glaubst doch nicht, dass das so einfach ist, oder?«, fragte Walker.

»Ach, doch. Das denke ich schon«, sagte Alexander. »Für den Fall, dass ihr den Weg hierher nicht so schnell gefunden hättet, hatte ich schon eine Spur von Brotkrumen für euch geplant. Ihr musstet den Weg zu mir allein finden, ohne Verstärkung. Wie habt ihr mich überhaupt so schnell gefunden? - Nein, das spielt keine Rolle. Ich wäre nicht da, wo ich heute bin, wenn ich mir Gedanken um unwichtige Kleinigkeiten machen würde. Ihr seid hier, so wie geplant. Weißt du, Eddie, du bist sehr leicht zu manipulieren. Ich wusste, Honey direkt vor deiner Nase zu töten, würde dich so wütend machen, dass du sofort hinter mir herjagen würdest, ohne noch mehr von deiner lästigen Familie zu holen.«

»Das ist alles? Deshalb haben Sie Honey getötet? Wegen mir?«

»Wegen dir, ja«, äffte Alexander mich nach. »Nein, Eddie. Es dreht sich nicht immer um dich. Sie musste sterben, einfach so, wie jeder von euch. Es ist notwendig. Mein Spiel, mein Ergebnis und keiner, der sich mir entgegenstellen kann. Ich tötete sie wegen mir, Eddie. Es ging immer nur um mich. Gewöhn dich dran.«

»Glaubst du wirklich, du könntest mich in meiner Rüstung besiegen?«, sagte ich. »Ich habe gegen eine Menge bösartige Organisationen gekämpft, Hungrige Götter und meine eigene Familie, und ich habe immer gewonnen, du dämlicher kleiner Scheißhaufen. Alles das nur für dein Ego. Vielleicht bist du wieder jung, Alexander, aber du bist immer noch nur ein Mensch und ich bin ein Drood. Ich verurteile dich zum Tode, von meiner Hand, für den Mord an Honey Lake, dem Blauen Elfen und Katt. Und für den Betrug an deiner eigenen Legende. Weil du einmal ein großer Mann warst.«

Meine Stimme war so kalt, dass selbst Walker mich unbehaglich ansah. Alexander lümmelte weiter auf seinem Thron und lächelte immer noch. Er hob seine linke Hand, um mir einen kleinen, goldenen Knackfrosch aus Blech zu zeigen.

»Erkennst du das, Eddie? Ein einfacher kleiner Mechanismus, der von deinem Familienwaffenmeister hergestellt wurde. Geschaffen, um deine Rüstung herunterzufahren und sie in deinem Torques einzusperren. Ein Ein-/Aus-Knopf, dessen einziger Zweck es ist, jemand anderem die Macht über eine Droodsche Rüstung zu geben. Dein Onkel Jack hielt es für nötig, so etwas zu entwerfen, um sicherzustellen, dass kein Droodscher Vogelfreier seine Rüstung zum Schlechten benutzen könne. So wie Arnold Drood, der Blutige. Er war wirklich richtig übel, oder? Wer hätte gedacht, dass ein so wohlerzogener Drood so schreckliche Dinge tun könnte?«

»Ich weiß über Arnold Bescheid«, sagte ich. »Ich habe ihn getötet.«

Alexander glotzte mich an. Das hatte er nicht gewusst. Doch er erholte sich schnell und hielt mir den goldenen Knackfrosch unter die Nase. »Ich habe deinen Onkel Jack überzeugen können, mir eines seiner Duplikate zu geben. Zum Teil auch aus dem Grund, dass ich einen wirklich schlechten Drood besiegen kann, wenn er das nicht schaffte, und teilweise im Gegenzug für etwas, was er so unbedingt haben wollte, dass die Familie nicht zulassen konnte, dass er es bekam.«

»Was war das?«, fragte ich. »Was gibt es, dass die ganze Drood-Familie ihm nicht besorgen konnte?«

»Merlins Spiegel«, sagte Alexander. »Und wenn man weiß, warum dein lieber Onkel Jack ihn so verzweifelt haben wollte, dann würdest du dir in die Hosen machen.«

Ich ging einen Schritt nach vorn, doch er hielt warnend den Frosch hoch. »Ah-ah, Eddie! Ein kleiner Klick und deine Rüstung ist in deinem Halsband gefangen, und was wirst du dann tun?«

Ich trat noch einen Schritt vor. Er runzelte verwirrt die Stirn. Dieses Szenario hatte er sich in dieser Lage nicht vorgestellt. Er klickte mit einer großen dramatischen Geste den goldenen Frosch. Das leise Klick klang sehr laut in der Stille der Halle. Ich sprach die Worte und meine goldene Rüstung floss aus meinem Torques und hatte mich im nächsten Moment vollständig eingeschlossen. Alexander King saß aufrecht auf seinem Thron und sah mich blöde an. Er klickte wieder und wieder mit dem Frosch, als ob er ihn allein durch Hartnäckigkeit dazu bekäme, zu funktionieren. Als ob es mit reiner Willenskraft doch klappen würde. Er öffnete seinen Mund, um etwas zu sagen, um Hilfe zu rufen oder um irgendeine versteckte Verteidigung zu aktivieren. Ich ließ ihm die Chance nicht. Ich stieß mit meiner goldenen Faust vor und tief in seine Brust hinein, sodass sein Herz zerquetscht wurde. Er schlug an die Lehne seines Throns, meine rechte Hand bis zum goldenen Handgelenk tief in seiner Brust begraben. Das Letzte, was er mit sterbenden Augen sah, war sein eigenes panisches Gesicht, dass sich in der gesichtslosen goldenen Maske eines Droods spiegelte.

Ich sah, wie das Licht in seinen Augen erlosch. Als ich sicher war, dass er tot war, beugte ich mich über ihn und flüsterte ihm ins Ohr: »Neuer Torques. Neue Rüstung. Andere Regeln. Du hättest dich wirklich auf dem Laufenden halten sollen, Alexander.«


Walker und ich nahmen uns Zeit, durch die vielen Trophäenzimmer und -hallen von Place Gloria zu schlendern. Ich hatte bereits meine Sicht benutzt, um die versteckte Bombe zu lokalisieren und ihre Zeitschaltuhr zu deaktivieren.

»Ich glaube, ich sehe mich hier gut um, bevor ich gehe«, sagte Walker. »Hier muss irgendetwas sein, dass ich dazu verwenden kann, meine Stimme wieder ans Laufen zu bringen.«

»Können Sie das denn?«, fragte ich. »Wo doch die Autoritäten fort sind?«

Walker lächelte. »Die Autoritäten haben mir die Stimme nicht gegeben, Eddie, es ist etwas, das sie mir antaten. Alles, was ich tun muss, ist die richtige Kraftquelle finden, und ich kann sie wieder aufladen. Wie die Tragbare Zeitanomalie.«

»Nur zu«, sagte ich. »Ich will nichts haben, nicht von ihm.«

»Was könnte er auch haben, das die Droods nicht schon hätten?«, meinte Walker großzügig.

»Und doch«, sagte ich. »Nehmen Sie sich nicht zu viel Zeit. Wenn ich hier abhaue, dann werde ich die Zeitschaltuhr an der Bombe neu einstellen. Keiner braucht das alles hier zu wissen. Alexander King war zu seiner Zeit ein guter Mann. Eine echte Legende. Keiner muss wissen, wie er am Ende wirklich war. Ein verängstigter alter Mann in einem leeren Schatzhaus. Unsere Agenten brauchen Legenden wie den Autonomen Agenten.«

»Damit er andere dazu inspirieren kann, so aus der Reihe zu fallen wie Sie?«, fragte Walker. »Um allein gegen die Korruption der etablierten Organisationen zu stehen?« »So in der Art«, sagte ich.

Walker schüttelte den Kopf. »Helden. Machen immer mehr Ärger, als sie wert sind.« »Irgendjemand muss eben dafür sorgen, dass die großen Jungs ehrlich bleiben«, erwiderte ich.


Warum ist man Agent? Um die Welt vor all den anderen Agenten zu schützen.

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