DRITTER TEIL Simon Schneelocke

XXX Tausend Nägel

Mit Äxten schlugen sie die Tür ein – hackten, hieben, zersplitterten das schützende Holz. »Doktor!« schrie Simon und fuhr in die Höhe, »die Soldaten! Die Soldaten sind da!«

Aber er war gar nicht in Morgenes' Wohnung. Er lag, in schweißgetränkte Laken gehüllt, auf einem schmalen Bett in einer kleinen, ordentlichen Kammer. Das Geräusch holzspaltender Klingen dauerte an; gleich darauf öffnete sich die Tür, und der Lärm verstärkte sich noch. Um die Ecke spähte ein unbekanntes Gesicht, blaß und mit langem Kinn, darüber ein spärlicher Haarschopf, der im Sonnenlicht so kupferrot aufglänzte wie Simons eigener. Das eine sichtbare Auge war blau. Das andere bedeckte eine schwarze Klappe.

»Aha!« sagte der Fremde, »du bist wach. Gut.« Seiner Aussprache nach war er ein Erkynländer, mit einem Anhauch der Schwerfälligkeit des Nordens. Er schloß hinter sich die Tür und brachte damit einen Teil des Arbeitslärmes draußen zum Verstummen. Seine lange, graue Priesterkutte hing schlaff an der mageren Gestalt herunter.

»Ich bin Vater Strangyeard.« Er ließ sich auf einem hochlehnigen Stuhl neben Simon nieder; abgesehen von dem Bett und einem niedrigen, mit Pergament und allerlei Krimskrams bedeckten Tisch bildete der Stuhl das einzige Möbelstück des Raumes. Als er es sich bequem gemacht hatte, beugte der Fremde sich vor und klopfte Simon sanft auf die Hand.

»Wie geht es dir? Hoffentlich besser?«

»Ja … ja, ich glaube schon.« Simon schaute sich um. »Wo bin ich hier eigentlich?«

»In Naglimund, aber das hast du dir sicher schon gedacht.« Vater Strangyeard lächelte. »Genauer gesagt, in meinem Zimmer … und auch in meinem Bett.« Er hob die Hand. »Ich hoffe, du hast dich darin wohlgefühlt. Besonders bequem ist es nicht … aber meine Güte, wie töricht von mir! Du hast ja schon draußen im Wald geschlafen!« Der Priester zeigte ein weiteres, zögerndes Lächeln. »Es muß doch besser als der Wald sein, oder?«

Simon schwang die Füße auf den kalten Boden. Erleichtert stellte er fest, daß er Hosen anhatte, war jedoch etwas verwirrt, als er merkte, daß es nicht seine waren.

»Wo sind meine Freunde?« Ein dunkler Gedanke zog auf wie eine Wolke. »Binabik … ist er tot?«

Strangyeard kniff die Lippen zusammen, als hätte Simon eine milde Gotteslästerung geäußert. »Tot? Lob sei Usires, nein – obwohl es ihm nicht gut geht, gar nicht gut.«

»Darf ich zu ihm?« Simon rutschte auf die Steinfliesen hinunter, um seine Stiefel zu suchen. »Wo ist er? Und wie geht es Marya?«

»Marya?« Der Priester sah mit ratloser Miene zu, wie Simon auf dem Boden herumkroch. »Ah, deiner anderen Gefährtin. Ihr geht es bestens. Zweifellos wirst du sie auch bald wiedersehen.«

Die Stiefel befanden sich unter dem Schreibtisch. Als Simon sie anzog, griff Vater Strangyeard hinter sich und nahm von der Stuhllehne ein sauberes weißes Hemd.

»Hier«, sagte er. »Himmel, hast du es aber eilig. Möchtest du gleich deinen Freund besuchen oder erst etwas essen?«

Simon war schon dabei, das Hemd vorne zuzunesteln. »Binabik und Marya, dann essen«, brummte er, ganz auf diese Arbeit konzentriert. »Qantaqa natürlich auch.«

»So schwer die Zeiten letzthin auch gewesen sein mögen«, bemerkte der Priester im Ton milden Vorwurfes, »wir essen nie Wölfe in Naglimund. Ich ging davon aus, daß du sie zu deinen Freunden zähltest.« Simon blickte auf und begriff, daß der Einäugige einen Scherz machte.

»Ja«, erwiderte er und fühlte sich plötzlich schüchtern. »Eine echte Freundin.«

»Dann wollen wir gehen«, erklärte der Priester und stand auf. »Man hat mir aufgetragen, mich darum zu kümmern, daß du alles hast, was du brauchst. Je eher ich dich also zum Essen bringe, desto besser habe ich meine Aufgabe erfüllt.« Er machte die Tür auf und ließ eine neue Welle von Sonnenschein und Lärm eindringen.

Simon blinzelte im hellen Licht. Er sah hinauf zu den hohen Mauern der Festung und den dahinter aufragenden purpurroten und braunen Weiten des Weldhelms, vor denen die graugekleideten Posten wie Zwerge aussahen. Inmitten der Burganlage stand eine massive Ansammlung kantiger Steinbauten, plump nebeneinandergestellt, ohne die exzentrische Schönheit des Hochhorstes mit ihrem Kontrast der Stilrichtungen und Zeitalter. Die dunklen, vom Rauch streifigen Sandsteinwürfel, die kleinen, lichtlosen Fenster und schweren Türen sahen aus, als seien sie nur für einen Zweck geschaffen: irgend etwas am Eindringen zu hindern.

Kaum einen Steinwurf weit entfernt, mitten im Gewimmel des Burghofes, spaltete ein Trupp hemdloser Männer einen Stapel Holzbalken und schichtete die Scheiter auf einen Stoß, der bereits so hoch war wie ihre Köpfe.

»Also daher der Lärm«, meinte Simon und sah zu, wie die Äxte blitzten und fielen. »Was machen sie da?«

Vater Strangyeard wandte sich um und folgte seinem Blick. »Äh. Einen Scheiterhaufen bauen sie. Um den Hune zu verbrennen – den Riesen.«

»Den Riesen?« Jäh fiel Simon alles wieder ein, das knurrend verzogene, lederartige Gesicht, die unendlich langen Arme, die auf ihn einschlugen. »Ist er nicht tot?«

»O doch, ganz und gar tot, ja.« Strangyeard steuerte auf die Hauptgebäude zu; Simon marschierte hinterher und warf heimlich einen letzten Blick auf den immer höher werdenden Holzstoß.

»Weißt du, Simon, ein paar von Josuas Männern wollten ein Schauspiel daraus machen, verstehst du, den Kopf abschneiden und auf das Tor stecken und solche Dinge. Der Prinz hat nein gesagt. Er meinte, der Riese sei wohl ein bösartiges Geschöpf gewesen, aber kein Tier. Sie tragen eine Art Kleidung, wußtest du das? Und sie haben auch Keulen – oder eher Knüttel. Jedenfalls hat Josua erklärt, er würde den Kopf eines Feindes nicht zur Volksbelustigung aufpflanzen. Sie sollten ihn verbrennen.« Strangyeard zupfte sich am Ohr. »Also verbrennen sie ihn jetzt.«

»Heute abend?« Simon mußte sich anstrengen, mit den langen Schritten des Priesters mitzuhalten.

»Sobald der Scheiterhaufen fertig ist. Prinz Josua möchte nicht mehr daraus machen, als unbedingt nötig. Ich bin überzeugt, er hätte den Hune am liebsten gleich oben in den Bergen begraben, aber die Leute wollen sehen, daß er tot ist.« Vater Strangyeard zeichnete hastig das Zeichen des Baumes auf seiner Brust. »Es ist schon der dritte, der in diesem Monat vom Norden heruntergekommen ist. Einer von den anderen hat den Bruder des Bischofs getötet. Es ist alles höchst unnatürlich.«


Binabik lag in einer kleinen Kammer, die von der Kapelle abging. Die Kapelle stand im Innenhof, umrahmt von den Hauptgebäuden der Burg. Der Troll sah sehr bleich aus und schien kleiner, als Simon erwartet hatte, so als habe er einen Teil seiner Substanz verloren; aber sein Lächeln war fröhlich.

»Freund Simon«, sagte er und setzte sich vorsichtig auf. Sein kleiner, brauner Oberkörper war bis zum Schlüsselbein dick verbunden. Simon widerstand dem Drang, den kleinen Mann zu umarmen, weil er die heilenden Wunden nicht wieder aufreißen wollte. Statt dessen setzte er sich auf den Rand des Lagers und ergriff eine von Binabiks warmen Händen.

»Ich dachte, wir hätten dich verloren«, sagte Simon, und die Zunge lag dick in seinem Mund.

»Das dachte ich auch, als mich der Pfeil traf«, erwiderte der Troll mit einem reuigen Kopfschütteln. »Aber anscheinend ist nichts von entscheidender Natur durchbohrt worden. Man hat mich gut gepflegt, und bis auf eine gewisse Schmerzhaftigkeit der Bewegung bin ich fast wieder neu.« Er wandte sich dem Priester zu. »Ich bin heute auf dem Hof herumgegangen.«

»Gut, sehr gut.« Vater Strangyeard lächelte abwesend und zupfte an der Schnur, die seine Augenklappe hielt. »Ich muß jetzt gehen. Bestimmt gibt es vieles, das ihr beiden miteinander besprechen möchtet.« In der Tür drehte er sich noch einmal um. »Simon, bitte mach von meinem Zimmer Gebrauch, solange es dir gefällt. Ich teile inzwischen Bruder Eglafs Kammer. Er gibt zwar im Schlaf fürchterliche Töne von sich, aber er ist ein guter Mensch und nimmt mich bereitwillig auf.«

Simon dankte ihm. Nachdem der Priester Binabik weiterhin gute Genesung gewünscht hatte, entfernte er sich.

»Er ist ein Mann von vortrefflichem Verstand, Simon«, meinte Binabik, während sie den Schritten Strangyeards lauschten, die im Gang verhallten. »Meister der Burgarchive ist er. Wir hatten schon wunderbare Gespräche.«

»Aber ein wenig merkwürdig, nicht wahr? Irgendwie … zerstreut?«

Binabik lachte, zuckte dann zusammen und hustete. Erschreckt beugte Simon sich zu ihm vor, aber der Troll winkte ab. »Nur einen Augenblick«, sagte er. Als er wieder zu Atem gekommen war, fuhr er fort: »Manche Menschen, Simon, deren Kopf voller Gedanken ist, vergessen zu sprechen und sich zu benehmen wie gewöhnliche Leute.«

Simon nickte und betrachtete den Raum. Er war dem Strangyeards sehr ähnlich: karg, klein, mit weißgekalkten Wänden. Statt der Bücher- und Pergamentstapel lag auf dem Schreibtisch nur ein Exemplar des Buches Ädon. Ein rotes Band hielt wie eine schmale Zunge die Stelle fest, an der der letzte Leser aufgehört hatte.

»Weißt du, wo Marya ist?« fragte Simon.

»Nein.« Binabik machte ein äußerst ernstes Gesicht. Simon fragte sich, warum. »Ich nehme an, sie hat Josua ihre Botschaft überbracht. Vielleicht hat er sie zu der Prinzessin zurückgeschickt, wo immer sie sich aufhalten mag, um ihr seine Antwort mitzuteilen.«

»Nein!« Dieser Gedanke gefiel Simon ganz und gar nicht. »Wie hätte das alles so schnell geschehen können?«

»So schnell?« Binabik lächelte. »Heute ist der Morgen des zweiten Tages nach unserer Ankunft in Naglimund.«

Simon war verdutzt. »Wie kann das sein? Ich bin doch gerade erst aufgewacht!«

Binabik ließ sich kopfschüttelnd in die Laken zurücksinken. »Das stimmt nicht. Du hast gestern fast den ganzen Tag geschlafen, bist aber mehrfach aufgewacht, um etwas Wasser zu trinken, und dann gleich wieder eingeschlafen. Ich vermute, das letzte Stück unserer Reise hat dich geschwächt, so kurz nach dem Fieber, das du dir bei der Flußfahrt zugezogen hattest.«

»Usires!« Ihm war, als hätte sein Körper ihn verraten. »Und man hat Marya fortgeschickt?«

Binabik streckte besänftigend die Hand aus den Laken. »Mir ist nichts Derartiges bekannt. Es war nur eine Annahme. Genausogut kann sie noch hier sein – vielleicht bei den Frauen oder im Quartier der Dienstboten. Schließlich ist sie ja auch eine Dienerin.«

Simon machte ein finsteres Gesicht. Binabik nahm sanft wieder die Hand des Jungen, die dieser vor Aufregung weggezogen hatte. »Hab Geduld, Simon-Freund«, mahnte der Troll. »Du hast eine Heldentat getan, bis hierher zu gelangen. Wer weiß, was als nächstes geschehen wird?«

»Du hast recht … wahrscheinlich…« Er holte tief Atem.

»Und mir hast du das Leben gerettet«, erklärte Binabik.

»Ist das wichtig?« Simon streichelte geistesabwesend die kleine Hand und stand auf. »Du hast mir auch schon mehrmals das Leben gerettet. Freunde sind Freunde.«

Binabik lächelte, aber seine Augen waren müde. »Freunde sind Freunde«, stimmte er zu. »Und wenn wir schon davon sprechen: Ich muß nun wieder schlafen. In den Tagen, die vor uns liegen, wird es Wichtiges zu tun geben. Würdest du nach Qantaqa sehen und danach, wie sie untergebracht ist? Strangyeard wollte sie zu mir bringen, aber ich fürchte, es ist von seinem vielbeschäftigten Haupt geflogen wie Daunen von einem«, er klopfte das seine, »… Kissen.«

»Gewiß«, antwortete Simon und öffnete schon die Tür. »Weißt du denn, wo sie ist?«

»Strangyeard sagte … in den Ställen…«, erwiderte Binabik gähnend und schloß die Augen.


Als Simon den Innenhof betrat und einen Augenblick stehenblieb, um den Vorübergehenden zuzuschauen, Höflingen, Dienern, Klerikern, von denen niemand ihm auch nur die geringste Beachtung schenkte, wurden ihm urplötzlich zwei Dinge klar.

Erstens, daß er keine Ahnung hatte, wo die Stallungen lagen. Zweitens, daß er sehr, sehr hungrig war. Vater Strangyeard hatte etwas davon erwähnt, daß man ihm aufgetragen hätte, sich um Simon zu kümmern, aber der Priester war verschwunden. Wirklich ein närrischer alter Knabe!

Auf einmal erspähte Simon auf der anderen Seite des Hofes ein bekanntes Gesicht. Er lief darauf zu und hatte schon ein paar Schritte zurückgelegt, als ihm der dazugehörige Name einfiel.

»Sangfugol!« rief er, und der Harfner blieb stehen und schaute sich nach dem Rufer um. Er sah Simon heraneilen und beschattete mit der Hand die Augen, blickte jedoch immer noch fragend, als der Junge rutschend vor ihm zum Stehen kam.

»Ja?« fragte er. Er war in ein reiches, lavendelblaues Wams gekleidet, und das dunkle Haar quoll anmutig unter einer mit passenden Federn besetzten Mütze hervor. Selbst in seinen sauberen Sachen kam Simon sich gegenüber dem höflich lächelnden Musikanten schäbig vor. »Hast du eine Botschaft für mich?«

»Ich bin Simon. Wahrscheinlich erinnert Ihr Euch nicht mehr an mich. Wir haben beim Leichenschmaus auf dem Hochhorst miteinander gesprochen.«

Sangfugol starrte ihn einen weiteren Moment lang mit leicht gerunzelter Stirn an, dann hellte sich sein Gesicht auf. »Simon! Ja, natürlich! Der beredte Mundschenk! Es tut mir aufrichtig leid, aber ich habe dich überhaupt nicht wiedererkannt. Du bist recht erwachsen geworden.«

»Wirklich?«

Der Harfner grinste. »Und ob! Jedenfalls hattest du das letzte Mal, als ich dich sah, noch nicht diesen Flaum im Gesicht.« Er streckte die Hand aus und nahm Simon beim Kinn. »Oder zumindest kann ich mich nicht daran erinnern.«

»Flaum?« Verwundert griff Simon nach oben und strich sich über die Wange. Sie fühlte sich tatsächlich pelzig an … aber weich, wie das Haar auf seinen Unterarmen.

Sangfugols Lippen zuckten, und er fing an zu lachen. »Wie konnte dir das entgehen? Als mir zuerst der Bart des Mannes wuchs, stand ich jeden Tag bei meiner Mutter vor dem Spiegel, um nachzusehen, wie er sich entwickelte.« Er legte die Hand an die glattrasierte Wange. »Und heute schabe ich ihn mir jeden Morgen fluchend ab, damit mein Gesicht weich ist – für die Damen.«

Simon spürte, daß er rot wurde. Wie hinterwäldlerisch er wirken mußte! »Ich habe eine Zeitlang keine Spiegel um mich gehabt.«

»Hmmm.« Sangfugol betrachtete ihn von Kopf bis Fuß. »Größer bist du auch, wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt. Was führt dich nach Naglimund? Nicht, daß ich es mir nicht ausrechnen könnte. Hier sind viele, die aus dem Hochhorst geflohen sind, nicht zuletzt mein Herr selbst, Prinz Josua.«

»Ich weiß«, antwortete Simon. Er mußte unbedingt etwas sagen, das ihn mit diesem wohlgekleideten jungen Mann wieder auf eine Stufe stellte. »Ich half ihm zu entkommen.«

Der Harfner hob eine Braue. »Wahrhaftig? Das hört sich freilich nach einer interessanten Geschichte an. Hast du schon gegessen? Oder möchtest du einen Schluck Wein? Ich weiß, daß es noch recht früh ist, aber um die Wahrheit zu sagen, war ich noch gar nicht im Bett … habe noch nicht geschlafen.«

»Essen wäre wunderbar«, sagte Simon, »aber ich muß vorher noch etwas erledigen. Könnt Ihr mir den Weg zu den Ställen zeigen?«

Sangfugol lächelte. »Und was dann, junger Held? Willst du nach Erchester hinabreiten und uns Pryrates' Kopf in einem Sack bringen?« Simon errötete wieder, aber diesmal mit nicht geringem Vergnügen. »Also gut«, erklärte der Harfner, »erst die Ställe, dann das Essen.«


Der gekrümmte Mann mit der sauren Miene, der mit der Gabel Heu aufschichtete, machte einen mißtrauischen Eindruck, als Simon sich nach Qantaqas Verbleib erkundigte.

»Was willst du denn mit dem?« fragte der Mann und schüttelte den Kopf. »Richtig bösartiges Biest. Unrecht ist das, ihn hier hinzustecken. Überhaupt nicht mein Bier; nur weil der Prinz es gesagt hat. Hat mir fast die Hand abgerissen, die Bestie.«

»Na also«, versetzte Simon, »dann solltest du froh sein, sie loszuwerden. Bring mich zu ihr.«

»Ein Teufelsbraten ist das, sag ich dir«, erklärte der Mann. Sie folgten dem Voraushinkenden durch sämtliche dunklen Stallgebäude und zur Hintertür hinaus auf einen morastigen Hof im Schatten der Außenmauer.

»Die Kühe führen sie manchmal zum Schlachten hierher«, erläuterte der Mann und deutete auf eine viereckige Grube. »Weiß nicht, warum der Prinz den hier lebendig nach Hause hat schaffen lassen und der arme, alte Lucuman nun auf ihn aufpassen soll. Mit dem Speer hätte er ihn durchbohren sollen, den widerlichen Bastard, so wie den Riesen.«

Simon warf dem Krummen einen Blick voller Abscheu zu und trat an den Rand der Grube. Ein an der Kante im Boden verankertes Seil hing in das Loch hinunter. Unten war es um den Hals der Wölfin geknotet, die auf dem schlammigen Boden der Grube lag.

Simon war entsetzt. »Was hast du mit ihr gemacht!« schrie er den Stallknecht an. Sangfugol, der den sumpfigen Hof etwas vorsichtiger betreten hatte, kam näher.

Das Mißtrauen des alten Mannes verwandelte sich in Gereiztheit. »Hab gar nichts gemacht«, versetzte er gekränkt. »Richtiger Teufel ist das – hat geheult wie ein Untier. Nach mir gebissen hat er.«

»Das hätte ich auch getan«, fauchte Simon. »Und vielleicht mache ich es auch noch. Hol sie dort heraus.«

»Wie denn?« fragte der Mann beunruhigt. »Einfach am Seil hochziehen? Dazu ist er viel zu groß.«

»Sie, du Dummkopf!« Simon war außer sich vor Wut, die Wölfin, seine Gefährtin über ungezählte Meilen, in einem dunklen, nassen Loch liegen zu sehen. Er beugte sich hinab.

»Qantaqa!« rief er. »Ho, Qantaqa!« Sie zuckte mit den Ohren, als wollte sie eine Fliege verscheuchen, öffnete aber nicht die Augen. Simon sah sich im Hof um, bis er fand, was er brauchte: den Hackklotz, einen schartigen Baumstumpf, so dick wie der Brustkorb eines Mannes. Er rollte ihn mühsam zu der Grube, während Stallknecht und Harfner verwundert zuschauten.

»Paß auf!« rief er der Wölfin zu und rollte den Stumpf über den Rand; er schlug nur einen Meter von den Hinterbeinen des Tiers entfernt in der weichen Erde auf. Sie hob kurz den Kopf und blickte hinüber, um dann wieder zusammenzusinken.

Wieder spähte Simon über den Grubenrand und versuchte Qantaqa anzulocken, aber sie achtete nicht auf ihn.

»Um Himmelswillen, sei vorsichtig«, mahnte Sangfugol.

»Glück hat er, daß sie sich grad ausruht, die Bestie«, meinte der andere und kaute bedächtig am Daumennagel. »Hätte das Biest vorher hören sollen, Heulen und alles.«

Simon schwang die Füße über die Kante des Loches und rutschte hinab. Er landete im quatschigen, glitschigen Schlamm.

»Was tust du!« rief Sangfugol. »Bist du verrückt?«

Simon kniete neben der Wölfin nieder und näherte sich ihr langsam mit seiner Hand. Sie knurrte, aber er hielt ihr die Finger hin. Ihre schlammige Nase schnüffelte kurz daran, dann streckte sie vorsichtig die lange Zunge aus und leckte ihm den Handrücken. Simon fing an, ihre Ohren zu kraulen und tastete sie dann nach Schnittwunden und Knochenbrüchen ab. Es war nichts zu erkennen. Er drehte sich um und richtete den Hackklotz auf, rammte ihn an der Grubenwand in den Morast und ging dann wieder zu Qantaqa. Er legte die Arme um ihren Leib und lockte sie solange, bis sie aufstand.

»Er ist verrückt, stimmt's?« fragte der sauertöpfische Mann Sangfugol halb im Flüsterton.

»Halt den Mund«, knurrte Simon und musterte seine sauberen Stiefel und Kleider, die schon längst mit Schlamm beschmiert waren. »Nimm das Seil und zieh, wenn ich es sage. Sangfugol, schneidet ihm den Kopf ab, wenn er trödelt!«

»Nun aber!« meinte der Mann vorwurfsvoll, griff aber nach dem Seil. Der Harfner stellte sich hinter ihn, um zu helfen. Simon drängte Qantaqa auf den Baumstumpf zu und überredete sie endlich, die Vorderbeine darauf zu stellen. Dann schob er seine Schulter unter ihr breites, pelzfransiges Hinterteil.

»Fertig. Jetzt zieht!« rief er. Das Seil straffte sich. Zuerst wehrte sich Qantaqa und zerrte von den Männern fort, die sie hochhieven wollten. Ihr beträchtliches Gewicht sackte auf Simon nieder, dessen Füße im Schlamm unter ihm wegzurutschen begannen. Gerade, als er das Gefühl hatte, darin zu versinken und von einem großen Wolf erdrückt in einer Schlammgrube zu sterben, gab Qantaqa nach und folgte dem Zug des Seils. Simon glitt zwar trotzdem aus, sah jedoch befriedigt, wie die Wölfin strampelnd über den Rand der Grube kletterte. Von dem Stallknecht und Sangfugol kam ein Aufschrei der Überraschung und Bestürzung, als ihr gelbäugiger Kopf über der Kante auftauchte.

Simon kletterte mit Hilfe des Blockes ebenfalls heraus. Der Stallknecht duckte sich angstvoll vor der Wölfin, die ihn boshaft musterte. Sangfugol, der nicht weniger beunruhigt aussah, rutschte vorsichtig auf dem Gesäß von ihr fort und achtete dabei gar nicht auf den Schaden an seinen prächtigen Gewändern.

Simon lachte und half dem Harfner auf die Füße. »Kommt mit«, sagte er. »Wir liefern Qantaqa bei ihrem Freund und Herrn ab, den Ihr ohnehin kennenlernen solltet – und dann zum Essen, von dem wir gesprochen haben…«

Sangfugol nickte langsam. »Nachdem ich jetzt Simon, den Gefährten der Wölfe, gesehen habe, sind ein paar andere Dinge leichter zu glauben. Gehen wir, unbedingt.«

Qantaqa stieß den am Boden dahingestreckten Stallknecht ein letztes Mal mit der Nase an und entlockte ihm ein angstvolles Wimmern. Simon band ihr Seil von dem Pfahl los, und sie machten sich auf den Weg durch die Stallungen, hinter sich vier Paar schlammige Fußspuren.


Während Binabik und Qantaqa ihr Wiedersehensfest feierten, leicht gedämpft von Simon, der den noch immer geschwächten Troll vor den ungestümen Freudenausbrüchen seines Reittieres beschützte, schlüpfte Sangfugol in die Küche. Schon bald kehrte er mit einem Bierkrug und einer stattlichen, in ein Tuch gewickelten Portion Hammelfleisch, Käse und Brot zurück. Außerdem trug er zu Simons Überraschung immer noch dieselben schlammbespritzten Kleider.

»Die südliche Festungsmauer, auf der wir speisen wollen, ist recht staubig«, erklärte der Harfner. »Und der Teufel soll mich holen, wenn ich mir heute noch ein zweites Wams ruiniere.«

Als sie sich dem Haupttor der Burg näherten, von dem eine steile Treppe zu den Zinnen führte, machte Simon eine Bemerkung über die vielen Menschen, die sich auf dem Burganger drängten, und die über die Freifläche verstreuten Zelte und Hütten.

»Zuflucht suchen sie, jedenfalls viele von ihnen«, erläuterte Sangfugol. »Der größte Teil kommt aus der Frostmark und dem Tal des Grünwate-Flusses. Ein paar sind auch aus Utanyeat; solche, die Graf Guthwulfs Hand ein wenig zu schwer gefunden haben. Aber die meisten sind durch Räuber oder das Wetter aus ihrer Heimat vertrieben worden. Oder durch noch andere Dinge – wie die Hunen.« Er deutete im Vorbeigehen auf den fertigen Scheiterhaufen. Die Männer hatten sich entfernt; der Holzstoß erhob sich stumm und bedeutungsvoll wie eine zerstörte Kirche.

Oben auf der Mauer setzten sie sich auf die rohbehauenen Steine. Die Sonne stand hoch am Himmel und brannte durch die wenigen noch übrigen Wolken heiß auf sie herunter. Simon wünschte sich einen Hut.

»Entweder du oder sonst jemand hat gutes Wetter mitgebracht.« Sangfugol öffnete sein Wams der Wärme. »Es war das sonderbarste Maia-Wetter, seit ich mich erinnern kann – Schneetreiben in der Frostmark, kalter Regen in Utanyeat … und Hagel! Vor zwei Wochen hatten wir hier Hagel, mit Eiskörnern so groß wie Vogeleier.« Er machte sich daran, das Essen auszupacken. Simon bewunderte die Aussicht. Hier oben auf den hohen Wällen der inneren Feste lag Naglimund zu ihren Füßen wie eine ausgebreitete Decke.

Die Burg duckte sich in einer steilwandigen Mulde der Weldhelm-Berge wie in einer hohlen Handfläche. Unter den westlichen Zinnen, ihrem Sitzplatz gegenüber, erstreckte sich die breite Außenmauer der Burg; dahinter senkten sich die krummen Gassen der Stadt Naglimund bis zu den äußeren Stadtmauern hinab. Jenseits dieser Mauern dehnte sich eine fast unendliche Weite felsigen Weidelandes und flacher Hügel.

Auf der anderen Seite, zwischen den östlichen Zinnen und der kahlen, violetten Wand des Weldhelms, führte ein langer, gewundener Pfad vom Kamm des Gebirges herunter. Auf den Hängen zu beiden Seiten dieses Pfades funkelten tausend Punkte schwärzlichen Sonnenlichtes.

»Was ist das?« Simon zeigte mit dem Finger darauf. Sangfugol kaute und kniff die Augen zusammen.

»Die Nägel, meinst du?«

»Was für ›Nägel‹? Ich frage nach diesen langen Stacheln dort am Hang des Berges.«

Der Harfner nickte. »Die Nägel. Was hast du denn gedacht, woher der Name Naglimund kommt? Ihr Hochhorstleute habt euer Erkynländisch vergessen. ›Nagel-Feste‹ – nichts anderes bedeutet es. Herzog Aeswides hat sie aufgestellt, als er Naglimund erbaute.«

»Wann war das? Und wozu dienen sie?« Simon machte große Augen. Der Wind entführte seine Brotkrumen und wirbelte sie über den äußeren Zwinger.

»Einige Zeit, bevor die Rimmersmänner südwärts zogen, das ist alles, was ich weiß«, antwortete Sangfugol. »Aber den Stahl bekam er aus Rimmersgard, all diese Stangen. Die Dverninge haben sie geschmiedet«, fügte er bedeutungsvoll hinzu, aber Simon sagte der Name nichts.

»Aber wozu? Es sieht aus wie ein eiserner Garten.«

»Um die Sithi fernzuhalten«, erklärte Sangfugol. »Aeswides hatte schreckliche Angst vor ihnen, weil es eigentlich ihr Land war. Eine ihrer großen Städte, ich habe den Namen vergessen, lag drüben auf der anderen Seite des Gebirges.«

»Da'ai Chikiza«, sagte Simon ruhig und starrte auf das Dickicht aus angelaufenem Metall.

»Richtig«, stimmte der Harfner zu. »Und die Sithi können angeblich kein Eisen ertragen. Macht sie ganz krank, tötet sie sogar. Darum umgab Aeswides seine Burg mit diesen ›Nägeln‹ aus Stahl. Früher waren sie auch überall auf der Talseite der Burg, aber als die Sithi verschwanden, standen die Nägel bloß im Weg – machten es schwierig, am Markttag die Wagen hereinzufahren und so weiter. Und als König Johan diese Burg Josua gab – vermutlich, um ihn und seinen Bruder so weit wie möglich auseinander zu halten –, ließ mein Gebieter sie alle wegnehmen, außer diesen dort auf den Hängen. Ich glaube, sie erheitern ihn. Er hat viel übrig für alte Sachen, der Prinz, mein Herr.«

Sie leerten gemeinsam den Bierkrug, und Simon gab dem Harfenspieler eine gekürzte Fassung seiner Erlebnisse seit ihrer letzten Begegnung. Ein paar von den unerklärlicheren Dingen ließ er aus, weil er auf die Fragen, die der Harfner ihm zweifellos stellen würde, keine Antworten hatte.

Sangfugol war beeindruckt, aber am meisten bewegte ihn die Erzählung von Josuas Rettung und Morgenes' Märtyrertum.

»Oh, dieser Schurke Elias«, sagte er endlich, und Simon bemerkte überrascht den Ausdruck ehrlichen Zornes, der das Gesicht des Harfners wie eine Gewitterwolke verdunkelte. »König Johan hätte das Ungeheuer bei der Geburt erwürgen lassen sollen oder, wenn das nicht ging, ihn wenigstens zum Generalfeldmarschall ernennen und die Männer der Thrithinge quälen lassen können – alles, nur ihn nicht auf den Drachenbeinthron setzen, auf dem er eine Plage für uns alle ist!«

»Aber dort sitzt er nun einmal«, meinte Simon kauend. »Glaubt Ihr, daß er uns hier in Naglimund angreifen wird?«

»Das wissen nur Gott und der Teufel«, grinste Sangfugol mürrisch, »und der Teufel läßt sich auf keine Wetten ein. Vielleicht weiß Elias noch nicht einmal, daß Josua sich hier befindet, aber das wird er sicher bald erfahren. Diese Festung hier ist stark, sehr stark. Wenigstens dafür haben wir dem längst verblichenen Aeswides zu danken. Aber dennoch, stark oder nicht, ich kann mir kaum vorstellen, daß Elias lange zusehen wird, wie sich Josua hier im Norden eine Hausmacht schafft.«

»Aber ich dachte, Prinz Josua wollte gar nicht König werden«, wandte Simon ein.

»Will er auch nicht. Aber Elias gehört nicht zu den Menschen, die das begreifen. Ehrgeizige Männer glauben nie, daß andere anders sind. Außerdem hat er Pryrates neben sich, der ihm mit seiner Schlangenzunge giftigen Rat ins Ohr träufelt.«

»Aber sind Josua und der König nicht schon jahrelang verfeindet? Lange bevor Pryrates auftauchte?«

Sangfugol nickte. »An Ärger zwischen den beiden hat es nicht gefehlt. Einst liebten sie einander und standen sich näher als die meisten Brüder – wenigstens erzählen es Josuas ältere Gefolgsleute so. Aber sie gerieten in Streit, und dann starb Hylissa.«

»Hylissa?«

»Elias' Nabbanai-Gemahlin. Josua sollte sie zu Elias bringen, der damals noch ein Prinz war und für seinen Vater in den Thrithingen Krieg führte. Räuber aus den Thrithingen überfielen den Geleitzug.

Josua verlor bei Hylissas Verteidigung die Hand, aber selbst das war sinnlos – die Räuber waren zu viele.«

Simon stieß einen tiefen Atemzug aus. »Also so ist das passiert!«

»Damit war alle Liebe zwischen ihnen gestorben … so heißt es jedenfalls.«

Nachdem er eine Weile über Sangfugols Worte nachgedacht hatte, stand Simon auf und reckte sich; die wunde Stelle an seinen Rippen stach und warnte. »Und was wird Prinz Josua nun unternehmen?« fragte er.

Der Harfner kratzte sich am Arm und starrte in den Burganger hinunter. »Ich habe keine Ahnung. Prinz Josua ist vorsichtig und entschließt sich schwer zum Handeln; außerdem zieht man mich in der Regel nicht hinzu, wenn es um strategische Probleme geht.« Er lachte leise. »Man redet davon, daß wichtige Gesandte zu uns kommen, und daß Josua in den nächsten sieben Tagen einen formellen Raed einberufen wird.«

»Einen was?«

»Einen Raed. Das ist die alte erkynländische Bezeichnung für so etwas wie eine Ratsversammlung. Die Leute hier bei uns neigen dazu, an überkommenen Bräuchen festzuhalten. Draußen im Land, weiter weg von der Burg, benutzen viele noch die alte Sprache. Ein Hochhorstmann wie du würde wahrscheinlich einen einheimischen Übersetzer brauchen.«

Simon wollte sich durch Reden über ländliche Sonderbarkeiten nicht ablenken lassen. »Eine Ratsversammlung, sagt Ihr … ein … ein Raed? Könnte es ein … Kriegsrat sein?«

»Heutzutage«, erwiderte der Musikant, und erneut war sein Gesicht düster, »heutzutage dürfte jede Ratsversammlung in Naglimund ein Kriegsrat sein.«


Sie gingen auf der Festungsmauer entlang.

»Ich bin überrascht«, bemerkte Sangfugol, »daß mein Gebieter dich trotz der großen Dienste, die du ihm erwiesen hast, noch nicht zur Audienz berufen hat.«

»Ich bin heute morgen erst aus dem Bett aufgestanden«, antwortete Simon. »Außerdem hat er mich vielleicht gar nicht erkannt … auf einer dunklen Lichtung, neben einem sterbenden Riesen, in dem ganzen Durcheinander.«

»Vermutlich hast du recht«, sagte der Harfner und hielt seine Mütze fest, die sich nach Kräften bemühte, mit dem Wind davonzufliegen.

Trotzdem, dachte Simon, wenn Marya ihm die Botschaft der Prinzessin überbracht hat, sollte sie doch wohl ihre Gefährten erwähnt haben. Ich kann nicht glauben, daß sie uns einfach vergißt.

Aber er mußte gerecht sein: Welches Mädchen, das plötzlich aus einer feuchten und gefährlichen Wildnis gerettet wird, würde seine Zeit nicht lieber mit den Edelleuten der Burg verbringen als mit einem mageren Küchenjungen?

»Ihr habt nicht zufällig das Mädchen Marya gesehen, das mit uns hierher kam?« erkundigte er sich.

Sangfugol schüttelte den Kopf. »Jeden Tag kommen neue Leute zum Tor herein. Und nicht nur solche, die von den Höfen und aus den Dörfern der Umgebung zu uns fliehen. Gestern nacht trafen die Vorreiter von Prinz Gwythinn von Hernystir ein, auf schäumenden Rossen. Der Prinz und sein Gefolge müßten heute abend ankommen. Seit einer Woche ist Herr Ethelferth von Tinsett hier, mit zweihundert Männern. Gleich nach ihm kam Baron Ordmaer mit hundert Männern aus Utersall. Andere Adlige aus der ganzen Gegend finden sich mit ihrem Aufgebot ein. Die Jagd hat begonnen, Simon, auch wenn Ädon allein weiß, wer hier wen jagt.«

Sie hatten den Nordostturm der Mauer erreicht. Sangfugol grüßte lässig den jungen Soldaten, der hier patrouillierte. Hinter seiner graugekleideten Schulter ragte die Masse des Weldhelms auf; die schweren Berge schienen zum Greifen nah.

»Aber auch wenn er sehr beschäftigt ist«, begann der Harfner noch einmal, »es kommt mir nicht richtig vor, daß er dich noch nicht empfangen hat. Macht es dir etwas aus, wenn ich ein Wort für dich einlege? Ich soll heute beim Abendessen für ihn spielen.«

»Sicher würde ich gern mit ihm sprechen, ja. Ich hatte große Angst um seine Sicherheit. Und mein Herr gab sehr viel dafür, daß der Prinz hierher, in seine Heimat, zurückkehren konnte.«

Simon war selbst erstaunt über den leichten Unterton von Bitterkeit in seiner Stimme. Er hatte sie nicht absichtlich so klingen lassen, aber immerhin hatte er einiges durchgemacht; zudem war er es gewesen und kein anderer, der Josua gefunden hatte, als er zusammengeschnürt dagehangen hatte wie ein Fasan über der Tür einer Kätnerhütte.

Der Unterton in seiner Bemerkung war auch Sangfugol nicht entgangen; er warf Simon einen aus Mitgefühl und Belustigung gemischten Blick zu.

»Ich verstehe. Allerdings würde ich empfehlen, es dem Prinzen nicht ganz in dieser Form vorzutragen. Er ist ein stolzer, schwieriger Mann, Simon, aber ich bin überzeugt, daß er dich nicht vergessen hat. Du weißt ja, daß unsere Lage hier in letzter Zeit ziemlich schlecht war, fast so unangenehm wie auf deiner eigenen Reise.«

Simon hob das Kinn und starrte auf die Berge, den seltsamen Schimmer der windzerzausten Bäume. »Ich weiß«, sagte er. »Wenn er mich empfangen kann, soll es mir eine Ehre sein. Wenn nicht … nun, dann hat es eben nicht sein sollen.«

Der Harfner grinste träge, und seine mutwilligen Augenwinkel senkten sich. »Eine stolze und gerechte Rede. Nun komm, ich will dir die Nägel von Naglimund zeigen.«


Am hellen Tag war der Anblick wirklich erstaunlich. Das Feld glänzender Pfähle begann wenige Ellen vom Graben entfernt unterhalb der Ostmauer der Burg, zog sich schräg den Hang hinauf und erstreckte sich etwa eine Viertelmeile weit bis unmittelbar an den Fuß des Gebirges. Die Pfähle waren in symmetrischen Reihen aufgestellt, als läge dort eine Legion von Speerkämpfern begraben, von denen nur noch die Waffen aus dem dunklen Boden ragten, um zu zeigen, wie gewissenhaft sie Wache hielten. Die Straße, die sich von einer klaffenden Höhle in der westlichen Flanke des Berges herunterschlängelte, wand sich zwischen den Reihen hin und her, voller Kurven wie der Weg einer Schlange, und endete schließlich vor dem schweren Osttor von Naglimund.

»Und das hat Wie-heißt-er-doch-gleich alles bauen lassen, nur weil er Angst vor den Sithi hatte?« fragte Simon, verwirrt von der seltsamen, silbrigdunklen Saat, die da vor ihm sproß.

»Warum hat er sie nicht einfach oben auf die Mauer gesetzt?«

»Herzog Aeswides war sein Name. Er war der hiesige Statthalter von Nabban und verstieß gegen die alten Bräuche, als er seine Burg auf Sithiland stellte. Und warum nicht auf den Mauern – nun, vermutlich fürchtete er, sie könnten einen Weg finden, doch irgendwie darüber hinwegzukommen oder vielleicht darunter durchzukriechen. So, wie er die Pfähle anordnete, hätten sie mitten hindurch gemußt. Du hast nicht einmal die Hälfte gesehen, Simon – früher schossen sie auf allen Seiten aus dem Boden wie Pilze!« Sangfugol breitete mit umfassender Gebärde die Arme aus.

»Und was taten die Sithi?« erkundigte sich Simon. »Versuchten sie ihn anzugreifen?«

Sangfugol runzelte die Stirn. »Nicht, daß ich wüßte. Du solltest wirklich den alten Vater Strangyeard danach fragen. Er ist hier der Archivar und Historiker.«

Simon lächelte. »Ich kenne ihn.«

»Interessanter alter Schlurfer, wie? Er hat mir einmal erzählt, daß die Sithi diesem Ort hier, nachdem die Burg gebaut war, einen Namen gaben … nämlich … Verdammt, ich als Balladensänger sollte diese alten Geschichten doch im Kopf haben! Jedenfalls bedeutete der Name, den sie dafür hatten, so etwas wie ›Falle-die-den-Jäger-fängt‹… so als ob Aeswides sich damit selber eingemauert, sich also in seiner eigenen Falle gefangen hätte.«

»Und war es so? Was wurde aus ihm?«

Sangfugol schüttelte den Kopf, wobei er fast wieder seine Mütze verloren hätte. »Laß mich hängen, wenn ich's weiß. Wurde wahrscheinlich alt und starb hier. Ich glaube nicht, daß sich die Sithi viel um ihn kümmerten.«


Sie brauchten eine Stunde, um ihren Rundgang zu vollenden. Längst war der Bierkrug geleert, den Sangfugol mitgebracht hatte, um das Essen hinunterzuspülen; aber der Harfner hatte vorsorglich noch einen Weinschlauch beschafft und sie so vor einem trockenen Marsch gerettet. Sie lachten – Sangfugol brachte Simon gerade ein unanständiges Lied über eine Edelfrau aus Nabban bei –, als sie wieder an das Haupttor und die hinunterführende Wendeltreppe kamen. Beim Verlassen des Torhauses fanden sie sich inmitten einer wimmelnden Menge von Arbeitern und Soldaten. Von den letzteren waren die meisten gerade nicht im Dienst, nach der Unordnung ihrer Kleider zu urteilen. Alles johlte und drängelte; schon bald fand sich Simon zwischen einem dicken Mann und einem bärtigen Wachsoldaten eingekeilt.

»Was geht hier vor?« rief er zu Sangfugol hinüber, der vom Sog der Menge ein kleines Stück von ihm weggeschwemmt worden war.

»Ich weiß es nicht genau«, rief der andere zurück. »Vielleicht ist Gwythinn von Hernystir angekommen.«

Der dicke Mann hob das rote Gesicht zu Simon auf. »Nee, is' er nicht«, bemerkte er vergnügt. Sein Atem stank nach Bier und Zwiebeln. »Es is' wegen dem Riesen da, den wo der Prinz erledigt hat.« Er zeigte auf den Scheiterhaufen, der immer noch nackt und kahl am Rande des Angers stand.

»Aber ich sehe keinen Riesen«, meinte Simon.

»Sie holen ihn grade«, erklärte der Mann. »Bin nur mit den andern hergekommen, damit ich ihn auch wirklich seh. Der Sohn von meiner Schwester war einer von den Treibern – hat mitgeholfen, die Teufelsbestie zu schnappen!« fügte er voller Stolz hinzu.

Jetzt flutete eine neue Lärmwelle durch die Menge. Irgend jemand ganz vorn konnte etwas sehen, das eilig an alle weniger günstig Stehenden weitergemeldet wurde. Hälse wurden gereckt und Kinder auf die Schultern geduldiger Mütter mit schmutzigen Gesichtern gehoben.

Simon blickte sich um. Sangfugol war verschwunden. Er stellte sich auf die Zehen und bemerkte, daß nur wenige in der Menge so groß waren wie er. Ohne Schwierigkeiten konnte er hinter dem Scheiterhaufen die bunten Seidenstoffe eines Zeltes oder Sonnendaches und davor die leuchtenden Farben der Kleider einiger Höflinge aus der Burg erkennen, die auf Hockern saßen und sich miteinander unterhielten, wobei sie mit flatternden Ärmeln gestikulierten wie glitzernde Vögel auf einem Ast.

Simon suchte die Gesichter ab, um vielleicht einen Blick auf Marya zu erhaschen – vielleicht hatte sie schon wieder eine Edeldame gefunden, die ihre Dienste in Anspruch nehmen wollte; denn es war bestimmt viel zu unsicher für sie, zu der Prinzessin auf den Hochhorst – oder wo sie sonst sein mochte – zurückzugehen. Aber keines der Gesichter war das ihre, und bevor er an einer anderen Stelle der Menschenmenge nach ihr suchen konnte, erschien in einem der Torbögen der Innenmauer eine Reihe Bewaffneter.

Jetzt begann die Menge ernstlich zu murmeln, denn dem ersten halben Dutzend Soldaten folgte ein Pferdegespann, das einen hochgebauten, hölzernen Karren zog. Simon wurde es sekundenlang flau im Magen, aber er verdrängte es. Sollte ihm denn jedesmal übel werden, wenn ein Wagen an ihm vorüberknarrte?

Als die Räder knirschend zum Halten kamen und die Soldaten sich daran machten, das bleiche Etwas abzuladen, das sich oben auf der Ladefläche des Karrens krümmte, fiel Simons Blick auf der anderen Seite, jenseits des aufgeschichteten Holzstoßes, dort, wo die Edelleute standen, auf krähenschwarzes Haar und weiße Haut. Aber als er genauer hinsah, voller Hoffnung, es könnte Marya sein, hatten die lachenden Höflinge ihre Reihen schon wieder geschlossen, und es war nichts mehr zu sehen.

Acht ächzende Wachsoldaten waren nötig, um den Balken zu heben, an dem der Leichnam des Riesen hing wie ein Hirsch aus dem Jagdrevier des Königs, und selbst dann mußten sie ihn vom Karren erst einmal zu Boden gleiten lassen, bevor sie die Schultern einigermaßen bequem unter den Balken brachten. Man hatte das Geschöpf an Knien und Ellenbogen festgebunden; als es mit dem Rücken auf den Boden stieß, schwankten die gewaltigen Hände durch die Luft. Die Menge, die sich begierig vorwärtsgedrängt hatte, wich unter Ausrufen der Furcht und des Abscheus zurück.

Das Wesen machte jetzt einen menschenähnlicheren Eindruck, dachte Simon, als im Wald der Steige, als es hoch vor ihm aufragte. Die Haut des dunklen Gesichtes war im Tode schlaff geworden, das drohende Knurren verschwunden, und die Züge trugen die ratlose Miene eines Mannes, der unerklärliche Nachrichten erhält. Wie Strangyeard gesagt hatte, trug der Riese ein Gewand aus grobem Tuch um die Mitte. Ein Gürtel aus rötlichen Steinen schleifte im Staub des Angers.

Der dicke Mann neben Simon, der die Soldaten angefeuert hatte, schneller zu marschieren, warf ihm einen fröhlichen Blick zu.

»Und weißt du, was er um den Hals gehabt hat?« fragte er. Simon, auf beiden Seiten eingezwängt, schüttelte den Kopf. »Schädel!« rief der Mann so zufrieden, als hätte er sie selber dem toten Riesen geschenkt. »Wie'n Halsband hat er sie getragen. Gibt ihnen ein ädonitisches Begräbnis, der Prinz – obwohl kein Schwein weiß, wem sie mal gehört haben.« Er wandte sich wieder dem Schauspiel zu.

Inzwischen hatten mehrere andere Soldaten die Spitze des Scheiterhaufens erklettert und halfen den Trägern, den schweren Körper zurechtzulegen. Als sie ihn mühsam so zurechtgerückt hatten, daß der Riese ganz oben und auf dem Rücken lag, zogen sie den Pfahl zwischen den gekreuzten Armen und Beinen heraus und stiegen dann alle zusammen nach unten. Als der letzte Mann heruntersprang, rutschte der große Körper ein Stückchen nach vorn, und die plötzliche Bewegung ließ eine Frau aufschreien. Mehrere Kinder fingen an zu heulen. Ein Offizier im grauen Mantel schrie einen Befehl. Einer der Soldaten beugte sich vor und stieß eine Fackel tief in die Strohbündel hinein, die man rund um den Holzstoß gelegt hatte. Die Flammen, in der späten Nachmittagssonne merkwürdig farblos, begannen um das Stroh zu züngeln und auf der Suche nach kräftigerer Nahrung in die Höhe zu greifen. Rauchfahnen umwehten die Gestalt des Riesen, und sein zottiger Pelz wehte im Luftzug wie trockenes Sommergras.

Da! Simon hatte sie wieder gesehen, dort drüben hinter dem Scheiterhaufen.

Bei dem Versuch, sich vorwärtszudrängen, rannte ihm jemand, der um seinen guten Aussichtsplatz kämpfte, einen spitzen Ellenbogen in die Rippen. In ohnmächtigem Zorn blieb er stehen und starrte die Stelle an, an der er sie entdeckt zu haben glaubte.

Und dann sah er sie wirklich und erkannte, daß es nicht Marya war. Diese Schwarzhaarige, in einen düsteren, wundervoll genähten Mantel gehüllt, war gewiß zwanzig Jahre älter. Aber schön war sie, sehr schön, mit einer Haut wie Elfenbein und großen, schrägen Augen.

Während Simon sie so betrachtete, schaute sie ihrerseits auf den brennenden Riesen, dessen Haare sich jetzt zu kräuseln und schwarz zu werden begannen, als das Feuer den Hügel aus Fichtenstämmen immer höher hinaufstieg. Rauch wallte auf und bildete einen Vorhang, der sie vor Simons Blicken verbarg; er fragte sich, wer sie wohl sein mochte und warum sie, während überall ringsum das Volk von Naglimund johlte und die Fäuste nach der Rauchsäule reckte, mit so traurigen, zornigen Augen in die Flammen starrte.

XXXI Der Rat des Prinzen

Obwohl er bei seinem Spaziergang mit Sangfugol über die Burgmauern ziemlichen Hunger gehabt hatte, stellte Simon fest, daß dieser Appetit verschwunden war, als Vater Strangyeard zu ihm kam, um ihn in die Küche zu führen und damit – leicht verspätet – einzulösen, was er am Morgen versprochen hatte. Der Gestank der nachmittäglichen Verbrennung haftete noch immer in seiner Nase; als er hinter dem Burgarchivar hertrottete, konnte er den klebrigen Rauch fast noch am Körper spüren.

Nachdem Simon ziemlich lustlos in einem Teller mit Brot und Wurst herumgestochert hatte, den eine gestrenge Küchenfrau barsch vor ihn hingestellt hatte, gingen die beiden wieder über den nebligen Burganger zurück, und Strangyeard tat sein Bestes, um ein Gespräch in Gang zu halten.

»Vielleicht bist du einfach … einfach müde, Junge. Ja, das wird es sein. Dein Appetit wird bestimmt bald zurückkehren. Junge Leute haben immer Hunger.«

»Gewiß habt Ihr recht, Vater«, entgegnete Simon. Er war tatsächlich müde, und manchmal war es einfacher, wenn man nur beipflichtete, anstatt lange Erklärungen abzugeben. Außerdem wußte er selber nicht recht, warum er sich so erschöpft und leer fühlte.

So wanderten sie eine Weile durch den dämmrigen Innenbereich der Burg, bis der Priester endlich sagte: »Ach … was ich dich noch fragen wollte … ich hoffe, du hältst mich nicht für gierig…«

»Ja?«

»Nun … Binbines … das heißt, Binabik … er hat mir von einem … einem gewissen Manuskript erzählt. Einer Handschrift von Doktor Morgenes von Erchester. So ein großer Mann, solch tragischer Verlust für die Gelehrtengemeinde…«

Strangyeard schüttelte sorgenvoll den Kopf und vergaß dann anscheinend, wonach er gefragt hatte, denn er legte in trübem Sinnen mehrere weitere Schritte zurück. Endlich fühlte Simon sich veranlaßt, das Schweigen zu brechen.

»Doktor Morgenes' Buch?« half er ein.

»Oh! Ach ja … nun, worum ich dich bitten wollte … und bestimmt ist es zuviel verlangt … Binbines hat gesagt, das Manuskript sei gerettet, du hättest es mitgebracht … in deinem Rucksack.«

Simon verbarg ein Lächeln. Der Mann brauchte ja ewig! »Ich weiß nicht, wo der Rucksack ist.«

»Oh, der liegt unter meinem Bett – beziehungsweise derzeit deinem Bett. Das heißt, dein Bett, solange du es haben willst. Ich habe gesehen, wie einer der Männer aus dem Gefolge des Prinzen ihn dorthin gelegt hat. Ich habe ihn nicht angerührt, das versichere ich dir!« beeilte er sich hinzuzufügen.

»Möchtet Ihr es lesen?« Die Ernsthaftigkeit des alten Mannes rührte Simon. »Tut es unbedingt. Ich bin zu müde, um es mir jetzt anzuschauen. Außerdem bin ich überzeugt, daß der Doktor es lieber von einem gelehrten Mann gewürdigt sehen würde, und das bin ich gewiß nicht.«

»Wirklich?« Strangyeard machte einen ganz geblendeten Eindruck und fingerte nervös an seiner Augenklappe. Er sah aus, als würde er sie gleich herunterreißen und mit einem Freudenjauchzer in die Lüfte werfen. Aber es kam nur ein »Oh, das wäre herrlich« über seine Lippen, während er um Fassung rang.

Simon war ein wenig unbehaglich zumute. Schließlich hatte der Archivar ihm seine eigene Kammer geräumt, damit Simon, ein Fremder, darin wohnen konnte. Es war Simon peinlich, daß ihm der andere so dankbar war.

Nun ja, entschied er, er dankt ja nicht mir, denke ich, sondern dem Glück, daß er Morgenes' Werk über König Johan lesen darf. Der Mann liebt eben Bücher wie Rachel Wasser und Seife.

Sie hatten das niedrige Gebäude mit den Kammern an der Südmauer fast erreicht, als eine Gestalt vor ihnen auftauchte – ein Mann, der im Nebel und dem rasch schwindenden Licht nicht zu erkennen war. Ein leises, bimmelndes Geräusch ging von ihm aus, als er näherkam.

»Ich will zu Strangyeard, dem Priester«, erklärte er, und seine Stimme schwankte mehr als nur ein wenig. Er schien zu taumeln, und wieder ertönte das klingelnde Geräusch.

»Der ist ich«, sagte Strangyeard etwas lauter als gewöhnlich, »ähem … das heißt, ich bin er. Was begehrt Ihr?«

»Ich suche einen gewissen jungen Mann«, antwortete der andere und kam ein paar weitere Schritte auf sie zu. »Ist er das?«

Simon spannte die Muskeln an, konnte jedoch nicht umhin zu bemerken, daß der Herannahende nicht besonders groß war. Außerdem war da etwas an seinem Gang…

»Ja«, sagten Simon und Strangyeard gleichzeitig, dann verstummte der Priester und zupfte zerstreut am Band seiner Augenklappe, während Simon fortfuhr: »Ich bin es. Was wünscht Ihr?«

»Der Prinz will dich sprechen«, erwiderte die kleine Gestalt, kam bis auf wenige Fuß heran und spähte zu Simon hinauf. Er bimmelte sanft vor sich hin.

»Strupp!« rief Simon beglückt. »Strupp! Was tut Ihr hier?« Er streckte die Arme aus und ergriff die Schultern des Alten.

»Wer bist du denn?« fragte der Narr verblüfft. »Kenne ich dich?«

»Ich weiß nicht – ich bin Simon! Der Lehrling von Doktor Morgenes. Vom Hochhorst!«

»Hmmm«, meinte der Narr nachdenklich. Aus der Nähe roch er nach Wein. »Vermutlich … es kommt mir alles so trübe vor, Junge, trübe. Strupp wird alt, wie der alte König Tethtain – mit schneebedecktem Haupte und verwittert wie der ferne Berg Minari.« Er kniff die Augen zusammen. »Und ich habe nicht mehr so scharfe Augen für Gesichter wie einst. Bist du es, den ich zu Prinz Josua bringen soll?«

»Ich nehme es an.« Simons Stimmung hatte sich gehoben. »Sangfugol muß ihm etwas gesagt haben.« Er wandte sich Vater Strangyeard zu. »Ich muß mit ihm gehen. Ich habe den Rucksack nicht angefaßt – wußte gar nicht, daß er dort war.«

Der Archivar murmelte etwas Anerkennendes und schlurfte davon, um nach seinem Herzenswunsch zu suchen. Simon nahm den alten Narren beim Ellenbogen, und die beiden schlugen wieder den Weg über den Burganger ein.

»Puh«, sagte Strupp zitternd, und wieder klingelten die Glöckchen an seiner Jacke. »Die Sonne stand heute hoch, aber der Abendwind ist bitter. Schlechtes Wetter für alte Knochen – keine Ahnung, wieso Josua mich geschickt hat.« Er stolperte leicht und stützte sich einen Moment auf Simons Arm. »Aber das stimmt eigentlich doch nicht«, fuhr er fort, »denn ich weiß, daß er mir gern etwas zu tun gibt. Für meine Narreteien und Kunststücke hat er nicht viel übrig, weißt du, aber ich glaube, er sieht mich nicht gern müßig.«

Eine Weile gingen sie wortlos weiter.

»Wie seid Ihr nach Naglimund gekommen?« erkundigte Simon sich endlich.

»Letzter Wagenzug auf der Weldhelm-Straße. Elias hat sie jetzt geschlossen, der Hund. Und eine schlimme Reise ist es gewesen – mußten uns nördlich von Flett gegen Räuber wehren. Es fällt alles in Scherben, Junge. Geht alles kaputt.«

Die Wachen an der Tür der Königshalle musterten sie sorgfältig im flackernden Fackelschein und klopften dann an die Tür, damit von innen aufgeriegelt wurde. Simon und der Narr stapften durch den kalten, mit Steinplatten belegten Gang, bis sie an eine zweite, schwere Balkentür mit zwei weiteren Wächtern kamen.

»Hier ist es, Junge«, erklärte Strupp. »Ich gehe ins Bett, bin gestern abend spät zum Schlafen gekommen. Es tut gut, ein bekanntes Gesicht zu sehen. Besuch mich bald einmal und trink ein Krüglein mit mir und erzähl, was du so getrieben hast – ja?« Er drehte sich um und ging unsicher den Korridor hinunter. Die bunten Flicken seines Narrenkleides schimmerten matt, bis ihn die Schatten verschluckten.

Simon trat zwischen die Wächter, die keine Miene verzogen, und klopfte an die Tür.

»Wer ist da?« fragte eine Knabenstimme.

»Simon vom Hochhorst für den Prinzen.«

Die Tür schwang lautlos nach innen, und ein ernsthaft blickendes, etwa zehnjähriges Kind in Pagentracht wurde sichtbar. Es trat zur Seite, und Simon schritt an ihm vorbei in einen durch Vorhänge abgetrennten Vorraum.

»Komm weiter«, ertönte eine gedämpfte Stimme. Nach kurzer Suche fand er den hinter einem Vorhang versteckten Eingang.

Es war ein karger Raum, kaum besser eingerichtet als Vater Strangyeards Kammer. Prinz Josua saß in Schlafrock und Nachtmütze am Tisch und hielt mit dem Ellenbogen eine Schriftrolle offen. Er sah nicht auf, als Simon eintrat, sondern wies mit der Hand auf einen Stuhl.

»Bitte setz dich«, sagte er und unterbrach damit Simon mitten in einer tiefen Verbeugung. »Ich bin sofort fertig.«

Als Simon auf dem harten, ungepolsterten Stuhl Platz nahm, bemerkte er im Hintergrund des Raumes eine Bewegung. Eine Hand zog dort den Vorhang beiseite, so daß ein Splitter Lampenlicht sichtbar wurde. Ein Gesicht erschien, dunkeläugig, von dichtem, schwarzem Haar umrahmt – die Frau, die er im Burghof gesehen hatte, als sie der Verbrennung zusah. Sie starrte gebannt auf den Prinzen, aber als sie aufschaute, begegnete ihr Blick Simons und hielt ihn fest. Sie hatte die zornigen Augen einer in die Enge getriebenen Katze. Der Vorhang fiel wieder zurück.

Beunruhigt überlegte Simon einen Moment, ob er Josua etwas sagen sollte. Eine Spionin? Eine Meuchelmörderin? Dann wurde ihm klar, warum sich die Frau im Schlafgemach des Prinzen aufhielt, und er kam sich äußerst töricht vor.

Josua blickte zu dem errötenden Simon auf und ließ die Schriftrolle los, die sich sofort auf dem Tisch vor ihm zusammenrollte. »Nun denn, vergib mir. Ich bin gedankenlos gewesen. Ich hoffe, du verstehst, daß ich den, der mir zur Flucht aus der Gefangenschaft verholfen hat, gewiß nicht kränken wollte.«

»Ihr … Ihr braucht Euch nicht zu entschuldigen, Hoheit«, stotterte Simon.

Josua spreizte mit schmerzverzogenem Gesicht die Finger der linken Hand. Simon erinnerte sich an Sangfugols Worte und fragte sich, wie es wohl sein mochte, wenn man eine Hand verlor.

»Bitte. In diesem Zimmer ›Josua‹ – ›Prinz Josua‹, wenn es unbedingt sein muß. Als ich bei den Usires-Brüdern in Nabban studierte, nannten sie mich ›Meßdiener‹ oder ›Junge‹. Ich glaube nicht, daß ich es seitdem sehr weit gebracht habe.«

»Jawohl, Herr.«

Josuas Augen huschten fort, wieder zu seinem Schreibtisch. In diesem Augenblick des Schweigens betrachtete ihn Simon genauer. Eigentlich machte er keinen wesentlich prinzlicheren Eindruck als damals, als Simon ihn mit seinen Ketten in Morgenes' Wohnung gesehen hatte. In seinen Nachtgewändern, die hohe, blasse Stirn nachdenklich gerunzelt, sah er eher nach einem Archivarkollegen von Vater Strangyeard aus als nach einem Prinzen von Erkynland oder einem Sohn von Johan dem Priester.

Josua stand auf und griff zu seiner Schriftrolle.

»Die Aufzeichnungen des alten Dendinis.« Er klopfte sich damit auf das rechte Handgelenk, das in einer ledernen Hülle steckte. »Aeswides Festungsbaumeister. Wußtest du, daß Naglimund niemals bei einer Belagerung eingenommen wurde? Als Fingil von Rimmersgard vom Norden herunterzog, mußte er zweitausend Mann abstellen, die diese Burg abriegelten, damit seine Flanke geschützt blieb.« Wieder klopfte er. »Dendinis hat gute Arbeit geleistet.«

Eine Pause entstand, die Simon endlich unbeholfen ausfüllte. »Es ist eine mächtige Festung, Prinz Josua.«

Der Prinz warf die Rolle auf den Tisch und kniff die Lippen zusammen wie ein Geizhals, der seine Steuern abzählt. »O ja … aber selbst eine mächtige Festung kann man aushungern. Unsere Nachschublinien sind unmöglich lang, und von wo können wir Hilfe erwarten?« Josua blickte Simon an, als erwarte er eine Antwort, aber der Junge konnte nur glotzen, ohne daß ihm auch nur ein Sterbenswort dazu einfiel. »Vielleicht bringt uns ja Isgrimnur ermutigende Nachrichten mit«, fuhr der Prinz fort, »vielleicht aber auch nicht. Im Süden verbreitet sich das Gerücht, daß mein Bruder ein großes Heer aufstellt.« Josua starrte auf den Fußboden, dann sah er plötzlich auf. Seine Augen waren hell und eindringlich. »Noch einmal, vergib mir. Ich stelle seit einiger Zeit fest, daß ich voller dunkler Gedanken bin und meine Worte dem Verstand davonlaufen. Von großen Schlachten zu lesen ist eine Sache, weißt du, der Versuch, selbst welche zu planen, eine ganz andere. Hast du eine Vorstellung, woran man dabei alles denken muß? Die Truppen mustern, Menschen und ihr Vieh in die Burg bringen, Proviant auftreiben, die Mauern verstärken … und das alles bleibt sinnlos, wenn niemand in Elias' Rücken kämpfen will. Wenn wir allein stehen, werden wir lange standhalten … aber am Ende werden wir doch fallen.«

Simon war bestürzt. Es schmeichelte ihm, daß Josua so offen mit ihm redete, aber es war auch etwas Erschreckendes an einem Prinzen, der so voll trüber Vorahnungen steckte, einem Prinzen, der bereit war, mit einem Knaben zu sprechen wie zu seinem eigenen Kriegsrat. »Nun ja«, bemerkte Simon endlich, »nun ja … bestimmt geschieht alles, wie Gott es will.« Kaum hatte er die Worte herausgebracht, als er sich selbst für soviel Dummheit haßte.

Josua lachte nur, ein mürrisches Lachen. »Ah, erwischt von einem bloßen Knaben, wie Usires auf dem berühmten Dornbusch. Du hast recht, Simon. Solange wir atmen, hoffen wir, und dafür habe ich dir zu danken.«

»Nur zum Teil, Prinz Josua.« Hörte sich das undankbar an, fragte sich Simon.

Der winterliche Ausdruck kehrte auf die strengen Züge des Prinzen zurück. »Ich habe von dem Doktor gehört. Ein harter Schlag für uns alle, aber ganz sicher noch grausamer für dich. Seine Weisheit wird uns fehlen – auch seine Güte, aber seine Weisheit noch mehr. Ich hoffe, daß andere einen Teil der Lücke füllen können.« Josua zog sich den Stuhl wieder heran und beugte sich vor. »Es wird ein Raed stattfinden, und wie ich glaube, schon bald. Gwythinn, Lluth von Hernystirs Sohn, kommt heute abend. Andere warten schon seit mehreren Tagen. Von unseren Beschlüssen hängen viele Pläne ab, viele Leben.« Josua nickte langsam und sinnend mit dem Kopf.

»Lebt … lebt Herzog Isgrimnur, Prinz?« fragte Simon. »Auf meiner Reise hierher habe ich eine Nacht bei ihm und seinen Männern verbracht, aber ich habe sie dann … wieder verlassen.«

»Er und seine Männer waren vor Tagen hier, um Kraft zu schöpfen für ihren Weiterritt nach Elvritshalla. Deshalb kann ich nicht auf sie warten – sie können Wochen brauchen.« Wieder wandte er den Blick ab.

»Kannst du ein Schwert führen, Simon?« erkundigte er sich unvermittelt. »Bist du damit ausgebildet worden?«

»Eigentlich nicht, Herr.«

»Dann geh zum Hauptmann der Wache. Er soll dich jemandem zuteilen, der mit dir arbeitet. Ich denke, wir werden jeden Arm brauchen, vor allem, wenn er stark und jung ist.«

»Natürlich, Prinz Josua«, antwortete Simon.

Der Prinz stand auf und ging wieder an seinen Tisch, wobei er Simon den Rücken zukehrte, als sei die Audienz beendet. Simon saß starr auf seinem Stuhl. Er wollte noch eine weitere Frage stellen, wußte jedoch nicht, ob es angebracht war. Endlich stand er ebenfalls auf und ging langsam rückwärts nach der Türöffnung hinter den Vorhängen. Josua starrte noch immer auf Dendinis' Schriftrolle. Nur noch ein Schritt trennte Simon vom Ausgang, als er stehenblieb, die Schultern straffte und die Frage aussprach, die ihm die ganze Zeit im Kopf herumgegangen war.

»Prinz Josua, Herr«, begann er, und der hochgewachsene Mann sah sich über die Schulter nach ihm um.

»Ja?«

»Hat … hat das Mädchen Marya … das Mädchen, das Euch die Botschaft Eurer Nichte Miriamel brachte…« Er holte Atem. »Wißt Ihr, wo sie ist?«

Josua hob eine Augenbraue. »Selbst in unseren dunkelsten Tagen kommen wir nicht von ihnen los, wie?« Der Prinz schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, ich kann dir da nicht helfen, junger Mann. Gute Nacht.«

Simon verneigte sich und entfernte sich rückwärts durch den Vorhang.

Auf dem Rückweg von dieser verwirrenden Audienz beim Prinzen fragte sich Simon, was wohl aus ihnen allen werden würde. Es war ihm als so großer Sieg vorgekommen, daß sie Naglimund erreicht hatten. Wochenlang hatte er kein anderes Ziel gekannt, war keinem anderen Stern gefolgt. Seit er seine Heimat verlassen mußte, hatte er sich allein darauf konzentriert und so die weit größeren Fragen zurückgedrängt. Nun war aus dem, was im Vergleich zu der wilden Reise wie ein Paradies an Sicherheit ausgesehen hatte, plötzlich nur eine neue Falle geworden. Josua hatte es mehr oder weniger unverhüllt ausgesprochen: Wenn man sie nicht besiegte, würde man sie aushungern.

Als er in Strangyeards kleiner Kammer angekommen war, kroch er sofort ins Bett, aber noch zweimal hörte er die Posten die Stunde rufen, bevor er einschlief.


Noch ganz benommen hörte Simon es an die Tür klopfen und öffnete, um einen grauen Morgen, eine große Wölfin und einen Troll vor sich zu sehen.

»Ich bin erschreckt, dich im Bett zu finden!« Binabik grinste unverschämt. »Nur ein paar Tage aus der Wildnis heraus, und schon hat die Zivilisation ihre Krallen der Faulheit in dich geschlagen!«

»Ich bin nicht« – Simon runzelte die Stirn – »im Bett. Nicht mehr. Aber warum bist du nicht dort?«

»Im Bett?« fragte Binabik, stapfte langsam ins Zimmer hinein und stieß die Tür mit der Hüfte zu. »Es geht mir besser – oder jedenfalls einigermaßen. Dinge müssen getan werden.« Er sah sich mit schmalen Augen um, während Simon auf den Rand seines Lagers zurücksank und die eigenen unbeschuhten Füße betrachtete. »Weißt du, wo der Rucksack ist, den wir gerettet haben?« erkundigte der Troll sich endlich.

»Urrh«, grunzte Simon und machte eine Handbewegung in Richtung Fußboden. »Er war unter dem Bett, aber ich glaube, Vater Strangyeard hat ihn genommen, um sich Morgenes' Buch zu holen.«

»Wahrscheinlich liegt er noch dort«, meinte Binabik und ließ sich vorsichtig auf Hände und Knie nieder. »Der Priester scheint mir ein Mensch zu sein, der zwar Leute vergißt, aber Dinge, sobald er sie nicht mehr braucht, an ihren Platz zurückstellt.« Er krabbelte unter das Bett. »Aha! Da ist er ja.«

»Ist das nicht schlecht für deine Wunde?« fragte Simon, der sich schuldig fühlte, weil er sich nicht erboten hatte, selber nachzusehen. Binabik kroch rückwärts wieder hervor und stand auf – sehr achtsam, wie Simon bemerkte.

»Trolle haben schnelle Heilung«, erklärte er und grinste breit. Trotzdem machte Simon sich Sorgen.

»Ich glaube nicht, daß du schon aufstehen und herumlaufen solltest«, meinte er, während Binabik den Rucksack durchsuchte. »So wirst du nicht gesund.«

»Eine wunderbare Trollmutter gäbest du ab«, bemerkte Binabik, ohne aufzublicken. »Möchtest du mir nicht auch mein Fleisch vorkauen? Quinkipa! Wo sind nur diese Knöchel?«

Simon ging in die Knie und suchte seine Stiefel – was sich als schwierig erwies, weil die Wölfin ständig in der engen Kammer hin und her lief.

»Kann Qantaqa nicht draußen warten?« fragte er, als sie ihn zum wiederholten Mal mit der breiten Flanke anstieß.

»Deine beiden Freunde werden sich mit Vergnügen entfernen, wenn wir dir eine Behinderung bedeuten, Simon«, antwortete der Troll spitz. »Aia! Hier haben sie sich versteckt!«

Der Junge starrte den Troll machtlos an. Binabik war tapfer, klug, freundlich, an Simons Seite verwundet worden – und auch ohne das alles viel zu klein, als daß man ihn hätte verprügeln können. Simon stieß einen Laut des Abscheus und der ohnmächtigen Wut aus und krabbelte zu ihm hinüber.

»Wozu brauchst du die Knochen?« Er spähte über die Schulter des Trolls. »Ist mein Pfeil noch da?«

»Der Pfeil, ja«, erwiderte sein Freund. »Die Knochen? Weil Tage der Entscheidung vor uns liegen und ich ein Narr wäre, auf weisen Rat zu verzichten.«

»Gestern abend hat mich der Prinz holen lassen.«

»Ich weiß.« Binabik schüttelte die Knochen aus ihrem Sack und wog sie in der Hand. »Ich habe heute morgen mit ihm gesprochen. Die Hernystiri sind da. Es wird heute abend eine Ratsversammlung geben.«

»Das hat er dir erzählt?« Simon war einerseits enttäuscht, daß Josua sich nicht nur ihm anvertraut hatte, andererseits aber auch ein wenig erleichtert, daß ein anderer diese Verantwortung mit ihm teilte. »Wirst du daran teilnehmen?«

»Als einziger meines Volkes, der je in den Mauern von Naglimund weilte? Als Lehrling Ookequks, des Singenden Mannes der Mintahoq-Trolle? Natürlich werde ich daran teilnehmen. Und du auch.«

»Ich?« Simon war ganz erschüttert. »Wieso ich? Was im Namen des guten Gottes sollte ich bei einem … Kriegsrat? Ich bin kein Soldat. Ich bin ja noch nicht einmal ein erwachsener Mann!«

»Fest steht jedenfalls, daß du dich auch nicht beeilst, einer zu werden.« Binabik machte ein spöttisches Gesicht. »Aber selbst du kannst das Erwachsenwerden nicht für immer verscheuchen. Außerdem sind deine Jahre hier nicht von Bedeutung. Du hast Dinge gehört und gesehen, die vielleicht wichtig sind, und Josua würde dich dabeihaben wollen.«

»Er würde? Hat er denn nicht nach mir gefragt?« Der Troll pustete sich ungeduldig die Haare aus der Stirn. »Nicht mit Direktheit … aber er hat mich aufgefordert, und ich werde dich mitnehmen. Josua weiß nicht, was du alles gesehen hast.«

»Gottes Blut, Binabik!«

»Bitte fluche mir nicht mit ädonitischen Schwüren! Nur weil du jetzt einen Bart hast … beinahe jedenfalls … macht das noch keinen Mann aus dir, der fluchen müßte. Doch nun gewähre mir ein wenig Stille, um die Knöchel zu werfen; dann habe ich weitere Neuigkeiten für dich.«

Besorgt und voller Unruhe setzte Simon sich wieder. Und wenn sie ihm nun Fragen stellten? Würde man ihn auffordern, vor allen diesen Baronen und Herzögen und Heerführern zu sprechen? Ihn, einen davongelaufenen Küchenjungen?

Binabik summte leise vor sich hin und schüttelte die Knöchel so sanft wie ein Soldat in der Schenke die Würfel. Sie klickten und rollten dann frei über den Schieferboden. Binabik sah nach, wie sie lagen, und warf sie dann noch zweimal. Mit zusammengebissenen Zähnen starrte er auf den letzten Wurf.

»Wolken im Paß…«, meinte er schließlich sinnend. »Flügelloser Vogel … Schwarze Spalte.« Mit der Rückseite seines Ärmels wischte er sich den Mund ab und schlug sich einmal mit dem Handballen auf die Brust. »Was soll ich mit solch einer Geschichte anfangen?«

»Hat es eine Bedeutung?« wollte Simon wissen. »Was sind das für Worte, die du gesagt hast?«

»Es sind die Namen für bestimmte Würfe … bestimmte Muster. Dreimal werfen wir, und jeder Wurf bedeutet etwas anderes.«

»Das … verstehe ich nicht. Kannst du es mir erklären?« fragte Simon und wäre beinahe umgekippt, als Qantaqa sich an ihm vorbeidrängte, um den Kopf auf Binabiks flachen Schenkel zu legen.

»Hier«, begann der Troll, »der erste: Wolken im Paß. Das bedeutet, daß es schwer ist, von dort, wo wir jetzt stehen, in die Ferne zu sehen, daß es aber weiter jenseits davon ganz anders ist als hier.«

»Das hätte ich dir auch sagen können.«

»Schweig, Trolling. Willst du für immer töricht bleiben? Nun denn. Dann kam Flügelloser Vogel. Der zweite Wurf ist etwas, das günstig für uns ist. Hier sieht es so aus, als könne gerade unsere Hilflosigkeit für uns von Nutzen sein, so jedenfalls lese ich es heute aus den Knochen. Das letzte ist dann etwas, vor dem wir uns hüten sollten…«

»Oder fürchten?«

»Oder fürchten«, stimmte Binabik gelassen zu. »Schwarze Spalte – das ist etwas ganz Seltsames, etwas, das ich noch nie für mich geworfen habe. Es könnte Verrat bedeuten.«

Simon holte tief Luft und erinnerte sich. »So wie Falscher Bote

»Wahr. Aber es hat noch andere Bedeutungen … ungewöhnliche Bedeutungen. Mein Meister lehrte mich, daß es auch für Dinge stehen kann, die von anderen Orten kommen, von anderen Seiten zu uns durchbrechen … also bezieht es sich vielleicht auf die Geheimnisse, auf die wir gestoßen sind … die Nornen, deine Träume … begreifst du?«

»Ein bißchen.« Er stand auf, reckte sich und sah sich nach seinem Hemd um. »Und was ist mit deinen anderen Neuigkeiten?«

Der Troll, der gedankenverloren Qantaqas Rücken streichelte, brauchte eine Weile, bis er aufschaute.

»Ach ja«, sagte er dann und griff in seine Jacke. »Ich habe etwas für dich zum Lesen.« Er zog eine flachgedrückte Pergamentrolle hervor und reichte sie Simon hinauf. Der Junge spürte ein Prickeln auf seiner nackten Haut.

Die Schrift war spröde und zierlich zugleich, nur ein paar Worte in der Mitte des entrollten Bogens.

Für Simon

Meinen Dank für deine Tapferkeit auf unserer Reise.

Möge der Gute Gott dir stets Glück gewähren, Freund.

Die Unterschrift bestand aus dem einen Buchstaben M.


»Von ihr«, sagte er langsam. Er wußte nicht, ob er enttäuscht oder beglückt war. »Es ist von Marya, nicht wahr? Ist das alles, was sie dir mitgegeben hat? Hast du sie gesehen?«

Binabik nickte mit dem Kopf. Er sah traurig aus. »Ich habe sie gesehen, aber es war nur für einen Augenblick. Sie hat auch gesagt, vielleicht würden wir sie öfter treffen, aber es gäbe Dinge, die zuerst getan werden müßten.«

»Was für Dinge? Sie macht mich zornig … nein, das meine ich nicht. Ist sie hier in Naglimund?«

»Sie hat mir die Botschaft gegeben, oder nicht?« Binabik kam unsicher auf die Füße, aber Simon war so versunken, daß er gar nicht recht darauf achtete. Sie hatte geschrieben! Sie hatte ihn nicht vergessen!! Andererseits hatte sie nicht gerade viel geschrieben, und besucht hatte sie ihn auch nicht, um mit ihm zu reden, irgend etwas …

Usires rette mich, heißt das, daß ich verliebt bin? fragte er sich plötzlich verwundert. Es war ganz anders in den Balladen, die er gehört hatte – eher ärgerlich als erhebend. Er hatte einmal geglaubt, in Hepzibah verliebt zu sein. Allerdings hatte er viel an sie gedacht, aber diese Gedanken galten vornehmlich ihrem Äußeren, ihrem Gang. Von Marya wußte er zwar auch ganz genau, wie sie aussah, aber genauso oft fragte er sich, was sie dachte.

Was sie denkt! Er war von sich selbst angewidert. Ich weiß nicht einmal, woher sie kommt, geschweige denn, woran sie vielleicht denkt! Ich weiß nicht das Geringste von ihr … und wenn sie etwas für mich übrig hat, dann hat sie sich jedenfalls nicht die Mühe gemacht, es in ihrem Brief zu erwähnen. Und das war weiter nichts als die Wahrheit, er wußte es.

Aber sie hat gesagt, ich sei tapfer. Sie nannte mich Freund. Er blickte vom Pergament auf und sah, daß Binabik ihn scharf betrachtete. Der Troll machte eine düstere Miene, aber Simon wußte nicht, warum.

»Binabik«, begann er, aber dann fiel ihm keine Frage ein, deren Antwort seine trüben Gedanken wieder hätte klären können. »Na schön«, meinte er endlich, »weißt du, wo der Hauptmann der Wache sitzt? Ich muß mir ein Schwert beschaffen.«


Die Luft war feucht, und über ihnen hing ein schwerer, grauer Himmel, als sie nach der äußeren Burganlage gingen. Durch das Tor zur Stadt strömte eine sich drängende Menschenmenge, zum Teil mit Gemüse, Flachs und anderen zum Verkauf bestimmten Waren beladen, während andere windschiefe Karren zogen, auf denen die klägliche Gesamtheit ihrer weltlichen Güter aufgestapelt zu sein schien. Simons Begleiter, der winzige Troll und die gewaltige gelbäugige Wölfin, machten auf diese Ankömmlinge nicht wenig Eindruck. Einige zeigten mit den Fingern und riefen in ihrer bäuerlichen Mundart besorgte Fragen, andere wichen zurück und machten das schützende Zeichen des Baumes auf der in grobes Tuch gehüllten Brust. In allen Gesichtern stand Furcht – Furcht vor dem Andersartigen, Furcht vor den schlimmen Zeiten, die in Erkynland eingezogen waren. Simon war hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, ihnen zu helfen, und dem, ihre schlichten, kummervollen Gesichter nicht ansehen zu müssen.

An dem Wachhaus, einem Teil des Torgebäudes der äußeren Burganlage, verabschiedete sich Binabik, der einen Besuch bei Vater Strangyeard in der Burgbibliothek machen wollte. Gleich darauf stand Simon vor dem Hauptmann der Wache, einem erschöpft und abgekämpft aussehenden jungen Mann, der sich seit Tagen nicht rasiert hatte. Er war barhäuptig und hatte seinen kegelförmigen Helm mit Rechensteinen gefüllt, mit denen er die Aufgebote der fremden Truppen auszählte, die sich nach und nach auf der Burg eingefunden hatten. Man hatte ihm Simon bereits angekündigt. Der Junge fühlte sich recht geschmeichelt, daß der Prinz an ihn gedacht hatte. Der Hauptmann übergab ihn der Betreuung eines bärenhaften Wachsoldaten namens Haestan, der aus dem erkynländischen Norden stammte.

»Noch nicht ganz ausgewachsen, wie?« knurrte Haestan und zupfte sich am lockigen braunen Bart, während er Simons schlaksige Gestalt musterte. »Bogenschütze, denk ich … ja, das wird es sein. Ein Schwert besorgen wir dir auch, aber das wird nicht groß genug sein, um viel auszurichten. Der Bogen … das ist es.«

Gemeinsam gingen sie um die Außenmauer herum und zur Waffenkammer, einem langen, schmalen Raum hinter der hämmernden Schmiede. Als der Waffenwart sie an Reihen zerbeulter Rüstungen und blinder Schwerter vorbeiführte, sah Simon mit Betrübnis auf diesen Bodensatz der Burgbewaffnung, der nur kargen Schutz gegen die schimmernden Legionen bieten konnte, die Elias unzweifelhaft ins Feld führen würde.

»Nicht mehr viel übrig«, bemerkte Haestan. »War von Anfang an zu wenig. Hoffentlich bringen die fremden Hilfstruppen mehr mit als nur Mistgabeln und Pflugscharen.«

Endlich fand der hinkende Waffenwart ein Schwert mit Scheide, das in den Augen des Wachsoldaten die richtige Schlankheit für Simons Größe hatte. Es war mit getrocknetem Öl verkrustet, und der Waffenwart verhehlte nur mühsam ein angewidertes Stirnrunzeln. »Polier es«, sagte er trotzdem, »dann wird es ein Prachtstück.«

Weiteres Suchen förderte einen Langbogen zutage, dem zwar die Sehne fehlte, der aber sonst in ordentlichem Zustand war, sowie einen ledernen Köcher.

»Thrithingsarbeit«, meinte Haestan und zeigte auf die rundäugigen Hirsche und Kaninchen, die in das dunkle Leder geätzt waren. »Feine Köcher machen sie, die Thrithing-Männer.« Simon hatte das Gefühl, daß dem Wachsoldaten das unansehnliche Schwert etwas peinlich war.

Ins Wachhaus zurückgekehrt, entlockte Haestan dem Quartiermeister eine Bogensehne und ein halbes Dutzend Pfeile und zeigte Simon dann, wie er seine neuen Waffen putzen und pflegen sollte.

»Von dir weg wetzen, Junge, von dir weg!« erklärte der stämmige Wachsoldat und ließ die Klinge über den Wetzstein tanzen, »sonst bist du ein Mädchen, bevor du noch ein Mann warst.«

Gegen alle Logik fand Simon unter dem Angelaufenen und dem Schmutz tatsächlich einen Schimmer echten Stahls. Er hatte gehofft, nun sofort mit dem Schwertschwingen oder wenigstens dem Zielschießen anfangen zu dürfen. Aber statt dessen holte Haestan ein Paar mit Stoff gepolsterter Holzstöcke hervor und führte Simon zum Stadttor hinaus auf den Berg oberhalb von Naglimund. Schnell erfuhr der Junge, wie wenig Ähnlichkeit seine Spiele mit Jeremias, dem Wachszieherjungen, mit den Übungen wirklicher Soldaten gehabt hatten.

»Speerarbeit wäre besser«, meinte Haestan, als Simon im Gras hockte und schnaufte, weil er einen Stoß in den Magen eingefangen hatte. »Aber so wie es aussieht, haben wir keine übrig. Darum verlaß dich auf die Pfeile, Junge. Trotzdem ist es auch ganz schön, wenn man sich ein bißchen mit dem Schwert auskennt … für den Nahkampf. Da wirst du dem alten Haestan noch hundertmal dankbar sein.«

»Warum … nicht … Bogen?« keuchte Simon.

»Morgen, Junge, gibt's Bogen und Pfeile … oder übermorgen.« Haestan lachte und streckte eine breite Pranke aus. »Steh auf. Das Vergnügen für heute hat gerade erst angefangen.«

Müde, wund, wie Weizen gedroschen, bis er glaubte, die Spreu aus seinen Ohren rieseln zu spüren, aß Simon nachmittags mit den Wachen Bohnen und Brot, während Haestan den theoretischen Teil der Ausbildung fortsetzte, von dem Simon allerdings das meiste nicht mitbekam, weil in seinen Ohren ein ständiges, leises Summen ertönte. Endlich wurde er mit der Warnung entlassen, sich morgen früh pünktlich einzustellen. Er stolperte zu Strangyeards leerer Kammer zurück und schlief ein, ohne auch nur die Stiefel auszuziehen.


Durch das offene Fenster spritzte der Regen herein. In der Ferne murrte der Donner. Simon wachte auf und fand Binabik, der wie am Morgen auf ihn wartete, so als habe es den langen, schmerzhaften Nachmittag nicht gegeben. Diese Illusion freilich verflüchtigte sich sofort, als er sich aufsetzte: Jeder einzelne Muskel war steif. Er fühlte sich wie ein Hundertjähriger.

Binabik brauchte einige Zeit, bis er Simon davon überzeugt hatte, daß er aufstehen müsse. »Es handelt sich nicht um eine abendliche Körperertüchtigungsveranstaltung, an der man teilnehmen kann oder auch nicht. Hier geht es um Dinge, von denen unser Leben abhängt.«

Simon hatte sich wieder hingelegt. »Ich glaube es dir ja … aber wenn ich aufstehe, sterbe ich.«

»Genug.« Der kleine Mann packte ihn am Handgelenk, stemmte die Fersen gegen den Boden und zerrte, vor Schmerz zusammenzuckend, Simon langsam in eine sitzende Stellung hoch. Man hörte ein tiefes Aufstöhnen und dann einen Plumps, als einer von Simons gestiefelten Füßen den Boden berührte. Dann gab es eine lange, stumme Pause, bis der zweite nachfolgte.

Viele Minuten später hinkte Simon an Binabiks Seite zur Tür, hinaus in den immer stärker werdenden Wind und eisigen Regen.

»Werden wir dort auch das Abendessen absitzen müssen?« erkundigte sich der Junge. Dieses eine Mal in seinem Leben fühlte er sich tatsächlich zu wund zum Essen.

»Das glaube ich nicht. Josua ist in dieser Hinsicht ein seltsamer Mann; er hält nicht viel vom Essen und Trinken mit seinem Hof. Er hegt den Wunsch nach Einsamkeit. Darum werden wohl alle schon gegessen haben. Damit versöhne ich übrigens auch Qantaqa, damit sie im Zimmer bleibt.« Er lächelte und klopfte Simon auf das Knie. Simon fuhr zusammen. »Alles, was wir zu speisen bekommen werden, sind Sorgen und Gezänk. Schlecht für die Verdauung von Troll, Mensch oder Wolf.«


Während draußen ein heftiger Sturm tobte, war die große Halle von Naglimund trocken. Drei gewaltige offene Kamine wärmten und die Flammen unzähliger Kerzen erhellten sie. Die schrägen Dachbalken verschwanden oben im Dunkel, und die Wände waren dicht mit düsteren, frommen Wandteppichen verkleidet.

Man hatte Dutzende von Tischen zu einem riesigen Hufeisen zusammengeschoben. An der Spitze des Bogens stand Josuas hoher, schmaler Holzstuhl mit dem Zeichen des Schwans von Naglimund. An verschiedenen Stellen entlang dem Hufeisen hatte schon ein halbes Hundert Männer Platz genommen, die sich eifrig unterhielten – hochgewachsene Gestalten, zumeist mit den Pelzröcken und dem grellen Putz des Kleinadels, einige aber auch in der rauhen Tracht der Soldaten. Mehrere blickten auf, als Simon und Binabik an ihnen vorbeikamen und betrachteten sie abschätzend, um dann ihre Diskussionen fortzusetzen.

Binabik stieß Simon mit dem Ellenbogen in die Hüfte. »Vielleicht halten sie uns für die gemieteten Gaukler.« Er lachte, aber Simon fand, daß er nicht wirklich erheitert aussah.

»Wer sind alle diese Leute?« flüsterte der Junge, als sie sich am äußersten Ende des einen Hufeisenarmes niederließen. Ein Page stellte ihnen Wein hin, in den er heißes Wasser goß, bevor er wieder mit den langen Schatten der Wand verschmolz.

»Edelleute aus Erkynland, die treu zu Naglimund und Josua stehen – oder sich zumindest noch nicht sicher sind, welcher Seite sie sich anschließen sollen. Der Beleibte dort in Rot und Weiß ist Ordmaer, Baron von Utersall. Er spricht mit Grimsted, Ethelferth und ein paar anderen Adligen.« Der Troll hob den Bronzepokal und trank. »Hmmm. Unser Prinz geht mit seinem Wein nicht verschwenderisch um, oder er wünscht vielleicht, daß wir das hervorragende Wasser dieser Gegend bewundern.« Binabiks schalkhaftes Lächeln war zurückgekehrt; Simon rutschte auf seinem Stuhl nach hinten, weil er fürchtete, auch der kleine, spitze Ellenbogen könnte sich wieder bemerkbar machen. Aber der Troll sah nur an ihm vorbei den Tisch entlang.

Simon nahm einen tiefen Zug von seinem Wein. Er war wirklich wäßrig, und der Junge fragte sich, ob es der Seneschall oder der Prinz selber war, der da an den Fithingstücken sparte. Immerhin war er besser als gar nichts und würde ihm vielleicht helfen, seine schmerzenden Glieder zu entspannen. Als er ausgetrunken hatte, huschte der Page herbei und schenkte von neuem ein.

Nach und nach stellten sich weitere Männer ein, manche in angeregtem Gespräch, andere kühl die bereits Erschienenen musternd. Ein wahrhaft uralter Mann in prunkvollen Priestergewändern trat am Arm eines kräftigen, jungen Priesters ein und fing an, am oberen Ende der Tafel verschiedene glänzende Gegenstände aufzubauen; seine Miene verriet entschieden üble Laune. Der jüngere Mann half ihm in einen Stuhl, beugte sich dann zu ihm hinunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Ältere gab mit anscheinend zweifelhafter Höflichkeit Antwort, worauf der junge Priester mit einem ergebenen Blick nach den Dachbalken den Raum verließ.

»Ist das der Lektor?« fragte Simon mit unterdrückter Stimme.

Binabik schüttelte den Kopf. »Es dünkt mich sehr unwahrscheinlich, daß das Haupt eurer gesamten ädonitischen Kirche sich hier in der Höhle eines verbannten Prinzen aufhalten würde. Dies hier dürfte Anodis sein, der Bischof von Naglimund.«

Noch während er das sagte, trat eine letzte Schar von Männern ein, und der Troll verstummte, um sie zu beobachten. Einige, denen das Haar in schmalen Zöpfen über den Rücken hing, trugen die gegürteten weißen Wämser der Hernystiri. Der augenscheinliche Führer, ein angespannt wirkender, muskulöser junger Mann mit langem, dunklem Schnurrbart, sprach mit einem Südländer, einem außergewöhnlich gutgekleideten Burschen, der kaum älter zu sein schien als er. Mit seinen sorgfältig gekräuselten Haaren und seinem in zarten Farbtönen von Erika und Blau gehaltenem Gewand war dieser letztere so elegant, daß Simon überzeugt war, er müßte selbst Sangfugol beeindrucken. Ein paar von den alten Soldaten an der Tafel grinsten unverhüllt über den geckenhaften Aufzug.

»Und diese?« fragte Simon. »Die in Weiß, mit Gold um den Hals – Männer von Hernystir, ja?«

»Richtig. Prinz Gwythinn ist das, mit seiner Gesandtschaft. Der andere, würde ich denken, ist Baron Devasalles von Nabban. Er steht im Ruf eines Mannes von scharfem Verstand, auch wenn er vielleicht ein bißchen zu viel Wert auf seine Aufmachung legt. Übrigens ein tapferer Kämpe, habe ich gehört.«

»Woher weißt du das alles, Binabik?« wollte Simon wissen und wandte seine Aufmerksamkeit von den Neuankömmlingen wieder seinem Freund zu. »Horchst du an Schlüssellöchern?«

Hochmütig richtete der Troll sich auf. »Ich lebe nicht ständig auf Berggipfeln, weißt du. Außerdem habe ich hier Strangyeard und andere Quellen aufgetan, während du dein Bett warmgehalten hast.«

»Was?« Simons Stimme klang lauter als beabsichtigt; er merkte, daß er zumindest leicht angetrunken war. Der Mann neben ihm drehte sich mit neugierigem Blick zu ihm um; Simon beugte sich vor, um seine Verteidigung in leiserem Ton fortzusetzen.

»Ich habe…« begann er – in diesem Augenblick knarrten überall in der Halle die Stühle, als die auf ihnen Sitzenden sich plötzlich erhoben. Simon sah auf und erkannte Prinz Josuas schlanke, in sein gewöhnliches Grau gekleidete Gestalt, die vom anderen Ende der Halle her eintrat. Josuas Miene war gelassen, aber ernst. Das einzige Zeichen seines Ranges bestand in dem Silberreif auf seiner Stirn. Josua nickte der Versammlung zu und setzte sich. Die anderen folgten rasch seinem Beispiel. Als die Pagen vortraten, um Wein einzuschenken, erhob sich der alte Bischof an Josuas linker Seite. Zu seiner Rechten saß Gwythinn von Hernystir.

»Nun bitte« – der Bischof klang mürrisch wie ein Mann, der eine Gunst erweist, von der er weiß, daß sie nichts Gutes bringen wird – »beugt Eure Häupter, und laßt uns den Segen Usires Ädons für diese Tafel und was an ihr beraten wird erbitten.« Mit diesen Worten ergriff er einen wundervollen Baum aus gehämmertem Gold und blauen Steinen und hielt ihn vor sich in die Höhe.

»Du, der du von unserer Welt warst und doch nicht völlig von unserem Fleische bist, höre uns.

Du, der du ein Mensch warst, doch dessen Vater kein Mensch war, sondern der lebendige Gott, tröste uns.

Wache über dieser Tafel und denen, die an ihr sitzen, und lege dem, der verirrt und auf der Suche ist, deine Hand auf die Schulter.«

Der Alte holte Atem und blickte sich giftig am Tisch um. Simon, der ihn mit auf die Brust gesunkenem Kinn scharf beobachtete, fand, er sehe aus, als würde er am liebsten seinen juwelenbesetzten Baum nehmen und ihnen allen den Schädel einschlagen.

»Außerdem«, schloß der Bischof jäh, »vergib den hier Versammelten all die verdammungswürdigen, hochmütigen Torheiten, die sie vielleicht sprechen werden. Wir sind deine Kinder.«

Er schwankte leicht und kippte in seinen Stuhl; am Tisch entstand ein leises Murmeln.

»Hättest du gedacht, Simon, daß der Bischof sich hier nicht wohl fühlt?« flüsterte Binabik.

Josua stand auf. »Dank sei Euch, Bischof Anodis, für Euer … von Herzen kommendes Gebet. Dank auch allen, die sich in dieser Halle eingefunden haben.« Er ließ den Blick durch den hohen, vom Feuer erhellten Raum schweifen, die linke Hand auf dem Tisch, den anderen Arm in den Falten seines Mantels verborgen. »Es sind schwere Zeiten«, fuhr er fort und blickte der Reihe nach in die Gesichter der Männer. Simon fühlte, wie ihm die Wärme des Raumes in die Wangen stieg; er fragte sich, ob der Prinz wohl etwas über seine Rettung erzählen würde. Er blinzelte und öffnete gerade noch rechtzeitig die Augen, um zu sehen, wie Josuas Blick ihn streifte und dann in die Mitte des Raumes zurückkehrte. »Schwere und sorgenvolle Zeiten. Der Hochkönig auf dem Drachenbeinthron – gewiß ja, natürlich ist er auch mein Bruder, aber für unsere Zwecke hier ist er der König – scheint unserer Not den Rücken gekehrt zu haben. Die Steuern hat er derart in die Höhe getrieben, daß sie zur grausamen Strafe geworden sind, und das, obwohl das Volk unter einer schrecklichen Dürre in Erkynland und Hernystir und furchtbaren Stürmen im Norden gelitten hat. Und während der Hochhorst die Finger nach mehr ausstreckt, als er unter König Johans Herrschaft je gefordert hat, zieht Elias die Truppen ab, die einst die Straßen offen und sicher hielten und die menschenleeren Weiten der Frostmark und des Weldhelms besetzen halfen.«

»Nur zu wahr!« rief laut Baron Ordmaer und knallte seinen Humpen auf den Tisch. »Gott segne Euch, aber das ist wahr, Prinz Josua!« Er drehte sich um und drohte, damit es auch die anderen sahen, mit der Faust. Ein Chor der Zustimmung ertönte. Aber es gab auch andere, unter ihnen Bischof Anodis, die über solch unüberlegte Worte gleich zu Beginn die Köpfe schüttelten.

»Und so«, fuhr Josua mit lauter Stimme fort und brachte damit die Versammlung wieder zum Schweigen, »so stehen wir vor einem Problem. Was sollen wir tun? Darum habe ich Euch hierher gerufen und darum, nehme ich an, seid Ihr gekommen: Um zu entscheiden, welche Möglichkeiten wir haben. Um diese Ketten«, er hob den linken Arm und wies auf die Handschelle, die ihn noch immer umschloß, »in die der König uns schlagen möchte, von uns fern zu halten.«

Ein paar beifällige Rufe. Auch das Summen geflüsterter Worte schwoll an. Josua gebot mit dem gefesselten Arm Schweigen, als etwas Rotes in der Tür aufblitzte. Eine Frau rauschte herein, das lange Seidenkleid wie eine Fackelflamme. Es war dieselbe Frau, die Simon in Josuas Gemächern gesehen hatte, dunkeläugig und gebieterisch. Gleich darauf stand sie am Tisch des Prinzen; die Augen der Männer folgten ihr mit unverhohlenem Interesse. Josua schien sich unbehaglich zu fühlen. Als sie ihm etwas ins Ohr flüsterte, hielt er den Blick starr auf seinen Weinbecher geheftet.

»Wer ist diese Frau?« zischte Simon und war, nach dem aufgeregten Geflüster ringsum zu urteilen, nicht der einzige, der da fragte.

»Ihr Name ist Vara. Tochter eines Stammeshäuptlings der Thrithinge ist sie und des Prinzen … nun … Frau, nehme ich an. Sie sagen, daß sie von großer Schönheit ist.«

»Das ist sie.« Simon starrte sie noch einen Augenblick an und drehte sich dann wieder zu dem Troll um. »›Sie sagen‹! Was meinst du damit, ›sie sagen‹? Sie ist doch hier, oder nicht?«

»Das ist sie, aber mir fällt das Urteil schwer.« Binabik lächelte. »Das kommt, weil ich den Anblick hochgewachsener Frauen nicht liebe.«

Anscheinend hatte die Herrin Vara gesagt, was sie zu sagen hatte. Sie lauschte auf Josuas Antwort und glitt gleich darauf rasch aus der Halle. Nur ein letzter scharlachroter Schimmer blieb im Dunkel der Tür zurück.

Der Prinz sah auf, und hinter seinen gelassenen Zügen glaubte Simon etwas zu entdecken, das aussah wie … Verlegenheit?

»Also gut«, begann Josua wieder, »wir waren dabei …? Ja, Baron Devasalles?«

Der Stutzer aus Nabban erhob sich. »Ihr sagtet, Hoheit, daß wir Elias nur als König betrachten sollten. Aber das ist offensichtlich nicht wahr.«

»Was wollt Ihr damit sagen?« fragte der Herr von Naglimund unter dem mißbilligenden Gemurmel seiner Lehnsmänner.

»Vergebung, Prinz, aber was ich meine, ist das: Wenn er nur König wäre, wären wir nicht hier, oder zumindest hätte Herzog Leobardis mich nicht zu Euch gesandt. Ihr seid Priester Johans einziger anderer Sohn. Warum sonst hätten wir die weite Reise gemacht? Wäre es anders, würden alle, die eine Beschwerde gegen den Hochhorst hätten, zur Sancellanischen Mahistrevis gehen, oder nach Hernysadharc zum Taig. Aber Ihr seid nun einmal sein Bruder, nicht wahr? Des Königs Bruder!«

Ein eisiges Lächeln umspielte Josuas Lippen. »Ja, Baron, das bin ich. Und ich verstehe, was Ihr meint.«

»Ich danke Euch, Hoheit.« Devasalles machte eine kleine Verbeugung. »Und nun bleibt die Frage: Was wollt Ihr, Prinz Josua? Rache? Den Thron? Oder nur ein Übereinkommen mit einem habgierigen König, damit er Euch hier in Naglimund unbehelligt läßt?«

Jetzt ließ sich in der Tat ein lautes Grollen der anwesenden Erkynländer hören, und ein paar standen mit zusammengezogenen Brauen und bebenden Schnurrbartspitzen von ihren Stühlen auf. Doch bevor einer von ihnen den Augenblick nutzen konnte, sprang der junge Gwythinn von Hernystir auf und beugte sich über den Tisch zu Baron Devasalles hinüber wie ein Pferd, das sich gegen das Gebiß auflehnt.

»Der edle Herr aus Nabban möchte ein Wort hören, wie? Nun gut, ich sage ihm eines. Kampf! Elias hat meines Vaters Blut und Thron beleidigt und die Königliche Hand mit Drohungen und groben Worten zu unserem Taig geschickt wie ein Mann, der Kinder züchtigt. Wir brauchen das Für und Wider nicht mehr abzuwägen – wir sind bereit zum Kampf!«

Verschiedene Männer jubelten den kühnen Worten des Hernystiri zu, aber Simon, der gerade die letzten Tropfen eines weiteren Weinbechers geleert hatte und sich mit leicht getrübtem Blick in der Halle umsah, bemerkte mehr Leute, die besorgte Gesichter machten und leise mit ihren Tischnachbarn sprachen. Neben ihm runzelte Binabik die Stirn, und sein Gesicht spiegelte den Ausdruck wider, der die Züge des Prinzen verdüsterte.

»Hört mich an!« rief Josua. »Nabban, vertreten durch Leobardis' Gesandten, hat harte, aber berechtigte Fragen gestellt, und ich will darauf antworten.« Er starrte Devasalles mit kalten Augen an. »Ich wünsche mir nicht, König zu sein, Baron. Mein Bruder wußte das, aber trotzdem nahm er mich gefangen, tötete ein Dutzend meiner Männer und sperrte mich in seine Verliese ein.« Wieder schwenkte er die Handschelle. »Dafür, das ist wahr, will ich Rache – doch würde Elias gut und gerecht regieren, würde ich diese Rache dem Wohl von Osten Ard und vor allem dem meines Erkynlandes opfern. Und was ein solches Übereinkommen betrifft … ich weiß nicht, ob es überhaupt möglich wäre. Elias ist gefährlich und unberechenbar geworden; manche sagen, er sei zu Zeiten wahnsinnig…«

»Wer sagt das?« fragte Devasalles. »Adlige, die unter seiner zugegebenermaßen schweren Hand leiden? Wir reden hier über einen möglichen Krieg, der unsere Völker zerfetzen wird wie morsches Tuch. Schändlich wäre es, entfesselten ihn Gerüchte.«

Josua lehnte sich zurück und rief einen Pagen herbei, dem er eine Botschaft zuflüsterte. Der Junge flog fast aus der Halle.

Jetzt stand ein muskulöser, bärtiger Mann in weißem Pelz und mit Silberketten auf. »Wenn der Baron sich nicht an mich erinnert, will ich seinem Gedächtnis aufhelfen«, erklärte er mit sichtlichem Unbehagen. »Ethelferth bin ich, Herr von Tinsett, und ich möchte nur dieses eine sagen: Wenn mein Prinz erklärt, der König habe den Verstand verloren, dann ist sein Wort mir gut genug dafür.« Er furchte die Stirn und setzte sich wieder hin.

Josua erhob sich. Sein schlanker, graugekleideter Körper entrollte sich wie ein Seil. »Dank Euch, Herr Ethelferth, für Eure guten Worte. Aber«, er blickte sich in der Versammlung um, in der es still wurde und man ihn ansah, »niemand braucht sich in irgendeiner Sache allein auf mein Wort oder das meiner Lehnsleute zu verlassen. Statt dessen bringe ich Euch jemanden, der Elias' Wesen aus nächster Nähe so gut kennt, daß Ihr ihm, dessen bin ich sicher, ohne Bedenken vertrauen werdet.« Er winkte mit der linken Hand nach der hinteren Tür der Halle, der Tür, durch die der Page kurz zuvor verschwunden war.

Der Junge war zurückgekehrt; hinter ihm im Eingang standen zwei Gestalten. Eine davon war die Herrin Vara. Die andere, im himmelblauen Gewand, schritt an ihr vorbei in den Lichtkegel der Wandleuchte.

»Edle Herren«, sagte Josua, »die Prinzessin Miriamel – Tochter des Hochkönigs.«

Und Simon starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die kurzen, abgeschorenen Strähnen goldener Haare, die zwischen Schleier und Krone sichtbar waren, bar ihrer dunklen Verkleidung … starrte auf das ach so vertraute Gesicht, und alles in ihm drehte sich. Fast wäre er mit den anderen aufgestanden, aber seine Knie waren plötzlich wie Wasser und ließen ihn in den Stuhl zurücksinken. Wie? Warum? Das also war ihr Geheimnis – ihr elendes, verräterisches Geheimnis! »Marya«, murmelte er, und als sie auf dem Stuhl Platz nahm, den Gwythinn ihr räumte, und seine Geste mit einem knappen, anmutigen Kopfnicken quittierte, als alle anderen sich wieder hinsetzten und laut und verwundert durcheinanderredeten – da kam Simon endlich schwankend auf die Beine.

»Du«, sagte er zu Binabik und packte den Kleinen an der Schulter, »hast … du … das … gewußt?«

Der Troll wollte wohl etwas sagen, zog dann aber eine Grimasse und zuckte die Achseln. Simon sah über das Meer von Gesichtern hinweg und begegnete Maryas … Miriamels … Blick. Sie starrte ihn mit großen, traurigen Augen an.

»Verflucht!« fauchte er, fuhr herum und rannte aus der Halle, die Augen feucht von schmachvollen Tränen.

XXXII Nachrichten aus dem Norden

»Tja, Junge«, sagte Strupp und schob einen neuen Humpen über die Tischplatte, »du hast ja so recht – sie machen Ärger. Und daran wird sich auch nie etwas ändern.«

Simon schielte nach dem alten Narren, der ihm plötzlich wie der Quell aller Weisheit vorkam. »Sie schreiben einem Briefe«, erklärte er dann und nahm einen reichlichen Schluck, »lügenhafte Briefe.« Er stellte den Becher wieder auf das Holz und sah zu, wie der Wein nach beiden Seiten schwappte und über den Rand zu fließen drohte.

Strupp lehnte sich nach hinten an die Wand seiner schachtelartigen Kammer. Er war im leinenen Unterhemd und hatte sich ein paar Tage nicht rasiert. »Jawohl, solche Briefe schreiben sie«, bestätigte er und nickte ernsthaft mit dem weißstoppligen Kinn. »Manchmal lügen sie auch den anderen Damen etwas über dich vor.«

Simon dachte stirnrunzelnd über diese Aussage nach. Wahrscheinlich hatte sie genau das getan und den anderen Edlen und Hochwohlgeborenen von dem dummen Küchenjungen erzählt, der mit ihr in einem Boot den Aelfwent hinuntergefahren war. Vermutlich kannte schon ganz Naglimund die lustige Geschichte. Er nahm noch einen Zug und fühlte, wie ihm der saure Geschmack hochkam und seinen Mund mit Galle füllte. Er setzte den Becher hin.

Strupp versuchte mühsam aufzustehen. »Sieh dir das hier an«, sagte der Alte, ging zu einer Holztruhe und fing an, darin herumzuwühlen. »Verdammt, ich weiß genau, daß er hier irgendwo steckt.«

»Ich hätte es merken müssen!« schalt Simon sich selber. »Einen kleinen Brief hat sie mir geschrieben. Wie hätte eine Dienstmagd das tun können … und noch dazu fehlerfreier geschrieben, als ich es geschafft hätte?«

»Hier ist diese gottverdammte Lautensaite!« Strupp wühlte weiter.

»Aber sie hat mir eine Botschaft geschrieben, Strupp – hat gesagt ›Gott segne dich‹! Hat mich ›Freund‹ genannt!«

»Was? Na, das ist doch großartig, Junge. So ein Mädchen brauchst du – keine eingebildete Pute, die nur auf dich herabsieht wie diese andere. Ah, hier!«

»Wie?« Simon hatte den Faden verloren. Er war sich praktisch sicher, daß er überhaupt nur von einem Mädchen geredet hatte – dieser Erzverräterin, der ständig ihre Persönlichkeit ändernden Marya … Miriamel … ach, eigentlich kam es gar nicht darauf an.

Aber sie ist an meiner Schulter eingeschlafen. Betrunken erinnerte er sich vage an warmen Atem an seiner Wange und empfand ein schmerzhaftes Gefühl des Verlustes.

»Schau dir das an, Junge.« Strupp stand vor ihm, schwankte und hielt ihm etwas Weißes hin. Simon starrte es verwirrt an.

»Was ist das?«

»Ein Schal. Für kaltes Wetter. Und siehst du das da?« Der Alte deutete mit dem krummen Zeigefinger auf eine Reihe von Schriftzeichen, die mit dunkelblauem Faden in das Weiße hineingewoben waren. Die Form der Runen erinnerte Simon an etwas, das selbst durch den Weinnebel hindurch eisige Kälte in ihm erbeben ließ.

»Was ist das?« fragte er nochmals, und seine Stimme war ein wenig klarer als vorher.

»Rimmersgard-Runen«, antwortete der alte Narr und lächelte versonnen. »Es heißt ›Cruinh‹ – das ist mein richtiger Name. Ein Mädchen hat sie gewebt, sie und den Schal. Für mich. Als ich mit meinem lieben König Johan in Elvritshalla war.« Überraschend brach er in Tränen aus, tastete sich zum Tisch zurück und ließ sich auf den harten Stuhl fallen. Aber gleich darauf verstummte das Schluchzen, und in seinen rotgeränderten Augen stand das Wasser wie Pfützen nach einem Sommerregen. Simon schwieg.

»Die hätte ich heiraten sollen«, fuhr Strupp nach einer Weile fort. »Aber sie wollte ihr Land nicht verlassen – wollte nicht mit mir zum Hochhorst zurück. Angst vor der Fremde, das hatte sie, Angst, von ihrer Familie wegzugehen. Schon seit Jahren tot, das arme Mädchen.« Er schniefte laut. »Aber wie hätte ich meinen guten Johan je im Stich lassen können?«

»Was meint Ihr?« fragte Simon. Er konnte sich nicht daran erinnern, wo er in letzter Zeit solche Rimmersgard-Runen zu Gesicht bekommen hatte, oder zumindest wollte er sich nicht der Mühe unterziehen, nach einer derartigen Erinnerung zu suchen. Es war bequemer, hier im Kerzenschein zu hocken und den Alten schwatzen zu lassen. »Wann warst – wann wart Ihr in Rimmersgard?« ermunterte er ihn.

»Ach, Junge, vor vielen, vielen Jahren.« Strupp wischte sich ohne Verlegenheit die Augen und schneuzte sich in ein umfangreiches Taschentuch. »Es war nach der Schlacht von Naarved. Im Jahr danach – da habe ich das Mädchen kennengelernt, das diesen Schal gewebt hat.«

»Was war die Schlacht von Naarved?« Simon wollte sich schon neuen Wein eingießen, überlegte es sich dann aber. Was mochte wohl gerade in der großen Halle vorgehen?

»Naarved?« Strupp glotzte. »Du weißt nichts von Naarved? Wo Johan den alten König Jormgrun schlug und Hochkönig des Nordens wurde?«

»Ich glaube, ein bißchen weiß ich darüber«, versetzte Simon unbehaglich. Wieviel es doch auf der Welt zu wissen gab! »Es war eine berühmte Schlacht.«

»Natürlich!« Strupps Augen glänzten. »Johan belagerte Naarved den ganzen Winter. Jormgrun und seine Männer waren gar nicht auf den Gedanken gekommen, Erkynländer könnten die grausamen Schneefälle Rimmersgards überleben. Sie waren fest überzeugt, Johan werde die Belagerung abbrechen und sich nach Süden zurückziehen müssen. Aber Johan schaffte es! Nicht allein, daß Naarved eingenommen wurde, beim letzten Sturm stieg Johan selbst über die Mauer der inneren Burg und öffnete das Fallgatter – zehn Männer wehrte er ab, bis er endlich das Haltetau kappen konnte. Dann zerbrach er Jormgruns Schild und streckte den König vor seinem eigenen heidnischen Altar nieder.«

»Tatsächlich? Und Ihr wart dabei?« Simon hatte die Geschichte wirklich schon in ungefähr der gleichen Version gehört, aber es war aufregend, sie von einem Augenzeugen erzählt zu bekommen.

»So gut wie. Ich war in Johans Lager; er nahm mich überallhin mit, mein guter alter König.«

»Und wie wurde Isgrimnur Herzog?«

»Ah.« Strupps Hand, die den weißen Schal hin und her gedreht hatte, suchte den Weinkrug und fand ihn. »Es war sein Vater Isbeorn, der als erster Herzog wurde, verstehst du. Er war der erste der heidnischen Edlen von Rimmersgard, der Erleuchtung fand – die Gnade Usires Ädons annahm. Johan machte sein Haus zum ersten Rimmersgards. Darum ist heute Isbeorns Sohn Isgrimnur Herzog, und man könnte schwerlich einen frömmeren Ädoniten finden.«

»Und was wurde aus den Söhnen von König Jorg-oder-wie-hieß-er-dochgleich? Wollte keiner von ihnen Ädonit werden?«

»Ach…« Strupp machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich denke mir, daß sie alle in den Kämpfen fielen.«

»Hmmm.« Simon lehnte sich zurück und verdrängte diese verwirrenden Religions- und Heidentumsfragen aus seinem Kopf, um sich statt dessen lieber die große Schlacht auszumalen. »Hatte König Johan damals schon Hellnagel?« fragte er.

»Ja … ja, er hatte es«, erwiderte Strupp. »Bei Gottes Baum, ein schöner Mann war er, wenn man ihn so in der Schlacht sah. Hellnagel glänzte so hell und bewegte sich so schnell – nur ein stählerner Blitz, sonst nichts –, daß Johan manchmal aussah, als umgebe ihn ein wundervoller, heiliger Silberschein.« Der alte Narr seufzte.

»Und wer war nun das Mädchen?« wollte Simon wissen.

Strupp riß die Augen auf. »Was für ein Mädchen?«

»Das Euch den Schal gewebt hat.«

»Oh!« Strupp zog die Stirn in Falten. »Sigrita.« Er dachte eine ganze Weile nach. »Nun – weißt du, wir blieben fast ein Jahr dort. Es ist harte Arbeit, ein erobertes Land richtig zu verwalten, harte Arbeit. Härter, als den verdammten Krieg zu führen, so kam es mir manchmal vor. Sie war eins von den Mädchen, die die Halle saubermachten, in der der König wohnte – ich wohnte auch dort. Sie hatte Haar wie Gold – nein, heller; es war fast weiß. Ich lockte sie zu mir herein, wie man ein wildes Füllen zähmt: ein freundliches Wort hier, ein paar Extrahappen für ihre Familie dort. Ach ja … ein hübsches Ding war sie!«

»Wolltet Ihr sie damals heiraten?«

»Ich glaube schon. Es ist viele lange Jahre her, Junge. Eins ist jedenfalls ganz sicher: Ich wollte sie mitnehmen. Aber sie wollte nicht.«

Eine Weile sprach keiner von beiden. Um die dicken Burgmauern heulten die Sturmwinde wie von ihrem Herrn vergessene Hunde.

Kerzenwachs tropfte und zischte.

»Wenn Ihr noch einmal entscheiden könntet«, fing Simon schließlich wieder an, »wenn Ihr noch einmal dort sein könntet«, er rang mit dieser schwierigen Vorstellung, »würdet Ihr … würdet Ihr sie ein zweites Mal zurücklassen?«

Zuerst kam keine Antwort. Erst als Simon schon den Arm ausstrecken und Strupp sanft schütteln wollte, regte sich der alte Mann und räusperte sich.

»Ich weiß nicht«, meinte er dann langsam. »Es sieht so aus, als habe Gott alles nach seinem Plan geschehen lassen; aber wir müssen wählen dürfen, wie, Junge? Ohne eine Wahl gibt es nichts Gutes. Ich weiß nicht – ich glaube nicht, daß ich die Vergangenheit so weit aufrollen möchte. Besser, es bleibt, wie es ist, ob die Entscheidung damals nun richtig oder falsch war.«

»Aber hinterher kann man sich doch immer viel leichter entscheiden«, wandte Simon ein und richtete sich langsam auf. Strupp blickte starr in die flackernde Kerzenflamme. »Ich meine, in dem Augenblick, in dem man den Entschluß fassen muß, weiß man nie genug. Erst später begreift man alles.«

Auf einmal fühlte Simon sich mehr erschöpft als betrunken, von einer Welle von Müdigkeit erfaßt und fortgespült. Er bedankte sich für den Wein und sagte dem alten Narren gute Nacht. Dann ging er hinaus in den verlassenen Hof und den schräg herabfallenden Regen.


Simon stand da und klopfte sich den Schlamm von den Stiefeln. Dabei sah er Haestan nach, der über den feuchten, windgepeitschten Berghang davonstapfte. Die Kochfeuer der Stadt unter ihnen bluteten ihren Rauch in den stählernen Himmel. Simon wickelte sein Schwert aus der Stoffpolsterung und betrachtete die weißen Sonnenlichtklingen, die am nordwestlichen Horizont die Wolken durchbohrten, Lichtstreifen, die vielleicht auf die Existenz eines helleren, besseren Ortes hinter den Wolken deuteten, vielleicht aber nichts weiter waren als das unpersönliche Spiel des Lichtes, das sich um die Welt und ihre Probleme nicht scherte. Simon starrte in die Höhe und rollte mit der Hand die Polsterung zusammen, aber seine Stimmung änderte sich nicht. Er fühlte sich einsam. Wie er dort inmitten des wogenden Grases stand, hätte er ebensogut ein Stein oder ein Baumstumpf sein können.

Morgens hatte Binabik bei ihm vorbeigeschaut, und das Geräusch seines Klopfens an der Tür war schließlich in Simons weinschweren Schlaf gedrungen. Er hatte das Klopfen und die leisen Worte des kleinen Mannes nicht beachtet, und endlich war beides verstummt, und er konnte sich wieder zusammenrollen und noch ein wenig weiterdösen. Er hatte kein Verlangen danach gehabt, den Kleinen jetzt schon wiederzusehen und war dankbar gewesen für die unpersönliche Tür zwischen ihnen.

Haestan hatte über die grünliche Gesichtsfarbe, mit der Simon in der Wachkaserne auftauchte, herzlos gelacht und sich, nachdem er versprochen hatte, ihn bald einmal an einen Ort mitzunehmen, wo wirklich getrunken würde, daran gemacht, ihn die üble Laune aus dem Leib schwitzen zu lassen. Obwohl Simon zuerst überzeugt gewesen war, gleichzeitig auch sein Leben auszuhauchen, konnte er nach ungefähr einer Stunde spüren, wie ihm das Blut wieder durch die Adern floß. Haestan arbeitete sogar noch härter mit ihm als am Vortag, mit stoffumhülltem Schwert und gepolstertem Schild, aber Simon war dankbar für die Ablenkung; es war ein Genuß, im gnadenlosen, hämmernden Rhythmus von Schwert auf Schild unterzutauchen, von Hieb und Ausweichen und Gegenhieb.

Jetzt schnitt der Wind wie mit Messern durch sein schweißgetränktes Hemd, während er seine Ausrüstung vom Boden aufsammelte; dann machte er sich auf den Weg bergan zum Haupttor.

Während Simon so über den mit Regenpfützen gesprenkelten Innenhof schlich und der Wachtruppe auswich, die in dicken Wollmänteln auf dem Weg zur Ablösung war, kam es ihm vor, als sei alle Farbe aus Naglimund ausgeblutet. Die kränklichen Bäume, die grauen Umhänge von Josuas Wachen, die düstere Kleidung der Priester, alles, worauf sein Blick fiel, hätte aus Stein gehauen sein können. Selbst die hin und her eilenden Pagen waren nur Standbilder, denen man eine Art vorübergehendes Leben verliehen hatte, die aber bald wieder langsam werden und schließlich unbeweglich dastehen würden.

Simon spielte mit seinen trüben Gefühlen und genoß sie sogar. Plötzlich aber erregte ein Aufglänzen von Farben seine Aufmerksamkeit, das auf der anderen Seite eines großen, offenen Hofes sichtbar wurde, von Farben, deren Leuchtkraft so auffällig war wie ein Trompetenstoß an einem stillen Abend.

Die extravaganten Seidenstoffe gehörten drei jungen Frauen, die aus einem Torbogen herausgesprungen waren, um lachend und ungestüm über den offenen Hof zu rennen. Die eine trug Rot und Gold, die andere ein Gelb, das wie ein Feld von gemähtem Heu leuchtete; die dritte hatte ein langes, schimmerndes Kleid in Taubengrau und Blau an. Im Bruchteil einer Sekunde hatte Simon sie erkannt: Die dritte war Miriamel.

Bevor er noch wußte, was er tat, hatte er begonnen, auf die zurückweichende Dreiergruppe zuzugehen; gleich darauf verschwanden sie im langen, gedeckten Säulengang, und er begann zu laufen. Das Geräusch ihrer Unterhaltung klang zu ihm herüber, wie ein aufreizender Geruch in die Nase eines angeketteten Kampfhundes dringt. In dreißig langen Schritten hatte er sie eingeholt.

»Miriamel!« sagte er, und es kam sehr laut aus seinem Mund und ließ ihn überrascht und verlegen stehenbleiben. »Prinzessin?« fügte er lahm hinzu, als sie sich umdrehte. Wiedererkennen stand in ihrem Gesicht und wurde von einem anderen Gefühl, das rasch auf das erste folgte, verdrängt, einem Gefühl, das ihm zu seinem Schrecken wie Mitleid vorkam.

»Simon?« fragte sie, aber es stand kein Zweifel in ihren Augen. Sie standen einander gegenüber, als liege zwischen ihnen eine tiefe Schlucht, dabei waren sie keine drei oder vier Ellen voneinander entfernt. Einen Augenblick starrten sie nur, und jeder wartete auf die Stimme des anderen, um die trennende Entfernung mit der richtigen Antwort zu überbrücken.

Endlich machte Miriamel eine knappe und leise Bemerkung zu ihren zwei Begleiterinnen, auf deren Gesichter Simon nur insoweit achtete, als er ihren Mienen etwas entnahm, das unzweifelhaft Mißbilligung war; die beiden zogen sich rückwärts zurück, wandten sich dann um und gingen ein kurzes Stück vor ihnen her.

»Ich … es kommt mir seltsam vor, Euch nicht Marya zu nennen … Prinzessin.« Simon blickte auf seine mit Schlamm bespritzten Stiefelschäfte und grasfleckigen Hosen hinunter und empfand statt der Beschämung, mit der er eigentlich gerechnet hatte, eine Art seltsamen, grimmigen Stolz. Vielleicht war er ein Bauerntölpel, aber wenn, dann wenigstens ein ehrlicher.

Die Prinzessin musterte ihn schnell, wobei sie sich das Gesicht bis zum Schluß aufsparte. »Es tut mir leid, Simon. Ich habe dich nicht belogen, weil ich das wollte, sondern weil ich es tun mußte.« Sie löste die verkrampften Finger zu einer kurzen Gebärde der Hilflosigkeit.

»Es tut mir leid.«

»Es … braucht Euch nicht leid zu tun. Es ist nur … nur…«, er suchte nach Worten und umklammerte dabei seinerseits fest seine Schwertscheide, »es macht nur alles so schwierig, nehme ich an.«

Jetzt war er es, der sie musterte. Er entschied, daß das schöne Kleid – das, wie er bemerkte, grüne Streifen hatte, vielleicht aus trotziger Treue zu ihrem Vater – der Marya, an die er sich erinnerte, sowohl etwas hinzufügte als auch etwas wegnahm. Sie sah gut aus, das mußte er zugeben: Die feinen, scharfen Züge hatten jetzt, wie ein wertvoller Stein, eine Fassung, die sie betonte. Gleichzeitig jedoch fehlte etwas, etwas Lustiges und Derbes und Sorgloses, das jene Marya besessen hatte, die bei der Flußfahrt und in der schrecklichen Nacht auf der Steige seine Gefährtin gewesen war. In ihrem beherrschten Gesicht erinnerte ihn nicht mehr viel daran, aber eine Andeutung versteckte sich noch in den kurzgeschnittenen Haarsträhnen, die am Hals unter ihrer Kapuze hervorlugten.

»Hattet Ihr Euch das Haar schwarzgefärbt?« fragte er endlich.

Sie lächelte schüchtern. »Ja. Ich hatte schon lange, bevor ich vom Hochhorst fortlief, überlegt, was ich tun müßte. Ich schnitt mir das Haar ab – es war sehr lang«, fügte sie stolz hinzu, »und ließ mir dann von einer Frau in Erchester eine Perücke daraus machen. Leleth brachte sie mir. Ich versteckte mein abgeschnittenes Haar darunter, das schwarzgefärbt war, damit ich unerkannt die Männer in der Umgebung meines Vaters beobachten und Dinge hören konnte, von denen ich sonst nie etwas erfahren hätte … so fand ich heraus, was vorging.«

Simon fühlte sich zwar recht unbehaglich, war aber voller Bewunderung über die Schlauheit des Mädchens. »Aber warum habt Ihr mir nachspioniert? Ich war doch ganz unwichtig.«

Die Prinzessin hörte nicht auf, ihre Finger zu verschränken und wieder zu lösen. »Ich habe dir wirklich nicht nachspioniert, zumindest nicht beim ersten Mal. Ich lauschte einem Streit, den mein Vater mit meinem Onkel in der Kapelle hatte. Die anderen Male … nun ja, da bin ich dir gefolgt. Ich hatte dich im Schloß gesehen, allein, mit niemandem, der dir sagte, was du tun und wo du sein und wen du anlächeln und mit wem du reden solltest … Ich war neidisch.«

»Niemand, der mir sagte, was ich tun sollte?« Simon mußte gegen seinen Willen grinsen. »Dann hast du Rachel den Drachen wohl nie kennengelernt, Mädchen!« Er korrigierte sich, »Prinzessin, wollte ich sagen.«

Miriamel, die ebenfalls gelächelt hatte, machte wieder ein Gesicht, als fühle sie sich nicht wohl in ihrer Haut. In Simon wallte etwas von dem Zorn auf, der die ganze Nacht an ihm genagt hatte. Wer war sie denn, daß sie sich in seiner Gesellschaft so unbehaglich fühlte? Hatte er sie nicht von einem Baum heruntergeholt? Hatte sie nicht den Kopf an seine Schulter gelegt?

Ja, und genau das ist ein großer Teil des Problems, dachte er.

»Ich muß jetzt gehen.« Er zupfte an seiner Schwertscheide, als wollte er Miriamel ein paar Einzelheiten der Prägung zeigen. »Ich habe den ganzen Tag mit dem Schwert gekämpft. Gewiß erwarten Euch Eure Freundinnen.« Er wollte sich umdrehen, hielt dann inne und beugte das Knie vor ihr. Der Ausdruck ihres Gesichtes wurde, soweit das überhaupt möglich war, noch unglücklicher und trauriger als zuvor.

»Prinzessin«, sagte er und ging. Er drehte sich nicht um, um festzustellen, ob sie ihm nachsah. Er hielt den Kopf hoch und den Rücken kerzengerade.

Auf dem Rückweg zu seiner Kammer begegnete er Binabik, der anscheinend seine Festtagskleidung trug, eine Jacke aus weißem Hirschleder und eine Halskette aus Vogelschädeln. Simon begrüßte ihn kühl; insgeheim war er überrascht festzustellen, daß dort, wo noch vor Stunden ein Meer von Zorn vorhanden gewesen war, nur noch eine seltsame Leere in seinem Geist klaffte.

Der Troll wartete, bis er sich an der Türschwelle weiteren Schlamm von den Stiefeln gekratzt hatte, und folgte ihm dann nach innen. Simon zog das andere Hemd an, das Strangyeard ihm freundlicherweise überlassen hatte.

»Ich bin sicher, daß du jetzt erzürnt bist, Simon«, begann Binabik. »Ich wünsche mir nur, daß du verstehst, daß ich nichts über die Prinzessin wußte, bis Josua es mir vorgestern abend erzählte.«

Das Hemd des Priesters war selbst für Simons schlaksige Gestalt lang; er stopfte es in die Hosen. »Warum hast du es mir dann nicht gesagt?« fragte er und freute sich über das leichte, beiläufige Gefühl, das er dabei hatte. Es gab keinen Grund für ihn, sich über die Treulosigkeit des kleinen Mannes Gedanken zu machen; er war früher auch auf sich selbst gestellt gewesen.

»Es war, weil ein Versprechen gegeben wurde.« Binabik sah sehr unglücklich aus. »Ich willigte ein, bevor ich wußte, worum es ging. Aber es war nur ein Tag, an dem du es nicht ahntest und ich Bescheid wußte – hätte es einen großen Unterschied gemacht? Sie hätte es dir und mir selbst sagen sollen, finde ich.«

Es lag Wahrheit in den Worten des Kleinen, aber Simon hatte keine Lust, Kritik an Miriamel zu hören, obwohl er ihr selber weit größere, wenn auch feiner gesponnene Verbrechen vorwarf.

»Es ist jetzt nicht mehr wichtig«, war alles, was er erwiderte.

Binabik zeigte ein recht windschiefes Lächeln. »Ich hoffe, daß es wirklich so ist. Jetzt ist freilich das Wichtigste der Raed. Du mußt deine Geschichte dort erzählen, und ich denke, es sollte heute abend sein. Durch deinen vorzeitigen Aufbruch hast du nicht viel verpaßt, das meiste betraf Baron Devasalles, der von Josua Zusicherungen für den Fall wollte, daß die Nabbanai sich ihm anschlössen. Aber heute abend…«

»Ich habe keine Lust.« Simon krempelte die Ärmel auf, die ihm halb über die Hände hingen. »Ich werde Strupp besuchen, oder vielleicht Sangfugol.« Er kämpfte mit einer Manschette. »Wird die Prinzessin auch dort sein?«

Der Troll sah betroffen aus. »Wer kann das sagen? Aber du wirst gebraucht, Simon. Der Herzog und seine Rimmersmänner sind hier. Vor weniger als einer Stunde sind sie eingetroffen, fluchend und schmutzig und mit schaumbedeckten Pferden. Heute abend müssen wichtige Dinge erörtert werden.«

Simon starrte zu Boden. Es wäre einfacher, lediglich den Harfner zu besuchen und mit ihm zu trinken; das half, nicht an solche Probleme zu denken. Sicher würden auch ein paar seiner neuen Bekannten unter den Wachsoldaten da sein, mit denen man gewiß einen schönen Abend verbringen könnte. Sie würden vielleicht zusammen hinunter in die Stadt Naglimund gehen, die er noch gar nicht richtig gesehen hatte. Das wäre viel leichter, als in diesem großen Raum zu sitzen, diesem gewichtigen Raum, in dem Entscheidungen und Gefahr so schwer auf allen lasteten. Sollten doch die anderen debattieren und sich den Kopf zerbrechen – er war schließlich nur ein Küchenjunge und hatte schon viel zu lange seinen eigenen Boden unter den Füßen verloren. War das nicht das beste? War es das?

»Ich komme«, erklärte er endlich, »aber nur, wenn ich selbst bestimmen darf, ob ich reden will oder nicht.«

»Einverstanden!« antwortete Binabik und versuchte ein Lächeln. Aber Simon war nicht in der Stimmung, es zu erwidern. Er zog seinen Mantel an, der jetzt sauber war, aber noch die sichtbaren Narben der Straße und des Waldes trug, und ließ sich von Binabik nach der großen Halle führen.


»Das ist es!« schrie Herzog Isgrimnur von Elvritshalla. »Welchen Beweis braucht es noch? Er wird schon bald unser ganzes Land an sich gerissen haben!«

Isgrimnur und seine Männer hatten sich nicht einmal die Zeit genommen, ihre Reisekleidung abzulegen. Aus dem durchnäßten Mantel des Herzogs tropfte das Wasser und bildete eine Lache auf dem Steinfußboden. »Wenn ich mir vorstelle, daß ich dieses widernatürliche Ungeheuer einst auf den Knien geschaukelt habe!« Er griff sich, als rühre ihn der Schlag, an die Brust und sah unterstützungsheischend seine Männer an. Alle außer dem ausdruckslos blickenden, schlitzäugigen Einskaldir nickten in trübem Mitgefühl.

»Herzog!« rief Josua und hob die Hand. »Ich bitte Euch, setzt Euch! Seit dem Augenblick, in dem Ihr zur Tür hereingedonnert seid, schreit Ihr, und ich verstehe immer noch nicht, was –«

»Was Euer Bruder, der König, getan hat?« Isgrimnur lief blaurot an und machte ein Gesicht, als würde er sich den Prinzen am liebsten greifen und über sein breites Knie legen. »Mein Land hat er mir gestohlen! Er hat es Verrätern gegeben, die meinen Sohn gefangen halten! Welchen Beweis dafür, daß er ein Dämon ist, verlangt Ihr noch?«

Die versammelten Adligen und Heerführer, die aufgesprungen waren, als die Rimmersmänner in wildem Durcheinander laut rufend in die Halle gestürzt waren, sanken nach und nach wieder auf ihre harten Holzstühle. Es entstand zorniges Gemurmel, und Stahl glitt mit melodischem Zischen in ein Dutzend Scheiden zurück.

»Muß ich Euren Gefolgsmann bitten, für Euch zu sprechen, guter Isgrimnur?« fragte Josua. »Oder seid Ihr jetzt imstande, uns zu berichten, was vorgefallen ist?«

Der alte Herzog warf dem Prinzen oben am Tisch einen kurzen, wütenden Blick zu und fuhr sich dann langsam mit der Hand über das Gesicht, als wolle er sich den Schweiß abwischen. Einen gefährlichen Augenblick lang war Simon überzeugt, Isgrimnur werde in Tränen ausbrechen: Das rote Gesicht des Herzogs fiel zu einer Maske hilfloser Verzweiflung zusammen, und seine Augen glichen denen eines betäubten Tieres. Er trat einen Schritt zurück und ließ sich auf seinem Sitz nieder.

»Er hat Skali Scharfnase mein Land gegeben«, erklärte er endlich, und als das trotzige Aufbegehren aus seiner Stimme verschwand, hörte man deutlich, wie hohl sie klang. »Ich besitze nichts weiter, als was ich am Leibe trage, und habe keinen anderen Ort, an den ich gehen könnte, als diesen hier.« Er schüttelte den Kopf.

Ethelferth von Tinsett stand auf, das breite Gesicht voller Mitgefühl. »Erzählt uns, was geschehen ist, Herzog Isgrimnur. Wir teilen hier alle den einen oder anderen Kummer miteinander, aber auch eine lange Geschichte der Kameradschaft. Wir wollen einander Schwert und Schild sein.«

Der Herzog sah ihn dankbar an. »Habt Dank, Herr Ethelferth. Ihr seid ein guter Kamerad und ein guter Nordmann.« Er wandte sich wieder den anderen zu. »Vergebt mir. Es ist schmachvoll, wie ich mich hier aufführe. Außerdem ist es verdammt-noch-mal keine Art, Neuigkeiten zu überbringen. Erlaubt mir darum, Euch ein paar Dinge zu berichten, die Ihr wissen solltet.«

Isgrimnur ergriff einen herrenlosen Weinhumpen und leerte ihn. Mehrere von den anderen, die eine lange Geschichte auf sich zukommen sahen, riefen, man möge ihnen die Becher wieder füllen.

»Vieles von dem, was sich ereignet hat, werdet Ihr wohl schon wissen, weil Josua und viele andere davon Kenntnis haben. Ich hatte zu Elias gesagt, ich würde seinem Geheiß, auf dem Hochhorst zu bleiben, nicht länger folgen, solange Schneestürme meine Leute töteten, unsere Städte begruben und mein junger Sohn an meiner Stelle über Rimmersgard herrschen mußte. Viele, viele Monate hatte sich der König widersetzt, endlich aber willigte er doch ein. Ich nahm meine Männer und brach nach dem Norden auf.

Zuerst gerieten wir bei Sankt Hoderund in einen Hinterhalt; bevor wir in die Falle gingen, töteten die Wegelagerer die Hüter der heiligen Stätte.« Isgrimnur klopfte auf den hölzernen Baum, der ihm auf der Brust hing. »Wir nahmen den Kampf auf und schlugen sie in die Flucht. Aber ein unnatürliches Gewitter hinderte uns daran, sie zu verfolgen.«

»Das hatte ich bisher nicht gehört«, warf Devasalles von Nabban ein und musterte Isgrimnur mit nachdenklichem Blick. »Wer war es, der Euch bei der Abtei überfiel?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete der Rimmersmann angewidert. »Wir konnten nicht einen Gefangenen machen, obwohl wir eine nicht unbeträchtliche Schar der Räuber den kalten Weg zur Hölle hinabschickten. Manche sahen wie Rimmersgarder aus. Damals war ich überzeugt, Söldner vor mir zu haben – heute bin ich mir meiner Sache nicht mehr so sicher. Einer meiner Gesippen fand durch sie den Tod.

Dann das zweite: Als wir unweit nördlich des Knochs unser Lager aufschlugen, überfielen uns schmutzige Bukken, ein großer Schwarm, und zwar im offenen Gelände. Ein ganzes bewaffnetes Lager griffen sie an! Auch sie schlugen wir in die Flucht, aber nicht ohne große Verluste … Hani, Thrinin, Uter von Saegard…«

»Bukken?« Es war schwer zu sagen, ob Devasalles' hochgezogene Braue ein Zeichen des Erstaunens oder der Verachtung war. »Wollt Ihr mir erzählen, Eure Männer seien vom Kleinen Volk der Legenden angegriffen worden, Herzog Isgrimnur?«

»Eine Legende im Süden vielleicht«, sagte Einskaldir höhnisch, »eine Legende an Nabbans verweichlichten Höfen; im Norden wissen wir, daß sie Wirklichkeit sind, und halten unsere Äxte scharf.«

Baron Devasalles sträubte die Nackenhaare, aber noch ehe er eine wütende Antwort von sich geben konnte, bemerkte Simon eine Bewegung an seiner Seite, und eine Stimme ertönte.

»Mißverständnisse und Unwissenheit besitzen sowohl der Norden als auch der Süden reichlich«, erklärte Binabik, der, eine Hand auf Simons Schulter, auf seinen Stuhl gestiegen war. »Die Bukken oder Gräber dehnen ihre Löcher für gewöhnlich nicht weit über die Nordgrenzen des Erkynlandes aus; aber was das Glück den weiter südlich Wohnenden beschert hat, sollte man nicht irrigerweise als allgemeingültige Wahrheit betrachten.«

Devasalles riß vor Verblüffung ganz offen den Mund auf, und er war nicht der einzige. »Und das ist wohl einer der Bukken persönlich, als Gesandter nach Erkynland gereist? Nun habe ich alles unter der Sonne gesehen und kann glücklich sterben.«

»Wenn ich das Seltsamste bin, das Ihr seht, ehe dieses Jahr um ist…«, begann Binabik, wurde jedoch von Einskaldir unterbrochen, der mit einem Satz von seinem Stuhl aufsprang und sich neben den erschrockenen Isgrimnur postierte.

»Das ist schlimmer als ein Bukken!« fauchte er. »Es ist ein Troll – ein Höllenwicht!« Er versuchte, sich dem Arm des Herzogs, der ihn zurückhielt, zu entwinden. »Was tut dieser Kinderstehler hier?«

»Mehr Gutes als du, unförmiger Bart-Tölpel!« zischte Binabik zurück. Die Versammlung ging in allgemeines Geschrei und Durcheinander über. Simon packte den Troll am Gürtel, weil sich der Kleine so weit vorgebeugt hatte, daß er um ein Haar auf die weinbefleckte Tafel gekippt wäre. Endlich ließ sich Josuas zornige Stimme, die zur Ordnung rief, über dem Tumult vernehmen.

»Beim Blute Ädons, ich dulde es nicht! Seid Ihr Männer oder Kinder? Isgrimnur! Binabik von Yiqanuc ist auf meine Einladung hier. Wenn Euer Mann die Regeln meiner Halle nicht achtet, mag er die Gastlichkeit eines Turmverlieses versuchen! Ich verlange eine Entschuldigung!« Der Prinz stieß vor wie ein herabstürzender Falke, und Simon, der Binabiks Jacke festhielt, erkannte jäh die Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Hochkönig. Das war Josua, wie er sein sollte!

Isgrimnur beugte das Haupt. »Ich entschuldige mich für meinen Lehnsmann, Prinz. Er ist ein Hitzkopf und für höfischen Umgang nicht gezähmt.« Der Rimmersmann warf Einskaldir einen grimmigen Blick zu, und der Mann setzte sich wortlos wieder hin, brummte in seinen Bart und schlug die Augen nieder. »Unser Volk und die Trolle sind Feinde von alters her«, erklärte der Herzog.

»Die Trolle von Yiqanuc sind niemandes Feind«, entgegnete Binabik mit einigem Hochmut. »Es sind die Rimmersmänner, die sich so vor unserer gewaltigen Größe und Stärke fürchten, daß sie uns angreifen, sobald sie uns nur zu Gesicht bekommen – selbst in Prinz Josuas Halle.«

»Genug.« Josua machte eine angewiderte Handbewegung. »Hier ist nicht der Ort, alte Flaschen zu entkorken. Binabik, Ihr werdet später Gelegenheit zum Reden bekommen. Isgrimnur, Ihr habt Eure Geschichte noch zu Ende zu erzählen.«

Devasalles räusperte sich. »Eines nur laßt mich bemerken, Prinz.« Er wandte sich an Isgrimnur. »Nun, da ich den kleinen Mann aus … Yiqanuc? … gesehen habe, fällt es mir leichter, Eurer Erzählung von den Bukken zu glauben. Vergebt mir die zweifelnden Worte, guter Herzog.«

Isgrimnurs Stirnrunzeln wurde ein wenig milder. »Sprecht nicht mehr davon, Baron«, brummte er. »Ich habe es vergessen, so wie Ihr gewiß Einskaldirs törichte Rede vergessen werdet.«

Der Herzog verstummte einen Moment, um seine zerstreuten Gedanken wieder zu sammeln.

»Nun, wie ich schon sagte, es war alles so seltsam. Sogar in der Frostmark und den nördlichen Öden sind die Bukken selten – und wir danken Gott, daß das so ist. Daß sie eine bewaffnete Truppe, die so groß ist wie unsere, angreifen, ist neu. Die Bukken sind klein…« Sein Blick streifte kurz Binabik und glitt dann von ihm ab und zu Simon. Dort blieb er haften, und der Herzog runzelte wieder die Stirn und starrte den Jungen an. »Klein … sie sind klein … aber grimmig, und gefährlich, wenn sie in großer Zahl auftreten.« Er schüttelte den Kopf, als wollte er Simons beunruhigend bekanntes Gesicht daraus verscheuchen, und wandte seine Aufmerksamkeit wieder den anderen um die lange, gebogene Tafel Versammelten zu.

»Nachdem wir den Lochbewohnern entkommen und hierher nach Naglimund gelangt waren, versorgten wir uns rasch mit neuem Proviant und ritten nach Norden weiter. Ich wollte so schnell wie möglich meine Heimat, meinen Sohn und meine Frau wiedersehen. Die obere Weldhelm-Straße und auch die Frostmark-Straße sind heutzutage keine angenehmen Gegenden. Diejenigen unter Euch, deren Länder nördlich von hier liegen, wissen, was ich meine, ohne daß mehr darüber gesagt werden muß. Wir waren froh, am Abend des sechsten Reisetages die Lichter von Vestvennby unter uns zu sehen.

Am nächsten Morgen empfingen uns vor dem Tor Storfot, Than von Vestvennby – Ihr würdet ihn wohl einen Baron nennen –, und ein halbes Hundert seiner Gefolgsmannen. Doch war er erschienen, um seinen Herzog willkommen zu heißen?

Verlegen – und er hatte allen Grund dazu, der verräterische Hund – erklärte er, Elias hätte mich als Verräter bezeichnet und mein Land Skali Scharfnase übergeben. Storfot sagte, Skali wünsche, daß ich mich ergebe, und er, Storfot, solle mich nach Elvritshalla bringen, wo mein Sohn Isorn schon gefangen gehalten werde …. und daß Skali gerecht und gnädig sein werde. Gerecht! Skali von Kaldskryke, der im Rausch den eigenen Bruder erschlug! Will mir unter meinem eigenen Dach gnädig sein!

Hätten meine Männer mich nicht gehindert … hätten sie nicht…« Herzog Isgrimnur mußte einen Moment verschnaufen und drehte in Kummer und Zorn seinen Bart. »Nun«, fuhr er dann fort, »Ihr könnt Euch vorstellen, daß ich Storfot am liebsten sofort die Eingeweide herausgerissen hätte. Besser mit einem Schwert im Leib sterben, dachte ich, als vor einem Schwein wie Skali das Haupt beugen! Aber, wie Einskaldir mir darlegte, das Beste von allem wäre, meine Halle zurückzugewinnen und Skali Stahl fressen zu lassen.«

Isgrimnur tauschte ein kurzes, unfrohes Grinsen mit seinem Gefolgsmann und sprach dann wieder zu der Versammlung, wobei er auf seine leere Schwertscheide schlug: »Darum gelobe ich dieses: Selbst wenn ich den ganzen Weg bis nach Elvritshalla auf meinem alten, dicken Bauch kriechen muß, so schwöre ich doch bei Drors Hamm – bei Usires Ädon, meine ich, verzeiht mir, Bischof Anodis –, daß ich hinkommen werde, um ihm mein gutes Schwert Kvalnir einen Meter tief in die Gedärme zu stoßen.«

Jetzt schlug Gwythinn, der Prinz von Hernystir, der sich bisher ungewöhnlich still verhalten hatte, mit der Faust auf den Tisch. Seine Wangen waren gerötet; nicht allein, dachte Simon, vom Wein, obwohl der junge Mann aus dem Westen ihm reichlich zugesprochen hatte. »Gut!« rief der Prinz. »Doch seht, Isgrimnur, seht ein: Nicht dieser Skali ist Euer Hauptwidersacher – nein, der König selber ist es!«

Ein Grollen ging um den Tisch, das jetzt aber fast ausschließlich Zustimmung ausdrückte. Der Gedanke, das eigene Land könnte einem genommen und an einen Blutfehde-Rivalen gegeben werden, traf bei fast allen eine tiefe und bedrohliche Stelle.

»Der Hernystiri spricht die Wahrheit!« schrie der dicke Ordmaer und wuchtete seinen umfangreichen Leib vom Stuhl. »Es ist offensichtlich, daß Euch Elias nur deshalb so lange auf dem Hochhorst zurückhielt, damit Skali seinen Verrat ausführen konnte. Elias ist der Feind, der hinter allem steht!«

»So wie er es durch seine nur allzu willigen Werkzeuge Guthwulf und Fengbald geschafft hat, die Rechte der meisten von Euch hier mit Füßen zu treten!« Gwythinn war jetzt in voller Fahrt und nicht mehr zu bremsen. »Es ist Elias, der die Hand ausstreckt, um uns alle zu vernichten, bis es keinen Widerstand mehr gegen seine unselige Herrschaft gibt und die wenigen, die von uns noch übrig sein werden, durch Steuern verarmt oder unter den Stiefeln seiner Ritter zertreten sind. Der Hochkönig ist unser Feind, und wir müssen rasch handeln!«

Gwythinn drehte sich zu Josua um, der teilnahmslos wie ein steinernes Standbild die Ereignisse verfolgt hatte. »An Euch ist es, Prinz, uns den Weg zu zeigen. Es besteht kein Zweifel, daß Euer Bruder Pläne für uns alle hat, wie an Euch und an Isgrimnur schon so deutlich bewiesen wurde. Ist er nicht unser wahrer und zugleich gefährlichster Feind?«

»Nein! Das ist er nicht!«

Die Stimme knallte durch die große Halle von Naglimund wie eine Fuhrmannspeitsche. Simon, und mit ihm jede andere Seele im Raum, fuhr herum, umzusehen, wer da sprach. Sekundenlang schien es, als habe sich der alte Mann aus dem luftleeren Raum materialisiert, so plötzlich tauchte er aus den Schatten in das Glühen der Wandfackel. Er war groß und unbegreiflich mager; der Fackelschein warf tiefe Schatten auf seine hohlen Wangen und unter die knochigen Bögen seiner Brauen. Er trug einen Mantel aus Wolfsfell und hatte den langen weißen Bart in den Gürtel gesteckt; für Simon sah er aus wie ein wilder Geist des Winterwaldes.

»Wer seid Ihr, alter Mann?« rief Josua. Zwei seiner Wachen traten vor und nahmen zu beiden Seiten des prinzlichen Stuhles Aufstellung. »Und wie kommt Ihr in unsere Ratsversammlung?«

»Er ist einer von Elias' Spionen!« zischte einer der Edelleute aus dem Norden, und andere sprachen es ihm nach.

Isgrimnur stand auf. »Er ist hier, weil ich ihn mitgebracht habe, Josua«, brummte der Herzog. »An der Straße nach Vestvennby hat er auf uns gewartet – wußte, wo wir hinwollten, und wußte noch vor uns, daß wir hierher zurückkehren würden. Er sagte, so oder so würde er Euch aufsuchen, um mit Euch zu sprechen.«

»Und daß es um so besser für uns alle wäre, je schneller ich hier ankäme«, ergänzte der Alte und heftete die leuchtendblauen Augen auf den Prinzen. »Ich habe Dinge von großer Wichtigkeit mitzuteilen – Euch allen mitzuteilen.« Er ließ seinen beunruhigenden Blick über die Tafel wandern, und wohin er schaute, verstummte das Getuschel. »Ihr mögt mir zuhören oder nicht, das ist Eure Entscheidung … in Dingen wie diesen gibt es immer eine Wahl.«

»Das sind Rätsel für Kinder, Mann«, spottete Devasalles. »Wer in aller Welt seid Ihr, und was wollt Ihr von den Fragen wissen, die wir hier erörtern? In Nabban«, und er lächelte zu Josua hinüber, »würden wir diesen alten Narren zu den Vilderivanerbrüdern schicken, deren Aufgabe die Fürsorge für Irrsinnige ist.«

»Wir sprechen hier nicht von Angelegenheiten des Südens, Baron«, erwiderte der alte Mann mit einem Lächeln, so kalt wie eine Reihe von Eiszapfen, »obwohl auch der Süden schon bald kalte Finger an seiner Kehle spüren wird.«

»Genug!« rief Josua. »Sprecht jetzt, oder ich werde Euch wirklich als Spion in Ketten legen lassen. Wer seid Ihr, und was wollt Ihr von uns?«

Der alte Mann nickte steif. »Vergebung. Ich bin die höfischen Bräuche schon zu lange nicht mehr gewöhnt. Jarnauga ist mein Name, und ich lebte bis vor kurzem in Tungoldyr.«

»Jarnauga!« sagte Binabik und kletterte wieder auf seinen Stuhl, um den Neuankömmling genauer zu betrachten. »Verblüffend! Jarnauga! Ho, ich bin Binabik! Lange Zeit Lehrling von Ookequk!«

Der Alte durchbohrte den Troll mit seinem hellen, stählernen Blick.

»Ja. Wir werden miteinander reden, und zwar bald. Aber zuerst habe ich etwas in dieser Halle und mit diesen Männern zu erledigen.« Aufrecht stand er da, dem Stuhl des Prinzen gegenüber. »König Elias sei der Feind, habe ich den jungen Hernystiri sagen hören, und andere sprachen es ihm nach. Ihr alle seid wie die Mäuse, die mit unterdrückter Stimme von der schrecklichen Katze reden und hinter den Wänden davon träumen, sie eines Tages umzubringen. Keiner von Euch begreift, daß es nicht die Katze ist, die Euch Schwierigkeiten macht, sondern ihr Herr, der sie ins Haus gebracht hat, um Mäuse zu töten.«

Gegen seinen Willen interessiert, beugte sich Josua vor. »Wollt Ihr damit sagen, Elias sei seinerseits nur die Spielfigur eines anderen? Wessen? Dieses Teufels Pryrates vielleicht?«

»Pryrates spielt den Teufel«, versetzte der Alte höhnisch, »aber er ist ein Kind. Ich spreche von einem, für den das Leben von Königen nicht mehr als ein flüchtiger Augenblick ist … einem, der Euch weit mehr nehmen wird als nur das Land.«

Unter den Männern entstand Gerede. »Hat sich dieser wahnsinnige Mönch hier hereingedrängt, um uns einen Vortrag über die Werke des Teufels zu halten?« rief einer der Barone. »Es ist kein Geheimnis für uns, daß der Erzfeind Menschen für seine Zwecke benutzt.«

»Ich spreche nicht von Eurem ädonitischen Dämonenfürsten«, sagte Jarnauga und richtete erneut den Blick auf den Prinzen in seinem hohen Stuhl. »Ich meine den wahren Gebieter der Dämonen von Osten Ard, der so wirklich ist wie dieser Stein«, – er kniete nieder und berührte mit der Handfläche den Boden –, »und genauso ein Teil unseres Landes.«

»Gotteslästerung!« schrie jemand. »Werft ihn hinaus!«

»Nein, laßt ihn reden!« ein anderer.

»Sprecht, Alter!« bat Josua.

Jarnauga hob die Hände. »Ich bin kein verrückter, halberfrorener Heiliger, der zu Euch gekommen ist, um Eure gefährdeten Seelen zu retten.« Er verzog den Mund zu einem trüben Lächeln. »Ich komme als Mitglied des Bundes der Schriftrolle und als Mann, der sein Leben neben dem tödlichen Berg Sturmspitze gelebt und den Berg dieses ganze Leben lang beobachtet hat. Wir vom Bund der Schriftrolle haben, wie Euch der Troll bestätigen kann, lange gewacht, während andere schliefen. Nun komme ich, einen vor langer Zeit geschworenen Eid zu halten … und Euch etwas zu erzählen, von dem Ihr wünschen werdet, es nie gehört zu haben.«

Ein bebendes Schweigen senkte sich über die Halle, als der alte Mann den Raum durchquerte und die Tür zum Hof öffnete. Das Heulen des Windes, vorher nur ein gedämpftes Seufzen, fuhr allen laut in die Ohren.

»Yuven-Mond!« erklärte Jarnauga. »Nur noch ein paar Wochen bis Mitsommer! Hört mich an: Kann ein König, und sei es der Hochkönig selber, das bewirken?« Ein Regenschauer wehte an ihm vorbei wie Rauch. »In Pelze gehüllte Hunen, die im Weldhelm Menschen jagen. Bukken kriechen aus der kalten Erde, um in der Frostmark bewaffnete Soldaten zu überfallen, und im Norden brennen die Schmiedefeuer von Sturmspitze die ganze Nacht. Ich selbst habe das Glühen am Himmel gesehen und die eisigen Hämmer fallen hören. Wie glaubt Ihr, daß Elias das alles getan haben soll? Merkt Ihr nicht, daß ein schwarzer, tödlicher Winter auf Euch hereinbricht, der außerhalb aller Jahreszeiten und jenseits aller Kräfte Eures Verstandes liegt?«

Isgrimnur war erneut aufgestanden, das runde Gesicht bleich, die Augen schmal. »Und was bedeutet das, Mann, was? Wollt Ihr sagen, daß wir … Udun Einauge steh mir bei … gegen die … Weißfüchse aus den alten Sagen kämpfen?« Hinter ihm erhob sich ein Chor geflüsterter Fragen und bestürzten Gemurmels.

Jarnauga starrte den Herzog an, und sein runzliges Gesicht wurde milder und nahm einen Ausdruck an, der Mitleid bedeuten mochte oder Kummer. »Ach, Herzog Isgrimnur, so schlimm auch die Weißfüchse – die manche unter dem Namen Nornen kennen – sein mögen, es wäre ein Geschenk des Himmels für uns, wenn es damit sein Bewenden hätte. Aber ich sage Euch, daß es weder Utuk'ku ist, die Königin der Nornen und Herrin des furchtbaren Berges Sturmspitze, noch Elias, von denen dies alles ausgeht.«

»Ruhig, Mann, haltet nur einen Augenblick lang Euren Mund.« Devasalles war zornig, mit wogenden Gewändern, aufgesprungen. »Prinz Josua, vergebt mir, aber es ist schlimm genug, daß dieser Verrückte hier eindringt, die Ratsversammlung stört und das Wort an sich reißt, ohne zu erklären, wer und was er ist. Muß ich, Herzog Leobardis' Gesandter, nun auch noch meine Zeit damit vergeuden, daß ich mir seine Geschichten von einem Kinderschreck aus dem Norden anhöre? Es ist unzumutbar!«

Während das Stimmengewirr der Auseinandersetzungen wieder anschwoll, überlief Simon ein seltsam erregender Schauer. Sich vorzustellen, daß er und Binabik im Mittelpunkt all dieser Ereignisse gestanden hatten, mitten in einer Geschichte, neben der alles verblaßte, was Shem Pferdeknecht sich je hätte ausdenken können … Doch als er sich die Mär ausmalte, die er vielleicht eines Tages am Feuer berichten könnte, fielen ihm die Schnauzen der Nornenhunde wieder ein, die bleichen Gesichter im dunklen Berg seiner Träume, und wieder, nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal, wünschte er sich verzweifelt zurück in die Küche des Hochhorstes, wünschte sich, daß nichts sich verändert hätte, nichts sich je verändern würde …

Der alte Bischof Anodis, der den Neuankömmling die ganze Zeit mit dem scharfen, wilden Blick einer Möwe, die sich an ihrem Lieblingsfutterplatz plötzlich einem neuen Vogel gegenübersieht, beobachtet hatte, erhob sich jetzt.

»Ich muß sagen, und ich schäme mich nicht, es offen einzugestehen, daß ich von diesem … diesem Raed hier von Anfang an wenig gehalten habe. Vielleicht hat Elias Fehler gemacht, aber seine Heiligkeit, der Lektor Ranessin, hat sich erboten, zu vermitteln und den Versuch zu machen, unter den Ädonitern – und natürlich auch ihren ehrenwerten heidnischen Verbündeten –«, hier nickte er beiläufig Gwythinn und seinen Männern zu –, »Frieden zu stiften. Alles jedoch, was ich hier gehört habe, sind Worte von Krieg und dem Vergießen von Ädoniterblut als Rache für unbedeutende Kränkungen.«

»Unbedeutende Kränkungen?« Isgrimnur kochte. »Ihr nennt den Diebstahl meines Herzogtums eine ›unbedeutende Kränkung‹, Bischof? Kommt Ihr doch einmal nach Hause und findet Eure Kirche als … verdammten Hyrkastall oder als Trollnest wieder, dann werden wir ja sehen, ob Ihr das auch als ›unbedeutende Kränkung‹ bezeichnet!«

»Trollnest???« wiederholte Binabik und wollte schon aufstehen.

»Und das beweist nur, daß ich recht habe«, fauchte Anodis und fuchtelte mit dem Baum in seiner knotigen Hand herum, als wäre er ein Messer zur Abwehr von Räubern. »Hört doch, wie Ihr einen Mann der Kirche anschreit, der Eure Torheiten zurückzuweisen sucht.« Er richtete sich gerade auf. »Und dann«, er schwenkte den Baum in Richtung auf Josua, »dann kommt auch noch so ein … so ein … bärtiger Eremit und erzählt uns von Hexen und Dämonen und treibt einen noch größeren Keil zwischen die einzigen Söhne des Hochkönigs! Zu wessen Vorteil soll das sein? Wem dient dieser Jarnauga überhaupt?« Feuerrot und am ganzen Leibe zitternd fiel der Bischof in seinen Stuhl zurück, langte nach dem Wasserpokal, den ihm sein Priesterschüler reichte, und trank durstig.

Simon griff neben sich und zog so lange an Binabiks Arm, bis sein Freund sich wieder hinsetzte.

»Ich verlange immer noch eine Erklärung für den Ausdruck ›Trollnest‹«, knurrte dieser vor sich hin, bis Simon die Stirn runzelte, woraufhin der Troll die Zähne zusammenbiß und schwieg.

Prinz Josua saß eine Zeitlang stumm da und starrte Jarnauga an, der den Blick des Prinzen so ungerührt aushielt wie eine Katze.

»Ich habe vom Bund der Schriftrolle gehört«, sagte Josua endlich.

»Ich hatte allerdings nicht die Vorstellung, daß seine Mitglieder das Verhalten von Herrschern und Staaten zu beeinflussen suchten.«

»Ich habe nicht von diesem sogenannten Bund gehört«, mischte sich Devasalles ein, »und ich finde es an der Zeit, daß dieser merkwürdige Alte uns mitteilt, wer ihn schickt und welche Gefahr uns droht – wenn es nicht der Hochkönig ist, wie viele von uns hier anzunehmen scheinen.«

»Ausnahmsweise stimme ich mit dem Baron aus Nabban überein«, rief Gwythinn von Hernystir. »Jarnauga soll uns alles berichten, damit wir uns entscheiden können, ob wir ihm glauben oder ihn aus der Halle werfen wollen.«

Prinz Josua auf dem höchsten Stuhl nickte. Der alte Rimmersmann ließ seinen Blick über die erwartungsvollen Gesichter schweifen und hob dann mit seltsamer Gebärde die Hände, wobei er mit den Fingern die Daumen berührte, als halte er sich einen dünnen Faden vor die Augen.

»Gut«, meinte er schließlich, »gut. So laßt uns denn die ersten Schritte auf einem Weg tun, dem einzigen Weg, der uns vielleicht noch aus dem schwarzen Schatten des Berges herausführen kann.« Er breitete die Arme aus, als wolle er den unsichtbaren Faden zu großer Länge ausdehnen, und öffnete dann weit die Hände.

»Die Geschichte des Bundes ist nur von geringer Bedeutung«, begann er, »aber sie ist Teil einer größeren Geschichte.« Erneut trat er an die Tür, die ein Page inzwischen wieder geschlossen hatte, um die Wärme nicht aus der hochgebauten Halle entweichen zu lassen. Jarnauga berührte den schweren Türrahmen. »Wir können diese Tür zumachen, aber davon werden Schnee und Hagel nicht verschwinden. Genauso könnt Ihr mich einen Wahnsinnigen heißen – das wird ihn, der Euch bedroht, nicht vertreiben. Er hat fünf Jahrhunderte darauf gewartet, sich wiederzuholen, was er für das Seine hält, und seine Hand ist kälter und stärker, als Euer Verstand es faßt. Seine Geschichte ist der größere Zusammenhang, in den die Geschichte des Bundes eingebettet ist wie eine alte Pfeilspitze in einen großen Baum, über den die Rinde hinweggewachsen ist, bis man den Pfeil selbst nicht mehr erkennen kann.

Der Winter, der jetzt auf uns lastet, der Winter, der den Sommer von seinem rechtmäßigen Thron verdrängt hat, ist sein Werk. Er ist das Symbol seiner Macht, der Macht, die er jetzt einsetzt, um die Dinge nach seinem Willen zu formen.«

Jarnauga starrte grimmig vor sich hin, und einen langen Augenblick war alles still, und nur der Wind sang einsam um die Mauern.

»Wer?« fragte Josua endlich. »Wie heißt dieses Wesen, alter Mann?«

»Ich dachte, Ihr wüßtet es, Prinz«, entgegnete Jarnauga. »Ihr seid ein Mann von großer Erfahrung. Euer Feind … unser Feind … starb vor fünfhundert Jahren; der Ort, an dem sein erstes Leben endete, liegt unter den Fundamenten der Burg, auf der euer Leben begann. Er heißt Ineluki … der Sturmkönig.«

XXXIII Aus Asu'as Asche

»Geschichten in Geschichten«, begann Jarnauga in einer Art Singsang und warf seinen Wolfsmantel ab. Der Feuerschein enthüllte die Windungen der Schlangen, die sich um die Haut seiner langen Arme ringelten. Wieder entstand Geflüster. »Ich kann Euch die Geschichte vom Bund der Schriftrolle nicht erzählen, ehe Ihr nicht versteht, wie Asu'a unterging. Das Ende von König Eahlstan Fiskerne, der den Bund als Mauer gegen das Dunkel errichtete, läßt sich nicht vom Ende Inelukis trennen, dessen Dunkelheit uns jetzt umgibt. So sind die Geschichten ineinander verwoben, und ein Strang folgt auf den anderen. Zieht man einen einzelnen Faden heraus, ist er nicht mehr als das – ein einzelner Faden. Ich bestreite, daß es jemanden gibt, der imstande ist, allein aus einem solchen Faden das Muster eines Gewebes zu erkennen.«

Beim Sprechen fuhr sich Jarnauga mit schmalen Fingern durch den wirren Bart, glättete ihn und ordnete seine große Länge, als wäre auch er eine Art Gewebe und könnte Jarnaugas Geschichte einen Sinn verleihen.

»Lange Zeit, bevor die Menschen nach Osten Ard kamen«, fuhr er dann fort, »waren die Sithi hier. Weder Mann noch Frau sind noch am Leben, die wissen, wann sie kamen, aber gekommen sind sie, eingewandert von Osten, dort, wo die Sonne aufgeht, und schließlich ließen sie sich in diesem Land nieder.

In Erkynland, dort, wo heute der Hochhorst steht, schufen sie ihr gewaltigstes Werk, die Burg Asu'a. Tief gruben sie in die Erde und legten die Fundamente in die Gebeine von Osten Ard selber. Dann errichteten sie Mauern aus Elfenbein und Perlen und Opal, die die Bäume an Höhe überragten, und Türme, die in den Himmel stiegen wie Schiffsmasten, Türme, von denen man ganz Osten Ard überblicken konnte und von wo aus die scharfäugigen Sithi den großen Ozean beobachteten, der an das westliche Ufer brandete.

Ungezählte Jahre wohnten sie in Osten Ard allein, bauten auf den Berghängen und in der Tiefe der Wälder ihre zerbrechlichen Städte, zierliche Hügelstädte wie Eisblumen und Waldsiedlungen wie an Land gefesselte Boote mit vielen Segeln. Doch Asu'a war die größte von allen, und hier herrschten die langlebigen Könige der Sithi.

Als die ersten Menschen sich einstellten, waren es schlichte Hirten und Fischer, die über eine heute längst verschwundene Landbrücke in den nördlichen Öden hierher kamen, auf der Flucht vor etwas Schrecklichem vielleicht, das sie verfolgt hatte, oder auch nur auf der Suche nach neuem Weideland. Die Sithi beachteten sie nicht mehr als die Hirsche oder Wildrinder, selbst als die rasch aufeinanderfolgenden Generationen immer mehr wurden und der Mensch anfing, sich steinerne Städte zu bauen und Werkzeuge und Waffen aus Bronze zu schmieden. Solange sie nicht nahmen, was den Sithi gehörte, und in dem Land blieben, das der Erlkönig ihnen zubilligte, herrschte Friede zwischen den Völkern.

Sogar das Imperium von Nabban im Süden, berühmt ob seiner Künste und seiner Waffen, das seinen langen Schatten über alle sterblichen Menschen Osten Ards warf, war für die Sithi oder ihren König Iyu'unigato kein Anlaß zur Besorgnis.«

An dieser Stelle blickte sich Jarnauga nach etwas zu trinken um, und während ein Page einen Humpen für ihn füllte, tauschten seine Zuhörer Blicke und verwirrtes Tuscheln.

»Davon hat mir Doktor Morgenes erzählt«, flüsterte Simon Binabik zu. Der Troll nickte lächelnd, schien aber von eigenen Gedanken abgelenkt.

»Gewiß ist es nicht nötig«, nahm Jarnauga seinen Faden wieder auf – mit erhobener Stimme, um die Aufmerksamkeit der raunenden Menge zurückzugewinnen –, »über die Veränderungen zu sprechen, die der Ankunft der ersten Rimmersmänner folgten. Es gibt genügend alte Wunden, die aufgerissen werden müssen, ohne daß wir bei dem verweilen, was geschah, als sie vom fernen Westen her ihren Weg über das Wasser fanden.

Etwas aber, das erwähnt werden muß, ist König Fingils Marsch vom Norden herunter, und damit der Untergang Asu'as. Fünf lange Jahrhunderte haben einen großen Teil dieser Geschichte mit ihrem Geröll und mit Ahnungslosigkeit zugeschüttet; aber als Eahlstan der Fischerkönig vor zweihundert Jahren unseren Bund stiftete, geschah es, um eben dieses Wissen zurückzugewinnen und zu bewahren. Darum gibt es Dinge – die ich Euch nun erzählen werde –, von denen die meisten von Euch nie zuvor gehört haben.

In den Schlachten am Knoch, in der Ebene von Agh Samrath und im Utanwash – überall triumphierten Fingil und seine Heerscharen und zogen die Schlinge um Asu'a immer fester. Auf Agh Samrath, dem Sommerfeld, verloren die Sithi ihre letzten menschlichen Verbündeten, und als die Hernystiri vernichtet waren, gab es niemanden mehr unter den Sithi, der gegen das Eisen des Nordens bestehen konnte.«

»Vernichtet durch Verrat!« unterbrach Prinz Gwythinn, rot im Gesicht und bebend. »Nichts außer Verrat konnte Sinnagh vom Schlachtfeld vertreiben – die Verderbtheit der Männer aus den Thrithingen, die in der Hoffnung auf ein paar Krumen von Fingils blutiger Tafel den Hernystiri in den Rücken fielen!«

»Gwythinn!« rief Josua. »Ihr habt Jarnauga gehört: Das sind alte Wunden. Es ist nicht einmal ein Thrithingmann unter uns. Würdet Ihr über den Tisch springen und Euch auf Herzog Isgrimnur stürzen, nur weil er ein Rimmersmann ist?«

»Er soll es nur versuchen«, knurrte Einskaldir.

Gwythinn schüttelte beschämt den Kopf. »Ihr habt recht, Josua. Vergebt mir, Jarnauga.« Der Alte nickte, und Lluths Sohn wandte sich an Isgrimnur. »Und natürlich, guter Herzog, sind wir beide hier die engsten Verbündeten.«

»Es hat sich niemand beleidigt gefühlt, junger Herr«, lächelte Isgrimnur, aber Einskaldir neben ihm fing Gwythinns Blick auf, und die beiden starrten einander kalt in die Augen.

»So geschah es«, begann Jarnauga wieder, als habe niemand ihn unterbrochen, »daß man in Asu'a, obwohl seine Mauern von alter und mächtiger Zauberkraft zusammengehalten wurden und es Heimat und Herz des Sithigeschlechtes war, dennoch fühlte, daß eine Zeit zu Ende ging, daß die sterblichen Emporkömmlinge das Haus ihrer Vorgänger zerstören würden und die Sithi Osten Ard für immer verlassen müßten.

Iyu'unigato, ihr König, kleidete sich von Kopf bis Fuß in Trauerweiß und verbrachte mit seiner Königin Amerasu die langen Tage von Fingils Belagerung – aus denen bald Monate und gar Jahre wurden, denn selbst kalter Stahl konnte das Werk der Sithi nicht über Nacht bezwingen – mit dem Anhören melancholischer Musik und der Poesie aus heitereren Tagen der Sithi in Osten Ard. Von außen, im Lager der Belagerer aus dem Norden, erweckte Asu'a noch immer den Anschein gewaltiger Stärke, eng umschlossen von Zauber und Hexenkunst … doch in der glänzenden Schale verfaulte das Herz.

Aber einen gab es unter den Sithi, der es anders wollte und nicht damit zufrieden war, seine letzten Tage mit Klagegesängen über den verlorenen Frieden und die verwüstete Unschuld zuzubringen. Es war lyu'unigatos Sohn, und sein Name war … Ineluki

Wortlos, jedoch mit nicht unbeträchtlichem Rumoren, packte Bischof Anodis seine Sachen zusammen. Dann winkte er seinem jungen Priesterschüler, der ihm auf die Beine half.

»Entschuldigt, Jarnauga«, sagte Josua. »Bischof Anodis, warum wollt Ihr uns verlassen? Wie Ihr hört, ziehen furchtbare Wesen gegen uns zu Felde. Wir hoffen auf Eure Weisheit und die Stärke der Mutter Kirche, um uns zu leiten.«

Anodis sah ärgerlich auf. »Und ich soll hier sitzen, mitten in einem Kriegsrat, den ich niemals gebilligt habe, und mir anhören, wie dieser … dieser wilde Mann die Namen heidnischer Dämonen im Munde führt! Seht Euch doch selber an, Euch alle, wie Ihr an seinen Worten hängt, als stammte jedes einzelne davon aus dem Buche Ädon.«

»Die, von denen ich rede, sind lange vor Eurem heiligen Buch geboren, Bischof«, entgegnete Jarnauga milde; aber die schräge Haltung seines Kopfes war grimmig und kampfbereit.

»Reine Phantasie«, brummte Anodis. »Ihr haltet mich für einen mürrischen alten Mann, aber ich warne Euch vor solchen Kindermärchen, denn sie werden Euch ins Verderben führen. Trauriger jedoch ist, daß Ihr vielleicht unser ganzes Land mit Euch in den Abgrund reißt.«

Er machte das Zeichen des Baumes vor sich in die Luft, als zeichne er einen Schild, und wankte dann ohne ein weiteres Wort am Arm des jungen Priesters hinaus.

»Phantasie oder nicht, Dämonen oder Sithi«, erklärte nun Josua und stand von seinem Stuhl auf, um die Versammlung zu mustern, »dies hier ist meine Halle, und ich habe diesen Mann gebeten, uns zu berichten, was er weiß. Es wird keine weiteren Unterbrechungen geben.« Er ließ den Blick durch den dämmrigen Raum schweifen und setzte sich dann befriedigt wieder hin.

»Gut solltet Ihr mir nun lauschen«, fuhr Jarnauga fort, »denn jetzt kommt der Kern dessen, was ich zu sagen habe. Ich spreche von Ineluki, dem Sohn lyu'unigatos, des Erlkönigs.

Ineluki, dessen Name in der Sprache der Sithi ›Hier ist kluge Rede‹ bedeutet, war der jüngere der beiden Söhne des Königs. Gemeinsam mit seinem älteren Bruder Hakatri hatte er gegen die schwarze Hidohebhi gekämpft, den Mutterdrachen des roten Lindwurms Shurakai, den Johan der Priester erschlug, und auch die Mutter von Igjarjuk, dem weißen Drachen des Nordens.«

»Vergebung, Jarnauga.« Einer von Gwythinns Gefährten erhob sich. »Eure Worte klingen seltsam für uns, aber nicht völlig fremd. Wir Hernystiri kennen Geschichten von einem schwarzen Drachenweibchen, der Mutter aller Lindwürmer, nur daß sie darin Drochnathair genannt wird.«

Jarnauga nickte, wie ein Lehrer einem Schüler zunickt. »Das war ihr Name bei den ersten Menschen im Westen, lange bevor Hern den Taig in Hernysadharc errichtete. So überleben kleine Stücke und Reste älterer Wahrheit in den Geschichten, die Kinder im Bett hören oder die sich Soldaten und Jäger am Lagerfeuer erzählen. Aber Hidohebhi war ihr Name bei den Sithi, und sie war mächtiger als ihre beiden Kinder. Als die Königssöhne sie töteten – worüber man sich ebenfalls eine lange und berühmte Geschichte erzählt –, erlitt Inelukis Bruder Hakatri furchtbare Verletzungen, Verbrennungen vom schrecklichen Feuer des Wurms. In ganz Osten Ard gab es kein Heilmittel für seine Wunden oder Linderung für den unendlichen Schmerz, aber er konnte auch nicht sterben. Schließlich ließ ihn der König mit seinem vertrautesten Diener in ein Boot setzen, und sie segelten über den Ozean nach Westen, wo, wie die Sithi hofften, hinter der untergehenden Sonne ein anderes Land lag, ein Ort ohne Schmerzen, an dem Hakatri wieder gesund werden könnte.

So stand Ineluki trotz der Heldentat, Hidohebhi erschlagen zu haben, als Erbe seines Vaters unter dem Schatten von Hakatris Unglück. Möglicherweise machte er sich auch selber Vorwürfe. In der Folge verbrachte er lange Jahre damit, nach Wissen zu forschen, das wohl besser für Mensch und Sithi gleichermaßen unerreichbar hätte sein sollen. Vielleicht dachte er zuerst, er könne seinen Bruder heilen, ihn aus dem fremden, fernen Westen nach Hause holen … aber wie es bei solcher Suche immer geschieht, wurde das Forschen für ihn Selbstzweck und trug seinen Lohn in sich selbst; und Ineluki, dessen Schönheit einst die leise Musik im Palast von Asu'a gewesen war, entfremdete sich seinem Volk mehr und mehr und forschte an dunklen Stätten.

Und als sich die Menschen im Norden erhoben, plünderten und mordeten und endlich einen Ring aus giftigem Eisen um Asu'a legten, da war es Ineluki, der sich als einziger den Kopf darüber zerbrach, wie man aus der Falle entkommen könnte.

In den tiefen Höhlen unter der Feste, von kunstreichen Spiegeln erhellt, wuchsen die Hexenholz-Gärten, der Ort, an dem die Sithi die Bäume hegten, deren seltsames Holz sie gebrauchten wie die Männer des Südens die Bronze und die Nordleute das Eisen. Die Hexenholzbäume, deren Wurzeln, wie manche sagen, bis zum innersten Kern der Erde hinabreichen, wurden von Gärtnern gepflegt, die so heilig waren wie Priester. Jeden Tag sprachen sie die alten Zaubersprüche und hielten die sich niemals ändernden Rituale ab, die das Hexenholz zum Gedeihen brachten, während über ihnen im Palast der König und sein Hof immer tiefer in Verzweiflung und Vergessen sanken.

Aber Ineluki hatte weder die Gärten vergessen noch die dunklen Bücher, die er gelesen hatte, und auch nicht die Schattenpfade, die er bei seiner Suche nach Weisheit gegangen war. In seinen Gemächern, die keiner der anderen mehr betrat, begann er mit einem Werk, von dem er glaubte, es werde Asu'a und den Sithi die Rettung bringen. Auf irgendeine Weise, unter großen Schmerzen für sich selber, beschaffte er schwarzes Eisen, das er den Hexenholzbäumen zuführte wie ein Mönch, der seine Reben wässert. Viele der Bäume, nicht weniger empfindsam als die Sithi selbst, erkrankten daran und starben. Einer jedoch blieb am Leben.

Ineluki wob einen Zauber um diesen Baum, mit Worten, die älter waren als die Sithi, und mit Zaubermitteln, die noch tiefer hinabreichten als die Wurzeln des Hexenholzes. Der Baum wurde wieder stark, und jetzt rann giftiges Eisen durch seine Adern wie Blut. Die Hüter des heiligen Gartens sahen ihre Schützlinge sterben und flohen. Sie berichteten es König Iyu'unigato, der bestürzt war, aber seinem Sohn, da er ohnehin das Ende seiner Welt vor sich sah, nicht Einhalt gebieten wollte. Was nützte jetzt noch Hexenholz, da man von helläugigen Männern mit tödlichem Eisen in den Händen umringt war?

Das Wachstum des Baumes schwächte Ineluki sehr – genau wie die Gärten, aber sein Wille war stärker als jede Krankheit. Er gab nicht auf, und endlich war es an der Zeit, die ersehnte Ernte einzubringen. Er nahm das Grausige, das er gepflanzt hatte, das ganz von boshaftem Eisen durchwucherte Hexenholz, und stieg hinauf zu den Schmieden von Asu'a.

Abgemagert, so krank, daß er dem Wahnsinn nahe war, sah er die Schmiedemeister vor sich fliehen; er kümmerte sich nicht darum. Ganz allein schürte er die Feuer heißer als je zuvor; allein intonierte er die Worte der Schöpfung und schwang dabei den Hammer-der-formt, den keiner als der Oberste der Schmiede jemals geführt hatte.

Allein in den rotglühenden Tiefen von Asu'a schuf er ein Schwert, ein grausiges, graues Schwert, dessen bloße Materie Unheil auszustrahlen schien. Solch entsetzlichen, unheiligen Zauber beschwor Ineluki beim Schmieden, daß die Luft in der Schmiede vor Hitze zu knistern schien und die Mauern der Feste erbebten wie unter dem Schlag riesiger Fäuste.

Dann brachte er das neugeschmiedete Schwert in die große Halle seines Vaters, um seinem Volke zu zeigen, was ihnen die Rettung bescheren würde. Aber so schrecklich war sein Anblick und so furchterregend das graue Schwert, das in einem fast unerträglichen Licht leuchtete, daß die Sithi, von Grauen erfüllt, aus der Halle rannten. Nur Ineluki und sein Vater lyu'unigato blieben zurück.«

In dem tiefer werdenden Schweigen, das auf Jarnaugas Worte folgte, einer so tiefen Stille, daß selbst das Feuer zu sprühen aufgehört hatte, als hielten auch die Flammen den Atem an, spürte Simon, wie sich in seinem Nacken und an den Armen die Haare sträubten und ein sonderbarer Schwindel ihn befiel.

Ein … Schwert! Ein graues Schwert! Ich sehe es ganz deutlich! Was bedeutet das? Warum werde ich den Gedanken daran nicht los? Er kratzte sich mit beiden Händen grob am Schädel, als könnte er durch den Schmerz die Antwort herauslocken.

»Als nun der Erlkönig endlich sah, was sein Sohn geschaffen hatte, muß ihm das Herz in der Brust zu Eis erstarrt sein, denn die Klinge in Inelukis Hand war keine bloße Waffe, sondern eine Lästerung der Erde, der sowohl Eisen als auch Hexenholz entstammten. Sie war ein Loch im Gewebe der Schöpfung, aus dem das Leben heraussickerte.

›Ein Ding wie dieses ist wider die Natur‹, sprach er zu seinem Sohn. ›Besser ist es uns, in die Leere der Vergessenheit zu gehen, besser, daß die Sterblichen unsere Knochen zernagen – ja, besser wäre es, wir hätten nie gelebt, als daß ein Ding wie dieses jemals geschaffen worden, geschweige denn angewendet sein sollte.‹

Doch die Macht des Schwertes hatte Ineluki den Verstand geraubt, und er war in die Zauberkünste, die es hervorgebracht hatten, selbst auf das Furchtbarste verstrickt. ›Es ist die einzige Waffe, die uns retten kann‹, erwiderte er seinem Vater. ›Sonst werden diese Geschöpfe, diese Insekten, über das Angesicht unseres Landes ausschwärmen und dabei all das Schöne zugrunde richten und vernichten, das sie nicht einmal erkennen, geschweige denn begreifen können. Das zu verhindern ist jeden Preis wert.‹

›Nein‹, entgegnete lyu'unigato. ›Nein. Manchmal ist ein Preis zu hoch. Betrachte dich doch! Schon jetzt hat es dir Kopf und Herz geraubt. Ich bin nicht nur dein Vater, sondern auch dein König, und ich befehle dir, es zu zerstören, bevor es dich ganz und gar verschlingt.‹

Aber als er vernahm, was sein Vater von ihm forderte, die Vernichtung des Schwertes, das zu schmieden ihn fast das Leben gekostet und das er, wie er glaubte, nur geschaffen hatte, um sein Volk vor der Dunkelheit des Unterganges zu retten, da geriet Ineluki ganz und gar außer sich. Und er hob das Schwert und streckte seinen Vater nieder, so daß der König der Sithi den Tod fand.

Niemals zuvor war eine solche Tat geschehen, und als Ineluki lyu'unigato vor sich liegen sah, da weinte er bitterlich, nicht allein um seinen Vater, sondern auch um sich selbst und sein Volk. Endlich aber hob er das graue Schwert an seine Augen. ›Aus Leid bist du geboren‹, sagte er, ›und Leid hast du uns gebracht. Leid soll dein Name sein.‹ Und er nannte die Klinge Jingizu, was in der Sprache der Sithi Leid bedeutet.«

Leid … ein Schwert mit dem Namen Leid … Simon hörte es in seinem Kopf wie ein Echo, das durch seine Gedanken hin und her sprang, bis es schien, als wolle es Jarnaugas Worte und den Sturm draußen und die ganze Welt übertönen. Warum klang es so entsetzlich vertraut? Leid … Jingizu … Leid…

»Aber damit ist die Geschichte nicht zu Ende«, begann der Nordmann von neuem, und seine Stimme wurde stärker und warf ein Bahrtuch des Unbehagens über die Lauschenden. »Ineluki, von seiner eigenen Tat immer tiefer in den Wahnsinn getrieben, griff trotz allem nach der weißen Birkenholzkrone seines Vaters und erklärte sich zum König. So betäubt waren seine Angehörigen und sein Volk von dem Mord, daß sie nicht das Herz hatten, ihm Widerstand zu leisten. Einige freuten sich sogar insgeheim über diese Wende, vor allem fünf Sithi, die wie Ineluki über den Gedanken, sich den Sterblichen kampflos zu ergeben, erzürnt gewesen waren.

Ineluki, Leid in der Hand, war eine zügellose Macht. Mit seinen fünf Gefolgsleuten – von den verschreckten und abergläubischen Nordleuten die Rote Hand genannt, ihrer Zahl und der feuerfarbenen Mäntel wegen – trug Ineluki den Kampf vor die Mauern von Asu'a, zum ersten Mal in der fast dreijährigen Belagerung. Nur die schiere Masse der eisenschwingenden Tausendschaften von Fingils Horde hinderten den Nachtalb, zu dem Ineluki geworden war, daran, die Belagerung zu durchbrechen. Und doch hätte es sein können, daß noch immer Sithi-Könige über die Zinnen des Hochhorstes wandeln würden, hätten sich die übrigen Sithi hinter ihn gestellt.

Aber Inelukis Volk hatte nicht mehr den Willen zu kämpfen. Voller Angst vor ihrem neuen König, schaudernd vor seinem Mord an lyu'unigato, nutzten sie statt dessen das von Ineluki und seiner Roten Hand angerichtete Gemetzel und flohen aus Asu'a, angeführt von Amerasu, der Königin, und Shima'onari, dem Sohn von Inelukis Bruder Hakatri. Sie entkamen über die dunklen, aber schützenden Pfade des Aldheorte und verbargen sich dort vor dem Blutrausch der Sterblichen und vor ihrem eigenen König.

So geschah es, daß Ineluki sich am Ende mit wenig mehr als seinen fünf Kriegern allein im glitzernden Skelett von Asu'a fand. Selbst sein machtvoller Zauber hatte sich schließlich als zu schwach erwiesen, um der gewaltigen Masse von Fingils Heer zu widerstehen. Die Schamanen aus dem Norden raunten ihre Runen, und der letzte schützende Zauber fiel von den uralten Mauern ab. Mit Pech und Stroh und Fackeln setzten die Rimmersmänner die schlanken Bauten in Brand. Als der Rauch und die Flammen aufstiegen, zerrten die Nordmänner die letzten der Sithi aus ihren Schlupfwinkeln, jene, die zu schwach oder zu ängstlich zur Flucht oder ihrer unvergeßlichen Heimat zu treu gewesen waren. Schreckliche Greueltaten begingen Fingils Rimmersmänner in diesem Brand; die verbliebenen Sithi hatten kaum noch Kraft, sich zu wehren. Ihre Welt war dem Untergang geweiht. Die grausamen Morde, die erbarmungslosen Folterungen und Schändungen hilfloser Opfer, die lachende Zerstörung tausender kostbarer und unersetzlicher Dinge – mit diesen Taten setzte Fingil Rothands Heer sein scharlachrotes Siegel auf unsere Geschichte und hinterließ einen Fleck, der nie mehr ausgelöscht werden kann. Und zweifellos hörten jene, die in den Wald geflohen waren, die Schreie, und schauderten und weinten zu ihren Ahnen um Gerechtigkeit.

In dieser letzten, schicksalhaften Stunde nahm Ineluki seine Rote Hand und stieg mit ihnen auf die Spitze des höchsten Turmes von Asu'a. Offensichtlich hatte er beschlossen, daß dort, wo kein Raum mehr für die Sithi war, auch die Menschen niemals eine Heimat finden sollten.

An diesem Tag sprach er noch grausigere Worte als je zuvor, um ein Vielfaches böser selbst als jene, mit deren Hilfe er die Materie gebunden hatte, aus der das Schwert Leid bestand. Als seine Stimme über die Feuersbrunst hallte, stürzten Rimmersmänner auf dem Hof schreiend zu Boden. Ihre Gesichter waren verkohlt; Blut rann ihnen aus Augen und Ohren. Das Singen steigerte sich zu ohrenzerreißender Höhe und wurde zu einem entsetzlichen Aufschrei der Todesqual. Ein gewaltiger Blitzschlag färbte den Himmel weiß, sofort gefolgt von einer Finsternis, die so tief war, daß selbst Fingil in seinem eine Meile entfernten Zelt mit jäher Blindheit geschlagen zu sein glaubte.

Und doch hatte Ineluki nicht erreicht, was er wollte. Asu'a stand noch und brannte weiter, auch wenn jetzt ein großer Teil von Fingils Heer klagend und sterbend am Fuße des Turmes lag. Oben in der Spitze, seltsam unberührt von Rauch oder Flammen, siebte der Wind sechs Häufchen grauer Asche und zerstreute sie langsam am Boden.«

Leid … In Simons Kopf drehte sich alles, und das Atmen fiel ihm schwer. Das Licht der Fackeln schien wild zu flackern. Der Berghang. Ich hörte die Wagenräder … sie brachten Leid! Ich erinnere mich … es war wie der Teufel in einer Kiste … das Herz allen Leids.

»So starb Ineluki. Einer von Fingils Unterführern, der Minuten später seinen letzten Atemzug tat, schwor, er habe eine ungeheure Gestalt aus dem Turm aufsteigen sehen, glühendrot wie Kohlen im Feuer; sie kräuselte sich wie Rauch und griff nach dem Himmel wie eine riesige rote Hand…«

»NEIN!« schrie Simon und sprang auf. Eine Hand griff nach ihm und wollte ihn festhalten, dann noch eine, aber er schüttelte sie ab wie Spinnweben. »Sie brachten das graue Schwert, das grausige Schwert! Und dann sah ich ihn! Ich sah Ineluki! Er war … er war…«

Der Raum schwankte hin und her und Gesichter mit aufgerissenen Augen – Isgrimnur, Binabik, der alte Jarnauga – sprangen vor ihm auf wie hüpfende Fische im Teich. Er wollte weiterreden, ihnen vom Berghang und den weißen Dämonen erzählen, aber ein schwarzer Vorhang fiel vor seine Augen und etwas dröhnte in seinen Ohren…

Simon hastete durch dunkle Orte, und seine einzigen Gefährten waren Worte im leeren Raum.

Mondkalb! Komm zu uns! Hier wartet ein Platz auf dich! Ein Knabe! Ein Kind der Sterblichen! Was hat es gesehen, was hat es gesehen?

Laßt seine Augen gefrieren und tragt ihn hinunter in den Schatten. Bedeckt ihn mit haftendem, stechendem Frost.

Eine Gestalt ragte vor ihm auf; ein Schatten, gewaltig wie ein Berg, auf dem Kopf ein Geweih. Er trug eine Krone aus blassen Steinen, und seine Augen waren wie rotes Feuer. Rot war auch seine Hand, und als sie Simon packte und hochhob, brannten die Finger wie feurige Lohe. Weiße Gesichter umtanzten ihn und schwankten in der Finsternis wie Kerzenflammen.

Das Rad dreht sich, Sterblicher, dreht sich weiter und weiter … Wer bist du, es anzuhalten?

Eine Fliege ist er, eine kleine Fliege…

Die Scharlachfinger zerquetschten ihn, und die feurigen Augen glühten in dunkler und unermeßlicher Belustigung. Simon schrie und schrie, aber nur unbarmherziges Gelächter antwortete ihm.


Er erwachte aus dem seltsamen Wirbel singender Stimmen und nach ihm greifender Hände und fand das Spiegelbild seines Traumes im Kreis der über ihn gebeugten Gesichter, im Fackelschein bleich wie ein Feenring aus Pilzen. Hinter den verschwommenen Gesichtern schien die Wand mit Punkten aus gleißendem Licht gesäumt, die nach oben ins Dunkle hinaufstiegen.

»Er wacht auf«, sagte eine Stimme, und auf einmal waren die glitzernden Punkte klar zu erkennen: Reihen von Töpfen, die an ihren Gestellen hingen. Er lag auf dem Boden einer Küche.

»Sieht nicht gut aus«, meinte eine tiefe Stimme unruhig. »Ich hole ihm lieber noch etwas Wasser.«

»Ich bin sicher, er fühlt sich bald wieder ausgezeichnet, falls Ihr wieder hineingehen möchtet«, antwortete die erste Stimme, und Simon ertappte sich dabei, daß er die Augen zusammenkniff und dann weit aufriß, bis das Gesicht, das zu der Stimme gehörte, nicht länger ein trüber Fleck war. Es war Marya – nein, es war Miriamel, die neben ihm kniete; er konnte nicht umhin zu bemerken, daß der Saum ihres Kleides zerknittert unter ihr auf dem schmutzigen Steinfußboden lag.

»Nein, nein«, versetzte der andere – Herzog Isgrimnur, der sich nervös am Bart zupfte.

»Was … ist geschehen?« War er gestürzt und hatte sich den Kopf aufgeschlagen? Er griff hinauf und tastete sich vorsichtig ab, aber es tat ihm eigentlich überall weh, wenngleich keine Beule festzustellen war.

»Umgekippt bist du, Junge«, brummte Isgrimnur. »Geschrien hast du von … von Dingen, die du gesehen hast. Ich hab dich hinausgetragen – fast wäre mir dabei eine Ader geplatzt.«

»Und dann stand er da und starrte dich an, als du am Boden lagst«, erklärte Miriamel in strengem Ton. »Nur gut, daß ich kam.« Sie blickte zu dem Rimmersmann auf. »Ihr kämpft doch in der Schlacht, oder nicht, Herzog? Was tut Ihr dort, wenn jemand verwundet ist – ihn anstarren?«

»Das ist etwas anderes«, verteidigte sich Isgrimnur. »Verbinden, wenn sie bluten. Auf dem Schild zurücktragen, wenn sie tot sind.«

»Sehr gescheit«, meinte Miriamel bissig, aber Simon sah ein verstohlenes Lächeln über ihre Lippen gleiten. »Und wenn sie nicht bluten oder tot sind, steigt Ihr wohl einfach über sie hinweg? Aber lassen wir das.« Der Herzog klappte den Mund zu und fuhr fort, an seinem Bart zu zupfen.

Die Prinzessin wischte Simon weiter mit ihrem angefeuchteten Taschentuch die Stirn ab. Er konnte sich nicht recht vorstellen, was das nützen sollte, aber für den Augenblick war er damit zufrieden, liegenzubleiben und sich pflegen zu lassen. Er wußte, daß er nur allzubald eine Erklärung abgeben mußte.

»Ich … mir schwante gleich, daß ich dir schon begegnet war, Junge«, bemerkte Isgrimnur nach einer Weile. »Du warst doch der Bursche in Sankt Hoderund, habe ich recht? Und dieser Troll … mir war, als hätte ich so etwas gesehen…«

Die Küchentür öffnete sich ein weiteres Stück. »Ah, Simon! Ich hoffe, es geht deiner Gesundheit wieder besser.«

»Binabik«, sagte Simon und versuchte sich aufzurichten. Aber Miriamel lehnte sich sanft, aber fest gegen seine Brust und zwang ihn wieder nach unten. »Ich habe es gesehen, wirklich! Das war es, woran ich mich nicht erinnern konnte! Der Berghang und das Feuer und … und…«

»Ich weiß, Freund Simon. Vieles wurde mir klar, als du aufsprangest – wenn auch nicht alles. Es gibt noch genug Ungeklärtes in diesem Rätsel.«

»Sie müssen mich für einen Verrückten halten«, stöhnte Simon und schob die Hand der Prinzessin fort, nicht ohne den Augenblick der Berührung zu genießen. Was mochte sie wohl denken? Jetzt schaute sie ihn an wie ein großes Mädchen einen nichtsnutzigen kleinen Bruder. Verdammte Mädchen und verdammte Frauen!

»Nein, Simon«, erwiderte Binabik und hockte sich neben Miriamel, um ihn sorgfältig zu mustern. »Ich habe inzwischen viele Geschichten erzählt, nicht zuletzt von unseren gemeinsamen Abenteuern. Jarnauga hat vieles bestätigt, das mein Meister andeutete. Auch er erhielt eine von Morgenes' letzten Botschaften. Nein, niemand hält dich für verrückt, obwohl ich glaube, daß immer noch viele die wirkliche Gefahr unterschätzen. Und allen voran, denke ich, Baron Devasalles.«

»Ähem…« Isgrimnur scharrte mit dem Stiefel auf dem Boden. »Wenn der Junge gesund ist, sollte ich wohl lieber wieder hineingehen. Simon, ja? Hmmm, ja … du und ich, wir reden noch miteinander.« Der Herzog manövrierte seinen beträchtlichen Umfang aus der schmalen Küche und polterte den Gang hinunter.

»Und ich gehe auch hinein«, verkündete Miriamel und klopfte sich energisch den ärgsten Staub vom Leib. »Es gibt Fragen, über die nicht entschieden werden sollte, bevor man mich nicht gehört hat, wie auch immer mein Onkel darüber denken mag.«

Simon wollte ihr danken, aber als er da so auf dem Rücken lag, fiel ihm nichts ein, bei dem er sich nicht noch lächerlicher vorkommen würde als so schon. Bis er sich durchgerungen hatte, seinen Stolz über Bord zu werfen, war die Prinzessin schon in einem Wirbel aus Seide zur Tür hinaus.

»Und wenn du dich bis zur Genüge erholt hast, Simon«, bemerkte Binabik und streckte eine kleine, stumpfe Hand aus, »dann gibt es Dinge in der Halle des Rates, die wir uns anhören müssen; denn ich denke, daß Naglimund nie zuvor einen Raed erlebt hat, der diesem ähnelte.«


»Sei gewiß, Junge«, erläuterte Jarnauga, »daß ich dir zwar fast alles glaube, was du uns gesagt hast, aber es war sicher nicht Ineluki, den du auf dem Berg gesehen hast.«

Die Feuer waren zu träumenden Kohlen herabgebrannt, aber keine Seele hatte die Halle verlassen. »Hättest du den Sturmkönig erblickt, in der Gestalt, die er heute tragen muß, wärst du als versengte, deines Verstandes beraubte Hülle bei den Zornsteinen liegengeblieben. Nein, was du sahst – außer den bleichen Nornen und Elias und seinen Gefolgsleuten –, muß einer der Roten Hand gewesen sein. Und selbst dann erscheint es mir als großes Wunder, daß du eine nächtliche Vision dieser Art mit heilem Herzen und Verstand überstanden hast.«

»Aber … aber…« Als ihm nach und nach wieder einfiel, was der alte Mann gesagt hatte, unmittelbar bevor die Mauer des Vergessens zu bröckeln begann und die Erinnerungen an jene Schreckensnacht daraus hervorquollen – Steinigungsnacht hatte der Doktor sie genannt –, war Simon wieder verwirrt und ratlos. »Aber ich dachte, Ihr hättet erzählt, Ineluki und seine … Rote Hand … seien tot?«

»Tot, ja; ihre irdischen Gestalten verbrannten in jenen letzten, glühendheißen Augenblicken vollständig. Aber etwas überlebte; jemand oder etwas war imstande, das Schwert Leid von neuem zu erschaffen. Irgendwie – und dazu brauchte ich nicht erst deinen Bericht zu hören, denn das war schließlich der Grund, warum der Bund der Schriftrolle überhaupt gestiftet wurde – haben Ineluki und seine Rote Hand überlebt; vielleicht als lebendige Träume oder Gedanken, nur von Haß und den entsetzlichen Runen, die Ineluki zuletzt für sie warf, zusammengehalten. Doch ganz gleich wie: Die Dunkelheit, die Inelukis Geist war, als alles um ihn endete, starb nicht.

Drei Jahrhunderte danach kam König Eahlstan Fiskerne auf den Hochhorst, die Burg, die auf den Gebeinen Asu'as errichtet war. Eahlstan war weise und suchte Wissen, und er fand Dinge in den Ruinen unter dem Hochhorst, die ihn begreifen ließen, daß Ineluki nicht endgültig vernichtet war. Er gründete den Bund, dem ich angehöre – und wir werden jetzt schnell weniger, nachdem wir Morgenes und Ookequk verloren haben –, damit das alte Wissen nicht verlorenginge. Nicht nur das Wissen vom dunklen Herrn der Sithi, sondern auch von anderen Dingen; denn damals war eine schlimme Zeit für den Norden von Osten Ard. Im Laufe der Jahre entdeckte man – oder glaubte vielmehr, entdeckt zu haben –, daß Ineluki oder sein Geist, sein Schatten, sein lebendiger Wille sich bei den einzigen Wesen, die ihn vielleicht willkommen heißen würden, von neuem gezeigt hatte!«

»Die Nornen!« sagte Binabik so plötzlich, als sei eine Nebelbank vor seinen Augen davongeweht worden.

»Die Nornen«, bestätigte Jarnauga. »Ich bezweifle, daß zu Anfang selbst die Weißfüchse wußten, wie er sich verwandelt hatte; aber sicher war sein Einfluß auf Sturmrspeik schon bald zu groß, als daß jemand sich ihm hätte verweigern können. Und mit ihm kehrte auch seine Rote Hand zurück, wenn auch in einer nie zuvor auf Erden gesehenen Gestalt.«

»Und wir hatten geglaubt, daß der Löken, den die Schwarz-Rimmersmänner anbeteten, nur unser eigener Feuergott aus heidnischer Zeit sei«, bemerkte Isgrimnur verwundert. »Hätte ich gewußt, wie weit sie vom Pfad des Lichtes abgewichen waren…« Er strich mit dem Finger über den Baum an seinem Hals. »Usires!« flüsterte er leise.

Prinz Josua, der lange schweigend gelauscht hatte, beugte sich vor. »Aber wenn dieser Dämon aus der Vergangenheit tatsächlich unser wahrer Feind ist – warum zeigt er sich dann nicht? Warum schiebt er meinen Bruder Elias vor?«

»Jetzt kommen wir an einen Punkt, an dem auch die langen Jahre meiner Untersuchungen, hoch über Tungoldyr, nicht weiterhelfen können.« Jarnauga zuckte die Achseln. »Ich beobachtete und ich lauschte und beobachtete wieder, denn das war meine Aufgabe – aber was im Inneren eines Wesens wie des Sturmkönigs vorgeht, das übersteigt meine Vorstellungskraft.«

Ethelferth von Tinsett stand auf und räusperte sich. Josua nickte ihm zu, er möge reden.

»Wenn das alles wahr ist … und ich sage Euch, mir brummt der Kopf davon. … dann kann ich mir das Letzte denken.« Er blickte sich um, als erwarte er, daß man ihn für diese Anmaßung niederbrüllen werde, sah aber in den Gesichtern ringsum nur Sorge und Verwirrung, so daß er sich nochmals räusperte, bevor er fortfuhr. »Der Rimmersmann«, er machte eine Kopfbewegung zu dem alten Jarnauga hinüber, »hat gesagt, es sei unser eigener Eahlstan Fiskerne gewesen, der als erster bemerkte, daß der Sturmkönig zurückgekehrt war. Das war dreihundert Jahre, nachdem Fingil den Hochhorst eroberte – oder wie immer er damals hieß. Inzwischen sind fast zweihundert Jahre vergangen. Das klingt für mich, als brauchte dieser … Dämon, muß man wohl sagen … sehr viel Zeit, um wieder zu Kräften zu kommen.

Nun wissen wir aber alle«, sprach er weiter, »wir Männer, die inmitten gieriger Nachbarn ihr Land festgehalten haben«, er warf einen listigen Blick auf Ordmaer, aber der dicke Baron war schon vor einiger Zeit recht blaß geworden und schien keinen Anspielungen zugänglich, »daß der beste Weg, selbst in Sicherheit zu bleiben und dabei Zeit zu gewinnen, um seine Kräfte zu sammeln, darin besteht, die Nachbarn untereinander kämpfen zu lassen. Mich dünkt, genau so verhält es sich hier. Dieser Rimmersgard-Dämon macht Elias ein Geschenk und hetzt ihn dann zum Kampf gegen seine Barone, Herzöge und so weiter auf.« Ethelferth blickte sich um, zog sein Wams gerade und setzte sich wieder hin.

»Es ist kein ›Rimmersgard-Dämon‹«, knurrte Einskaldir. »Wir sind alle entsühnte ädonitische Männer.«

Josua beachtete die Bemerkung des Nordmannes nicht. »Es liegt etwas Wahres in Euren Worten, Herr Ethelferth; aber ich glaube, wer Elias kennt, wird mir zustimmen, daß er eigene Pläne verfolgt.«

»Er hat keinen Sithi-Dämon gebraucht, um mir mein Land zu stehlen«, warf Isgrimnur bitter ein.

»Trotzdem…«, fuhr Josua fort. »Ich finde Jarnauga und Binabik von Yiqanuc … und den jungen Simon, der Doktor Morgenes' Lehrling war … alle viel zu beunruhigend vertrauenswürdig. Ich wünschte, ich könnte behaupten, ihnen ihre Geschichten nicht zu glauben; ich bin mir auch noch nicht sicher, was ich eigentlich glaube; aber ich kann sie jedenfalls nicht übergehen.« Er wandte sich wieder Jarnauga zu, der mit einem eisernen Schürhaken in einer der Feuerstellen grub.

»Wenn diese unheilvollen Warnungen, die Ihr uns bringt, berechtigt sind, so sagt mir eines: Was will Ineluki?«

Der alte Mann starrte in das Feuer und stocherte dann nochmals energisch darin herum. »Wie ich Euch erzählt habe, Prinz Josua, war es meine Aufgabe, die Augen des Bundes zu sein. Sowohl Morgenes als auch der Meister des jungen Binabik wußten mehr als ich darüber, was im Inneren des Gebieters von Sturmspitze verborgen sein mag.« Er hob die Hand, als wolle er weitere Fragen abwehren. »Wenn ich aber eine Vermutung äußern soll, so ist es diese: Denkt an den Haß, der Ineluki in der Leere am Leben hielt, ihn aus den Flammen seines eigenen Todes zurückbrachte…«

»Dann ist es«, Josuas Stimme fiel schwer in die dunkle, atmende Halle, »Rache, was Ineluki begehrt?«

Jarnauga starrte wortlos in die Glut.


»Wir müssen über vieles nachdenken«, erklärte der Herr von Naglimund, »und dürfen keine übereilten Beschlüsse fassen.« Er stand auf, hochgewachsen und bleich, das schmale Gesicht wie eine Maske vor seinen verborgenen Gedanken. »Wir kommen morgen bei Sonnenuntergang wieder hier zusammen.« Eine graugekleidete Wache zu beiden Seiten, verließ er die Halle.

Im Saal drehten die Männer sich um und sahen einander an, erhoben sich, fanden sich zu kleinen, stummen Gruppen zusammen. Simon sah Miriamel, die keine Möglichkeit zum Reden gefunden hatte, zwischen Ethelferth und dem hinkenden Isgrimnur hinausgehen.

»Komm, Simon«, sagte Binabik und zupfte ihn am Ärmel. »Ich denke, ich werde Qantaqa Auslauf gewähren, nun, da der Regen etwas nachgelassen hat. Solche Umstände muß man nützen. Noch hat man mich nicht meiner Vorliebe beraubt, im Gehen, mit dem Wind im Gesicht, nachzudenken – und es gibt vieles, über das ich nachdenken sollte.«

»Binabik«, begann Simon endlich, und der Tag, so voller Schrecken, der ihn müde gemacht hatte, lag schwer auf seinem Gemüt. »Erinnerst du dich noch an den Traum, den ich hatte … den wir alle hatten … damals in Geloës Haus? Sturmspitze … und das Buch?«

»Ja«, erwiderte der kleine Mann ernst. »Das ist eines der Dinge, die mir Sorgen machen. Die Worte – die Worte, die du sahst – lassen mich nicht los. Ich fürchte, es liegt ein Rätsel von allergrößter Bedeutung darin.«

»Du … Du Svar…« Simon kämpfte mit seinen Erinnerungen. »Du Svardenvyrd hieß es«, seufzte Binabik. »Das Verhängnis der Schwerter.«


Die heiße Luft schlug schmerzhaft an Pryrates' haarloses und ungeschütztes Gesicht, aber er gestattete es sich nicht, sein Unbehagen zu zeigen. Während er mit wehenden Gewändern die Gießerei durchschritt, sah er mit Befriedigung, wie die Arbeiter, die Masken und schwere Mäntel trugen, ihn anstarrten und zurückzuckten, wenn er an ihnen vorbeikam. Das pulsierende Licht der Schmiede versetzte ihn in gehobene Stimmung, und er lachte kurz in sich hinein, als er sich einen Augenblick vorstellte, als Erzdämon über die Ziegel der Hölle zu schreiten, während rechts und links die kleinen Unterteufel zur Seite spritzten.

Gleich darauf verschwand die gute Laune, und seine Züge verfinsterten sich. Irgend etwas geschah mit diesem kleinen Miststück, Morgenes' Zauberlehrling; Pryrates wußte es. Er hatte es so deutlich gespürt, als hätte man ihn mit einem spitzen Gegenstand gestochen. Seit der Steinigungsnacht bestand eine seltsame, lockere Verbindung zwischen ihnen; sie biß nach ihm und nagte an seiner Konzentration. Das Werk jener Nacht war zu wichtig, zu gefahrvoll gewesen, als daß es irgendeine Einmischung vertragen hätte. Nun dachte der Junge wieder daran, erzählte wahrscheinlich Lluth oder Josua oder sonst jemandem alles, was er wußte. Man mußte sich ernsthaft mit diesem lästigen, überall herumschnüffelnden Burschen befassen.

Pryrates blieb vor dem großen Schmelzkessel stehen und baute sich mit über der Brust gekreuzten Armen davor auf. So stand er lange Zeit, ohnehin zornig und noch zorniger werdend, weil man ihn warten ließ. Endlich eilte einer der Gießer herbei und beugte ungeschickt das in einer dicken Hose steckende Knie.

»Wie dürfen wir Euch dienen, Meister Pryrates?« fragte der Mann, die Stimme durch das feuchte Tuch gedämpft, das den unteren Teil seines Gesichtes bedeckte.

Der Priester starrte ihn so lange stumm an, bis sich das, was von der Miene des Mannes sichtbar war, von Unbehagen in wirkliche Furcht verwandelte.

»Wo ist euer Aufseher?« zischte er.

»Dort, Vater.« Der Mann deutete auf eine der dunklen Öffnungen in der Wand der Gießereihöhle. »Eines von den Kurbelrädern an der Winde hat sich gelöst … Eure Eminenz.«

Das war zwar ein unverdienter Titel, denn Pryrates war nach außen hin noch immer nichts als ein gewöhnlicher Priester, aber es klang ihm nicht unharmonisch in den Ohren.

»Nun …?« erkundigte sich Pryrates. Der Mann reagierte nicht, und der Priester versetzte ihm einen harten Tritt gegen das lederbedeckte Schienbein. »Los, hole ihn!« schrillte er.

Mit kopfwackelnder Verbeugung hinkte der Mann davon. In der gepolsterten Kleidung bewegte er sich wie ein Krabbelkind. Pryrates war sich der Schweißperlen bewußt, die sich auf seiner Stirn bildeten, der Luft, die der Hochofen ausspie und die das Innere seiner Lungen zu backen schien, aber dennoch verzog sich sein hageres Gesicht zu einem knappen Grinsen. Er hatte schon Schlimmeres erlebt: Gott … oder wer sonst … wußte es.

Endlich erschien, riesenhaft und bedächtig, der Aufseher. Seine Größe, als er endlich schlurfend zum Stehen kam und Pryrates weit überragte, war an sich schon fast eine Beleidigung.

»Ich nehme an, du weißt, weshalb ich hier bin?« fragte der Priester mit glitzernden schwarzen Augen und vor Unzufriedenheit verkniffenem Mund.

»Wegen der Maschinen«, erwiderte der andere mit ruhiger Stimme, die jedoch einen kindisch gekränkten Unterton besaß.

»Ja, wegen der Belagerungsmaschinen!« fauchte Pryrates wütend. »Nimm die verdammte Maske ab, Inch, damit ich dich sehe, wenn ich mit dir rede!«

Der Aufseher streckte eine borstenhaarige Pranke aus und schlug das Tuch zurück. Sein zerstörtes Gesicht, wellig von Brandnarben rund um die leere rechte Augenhöhle, verstärkte das Gefühl des Priesters, in einer der Vorhallen der Großen Hölle zu stehen.

»Die Maschinen sind noch nicht fertig«, erklärte Inch beharrlich.

»Verloren drei Männer, als letzten Drorstag das große Ding zusammenbrach. Geht langsam.«

»Ich weiß, daß sie noch nicht fertig sind. Nimm dir mehr Männer. Ädon weiß, daß genügend Faulpelze auf dem Hochhorst herumlungern. Wir werden ein paar vom Adel mitarbeiten lassen, damit sie auch einmal Blasen an ihre feinen Hände bekommen. Aber der König verlangt die Maschinen, und zwar schnell. In zehn Tagen zieht er ins Feld. In zehn Tagen, verdammt!«

Inchs einzige Braue hob sich langsam wie eine Zugbrücke. »Naglimund. Er will nach Naglimund, nicht wahr?« In seinem Auge glühte ein hungriges Licht.

»Das braucht dich nicht zu kümmern, du narbiger Affe«, meinte Pryrates verächtlich. »Sorge lieber dafür, daß alles fertig wird! Du weißt, warum man dir diese gehobene Stellung gegeben hat … aber wir können sie dir auch wieder wegnehmen…«

Pryrates konnte Inchs Blick auf sich fühlen, als er ging, konnte die steinerne Persönlichkeit des Aufsehers im rauchigen, flackernden Licht spüren. Wieder fragte er sich, ob es klug gewesen war, den Mann leben zu lassen und ob er, falls nicht, den Irrtum berichtigen sollte.


Der Priester hatte einen der breiten Treppenabsätze erreicht, von dem Gänge nach rechts und links führten. Vor ihm lag die nächste Stufenreihe. Plötzlich glitt eine dunkle Gestalt aus dem Schatten auf ihn zu.

»Pryrates?«

Der Angesprochene, dessen Nerven von der Art waren, daß er vielleicht nicht einmal aufgeschrien hätte, wenn ihn ein Axthieb träfe, fühlte dennoch sein Herz schneller schlagen.

»Majestät«, erwiderte er ruhig.

Elias hatte sich in unbeabsichtigter Verhöhnung der Gießereiarbeiter in der Tiefe die schwarze Mantelkapuze eng über das Gesicht gezogen. Er tat das neuerdings immer, zumindest wenn er seine Gemächer verließ, so wie er auch zu jeder Zeit das in der Scheide steckende Schwert trug. Der Gewinn dieser Klinge hatte dem König eine Macht eingebracht, wie sie nur wenigen Sterblichen vor ihm zuteil geworden war, aber er hatte einen Preis dafür zahlen müssen. Der rote Priester war klug genug zu wissen, daß das Abwägen von Für und Wider bei einem solchen Handel eine höchst verzwickte Wissenschaft war.

»Ich … ich kann nicht schlafen, Pryrates.«

»Begreiflich, mein König. Es liegen viele Lasten auf Euren Schultern.«

»Ihr helft mir … bei vielen. Habt Ihr nach den Belagerungsmaschinen gesehen?«

Pryrates nickte, erkannte dann aber, daß Elias es im dunklen Treppenhaus und unter seiner Kapuze vielleicht nicht sehen konnte. »Ja, Herr. Am liebsten würde ich Inch, dieses Schwein von einem Aufseher, an einem seiner eigenen Feuer rösten. Aber wir werden sie bekommen, Herr, so oder so.«

Der König schwieg eine lange Weile und strich über den Griff seines Schwertes. »Naglimund muß vernichtet werden«, sagte er endlich. »Josua widersetzt sich mir.«

»Er ist nicht mehr Euer Bruder, Herr, nur noch Euer Feind.«

»Nein, nein…«, versetzte Elias langsam und sehr nachdenklich. »Er ist mein Bruder. Darum kann ich nicht dulden, daß er mir Widerstand leistet. Das scheint mir offensichtlich. Ist es nicht offensichtlich, Pryrates?«

»Selbstverständlich, Majestät.«

Der König hüllte sich enger in seinen Mantel, wie um sich vor einem kalten Wind zu schützen; doch die aus der Tiefe dringende Luft war schwer von der Hitze der Schmiedefeuer.

»Habt Ihr meine Tochter noch nicht gefunden?« erkundigte er sich übergangslos und blickte auf. In der Höhle, die von der Kapuze des Königs gebildet wurde, konnte Pryrates schwach den Glanz in seinen Augen und den Schatten seines Gesichtes erkennen.

»Wie ich Euch schon sagte, Herr – wenn sie nicht nach Nabban gegangen ist, zur Familie ihrer Mutter – und unsere Spione glauben nicht, daß das der Fall ist –, dann ist sie bei Josua in Naglimund.«

»Miriamel.« Der ausgeatmete Name schwebte durch das steinerne Treppenhaus. »Ich muß sie wiederhaben, ich muß!« Der König streckte die offene Hand aus und ballte sie vor sich langsam zur Faust. »Sie ist das einzige Wertstück, das ich aus den Scherben des Hauses meines Bruders retten werde. – Alles übrige werde ich zu Staub zertreten.«

»Dazu besitzt Ihr jetzt die Stärke, mein König«, antwortete Pryrates. »Und Ihr habt mächtige Freunde.«

»Ja.« Der Hochkönig nickte langsam. »Ja, das ist wahr. Und was ist mit Ingen Jegger, dem Jäger? Er hat meine Tochter nicht gefunden und ist auch nicht hierher zurückgekehrt. Wo hält er sich auf?«

»Er jagt noch immer den Zauberlehrling, Majestät. Es ist eine Art … persönlicher Groll geworden.« Pryrates machte eine Handbewegung, als wollte er die unangenehme Erinnerung an den Schwarz-Rimmersmann verscheuchen.

»Mir scheint, daß man sehr viel Mühe aufwendet, um diesen Jungen zu finden, von dem Ihr sagt, er kenne ein paar unserer Geheimnisse.« Der König runzelte die Stirn und erklärte rauh: »Ich wünschte mir, man hätte für mein eigenes Fleisch und Blut ebensoviel Sorge getragen. Ich bin nicht glücklich darüber.« Sekundenlang glitzerten die verschatteten Augen zornig. Er wandte sich zum Gehen, blieb jedoch noch einmal stehen.

»Pryrates?« Die Stimme des Königs hatte sich verändert.

»Ja, Gebieter?«

»Meint Ihr, daß ich besser schlafen werde … wenn Naglimund besiegt ist und ich meine Tochter wiederhabe?«

»Ich bin überzeugt davon, mein König.«

»Gut. Nachdem ich das weiß, werde ich es um so mehr genießen.« Elias glitt durch den düsteren Gang davon. Pryrates regte sich nicht, sondern lauschte den entschwindenden Schritten des Königs, die sich mit dem Schlag der Hämmer von Erkynland vermischten, deren eintöniger Lärm aus der Tiefe heraufdröhnte.

XXXIV Vergessene Schwerter

Vara war wütend. Der Pinsel in ihrer Hand zitterte, und ein roter Strich zog sich über ihr Kinn.

»Nun seht Euch an, was ich getan habe!« sagte sie, und der Ärger verstärkte ihren dicken Thrithing-Akzent noch. »Es ist grausam von Euch, mich so zu drängen.« Sie wischte sich den Mund mit einem Tuch ab und begann von neuem.

»Bei Ädon, Weib, es geht um wichtigere Dinge als das Anstreichen Eurer Lippen!« Josua stand auf und nahm sein Herumwandern wieder auf.

»Sprecht nicht so mit mir, Herr! Und lauft nicht so in meinem Rücken herum…«, sie machte eine Handbewegung und suchte nach Worten, »… hin und her, hin und her … Wenn Ihr mich schon auf den Gang hinauswerfen müßt wie eine Troßdirne, dann will ich mich wenigstens erst dazu bereit machen.«

Der Prinz hob einen Schürhaken vom Boden auf, bückte sich und stocherte in der Glut. »Man ›wirft Euch nicht auf den Gang hinaus‹, Herrin.«

»Wenn ich wirklich Eure Herrin bin«, versetzte Vara finster, »wieso darf ich dann nicht bleiben? Schämt Ihr Euch meiner?«

»Unsinn! Aber wir werden Dinge besprechen, die Euch nicht betreffen. Falls Ihr es noch nicht bemerkt haben solltet – wir rüsten uns für einen Krieg. Ich bedaure es, wenn Euch das lästig ist.« Er erhob sich ächzend, wobei er den Schürhaken wieder sorgfältig neben den Kamin legte. »Geht und unterhaltet Euch mit den anderen Damen. Seid froh, daß Ihr meine Last nicht tragen müßt.«

Vara fuhr herum und sah ihn an. »Die anderen Damen hassen mich«, stellte sie mit schmalen Augen fest. Eine schwarze Haarlocke lag lose auf ihrer Wange. »Ich höre, wie sie über Prinz Josuas Grasländerschlampe tuscheln. Und ich hasse sie auch, diese Kühe aus dem Norden! In meines Vaters Markland würde man sie auspeitschen für diesen … diesen…«, sie kämpfte mit der Sprache, die sie noch nicht völlig beherrschte, »… diesen Mangel an Ehrerbietung!« Sie holte tief Atem, um ihr Zittern zur Ruhe zu bringen. »Warum seid Ihr so kalt zu mir, Herr?« fragte sie dann. »Und warum habt Ihr mich hierhergebracht, in dieses kalte Land?«

Der Prinz blickte auf, und sekundenlang wurde sein strenges Gesicht weicher. »Das frage ich mich auch manchmal.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Bitte – wenn Ihr die Gesellschaft der anderen Damen des Hofes verachtet, so laßt den Harfner für Euch singen. Bitte, ich wünsche heute abend keinen Streit.«

»Und auch an keinem anderen Abend!« fauchte Vara. »Und mich scheint Ihr auch nicht zu wollen – nur dieses alte Gerümpel, o ja, daran seid Ihr interessiert; Ihr und Eure alten Bücher!«

Josuas Geduld war fast erschöpft. »Die Ereignisse, über die wir nachher reden werden, sind alt, ja, aber sie sind für unseren jetzigen Kampf von Bedeutung. Verdammt, Weib, ich bin ein Prinz dieses Reiches und kann mich meiner Verantwortung nicht entziehen!«

»Darin seid Ihr besser, als Ihr glaubt, Prinz Josua«, erwiderte sie eisig und warf sich den Umhang um die Schultern. An der Tür drehte sie sich um. »Ich hasse Eure Art, nur an die Vergangenheit zu denken – alte Bücher, alte Schlachten, alte Geschichte…«, ihr Mund verzog sich, »… und alte Liebe.«

Die Tür fiel hinter ihr ins Schloß.


»Habt Dank, Prinz, daß Ihr uns in Euren Gemächern empfangt«, sagte Binabik. Sein rundes Gesicht hatte einen sorgenvollen Ausdruck. »Ich hätte Euch nicht darum ersucht, wenn die Wichtigkeit mich nicht dazu gedrängt hätte.«

»Natürlich, Binabik«, erwiderte der Prinz. »Auch ich ziehe es vor, mich in einer ruhigeren Umgebung zu unterhalten.«

Der Troll und der alte Jarnauga hatten sich harte Holzschemel herangezogen und neben Josua am Tisch Platz genommen. Vater Strangyeard, der sie begleitet hatte, wanderte lautlos im Zimmer herum und betrachtete die Wandteppiche. In all seinen Jahren in Naglimund war es das erste Mal, daß er die Privaträume des Prinzen betrat.

»Ich bin immer noch ganz betäubt von dem, was ich gestern abend gehört habe«, begann Josua und wies auf die Pergamentblätter, die Binabik vor ihm ausgebreitet hatte. »Nun sagt Ihr, es gebe noch viel mehr, das ich wissen müßte?« Der Prinz zeigte ein kleines, kummervolles Lächeln. »Gott muß mich wohl züchtigen, wenn er mir den Alptraum, eine belagerte Burg zu befehligen, schenkt und dann noch mit so vielen anderen Dingen erschwert.«

Jarnauga lehnte sich nach vorn. »Solange Ihr nur im Gedächtnis behaltet, Prinz, daß es hier nicht um einen Alptraum geht, sondern um finstere Wirklichkeit. Keiner von uns kann sich den Luxus erlauben, diese Dinge für Phantasie zu halten.«

»Vater Strangyeard und ich haben seit Tagen die Burgarchive durchforstet«, erklärte Binabik, »seit meiner Ankunft versuchen wir schon herauszufinden, was das ›Verhängnis der Schwerter‹ bedeutet.«

»Den Traum meint Ihr, von dem Ihr mir berichtet habt?« fragte Josua und durchblätterte abwesend die vor ihm auf dem Tisch verstreuten Schriftseiten. »Den Ihr und der Junge im Haus der Zauberfrau hattet?«

»Und nicht nur sie«, ergänzte Jarnauga, und seine Augen waren so scharf wie blaue Eissplitter. »In den Nächten, bevor ich Tungoldyr verließ, träumte auch ich von einem großen Buch, auf dem in feurigen Lettern DU SVARDENVYRD stand.«

»Ich habe natürlich vom Buch des Priesters Nisses gehört«, meinte der Prinz und nickte, »als ich als Junge Schüler bei den Usiresbrüdern war. Es hatte einen üblen Ruf, aber es existiert ja nicht mehr. Ihr wollt mir doch gewiß nicht erzählen, Ihr hättet in unserer Burgbibliothek ein Exemplar gefunden?«

»Gesucht haben wir allerdings genug«, entgegnete Binabik. »Wenn es irgendwo sein könnte, dann nur hier – außer vielleicht in der Sancellanischen Ädonitis. Strangyeard hat eine Bibliothek von großer Wunderbarkeit angesammelt.«

»Sehr freundlich«, sagte der Archivar und drehte sich zur Wand, als studiere er einen der dort hängenden Teppiche, damit das unziemliche Erröten der Freude auf seinen Wangen nicht seinen Ruf als nüchterner Historiker gefährdete.

»Tatsächlich war es, so eifrig auch Strangyeard und ich unsere Jagd betrieben, Jarnauga, der unser Problem zu einem Teil gelöst hat«, fuhr Binabik fort.

Der alte Mann klopfte mit dürrem Finger auf das Pergament. »Es war ein glücklicher Zufall, der, so hoffe ich, ein gutes Vorzeichen für uns alle ist. Morgenes hatte mir einmal eine Botschaft mit Fragen über Nisses geschickt – der natürlich ein Rimmersmann war wie ich –, um in seiner Schrift über das Leben Eures Vaters König Johan einige Lücken zu füllen. Ich fürchte, ich konnte ihm nicht viel helfen. Ich teilte ihm mit, was ich wußte, aber ich vergaß seine Fragen nicht.«

»Und«, fügte Binabik aufgeregt hinzu, »eine weitere glückliche Zufälligkeit: Das einzige, was der Junge Simon aus der Zerstörung von Morgenes' Gemächern rettete, war … dieses Buch!« Er packte mit der kurzen braunen Hand ein Pergamentbündel und wedelte damit in der Luft herum. »Leben und Regierung König Johan Presbyters von Morgenes Ercestres – Doktor Morgenes von Erchester. Noch auf eine andere Weise ist der Doktor heute bei uns!«

»Wir schulden ihm mehr, als sich sagen läßt«, verkündete Jarnauga feierlich. »Er sah die dunkle Zeit kommen und traf vielerlei Vorbereitungen – von denen wir manche noch gar nicht kennen.«

»Aber das hier ist das im Augenblick Wichtigste«, platzte der Troll dazwischen, »eben sein Buch über Priester Johan. Schaut her!« Er schob Josua die Papiere in die Hand. Der Prinz blätterte darin herum und sah dann mit leisem Lächeln auf.

»Nisses' krause und altertümliche Sprache ruft mir meine Lehrzeit ins Gedächtnis zurück, als ich mich in den Archiven der Sancellanischen Ädonitis herumtrieb.« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Das ist natürlich alles sehr spannend, und ich bete nur, daß ich einmal die Zeit haben werde, Morgenes' ganzes Werk zu lesen; aber ich verstehe trotzdem noch immer nicht.« Er hielt die Seite hoch, die er gerade gelesen hatte. »Hier wird geschildert, wie die Klinge Leid geschmiedet wurde. Aber ich finde darin nichts, das uns Jarnauga nicht bereits mitgeteilt hätte. Was soll uns das helfen?«

Mit Josuas Erlaubnis nahm Binabik das Manuskript wieder an sich. »Wir müssen es uns noch genauer ansehen, Prinz«, erklärte er. »Morgenes zitiert Nisses – und die Tatsache, daß er überhaupt zumindest einen Teil von Du Svardenvyrd gelesen hat, bestätigt mir nur seine außerordentliche Findigkeit –, und er gibt an, Nisses habe zwei weitere ›Große Schwerter‹ erwähnt. Außer Leid noch zwei andere. Hier, laßt mich Euch vorlesen, was Morgenes ›Nisses eigene Worte‹ nennt.«

Binabik räusperte sich und begann:

»Das erste Große Schwert kam in seiner ursprünglichen Gestalt vom Himmel herunter, und das ist tausend Jahre her.

Usires Ädon, den wir von der Mutter Kirche Sohn und Fleischwerdung Gottes nennen, hatte drey Tage und Nächte, an Hand und Füßen festgenagelt, am Baume der Hinrichtung gehangen, auf dem Platze vor dem Tempel des Gottes Yuvenis zu Nabban. Dieser Yuvenis war aber der Heydengott der Gerechtigkeit, und es war des Nabbanai-Imperators Gewohnheit, Verbrecher, die seyn Gerichtshof verurteylt hatte, an den mächtigen Ästen von dieses Yuvenis' Baum aufzuhenken. So hing dort auch Usires vom See, den man der Gotteslästerung und des Aufruhres schuldig gesprochen, weyl er den Eynzigen Gott verkündet hatte; und er hing dort mit den Fersen über dem Kopf gleich dem Kadaver eynes Rindes.

Es geschah aber in dieser neunten Nacht ein gewaltiges Getöse, und feurige Lohe und ein Donnerkeyl fuhren vom Himmel herunter und zerschmetterten den Tempel in tausend Scherben, so daß alle heydnischen Richter und Priester, die darinnen gewesen, zu Tode kamen. Und da der Gestank und die Dünste sich zerstreut hatten, siehe, da war Usires Ädons Körper verschwunden, und es erhob sich ein groß Geschrey, Gott habe ihn zu sich in den Himmel zurückgeholt und seyne Feynde gestraft; indessen sagten andere, Usires' geduldige Schüler hätten den Leychnam abgeschnitten und seyen im Tohuwabohu entkommen. Doch wurden diese Leugner schnell zum Schweygen gebracht, und die Nachricht von dem Wunder verbreytete sich in allen Teylen der Stadt. Und so begann der Untergang der Heydengötter von Nabban.

In den rauchenden Trümmern des Tempels aber lag nun ein ungeheurer Steyn, und Dampf ging von ihm aus. Die Ädoniter verkündeten, dies sey der Altar der Heyden, der im Feuer der Rache des Eynen Gottes zerschmolzen sey.

Ich aber, Nisses, glaube statt dessen, daß es eyn Flammenstern vom Himmel war, der auf die Erde gefallen, wie dieses gelegentlich vorkömmt.

Und von diesem geschmolzenen Bruchstück nahmen sie eynen großen Batzen, und des Imperators Schwertschmiede entdeckten, daß man ihn bearbeyten konnte; und so hämmerten sie das Himmelsmetall zu eyner gewaltigen Klinge. Und zur Erinnerung an die Geyßelzweyge, mit denen man Usires' Rücken geschunden, nannte man das Sternenschwert – denn dafür halte ich es – Dorn, und große Macht ruhte in ihm.«


»Und so«, sagte Binabik, »kam das Schwert Dorn, das sich in der Dynastie der Herrscher von Nabban forterbte, endlich auf…«

»Auf Herrn Camaris, den liebsten Freund meines Vaters«, schloß Josua. »Es gibt sehr viele Geschichten über Camaris' Schwert, aber ich habe bisher nicht gewußt, woher es stammte … wenn man Nisses Glauben schenken will. Irgendwie klingt mir diese Stelle nach Ketzerei.«

»Diejenigen seiner Behauptungen, deren Wahrheit man nachprüfen kann, haben sich als hieb- und stichfest erwiesen, Hoheit«, bemerkte Jarnauga und strich sich den Bart.

»Aber dennoch«, sagte Josua wieder, »was soll das alles bedeuten? Als Camaris damals ertrank, verschwand auch sein Schwert.«

»Gestattet mir, Euch noch mehr aus Nisses' Schriften vorzulesen«, antwortete Binabik. »Im folgenden spricht er vom dritten Teil unseres Rätsels.«

»Das zweyte der Großen Schwerter kam vom Meer und segelte aus dem Westen über den salzigen Ozean nach Osten Ard.

Seyt eyner Reyhe von Jahren nämlich waren zu gewissen Jahreszeyten die Seeräuber in unser Land eyngefallen. Sie kamen aus einem fernen, kalten Land, das sie Ijsgard nannten, und wenn sie ihre Plünderungen beendet hatten, so fuhren sie über die Wogen zurück nach Hause.

Aber es fiel etwas vor in ihrer Heymat, ein schreckliches Ereygnis oder sonstiges Unheyl, und darum gaben die Männer von Ijsgard dieses Land auf und brachten ihre Sippen in Booten nach Osten Ard. Dort siedelten sie sich im Norden an, im Rimmersgard, dem Land meyner eygenen, viel kürzer zurückliegenden Geburt.

Da sie nun gelandet waren, dankte ihr König Elvrit Udun und den anderen heydnischen Göttern; und er befahl, daß aus dem eysernen Kiele seynes Drachenbootes eyn Schwert solle geschmiedet werden, um seyn Volk im neuen Land zu schützen.

Und so geschah es, daß sie den Kiel den Dverningen übergaben, einem geheymnisvollen und listigen Volke, das auf eyne Weyse, so wir nicht kennen, das reyne und bedeutsame Metall vom übrigen schied, und sie schmiedeten daraus eine lange und schimmernde Klinge.

Doch als sie um die Bezahlung feylschten, gerieten König Elvrit und der Meister der Zwerge miteynander in Streyt, so daß der König den Schmied erschlug und das Schwert ohne Bezahlung nahm, woraus großes Unheyl entstehen sollte.

Zum Angedenken aber an ihre Ankunft im neuen Lande nannte Elvrit das Schwert Minneyar, das heißt ›Gedenkjahr‹.«


Der Troll endete und ging zum Tisch, um aus dem Wasserkrug zu trinken.

»Nun gut, Binabik von Yiqanuc, zwei mächtige Schwerter«, bemerkte Josua. »Vielleicht hat dieses furchtbare Jahr mir den Verstand getrübt, aber ich kann mir einfach nicht denken, was sie für uns bedeuten sollten.«

»Drei Schwerter«, schaltete nun Jarnauga sich ein, »wenn man Inelukis Jingizu mitzählt, das wir Leid nennen. Drei Große Schwerter.«

»Ihr müßt auch noch den letzten Teil von Nisses' Buch lesen, den Morgenes zitiert, Prinz Josua«, erklärte jetzt Strangyeard, der sich endlich auch zu ihnen gesetzt hatte. Er hob die Pergamente auf, die vor Binabik auf dem Tisch lagen. »Hier bitte. Diese paar Verse vom Ende der Schriften des Wahnsinnigen.«

Josua las laut vor.

Wenn Rauhreif Claves' Glocke deckt

und Schatten auf der Straße geht,

das Brunnenwasser schwarz sich fleckt:

drei Schwerter müssen dann zurück.

Wenn Bukken kriechen aus der Gruft,

der Hune steigt vom Berg herab,

wenn Alptraum raubt dem Schlaf die Luft:

drei Schwerter müssen dann zurück.

Der Zeiten Nebel zu verwehn,

zu wenden harten Schicksals Schritt –

soll Frühes Spätem widerstehn:

drei Schwerter müssen dann zurück…

»Ich glaube … ich glaube, das verstehe ich«, sagte der Prinz, der zunehmend gefesselt schien. »Es scheint mir beinahe eine Weissagung über unsere eigene Zeit zu sein – als hätte Nisses gewußt, daß Ineluki eines Tages wiederkommen würde.«

»Ja«, bestätigte Jarnauga, kämmte sich mit den Fingern den Bart und sah Josua über die Schulter, »und damit alles wieder so wird, wie es sein soll, müssen eben ›drei Schwerter zurückkehren‹.«

»Unser Verständnis, Prinz, ist so«, erläuterte Binabik: »Wenn man den Sturmkönig überhaupt besiegen kann, dann nur dadurch, daß wir die drei Schwerter finden.«

»Die drei Schwerter, von denen Nisses spricht?« fragte Josua.

»So hat es den Anschein.«

»Aber wenn das stimmt, was der Junge gesehen hat, befindet sich Leid bereits in der Hand meines Bruders.« Der Prinz zog die Brauen zusammen und seine blasse Stirn legte sich in nachdenkliche Falten. »Wenn es so einfach wäre, zum Hochhorst zu gehen und es ihm abzunehmen, brauchten wir uns nicht ängstlich hier in Naglimund zu verkriechen.«

»Über Leid sollten wir uns als letztes den Kopf zerbrechen, Prinz«, erklärte Jarnauga. »Jetzt müssen wir erst einmal etwas unternehmen, um die beiden anderen für uns sicherzustellen. Ich trage meinen Namen wegen meiner Augen und meines geübten Blickes, aber in die Zukunft sehen kann ich nicht. Vielleicht fällt uns noch ein Weg ein, wie wir Elias Leid fortnehmen können, vielleicht macht er irgendwann einen Fehler. Jetzt aber geht es um Dorn und Minneyar, die wir finden müssen.«

Josua lehnte sich in seinem Stuhl zurück, kreuzte die Knöchel und preßte die Finger an die geschlossenen Augen. »Es hört sich an wie ein Kindermärchen!« rief er. »Wie sollen einfache Menschen in solchen Zeiten überleben? Ein kalter Wind im Yuven-Monat … der wiedererstandene Sturmkönig, der ein toter Sithiprinz ist … und nun eine verzweifelte Suche nach längstverschollenen Schwertern – Wahnsinn! Narrheit!« Er öffnete die Augen und setzte sich gerade hin. »Aber was bleibt uns übrig? Ich glaube jedes Wort … also muß ich genauso verrückt sein.«

Der Prinz stand auf und begann im Zimmer umherzugehen. Die anderen schauten ihm zu und waren dankbar, daß sie, so mager ihre Hoffnung auch schien, Josua wenigstens von der grimmigen und absonderlichen Wahrheit überzeugt hatten.

»Vater Strangyeard«, sagte Josua endlich, »würdet Ihr Herzog Isgrimnur für mich holen? Ich habe meine Pagen und alle anderen fortgeschickt, damit uns niemand stört.«

»Gewiß, Herr«, antwortete der Archivar und eilte mit flatternden Gewändern aus dem Zimmer.

»Ganz gleich, was geschieht, ich werde heute abend beim Raed viel zu erläutern haben. Da möchte ich Isgrimnur an meiner Seite wissen. Die Barone kennen ihn als Mann der Tat, während sie mir wegen meiner Jahre in Nabban und meiner merkwürdigen Gewohnheiten noch immer nicht recht trauen.« Josua lächelte matt. »Wenn all dieser Wahnsinn Wahrheit ist, wird unsere Aufgabe noch viel schwieriger, als sie es ohnehin schon war. Steht der Herzog von Elvritshalla hinter mir, denke ich, daß die Barone ihm folgen werden – obwohl ich nicht glaube, daß ich ihnen unsere neuesten Erkenntnisse mitteilen sollte, auch wenn sie uns einen schwachen Hoffnungsschimmer bieten. Ich mißtraue der Fähigkeit einiger dieser Herren, so aufregende Dinge geheimzuhalten.« Der Prinz seufzte, erhob sich und starrte ins Kaminfeuer. Seine Augen glitzerten, als fülle sie spiegelnde Feuchtigkeit. »Mein armer Bruder.«

Binabik, erstaunt über den Tonfall des Prinzen, schaute auf. »Mein armer Bruder«, wiederholte Josua. »Nun muß ihn wirklich der Alp reiten – der Sturmkönig! Die Weißfüchse! Ich kann nicht glauben, daß er wußte, was er tat.«

»Aber irgend jemand wußte es, Prinz«, wandte der Troll ein. »Ich denke nicht, daß der Herr von Sturmspitze und seine Diener von Tür zu Tür ziehen wie die Hausierer, um ihre Waren anzubieten.«

»Nun, ich zweifle nicht daran, daß Pryrates sich auf irgendeine Art mit ihnen in Verbindung gesetzt hat«, antwortete Josua. »Ich kenne ihn und seinen unheiligen Durst nach verbotenem Wissen von früher her, aus der Priesterschule der Usiresbrüder.« Er schüttelte sorgenvoll das Haupt. »Aber Elias, sonst tapfer wie ein Bär, war immer mißtrauisch gegen Geheimnisse in alten Büchern, und er verachtete die Gelehrsamkeit. Außerdem fürchtete er sich vor Gesprächen über Geister und dämonische Wesen. Das wurde noch schlimmer, nachdem … nachdem seine Frau gestorben war. Ich frage mich, woran ihm soviel lag, daß er das Entsetzen in Kauf nahm, das dieser Handel ihm einbringen muß. Ich frage mich auch, ob er ihn inzwischen bedauert – welch grausige Bundesgenossen! Armer, törichter Elias…«


Es regnete wieder, und als Strangyeard mit dem Herzog zurückkam, waren sie beide vom Überqueren des langgestreckten Hofes triefendnaß. Isgrimnur blieb in der Tür zu Josuas Gemächern stehen und stampfte den Boden wie ein aufgeregtes Pferd.

»Hab gerade meine Frau begrüßt«, erklärte er. »Sie ist mit den anderen Frauen noch vor Skalis Ankunft aufgebrochen und zu Than Tonnrud gereist, ihrem Onkel. Hat ein halbes Dutzend meiner Männer und zwanzig Frauen und Kinder mitgebracht. Dabei hat sie sich die Finger erfroren, meine arme Gutrun.«

»Es tut mir leid, Euch von ihr fortzurufen, Isgrimnur, vor allem, wenn sie krank ist«, entschuldigte sich der Prinz, stand auf und drückte dem alten Herzog die Hand.

»Ach, ich kann ohnehin nicht viel für sie tun. Sie hat unsere Mädchen, die ihr helfen.« Er furchte die Stirn, aber aus seiner Stimme klang Stolz. »Sie ist eine starke Frau, und sie hat mir starke Söhne geboren.«

»Und wir werden Isorn, Eurem Ältesten, Hilfe bringen, zweifelt nicht daran.« Josua geleitete Isgrimnur zum Tisch und reichte ihm Morgenes' Handschrift. »Allerdings kann es sein, daß wir mehr als nur eine Schlacht schlagen müssen.«

Als der Herzog vom ›Verhängnis der Schwerter‹ gelesen und einige Fragen gestellt hatte, las er die Seiten noch einmal.

»Und diese Reime?« fragte er dann. »Ihr glaubt, sie seien der Schlüssel zum Ganzen?«

»Wenn Ihr die Art Schlüssel meint, mit der man eine Tür zusperrt«, antwortete Jarnauga, »dann ja: Das hoffen wir. Denn es scheint, daß es das ist, was wir tun müssen: die Schwerter aus Nisses' Weissagung finden, drei Schwerter, die den Sturmkönig bannen.«

»Aber der Junge behauptet, daß Elias das Sithischwert hätte – und wirklich sah ich, als er mir sagte, ich könne nun nach Elvritshalla aufbrechen, daß er ein fremdes Schwert trug. Ein großes, fremdartig aussehendes Ding war es.«

»Wir wissen davon, Herzog«, fiel Binabik ein. »Es sind die anderen beiden, denen unsere Suche zunächst gilt.«

Isgrimnur schielte mißtrauisch auf den Troll. »Und was begehrt Ihr dabei von mir, kleiner Mann?«

»Nur Eure Hilfe, wie immer Ihr sie gewähren könnt«, erklärte Josua und klopfte dem Rimmersmann auf die Schulter. »Aus demselben Grund ist auch Binabik von Yiqanuc hier.«

»Habt Ihr jemals etwas über das Schicksal von Minneyar, Elvrits Schwert, gehört?« fragte Jarnauga. »Ich gestehe, daß eigentlich ich es wissen sollte, weil es die Aufgabe unseres Bundes ist, solches Wissen zusammenzutragen; aber in den Geschichten, die wir kennen, kommt Minneyar nicht mehr vor.«

»Eines weiß ich von meiner Großmutter, die eine Geschichtenerzählerin war«, antwortete Isgrimnur und kaute an seinem Schnurrbart, während er sich zu erinnern versuchte. »Von Elvrits Linie ging es auf Fingil Rothand über, und von Fingil auf seinen Sohn Hjeldin; und als dann Hjeldin vom Turm stürzte – und hinter ihm Nisses tot am Boden lag –, nahm es Hjeldins Unterführer Ikferdig an sich, zusammen mit Fingils Rimmerskrone und der Herrschaft über den Hochhorst.«

»Ikferdig starb auf dem Hochhorst«, bemerkte Strangyeard, der sich am Kaminfeuer die Hände wärmte, schüchtern. »In meinen Büchern heißt er ›Der verbrannte König‹.«

»Starb am Drachenfeuer des roten Shurakai«, ergänzte Jarnauga. »In seinem Thronsaal gebraten wie ein Kaninchen.«

»Also…«, sagte Binabik nachdenklich, während den weichherzigen Strangyeard bei Jarnaugas Worten ein Schauer überlief, »befindet sich Minneyar jetzt entweder irgendwo in den Mauern des Hochhorstes … oder der feurige Atem des Drachens hat es damals zerstört.«

Josua stand auf und ging zum Kamin, wo er sich hinstellte und in die tanzenden Flammen starrte. Strangyeard wich vorsichtig zur Seite, um seinen Fürsten nicht durch seine Nähe zu bedrängen.

»Zwei verwirrende und unglückselige Möglichkeiten.« Josua verzog das Gesicht. Dann wandte er sich zu Vater Strangyeard und meinte: »Ihr habt mir heute keine guten Nachrichten gebracht, Ihr weisen Männer.« Der Archivar schaute bedrückt. »Zuerst erzählt Ihr mir, unsere einzige Hoffnung liege darin, diese drei sagenhaften Klingen wiederzufinden, und nun erklärt Ihr, zwei davon befänden sich in der Festung meines Bruders – falls sie überhaupt noch existieren.« Der Prinz seufzte bekümmert. »Und die dritte? Benutzt Pryrates sie dazu, sich bei Tisch das Fleisch zu schneiden?«

»Dorn«, sagte Binabik und kletterte auf die Tischkante, um sich dort niederzulassen. »Das Schwert des großen Ritters, der Camaris hieß.«

»Geschmiedet aus dem Sternenstein, der den Tempel des Yuvenis im alten Nabban zerstörte«, fügte Jarnauga hinzu. »Sicher ist es mit dem großen Camaris im Meer versunken, als er in der Bucht von Firannos über Bord gespült wurde.«

»Da habt Ihres!« fauchte Josua. »Zwei sind in der Hand meines Bruders, und das dritte liegt im noch festeren Griff der eifersüchtigen See. Unsere Suche ist verflucht, bevor wir sie noch begonnen haben!«

»Ohne Zweifel hätte man es auch als unmöglichen Zufall betrachtet, daß Morgenes' Werk die Vernichtung seiner Person und seines Heims überleben könnte«, warf Jarnauga ein, und seine Stimme klang streng, »um dann durch Gefahren und Verzweiflung unversehrt zu uns zu gelangen, nur damit wir Nisses' Weissagung lesen könnten. Aber es hat überlebt. Und es hat uns erreicht. Es gibt immer Hoffnung.«

»Verzeiht mir, Prinz, aber mich dünkt, daß uns nur eines bleibt«, schaltete sich Binabik ein und nickte weise von der Tischplatte herunter. »Wir müssen zurück in die Archive und weiterforschen, bis wir Antworten auf das Rätsel von Dorn und der beiden anderen Klingen finden. Und wir müssen sie bald finden.«

»Sehr bald, allerdings«, bemerkte Jarnauga, »denn wir verschwenden Zeit, die so kostbar ist wie Diamanten.«

»Wie wahr«, bestätigte Josua, zog sich den Stuhl an den Kamin und ließ sich müde nieder, »beeilt Euch unbedingt; doch ich fürchte tief in meinem Herzen, daß unsere Zeit bereits abgelaufen ist.«


»Verdammt, verdammt und verdammt«, knirschte Simon und schleuderte einen großen Steinbrocken von den Zinnen hinunter in die Zähne des Windes. Naglimund schien inmitten einer weiten Fläche aus seifigem, grauem Nichts zu stehen wie ein Berg, der sich aus einem Meer wirbelnden Regens erhebt. »Verdammt«, wiederholte er und bückte sich, um auf der nassen Steinmauer nach einem weiteren Brocken zu suchen.

Sangfugol warf ihm einen Blick zu. Seine schöne Mütze saß ihm als formlose, triefende Masse auf dem Kopf. »Simon«, mahnte er ärgerlich, »du kannst nicht beides haben. Zuerst schimpfst du über alle, weil sie dich einfach mitgeschleift hätten wie einen Hausierersack, dann fluchst du lästerlich und schmeißt Steine, weil man dich zu den Beratungen heute nachmittag nicht hinzugezogen hat.«

»Ich weiß«, knurrte Simon und schickte ein neues Wurfgeschoß von den Burgmauern. »Ich weiß selbst nicht, was ich will. Ich weiß überhaupt nichts.«

Der Harfner machte ein finsteres Gesicht. »Was ich gern wissen möchte, ist: Was machen wir eigentlich hier oben? Gibt es keinen besseren Ort, an dem man sich elend und verstoßen fühlen kann? Auf diesen Zinnen ist es kalt wie ein Brunnenbuddler-Arsch.« In der Hoffnung, damit Mitleid zu erregen, ließ er sekundenlang die Zähne klappern: »Also: Warum sind wir hier oben?«

»Weil man davon den Kopf klar bekommt, von so einem bißchen Wind und Regen«, rief Strupp, der jetzt über die Zinnen wieder auf seine beiden Kumpane zukam. »Für eine durchzechte Nacht gibt es kein besseres Heilmittel.« Der kleine Alte zwinkerte Simon zu, der im stillen dachte, daß Strupp gewiß längst wieder nach unten gestiegen wäre, wenn er nicht den Anblick des in seinem prächtigen grauen Samtgewand bibbernden Sangfugols so genossen hätte.

»Na schön«, grollte der Harfner, unglücklich wie eine nasse Katze, »Ihr trinkt wie ein Mann in seiner Jugend, Strupp – beziehungsweise in seiner zweiten Kindheit –, darum ist es wohl nicht weiter verwunderlich, Euch aus reinem Vergnügen auf den Mauern herumstolzieren zu sehen wie einen Schlingel von Jungen.«

»Ach, Sangfugol«, erwiderte Strupp mit einem runzligen Lächeln und sah zu, wie ein weiteres Wurfgeschoß Simons eine Wassergarbe aus dem regenpockigen Teich aufschießen ließ, der dort strudelte, wo früher der Burganger gewesen war. »Ihr seid zu … Ho!« Strupp deutete. »Ist das nicht Herzog Isgrimnur? Ich habe gehört, er sei zurück. Ho, Herzog!« rief der Narr und winkte der stämmigen Gestalt zu. Isgrimnur, die Augen vor dem seitlich einfallenden Regen zusammengekniffen, sah auf. »Herzog Isgrimnur! Ich bin es, Strupp!«

»Du bist das?« schrie der Herzog zurück. »Verdammt will ich sein, wenn du es nicht bist, alter Hurensohn!«

»Kommt herauf, kommt herauf!« lud Strupp ihn ein. »Kommt herauf und erzählt mir, was es Neues gibt!«

»Ich sollte mich wirklich nicht wundern«, bemerkte Sangfugol hämisch, als der Herzog über den überschwemmten Anger auf die Wendeltreppe in der Mauer zustakte. »Der einzige Mensch außer einem alten Irren und einem verrückten Harfner, der hier freiwillig hinaufsteigt, muß ein Rimmersmann sein. Wahrscheinlich wird es ihm sogar zu warm sein, weil es gerade nicht graupelt oder schneit.«

Isgrimnur begrüßte Simon und Sangfugol mit einem müden Lächeln und Nicken, drehte sich dann um, packte die geäderte Hand des Narren und versetzte ihm einen kameradschaftlichen Hieb auf die Schulter. Er war soviel größer und umfangreicher als Strupp, daß es aussah wie bei einer Bärin, die ihrem Jungen einen liebevollen Puff gibt.

Während der Herzog und der Narr ihre Neuigkeiten austauschten, warf Simon Steine und lauschte, und Sangfugol stand mit der Miene geduldigen, hoffnungslosen Leidens daneben. Niemanden überraschte es, als sich die Rede des Rimmersmannes schon bald von gemeinsamen Freunden und vertrauten Dingen ab- und dunkleren Themen zuwandte. Als Isgrimnur die wachsende Kriegsdrohung und die Schatten im Norden erwähnte, fühlte Simon die Kälte, die der eisige Wind – seltsamerweise – eine Zeitlang vertreiben geholfen hatte, wieder mit Macht zurückströmen. Und als der Herzog in leisem Ton vom Herrscher des Nordens zu erzählen anfing und dann plötzlich ausweichend wurde und meinte, manche Dinge seien zu furchterregend, als daß man offen darüber sprechen könne, schien sich die Kälte tiefer in Simons Herz zu schleichen. Er starrte hinaus in die trübe Ferne, nach der dunklen Sturmfaust, die hinter dem Regen am nördlichen Horizont drohte, und spürte, wie seine Reise auf der Traumstraße wieder in ihm aufstieg …

Der nackt vor ihm aufragende steinerne Berg mit seiner Aura aus indigoblauen und gelben Flammen. Die silbern maskierte Königin auf ihrem Eisthron, der Singsang der Stimmen in der felsigen Festung …

Schwarze Gedanken drückten ihn nieder, zerquetschten ihn wie der Rand eines breiten Rades. Es würde so leicht sein, er wußte es genau, ins Dunkel hineinzugehen, in die Wärme hinter der Kälte des Sturmes …

Es ist so nahe … so nahe…

»Simon!« rief eine Stimme an seinem Ohr. Eine Hand packte ihn am Ellenbogen. Erschreckt sah er nach unten und erblickte nur wenige Zoll von seinem Fuß entfernt die Mauerkante und senkrecht unter sich das windgepeitschte Wasser des Teiches.

»Was tust du?« fragte Sangfugol und rüttelte seinen Arm. »Wenn du von diesem Mäuerchen hüpfen würdest, brächte dir das mehr ein als nur ein paar Knochenbrüche.«

»Ich war…«, stotterte Simon und merkte, daß noch immer ein dunkler Nebel seine Gedanken umwölkte, »ich…«

»Dorn?« fragte Strupp laut und reagierte damit auf etwas, das Isgrimnur gerade gesagt hatte. Simon drehte sich um und sah den kleinen Narren am Mantel des Herzogs zupfen wie ein zudringliches Kind. »Dorn, habt Ihr gesagt? Und warum seid Ihr damit nicht gleich zu mir gekommen? Warum nicht zum alten Strupp? Wenn einer, dann weiß ich alles, was es darüber zu wissen gibt!«

Der Alte wandte sich an Simon und den Harfner. »Wer war denn länger als alle anderen bei unserem Johan? Wer? Ich natürlich. Hab Witze für ihn gemacht und Kunststücke und Musik, sechzig Jahre lang. Und für den großen Camaris auch. Ich habe ihn erlebt, wie er an den Hof kam.« Er drehte sich wieder zum Herzog um, und in seinen Augen leuchtete etwas auf, das Simon noch nicht gesehen hatte. »Ich bin der Mann, den Ihr sucht«, verkündete Strupp stolz. »Schnell! Bringt mich zu Prinz Josua.«

Der krummbeinige alte Narr schien fast zu tanzen, so leicht waren seine Schritte, als er dem ein wenig betäubten Rimmersmann zu den Stufen voraneilte.

»Dank sei Gott und seinen Engeln«, bemerkte Sangfugol und schaute ihnen nach. »Ich schlage vor, daß wir uns jetzt sofort etwas einverleiben – etwas Feuchtes, das von innen die Feuchtigkeit des Äußeren ausgleicht.«

Er führte den noch immer kopfschüttelnden Simon von den verregneten Zinnen in das hallende, von Fackeln erleuchtete Treppenhaus hinunter, für eine kleine Weile hinaus aus der Reichweite der Nordwinde, hinein ins Warme.


»Wir kennen Eure Rolle bei diesen Ereignissen, guter Strupp«, sagte Josua ungeduldig. Der Prinz hatte sich wie zum Schutz gegen die alles durchdringende Kälte einen Wollschal um den Hals geschlungen. Die Spitze seiner schmalen Nase war rosa.

»Ich decke nur sozusagen den Tisch, Hoheit«, meinte Strupp ungerührt. »Wenn ich einen Becher Wein bekommen könnte, um meine Zunge geschmeidiger zu machen, würde ich unverzüglich zum Hauptgang kommen.«

»Isgrimnur«, stöhnte Josua, »wäret Ihr wohl so gut, unserem ehrwürdigen Narren etwas Trinkbares zu suchen, sonst fürchte ich, daß wir bis zur Ädonszeit hier sitzen und auf den Rest der Geschichte harren müssen.«

Der Herzog von Elvritshalla trat zu dem Zedernholzschrank neben Josuas Tisch und fand einen Krug mit Rotwein aus Perdruin. »Hier«, sagte er und reichte Strupp einen gefüllten Humpen. Der Narr nahm einen Schluck und lächelte.

Es ist nicht der Wein, den er haben will, dachte der Rimmersmann, es geht ihm um die Beachtung. Die Zeiten sind schlimm genug für die jungen und Tüchtigen, wie dann erst für einen alten Gaukler, dessen Herr seit zwei Jahren tot ist.

Er starrte in das runzlige Gesicht des Narren, und sekundenlang war ihm, als erblicke er dahinter wie durch einen dünnen Vorhang die gefangenen Züge des Kindes.

Gott, gib mir einen schnellen, ehrenhaften Tod, betete Isgrimnur, damit ich nicht einer von diesen alten Trotteln werde, die am Lagerfeuer sitzen und den jungen Männern erzählen, daß früher alles besser war. – Und doch, dachte er, als er zu seinem Stuhl zurückging und auf das Wolfsgeheul des Windes draußen horchte, vielleicht ist es diesmal sogar wahr. Vielleicht haben wir wirklich bessere Tage gesehen. Vielleicht wartet wirklich nichts mehr auf uns, als eine aussichtslose Schlacht gegen die schleichende Finsternis.

»Wißt Ihr«, begann Strupp wieder, »Camaris' Schwert Dorn ist nämlich nicht mit ihm untergegangen. Er hatte es in die Obhut seines Knappen gegeben, Colmund von Rodstanby.«

»Ihm sein Schwert gegeben?« fragte Josua ratlos. »Das paßt zu keiner der Geschichten, die ich je über Camaris-sá-Vinitta gehört habe.«

»Ja, aber Ihr kanntet ihn nicht in diesem letzten Jahr … und wie könntet Ihr auch, da Ihr doch gerade erst auf die Welt gekommen wart?« Strupp nahm einen weiteren Zug und starrte sinnend zur Decke. »Nachdem Eure Mutter, Königin Ebekah, starb, wurde Herr Camaris seltsam und wunderlich. Er war, Ihr wißt es, ihr besonderer Beschützer, und er betete den Boden an, auf den sie ihren Fuß setzte – als wäre sie Elysia selbst, die Mutter Gottes. Ich habe immer gedacht, daß er sich Vorwürfe wegen ihres Todes machte, so als ob er ihre Kränklichkeit mit Waffengewalt hätte heilen können … oder durch die Reinheit seines Herzens … armer Tor.«

Isgrimnur, der Josuas Ungeduld sah, beugte sich vor. »Also gab er das Sternenschwert seinem Knappen?«

»Ja, ja«, versetzte der Alte gereizt. Er liebte es nicht, wenn man ihn drängte. »Als Camaris vor der Insel Harcha im Meer verschwand, nahm Colmund das Schwert an sich. Er ging zurück und erneuerte seinen Anspruch auf das Land seiner Sippe in Rodstanby in der Frostmark, und er wurde Baron einer nicht unbeträchtlichen Provinz.

Dorn war eine auf der ganzen Welt berühmte Waffe, und als seine Feinde sie bei ihm erblickten – denn sie war unverwechselbar, glänzend schwarz bis auf den Silbergriff, eine schöne, gefährliche Klinge –, wollte sich niemand mehr gegen ihn stellen. Nur selten brauchte er sie überhaupt aus der Scheide zu ziehen.«

»Also ist sie nun in Rodstanby?« fragte Binabik aufgeregt aus seiner Ecke. »Das ist kaum ein Zweitageritt von Naglimund!«

»Nein, nein, nein«, knurrte Strupp und schwenkte den Humpen, damit Isgrimnur ihn wieder für ihn füllen sollte. »Wenn du nur warten wolltest, Troll, würde ich dir alles erzählen.«

Bevor Binabik oder der Prinz oder sonst jemand antworten konnte, stand Jarnauga, der am Feuer gehockt hatte, auf und neigte sich über den kleinen Narren. »Strupp«, sagte er, und seine Stimme war so hart und kalt wie Eis auf den Dachsparren, »wir können nicht warten, bis Ihr Euch bequemt. Eine drohende Finsternis breitet sich von Norden her zu uns aus, ein kalter, tödlicher Schatten. Wir müssen das Schwert haben, versteht Ihr?« Er näherte seine scharfen Züge Strupps Gesicht, so nah, daß die buschigen Augenbrauen des kleinen Mannes angstvoll in die Höhe schossen. »Und wir müssen Dorn schnell finden, denn schon bald wird der Sturmkönig selbst an unsere Tür klopfen. Begreift Ihr nun?«

Jarnauga ließ die langen Beine wieder in ihre Hockstellung neben dem Kamin zurücksinken, und Strupp starrte ihn mit aufgerissenem Mund an.

Hm, sann Isgrimnur, wenn wir wollten, daß die letzten Neuigkeiten in ganz Naglimund herumposaunt würden, dann ist uns das jetzt gelungen. Immerhin sieht es so aus, als hätte er Strupp eine gelinde Klette unter den Sattel gesetzt.

Es dauerte eine kleine Weile, bis der Narr die erschreckten, gebannten Augen vom durchbohrenden Blick des Nordmannes losreißen konnte. Als er sich endlich abwandte, erweckte er nicht mehr so stark den Eindruck, als genösse er seine augenblickliche Rolle.

»Colmund«, erklärte er, »Herr Colmund hörte von Reisenden Geschichten über den sagenhaften Schatz des Drachen Igjarjuk, hoch oben auf dem Berg Urmsheim. Es war ein Schatz, der reicher sein sollte als jeder andere auf der weiten Welt.«

»Nur ein Flachländer kann auf den Gedanken kommen, sich mit einem Bergdrachen anzulegen – und das für Gold!« warf Binabik angewidert ein. »Mein Volk lebt seit langer Zeit in der Nachbarschaft von Urmsheim, und wir leben lange, weil wir den Berg in Ruhe lassen.«

»Aber seht Ihr«, fuhr der alte Strupp fort, »dieser Drache ist ja schon seit Generationen nur noch eine Sage. Niemand hat ihn je zu Gesicht bekommen, niemand von ihm gehört … außer ein paar schneeverrückten Wanderern. Und Colmund hatte das Schwert Dorn, ein magisches Schwert, das ihn auf seiner Suche nach dem Hort eines Zauberdrachens leitete.«

»Aber was für eine Torheit!« rief Josua. »Hatte er nicht alles, was er wollte? Eine mächtige Baronie? Das Schwert eines Helden? Mußte er denn auch noch solch einer verrückten Idee nachjagen?«

»Verdammt, Josua«, fluchte Isgrimnur, »warum tun denn die Menschen, was sie tun? Warum hängten sie unseren Herrn Usires kopfüber am Baum auf? Warum sperrte Elias seinen Bruder ein und gibt sich mit Dämonen ab, obwohl er doch ohnehin schon Hochkönig von ganz Osten Ard ist?«

»Es liegt wirklich etwas in Männern und Frauen, das sie antreibt, nach Dingen zu greifen, die unerreichbar für sie sind«, bemerkte Jarnauga aus seiner Kaminecke. »Und manchmal überschreitet das, wonach sie streben, die Grenzen des Verstandes.«

Binabik sprang leichtfüßig vom Tisch. »Zuviel Gerede ist dies von Dingen, die wir niemals wissen können«, meinte er. »Immer noch lautet unsere Frage: Wo ist das Schwert? Wo ist Dorn?«

»Ich bin überzeugt, daß es dort im Norden verlorenging«, antwortete Strupp. »Ich habe nie gehört, daß Herr Colmund je von seiner Fahrt zurückkehrte. Eine Wanderergeschichte sagt, er habe sich zum König der Hunen gemacht und lebe dort noch immer, in einer Festung aus Eis.«

»Das hört sich an, als hätten alte Erinnerungen an Ineluki seine Geschichte getrübt und sich mit ihr vermischt«, sagte Jarnauga nachdenklich.

»Er schaffte es bis zum Kloster von Sankt Skendi in Vestvennby«, ließ sich Vater Strangyeard unerwartet aus dem Hintergrund vernehmen. Er war rasch einmal hinausgegangen und wieder zurückgekommen, ohne daß es den anderen aufgefallen war; eine schwache Röte des Vergnügens färbte seine schmalen Wangen. »Strupps Worte haben eine Erinnerung in mir wachgerufen. Ich hatte das Gefühl, ich besäße einige der Klosterbücher des Skendi-Ordens, aus dem Brand des Klosters in den Frostmark-Kriegen gerettet. Hier ist das Wirtschaftsbuch des Jahres 1131 nach der Gründung. Schaut her, es erwähnt die Ausstattung von Colmunds Schar.« Er reichte es stolz Josua, der es ins Licht des Feuers hielt.

»Getrocknetes Fleisch und Obst«, las Josua, mühsam die verblaßten Worte entziffernd. »Wollmäntel, zwei Pferde…« Er blickte auf. »Hier ist die Rede von einer Gruppe von ›einem Dutzend und einem‹ – dreizehn.« Er gab das Buch an Binabik weiter, der es an sich nahm und sich gemeinsam mit Jarnauga vor dem Feuer hinein vertiefte.

»Danach müssen sie irgendwie Pech gehabt haben«, meinte Strupp und füllte sich den Humpen neu. »Denn nach der Geschichte, die ich gehört habe, ist er mit über zwei Dutzend seiner besten, ausgesuchten Männer aufgebrochen.«

»Und was nützt uns das nun alles?« meldete sich Herzog Isgrimnur zu Wort. »Wenn das Schwert verlorengegangen ist, dann ist es weg, und wir müssen eben aus unserer Verteidigung hier das Beste machen.«

»Herzog Isgrimnur«, erwiderte Binabik, »vielleicht versteht Ihr nicht: Es gibt keine Wahl für uns. Wenn tatsächlich der Sturmkönig unser größerer Feind ist – und darin, denke ich, sind wir alle derselben Meinung –, dann ist es das einzige an Hoffnung, scheint mir, das wir besitzen, daß wir die drei Schwerter erlangen. Zwei davon sind uns derzeit verwehrt. Bleibt Dorn, und wir müssen es finden – sofern das möglich ist.«

»Belehrt mich nicht, kleiner Mann«, knurrte Isgrimnur und musterte den Troll mit scharfem Blick. Schlau genug ist er bestimmt, dachte der Rimmersmann, obwohl ich ihm oder seinesgleichen nicht recht trauen mag. Und welche Macht hat er über den Jungen? Ich weiß auch da nicht, ob mir das gefallen soll, obwohl ich glaube, daß das, was sie uns erzählt haben, so ziemlich die Wahrheit ist.

Mit einer müden Handbewegung kam Josua einem Streit der beiden zuvor.

»Schweigt jetzt«, sagte der Prinz. »Ich bitte Euch, laßt mich nachdenken. Mir fiebert der Kopf von soviel Wahnsinn auf einmal. Ich brauche ein kleines Weilchen Ruhe.«

Strangyeard, Jarnauga und Binabik vertieften sich erneut in das Rechnungsbuch des Klosters und in Morgenes' Handschrift, wobei sie sich im Flüsterton unterhielten. Strupp trank seinen Wein aus, und Isgrimnur hockte neben ihm, nahm ab und zu einen Schluck und brütete vor sich hin. Josua saß da und starrte ins Feuer. Das müde Gesicht des Prinzen wirkte wie über Knochen gespanntes Pergament; der Herzog ertrug den Anblick nur schwer.

Sein Vater sah in den letzten Tagen vor seinem Tode auch nicht schlimmer aus, sann Isgrimnur. Hat Johans Sohn Kraft genug, uns durch eine Belagerung zu bringen, wie sie uns wohl bald bevorsteht? Hat er auch nur die Kraft, selber am Leben zu bleiben? Immer ist er ein Grübler gewesen, ein Sorger … auch wenn er, um ihm Gerechtigkeit zu erweisen, mit Schwert und Schild kein Weichling ist. Spontan stand er auf, stapfte zu dem Prinzen hinüber und legte Josua die Bärentatze auf die Schulter.

Der Prinz blickte auf. »Könnt Ihr einen guten Mann für mich entbehren, alter Freund?« fragte er dann. »Habt Ihr einen, der den Nordosten des Landes kennt?«

Isgrimnur machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ich habe zwei oder drei. Allerdings dürfte Frekke für eine Reise wie die, an die Ihr denken werdet, zu alt sein. Einskaldir wird nicht von meiner Seite weichen, solange ich ihn nicht an der Spitze meines Speeres aus Naglimund vertreibe. Außerdem denke ich, daß wir seine Wildheit hier brauchen werden, wenn der Kampf heiß und blutig wird. Er ist so grimmig und verbissen wie ein Dachs und am besten, wenn man ihn in die Enge treibt.« Der Herzog überlegte. »Die anderen … ich denke, ich werde Euch Sludig geben. Er ist jung und kräftig, aber auch klug. Ja, Sludig ist Euer Mann.«

»Gut.« Josua nickte langsam mit dem Kopf. »Ich habe drei oder vier, die ich aussenden will; und ein kleiner Trupp ist sicher besser als ein großer.«

»Und wozu genau?« Isgrimnur sah sich im Raum um, betrachtete die solide Kargheit der Einrichtung und fragte sich wieder, ob sie nicht Trugbildern nachjagten, das winterliche Wetter nicht vielleicht ihr Urteilsvermögen hatte einfrieren lassen.

»Um nach Camaris' Schwert zu suchen, Onkel Bärenhaut«, erklärte der Prinz mit dem Gespenst eines Lächelns. »Zweifelsohne ist es Wahnsinn, denn wir können auf nichts Besseres zurückgreifen als alte Geschichten und ein paar verblaßte Worte in alten Büchern, aber es ist eine Möglichkeit, die ungeprüft zu lassen wir uns nicht leisten können. Wir haben sturmgepeitschten Winter im Sommermonat Yuven. Daran kann kein Zweifel etwas ändern.« Mit gedankenvoll gekräuseltem Mund sah er sich im Zimmer um.

»Binabik von Yiqanuc!« rief er dann endlich, und der Troll sprang auf. »Wollt Ihr eine Schar auf die Fährte Dorns führen? Ihr kennt das nördliche Gebirge besser als jeder andere hier, wenn man vielleicht einmal von Jarnauga absieht, von dem ich hoffe, daß er Euch begleiten wird.«

»Ich würde voller Ehre sein, Prinz«, antwortete Binabik und ließ sich auf ein Knie nieder. Sogar Isgrimnur mußte grinsen.

»Auch mir wäre es ehrenvoll, Prinz Josua«, sagte Jarnauga und stand auf, »aber ich fürchte, es soll nicht sein. Hier in Naglimund kann ich Euch am besten dienen. Meine Beine sind alt, aber meine Augen noch scharf. Ich werde Strangyeard in den Archiven helfen, denn es gibt noch viele Fragen zu beantworten und noch viele Rätsel in der Geschichte des Sturmkönigs und dem Verbleib von Fingils Schwert Minneyar zu lösen. Vielleicht finde ich auch noch andere Wege, wie ich Euch helfen kann.«

»Hoheit«, fragte Binabik, »wenn noch ein Platz leer ist, wollt Ihr mir erlauben, den Jungen Simon mitzunehmen? Morgenes hat – es war sein letzter Wunsch – darum gebeten, daß mein Meister über den Jungen wachen sollte. Nach Ookequks Tod bin ich nun Meister und möchte mich dieser Pflicht nicht entziehen.«

Josuas Blick war skeptisch. »Ihr wollt über ihn wachen, indem Ihr ihn auf eine wahnwitzige Expedition in den unerforschten Norden mitnehmt?«

Binabik zog eine Braue hoch. »Unerforscht von großen Leuten – vielleicht. Für mein Qanuc-Volk ist es wie der eigene Dorfanger. Und wäre es sicherer, ihn in einer Burg zurückzulassen, die sich zum Krieg mit dem Hochkönig rüstet?«

Der Prinz führte die langen Finger ans Gesicht, als schmerze ihn der Kopf. »Vermutlich habt Ihr recht. Wenn dieser schmale Streifen Hoffnung sich als nichtig erweist, wird es für niemanden, der auf der Seite des Herrn von Naglimund gestanden hat, mehr einen sicheren Ort geben. Wenn der Junge willig ist, könnt Ihr ihn mitnehmen.« Er nahm Binabik bei der Schulter. »Ausgezeichnet, kleiner Mann – klein, aber tapfer. Geht nun zurück an Eure Bücher. Morgen früh werde ich Euch drei wackere Erkynländer und Isgrimnurs Mann Sludig schicken.«

»Meinen Dank, Prinz Josua«, nickte Binabik. »Aber ich meine, daß wir lieber morgen abend aufbrechen sollten. Wir werden eine kleine Schar sein, und unsere beste Hoffnung liegt darin, keine böse Aufmerksamkeit auf uns zu lenken.«

»So sei es«, antwortete Josua, erhob sich und hob wie segnend die Hand. »Wer weiß schon, ob dies ein sinnloses Unterfangen oder unser aller Rettung ist? Mit Trompetenschall und Jubelrufen solltet Ihr ausziehen; statt dessen muß die Ehre der Notwendigkeit weichen und Heimlichkeit das Losungswort sein. Ihr sollt wissen, daß unsere Gedanken bei Euch sind.«

Isgrimnur stand zögernd daneben, bückte sich dann plötzlich und ergriff Binabiks kleine Hand. »Verdammt seltsam ist das alles«, brummte er, »aber Gott sei mit Euch. Wenn Sludig aufsässig wird, seht es ihm nach. Er ist von feurigem Gemüt, aber sein Herz ist gut und seine Treue fest.«

»Habt Dank, Herzog«, erwiderte der Troll ernsthaft. »Möge Euer Gott uns wirklich segnen. Wir reisen ins Unbekannte.«

»Wie alle Sterblichen es tun«, fügte der Prinz hinzu. »Früher oder später.«


»Was! Du hast dem Prinzen und allen anderen gesagt, ich würde wohin mitkommen?« Simon ballte vor Wut die Fäuste. »Was für ein Recht hattest du dazu?«

»Simon-Freund«, versetzte Binabik gelassen, »niemand befiehlt dir zu gehen. Ich habe nur von Josua die Erlaubnis erbeten, dich an unserer Suche teilnehmen zu lassen, und sie wurde mir gewährt. Die Entscheidung liegt bei dir.«

»Bei Usires verdammtem Baum! Was bleibt mir denn noch übrig? Wenn ich nein sage, hält mich jeder für einen Feigling!«

»Simon.« Der kleine Mann setzte eine geduldige Miene auf. »Erstens: Versuche nicht an mir deine neugelernten Soldatenflüche. Wir Qanuc sind ein höfliches Volk. Zweitens: Es tut nicht gut, sich über anderer Leute Meinungen solche Sorgen zu machen. Abgesehen davon wird Naglimund bestimmt kein guter Ort für Feiglinge sein.«

Simon zischte eine große, frostige Atemwolke hervor und umarmte sich selbst. Er starrte zum trüben Himmel hinauf nach dem stumpfen, verschwommenen Sonnenfleck, der sich hinter den Wolken verbarg. Warum entscheiden immer andere für mich, ohne mich vorher zu fragen? Bin ich ein Kind?

Eine Weile stand er so da, mit nicht allein von der Kälte gerötetem Gesicht, bis Binabik eine kleine, liebreiche Hand nach ihm ausstreckte.

»Mein Freund, ich bin sorgenvoll, daß dieses nicht die Ehre für dich war, die ich erhofft hatte – eine Ehre der schrecklichen, allzu schrecklichen Gefahr natürlich, aber doch eine Ehre. Ich habe erklärt, welche Bedeutung wir dieser Suche beimessen, wie das Schicksal Naglimunds und des ganzen Nordens von ihrem Erfolg abhängt. Und selbstverständlich auch, daß wir vielleicht alle ohne Sang und Klang in der weißen Öde des Nordens untergehen können.« Er klopfte feierlich Simons Handknöchel und griff dann in die Tasche seiner pelzgefütterten Jacke. »Hier«, sagte er und legte etwas Hartes und Kaltes in Simons Finger.

Für einen Augenblick abgelenkt, öffnete der Junge die Hand und schaute. Es war ein Ring, ein glatter, dünner Reif aus goldenem Metall. Ein einfaches Zeichen war darauf eingraviert: ein längliches Oval mit einem spitzen Dreieck an einem Ende.

»Das Fischsymbol des Bundes der Schriftrolle«, erklärte Binabik. »Morgenes band es an das Bein des Sperlings, zusammen mit der Nachricht, von der ich dir schon erzählt habe. Am Schluß der Botschaft stand, daß es für dich sein sollte.«

Simon hielt den Ring in die Höhe und versuchte, einen Strahl des trüben Sonnenlichtes damit einzufangen. »Ich habe ihn nie an Morgenes gesehen«, meinte er schließlich, ein wenig überrascht, daß der Ring keine Erinnerungen in ihm weckte. »Haben die Angehörigen des Bundes alle einen? Und wie könnte ich würdig sein, ihn zu tragen? Ich kann gerade lesen, und meine Rechtschreibung ist alles andere als gut.«

Binabik lächelte. »Mein Meister hatte keinen solchen Ring, oder zumindest habe ihn nie damit gesehen. Und was das andere betrifft: Morgenes wollte, daß du ihn tragen solltest, und das, davon habe ich Überzeugung, ist Erlaubnis genug.«

»Binabik«, bemerkte Simon mit zusammengekniffenen Augen, »es steht etwas darin geschrieben.« Er hielt dem Troll den Ring hin. »Ich kann es nicht lesen.«

Der Troll machte schmale Pupillen. »Es ist Schrift in einer Sithisprache«, meinte er und drehte den Ring, um auf der Innenseite zu lesen, »schwer zu entziffern, weil sie sehr klein und in einem Stil abgefaßt ist, den ich nicht kenne.« Er studierte einen Augenblick länger.

»›Drache‹, dieses Zeichen heißt Drache«, las er dann doch. »Und das hier, glaube ich, ›Tod‹… ›Tod und Drache?‹… ›Tod des Drachen‹?« Er sah zu Simon auf, grinste und zuckte die Achseln. »Ich habe keine Ahnung, was es bedeuten könnte. Mein Wissen reicht nicht tief genug. Irgendein Einfall unseres Doktors, könnte ich mir vorstellen – oder vielleicht ein Familienwahlspruch. Vielleicht kann Jarnauga es lesen.«

Der Ring glitt so bequem auf den dritten Finger von Simons rechter Hand, als sei er für ihn gemacht. Morgenes war doch so klein gewesen! Wie hatte er ihn tragen können?

»Glaubst du, daß es ein Zauberring ist?« fragte Simon unvermittelt und kniff wieder die Augen zusammen, als könne er auf diese Art Zaubersprüche entdecken, die den goldenen Reif umschwärmten wie winzige Bienen.

»Wenn ja«, antwortete Binabik halb spöttisch, halb düster, »dann hat Morgenes keine Zauberlehre mitgeschickt, die seinen Gebrauch erläutert.« Er schüttelte den Kopf. »Ich halte es nicht für eine Wahrscheinlichkeit. Ein Andenken von einem Mann, der dich gern gehabt hat.«

»Und warum gibst du ihn mir gerade jetzt?« fragte Simon, der einen gewissen schmerzlichen Druck hinter den Augen spürte, dem er sich entschlossen zu widersetzen gedachte.

»Weil ich morgen abend nach dem Norden aufbrechen muß. Wenn du dich entscheidest hierzubleiben, werden wir vielleicht keine Gelegenheit haben, uns noch einmal zu sehen.«

»Binabik!« Der Druck wurde stärker. Simon fühlte sich wie ein kleines Kind, das zwischen älteren Leuten, die es tyrannisieren wollen, hin und her gestoßen wird.

»Die Wahrheit ist es nur.« Das runde Gesicht des Trolls war jetzt ganz ernst. Er hob die Hand, um weiteren Einwendungen und Fragen zuvorzukommen. »Du mußt dich nun entschließen, mein guter Freund. Ich gehe in das Schnee- und Eisland, mit einem Vorhaben, das vielleicht nur Torheit ist und das Leben der Toren fordern kann, die es ausführen. Die Zurückbleibenden werden dem Zorn eines königlichen Heeres gegenüberstehen. Ein übles Wählen, fürchte ich.« Binabik nickte feierlich mit dem Kopf. »Aber, Simon, was immer du auch beschließt, ob du mit nach dem Norden gehst oder hierbleibst, um für Naglimund – und die Prinzessin – zu kämpfen, wir beide bleiben die besten Kameraden.«

Er stellte sich auf die Zehen, um Simon einen Klaps auf den Oberarm zu geben, drehte sich dann um und ging über den Hof, hinüber zu den Archiven.


Simon fand sie allein. Sie stand da und warf Kiesel in den Schloßbrunnen. Gegen die Kälte trug sie einen schweren Reisemantel mit Kapuze.

»Seid gegrüßt, Prinzessin«, sagte er. Sie blickte mit traurigem Lächeln auf. Aus irgendeinem Grund wirkte sie heute viel älter, fast wie eine erwachsene Frau.

»Willkommen, Simon.« Ihr Atem legte einen Nebelschleier um ihren Kopf.

Er wollte zum Gruß das Knie beugen, aber sie sah ihn gar nicht mehr an. Wieder klapperte ein Stein in den Brunnen. Er überlegte, ob er sich hinsetzen sollte, was ihm eigentlich natürlich vorkam; aber der einzige Platz dazu war der Brunnenrand, auf dem er entweder unbehaglich nahe bei der Prinzessin sein oder von ihr weg in die andere Richtung schauen mußte. Simon entschied sich daher fürs Stehenbleiben.

»Und wie ist es Euch ergangen?« erkundigte er sich endlich. Sie seufzte.

»Mein Onkel behandelt mich, als sei ich aus Eierschalen und Spinnweben – als würde ich zerbrechen, wenn ich etwas in die Hand nähme oder jemand mich versehentlich anrempelte.«

»Bestimmt … bestimmt macht er sich nur Sorgen um Eure Sicherheit, nach der gefährlichen Reise, die Ihr gemacht habt, um hierherzukommen.«

»Der gefährlichen Reise, die wir gemacht haben – aber niemand läuft ständig hinter dir her, um sicherzugehen, daß du dir nicht das Knie aufschürfst. Dir bringen sie sogar bei, wie man mit dem Schwert kämpft.«

»Mar …, Prinzessin!« Simon war einigermaßen schockiert. »Ihr wollt doch wohl nicht mit Schwertern kämpfen?« Sie sah zu ihm auf, und ihre Augen trafen sich. Sekundenlang brannte ihr Blick vor unerklärlicher Sehnsucht so heiß wie die Mittagssonne; gleich daraufließ sie ihn müde sinken.

»Nein«, antwortete sie. »Vermutlich nicht. Aber ach, ich möchte so gern irgend etwas tun!«

Überrascht hörte er den echten Schmerz in ihrer Stimme, und ihm fiel wieder ein, wie sie bei der Flucht über die Steige gewesen war, klaglos und stark, eine Gefährtin, wie man sie sich nicht besser wünschen konnte.

»Was … würdet Ihr gern tun?«

Sie blickte von neuem auf, erfreut darüber, daß er so ernsthaft fragte. »Nun ja«, begann sie, »es ist kein Geheimnis, daß Josua Schwierigkeiten hat, Devasalles davon zu überzeugen, daß sein Herr, Herzog Leobardis, uns gegen meinen Vater unterstützen sollte. Josua könnte mich nach Nabban schicken!«

»Euch … nach Nabban schicken?«

»Natürlich, du Dummkopf.« Sie runzelte die Stirn. »Ich entstamme mütterlicherseits dem Haus Ingadarin, einer sehr edlen Nabbanai-Familie. Meine Tante ist mit Leobardis verheiratet. Wer wäre besser geeignet, den Herzog zu überzeugen?« Um ihre Worte zu unterstreichen, klatschte sie in die behandschuhten Hände.

»Oh…« Simon wußte nicht, was er sagen sollte. »Vielleicht findet Josua, daß es … daß es … ich weiß nicht.« Er dachte nach. »Ich meine, sollte ausgerechnet die Tochter des Hochkönigs diejenige sein, die … Bündnisse gegen ihn abschließt?«

»Und wer kennt das Herz des Hochkönigs besser?«

Jetzt war sie zornig.

»Und was…« Er zögerte, aber die Neugier trug den Sieg davon. »… was empfindet Ihr für Euren Vater?«

»Ob ich ihn hasse, meinst du?« Ihr Ton war bitter. »Ich hasse das, was aus ihm geworden ist. Ich hasse das, wozu die Männer seiner Umgebung ihn gebracht haben. Wenn er wieder in seinem Herzen Güte finden und seine Irrtümer einsehen würde … dann würde ich ihn auch wieder lieben.«

Eine ganze Prozession von Steinen versank im Brunnen. Simon stand betreten daneben.

»Entschuldige, Simon«, meinte sie nach einer Weile. »Ich kann gar nicht mehr richtig mit Menschen reden. Meine alte Kinderfrau wäre entsetzt, was ich alles vergessen habe, als ich mich im Wald herumtrieb. Wie geht es dir, und was hast du die ganze Zeit getan?«

»Binabik hat mich aufgefordert, ihn auf einer Mission für Josua zu begleiten«, erklärte er und brachte das Thema übergangsloser zur Sprache, als er eigentlich vorgehabt hatte. »In den Norden«, fügte er bedeutungsvoll hinzu.

Anstatt, wie er erwartet hätte, einen Ausdruck von Sorge und Furcht anzunehmen, schien das Gesicht der Prinzessin plötzlich von innen zu strahlen; obwohl sie ihn anlächelte, schien sie ihn gar nicht richtig zu sehen. »Ach, Simon«, sagte sie, »wie tapfer. Wie großartig. Kannst du … wann reist ihr ab?«

»Morgen abend«, antwortete er und war sich unklar bewußt, daß durch irgendeinen geheimnisvollen Vorgang aus aufgefordert mitzukommen auf einmal mitgehen wollen geworden war. »Aber ich habe mich noch nicht entschlossen«, beharrte er schwächlich. »Ich dachte, vielleicht braucht man mich in Naglimund nötiger – um auf den Mauern den Speer zu führen.« Das letzte hatte er nur für den Fall hinzugefügt, daß sie vielleicht denken könnte, er wolle zurückbleiben, um in der Küche zu arbeiten oder sonst etwas in dieser Richtung.

»Oh, aber Simon«, sagte Miriamel und griff plötzlich nach seiner kalten Hand, um sie mit ihren lederumhüllten Fingern zu umschließen. »Wenn mein Onkel dich braucht, dann mußt du gehen! Nach allem, was ich gehört habe, bleibt uns so wenig Hoffnung.«

Sie griff an ihren Hals und löste rasch den himmelblauen Schal, den sie trug, einen schmalen, durchschimmernden Stoffstreifen, und reichte ihn Simon. »Nimm das und trag es für mich«, bat sie. Simon fühlte, wie ihm tosend das Blut in die Wangen schoß. Mühsam kämpfte er dagegen an, daß sich seine Lippen zu seinem erschreckten Mondkalbgrinsen verzogen.

»Habt Dank … Prinzessin…«, brachte er endlich heraus.

»Wenn du es trägst«, sagte sie und streckte sich, »wird es beinahe so sein, als wäre ich selber dort.« Sie machte einen komischen kleinen Tanzschritt und lachte.

Simon versuchte erfolglos zu begreifen, was da eigentlich gerade geschehen war und wie es so schnell geschehen konnte. »So wird es sein, Prinzessin«, sagte er. »Als ob Ihr da wärt.«

Etwas in der Art, wie er es sagte, ließ ihre jähe Anwandlung umkippen; ihre Miene wurde nüchtern, sogar traurig. Wieder lächelte sie, ein langsameres, trüberes Lächeln. Dann machte sie einen schnellen Schritt auf Simon zu, der darüber so erschrak, daß er um ein Haar die Hand gehoben und sie abgewehrt hätte. Mit kühlen Lippen streifte sie seine Wange.

»Ich weiß, daß du tapfer sein wirst, Simon. Komm heil zurück. Ich werde für dich beten.«

Gleich darauf war sie fort, über den Hof davongerannt wie ein kleines Mädchen, der dunkle Umhang wirbelte wie Rauch hinter ihr, als sie im dämmrigen Torbogen verschwand.

Simon stand da und hielt ihren Schal fest. Er dachte an ihn und an ihr Lächeln, als sie seine Wange küßte, und er fühlte, wie in seinem Inneren eine Flamme zu glühen begann. Auf eine Weise, die er nicht völlig begriff, schien es, als sei gegen die grenzenlose graue Kälte, die vom Norden her drohte, eine einsame Fackel entzündet. Nur ein einziger heller Lichtpunkt in einem furchtbaren Sturm … aber selbst ein einziges Feuer konnte einen Wanderer sicher nach Hause führen.

Er rollte das weiche Tuch zu einem Knäuel zusammen und steckte es in sein Hemd.


»Ich freue mich, daß Ihr so schnell gekommen seid«, sagte die Herrin Vara. Das Glitzern ihres gelben Kleides schien sich in ihren schwarzen Augen zu spiegeln.

»Die Herrin erweist mir Ehre«, erwiderte der Mönch und ließ den Blick durch den Raum schweifen.

Vara lachte rauh. »Ihr seid der einzige, der es als Ehre betrachtet, mich aufzusuchen. Doch das ist gleich. Ihr versteht, was Ihr zu tun habt?«

»Ich bin sicher, daß ich es richtig verstanden habe. Die Angelegenheit ist schwierig zu erledigen, doch leicht zu begreifen.« Er neigte das Haupt.

»Gut. Dann säumt nicht, denn je länger Ihr wartet, desto geringer ist die Aussicht auf Erfolg. Außerdem wächst die Möglichkeit, daß es Gerede gibt.« Sie wirbelte herum und ging seidenrauschend nach dem Hinterzimmer.

»Ach … Herrin?« Der Mann hauchte seine Finger an. In den Gemächern des Prinzen war es kalt, das Feuer nicht entzündet. »Da wäre noch die … Bezahlung?«

»Ich dachte, Ihr tätet es, um mich zu ehren?« rief Vara aus dem darunterliegenden Raum.

»Gewiß, Herrin, aber ich bin nur ein armer Mann. Was Ihr verlangt, erfordert Mittel.« Wieder blies er auf seine Finger und versteckte dann die Hände tief in seiner Kutte.

Sie kam mit einer Börse aus schimmerndem Stoff zurück. »Das weiß ich. Hier. Es ist Gold, wie versprochen – die Hälfte jetzt, die andere Hälfte, sobald mir der Beweis vorliegt, daß Ihr Eure Aufgabe erfüllt habt.« Sie reichte ihm die Börse und trat zurück. »Pfui, Ihr stinkt nach Wein! Seid Ihr diese Sorte Mann – Ihr, dem man eine so schwerwiegende Aufgabe anvertraut hat?«

»Es ist nur der Abendmahlswein, Herrin. Manchmal ist er auf meinem schweren Weg das einzige, was ich zu trinken habe. Das müßt Ihr verstehen.« Er schenkte ihr ein schüchternes Lächeln und schlug das Zeichen des Baumes über dem Gold, bevor er es in der Tasche seiner Kutte verstaute. »Wir alle tun, was wir müssen, um Gottes Willen zu dienen.«

Vara nickte langsam. »Das ist einzusehen. Laßt mich nicht im Stich! Ihr dient einem großen Ziel, und nicht allein um meinetwillen.«

»Ich verstehe, Herrin.« Er verbeugte sich, drehte sich dann um und ging. Vara stand da und starrte auf die über den Tisch des Prinzen verstreuten Pergamente. Sie atmete tief aus. Es war getan.


Die Dämmerung des auf sein Gespräch mit der Prinzessin folgenden Tages fand Simon in Prinz Josuas Gemächern. Er war im Begriff, sich zu verabschieden. In einer Art Benommenheit, als sei er gerade eben erst aufgewacht, stand er da und lauschte den letzten Worten des Prinzen an Binabik. Der Junge und der Troll hatten den ganzen Tag damit verbracht, ihre Ausrüstung vorzubereiten. Für Simon waren ein neuer, pelzgefütterter Mantel und ein Helm besorgt worden, dazu ein leichtes Kettenhemd, das er unter den Oberkleidern tragen sollte. Die Schicht aus dünnen kleinen Ringen, hatte ihm Haestan erklärt, würde ihn zwar nicht vor einem gezielten Schwerthieb oder einem Pfeil ins Herz schützen, ihm aber bei weniger tödlichen Angriffen trefflich zu statten kommen.

Simon fand ihr Gewicht beruhigend, aber Haestan warnte ihn, daß er am Ende einer langen Tagesreise vielleicht nicht mehr so begeistert davon sein würde.

»Soldat schleppt viele Lasten, Junge«, sagte der große Mann zu ihm, »und manchmal ist die schwerste davon, am Leben zu bleiben.« Haestan war einer der Erkynländer gewesen, die vortraten, als die Hauptleute Freiwillige aufriefen. Wie seine beiden Kameraden, Ethelbearn, ein narbiger Veteran mit buschigem Schnurrbart, der beinahe ebenso groß wie Haestan war, und Grimmric, ein schlanker Falke von einem Mann mit schlechten Zähnen und wachsamem Blick, hatte er sich nun schon so lange für eine Belagerung gerüstet, daß er jede Form von Betätigung begrüßte, selbst etwas so Gefährliches und Geheimnisvolles, wie es dieses Unternehmen zu sein schien. Als Haestan hörte, daß Simon auch mitkommen sollte, wurde sein Wunsch, dabei zu sein, noch hartnäckiger.

»Jungen wie den loszuschicken ist Wahnsinn«, knurrte er, »vor allem, wenn er doch noch gar nicht gelernt hat, sein Schwert zu schwingen oder den Pfeil zu schießen. Geh ich lieber mit und zeig ihm noch was.«

Auch Herzog Isgrimnurs Gefolgsmann Sludig hatte sich eingefunden, ein junger Rimmersmann, wie die Erkynländer mit Pelzen und Kegelhelm ausgestattet. Statt der Langschwerter, die die beiden anderen trugen, hatte sich der blondbärtige Sludig zwei Handbeile mit vielfach schartigen Klingen in den Gürtel gesteckt. Er grinste Simon, dem er die Frage an den Augen ablas, vergnügt an.

»Manchmal bleibt eins im Schädel oder Brustkorb stecken«, erläuterte er. Der Rimmersmann sprach die Westerlingsprache geläufig und mit fast ebenso geringem Akzent wie sein Herzog. »Es ist schön, wenn man dann noch ein anderes Beil zur Hand hat, bis man das erste herausgezogen hat.«

Simon nickte und versuchte zurückzulächeln.

»Schön, dich wiederzusehen, Simon.« Sludig streckte ihm die schwielige Hand entgegen.

»Wieder?«

»Wir sind uns schon einmal begegnet, bei Hoderunds Abtei.« Sludig lachte. »Allerdings hast du damals die Reise quer über Einskaldirs Sattel gemacht, mit dem Arsch nach oben. Ich hoffe, daß du auch anders reiten kannst.«

Simon errötete, schüttelte dem Nordmann die Hand und wandte sich ab.

»Wir haben nur wenig entdeckt, das euch unterwegs helfen könnte«, erklärte Jarnauga Binabik bedauernd. »Die skendianischen Mönche haben außer dem geschäftlichen Vorgang der Ausrüstung kaum etwas über Colmunds Expedition vermerkt. Wahrscheinlich hielten sie ihn für einen Verrückten.«

»Womit sie höchstwahrscheinlich recht hatten«, entgegnete der Troll, und es klang nicht nach einem Scherz. Er war damit beschäftigt, das Knochengriffmesser zu polieren, das er sich als Ersatz für das fehlende Stück seines Stabes geschnitzt hatte.

»Aber eines haben wir doch gefunden«, sagte jetzt Strangyeard. Das Haar des Priesters stand ihm in wilden Büscheln vom Kopf ab, und seine Augenklappe war ein wenig verrutscht, als sei er unmittelbar von einer über seinen Büchern verbrachten Nacht gekommen … was der Wahrheit entsprach. »Der Buchhalter der Abtei schrieb: ›Der Baron weiß nicht, wie lange die Reise zum Reimerbaum dauern wird‹.«

»Ich kenne das Wort nicht«, erklärte Jarnauga, »wahrscheinlich wird es etwas sein, das der Mönch falsch verstanden oder aus drittem Munde gehört hat … aber immerhin ist es ein Name. Möglicherweise werdet ihr daraus klug, wenn ihr erst den Berg Urmsheim erreicht habt.«

»Vielleicht«, sagte Josua nachdenklich, »ist es eine Stadt, die am Wege liegt, oder ein Dorf am Fuß des Berges.«

»Mag sein«, erwiderte Binabik skeptisch, »aber nach allem, was ich von dieser Gegend weiß, liegt zwischen den Ruinen des Skendiklosters und dem Gebirge nichts mehr – es gibt dort nur Eis, Bäume und natürlich Felsen. Von diesen Dingen freilich gibt es eine große Menge.«

Während sie endgültig Abschied nahmen, hörte Simon aus dem hinteren Raum Sangfugols Stimme herüberklingen; der Harfner sang für die Herrin Vara.

Und soll hinaus ich wandern

in Wintereis und Schnee?

Oder nach Hause kehren?

Befiehl – ich komm und geh…

Simon nahm seinen Köcher und untersuchte ihn zum dritten oder vierten Mal, um sich zu vergewissern, daß der Weiße Pfeil noch darin steckte. Verwirrt, wie in einem tiefen, haftenden Traum gefangen, begriff er langsam, daß er dabei war, zu einer neuen Reise aufzubrechen – und wieder nicht recht wußte, warum. Seine Zeit in Naglimund war so kurz gewesen. Nun war sie schon vorbei, zumindest für eine lange Weile. Als seine Hand den blauen, lose um seinen Hals geschlungenen Schal berührte, wurde ihm klar, daß er von den anderen hier im Zimmer vielleicht keinen wiedersehen würde, vielleicht niemanden in Naglimund … Sangfugol, den alten Strupp, Miriamel. Sekundenlang war ihm, als bliebe ihm das Herz stehen, als stottere sein Schlag wie ein Trunkener, und er wollte schon die Hand ausstrecken, um sich irgendwo festzuhalten, als sich eine starke Faust um seinen Ellenbogen schloß.

»Schon gut, Junge.« Es war Haestan. »Schlimm genug, daß du von Schwert und Bogen nichts verstehst, jetzt setzen wir dich auch noch aufs Pferd.«

»Aufs Pferd?« fragte Simon. »Das gefällt mir.«

»Wird es nicht«, versetzte Haestan grinsend. »Ein, zwei Monate erstmal nicht.«

Josua sagte jedem noch ein paar Worte, dann gab es ein warmes, feierliches Händeschütteln ringsum. Wenig später standen sie auf dem dunklen, kalten Hof, wo Qantaqa und sieben stampfende, dampfende Pferde auf sie warteten, fünf zum Reiten und ein Paar, um die schweren Gepäckstücke zu tragen. Falls ein Mond am Himmel stand, hatte er sich in der Wolkendecke versteckt wie eine schlafende Katze.

»Gut ist es, daß wir diese Dunkelheit haben«, sagte Binabik und schwang sich in den neuen Sattel auf Qantaqas grauem Rücken. Die Männer, die das Reittier des Trolls zum ersten Mal zu Gesicht bekamen, tauschten verwunderte Blicke, als Binabik mit der Zunge schnalzte und die Wölfin sich an die Spitze des kleinen Trupps setzte. Eine Gruppe Soldaten zog leise das geölte Fallgatter in die Höhe, dann waren sie draußen unter dem weiten Himmel. Um sie her dehnte sich das Feld der Schattennägel, und sie ritten auf die vor ihnen aufragenden Berge zu.

»Lebt wohl, ihr alle«, sagte Simon still. Dann schlugen sie den nach oben führenden Pfad ein.

Hoch oben auf der Steige, auf dem Kamm des Berges über Naglimund, beobachtete sie eine schwarze Gestalt.

Selbst mit seinen scharfen Augen konnte Ingen Jegger in der mondlosen Düsternis nur erkennen, daß jemand die Burg durch das östliche Tor verlassen hatte. Allerdings war das mehr als ausreichend, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.

Er stand da, rieb sich die Hände und erwog, einen seiner Männer zu rufen, um mit ihm nach unten zu steigen und sich die Sache genauer anzuschauen. Aber dann hob er die Faust an den Mund und ahmte den Ruf der Schnee-Eule nach. Sofort tauchte aus dem Unterholz ein riesenhaftes Geschöpf auf und sprang zu ihm auf die Steige. Es war ein Hund, der an Größe sogar noch den von der zahmen Wölfin des Trolls getöteten übertraf, weißglänzend im Licht des Mondes, der in diesem Augenblick hinter den Wolken hervorkam. Seine Augen funkelten im langen, grinsenden Gesicht wie eingelassene Perlen, und als er knurrte, kam ein tiefes, nachhallendes Grollen aus seiner Kehle, und bewegte den Kopf mit den gekräuselten Nüstern nach allen Seiten.

»Ja, Niku'a, ja«, zischte Ingen leise. »Es ist wieder Zeit zum Jagen.«

Gleich darauf war die Steige leer. Ganz sacht raschelten neben dem uralten Steinpflaster die Blätter, aber es wehte kein Wind.

XXXV Der Rabe und der Kessel

Maegwin zuckte zusammen, als das Hämmern von neuem einsetzte, dieses schmerzliche Gellen, in dem so vieles mitschwang – nur nichts Gutes. Eines der Mädchen, eine schmale, hellhäutige Schönheit, die Maegwin schon auf den ersten Blick als Versagerin eingestuft hatte, ließ, um sich die Ohren zuzuhalten, den Balken los, an dem sie alle gemeinsam schoben. Das schwere Zaunstück, das zum Schließen des Tores diente, wäre um ein Haar abgestürzt, hätten nicht Maegwin und die beiden anderen verbissen festgehalten.

»Bei Bagbas Herde, Cifgha«, fuhr sie die Loslassende an, »bist du von Sinnen? Wenn dieses Ding heruntergefallen wäre, hätte jemand zerquetscht werden oder sich zumindest den Fuß brechen können!«

»Es tut mir leid, Herrin, wirklich«, antwortete das Mädchen mit hochgeröteten Wangen, »es ist nur dieser schreckliche Lärm … er macht mir angst!« Sie trat zurück, um sich wieder an ihren Platz zu stellen, und alle vier strengten sich an, den massiven Eichenbalken über den Zaun und in die Vertiefung zu schieben, damit die Koppel geschlossen gehalten würde. Im Inneren der Einfriedung muhte eine dichtgedrängte Ansammlung von roten Rindern, die der ständige Lärm ebenso unruhig machte wie die jungen Frauen.

Scharrend und krachend fiel das Holzstück in die Führung, und alle vier drehten sich keuchend um und lehnten sich erschöpft mit dem Rücken an das Tor.

»Barmherzig sind die Götter«, ächzte Maegwin, »mir wäre gleich das Rückgrat gebrochen!«

»Es gehört sich einfach nicht«, meinte Cifgha und starrte bekümmert auf die blutenden Kratzer in ihren Handflächen. »Das ist Männerarbeit!«

Das metallische Scheppern verstummte, und einen Augenblick lang schien die Stille selbst zu singen. Lluths Tochter seufzte und sog tief die frostige Luft ein.

»Nein, kleine Cifgha«, erwiderte sie, »das, was die Männer jetzt tun, ist Männerarbeit, und alles, was übrigbleibt, müssen wir Frauen erledigen – sofern du nicht Schwert und Speer tragen willst.«

»Cifgha?« sagte eines der anderen Mädchen lachend. »Sie kann ja nicht einmal eine Spinne töten.«

»Ich rufe immer Tuilleth«, erklärte Cifgha, stolz auf ihre Verwöhntheit, »und er kommt gleich und macht es.«

Maegwin zog ein saures Gesicht. »Wir sollten uns lieber daran gewöhnen, selbst mit unseren Spinnen fertigzuwerden. In nächster Zeit wird es hier nicht mehr viele Männer geben, und die wenigen, die hierbleiben, werden eine Menge anderer Sachen zu tun haben.«

»Bei Euch ist das anders, Prinzessin«, wandte Cifgha ein. »Ihr seid groß und stark.«

Maegwin blickte sie scharf an, antwortete jedoch nicht.

»Meint Ihr denn, daß sie den ganzen Sommer über kämpfen werden?« fragte eine andere, als spreche sie von einer besonders unangenehmen Arbeit. Maegwin drehte sich um und betrachtete die drei, ihre schweißnassen Gesichter und die bereits umherschweifenden Blicke, die nach einem fesselnderen Gesprächsgegenstand suchten. Einen Moment lang hätte sie am liebsten laut geschrien, sie so erschreckt, daß sie begriffen, daß es hier nicht um ein Turnier ging, nicht um ein Spiel, sondern um Fragen von tödlichem Ernst.

Aber warum soll ich sie jetzt mit der Nase hineinstoßen? dachte sie dann milder. Nur allzubald werden wir alle mehr abbekommen, als wir vertragen können.

»Ich weiß nicht, ob es so lange dauern wird, Gwelan«, erwiderte sie kopfschüttelnd. »Ich hoffe nicht. Ich hoffe es wirklich nicht.«


Als sie die Koppeln verließ und hinunter zur großen Halle ging, fingen die beiden Männer gerade wieder an, auf den riesigen Bronzekessel loszuschlagen, der in seinem Gestell aus Eichenpfosten, den Boden nach oben, vor dem Eingangstor des Taig hing. Während sie vorbeitrottete, war der Lärm der Männer, die den Kessel mit ihren vorn eisenbeschlagenen Keulen aus Leibeskräften bearbeiteten, so fürchterlich, daß sie sich mit den Händen die Ohren zuhalten mußte. Wieder einmal fragte sie sich, wie ihr Vater und seine Ratgeber bei diesem entsetzlichen Krach unmittelbar vor der Halle überhaupt noch einen klaren Gedanken fassen, geschweige denn Schlachtpläne erarbeiten konnten, bei denen es um Tod und Leben ging. Andererseits wenn man Rhynns Kessel nicht läutete, würde es Tage dauern, die verstreuten Orte einen nach dem anderen zu warnen, vor allem diejenigen, die sich hoch in die Hänge des Grianspog schmiegten. So aber würden Dörfer und Herrensitze in Hörweite des Kessels Reiter nach den weiter entfernten senden. Der Herr des Taig hatte stets in Zeiten der Gefahr den Kessel schlagen lassen, schon lange vor der Zeit, als Hern der Jäger und Oinduth, sein mächtiger Speer, ihr Land zu einem großen Königreich gemacht hatten. Kinder, die das Läuten noch nie gehört hatten, erkannten es trotzdem sofort, so viele Geschichten erzählte man sich über Rhynns Kessel.

Die hohen Fenster des Taig waren heute mit Läden vor dem eisigen Wind und dem Nebel verschlossen. Maegwin fand ihren Vater und seine Räte in ernstem Gespräch vor dem Kamin.

»Meine Tochter«, sagte Lluth und erhob sich, sichtlich bemüht, ihr ein Lächeln zu zeigen.

»Ich habe ein paar Frauen geholt und mit ihnen den Rest des Viehs auf die große Koppel getrieben«, berichtete Maegwin. »Allerdings halte ich es nicht für richtig, sie derart eng zusammenzudrängen. Die Kühe fühlen sich elend.«

Lluth machte eine abwehrende Handbewegung. »Besser, wir verlieren jetzt ein paar, als daß wir versuchen müssen, sie dann noch zusammenzutreiben, wenn wir uns vielleicht in aller Eile in die Berge zurückziehen.«

Am anderen Ende der Halle öffnete sich die Tür, und die Posten schlugen einmal mit den Schwertern auf die Schilde, so als wollten sie das durchdringende Geräusch des Kesselrufes nachahmen. »Sei sehr bedankt, Maegwin«, erklärte der König und wandte sich von ihr ab, um den Neuankömmling zu begrüßen.

»Eolair!« rief er. Der Graf trat vor. Er trug noch die verschmutzten Reisekleider. »Ihr seid rasch zurückgekehrt von den Heilern. Gut. Wie geht es Euren Männern?«

Der Graf von Nad Mullagh kam näher, sank kurz auf ein Knie und stand auf Lluths ungeduldige Geste hin sofort wieder auf. »Fünf sind bei Kräften; um die beiden Verwundeten steht es nicht gut. Für sie und die anderen vier werde ich Skali persönlich zur Rechenschaft ziehen.« Jetzt endlich bemerkte er auch Lluths Tochter und lächelte sein breites Lächeln; aber seine Brauen blieben in müdem, sorgenvollem Sinnen zusammengezogen. »Maegwin, Herrin«, sagte er, verbeugte sich nochmals und küßte ihre langfingrige Hand, an der, wie Maegwin in peinlicher Verlegenheit feststellte, noch Schmutz von der Koppeleinfriedung haftete.

»Ich hörte, daß Ihr zurückgekehrt seid, Graf«, erklärte sie. »Ich wünschte nur, die Umstände wären glücklicher.«

»Es ist unendlich schade um Eure tapferen Männer, Eolair«, brummte der König und setzte sich wieder zu dem alten Craobhan und den anderen Vertrauten. »Doch Dank sei Brynioch und Murhagh Einarm, daß Ihr auf diesen Erkundungstrupp gestoßen seid. Wenn nicht, hätten Skali und seine Nordbastarde uns ahnungslos erwischt. Wenn er von dem Scharmützel mit Euren Männern erfährt, wird er sich uns weit vorsichtiger nähern, davon bin ich überzeugt. Vielleicht überlegt er es sich sogar ganz anders.«

»Ich wünschte, es wäre so, mein König«, erwiderte Eolair und schüttelte traurig den Kopf. Maegwins Herz schmolz dahin, als sie sah, wie tapfer er seine Erschöpfung trug; wortlos verfluchte sie ihre kindischen Gefühle. »Aber«, fuhr der Graf fort, »ich fürchte, es verhält sich anders. Wenn Skali so weit von seiner Heimat entfernt einen derart heimtückischen Angriff wagt, muß er überzeugt sein, das Glück auf seiner Seite zu wissen.«

»Aber warum nur, warum?« protestierte Lluth. »Wir leben mit den Rimmersmännern seit Jahren in Frieden!«

»Ich glaube, Herr, daß das wenig damit zu tun hat.« Eolair sprach respektvoll, scheute sich jedoch nicht, seinen König zu berichtigen. »Wenn noch der alte Isgrimnur in Elvritshalla regieren würde, hättet Ihr recht, Euch zu wundern; aber Skali ist ganz und gar Elias' Kreatur.

In Nabban geht das Gerücht, daß Elias jeden Tag gegen Josua ins Feld ziehen kann. Er weiß, daß wir Guthwulfs Ultimatum abgelehnt haben, und fürchtet sich nun davor, die Hernystiri frei und ledig in seinem Rücken zu wissen, wenn er auf Naglimund vorrückt.«

»Und Gwythinn ist auch noch dort!« sagte Maegwin angstvoll.

»Und ein halbes Hundert unserer besten Männer mit ihm, was schlimmer ist«, knurrte der alte Craobhan vom Kamin herüber.

Eolair warf Maegwin einen freundlichen Blick zu, einen von seinen herablassenden, wie sie fand. »Euer Bruder ist hinter den dicken Steinmauern von Josuas Burg ohne Zweifel sicherer als hier in Hernysadharc. Und wenn er von unserer Zwangslage erfährt und von dort wegreiten kann, hat Skali fünfzig Mann im Rücken, was wiederum ein Vorteil für uns ist.«

König Lluth rieb sich die Augen, als wollte er Kummer und Sorgen der letzten Tage fortwischen. »Ich weiß nicht, Eolair, ich weiß nicht. Ich habe bei der ganzen Angelegenheit ein schlimmes Gefühl. Man braucht kein Wahrsager zu sein, um ein unheilverheißendes Jahr zu erkennen, und dieses ist vom ersten Augenblick an eines gewesen.«

»Ich bin noch hier, Vater«, sagte Maegwin, trat zu ihm und kniete nieder. »Ich bleibe bei Euch.« Der König streichelte ihre Hand.

Eolair lächelte und nickte, als er diese Worte des Mädchens zu ihrem Vater hörte, aber seine Gedanken weilten deutlich erkennbar bei seinen zwei sterbenden Männern und der gewaltigen Streitmacht der Rimmersmänner, die durch die Frostmark zum Inniscrich herunterzog, eine riesige Flut scharfen, denkenden Eisens.

»Wer hierbleibt, wird uns vielleicht keinen Dank wissen«, flüsterte er ganz leise.

Draußen sang die eherne Stimme des Kessels weit über Hernysadharc hin und rief ohne Unterlaß den Bergen zu: »Habt acht … habt acht … habt acht…«


Auf irgendeine Art war es Baron Devasalles und seiner kleinen Nabbanai-Schar gelungen, ihre Zimmerflucht im zugigen Ostflügel von Naglimund in ein kleines Stück ihrer südlichen Heimat zu verwandeln. Zwar war das unzeitgemäße Wetter zu kalt, um die Fenster und Türen weit geöffnet zu halten, wie man es im balsamischen Nabban so liebte; aber sie hatten die Steinmauern mit hellgrünen und himmelblauen Stoffen verhängt und jedes freie Plätzchen mit Kerzen und tropfenden Öllampen vollgestellt, so daß die Räume hinter den verschlossenen Läden im Lichterglanz blühten.

Hier drinnen ist es mittags heller als draußen, fand Isgrimnur. Aber wie der alte Jarnauga gesagt hat – sie können nicht alles so leicht verscheuchen wie die winterliche Dunkelheit, leider nicht.

Die Nüstern des Herzogs zuckten wie bei einem verängstigten Pferd. Devasalles hatte überall Gefäße mit parfümierten Ölen verteilt; in einigen schwammen brennende Dochte wie weiße Würmer und füllten den Raum mit betäubenden Düften nach Gewürzen von den Inseln.

Ich möchte nur wissen, ob es der Geruch der allgemeinen Furcht ist, den er nicht mag, oder der nach gutem ehrlichem Eisen? Isgrimnur grunzte angewidert und rückte seinen Stuhl in die Nähe der Tür zum Gang.

Devasalles war überrascht gewesen, als er den Herzog und Prinz Josua vor seiner Tür fand, unangemeldet und unerwartet, aber er hatte sie sogleich hereingebeten und einen Teil der vielfarbigen Gewänder, die auf den harten Stühlen lagen, heruntergefegt, damit seine Gäste Platz nehmen konnten.

»Ich bedaure sehr, Euch zu stören, Baron«, begann Josua, beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf die Knie, »aber ich wollte, bevor wir heute abend den Raed abschließen, mit Euch allein sprechen.«

»Natürlich, Prinz, natürlich.« Devasalles nickte aufmunternd. Isgrimnur, der verächtlich das schimmernde Haar des Mannes und die glitzernden Schmuckstücke an Hals und Handgelenken musterte, fragte sich, wie es sein konnte, daß der Baron ein so tödlicher Schwertkämpfer war, wie sein Ruf es verkündete.

Sieht eher aus, als ob er mit dem Griff in seiner Halskette hängenbleibt und sich selber erwürgt.

Josua erläuterte hastig die Ereignisse der beiden letzten Tage, die der wirkliche Grund dafür waren, daß man den Raed nicht fortgesetzt hatte. Devasalles, der wie die anderen versammelten Edelleute die Erklärung des Prinzen, krank zu sein, zwar bezweifelt, aber notgedrungen akzeptiert hatte, hob die Brauen, sagte jedoch nichts.

»Ich konnte nicht offen sprechen und kann es immer noch nicht«, führte Josua weiter aus. »In diesem wahnsinnigen Gedränge, der Musterung unserer Truppen, all dem Kommen und Gehen, fiele es einem Verräter oder einem von Elias' Spionen nur allzu leicht, den Hochkönig von unseren Befürchtungen und Plänen zu unterrichten.«

»Aber unsere Befürchtungen sind allgemein bekannt«, wandte Devasalles jetzt ein, »und Pläne haben wir noch nicht gemacht – noch nicht.«

»Wenn der Zeitpunkt für mich gekommen ist, mit den Edlen über diese Dinge zu sprechen, werde ich auch die Tore gesichert haben – denn seht Ihr, Baron, Ihr kennt noch nicht die ganze Geschichte.«

Der Prinz erzählte nun Devasalles alles über die neuesten Entdeckungen, über die drei Schwerter und das prophetische Gedicht im Buch des wahnsinnigen Priesters, und wie diese Dinge zu den Träumen vieler Menschen paßten.

»Aber wenn Ihr das schon bald allen Euren Lehensmännern erzählen werdet, warum sagt Ihr es mir jetzt?« erkundigte sich Devasalles. Isgrimnur an der Tür schnaubte; er hatte sich die gleiche Frage gestellt.

»Weil ich Euren Herrn Leobardis brauche, und zwar rasch!« erklärte Josua. »Ich brauche Nabban!« Er sprang auf und fing an, das Zimmer zu umrunden, das Gesicht zur Wand, als studiere er die Behänge; aber sein Blick war auf einen Punkt gerichtet, der Meilen hinter Stein und gewebtem Tuch lag.

»Von Anfang an habe ich die Zusage Eures Herrn gebraucht, jetzt aber ist sie mir nötiger denn je. Elias hat, soweit es um die tatsächliche Herrschaft geht, Rimmersgard Skali und seinem Stamm der Raben von Kaldskryke übergeben. Damit hat er König Lluth ein Messer an den Rücken gesetzt; die Hernystiri werden mir nur noch wenige Männer schicken können, weil sie gezwungen sind, genügend zurückzubehalten, um ihr eigenes Land verteidigen zu können. Schon jetzt drängt Gwythinn, der noch vor einer Woche kaum davon abzuhalten war, sich auf Elias zu stürzen, auf Heimkehr, um seinem Vater bei der Verteidigung von Hernysadharc zu helfen.«

Josua wirbelte herum und starrte Devasalles an. Das Gesicht des Prinzen war eine Maske kalten Stolzes, aber seine Hand drehte vorn sein Hemd zusammen, eine Bewegung, die weder Isgrimnur noch dem Baron entging. »Wenn Leobardis je etwas anderes sein möchte als einer von Elias' Lakaien, dann muß er sich jetzt für mich entscheiden.«

»Aber warum erzählt Ihr mir das?« fragte Devasalles, der ehrlich verwirrt wirkte. »Von diesem letzten weiß ich, und die anderen Dinge – die Schwerter und das Buch und der Rest – machen keinen Unterschied.«

»Verdammt, Mann, eben doch!« fauchte Josua, und seine Stimme hob sich fast zum Aufschrei. »Ohne Nabban und mit einem von Norden her bedrohten Hernystir wird mein Bruder uns so mühelos fangen, als säßen wir in einem vernagelten Faß. Außerdem hat er Dämonen als Verbündete, und wer weiß, welch grausigen Vorteil ihm das bringt! Wir haben ein paar kleine, schwächliche Versuche unternommen, diesen Kräften Widerstand zu leisten, aber was nützt uns das – vorausgesetzt, daß wir entgegen aller Wahrscheinlichkeit Erfolg haben sollten –, wenn das ganze freie Land bereits niedergeworfen ist? Weder Euer Herzog noch sonst jemand wird dann König Elias jemals etwas anderes antworten als ›Jawohl, mein Gebieter‹!«

Wieder schüttelte der Baron den Kopf, und seine Halsketten klimperten leise. »Ich bin verwirrt, Herr. Wie kann es sein, daß Ihr noch nichts wißt? Vorgestern abend schon habe ich meinen schnellsten Reiter mit einer Botschaft an die Sancellanische Mahistrevis nach Nabban geschickt und Leobardis mitgeteilt, daß ich glaube, Ihr würdet kämpfen, und er beginnen möge, seine Männer zu Eurer Unterstützung in Marsch zu setzen.«

»Was?« Isgrimnur sprang auf, seine Verblüffung das Echo von Josuas Erstaunen. Schwankend standen sie beide vor Devasalles, im Gesicht den Ausdruck von Männern, die man nachts überfallen hat.

»Wieso habt Ihr mir das nicht gesagt?« fragte Josua.

»Aber Prinz, ich habe es Euch gesagt«, stotterte Devasalles, »oder zumindest, da man mir mitteilte, Ihr dürftet nicht gestört werden, sandte ich eine Nachricht in Eure Gemächer. Mein Siegel war darauf. Ihr müßt sie gelesen haben…«

»Heiliger Usires und seine Mutter!« Josua schlug sich mit der flachen Linken auf den Schenkel. »Ich habe nur mir selbst Vorwürfe zu machen, denn sie liegt immer noch auf meinem Nachttisch. Deornoth brachte sie mir, aber ich wollte einen ruhigeren Moment abwarten. Wahrscheinlich habe ich sie dann vergessen. Wenigstens ist aber kein Schaden entstanden, und Eure Neuigkeit ist wunderbar.«

»Ihr sagt, Leobardis werde reiten?« erkundigte Isgrimnur sich mißtrauisch. »Wie könnt Ihr so sicher sein? Ihr schient doch selber einige Zweifel daran zu hegen.«

»Herzog Isgrimnur.« Devasalles' Stimme klang frostig. »Sicherlich begreift Ihr, daß ich nur meine Pflicht tat. Um die Wahrheit zu sagen, hat Herzog Leobardis längst auf Prinz Josuas Seite gestanden. Zugleich fürchtete er stets, Elias könnte allzu kühn werden. Unsere Truppen sind seit Wochen in Alarmbereitschaft.«

»Warum schickt er dann Euch?« fragte Josua. »Was wollte er herausfinden, das er nicht schon durch meine Boten von mir erfahren hatte?«

»Er rechnete nicht mit Neuigkeiten«, erläuterte Devasalles, »obwohl wir alle hier weit mehr gelernt haben, als einer von uns erwartet haben dürfte. Nein, er hat unsere Gesandtschaft mehr deshalb geschickt, um bestimmten Leuten in Nabban ein Signal zu geben.«

»Es gibt Widerstand unter seinen Lehensmännern?« Josuas Augen waren wachsam.

»Natürlich, aber das ist nicht weiter ungewöhnlich … und auch nicht der Grund meines Auftrages. Nein, ich sollte dem Widerstand aus einer weit näher fließenden Quelle das Wasser abgraben.«

Obwohl das kleine Zimmer bis auf die drei Männer unzweifelhaft leer war, warf Devasalles hastig einen Blick ringsum.

»Es sind seine Gemahlin und sein Sohn, die sich am heftigsten dagegen wehren, daß er mit Euch gemeinsame Sache macht«, erklärte er dann.

»Ihr meint den ältesten – Benigaris?«

»Ja. Sonst wären er oder einer von Leobardis' jüngeren Söhnen an meiner Statt hier.« Der Baron zuckte die Achseln. »Benigaris sieht in Elias' Art zu herrschen vieles, das ihm zusagt, und die Herzogin Nessalanta…« Wieder hob der Gesandte Nabbans die Schultern.

»Auch sie hält die Aussichten des Hochkönigs für günstiger.« Josua lächelte bitter. »Nessalanta ist eine kluge Frau. Zu schade für sie, daß sie nun, willig oder nicht, gezwungen sein wird, die Verbündetenwahl ihres Gatten zu unterstützen. Vielleicht hat sie mit ihren trüben Ahnungen sogar recht.«

»Josua!« Isgrimnur war schockiert.

»Ich scherze nur, alter Freund«, meinte der Prinz, aber seine Miene strafte ihn Lügen. »Also wird der Herzog in den Kampf ziehen, guter Devasalles?«

»So bald wie möglich, Prinz Josua. Mit der Blüte der Ritterschaft von Nabban im Gefolge.«

»Und einem kräftigen Schlag Spießkämpfer und Bogenschützen dazu, hoffe ich. Nun denn – möge Ädons Gnade mit uns allen sein.«

Er und Isgrimnur verabschiedeten sich und traten in den dunklen Gang hinaus. Hinter ihnen blieben die bunten Farben im Gemach des Barons zurück wie ein Traum, den man im Erwachen hinter sich läßt.

»Ich kenne jemanden, der über diese Nachricht sehr froh sein wird, Isgrimnur.«

Der Herzog hob fragend eine Augenbraue.

»Meine Nichte. Miriamel war sehr beunruhigt, als sie annahm, Leobardis werde sich uns nicht anschließen. Schließlich ist Nessalanta ihre Tante. Sie wird sich ganz bestimmt freuen, wenn sie es hört.«

»Gehen wir doch hin und erzählen es ihr«, schlug Isgrimnur vor, packte Josua am Ellenbogen und steuerte ihn ins Freie. »Vielleicht ist sie bei den anderen Damen des Hofes. Ich habe den Anblick bärtiger Soldaten satt. Ich mag zwar ein alter Kerl sein, aber von Zeit zu Zeit sehe ich immer noch gern ein paar hübsche Frauen.«

»Also gut.« Josua lächelte, das erste ungezwungene Lächeln, das Isgrimnur seit Tagen an ihm gesehen hatte. »Und dann besuchen wir Eure Gemahlin, und Ihr könnt ihr von Eurer unverminderten Neigung zu den Damen erzählen.«

»Prinz Josua«, erwiderte der alte Herzog bedächtig, »Ihr werdet mir nie zu verdammt alt oder hochstehend sein, daß ich Euch keine Ohrfeige mehr geben könnte; versucht nur, mich daran zu hindern.«

»Nicht heute, Onkel.« Josua grinste. »Ich brauche meine Ohren, damit ich das, was Gutrun Euch zu sagen haben wird, auch richtig würdigen kann.«


Der Wind, der vom Wasser herüberpfiff, brachte Zypressengeruch mit. Tiamak wischte sich die Schweißperlen von der Stirn und dankte Ihm-derstets-auf-Sand-tritt für die unverhoffte Brise. Als er vom Überprüfen seiner Fallen zurückgekehrt war, hatte er gespürt, wie sich die sturmschwere Luft über Wran senkte, heiße, zornige Luft, die kam und nicht wieder gehen wollte, wie ein Marschkrokodil, das einen lecken kleinen Kahn umkreist.

Wieder trocknete Tiamak seine Stirn und griff nach der Schale mit Gelbwurzeltee, der auf dem Feuerstein zog. Während er, nicht ohne daß ihn die aufgesprungenen Lippen schmerzten, davon trank, dachte er sorgenvoll darüber nach, was er wohl tun sollte.

Es war Morgenes' sonderbare Botschaft, die ihn so verstört machte. Seit Tagen rasselten ihre unheilverkündenden Worte in seinem Kopf herum wie Kiesel in einem trockenen Flaschenkürbis, während er sein Boot durch die Seitenkanäle von Wran stakte oder zum Markt nach Kwanitupul fuhr, dem Handelsdorf an der Bucht von Firannos. Einmal jeden Neumond unternahm er die Reise dorthin, drei Tage mit dem Flachboot. An den Marktbuden setzte er gewinnbringend seine ungewöhnliche Ausbildung ein, indem er den Kleinhändlern von Wran dabei half, mit den Kaufleuten aus Nabban und Perdruin zu feilschen. Die anstrengende Fahrt nach Kwanitupul mußte sein, auch wenn er dabei nur ein paar Münzen und vielleicht einen Sack Reis verdiente. Den Reis brauchte er zur Ergänzung jenes gelegentlichen Krebses, der zu dumm oder zu leichtsinnig war, seinen Fallen aus dem Weg zu gehen. Allerdings zeigten nur wenige Krebse soviel Entgegenkommen, so daß Tiamaks übliche Mahlzeiten aus Fischen und Wurzeln bestanden.

Während er so in seiner kleinen Hütte hoch oben im Banyanbaum hockte und zum hundertsten Mal Morgenes' Botschaft besorgt zwischen den Fingern drehte, erinnerte er sich an die geschäftigen, steilen Straßen von Ansis Pelippé, der Hauptstadt von Perdruin, wo er dem alten Doktor das erste Mal begegnet war.

Neben dem Lärm und Spektakel des weitläufigen Handelsplatzes, hundert-, nein viele hundertmal so groß wie Kwanitupul (eine Tatsache übrigens, die ihm die anderen Wranna niemals glauben würden, hinterwäldlerische, sandkratzende Tölpel, die sie waren), waren es die Gerüche, die Tiamak am stärksten im Gedächtnis geblieben waren, die Millionen wechselnder Düfte: der feuchte Salzgeruch der Werften mitsamt dem würzigen Beigeschmack der Fischerboote; die Kochfeuer auf den Straßen, an denen bärtige Inselbewohner Spieße mit verkohltem, brutzelndem Hammel anboten; der Moschus schwitzender, stampfender Pferde, deren stolze Reiter, Kaufleute und Soldaten, kühn mitten durch die kopfsteingepflasterten Gassen sprengten und es den Fußgängern überließen, vor ihnen zur Seite zu stieben, so gut sie eben konnten; und natürlich die wirbelnden Düfte von Safran und Schnellkraut, von Zimt und Mantingen, die über dem Gewürzviertel schwebten wie flüchtige, exotische Liebesangebote.

Die bloße Erinnerung machte ihn so hungrig, daß er am liebsten geweint hätte, aber Tiamak nahm sich zusammen. Es gab Arbeit für ihn, und er konnte sich von solch fleischlichen Begierden nicht ablenken lassen. Auf irgendeine Weise brauchte ihn Morgenes, und Tiamak mußte sich bereithalten.

Auch damals war es etwas Eßbares gewesen, das Morgenes' Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt hatte, vor so vielen Jahren in Perdruin. Der Doktor, auf einer seiner apothekarischen Forschungsreisen durch das Händlerviertel von Ansis Pelippé, hatte den jungen Wranna angerempelt und beinahe umgestoßen, so versunken starrte der junge Tiamak einen Berg von Marzipan auf dem Tisch eines Bäckers an. Den Doktor amüsierte und interessierte der Kleine aus den Marschen, der so weit fort von zu Hause war und dessen Entschuldigungen dem Älteren gegenüber so vollgestopft mit sorgsam angelernten Nabbanai-Redewendungen waren. Als Morgenes erfuhr, daß der Junge sich in der perdruinesischen Hauptstadt aufhielt, um bei den Usiresbrüdern zu studieren und als allererster seines Dorfes das sumpfige Wran verlassen hatte, kaufte er ihm ein großes Stück Marzipan und einen Becher Milch. Von diesem Augenblick an war Morgenes für den staunenden Tiamak ein Gott.

Das schmutzige Pergamentblatt vor ihm, selbst bereits eine Abschrift der ursprünglichen Botschaft, die vom vielen Anfassen zerfallen war, wurde allmählich schwer lesbar. Allerdings hatte Tiamak es so oft angestarrt, daß es nicht mehr darauf ankam. Er hatte die Nachricht sogar in ihre ursprüngliche Verschlüsselung zurückübertragen und noch einmal übersetzt, nur um sicherzugehen, daß er keine unauffällige, aber wichtige Einzelheit übersehen hatte.

Die Zeit des Eroberersterns ist unzweifelhaft gekommen … , hatte der Doktor geschrieben und Tiamak gewarnt, daß dies wahrscheinlich für lange Zeit sein letzter Brief sein würde. Tiamaks Hilfe, versicherte Morgenes, würde gebraucht werden, um … gewissen furchtbaren Dingen, auf die – so heißt es – das schändliche, verschollene Buch des Priesters Nisses hinweist …, zu entgehen.

Als er zum ersten Mal wieder in Kwanitupul gewesen war, nachdem er Morgenes' von einem Sperling überbrachte Botschaft erhalten hatte, hatte Tiamak Middastri, einen perdruinesischen Kaufmann, mit dem er gelegentlich eine Schale Bier trank, nach den entsetzlichen Vorfällen in Erchester, der Stadt in Erkynland, in der Morgenes wohnte, gefragt. Middastri hatte gemeint, er habe von einem Streit zwischen dem Hochkönig Elias und Lluth von Hernystir gehört, und natürlich rede jedermann seit Monaten von dem Zerwürfnis zwischen den beiden Söhnen Johan Presbyters; aber darüber hinaus war dem Kaufmann nichts besonderes aufgefallen. Tiamak, der nach Morgenes' Botschaft Gefahren größerer und unmittelbarerer Art befürchtet hatte, war ein wenig leichter ums Herz geworden. Trotzdem ließ ihn der Gedanke an die Wichtigkeit der Nachricht des Doktors nicht los.

Das schändliche, verschollene Buch … Woher hatte Morgenes das Geheimnis erfahren? Tiamak hatte nie jemandem davon erzählt; er hatte den Doktor bei einem Besuch damit überraschen wollen, den er für das nächste Frühjahr geplant hatte, seiner ersten Reise, die ihn weiter nördlich als nach Perdruin führen sollte. Nun schien es, als wisse Morgenes bereits von seinem Schatz – aber weshalb sagte er es dann nicht? Wieso erging er sich statt dessen in Andeutungen, Rätseln und Hinweisen, wie ein Krebs, der vorsichtig aus einer von Tiamaks Fallen den Fisch herausstocherte?

Der Wranna stellte die Teeschale hin und durchquerte, fast ohne sich aus seiner halb knienden Hockstellung zu erheben, den niedrigen Raum. Der heiße, saure Wind begann aufzufrischen, das Haus schaukelte auf seinen hohen Stelzen. Mit schlangenartigem Zischen hob sich das Strohdach. Tiamak suchte in seiner Holztruhe nach dem in Blätter gewickelten Päckchen, das er sorgfältig unter dem Pergamentstapel verborgen hatte, der seine eigene Neufassung von Die unfelbarn Heylmittel der Wranna-Heyler enthielt – das, was Tiamak insgeheim gern sein ›großes Werk‹ nannte. Endlich fand er, wonach er suchte, und wickelte es aus, nicht zum ersten Mal in den letzten zwei Wochen.

Als es neben seiner Übertragung von Morgenes' Botschaft lag, war der Gegensatz zwischen den beiden beeindruckend. Morgenes' Worte waren von Tiamak mühsam mit schwarzer Wurzeltinte kopiert worden, auf billigem Pergament, das so dünngeklopft war, daß eine Kerzenflamme, eine Handbreit davon entfernt, es in Flammen hätte aufgehen lassen. Das andere, der Schatz, war auf einen Bogen straffgeglätteter Haut oder Leder geschrieben; die rötlichbraunen Worte schwankten wild über das Papier, als habe der Schreiber zu Pferd oder bei einem Erdbeben am Tisch gesessen.

Dieses letztere Stück war das Kleinod in Tiamaks Sammlung – und wenn es wirklich war, wofür er es hielt, wäre es das Kronjuwel jeder Sammlung überhaupt gewesen. Er hatte es in einem großen Stoß anderer gebrauchter Pergamente gefunden, die ein Händler in Kwanitupul für Schreibübungen verkaufte. Der Händler wußte nicht, wem die Truhe mit den Papieren früher gehört hatte, nur daß sie Teil einer nicht einzeln angeführten Masse Haushaltswaren gewesen war, die er in Nabban erworben hatte. Tiamak hatte vor lauter Angst, sein Glück könne ihn verlassen, seinen Drang zum Weiterfragen erstickt und das Pergament zusammen mit einem Bündel weiterer Blätter für ein glänzendes Quinisstück aus Nabban sofort an sich gebracht.

Wieder starrte er darauf, obwohl er es, soweit das überhaupt ging, noch öfter gelesen hatte als Morgenes' Botschaft, und er richtete den Blick vor allem auf die Oberkante des Pergamentes, die weniger zerrissen als vielmehr zernagt zu sein schien; die beschädigte Stelle endete bei den Buchstaben ARDENVYRD.

Hieß nicht Nisses' berühmtes, verschwundenes Buch – das manche für bloße Phantasie hielten – Du Svardenvyrd? Woher konnte Morgenes das wissen? Tiamak jedenfalls hatte niemandem von seinem glücklichen Fund erzählt.

Die Nordrunen unterhalb der Überschrift, stellenweise verschmiert, zum Teil zu rostfarbenem Staub abgeblättert, waren trotzdem durchaus lesbar, abgefaßt im uralten Nabbanai der Zeit vor fünfhundert Jahren.

… Bringt aus Nuannis Felsgarten her

den Blinden, der sehen kann;

findet das Schwert, das die Rose befreit,

am Fuße des Rimmerbaums dann;

sucht in dem Schiff auf der seichtesten See

den Ruf, dessen lauter Schall

euch des Rufers Namen gibt an

in klingendem Widerhall –

– Und sind Schwert, Ruf und Mann

in prinzlicher Rechter,

dann werden auch frei

lang gefangne Geschlechter…

Unter dem seltsamen Gedicht stand in großen, ungeschickten Runen ein einziges Wort: NISSES.

Obwohl Tiamak starrte und starrte, fiel ihm ums Sterben nichts weiteres ein. Endlich rollte er die uralte Schriftrolle seufzend wieder in ihre Hülle aus schützenden Blättern und verstaute sie in seiner Klettenholztruhe.

Was wollte Morgenes nun von ihm? Sollte er dem Doktor selbst die Schrift nach dem Hochhorst bringen? Oder sollte er sie einem anderen von den Weisen schicken, etwa der Zauberfrau Geloë, dem dicken Ookequk hoch oben in Yiqanuc oder dem Mann in Nabban? Vielleicht war es aber auch das Gescheiteste, erst einmal auf weitere Nachricht von Morgenes zu warten, anstatt Hals über Kopf loszustürzen, ohne wirklich alles begriffen zu haben. Schließlich mußte nach dem, was ihm Middastri erzählt hatte, das, was Morgenes fürchtete, noch weit entfernt sein; sicher blieb ihm Zeit zu warten, bis er erfuhr, was der Doktor von ihm wünschte.

Zeit und Geduld, ermahnte er sich selbst, Zeit und Geduld …

Draußen vor seinem Fenster ächzten die Zypressenäste unter dem groben Griff des Windes.


Die Tür des Gemachs flog auf. Sangfugol und die Herrin Vara sprangen so schuldbewußt auf, als hätte man sie bei etwas Unschicklichem ertappt, obwohl doch die ganze Breite des Raumes sie voneinander trennte. Als sie mit großen Augen aufblickten, rutschte die Laute des Sängers, die er an den Stuhl gelehnt hatte, herunter und fiel ihm vor die Füße. Hastig hob er sie auf und drückte sie an seine Brust wie ein verletztes Kind.

»Verdammt, Vara, was habt Ihr getan?« schrie Josua. Hinter ihm in der Tür stand mit besorgter Miene Herzog Isgrimnur.

»Bleibt ruhig, Josua«, forderte er den Prinzen auf und zupfte ihn am grauen Wams.

»Wenn ich die Wahrheit aus dieser … dieser Frau herausbekommen habe«, fauchte Josua. »Bis dahin mischt Euch nicht ein, Herzog!«

Die Farbe kehrte jetzt rasch in Varas Wangen zurück. »Was meint Ihr?« fragte sie. »Ihr rennt Türen ein wie ein Stier und brüllt mich mit Fragen an. Was ist mit Euch?«

»Versucht mich nicht zu beschwatzen. Ich komme gerade von einer Unterredung mit dem Torhauptmann; sicher wird er sich wünschen, ich hätte ihn nie gefunden, so wütend war ich. Er sagte mir, Miriamel sei gestern vormittag abgereist, mit meiner Erlaubnis – die keine Erlaubnis war, sondern mein Siegel unter einem gefälschten Dokument!«

»Und warum schreit Ihr mich deshalb an?« erkundigte Vara sich hochmütig. Sangfugol, noch immer sein verwundetes Instrument an sich gepreßt, wollte sich unauffällig auf die Tür zubewegen.

»Das wißt Ihr sehr gut«, grollte Josua, aus dessen bleichen Zügen die Röte endlich zu verblassen begann, »und du, Harfner, bleib, wo du bist, denn ich bin noch nicht fertig mit dir. Du bist mir neuerdings allzu vertraut mit der Dame.«

»Auf Euer Geheiß, Prinz Josua«, erwiderte Sangfugol zögernd, »um ihre Einsamkeit zu lindern. Aber ich schwöre, daß ich nichts über die Prinzessin Miriamel weiß!«

Josua trat weiter ins Zimmer hinein und warf ohne einen Blick zurück die schwere Tür ins Schloß. Isgrimnur, behende trotz seiner Jahre und seines Umfanges, sprang mit einem Satz zur Seite.

»Gute Vara, behandelt mich nicht wie einen der Planwagenburschen, mit denen Ihr aufgewachsen seid. Alles, was ich von Euch gehört habe, war, wie traurig die arme Prinzessin doch sei, wie sehr die arme Prinzessin ihre Familie vermisse. Jetzt ist Miriamel mit irgendeinem Schurken zum Tor hinaus, und ein anderer Spießgeselle hat meinen Siegelring mißbraucht, um ihr den Durchlaß zu sichern. Ich bin doch kein Narr!«

Einen Moment lang erwiderte die dunkelhaarige Frau seinen Blick, dann begannen ihre Lippen zu zittern. Tränen des Zornes in den Augen setzte sie sich wieder hin, und ihre langen Röcke rauschten.

»Nun gut, Prinz«, erklärte sie, »schlagt mir den Kopf ab, wenn Ihr wollt. Ja, ich habe dem armen Mädchen geholfen, sich zu ihrer Familie nach Nabban durchzuschlagen. Wäret Ihr nicht so herzlos, hättet Ihr sie mit einer Eskorte Bewaffneter selber dorthin geschickt. Statt dessen ist ihre einzige Begleitung ein freundlicher Mönch.« Aus dem Ausschnitt ihres Kleides zog sie ein Taschentuch und betupfte sich die Augen. »Jedenfalls ist sie so glücklicher als hier, wo man sie eingesperrt hat wie einen Vogel im Käfig.«

»Bei Elysias Tränen!« fluchte Josua und warf die Hand in die Luft. »Törichtes Weib! Miriamel wollte nur die Gesandte spielen – sie glaubte, dadurch Ruhm zu erlangen, daß sie ihre Verwandten in Nabban dazu brachte, sich in diesem Kampf auf meine Seite zu stellen.«

»Vielleicht ist es nicht gerecht, von ›Ruhm‹ zu sprechen, Josua«, warf Isgrimnur ein. »Ich glaube, die Prinzessin hatte den ehrlichen Wunsch, uns zu helfen.«

»Und was ist daran falsch?« fragte Vara trotzig. »Ihr braucht doch Nabbans Hilfe, oder nicht? Oder seid Ihr zu stolz?«

»Gott steh mir bei, die Nabbanai haben sich uns längst angeschlossen! Begreift Ihr denn nicht? Ich habe vor knapp einer Stunde erst mit Baron Devasalles gesprochen. Nun aber spaziert die Tochter des Hochkönigs sinnlos irgendwo im Land herum, wo doch das gesamte Heer ihres Vaters im Begriff steht, ins Feld zu ziehen, und seine Spione überall umherschwärmen wie die Schmeißfliegen.«

Josua rang in ohnmächtiger Wut die Hände und sank dann in einen Stuhl, die langen Beine weit von sich gestreckt.

»Es ist zuviel für mich, Isgrimnur«, meinte er erschöpft. »Und Ihr wundert Euch, warum ich mich nicht zum Rivalen um Elias' Thron erkläre? Ich kann ja nicht einmal ein Mädchen unter meinem eigenen Dach in Sicherheit hüten.«

Isgrimnur lächelte traurig. »Ihr Vater hatte damit auch nicht mehr Glück, wenn ich mich recht erinnere.«

»Trotzdem.« Der Prinz preßte die Hand an die Stirn. »Usires, mir brummt der Kopf von alledem.«

»Hört zu, Josua«, sagte der Herzog und warf den anderen einen Blick zu, der Ihnen zu schweigen gebot, »noch ist nicht alles verloren. Wir müssen nur einen Trupp guter Männer ausschicken, die jeden Winkel nach Miriamel und diesem Mönch abkämmen, diesem … Cedric oder wie auch immer…«

»Cadrach«, berichtigte Josua tonlos.

»Also gut, diesem Cadrach. Schließlich kommen ein junges Mädchen und ein frommer Bruder zu Fuß nicht so schnell voran. Wir lassen einfach ein paar Leute aufsitzen und ihnen nachjagen.«

»Sofern die Herrin Vara nicht auch Pferde für sie versteckt gehabt hat«, bemerkte Josua mürrisch. »Aber das hattet Ihr, nicht wahr?« Vara konnte seinem Blick nicht begegnen.

»Barmherziger Ädon!« fluchte Josua wieder. »Das geht zu weit! Ich werde Euch in einem Sack zu Eurem Barbarenvater zurückschicken, Wildkatze!«

»Prinz Josua?« Es war der Harfner. Als er keine Antwort bekam, räusperte er sich und versuchte es noch einmal. »Prinz?«

»Was?« versetzte Josua gereizt. »Ja, du kannst gehen. Wir sprechen uns später noch. Geh!«

»Nein, Herr … es ist nur … sagtet Ihr, der Name des Mönches sei … Cadrach?«

»Ja doch. Der Hauptmann am Tor erklärte es. Er hat sich ein bißchen mit dem Mann unterhalten. Wieso, kennst du ihn, oder weißt du, wo er sich aufhalten könnte?«

»Das nicht, Prinz Josua, aber ich glaube, der junge Simon kennt ihn. Er hat mir viel von seinen Abenteuern erzählt, und der Name kommt mir bekannt vor. O Herr, wenn er es ist, könnte die Prinzessin in Gefahr sein.«

»Was meinst du?« Josua beugte sich vor.

»Jener Cadrach, von dem mir Simon erzählt hat, war ein Gauner und Beutelschneider, Herr. Auch war er als Mönch verkleidet, aber ein Mann Ädons war er nicht, soviel steht fest.«

»Das kann nicht sein!« mischte sich Vara ein. Das Khol um ihre Augen war auf die Wangen hinuntergelaufen. »Ich habe mit diesem Mann gesprochen, und er hat mir Stellen aus dem Buche Ädon zitiert. Ein guter, freundlicher Mann ist er, dieser Bruder Cadrach.«

»Selbst ein Dämon kann aus dem heiligen Buch zitieren«, meinte Isgrimnur mit besorgtem Kopfschütteln. Der Prinz war aufgesprungen und lief zur Tür.

»Wir müssen sofort einen Suchtrupp losschicken, Isgrimnur«, rief er, blieb dann stehen und kehrte wieder um. Er ergriff Varas Arm. »Kommt, Herrin«, erklärte er brüsk. »Ihr könnt den Schaden, den Ihr angerichtet habt, nicht ungeschehen machen, aber wenigstens könnt Ihr mithelfen und uns sagen, was Ihr wißt, wo Ihr die Pferde versteckt hattet und alles übrige.« Er zog sie vom Stuhl hoch.

»Aber ich kann doch so nicht hinaus!« Sie wehrte sich entsetzt. »Seht doch, ich habe geweint. Mein Gesicht, es muß schrecklich aussehen!«

»Für den Schmerz, den Ihr mir und vielleicht auch meiner törichten Nichte angetan habt, ist das eine sehr geringe Buße. Kommt!«

Er scheuchte sie vor sich aus dem Zimmer. Isgrimnur folgte. Ihre streitenden Stimmen hallten im steinernen Gang wider.

Sangfugol, alleingeblieben, blickte bekümmert auf seine Laute. Ein langer Riß hatte den ganzen gerundeten Eschenholzrücken verzogen, und eine der Saiten hing nutzlos gekräuselt herunter.

»Wenige und unfrohe Musik wird es heute abend geben«, sagte der Harfner und folgte den anderen hinaus.


Es war noch eine Stunde bis zur Morgendämmerung, als Lluth an ihr Bett trat. Sie hatte die ganze Nacht nicht schlafen können, ganz verkrampft vor lauter Sorge um ihn. Als er sich bückte und ihren Arm berührte, tat sie, als schliefe sie, um ihm das einzige zu ersparen, das sie ihm ersparen konnte: zu wissen, wie sehr sie sich fürchtete.

»Maegwin«, sagte er leise. Mit festgeschlossenen Augen wehrte sie sich gegen das Verlangen, die Arme auszustrecken und ihn fest an sich zu drücken. In voller Rüstung bis auf den Helm, wie sie am Klang seiner Schritte und dem Geruch des Polieröls gemerkt hatte, wäre es ihm vielleicht schwergefallen, sich wieder aufzurichten, wenn sie ihn so an sich zog. Aber selbst diesen Abschied, so bitter er auch war, konnte sie ertragen. Was sie nicht ertrug, war der Gedanke, daß er in dieser Nacht aller Nächte zeigen könnte, wie müde und alt er war.

»Seid Ihr es, Vater?« fragte sie endlich.

»Ja.«

»Ihr brecht jetzt auf?«

»Ich muß. Die Sonne wird bald aufgehen, und wir wollen bis zum Vormittag den Rand des Kammwaldes erreicht haben.«

Sie setzte sich auf. Das Feuer war heruntergebrannt, und selbst mit geöffneten Augen konnte sie nur wenig erkennen. Durch die Wand vernahm sie das leise Schluchzen ihrer Stiefmutter Inahwen. Maegwin überkam ein Anflug von Zorn darüber, daß man seinen Kummer so zu Schau stellen konnte.

»Bryniochs Schild über Euch, Vater«, sagte sie und streckte eine blinde Hand nach seinem erschöpften Gesicht aus. »Ich wünschte, ich wäre ein Sohn, um an Eurer Seite zu kämpfen.«

Sie fühlte, wie sich unter ihren Fingern seine Lippen kräuselten. »Ach, Maegwin, du warst immer ein wildes Ding. Hast du nicht genügend Pflichten hier? Es wird nicht leicht sein, im Taig zu herrschen, wenn ich fort bin.«

»Ihr Vergeßt Eure Gemahlin.«

Wieder lächelte Lluth in der Dunkelheit. »Das tue ich nicht. Du bist stark, Maegwin, stärker als sie. Du mußt ihr etwas von deiner Kraft leihen.«

»Für gewöhnlich bekommt sie, was sie will.«

Die Stimme des Königs blieb sanft, aber er packte ihr Handgelenk mit festem Griff. »Nicht doch, Tochter. Ihr beide und Gwythinn seid mir die drei Liebsten auf der Welt. Hilf ihr!«

Maegwin verabscheute Weinen. Sie zog die Hand aus den Fingern ihres Vaters und rieb sich heftig die Augen. »Ich werde es tun«, versprach sie. »Vergebt mir.«

»Ich habe nichts zu vergeben«, antwortete er, nahm noch einmal ihre Hand und drückte sie. »Leb wohl, Tochter, bis ich wiederkomme. Es kreisen grausame Raben über unseren Feldern, und wir werden Arbeit haben, sie zu vertreiben.«

Sie sprang auf, hinaus aus dem Bett, und umschlang ihn. Gleich darauf öffnete sich die Tür, und sie hörte seine sich langsam durch die Halle entfernenden Schritte, das Klirren der Sporen wie triste Musik.

Später, als sie weinte, zog sie die Decken über den Kopf, damit niemand es hörte.

XXXVI Frische Wunden, alte Narben

Die Pferde hatten vor Qantaqa nicht wenig Angst, so daß sich Binabik auf der grauen Wölfin ein gutes Stück vor Simon und den anderen hielt. Er trug eine abgedeckte Lampe, um ihnen in der dichten Finsternis den Weg zu weisen. Als der kleine Zug am Bergsaum dahinritt, hüpfte das flackernde Licht vor ihnen her wie eine Totenkerze.

Der Mond duckte sich in seinem Wolkennest, und sie kamen nur langsam und vorsichtig voran. Zwischen dem sanft wiegenden Rhythmus des Pferdes unter ihm und dem Gefühl seines warmen, breiten Rückens wäre Simon mehrmals um ein Haar eingeschlafen, hätten ihn nicht die dünnen, krabbelnden Finger der Zweige eng am Weg stehender Bäume immer wieder aufgeschreckt.

Es wurde wenig geredet. Von Zeit zu Zeit flüsterte einer der Männer seinem Roß etwas Aufmunterndes zu, oder Binabik rief leise zu ihnen hinüber, um sie vor einem bevorstehenden Hindernis zu warnen. Ohne solche Laute und das gedämpfte Prasseln der Hufschläge hätten sie ein grauer Pilgerzug verlorener Seelen sein können.

Als endlich das Mondlicht durch einen Riß in der Wolkendecke zu sickern begann, kurz vor Anbruch der Dämmerung, hielten sie an, um zu lagern. In dampfendem Atem fing sich der Mondschein, so daß es schien, als stießen sie silberblaue Wolken aus, während sie ihre Reittiere und die beiden Packpferde anbanden. Ein Feuer entzündeten sie nicht. Ethelbearn übernahm die erste Wache; die anderen, in ihre dicken Mäntel gewickelt, rollten sich auf der feuchten Erde zusammen, um soviel Schlaf zu ergattern, wie sie nur konnten.

Simon erwachte unter einem Morgenhimmel wie dünner Haferschleim, mit Nase und Ohren, die sich über Nacht wie durch Zauber in Eis verwandelt hatten. Er hockte sich an das kleine Feuer und kaute Brot und Käse, die Binabik ausgeteilt hatte. Sludig kam und setzte sich neben ihn. Die Wangen des jungen Rimmersmannes waren vom scharfen Wind rotglänzend.

»Ein Wetter wie bei uns zu Hause im Vorfrühling«, grinste er, spießte einen Brotkanten auf die lange Klinge seines Messers und hielt ihn über die Flammen. »Das macht schnell einen Mann aus dir, du wirst schon sehen.«

»Ich hoffe, es gibt noch andere Arten, ein Mann zu werden, als sich zu Tode zu frieren«, brummte Simon und rieb sich die Hände.

»Du kannst auch einen Bären mit dem Speer töten«, meinte Sludig. »Das machen wir auch.«

Simon war sich nicht sicher, ob das ein Scherz sein sollte.

Binabik, der gerade Qantaqa zum Jagen fortgeschickt hatte, trat zu ihnen und setzte sich mit untergeschlagenen Beinen hin.

»Nun, ihr beiden, seid ihr bereit zu einem harten Ritt heute?« fragte der Troll. Simon antwortete nicht, weil er den Mund voller Brot hatte; als Sludig einen Moment später auch noch nichts erwidert hatte, schaute Simon auf. Der Rimmersmann starrte stur geradeaus ins Feuer. Sein Mund bildete eine feste, waagrechte Linie. Das Schweigen war ungemütlich.

Simon schluckte. »Ich denke schon, Binabik«, sagte er rasch. »Haben wir einen weiten Weg?«

Binabik lächelte so heiter, als sei das Schweigen des Rimmersmannes völlig natürlich. »Wir werden so weit reiten, wie wir es wünschen. Heute scheint es gut zu sein, wenn man lange reitet, denn der Himmel ist klar. Schneller als es uns lieb ist, finden uns vielleicht Regen und Schnee.«

»Kennst du denn unser Ziel?«

»Zum Teil, Freund Simon.« Binabik nahm ein Stück Zweig vom Rand der Feuergrube und zog damit Striche in die feuchte Erde. »Hier erhebt sich Naglimund«, erklärte er und malte einen ungefähren Kreis. Dann zog er eine Reihe von Muschelbögen, die sich, von der rechten Seite des Kreises ausgehend, ein gutes Stück weiter nach oben erstreckten. »Das hier ist der Weldhelm. Dieses Kreuz sind wir, hier an dieser Stelle.« Er machte ein Zeichen unweit des Kreises. Dann zeichnete er in schneller Folge ein großes Oval nahe der anderen Seite des Gebirges, ein paar kleinere, um es herum verstreute Kreise, und dahinter etwas, das wie eine weitere Bergkette aussah.

»Nun also«, meinte er dann und kauerte sich dicht vor sein durchfurchtes Stück Erde. »Bald werden wir uns diesem See nähern«, er deutete auf die große, elliptische Form, »den man Drorshull nennt.«

Sludig, der sich anscheinend widerwillig herübergebeugt und zugeschaut hatte, richtete sich auf. »Drorshullvenn – Torshammersee.« Er runzelte die Stirn und beugte sich nochmals nach unten, um mit dem Finger einen Punkt am Westufer des Sees zu bezeichnen. »Dort liegt Vestvennby – das Thanland dieses Verräters Storfot. Ich würde dort liebend gern nachts vorbeireiten.« Er wischte die Brotkrumen von der Klinge seines Dolches und hielt den Stahl in das schwache Licht des Feuers.

»Wir werden aber nicht dorthin kommen«, erklärte Binabik streng, »und du wirst deine Rache abwarten müssen. Wir nehmen die andere Seite, an Hullnir vorbei nach Haethstad, weiter in Richtung der Abtei von Sankt Skendi und dann höchstwahrscheinlich den Weg über die nördliche Ebene hinauf zu den Bergen. Kein vorheriges Anhalten zum Halsabschneiden.« Er schob den Stock über den See weiter, auf die Reihe der runden Bögen zu.

»Das liegt daran, daß ihr Trolle nicht wißt, was Ehre ist«, bemerkte Sludig bitter und starrte Binabik unter seinen dichten blonden Augenbrauen an.

»Sludig«, begann Simon bittend, aber Binabik nahm die Herausforderung des anderen gelassen hin.

»Wir haben einen Auftrag zu erfüllen«, erwiderte der Troll ruhig. »Isgrimnur, dein Herzog, wünscht es, und seinem Willen ist nicht mit Treue gedient, wenn man sich zur Nachtzeit fortschleicht, um Storfot die Kehle aufzuschlitzen. Das ist kein Mangel an Ehre bei einem Troll, Sludig.«

Der Rimmersmann warf ihm einen kurzen, scharfen Blick zu und schüttelte dann den Kopf. »Du hast recht.« Zu Simons Erstaunen lag in seiner Stimme kein Groll mehr. »Ich bin zornig und habe meine Worte schlecht gewählt.« Er stand auf und ging zu Grimmric und Haestan hinüber, die damit beschäftigt waren, die Pferde wieder zu beladen. Im Gehen bewegte er die geschmeidigen, muskulösen Schultern, als wollte er Knoten darin lösen. Simon und der Troll starrten ihm einen Augenblick nach.

»Er hat sich entschuldigt«, sagte Simon überrascht.

»Nicht alle Rimmersmänner sind wie dieser kalte Einskaldir«, bemerkte sein kleiner Freund. »Aber es sind auch – andererseits – nicht alle Trolle wie Binabik.«


Es war ein sehr langer Tagesritt, immer im Schutz der Bäume die Flanke des Gebirges hinauf. Als sie endlich anhielten, um ihre Abendmahlzeit einzunehmen, wußte Simon längst, wie zutreffend Haestans Warnungen gewesen waren: Obwohl sein Pferd langsam gegangen war und der Weg durch leichtes Gelände geführt hatte, brannten ihm Beine und Schritt, als hätte er den ganzen Tag auf irgendeinem schrecklichen Foltergerät gesessen. Haestan, nicht ohne Grinsen, erläuterte ihm liebenswürdig, das Schlimmste komme erst noch, wenn er morgens steif von der Nacht wäre; dann bot er ihm soviel aus dem Weinschlauch an, wie er nur trinken mochte.

Als Simon sich an diesem Abend endlich zwischen den buckligen, bemoosten Wurzeln einer fast entlaubten Eiche zusammenrollte, fühlte er sich etwas besser, obwohl der Wein ihm vorgaukelte, er höre Stimmen im Wind, die seltsame Lieder sangen.

Als er am Morgen aufwachte, mußte er feststellen, daß nicht nur alles, was Haestan prophezeit hatte, zehnfach eingetroffen war, sondern daß auch noch Schnee herunterwirbelte und über Weldhelmberge und Reisende eine gleichmäßig kalte, fest an ihnen haftende weiße Decke breitete. Zitternd im matten Yuven-Tageslicht konnte er noch immer die Windstimmen vernehmen. Was sie sagten, war klar: Sie verspotteten den Kalender und machten sich lustig über Reisende, die da meinten, sie könnten ungestraft durch das neue Königreich des Winters ziehen.

Die ersten anderthalb Tage waren sie sehr schnell geritten und hatten die keuchenden Pferde der Herrin Vara bis ans Ende ihrer Kräfte getrieben; bis sie an seiner oberen Gabelung den Grünwate-Fluß erreicht und überquert hatten, etwa fünfundzwanzig Meilen südwestlich von Naglimund. Danach hatten sie die Geschwindigkeit verringert, damit die Pferde sich ausruhen konnten; immerhin war es möglich, daß sie noch einmal eilig davonreiten mußten.

Prinzessin Miriamel ritt gut im Herrensitz, wie es sich für die Kleidung, die sie trug, gehörte: Hosen und Wams, die ihr schon bei ihrer Flucht aus dem Hochhorst als Verkleidung gedient hatten. Ihr kurzgeschnittenes Haar war neuerlich schwarzgefärbt, obwohl unter der Reisekapuze, die sie ebenso vor Kälte wie auch vor Entdeckung schützen sollte, kaum etwas davon zu sehen war. Bruder Cadrach, der in seinem vom Reisestaub schmutzigen grauen Habit neben ihr ritt, wirkte unauffällig wie sie. Ohnehin waren bei dem abschreckenden Wetter und den gefährlichen Zeiten kaum andere Reisende auf der Flußuferstraße unterwegs. Die Prinzessin wurde langsam zuversichtlich, daß ihre Flucht gelungen war.

Seit der Mitte des Vortages waren sie auf der Deichstraße dem breiten, angeschwollenen Fluß gefolgt, in den Ohren das Schmettern ferner Trompeten, schriller, aufdringlicher Stimmen, die selbst das Stöhnen des regenschweren Windes übertönten. Zuerst hatte sie Angst gehabt, weil der Lärm das Gespenst einer rächenden Schar ihres Onkels oder ihres Vaters, ihnen dicht auf den Fersen, weckte. Aber es stellte sich bald heraus, daß Cadrach und sie sich der Quelle des Lärmes näherten, anstatt vor ihr zu fliehen. Und an diesem Morgen hatten sie dann zum ersten Mal die Handschrift der Schlacht gesehen: einsame Linien aus schwarzem Rauch, in den ruhig gewordenen Himmel hineingemalt wie mit Tinte.


Miriamel starrte voller Grauen auf das Bild, das vor ihr lag. Was schon seit Stunden wie ein wirres Durcheinander von Farben und schwarzem Rauch am Horizont gestanden hatte, war nun klar erkennbar, als sie mit Cadrach oben auf der Bergkuppe hielt und hinunter auf den Inniscrich blickte. Es war ein Teppich des Todes, geknüpft aus Fleisch und Metall und zerfetzter Erde.

»Barmherzige Elysia!« Sie rang nach Luft und zügelte das scheuende Pferd, »Was ist hier geschehen? Ist das meines Vaters Werk?«

Der kleine, rundliche Mann kniff die Augen zusammen, und seine Lippen bewegten sich einen Moment lautlos in etwas, das die Prinzessin für ein stilles Gebet hielt. »Die meisten Toten sind Hernystiri, Herrin«, sagte er dann, »und die anderen halte ich dem Äußeren nach für Rimmersmänner.« Stirnrunzelnd betrachtete er die Szene unter ihnen. Jäh flog eine Gruppe aufgescheuchter Raben auf, alle gemeinsam wie ein Fliegenschwarm, um sich dann wieder niederzulassen. »Anscheinend hat die Schlacht – zumindest, soweit die abziehenden Truppen betroffen waren – sich nach Westen verlagert.«

Miriamel merkte, daß ihr Tränen der Angst ins Auge stiegen. Sie hob die Faust, um sie fortzuwischen. »Die Überlebenden werden wohl nach Hernysadharc zurückweichen, zum Taig. Wie konnte es nur dazu kommen? Sind sie denn alle wahnsinnig geworden?«

»Das waren sie schon, Herrin«, antwortete Cadrach mit einem sonderbar trüben Lächeln. »Nur daß die Zeiten es jetzt erst zum Vorschein gebracht haben.«


»Können wir denn gar nichts tun?« fragte Miriamel, stieg ab und blieb neben ihrem sanft prustenden Pferd stehen. Bis auf die Vögel lag das Bild unter ihnen so unbeweglich wie in grauen und roten Stein gemeißelt.

»Und was sollte das sein, Herrin?« erkundigte sich Cadrach vom Sattel herunter. Er nahm einen Zug aus dem Weinschlauch.

»Das weiß ich nicht. Ihr seid doch ein Priester! Solltet Ihr nicht eine Mansa für ihre Seelen sprechen?«

»Für wessen Seelen, Prinzessin? Die meiner heidnischen Landsleute, oder die der guten Ädoniter aus Rimmersgard, die ihnen diesen freundschaftlichen Besuch abgestattet haben?« Die bitteren Worte schienen in der Luft zu hängen wie Rauch.

Miriamel drehte sich um und sah den kleinen Mann an, dessen Augen jetzt einen ganz anderen Ausdruck hatten als bei dem munteren Begleiter der beiden letzten Tage. Er hatte ihr Geschichten erzählt und ihr seine Reit- und Trinklieder aus Hernystir vorgesungen und vor Heiterkeit geradezu gestrahlt. Jetzt sah er aus wie ein Mann, der den zweifelhaften Triumph einer verhängnisvollen Weissagung kostet, die wahr geworden ist.

»Nicht alle Hernystiri sind Heiden!« versetzte sie, über seine sonderbare Stimmung verärgert. »Ihr seid ja selbst ein ädonitischer Mönch!«

»Soll ich deshalb hinuntergehen und sie fragen, wer ein Heide ist und wer nicht?« Er schwenkte die rundliche Hand nach dem stillen Schauspiel des Gemetzels. »Nein, Herrin, das einzige, was es hier noch zu tun gibt, erledigen die Aasfresser.« Er trieb mit den Fersen sein Pferd an und ritt eine kleine Strecke voraus.

Miriamel stand mit großen Augen da, die Wange an den Pferdehals gedrückt. »Einen frommen Mann kann doch gewiß ein solches Bild nicht ungerührt lassen!« rief sie ihm nach, »und wenn er das rote Ungeheuer Pryrates selber wäre!« Bei der Erwähnung von König Elias' Ratgeber duckte sich Cadrach, als habe ihm jemand einen Hieb in den Rücken versetzt. Er ritt noch ein paar Schritte weiter, hielt dann an und saß eine Zeitlang schweigend da.

»Kommt, Herrin«, erklärte er endlich, ohne sich umzublicken. »Wir müssen von dieser Höhe herunter, wo man uns von überall her sehen kann. Nicht alle Aasfresser haben Federn, und manche bewegen sich auf zwei Beinen.«

Die Prinzessin zuckte wortlos die Achseln und kletterte wieder in den Sattel. Ihre Augen waren trocken. Sie folgte dem Mönch den waldigen Abhang hinunter, der sich am blutgetränkten Wasser des Inniscrich entlangzog.


Als er in dieser Nacht, in ihrem Lager oben auf dem Berg über der flachen, weißen, baumlosen Weite des Drorshullsees, schlief, träumte Simon wieder von dem Rad.

Wieder fand er sich hilflos verfangen, herumgeworfen wie die Lumpenpuppe eines Kindes, hochgehoben vom gewaltigen Rand des Rades. Kalte Winde schüttelten ihn, und Eisscherben flogen ihm ins Gesicht, als ihn das Rad in erstarrende Schwärze hinaufschleuderte.

Auf dem Scheitel der gewichtigen Umdrehung angekommen, zerfetzt und blutend vom Wind, gewahrte er in der Finsternis ein Glänzen, einen leuchtenden, senkrechten Streifen, der von der undurchdringlichen Schwärze über ihm in die ebenso trüben Tiefen des Untergrundes hinabreichte. Es war ein weißer Baum, dessen breiter, mit dünnen Zweigen besetzter Stamm glühte, als sei er voller Sterne. Simon versuchte sich aus dem Griff des Rades zu befreien, um in das lockende Weiß hineinzuspringen, aber er schien gefesselt. Mit einer letzten gewaltigen Anstrengung riß er sich los und sprang.

Durch ein Weltall glühender Blätter stürzte er hinab, als flöge er durch die Lampen der Sterne; laut rief er nach Usires, dem Gesegneten, um Rettung, um die Hilfe Gottes; aber keine Hand fing ihn auf, als er durch das kalte Firmament dahinraste…


Hullnir am östlichen Ufer des langsam zufrierenden Sees war ein Ort, an dem es nicht einmal mehr Geister gab. Halb unter Schneewehen begraben, die Hausdächer abgedeckt von Wind und Hagel, lag es wie der Leichnam eines verhungerten Elches unter dem dunklen, gleichgültigen Himmel.

»Haben Skali und seine Raben dem ganzen Nordland so schnell das Leben geraubt?« fragte Sludig mit großen Augen.

»Wahrscheinlich sind sie bloß alle vor diesem späten Frost geflohen«, meinte Grimmric und zog unter dem schmalen Kinn den Mantel enger. »Zu kalt hier, zu weit weg von den paar offenen Straßen.«

»Es ist anzunehmen, daß es in Haethstad genauso aussieht«, fügte Binabik hinzu und trieb Qantaqa wieder den Hang hinauf. »Gut ist es, daß wir nicht planten, unterwegs Vorräte zu finden.«

Hier am anderen Ende des Sees begannen die Berge allmählich zurückzuweichen, und ein riesiger Arm des nördlichen Aldheorte streckte sich aus, die letzten niedrigen Hänge in seinen Mantel zu hüllen. Hier sah es anders aus als im südlichen Teil des Forstes, den Simon kannte – und das nicht nur des Schnees wegen, der den Waldboden wie ein Teppich bedeckte und alle Geräusche ihres Rittes verschluckte. Hier standen die Bäume gerade und hoch, dunkelgrüne Kiefern und Fichten, die in ihren weißen Mänteln aufragten wie Säulen und die breiten, schattendunklen Durchlässe voneinander trennten. Die Reiter zogen dahin wie durch bleiche Katakomben, und der Schnee senkte sich auf sie wie die Asche von Jahrtausenden.

»Da drüben ist jemand, Bruder Cadrach!« zischte Miriamel und deutete mit dem Finger. »Dort! Seht Ihr es nicht glänzen – das ist Metall!«

Cadrach setzte den Weinschlauch ab und glotzte. Seine Mundwinkel waren purpurrot verfärbt. Mit finsterem Gesicht schielte er in die angegebene Richtung, als wollte er lediglich ihrer Laune nachgeben. Gleich darauf wurde sein Stirnrunzeln tiefer.

»Beim guten Gott, Ihr habt recht, Prinzessin«, flüsterte er. »Da drüben ist tatsächlich etwas.« Er reichte ihr die Zügel und ließ sich in das dichte grüne Gras hinuntergleiten. Eine Gebärde mahnte die Prinzessin zum Schweigen. Cadrach schlich vorwärts. Mit einem breiten Baumstamm als Deckung für seine fast ebenso kräftige Gestalt bewegte er sich bis auf etwa hundert Schritte an den glitzernden Gegenstand heran und spähte dann mit langem Hals um den Baum herum wie ein Kind beim Versteckspiel. Sekunden später drehte er sich um und winkte ihr. Miriamel, die Cadrachs Roß mitführte, ritt hinüber.

Es war ein Mann, der halb an den verzweigten Fuß einer Eiche gelehnt dalag, in einer Rüstung, die an einigen Stellen noch glänzte, so furchtbar zerhauen sie sonst auch war. Neben ihm im Gras waren der Griff eines zerspellten Schwertes und eine zerbrochene Stange zu erkennen, an der ein grünes Banner hing, das mit dem Weißen Hirsch, dem Wappen von Hernystir, bestickt war.

»Elysia, Mutter Gottes!« rief Miriamel und rannte auf ihn zu.

»Lebt er noch?«

Cadrach band rasch die Pferde an eine der gekrümmten Eichenwurzeln und trat dann zu ihr. »Das ist unwahrscheinlich.«

»Aber es ist so!« sagte die Prinzessin. »Hört doch … er atmet.«

Der Mönch kniete nieder, um den Mann zu untersuchen, dessen Atem tatsächlich schwach aus der Höhlung des halbgeöffneten Helms drang. Cadrach klappte die Maske unter dem Flügelkamm nach oben und enthüllte ein schnurrbärtiges, unter Rinnsalen angetrockneten Blutes kaum noch kenntliches Gesicht.

»O Hunde des Himmels«, seufzte Cadrach, »es ist Arthpreas – der Graf von Cuimhne.«

»Ihr kennt ihn?« fragte Miriamel, die dabei war, in der Satteltasche nach dem Wasserschlauch zu suchen. Sie fand ihn und befeuchtete ein Stück Stoff mit dem Wasser.

»Ich weiß, wer er ist, mehr nicht«, antwortete Cadrach und zeigte auf die beiden auf den zerfetzten Wappenrock des Ritters gestickten Vögel. »Er ist der Inhaber des Lehens von Cuimhne, das in der Nähe von Nad Mullagh liegt. Sein Zeichen sind die Zwillings-Wiesenlerchen.«

Miriamel tupfte Arthpreas das Gesicht ab, während der Mönch vorsichtig die blutigen Risse in der Rüstung prüfte. Die Lider des Ritters zuckten.

»Er wacht auf!« rief die Prinzessin und zog scharf den Atem ein. »Cadrach, ich glaube, er bleibt am Leben!«

»Nicht lange, Herrin«, erwiderte der kleine Mann ruhig. »Er hat eine Bauchwunde, so breit wie meine Hand. Laßt mich die letzten Worte für ihn sprechen, dann kann er in Frieden sterben.«

Der Graf stöhnte. Ein wenig Blut rann über den Rand seiner Lippen. Miriamel wischte es ihm liebevoll vom Kinn. Seine Augen flatterten auf.

»E gundhain sluith, ma connalbehn…«, murmelte der Ritter auf Hernystiri. Er hustete schwach, und neue Blutblasen traten auf seine Lippen. »Guter … guter Junge. Haben sie … den Hirsch?«

»Was meint er?« wisperte Miriamel. Cadrach deutete auf das zerrissene Banner im Gras unter dem Arm des Grafen.

Ihr habt ihn gerettet, Graf Arthpreas«, sagte sie und näherte ihr Gesicht dem seinen. »Es ist in Sicherheit. Was ist geschehen?«

»Skalis Rabenkrieger … sie waren überall.« Ein langer Hustenanfall, und die Augen des Ritters öffneten sich weit. »Und meine tapferen Burschen … tot, alle tot … zerhackt wie … wie…« Arthpreas stieß ein schmerzhaftes, trockenes Schluchzen aus. Seine Augen starrten in den Himmel, langsam wandernd, als folgten sie dem Lauf der Wolken.

»Und wo ist der König?« fuhr er endlich fort. »Wo ist unser tapferer alter König? Die goirach Nordmänner waren überall um ihn herum, Brynioch verderbe sie, Brynioch naferth ub … ub strocinh…«

»Der König?« flüsterte Miriamel. »Er muß Lluth meinen.«

Plötzlich fiel der Blick des Grafen auf Cadrach und flammte sekundenlang auf, als finge ein Funken darin Feuer. »Padreic?« fragte er und hob die zitternde, blutige Hand, um sie dem Mönch auf den Arm zu legen. Cadrach zuckte zusammen, als wollte er ihm ausweichen, aber seine Augen waren wie gefangen und schimmerten in seltsamem Glanz. »Bist du es, Padreic feir? Bist du … zurückgekommen?«

Der Ritter erstarrte und stieß ein langes, rasselndes Husten aus, das die rote Flut hervorschießen ließ wie einen unterirdischen Quell. Gleich darauf rollten die Augen unter den dunklen Wimpern nach oben.

»Tot«, sagte Cadrach wenig später, und seine Stimme klang rauh. »Möge Usires ihn erlösen und Gott seine Seele trösten.« Er schlug das Zeichen des Baumes über Arthpreas' regloser Brust und stand auf.

»Er nannte Euch Padreic«, bemerkte Miriamel und starrte geistesabwesend auf das Tuch in ihrer Hand, das jetzt durch und durch tiefrot war.

»Er hat mich verwechselt«, entgegnete der Mönch. »Ein Sterbender, der nach einem alten Freund Ausschau hielt. Kommt! Wir haben keine Schaufeln, um ihm ein Grab zu graben. Wenigstens wollen wir Steine suchen und ihn damit bedecken. Er war … es heißt, er war ein guter Mann.«

Während Cadrach über die Lichtung davonging, zog Miriamel vorsichtig den Panzerhandschuh von Arthpreas' Hand und wickelte ihn in das zerfetzte grüne Banner.

»Bitte kommt und helft mir, Herrin!« rief Cadrach. »Wir können uns hier nicht lange aufhalten.«

»Ich komme gleich«, antwortete sie und steckte das Bündel in ihre Satteltasche. »Soviel Zeit haben wir.«


Simon und seine Gefährten legten langsam den weiten Weg rund um den See zurück. Sie folgten einer mit hohen Bäumen bestandenen Halbinsel voller Schneewehen. Zur Linken lag der gefrorene Spiegel des Drorshull; die weißen Schultern des oberen Weldhelms ragten rechts von ihnen auf. Der Gesang des Windes war so laut, daß er jede Unterhaltung, die leiser war als ein kräftiger Ruf, erstickte. Simon ritt und sah auf Haestans breiten, dunklen Rücken, der vor ihm herschwankte, und es kam ihm vor, als seien sie alle einsame Inseln in einem kalten Meer: stets einer in des anderen Blickfeld, doch voneinander getrennt durch unbekannte Weiten. Er merkte, wie seine Gedanken sich nach innen wandten, eingelullt vom gleichmäßigen Vorwärtsstapfen seines Pferdes.

Merkwürdigerweise erschien vor seinem geistigen Auge Naglimund, das sie gerade erst verlassen hatten, bereits so verschwommen wie eine Erinnerung aus fernster Kinderzeit. Sogar Miriamels und Josuas Gesichter konnte er sich kaum noch vorstellen – es war, als versuchte er sich die Züge von Fremden zu vergegenwärtigen, deren Bedeutung man erst bemerkte, als sie schon lange nicht mehr da waren. Statt dessen erwachten lebhafte Erinnerungen an den Hochhorst – an lange Sommerabende auf dem Burganger, juckend von gemähtem Gras und von Insekten, oder an windige Frühlingsnachmittage, an denen er auf die Mauern geklettert war und der schwere Duft der Rosenhecken im Hof an ihm gezupft hatte wie warme Hände. Als er sich an den etwas feuchten Geruch der Wände erinnerte, die sein kleines Bett umgaben, hineingestopft in einen Winkel des Dienstbotenflügels, fühlte er sich wie ein verbannter König, der seinen Palast an einen fremden Eroberer verloren hat – und so war es ja in gewisser Weise auch.

Die anderen schienen genauso tief in ihre eigenen Gedanken versunken; abgesehen von Grimmrics Pfeifen – einer dünnen, trillernden Melodie, die nur ab und zu den Wind übertönte, sich aber dennoch stetig fortzusetzen schien – fand der Ritt um den Drorshullsee in tiefem Schweigen statt.

Simon kam es manchmal, wenn er sie im Schneegestöber erkennen konnte, so vor, als sehe er die Wölfin stehenbleiben und den Kopf schief legen, als würde sie lauschen. Als sie am Abend endlich ihr Lager aufschlugen und der größte Teil des Sees südwestlich hinter ihnen lag, fragte er danach.

»Hört Qantaqa etwas, Binabik? Ist irgend jemand vor uns?«

Der Troll schüttelte den Kopf und streckte die Hände näher ans Feuer. Die Handschuhe hatte er ausgezogen. »Vielleicht. Aber etwas, das vor uns liegt, selbst in solchem Wetter, würde Qantaqa riechen. Außerdem reiten wir mit dem Wind. Wahrscheinlicher ist es, daß sie ein Geräusch hinter uns oder von der Seite vernimmt.«

Simon überlegte einen Augenblick. Sicher war, daß ihnen aus dem verödeten Hullnir, in dem es nicht einmal mehr Vögel gab, nichts gefolgt war.

»Jemand soll hinter uns sein?« fragte er ungläubig.

»Ich bezweifle es. Wer? Und warum?«

Aber auch Sludig, der die Nachhut bildete, hatte gemerkt, daß die Wölfin unruhig schien. Obwohl er sich in Binabiks Gesellschaft noch immer nicht recht wohl fühlte und ganz und gar nicht bereit war, auch noch Qantaqa Vertrauen zu schenken – zum Schlafen rollte er seinen Mantel immer auf der von ihr am weitesten entfernten Stelle des Lagers zusammen –, zweifelte er nicht an den scharfen Sinnen der grauen Jägerin. Während die anderen dasaßen und an Hartbrot und getrocknetem Wildfleisch kauten, hatte er den Wetzstein hervorgeholt, um seine Handbeile zu schärfen.

»Hier zwischen dem Dimmerskog – dem Wald nördlich von uns – und dem Drorshullvenn«, sagte er stirnrunzelnd, »ist immer Wildland gewesen, selbst als noch Isgrimnur und vor ihm sein Vater in Elvritshalla herrschten und der Winter seinen Platz kannte. Heute – wer weiß, was durch die weiße Öde oder die Trollfjälle dahinter wandert?« Er schabte im Takt.

»Trolle zum Beispiel«, bemerkte Binabik hämisch, »aber ich kann dir versichern, es besteht kaum Anlaß zur Furcht davor, daß nachts Trollvolk über uns herfällt, um zu töten und zu plündern.«

Sludig grinste säuerlich und fuhr fort, die Axt zu schärfen.

»Redet vernünftig, der Rimmersmann«, schaltete sich jetzt Haestan ein und warf Binabik einen mißbilligenden Blick zu. »Sind keine Trolle, vor denen ich mich fürchte.«

»Nähern wir uns denn schon deiner Heimat, Binabik?« erkundigte sich Simon. »Yiqanuc?«

»Wir kommen in größere Nähe zu ihr, sobald wir die Berge erreichen; aber der Ort meiner Geburt, denke ich, liegt tatsächlich im Osten des Ortes, zu dem wir wollen.«

»Du denkst das?«

»Vergiß nicht, daß wir noch nicht mit Genauigkeit wissen, wo unser Ziel liegt. ›Der Reimerbaum‹ – ein Baum voller Reime? Ich kenne den Berg, der Urmsheim heißt, wohin dieser Colmund angeblich geritten sein soll. Er steht irgendwo im Norden, zwischen Rimmersgard und Yiqanuc. Aber ein großer Berg ist er.« Der Troll zuckte die Achseln. »Steht der Baum darauf? Oder davor? Oder ganz woanders? Ich kann das zu dieser Zeit noch nicht wissen.«

Simon und die anderen blickten düster ins Feuer. Für seinen Herrscher einen gefährlichen Auftrag zu übernehmen war eine Sache, blind in einer weißen Wildnis herumzusuchen eine andere.

Die Flammen bissen zischend in das nasse Holz. Qantaqa, die sich auf dem nackten Schnee ausgestreckt hatte, erhob sich und legte den Kopf schräg. Zielstrebig lief sie zum Rand der Lichtung, die sie sich in einem Kiefernwäldchen am Hang des niedrigen Berges als Lagerplatz ausgesucht hatten. Nach einer besorgten Pause kehrte sie zurück und legte sich wieder hin. Niemand sagte ein Wort, aber ein angespannter Augenblick war vorbei und das Herz wieder etwas leichter.

Als alle gegessen hatten, wurde neues Holz auf das Feuer gelegt, das mit fröhlichem Prasseln und Dampfen dem wirbelnden Schnee trotzte. Binabik und Haestan waren in ein leises Gespräch vertieft, und Simon versuchte Ethelbearns Wetzstein an seinem eigenen Schwert. Eine dünne Melodie erklang. Simon drehte sich um und sah Grimmric, der die Lippen gespitzt und den Blick auf die tanzenden Flammen geheftet hatte und vor sich hin pfiff. Als er aufsah und Simons Blick auf sich spürte, schenkte der drahtige Erkynländer ihm ein schiefzähniges Lächeln.

»Hab mich an was erinnert«, erklärte er. »Altes Winterlied.«

»Welches denn?« fragte Ethelbearn. »Sing es uns vor, Mann. Ein kleines Lied kann nichts schaden.«

»Ja, sing«, half Simon nach.

Grimmric sah zu Haestan und dem Troll hinüber, als fürchte er Einwände aus dieser Richtung, aber die beiden waren noch völlig in ihre Diskussion verstrickt. »Also gut«, meinte er. »Wird schon nichts schaden.« Er räusperte sich und schaute zu Boden, als mache ihn die plötzliche Aufmerksamkeit der anderen verlegen. »Ist bloß ein Lied, das mein alter Vater immer gesungen hat, wenn wir im Decander nachmittags Holz schlagen gingen.« Er räusperte sich nochmals. »Ein Winterlied eben«, ergänzte er und fing an zu singen. Seine Stimme war rauh, aber nicht unmelodisch.

Eis bedeckt das Strohdach nun,

Schnee Fensterbrett und Wald.

Eine Hand klopft an die Tür

im Winter eisigkalt.

Sing hei-a-ho, und wer kann's sein?

Feuer lodert im Kamin,

fest versperrt das Haus.

Schatten tanzt. Schön-Arda fragt

vorsichtig hinaus:

»Sing hei-a-ho, und wer kann's sein?«

Wïnterdunkle Stimme spricht:

»Öffne deine Tür.

Laß mich ein, die Hände nur

will ich wärmen mir.«

Sing hei-a-ho, und wer kann's sein?

Schöne Arda züchtig sagt:

»Seltsam kommt's mir vor,

daß ein Mensch in solcher Nacht

nicht den Weg verlor.«

Sing hei-a-ho, und wer kann's sein?

»Bin ein armer Pilgersmann,

hab nicht Dach noch Speise.«

Und es schmilzt Schön-Ardas Herz

bei den Worten leise.

Sing hei-a-ho, und wer kann's sein?

»Guter Vater, tretet ein,

müde und beladen.

Gottesmännern darf ich traun,

werden mir nicht schaden.«

Sing hei-a-ho, und wer kann's sein?

Sie schließt auf. Wer steht davor?

Ach, sie ist betrogen.

Einaug selber tritt ins Haus,

ist ihr wohlgewogen.

Sing hei-a-ho, und wer kann's sein?

»Lügen sprach ich, fing dich ein…«

Einaug steht im Zimmer.

»Frost bringt niemals Schaden mir,

Lieb lohnt Listen immer…«

Sing hei-a-ho, und wer kann's sein?

»Heiliger Usires, bist du verrückt?« Sludig sprang auf. Alle erschraken. Mit vor Entsetzen geweiteten Augen malte er das Zeichen des Baumes breit vor sich in die Luft, als wollte er ein sich auf ihn stürzendes Untier abwehren. »Bist du verrückt?« wiederholte er und stierte den völlig verblüfften Grimmric an.

Der Erkynländer sah zu den anderen hinüber und zuckte hilflos die Schultern. »Was fehlt dem Rimmersmann, Troll?« fragte er.

Binabik schielte zu Sludig hinauf, der immer noch stand. »Was ist es für eine Unrichtigkeit, Sludig? Wir verstehen dich alle nicht.«

Der Nordmann musterte die ratlosen Gesichter. »Seid ihr denn alle von Sinnen? Wißt ihr denn nicht, von wem er da singt?«

»Alt-Einaug?« erwiderte Grimmric und zog fragend eine Braue hoch. »Nur so ein Lied, Nordmann. Hab's von meinem Vater gelernt.«

»Das ist Udun Einaug, von dem du singst, Udun Rimmer, der schwarze alte Gott meines Volkes. Als wir noch in heidnischer Unwissenheit lebten, verehrten wir ihn in Rimmersgard. Ruft nie nach Udun Himmelsvater, wenn ihr in seinem Land seid, sonst kommt er zu euch – und ihr werdet es bereuen.«

»Udun der Reimer…« sagte Binabik nachdenklich. »Aber wenn ihr nicht mehr an ihn glaubt«, fragte Simon, »warum fürchtest du dich dann, von ihm zu sprechen?«

Sludig, noch immer mit besorgt verzogenen Lippen, starrte auf Simon. »Ich habe nicht gesagt, daß ich nicht an ihn glaube … vergib mir, Ädon … sondern nur, daß wir Rimmersmänner ihn nicht mehr anbeten.« Nach einer kleinen Weile setzte er sich wieder hin. »Ihr werde mich bestimmt für töricht halten, aber das ist immer noch besser, als eifersüchtige alte Götter auf uns herabzurufen. Wir befinden uns jetzt in seinem Land.«

»Ist doch nur 'n Lied«, rechtfertigte sich Grimmric abermals. »Hab überhaupt nichts herabgerufen. Ist bloß 'n verdammtes Lied.«

»Binabik, sagen wir darum ›Udenstag‹?« wollte Simon fragen, unterbrach sich jedoch, als er merkte, daß der Troll ihm nicht zuhörte. Statt dessen stand im Gesicht des kleinen Mannes ein so breites, vergnügtes Grinsen, als hätte er gerade einen Schluck von etwas höchst Angenehmem zu sich genommen.

»Jawohl, das ist es!« rief er und drehte sich zu dem blassen, streng blickenden Sludig um. »Du hast es gefunden, mein Freund.«

»Wovon redest du?« erkundigte sich der blondbärtige Nordmann leicht gereizt. »Ich verstehe dich nicht.«

»Das, was wir suchen. Der Ort, zu dem Colmund ritt. Der Reimerbaum. Nur daß wir an Reime dachten, wie in Gedichten. Aber du hast es jetzt richtig gesagt: ›Udun Rimmer‹ – Udun der Reimer. ›Reim‹ ist ein altes Wort für ›Reif‹, und davon hat Reimersgard oder Rimmersgard seinen Namen. Was wir suchen, ist nicht ein Baum aus Reimen, sondern aus Reif – aus Frost.«

Einen Augenblick machte Sludig noch ein verständnisloses Gesicht, dann nickte er langsam mit dem Kopf. »Gesegnete Elysia, Troll – der Udun-Baum. Warum habe ich nur nicht daran gedacht? Natürlich, der Udun-Baum!«

»Kennst du den Ort, den Binabik meint?« Simon begann allmählich zu begreifen.

»Natürlich. Es ist eine von unseren uralten Sagen – ein Baum ganz aus Eis. Es heißt, Udun habe ihn wachsen lassen, um daran in den Himmel hinaufzuklettern und sich zum König über alle Götter zu machen.«

»Aber was nützt uns diese Sage?« hörte Simon Haestan fragen, und noch während die Worte an sein Ohr drangen, fühlte er, wie sich eine sonderbare, schwere Kälte über ihn legte wie eine Decke aus Graupelschnee. Der eisige weiße Baum … er sah ihn wieder vor sich: der weiße Stamm, der in die Dunkelheit hinaufragte, der uneinnehmbare weiße Turm, ein hoher, drohender, bleicher Streifen auf schwarzem Hintergrund … er stand mitten auf Simons Lebensweg, und irgendwie wußte der Junge, daß er ihn nicht umgehen konnte … daß kein Weg um den schlanken weißen Finger herumführte, der ihm winkte, ihn warnte, auf ihn wartete …

Der weiße Baum.

»Weil die Sage auch erzählt, wo er ist«, erklärte eine Stimme, nachhallend wie in einem langen Korridor. »Selbst wenn es ihn nicht geben sollte, wissen wir, daß Herr Colmund dem Weg gefolgt sein muß, den die Legende ihm wies – zur Nordwand des Urmsheim.«

»Sludig hat recht«, bestätigte jemand … Binabik. »Wir brauchen nur den Weg zu nehmen, den Colmund mit Dorn gegangen ist; nichts anderes ist mehr von Wichtigkeit.« Die Stimme des Trolls schien aus weiter Ferne zu kommen.

»Ich glaube … ich muß jetzt schlafen«, murmelte Simon mit schwerer Zunge. Er stand auf und stolperte vom Feuer weg, kaum bemerkt von den anderen, die sich lebhaft über Tagesritte und das Vorwärtskommen im Gebirge unterhielten. Er rollte sich in seinem dicken Mantel zusammen und fühlte, wie sich die verschneite Welt um ihn drehte, bis ihm schwindlig wurde. Simon schloß die Augen und glitt, obwohl er immer noch jedes Stoßen und Schwanken spürte, schwerfällig und wehrlos in traumtiefen Schlaf hinab.


Den ganzen nächsten Tag folgten sie der bewaldeten Schneebucht zwischen See und flacher werdenden Hügeln. Sie hofften, Haethstad an der Nordwestspitze des Sees bis zum späten Nachmittag zu erreichen. Wenn die Einwohner, beschlossen die Gefährten, nicht vor dem harten Winter geflohen und westwärts gezogen waren, sollte Sludig allein hinreiten, um die Vorräte zu ergänzen. Aber selbst wenn der Ort aufgegeben worden war, konnten sie vielleicht in einem verlassenen Herrenhaus Schutz für die Nacht finden und ihre Sachen trocknen, ehe sie die lange Reise über die Nördliche Öde antraten. Darum ritten sie einigermaßen zuversichtlich weiter und kamen auch am Seeufer gut voran.

Haethstad, ein aus etwa zwei Dutzend Langhäusern bestehendes Dorf, lag auf einer Landzunge, die kaum breiter war als der eigentliche Ort; vom Hang aus betrachtet, sah es aus, als wachse das Dorf aus dem gefrorenen See hervor.

Die ermutigende Wirkung des ersten Anblicks hielt jedoch nur bis etwa den halben Weg hinunter ins Tal. Danach zeigte sich immer deutlicher, daß die Gebäude zwar noch standen, aber nichts weiter als ausgebrannte Ruinen waren.

»Verflucht«, sagte Sludig wütend, »das ist nicht nur ein verlassenes Dorf, Troll. Man hat die Menschen vertrieben!«

»Wenn sie das Glück hatten, überhaupt noch herauszukommen«, murmelte Haestan.

»Ich glaube, ich muß dir Einwilligung zollen, Sludig«, bemerkte Binabik. »Trotzdem müssen wir hinab und uns umsehen, wie lange dieser Brand zurückliegt.«

Als sie in die Talsenke ritten, starrte Simon auf die verkohlten Überreste von Haethstad und mußte unwillkürlich an das ausgeglühte Skelett der Abtei von Sankt Hoderund denken.

Auf dem Hochhorst hat der Priester immer gesagt, daß Feuer reinigt, dachte er. Aber wenn das stimmt, warum hat dann jeder Angst vor dem Feuer, vor dem Brennen? Nun ja, bei Ädon, wahrscheinlich möchte niemand so ganz und gar gereinigt werden.

»O nein«, rief Haestan. Simon ritt fast auf ihn auf, als der große Wachsoldat sein Pferd zügelte. »Du guter Gott«, fügte der Erkynländer hinzu.

Simon spähte an ihm vorbei und gewahrte eine Reihe dunkler Gestalten, die sich jetzt aus den Bäumen am Ortseingang lösten und sich langsam auf die verschneite Straße zubewegten, keine hundert Ellen vor ihnen. Berittene Männer. Als sie ins Freie traten, zählte Simon sie … sieben, acht, neun. Sie waren sämtlich gepanzert. Ihr Anführer trug einen Helm aus schwarzem Eisen, der wie ein Hundekopf geformt war. Als er sich umdrehte, um seine Befehle zu erteilen, zeigte das Profil die geifernde Schnauze. Die neun ritten los.

»Der dort, der mit dem Hundekopf.« Sludig zog seine Äxte heraus und deutete auf die Näherkommenden. »Er hat den Überfall auf uns in Sankt Hoderund angeführt. Er ist es, dem ich noch etwas schuldig bin: für den jungen Hove und die Mönche im Kloster.«

»Mit denen werden wir nie fertig«, bemerkte Haestan ruhig. »Zerhacken werden sie uns – neun Männer gegen sechs, darunter ein Troll und ein Knabe.«

Binabik sagte nichts, sondern schraubte gelassen seinen Wanderstab auseinander, den er unter den Gurtriemen von Qantaqas Sattel geschoben hatte. Als er ihn wieder zusammensetzte, eine Sache von Sekunden, erklärte er: »Wir müssen fliehen.«

Sludig hatte bereits sein Pferd vorwärts gespornt, aber Haestan und Ethelbearn holten ihn nach wenigen Schritten ein und ergriffen seine Ellenbogen. Der Rimmersmann, der nicht einmal den Helm aufgesetzt hatte, versuchte sie abzuschütteln. In seinen blauen Augen lag ein ferner Blick.

»Gottverdammt, Mann!« rief Haestan, »komm mit! Unter den Bäumen haben wir wenigstens eine Chance!«

Der Führer der fremden Reiter rief etwas, und seine Männer setzten ihre Pferde mit Hilfe von Fußtritten in Trab. Von den Pferdehufen wallte weißer Nebel auf, als liefen sie über Meeresschaum.

»Dreh ihn um!« schrie Haestan Ethelbearn zu und packte die Zügel von Sludigs Roß, während er selbst umschwenkte. Ethelbearn versetzte dem Tier des Rimmersmannes mit dem Schwertgriff einen heftigen Schlag auf die Flanke, und sie machten vor den Heranreitenden kehrt, die jetzt in vollem Galopp und schreiend auf sie zuhielten und Beile und Schwerter schwangen. Simon zitterte so, daß er Angst hatte, er könnte aus dem Sattel fallen.

»Binabik! Wohin?« schrie er mit überschnappender Stimme.

»In die Bäume!« rief Binabik zurück, und Qantaqa machte einen Satz. »Tod würde es bedeuten, die Straße wieder hinaufzureiten. Vorwärts, Simon, und bleib mir nah!«

Jetzt bockten und traten die Rosse der Gefährten nach allen Seiten, als sie vom breiten Weg heruntergelenkt wurden, fort von Haethstads geschwärzten Ruinen. Irgendwie brachte Simon es fertig, den Bogen von seiner Schulter gleiten zu lassen; dann bückte er sich auf den Nacken des Pferdes und gab dem Tier die Sporen. Ein Sprung, bei dem ihm alle Knochen im Leib weh taten, dann jagten sie plötzlich durch den Schnee und in den immer dichter werdenden Wald hinein.

Simon sah noch Binabiks schmalen Rücken und das hüpfende Grau von Qantaqas Hinterteil, dann umgaben ihn schwindelerregend auf allen Seiten die Bäume. Hinter ihm erklangen Rufe; er drehte sich um und gewahrte seine dicht beieinander reitenden Gefährten, dahinter die dunkle Masse der Verfolger, die sich jetzt trennten und im Wald verteilten. Er hörte ein Geräusch wie von zerreißendem Pergament und nahm einen kurzen Augenblick wahr, wie in einem Baumstamm unmittelbar vor ihm ein Pfeil zitterte.

Überall war jetzt das gedämpfte Trommelfeuer der Hufschläge und dröhnte ihm in den Ohren, während er sich mit aller Kraft in seinem schwankenden Sattel festhielt. Plötzlich entrollte sich ein pfeifender schwarzer Faden und zerriß vor seinem Gesicht, dicht gefolgt von einem zweiten: Die Verfolger hatten sie seitlich überholt und schossen jetzt ihre Pfeile von der Flanke ab. Simon hörte sich selbst den stampfenden Gestalten etwas zuschreien, die um ihn herum durch die Bäume huschten, und ein paar weitere, zischende Geschosse sausten an ihm vorüber. An den Sattelknopf geklammert, streckte er die Hand mit dem Bogen aus, um einen Pfeil aus dem auf- und abhüpfenden Köcher zu ziehen; aber als er ihn vor sich hatte, sah er den Pfeil hell vor der Schulter des Rosses aufblitzen. Es war der Weiße Pfeil.

Im Bruchteil einer Sekunde, der jedoch viel länger zu dauern schien, hatte er ihn über die Schulter in den Köcher zurückgeschoben und einen anderen herausgeholt. Irgendwo in seinem Kopf lachte ihn eine höhnische Stimme aus, weil er in einer derartigen Situation auch noch seine Pfeile aussuchte. Fast hätte er Bogen samt Pfeil noch verloren, als sein Pferd um einen schneebedeckten Baum herumschwenkte, der plötzlich vor ihnen mitten aus dem Weg zu wachsen schien. Gleich darauf vernahm er einen Schmerzensschrei und das entsetzte und entsetzliche Schreien eines stürzenden Pferdes. Hastig warf er einen Blick über die Schulter. Nur noch drei seiner Gefährten folgten ihm. Weiter hinten – und jeden Moment weiter entfernt – tobte ein Gewirr von Armen und strampelnden Pferdebeinen und aufgewirbeltem Schnee. Die Verfolger sprengten um den gefallenen Reiter herum oder über ihn hinweg, ohne sich aufhalten zu lassen.

Wer war es? kam sein kurzer, flackernder Gedanke.

»Den Berg hinauf, den Berg!« schrie irgendwo rechts von Simon mit heiserer Stimme Binabik. Der Junge sah die Fahne von Qantaqas Schwanz, als die Wölfin eine Senke hinauf und unter enger stehende Bäume hetzte, ein dichtes Gewirr von Fichten, die wie gleichgültige Posten dastanden und zuschauten, wie das schreiende Chaos an ihnen vorbeiraste. Simon zerrte hart am rechten Zügel, obwohl er keine Ahnung hatte, ob sein Pferd sich überhaupt darum kümmern würde; doch schon schwenkten sie seitwärts und jagten hinter der voranspringenden Wölfin den Hang hinauf. Die drei anderen überholten ihn und zügelten dann im kargen Schutz einer Krone stocksteifer Stämme ihre dampfenden Rosse.

Sludig hatte immer noch keinen Helm auf dem Kopf, und der Dünne dort mußte Grimmric sein, aber der dritte, kräftig und behelmt, war ein kurzes Stück weiter bergauf geritten. Noch ehe Simon sich umdrehen und feststellen konnte, wer er war, hörte er einen heiseren Schrei des Triumphes. Die Fremden hatten sie eingeholt.

Nach einer Sekunde Erstarrung legte er den Pfeil auf die Sehne und hob den Bogen. Aber die johlenden Angreifer sausten so geschwind zwischen den Bäumen hin und her, daß sein Schuß das Ziel verfehlte und der Pfeil im Wald verschwand. Simon schoß einen zweiten ab und meinte zu erkennen, daß er das Bein eines der Gepanzerten traf. Jemand stieß einen Schmerzensruf aus. Sludig brüllte als Antwort und spornte sein weißes Roß. Gleichzeitig stülpte er den Helm über den Kopf. Zwei der Angreifer lösten sich aus der Meute und kamen auf ihn zu. Simon beobachtete, wie er sich duckte und dem Schwerthieb des ersten auswich, herumfuhr und dem Mann im Vorbeireiten die Klinge der Axt zwischen die Rippen trieb. Helles Blut spritzte aus dem Schnitt in der Rüstung. Als Sludig sich von dem ersten Mann abwandte, hätte ihn der zweite um ein Haar erwischt; ihm blieb gerade noch Zeit, den Hieb mit seinem zweiten Beil abzufangen, aber ein krachender Schlag traf seinen Helm. Simon sah, wie der Rimmersmann schwankte und beinahe aus dem Sattel fiel, während sein Angreifer wieder kehrt machte.

Bevor sie jedoch von neuem aufeinanderprallten, ertönte hinter Simon ein ohrenzerreißendes Kreischen. Er schoß herum und erblickte ein weiteres Pferd, das mit seinem Reiter auf ihn zugestolpert kam; eine troll-lose Qantaqa hing mit den Zähnen am ungepanzerten Bein des Mannes und zerkratzte mit ihren Krallen die Flanke des schrill schreiendes Pferdes. Simon riß das Schwert aus der Scheide. Aber als der Reiter wild auf die Wölfin einschlug, rannte sein Pferd gegen Simons Tier. Simon flog die Klinge aus der Hand. Gleich darauf besaß auch er weder Gewicht noch Halt mehr; einen langen Moment später schlug es die Luft aus ihm heraus wie mit einer Riesenfaust. Nur ein kurzes Stück von der Stelle entfernt, an der sein Pferd in einem panikerfüllten, wiehernden Knäuel mit dem anderen Gaul rang, fand er sich im Schnee wieder, das Gesicht nach unten. Durch eine beißende Schneemaske bemerkte er, wie sich Qantaqa zwischen den beiden Pferden herauswand und davonhetzte. Der Mann, schreiend unter den Tieren begraben, konnte nicht entkommen.

Simon stand mühsam auf und spuckte eisigen Sand aus. Hastig griff er nach Bogen und Köcher, die dicht neben ihm lagen. Er hörte, wie sich der Kampflärm weiter den Berg hinaufzog und schickte sich an, zu Fuß hinterherzulaufen.

Jemand lachte.

Keine zwanzig Schritte unterhalb von ihm saß auf reglosem, grauem Roß der Mann in der schwarzen Rüstung mit dem Kopf eines rasenden Hundes. Auf sein schwarzes Wams war weiß eine rohe Pyramidenform gestickt.

»Da bist du ja, Junge«, sagte das Hundegesicht. Die tiefe Stimme hallte im Helm wider. »Ich habe dich gesucht.«

Simon fuhr herum und hastete den verschneiten Hügel hinauf. Sofort stolperte er und versank in kniehohen Schneewehen. Der Mann in Schwarz lachte vergnügt und folgte ihm.

Simon raffte sich auf, schmeckte sein eigenes Blut, das aus der aufgerissenen Nase und Lippe floß, blieb endlich stehen und wich an eine gebeugte Fichte zurück. Dort griff er rasch nach einem Pfeil, ließ den Köcher fallen, legte den Pfeil auf die Sehne und spannte den Bogen. Der Schwarzgekleidete, immer noch ein halbes Dutzend Ellen unter ihm, blieb stehen und hielt den behelmten Kopf schräg, als ahmte er den Hund nach, dessen Aussehen er trug.

»Jetzt töte mich, Knabe, wenn du kannst«, höhnte er. »Schieß!« Er trieb sein Pferd bergan, auf Simon zu, der zitternd dastand.

Ein Zischen – ein scharfer, fleischiger Aufprall. Jäh bäumte sich das Grauroß und warf den mähnenumflatterten Kopf zurück. In seiner Brust bebte ein Pfeil. Der hundsgesichtige Reiter wurde hart in den Schnee geschleudert. Wie knochenlos lag er da, selbst als sein zuckendes Pferd in die Knie brach und schwer über ihm zusammensank. Simon starrte wie gebannt. Aber gleich darauf blickte er mit noch größerer Überraschung auf den Bogen, den er noch immer am ausgestreckten Arm hielt. Der Pfeil hatte die Sehne nicht verlassen.

»H-Haestan?« fragte er und schaute den Hang hinauf. In einer Lücke zwischen den Bäumen standen drei Gestalten. Keiner von ihnen war Haestan. Keiner von ihnen war ein Mensch. Sie hatten helle Katzenaugen und einen harten Zug um den Mund.

Der Sitha, der den Pfeil abgeschossen hatte, legte einen neuen auf und senkte ihn, bis die sanft bebende Spitze genau auf Simons Augen zielte.

»T'si im t'si, Sudhoda«, sagte er, und sein schmales, eben erst aufgesetztes Lächeln war so kalt wie Marmor. »Blut … wie ihr sagt … um Blut.«

XXXVII Jirikis Jagd

Simon starrte hilflos auf die schwarze Pfeilspitze und die drei schmalen Gesichter. Sein Kinn zitterte.

»Ske'i! Ske'i!« schrie eine Stimme. »Halt!«

Zwei von den Sithi wandten sich um und schauten nach rechts, den Berg hinauf. Derjenige, der den Bogen hielt, schwankte keine Sekunde.

»Ske'i, ras-Zida'ya!« rief die kleine Gestalt laut, machte einen Sprung und fiel hin. Knirschend rollte sie durch den Schnee und stoppte schließlich ein paar Schritte von Simon entfernt in einem glitzernden Puderwirbel.

Binabik richtete sich langsam auf die Knie auf, mit Schnee bestäubt, als hätte ihn ein eiliger Bäcker in Mehl gewälzt.

»W-was?« Simon zwang seine tauben Lippen, Worte zu formen, aber der Troll winkte ihm mit einer hastig flatternden Bewegung der kurzen Finger Schweigen zu.

»Sch! Langsam senke den Bogen in deiner Hand – langsam!« Als der Junge dieser Anweisung folgte, sprudelte Binabik einen neuen Schwall von Worten in der fremden Sprache hervor und rang flehend die Hände vor den Sithi, die nicht einmal blinzelten.

»Was … wo sind die anderen?« flüsterte Simon, aber Binabik gebot noch einmal Schweigen, diesmal mit kurzem, aber heftigem Kopfschütteln.

»Keine Zeit haben wir, keine Zeit … um dein Leben kämpfen wir.« Der Troll hob die Hände, und Simon, der den Bogen fallengelassen hatte, folgte seinem Beispiel, die Handflächen nach außen gekehrt. »Du hast, hoffe ich, den Weißen Pfeil nicht verloren?«

»Ich … weiß nicht.«

»Tochter der Berge, ich will es nicht hoffen. Wirf langsam deinen Köcher hin! So.« Er schnatterte noch ein paar Worte in dem, was Simon für die Sprache der Sithi hielt, und versetzte dem Köcher dann einen Tritt, daß die Pfeile über den zertretenen Schnee sprangen wie dunkle Mikadostäbe … alle bis auf einen, bei dem sich nur die dreieckige Spitze, perlblau wie ein flüssiger Tropfen Himmel, vom Weiß seiner Umgebung abhob.

»Oh, gepriesen seien die Stätten der Höhe«, seufzte Binabik. »Staj'a Ame ine!« rief er den Sithi zu, die ihn beobachteten wie Katzen, deren geflügelte Beute sich plötzlich umdreht und zu singen anfängt, anstatt fortzufliegen.

»Der Weiße Pfeil! Ihr müßt davon wissen! Im sheyis tsi-keo'su d'a Yana o Lingit!«

»Das ist … etwas Seltenes«, sagte der Sitha mit dem Bogen und senkte ihn ein Stück. Seine Aussprache klang fremd, aber er beherrschte die Westsprache ausgezeichnet. Er blinzelte. »Von einem Troll in den Regeln des Singens unterwiesen zu werden.« Das kalte Lächeln kehrte kurz zurück. »Du darfst uns mit deinen Ermahnungen verschonen … und mit deinen fragwürdigen Übersetzungen. Heb deinen Pfeil auf und bring ihn mir.« Er zischte den beiden anderen einige Worte zu. Die beiden Sithi warfen noch einen Blick auf Simon und den Troll und jagten dann mit erstaunlicher Geschwindigkeit den Berg hinauf. Unter ihren Füßen schien sich kaum der Schnee zu vertiefen, so rasch und leicht waren ihre Schritte. Der Zurückbleibende zielte weiterhin mit seinem Pfeil in Simons Richtung, während Binabik sich zu dem Köcher hinunterbückte und mit dem Weißen Pfeil in der Hand langsam vorwärtsstapfte.

»Gib ihn mir«, befahl der Sitha. »Federn voran, Troll. Und nun geh zurück zu deinem Gefährten.«

Er verringerte die Spannung seines Bogens, um den schlanken weißen Gegenstand zu untersuchen, wobei er den Pfeil vorwärtsgleiten ließ, bis die Sehne fast schlaff war und er den aufgelegten Pfeil und das Bogenholz mit einer Hand festhalten konnte. Simon bemerkte erst jetzt, wie flach und kratzend sein eigener Atem ging. Er ließ die zitternden Hände sinken. Binabiks Schritte knirschten im Schnee, als er sich neben Simon stellte.

»Er wurde diesem jungen Mann für einen Dienst verliehen, den er jemandem erwiesen hat«, erklärte Binabik trotzig. Der Sitha sah ihn an und zog die schrägen Brauen hoch.

Auf den ersten Blick schien er jenem Schönen sehr ähnlich zu sein, den Simon auf seiner Flucht zu Gesicht bekommen hatte – die gleichen hohen Wangenknochen und seltsam vogelähnlichen Bewegungen. Er trug Hose und Jacke aus schimmerndweißem Stoff, an Schultern, Ärmel und Gürtel mit schmalen, dunkelgrünen Schuppen gesprenkelt. Das Haar, fast schwarz, aber ebenfalls mit einem fremdartig grünen Unterton, war vor den Ohren zu zwei kunstvollen Zöpfen geflochten. Stiefel, Gürtel und Köcher bestanden aus weichem, milchweißem Leder. Simon begriff, daß er den Sitha nur sehen konnte, weil dieser hangaufwärts stand und sich vom grauen Himmel abhob; hätte der Schöne vor einem Schnee-Hintergrund gestanden, inmitten von Bäumen, wäre er unsichtbar gewesen wie der Wind.

»Isi-isi'ye!« murmelte der Sitha betroffen und hielt den Pfeil gegen die verhüllte Sonne. Dann ließ er ihn wieder sinken, starrte Simon einen Augenblick überrascht an und bekam schmale Augen.

»Wo hast du das gefunden, Sudhoda'ya?« fragte er barsch. »Wie kommt jemand wie du zu einem solchen Gegenstand?«

»Es war ein Geschenk!« antwortete Simon, dessen Wangen allmählich wieder Farbe annahmen. Auch seine Stimme hatte sich gekräftigt. Er wußte, was er wußte. »Ich habe einen Mann deines Volkes gerettet. Er schoß den Pfeil in einen Baum und verschwand.«

Wieder musterte der Sitha ihn prüfend und schien noch etwas sagen zu wollen. Dann wandte er jedoch seine Aufmerksamkeit dem Berghang zu. Ein Vogel trillerte einen langen, komplizierten Pfiff – das dachte zumindest Simon, bis er die leichte Bewegung der Lippen des weißgekleideten Sitha bemerkte, der still wie eine Statue wartete, bis ein anderer Triller ihm antwortete.

»Geht jetzt vor mir her«, gebot er, winkte dem Troll und dem Jungen mit seinem Bogen und machte kehrt. Mühsam kletterten sie den steilen Hang hinauf, leichtfüßig gefolgt von ihrem Ergreifer, der immer wieder langsam den Weißen Pfeil in seinen schmalen Fingern drehte.

Nach ein paar hundert Herzschlägen hatten sie die Bergkuppe erreicht und stiegen auf der anderen Seite wieder hinab. Dort hockten vier Sithi um einen von Bäumen eingefaßten, verschneiten Graben; die beiden, die Simon schon gesehen hatte, nur an der bläulichen Färbung der geflochtenen Haare erkennbar, und ein zweites Paar mit rauchgrauen Flechten, obwohl auch ihre goldenen Gesichter so faltenlos waren wie die der anderen. Auf dem Boden des Grabens, unter dem drohenden Viereck der Sithipfeile, saßen Haestan, Grimmric und Sludig. Alle drei wiesen Blutspuren auf und zeigten den hoffnungslos trotzigen Gesichtsausdruck in die Enge getriebener Tiere.

»Bei Sankt Eahlstans Gebeinen!« fluchte Haestan, als er die Neuankömmlinge erkannte. »Ach Gott, Junge, hab gehofft, du wärst über alle Berge.« Er schüttelte den Kopf. »Na, immer noch besser als tot, denk ich.«

»Siehst du es jetzt, Troll?« fragte Sludig, das bärtige Gesicht rot verschmiert, bitter. »Siehst du, was wir über uns gebracht haben? Dämonen! Nie hätten wir über ihn spotten dürfen … über den Dunklen.«

Der Sitha, der den Pfeil hielt und anscheinend der Anführer war, sagte ein paar Worte in seiner Sprache zu den anderen und machte Simons Gefährten ein Zeichen, aus der Grube hinauszuklettern.

»Nicht Dämonen sind sie«, erwiderte Binabik, während er und Simon sich mit den Beinen gegen den Boden stemmten, um den anderen beim Aufstieg zu helfen, im sich ständig bewegenden Schnee ein mühsames Unterfangen. »Sithi sind sie, und sie werden uns nichts Böses tun. Schließlich befiehlt ihnen das ihr eigener Weißer Pfeil.«

Der Sithiführer warf dem Troll einen unfreundlichen Blick zu, sagte jedoch nichts. Grimmric zog sich keuchend auf ebenen Boden hinauf. »Si … Sithi?« fragte er, nach Atem ringend. »Jetzt stecken wir mitten in den uralten Sagen, soviel steht fest. Sithivolk! Möge Usires Ädon uns alle schützen.« Er schlug das Zeichen des Baumes und streckte dann die Hand aus, um dem taumelnden Sludig zu helfen.

»Was ist denn eigentlich passiert?« fragte Simon. »Wie seid ihr … was wurde aus …?«

»Die Reiter, die hinter uns her waren, sind tot«, erklärte Sludig und sackte gegen einen Baumstamm. Seine Brünne war an mehreren Stellen durchlöchert, und sein Helm, der ihm vom Handgelenk baumelte, voller Kratzer und Beulen wie ein alter Topf. »Ein paar haben wir selber erledigt. Der Rest«, er machte eine schlaffe Handbewegung zu den Sithiwachen hinüber, »fiel, von ihren Pfeilen gespickt.«

»Sie hätten uns bestimmt auch erschossen, wenn der Troll nicht ihre Sprache gesprochen hätte«, ergänzte Haestan. Er zeigte Binabik ein schwaches Lächeln. »Wir haben nicht schlecht von dir gedacht, als du wegranntest. Haben sogar für dich gebetet.«

»Ich ging Simon suchen. Er ist mein Schützling«, erwiderte Binabik einfach.

»Aber…« Simon blickte sich um, hoffte wider besseres Wissen, sah keinen weiteren Gefangenen. »Dann … dann war es Ethelbearn, der gefallen ist? Bevor wir den ersten Berg erreichten?«

Haestan nickte langsam. »Ja.«

»Die Pest über ihre Seelen!« fluchte Grimmric. »Rimmersmänner waren es, diese mörderischen Bastarde!«

»Skalis Leute«, ergänzte Sludig. Seine Augen waren hart. Die Sithi forderten jetzt durch Gesten ihre Gefangenen auf, sich zu erheben. »Zwei von ihnen trugen den Raben von Kaldskryke«, fuhr Sludig fort und stand auf. »Oh, wie ich darum bete, Skali zu erwischen, wenn einmal nur noch unsere Äxte zwischen uns stehen.«

»Darauf hoffen noch ganze Heerscharen von anderen Leuten«, meinte Binabik.

»Wartet!« begann Simon, der sich innerlich ganz ausgehöhlt fühlte. So war das alles nicht richtig. Er wandte sich an den Führer des Sithitrupps. »Du hast meinen Pfeil gesehen und weißt, daß meine Geschichte wahr ist. Du kannst uns nirgendwohin bringen oder etwas mit uns tun, bevor wir nicht festgestellt haben, was aus unserem Gefährten geworden ist.«

Der Sitha musterte ihn prüfend. »Ich weiß nicht, ob deine Geschichte wahr ist, Menschenkind, aber wir werden es bald herausfinden. Schneller, als dir vielleicht lieb ist. Was das Übrige betrifft…« Er betrachtete einen Augenblick lang Simons zerlumpte Schar. »Also gut. Wir erlauben euch, nach eurem Mann zu sehen.« Er sprach mit seinen Kameraden, und sie folgten Simon und den anderen den Berg hinunter.

Die schweigenden Männer kamen an den von Pfeilfedern starrenden Leichen zweier ihrer Angreifer vorbei. Ihre Augen waren aufgerissen, die Münder standen weit offen. Schon legte sich neuer Schnee über die stillen Gestalten und deckte die purpurroten Flecken zu.

Sie fanden Ethelbearn hundert Ellen von der Seestraße entfernt. Der abgebrochene Schaft eines Eschenholzpfeiles ragte ihm unter dem Bart seitlich aus dem Hals, und die verdrehte Haltung mit den gespreizten Gliedern deutete darauf hin, daß sich sein Pferd im Todeskampf über ihn gewälzt hatte.

»Hat nicht lang gebraucht zum Sterben«, sagte Haestan, in dessen Augen Tränen standen. »Ädon sei gelobt, ein schneller Tod.«

Sie hoben, so gut sie konnten, eine Grube für ihn aus. Mit Schwertern und Äxten hackten sie auf den harten Boden ein; gleichgültig wie Gänse standen die Sithi daneben. Die Gefährten wickelten Ethelbearn in seinen dicken Mantel und legten ihn in das flache Grab. Als er zugedeckt war, rammte Simon das Schwert des Toten als Grabzeichen in die Erde.

»Nimm seinen Helm«, forderte Haestan Sludig auf, und Grimmric nickte. »Er würde nicht wollen, daß er dort nutzlos liegt«, meinte er. Sludig hängte seinen eigenen zerspellten Helm an Ethelbearns Schwertknauf und nahm dann den anderen, den man ihm entgegenstreckte. »Wir werden dich rächen, Mann«, erklärte der Rimmersgarder. »Blut um Blut.«

Schweigen senkte sich über sie. Schnee sickerte durch die Bäume. Sie standen da und starrten auf das Stück nackte Erde. Bald würde alles wieder weiß sein.

»Kommt jetzt«, sagte der Anführer der Sithi endlich. »Wir haben lange genug auf euch gewartet. Es gibt jemanden, der diesen Pfeil sehen möchte.«

Simon ging als letzter. Ich hatte kaum Zeit, dich kennenzulernen, Ethelbearn, dachte er. Aber du hattest ein gutes Lachen. Das werde ich nicht vergessen.

Sie wandten sich um und schlugen wieder den Weg in die kalten Berge ein.


Die Spinne hing unbeweglich da, ein stumpfbrauner Edelstein in einem kunstvollen Halsband. Ihr Netz war fertig, die letzten Fäden waren zierlich an ihren Platz gelegt; es reichte von der einen Seite der Deckenecke zur anderen und schwankte leise in der aufsteigenden Luft, als zupften unsichtbare Hände daran. Einen Moment verlor Isgrimnur den Gesprächsfaden, obwohl es ein wichtiges Gespräch war. Seine Augen waren von den bedrückten Gesichtern, die sich in der großen Halle um den Kamin drängten, fortgewandert, hatten die dunkle Ecke gestreift und die kleine Baumeisterin entdeckt, die sich dort ausruhte.

Das nenne ich vernünftig, sagte er zu sich selbst. Man baut sich etwas, und dort bleibt man dann. So sollte es sein. Nicht dieses dauernde Hin und Her, bei dem man seine Angehörigen oder die heimatlichen Dächer manchmal ein Jahr lang nicht zu Gesicht bekommt.

Er dachte an seine Frau Gutrun, die Scharfäugige mit den roten Wangen. Kein Wort des Vorwurfes hatte er von ihr gehört, aber er wußte, daß sie zornig war, weil er so lange von Elvritshalla fortgeblieben war und es ihrem ältesten Sohn, dem Stolz ihres Herzens, überlassen hatte, das große Herzogtum zu regieren … und dabei zu versagen. Nicht daß Isorn oder sonst jemand in Rimmersgard Skali und seine Anhänger hätten aufhalten können, nicht mit der Macht des Hochkönigs hinter ihnen. Aber es war der junge Isorn gewesen, der dort geboten hatte, während sein Vater fern war, und es war Isorn, an den man sich als denjenigen erinnern würde, der zugesehen hatte, wie die Kaldskryke-Leute, die Erbfeinde der Männer von Elvritshalla, prahlerisch durch das Langhaus stolzierten – als die neuen Herren und Gebieter.

Und ich hatte mich diesmal so darauf gefreut, nach Hause zu kommen, dachte der alte Herzog traurig. Es wäre so schön gewesen, mich um meine Pferde und Kühe zu kümmern, ein paar Streitigkeiten in der Nachbarschaft zu schlichten und zuzusehen, wie meine Kinder ihre Kinder erziehen. Statt dessen ist das ganze Land zerrissen wie ein leckes Strohdach. Gott helfe mir, ich hatte schon vor Jahren das Kämpfen satt … soviel ich auch davon geschwatzt habe.

Schließlich waren Kämpfe vor allem etwas für junge Männer, deren Bindung ans Leben locker und sorglos war. Und etwas, von dem alte Männer reden, an das sie sich erinnern konnten, wenn sie in ihrer Halle im Warmen saßen und der Winter draußen vor der Tür heulte.

Für einen verdammten alten Hund wie mich ist es jetzt Zeit, sich vors Feuer zu legen und zu schlafen.

Er zupfte an seinem Bart und sah zu, wie die Spinne in die dunkle Dachecke hinüberkroch, wo sich unerwartet eine unvorsichtige Fliege niedergelassen hatte.

Wir dachten, Johan hätte einen Frieden geschmiedet, der tausend Jahre halten müßte, und nun hat der Friede Johans Tod nicht einmal zwei Sommer überdauert. Man baut und baut immer weiter, legt Faden über Faden wie die Kleine dort oben – und dann kommt ein Wind und bläst alles in Fetzen.

»… und so habe ich zwei Pferde beinahe zuschanden geritten, um Euch die Nachricht so schnell wie möglich zu bringen, Herr«, schloß der junge Mann, als Isgrimnur sein Ohr wieder der dringenden Besprechung zuwendete.

»Das hast du großartig gemacht, Deornoth«, antwortete Josua. »Bitte steh auf.«

Mit vom Ritt noch feuchtem Gesicht und strähnigem Haar erhob sich der junge Soldat und wickelte sich fester in die dicke Decke, die der Prinz ihm gereicht hatte. Er sah ganz ähnlich aus wie damals, als er im Gewand des heiligen Mönches zur Feier des Sankt-Tunath-Tages dem Prinzen die Nachricht vom Tod seines Vaters gebracht hatte.

Der Prinz legte Deornoth die Hand auf die Schulter. »Ich bin froh, daß du wieder hier bist. Ich habe für deine Sicherheit gefürchtet und mich selbst verwünscht, weil ich dich auf einen so gefährlichen Weg schicken mußte.« Er wandte sich an die anderen Männer. »Nun. Ihr habt Deornoths Bericht gehört. Elias ist endlich aufgebrochen. Er ist unterwegs nach Naglimund, mit … Deornoth? Wieviel hast du gesagt?«

»Mit ungefähr tausend Rittern oder noch mehr, und an die zehntausend Fußsoldaten«, erwiderte Deornoth betrübt. »Das ist der am glaubwürdigsten scheinende Durchschnitt aus den verschiedensten Angaben.«

»Das glaube ich auch.« Josua machte eine Handbewegung. »Und es bleiben uns höchstens noch vierzehn Tage, bis er vor unseren Mauern steht.«

»Das ist auch meine Meinung, Herr«, nickte Deornoth.

»Und was hört man von meinem Gebieter?« erkundigte sich Devasalles.

»Nun, Baron«, begann der Soldat und biß die Zähne zusammen, bis ein Anfall von Schüttelfrost vorbei war, »in Nad Mullagh war alles vollkommen durcheinander – natürlich verständlich bei dem, was im Westen vorgeht…« Er brach ab und warf einen Blick auf Prinz Gwythinn, der ein Stückchen entfernt von den anderen saß und unglücklich an die Decke starrte.

»Sprich weiter«, befahl Josua ruhig, »wir wollen alles hören.«

Deornoth sah von dem Hernystiri weg. »Darum war es, wie gesagt, schwer, an brauchbare Informationen heranzukommen. Aber nach Auskunft mehrerer Flußschiffer aus Abaingeat, oben an der Küste, ist Euer Herzog Leobardis von Nabban in See gestochen und befindet sich zur Zeit auf der Überfahrt. Vermutlich will er bei Crannhyr landen.«

»Mit wieviel Mann?« grollte Isgrimnur.

Deornoth zuckte die Achseln. »Jeder sagt etwas anderes. Dreihundert Berittene vielleicht und ungefähr zweitausend zu Fuß.«

»Das klingt wahrscheinlich, Prinz Josua«, sagte Devasalles und biß sich nachdenklich auf die Lippen. »Zweifellos wollten nicht alle Vasallen mitziehen, weil sie Angst haben, sich gegen den Hochkönig zu stellen, und die Perdruineser werden, wie gewöhnlich, neutral bleiben. Graf Streáwe weiß, daß er mehr davon hat, wenn er beide Seiten unterstützt und seine Schiffe schont, um Fracht damit zu befördern.«

»Also besteht noch Hoffnung auf Leobardis' starken Arm, auch wenn ich ihn mir noch mächtiger gewünscht hätte.« Josua sah sich im Kreis der Männer um.

»Aber selbst wenn die Nabbanai noch vor Elias bei uns am Tor stehen sollten«, gab Baron Ordmaer zu bedenken, dessen plumpe Züge seine Furcht kaum verbargen, »wird Elias trotzdem dreimal so stark sein wie wir.«

»Aber wir haben die Mauern, Baron«, versetzte Josua, und in seinem schmalen Gesicht stand Strenge. »Wir sitzen in einer sehr, sehr starken Festung.« Er sprach wieder zu Deornoth, und seine Miene wurde weicher. »Sag uns den Rest deiner Neuigkeiten, mein treuer Freund, und dann mußt du schlafen. Ich fürchte um deine Gesundheit, und ich brauche in den Tagen, die vor uns liegen, deine Kraft.«

Deornoth brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Jawohl, Herr. Die restlichen Nachrichten sind leider auch keine erfreulichen, fürchte ich. Die Hernystiri sind am Inniscrich geschlagen worden.« Er wollte zu Gwythinns Platz hinüberschauen, senkte jedoch die Augen. »Es heißt, König Lluth sei verwundet und sein Heer habe sich in die Berge des Grianspog zurückgezogen, um von dort aus besser Ausfälle gegen Skali und seine Männer unternehmen zu können.«

Josua sah dem Hernystiri-Prinzen ernsthaft ins Gesicht. »Aha. Wenigstens ist es nicht ganz so schlimm, wie Ihr fürchtetet, Gwythinn. Euer Vater lebt und setzt den Kampf fort.«

Der junge Mann fuhr herum. Seine Augen waren rot. »Ja! Sie kämpfen weiter, während ich hier sicher hinter steinernen Mauern sitze, Bier trinke und Brot und Käse fresse wie ein fetter Spießbürger. Vielleicht liegt mein Vater im Sterben! Wie kann ich hierbleiben?«

»Ja, glaubt Ihr denn, Ihr könntet mit Eurem halben Hundert Männern Skali schlagen, Junge?« fragte Isgrimnur nicht unfreundlich. »Oder sucht Ihr lieber einen schnellen, ruhmreichen Tod, anstatt abzuwarten, wie man mit Hoffnung auf Erfolg weiter vorgehen sollte?«

»So töricht bin ich nicht«, versetzte Gwythinn kalt. »Und bei Bagbas Herde, Isgrimnur, wer seid Ihr, daß Ihr so zu mir sprecht? Was ist mit diesem ›Meter Stahl‹, den Ihr für Skalis Eingeweide aufheben wolltet?«

»Das ist etwas anderes«, knurrte Isgrimnur verlegen. »Ich habe nie gesagt, ich wollte Elvritshalla mit meinem Dutzend Ritter stürmen.«

»Und alles, was ich vorhabe, ist, mich an Skalis Raben vorbeizuschleichen, um in den Bergen zu meinem Volk zu stoßen.«

Isgrimnur konnte Prinz Gwythinns wachsamem, forderndem Blick nicht begegnen. Er ließ die Augen wieder in die Dachecke wandern, wo die braune Spinne emsig damit beschäftigt war, etwas in klebrige Seide zu wickeln.

»Gwythinn«, erklärte Josua besänftigend, »ich bitte Euch ja nur zu warten, bis wir mehr darüber sagen können. Ein oder zwei Tage werden kaum etwas ausmachen.«

Der junge Hernystiri stand so ruckartig auf, daß sein Stuhl über die Steinfliesen scharrte. »Warten! Das ist alles, was Ihr tut – Ihr wartet, Josua! Warten, bis alle Truppen gemustert sind, Warten auf Leobardis und sein Heer, Warten auf … Warten auf Elias, bis er die Mauern übersteigt und Naglimund in Brand setzt. Ich habe das Warten satt!« Er hob unsicher die Hand, um Josuas Einwänden zuvorzukommen. »Vergeßt nicht, Josua, auch ich bin ein Prinz. Ich kam zu Euch, weil unsere Väter Freunde waren. Jetzt aber ist mein Vater verwundet, und die Teufel aus dem Norden fallen über ihn her. Wenn er stirbt, weil niemand ihm zu Hilfe kommt, und ich König werde, wollt Ihr mir dann noch Befehle erteilen? Mich immer weiter hier festhalten? Brynioch! Ich kann solch feige Zurückhaltung nicht begreifen!«

Fast schon an der Tür, drehte er sich ein letztes Mal um. »Ich werde meinen Männern sagen, sie sollen sich für morgen bei Sonnenuntergang zum Aufbruch bereithalten. Wenn Euch ein Grund einfällt, warum ich bleiben sollte, ein Grund, der mir bisher entgangen ist, so wißt Ihr, wo Ihr mich findet.«

Der Prinz schlug die Tür hinter sich zu. Josua erhob sich. »Ich glaube, es sind viele unter uns«, er hielt inne und schüttelte müde den Kopf, »die jetzt etwas zu essen und zu trinken brauchen – nicht zuletzt du, Deornoth. Trotzdem bitte ich dich, noch einen kurzen Augenblick zu bleiben und die anderen vorangehen zu lassen, damit ich dich nach einigen persönlichen Dingen fragen kann.« Er winkte Devasalles und die übrigen in den Speisesaal und sah zu, wie sie in leiser Unterhaltung hinausgingen. »Isgrimnur«, rief er, und der Herzog blieb im Türrahmen stehen und blickte sich fragend um, »bleibt Ihr bitte auch.«

Sobald der Herzog wieder auf einem Stuhl Platz genommen hatte, schaute Josua Deornoth erwartungsvoll an.

»Und hast du sonst noch Neuigkeiten für mich?« fragte der Prinz. Der Soldat zog die Stirn in Falten.

»Wenn ich etwas Gutes wüßte, Prinz, hätte ich es Euch sofort erzählt, noch bevor die anderen hier waren. Aber ich konnte weder von Eurer Nichte noch von dem Mönch, der sie begleitet, eine Spur finden, ausgenommen einen Bauern in der Nähe der Gabelung des Grünwate-Flusses, der ein Paar, auf das die Beschreibung paßt, gesehen haben will. Sie hätten dort vor einigen Tagen den Fluß überquert und seien südwärts geritten.«

»Und das wußten wir schon von der Herrin Vara. Inzwischen müssen sie längst den Inniscrich hinunter sein, und Usires der Gesegnete allein weiß, wie es weitergeht oder was ihr nächstes Ziel ist. Das einzig Gute ist, daß mein Bruder Elias sein Heer bestimmt oben am Fuß des Gebirges entlangführen wird, weil die Weldhelm-Straße in dieser nassen Jahreszeit der einzig sichere Ort für die schweren Wagen ist.«

Er starrte in das flackernde Feuer.

»Nun ja«, sagte er endlich. »Sei bedankt, Deornoth. Wären alle meine Gefolgsmänner wie du, könnte ich über die Bedrohung durch den Hochkönig lachen.«

»Die Männer sind gut, Herr«, erklärte der junge Ritter kameradschaftlich.

»Geh jetzt!« Der Prinz streckte die Hand aus und gab Deornoth einen leichten Schlag aufs Knie. »Besorg dir etwas zu essen, und dann schlaf. Du brauchst vor morgen nicht zum Dienst zu erscheinen.«

»Jawohl, Herr.« Der junge Erkynländer warf die Decke ab und nahm Haltung an. Mit bolzengeradem Rücken marschierte er aus dem Raum. Als er hinausgegangen war, saßen Josua und Isgrimnur schweigend da.

»Miriamel Gott-weiß-wohin verschwunden, und ein Wettrennen zwischen Leobardis und Elias mit unseren Toren als Ziel.« Der Prinz schüttelte den Kopf und rieb sich mit der Hand die Schläfen. »Lluth verwundet, die Hernystiri auf dem Rückzug, und Elias' Werkzeug Skali Herrscher vom Vestivegg – bis zum Grianspog-Gebirge. Und zu allem Überfluß noch Dämonen aus dem Reich der Sage, die über die sterbliche Erde wandeln.« Er zeigte dem Herzog ein grimmiges Lächeln. »Das Netz zieht sich zusammen, Onkel.«

Isgrimnur wühlte mit den Fingern in seinem Bart. »Das Netz schwankt im Wind, Josua. In einem starken Wind.« Er erläuterte diese Bemerkung nicht weiter, und von neuem senkte sich Schweigen über die hohe Halle.


Der Mann in der Hundemaske fluchte matt und spie einen weiteren Blutklumpen in den Schnee. Jeder Geringere, das wußte er, wäre längst tot gewesen, hätte er mit zerschmetterten Beinen und zerquetschten Rippen in der Kälte liegen müssen. Aber dieser Gedanke war nur ein schwacher Trost. All die Jahre ritueller Übung und abhärtender Knochenarbeit, die ihm das Leben gerettet hatten, als das sterbende Pferd sich über ihn gewälzt hatte, würden sich als sinnlos erweisen, wenn er nicht bald einen geschützten, trockenen Ort erreichte. Noch ein paar Stunden im Schnee würden vollenden, was sein sterbendes Roß begonnen hatte.

Die verdammten Sithi – deren unerwartetes Eingreifen geradezu unglaublich war – hatten ihre menschlichen Gefangenen nur wenige Schritte neben der Stelle vorbeigeführt, an der er versteckt gelegen hatte, begraben unter einem halben Fuß Schnee. Er hatte alle Reserven an Kraft und Mut aufgeboten, um übernatürlich still auszuharren, während das Schöne Volk sich auf dem Platz umsah. Sie mußten zu dem Schluß gekommen sein, er habe sich irgendwo verkrochen, um zu sterben – worauf er natürlich gehofft hatte –, und waren bald weitergezogen.

Jetzt duckte er sich zitternd dort zusammen, wo er sich aus der verhüllenden weißen Decke hervorgewühlt hatte, und sammelte seine Kräfte für den nächsten Schritt. Seine einzige Hoffnung lag darin, auf irgendeine Weise nach Haethstad zurückzugelangen, wo inzwischen zwei seiner eigenen Männer auf ihn warten mußten. Er verfluchte sich selbst hundertfach, weil er so dumm gewesen war, sich auf Skalis ungeschickte Tölpel zu verlassen – betrunkene Plünderer und Frauenprügler, nichts anderes waren sie, nicht wert, ihm die Stiefel zu putzen. Wäre er nur nicht gezwungen gewesen, seine eigenen Leute in einer anderen Sache fortzuschicken!

Er schüttelte den Kopf, um die wirbelnden, tanzenden Lichtfünkchen loszuwerden, die vom allmählich dunkler werdenden Himmel herunterschwebten. Dann spitzte er die aufgesprungenen Lippen. Aus der geifernden Hundeschnauze ertönte höchst unpassend der Schrei einer Schnee-Eule. Während er wartete, versuchte er nochmals vergeblich aufzustehen, oder wenigstens zu kriechen. Es war sinnlos; beide Beine schienen ernstlich verletzt. Ohne sich um den brennenden Schmerz in den gebrochenen Rippen zu kümmern, zog er sich mit den Händen ein Stück näher auf die Bäume zu, mußte dann aber innehalten. Flach lag er auf dem Boden und rang nach Luft.

Gleich darauf spürte er heißen Wind und hob den Kopf. Wie in einem wunderlichen Spiegel hatte sich die schwarze Schnauze des Helms verdoppelt: Wenige Zoll von ihm entfernt grinste ein weißes Maul.

»Niku'a«, keuchte er in einer Sprache, die keine Ähnlichkeit mit seiner Schwarz-Rimmerspakk hatte. »Komm her, Udun verdamm dich! Komm!«

Der gewaltige Hund kam einen weiteren Schritt näher, bis er hoch vor seinem verletzten Herrn aufragte.

»Jetzt … bleib stehen«, befahl der Mann und griff mit starken Händen nach dem weißen Lederhalsband, um sich daran festzuhalten. »Und zieh

Er stöhnte qualvoll auf, als der Hund wirklich zog, aber sein Griff blieb fest. Unter der starren Hundemaske des Helms hatte er die Zähne zusammengebissen, die Augen wollten ihm aus dem Kopf treten. Der hämmernde, reißende Schmerz machte ihn beinahe ohnmächtig, als der Hund ihn holpernd über den Schnee zerrte, aber er lockerte keinen Finger, bevor er den Schutz der Bäume erreicht hatte. Erst dann ließ er los, ließ alles los. Er glitt hinab in die Dunkelheit, fand kurzen Aufschub von seinen Schmerzen.

Als er aufwachte, war das Grau des Himmels um mehrere Töne dunkler geworden, und der Wind hatte eine pudrige Schneeschicht über ihn gelegt wie eine Decke. Noch immer wartete der gewaltige Hund Niku'a, trotz seines kurzen Felles ungerührt und ohne zu zittern, so als liege er behaglich vor einem lodernden Kamin. Der Mann auf der Erde war nicht überrascht; er kannte die eisigen schwarzen Zwinger von Sturmspitze gut und wußte, wie die Tiere dort aufwuchsen. Er betrachtete Niku'as rotes Maul und die krummen Zähne, die winzigen weißen Augen wie milchige Gifttropfen und war wieder einmal dankbar, daß er den Hunden folgte, und nicht umgekehrt.

Er streifte den Helm ab – nicht ohne Mühe, denn der Sturz hatte ihn verbogen – und stellte ihn neben sich in den Schnee. Dann schnitt er mit dem Messer seinen schwarzen Mantel in lange Streifen. Bald darauf begann er mühselig, ein paar schlanke, junge Bäume abzusägen. Es war eine furchtbare Arbeit für seine geschundenen Rippen, aber er mißachtete, so gut er konnte, den brennenden Schmerz und arbeitete weiter. Er hatte zwei hervorragende Gründe, am Leben zu bleiben: die Pflicht, seiner Gebieterin vom unerwarteten Angriff der Sithi zu berichten, und seinen eigenen, noch stärker gewordenen Wunsch nach Rache an diesem zusammengewürfelten Gesindel, das ihm schon allzu oft einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte.

Das blauweiße Auge des Mondes spähte längst neugierig durch die Baumwipfel, als er endlich mit dem Schneiden fertig war. Mit Hilfe der Streifen aus dem Mantel band er sich eine Anzahl der kürzeren Stöcke als Schienen fest um beide Beine. Dann saß er da, die Beine steif vor sich ausgestreckt wie ein Kind, das im Staub Nullen und Kreuze spielt, und schnürte kurze Querstücke an die Spitzen der beiden langen Stäbe, die übriggeblieben waren. Er hielt sie vorsichtig fest und packte dann wieder Niku'as Halsband, um sich von dem langen, leichenweißen Hund in die Höhe ziehen zu lassen. Gefährlich schwankend stand er da, bis es ihm gelang, sich die neugebauten Krücken unter die Arme zu schieben.

Er versuchte ein paar Schritte und schaukelte dabei ungeschickt auf den starren Beinen. Es würde schon gehen, entschied er und zuckte vor dem bohrenden Schmerz zusammen, aber er hatte keine Wahl.

Er warf einen Blick auf den Helm mit der geifernden Schnauze, der unter ihm im Schnee lag, und überlegte, wie mühsam es sein würde, ihn aufzuheben, und wie schwer dieses jetzt unbrauchbare Ding wöge. Dann bückte er sich keuchend und griff trotzdem danach. In den heiligen Höhlen von Sturmrspeik war ihm der Helm verliehen worden, von IHR, als sie ihn zu ihrem geweihten Jäger ernannte – ihn, einen Sterblichen! Er konnte ihn ebensowenig im Schnee liegenlassen, wie er sein eigenes pochendes Herz hätte aufgeben können. Er erinnerte sich an jenen unfaßlichen, berauschenden Augenblick, an das Flackern der blauen Lichter in der Halle der Atmenden Harfe, als er vor dem Thron, vor dem ruhig-gelassenen Schimmer ihrer silbernen Maske gekniet hatte.

Kurze Zeit betäubte der Wein der Erinnerung den furchtbaren Schmerz. Niku'a trottete lautlos hinter ihm her, und Ingen Jegger kletterte hinkend den langen, bewaldeten Hang hinunter und dachte dabei sorgfältig über seine Rache nach.


Simon und seine Gefährten, jetzt um einen Mann vermindert, spürten wenig Lust zum Reden, und die Sithi ermunterten sie auch nicht dazu. Schweigend stapften sie langsam durch den Schneeteppich der Vorberge, während der graue Nachmittag in den Abend überging.

Die Sithi schienen ihr Ziel genau zu kennen, obwohl für Simon die fichtenbedeckten Hänge alle gleich aussahen und ein Fleck wie der andere schien. Zwar bewegten sich die Bernsteinaugen des Anführers rastlos im maskenhaften Gesicht, aber nie machte er den Eindruck, als suche er etwas; eher sah es aus, als lese er die komplizierte Sprache der Landschaft so kenntnisreich wie Vater Strangyeard die Bücher auf seinen Regalen.

Das einzige Mal, daß der Sithiführer überhaupt eine Regung zeigte, war gleich zu Anfang ihres Marsches, als Qantaqa eine Böschung heruntergetrottet kam und sich zu Binabik gesellte; mit zuckender Nase schnüffelte sie an der Hand des Trolls, den Schwanz unruhig zwischen den Beinen. Der Sitha hob mit leiser Neugier die Brauen und tauschte dann Blicke mit seinen Kameraden, deren ohnehin schmale Augen noch schmaler geworden waren. Er gab kein für Simon erkennbares Zeichen, aber die Wölfin durfte ungehindert neben ihnen herlaufen.

Das Tageslicht verschwand bereits, als die seltsamen Wandergefährten endlich nach Norden umschwenkten und kurz darauf langsam den Fuß eines Steilhanges umkreisten, dessen verschneite Flanken mit daraus hervorragenden, kahlen Felsen besetzt waren. Simon, dessen Schock und Betäubtheit sich soweit gelegt hatten, daß er sich seiner schmerzhaft kalten Füße nur allzu bewußt war, empfand stille Dankbarkeit, als der Anführer der Sithi ihnen winkte, stehenzubleiben.

»Hier«, sagte er und deutete auf einen gewaltigen Felsblock, der sich hoch über ihren Köpfen türmte. »Unten.« Er deutete wieder, diesmal auf einen breiten, gürtelhohen Spalt an der Vorderseite des Felsens. Bevor noch jemand ein Wort sagen konnte, schlüpften zwei der Sithiwachen behend an ihnen vorbei und glitten, den Kopf voran, in die Öffnung. Gleich darauf waren sie verschwunden.

»Du«, forderte der Anführer Simon auf. »Folge ihnen.«

Von Haestan und den beiden anderen Soldaten kam ein zorniges Murmeln, aber Simon fühlte trotz ihrer ungewöhnlichen Lage kein Mißtrauen. Er kniete nieder und steckte den Kopf in die Öffnung.

Dahinter lag ein schmaler, schimmernder Tunnel, ein eisgefütterter Schlauch, der steil nach oben und von ihm weg führte, anscheinend unmittelbar in den Stein des Berges gehauen. Die Sithi vor ihm mußten wohl schon hinter der nächsten Biegung verschwunden sein, denn sie waren nicht mehr zu sehen, und in dem glasglatten, engen Gang, kaum breit genug, um die Arme darin zu heben, hätte sich niemand verstecken können.

Simon duckte sich und kroch wieder in die kalte Luft hinaus.

»Wie komme ich dort weiter? Es geht fast senkrecht nach oben, und alles ist mit Eis bedeckt. Ich würde nur wieder herunterrutschen.«

»Schau über deinen Kopf«, antwortete der Anführer der Sithi. »Dann wirst du verstehen.«

Simon kehrte in den Tunnel zurück und schob sich ein kleines Stück weiter vor, bis auch Schultern und Oberkörper darinsteckten und er sich umdrehen und in die Höhe blicken konnte. Das Eis der Tunneldecke, sofern man etwas, das nur eine halbe Armlänge über einem lag, als Decke bezeichnen konnte, wies in regelmäßigen Abständen waagrechte Einschnitte auf, die sich über die ganze Länge des Ganges, soweit man sie überblicken konnte, fortsetzten. Jeder Einschnitt war mehrere Zoll tief und breit genug, beiden Händen nebeneinander bequem Platz zu bieten. Nach einigem Überlegen begriff Simon, daß er sich an Händen und Füßen hochziehen und dabei mit dem Rücken gegen den Tunnelboden stemmen sollte.

Diese Vorstellung bereitete ihm einiges Unbehagen, denn er hatte nicht die geringste Ahnung, wie lang der Tunnel war und mit wem er ihn möglicherweise zu teilen hatte. Er erwog, sich nochmals durch den engen Gang nach draußen zu zwängen. Aber dann änderte er seine Meinung. Die Sithi vor ihm waren den Tunnel so schnell hinaufgehuscht wie Eichhörnchen, und aus irgendeinem Grund fühlte er den Drang, ihnen zu zeigen, daß er, wenn schon nicht so behende wie sie, doch kühn genug war, ihnen ohne weiteres Zureden zu folgen.

Der Aufstieg war schwierig, aber nicht unmöglich. Der Tunnel wechselte so häufig die Richtung, daß der Junge immer wieder Halt machen und sich ausruhen konnte, indem er sich mit den Füßen an den Biegungen des Ganges abstützte. Während er langsam griff, zog und stemmte, immer wieder, bis zum Krampf in den Muskeln, wurde ihm der Vorteil eines derartigen Tunneleinganges – wenn es wirklich einer war – überdeutlich: Das Hinaufklettern war äußerst mühsam und für nicht-zweibeinige Tiere so gut wie unmöglich; wer aber eilig das Weite suchen mußte, konnte so schnell darin hinabgleiten wie eine Schlange.

Gerade überlegte er, ob er eine weitere Rast einlegen sollte, als er über seinem Kopf Stimmen hörte, die sich in der fließenden Sithisprache unterhielten. Gleich darauf griffen starke Hände nach ihm, packten ihn bei den Verschlußriemen seines Kettenhemdes und zogen ihn in die Höhe. Überrascht nach Luft schnappend schoß er aus dem Tunnel und stolperte auf einen warmen Steinboden voller Pfützen aus geschmolzenem Schnee.

Die beiden Sithi, die ihn herausgezogen hatten, hockten neben der Mündung des Tunnels. Ihre Gesichter waren im Halbdunkel kaum zu erkennen. Das einzige Licht in dem Raum, der eigentlich weniger ein Raum war als vielmehr eine sorgsam von allem Geröll gesäuberte Felshöhle, kam aus einer türgroßen Spalte in der gegenüberliegenden Wand. Aus dieser Lücke drang gelber Glanz und malte einen hellen Streifen auf den Höhlenboden. Als Simon auf die Knie kommen wollte, fühlte er eine schmale Hand auf der Schulter, die ihn zurückhielt. Der dunkelhaarige Sitha neben ihm zeigte auf die niedrige Decke und machte dann eine winkende Bewegung nach der Tunnelmündung.

»Warten«, sagte er ruhig. Die Sprache war ihm nicht so geläufig wie seinem Anführer. »Müssen warten.«

Haestan kam als nächster nach oben, murrend und knurrend. Die beiden Sithi mußten seine umfangreiche Gestalt in der Öffnung lockern wie den Korken an einem Weinkrug. Binabik folgte ihm auf den Fersen – der geschickte Troll hatte den Erkynländer mit Leichtigkeit eingeholt –, und bald danach waren auch Sludig und Grimmric oben. Die drei übrigen Sithi kletterten geschmeidig hinterher.

Sobald der letzte der Schönen den Tunnel verlassen hatte, ging es weiter. Die Männer durchschritten die Türöffnung im Felsen und traten in einen kurzen Gang, in dem sie endlich wieder aufrecht stehen konnten. Dort waren in Wandnischen Lampen aus einer Art milchiggoldenem Kristall oder Glas aufgestellt, deren flackerndes Licht ausreichte, den Schein der Tür am anderen Ende zu überdecken, bis sie fast davor standen. Einer der Sithi näherte sich der Lücke im Stein, die im Gegensatz zu der ersten mit einem Vorhang aus dunklem Stoff verhüllt war, und rief etwas. Gleich darauf schoben sich zwei weitere Sithi hinter dem Tuch hervor. Sie hielten kurze Schwerter in der Hand, die aus einem schwärzlichen Metall zu bestehen schienen. Stumm und wachsam standen sie da, ohne Überraschung oder Neugier zu verraten, als der Anführer, der die Menschen gefangengenommen hatte, sprach.

»Wir werden euch die Hände binden.« Bei diesen Worten zogen die anderen Sithi zusammengerollte Längen glänzendschwarzer Schnüre unter den Kleidern hervor.

Sludig trat einen Schritt zurück und stieß gegen einen der Wächter, der ein leises Zischen von sich gab, jedoch friedlich blieb.

»Nein«, erklärte der Rimmersmann mit gefährlich gepreßter Stimme, »das lasse ich nicht zu. Niemand fesselt mich gegen meinen Willen.«

»Mich auch nicht«, fiel Haestan ein.

»Seid nicht töricht«, sagte Simon, trat vor und streckte die gekreuzten Handgelenke aus. »Wir werden hier wahrscheinlich mit heiler Haut herauskommen, aber nicht, wenn ihr hingeht und einen Streit vom Zaun brecht.«

»Simon spricht das Rechte«, verkündete Binabik. »Auch ich werde mich binden lassen. Ihr zeigt keine Vernunft, wenn ihr anders handelt. Simons Weißer Pfeil ist echt. Er ist der Grund, daß man uns nicht getötet, sondern hierhergebracht hat.«

»Aber wie können wir…« begann Sludig.

»Außerdem«, schnitt ihm Binabik das Wort ab, »was wollt ihr tun? Selbst wenn ihr diese hier im Kampf besiegtet – und auch die anderen, die höchstwahrscheinlich hinter dem Vorhang warten –, was dann? Wenn ihr den Tunnel hinabrutschen wolltet, würdet ihr zweifellos krachend auf Qantaqa landen, die uns unten erwartet. Ich fürchte, ein solcher Schreck für sie würde euch kaum noch Gelegenheit lassen, ihr zu erzählen, daß ihr keine Feinde seid.«

Sludig sah einen Augenblick auf den Troll hinunter und erwog offenbar die Möglichkeiten, die mit einer Verwechslung durch die verängstigte Qantaqa verbunden waren. Endlich brachte er ein schwaches Lächeln zustande.

»Du gewinnst schon wieder, Troll.« Er streckte die Hände aus.

Die schwarzen Schnüre waren kühl und schuppig wie Schlangenhaut, aber geschmeidig wie geölte Lederriemen. Simon merkte, daß einige wenige Schlingen seine Hände so unbeweglich machten, als wären sie in einer Riesenfaust gefangen. Als die Sithi alle gefesselt hatten, wurde die Gruppe weitergeführt, durch die stoffverhängte Tür hindurch, mitten in eine blendende Lichtflut.

Wenn Simon sich später daran zu erinnern versuchte, kam es ihm vor, als seien sie durch die Wolken in ein strahlendes, schimmerndes Land eingedrungen – irgendeinen nahen Nachbarn der Sonne. Nach dem öden Schnee und den einförmigen Tunneln war es ein Unterschied wie zwischen dem wilden Taumel des Neunter-Tag-Festes und den acht grauen Tagen, die ihm vorangingen.

Das Licht und seine Magd, die Farbe, leuchteten überall. Der Raum war eine Felsenkammer von weniger als doppelter Mannshöhe, aber gewaltiger Ausdehnung. Baumwurzeln wanden sich mit festem Griff die Wände hinunter. In einer dreißig Fuß entfernten Ecke sprang ein glitzernder Wasserstrahl über eine Steinrinne, um dann, in hohem Bogen aufsprühend, in einen Teich zu fallen, der in ein natürliches Steinbecken gefaßt war. Das zarte Murmeln des Wasserfalles mischte sich mit der fremdartig kunstvollen Musik, die in der Luft schwebte.

Lampen, wie sie den steinernen Gang gesäumt hatten, standen überall und warfen je nach Machart gelbe, elfenbeinweiße, kalkig-blaßblaue oder rosenrote Strahlen in die Steingrotte, die sie, miteinander verschmelzend, in hundert verschiedenen Farbtönen malten. In der Mitte brannte auf dem Boden, unweit vom Rand des gekräuselten Teiches, ein lebhaftes Feuer, dessen Rauch durch einen Spalt in der Decke abzog.

»Elysia, heilige Ädonsmutter«, sagte Sludig ehrfürchtig.

»Hab nie gewußt, daß hier unten auch nur eine Karnickelhöhle war.« Grimmric schüttelte den Kopf. »Und was haben sie – einen Palast.«

Etwa ein Dutzend Sithi – soweit Simon auf Anhieb erkennen konnte, alles Männer – hielten sich in der Höhle auf. Mehrere hatten sich schweigend vor einem Paar niedergelassen, das auf einem hohen Felsblock saß. Der eine hielt ein langes, flötenähnliches Instrument, während der andere sang. Die Musik klang so seltsam in Simons Ohren, daß er ein Weilchen brauchte, um Stimme und Flöte voneinander zu unterscheiden und beide gegen die fortdauernde Melodie des Wasserfalles abzugrenzen. Aber das zarte, trillernde Lied, das sie spielten, griff ihm so schmerzlich ans Herz, daß seine kurzen Nackenhaare sich sträubten. So fremdartig es sich auch anhörte, es lag etwas darin, das ihn wünschen ließ, hier niederzusinken und sich nicht mehr zu rühren, solange die sanfte Musik weiterspielte.

Die nicht um die Musizierenden Versammelten unterhielten sich leise oder lagen einfach auf dem Rücken und blickten nach oben, als könnten sie durch das massive Gestein des Berges in den Nachthimmel darüber sehen. Die meisten drehten sich einen Augenblick um und warfen einen prüfenden Blick auf die Gefangenen am Höhleneingang, gerade so, wie ein Mann, der eben einer guten Geschichte lauscht, vielleicht den Kopf hebt und einer vorbeilaufenden Katze nachschaut.

Simon und seine Gefährten, von niemandem auf einen solchen Anblick vorbereitet, waren mit großen Augen stehengeblieben. Der Anführer ihrer Bewacher durchquerte den Raum. An der entgegengesetzten Wand saßen an einem Tisch, der aus einem glänzendweißen, oben abgeflachten, hohen Steinknollen bestand, zwei weitere Sithi einander gegenüber. Beide starrten angestrengt auf die ebenfalls von einer der seltsamen Lampen erhellte Tischplatte. Der Waldhüter blieb stehen und verharrte wortlos in einiger Entfernung, als warte er darauf, bemerkt zu werden.

Der Sitha, der den Gefährten den Rücken zukehrte, trug eine wundervolle laubgrüne Jacke mit hohem Kragen, dazu Hosen und hohe Stiefel in derselben Farbe. Sein langes, geflochtenes Haar war von noch feurigerem Rot als Simons, und seine Hände, mit denen er etwas über die Tischplatte bewegte, glitzerten von Ringen. Ihm gegenüber saß ein anderer, der gespannt die Bewegungen seiner Hand beobachtete. Dieser zweite war in ein loses, weißes Gewand gehüllt, das er von den mit Armbändern geschmückten Unterarmen zurückgestreift hatte. Sein Haar zeigte die blasse Tönung bläulichen Heidekrautes. Vor beiden Ohren hing eine einzelne, glänzendschwarze Krähenfeder. Noch während Simon zu ihm hinübersah, blitzten die Zähne des Weißgekleideten; er sagte etwas zu dem Mann auf der anderen Tischseite, griff dann nach unten und schob irgend etwas nach vorn. Simons Blick wurde noch schärfer; er blinzelte: Ja, es war der Sitha, den er aus der Falle des Kätners befreit hatte. Er war sich ganz sicher.

»Das ist er!« flüsterte er Binabik erregt zu. »Der, dem der Pfeil gehört.«

Noch während er das sagte, näherte sich der Waldhüter dem Tisch, und der von Simon Wiedererkannte schaute auf. Der Hüter sprach ein paar schnelle Worte, aber der Weißgekleidete warf den Gefangenen nur einen kurzen Blick zu, machte eine entlassende Handbewegung und widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem, was Simon jetzt entweder für eine Landkarte oder für ein Spielbrett hielt. Sein rothaariges Gegenüber drehte sich nicht einmal um, und gleich darauf kam ihr Ergreifer wieder zu ihnen.

»Ihr müßt warten, bis der edle Jiriki fertig ist.« Er richtete den ausdruckslosen Blick auf Simon. »Weil dir der Pfeil gehört, darfst du dich ohne Fesseln bewegen. Die anderen müssen gebunden bleiben.«

Simon, nur einen Steinwurf von dem Mann entfernt, der sich zu seinem Schuldner erklärt hatte, ohne daß dieser ihn überhaupt beachtete, war in Versuchung, sich durchzudrängen und dem weißgekleideten Sitha unmittelbar gegenüberzutreten – Jiriki oder wie er hieß. Binabik, der seine Anspannung spürte, stieß ihn warnend an.

»Wenn die anderen gefesselt bleiben müssen, will ich es auch«, antwortete Simon endlich. Zum erstenmal sah er etwas Unerwartetes über das Gesicht seines Ergreifers huschen: Unbehagen.

»Aber es ist ein Weißer Pfeil«, beharrte der Anführer der Wächter. »Du solltest kein Gefangener sein, solange nicht bewiesen ist, daß du ihn unredlich erworben hast; aber ich kann deine Gefährten nicht freilassen.«

»Dann bleibe auch ich gebunden«, erwiderte Simon fest.

Der andere warf ihm einen kurzen Blick zu und schloß mit langsamem Reptilblinzeln die Augen, um sie sofort mit unglücklichem Lächeln wieder zu öffnen.

»Dann muß es so sein«, erklärte er. »Ich binde nur ungern den, der den Staj'a Ame trägt, aber ich sehe keine andere Möglichkeit. Über mein Herz möge es kommen, ob Recht oder Unrecht.« Dann neigte er, seltsamerweise fast respektvoll, den Kopf und richtete die leuchtenden Augen auf Simon. »Meine Mutter nannte mich An'nai«, verkündete er.

Simon, völlig verdutzt, ließ einen langen Augenblick verstreichen, bis er Binabiks Stiefel knirschend auf seinem Zeh spürte. »Oh!« erwiderte er. »Ich heiße … meine Mutter nannte mich Simon … oder eigentlich Seoman.« Als er sah, daß der Sithi zufrieden nickte, beeilte er sich hinzuzufügen: »Und das hier sind meine Gefährten – ihre Mütter nannten sie Binabik von Yiqanuc, Haestan und Grimmric von Erkynland sowie Sludig von Rimmersgard.«

Vielleicht, dachte Simon, würde diese von ihm erzwungene Vorstellung helfen, seine Gefährten zu schützen, nachdem der Sitha auf das gegenseitige Mitteilen der Namen offensichtlich so großen Wert gelegt hatte.

An'nai nickte wieder und glitt davon, um sich erneut vor dem Steintisch aufzustellen. Seine Mitwächter halfen den Gefesselten überraschend sanft, sich hinzusetzen, und zerstreuten sich dann in der Höhle.

Simon und die anderen unterhielten sich in leisem Ton, mehr durch die seltsam verschlungene Musik gedämpft als durch den Ernst ihrer Lage.

»Immerhin«, bemerkte Sludig endlich, nachdem er sich bitterlich über die ihnen zuteilgewordene Behandlung beschwert hatte, »sind wir wenigstens noch am Leben. Wenige Menschen begegnen Dämonen und haben soviel Glück dabei.«

»Du bist schon großartig, Simon, Bursche!« lachte Haestan. »Wirklich großartig! Läßt das Schöne Volk Verbeugungen und Kratzfüße machen! Wir dürfen nur nicht vergessen, uns einen Sack Gold zu wünschen, bevor wir uns wieder verabschieden.«

»Verbeugungen und Kratzfüße?« Simon lächelte in unglücklicher Selbstironie. »Und bin ich etwa frei? Trage ich keine Fesseln? Esse ich zu abend?«

»Wie wahr.« Haestan schüttelte betrübt den Kopf. »Ein kleiner Happen wäre jetzt schon recht. Und ein oder zwei Krüge.«

»Ich denke, wir werden nichts erhalten, bevor Jiriki uns nicht begrüßt hat«, meinte Binabik. »Aber wenn er wirklich derjenige ist, den Simon gerettet hat, essen wir vielleicht noch gut.«

»Glaubst du, daß er ein wichtiger Mann ist?« fragte Simon.

»An'nai nannte ihn ›den edlen Jiriki‹.«

»Sofern es nicht noch einen anderen gibt, der lebt und diesen Namen trägt…«, begann Binabik, wurde jedoch von dem zurückkehrenden An'nai unterbrochen. Mit ihm kam der gerade erwähnte Jiriki, den Weißen Pfeil in der Hand.

Mit einer Geste rief er zwei von den anderen Sithi herbei und befahl ihnen, die Gefangenen loszubinden. Dann drehte er sich um und sagte etwas Schnelles in seiner fließenden Sprache. Die melodischen Worte hatten einen vorwurfsvollen Unterton. An'nai hörte Jirikis Zurechtweisung, falls es so etwas war, ausdruckslos an und senkte lediglich den Blick.

Simon, der ihn genau beobachtete, war sicher, daß es sich – dachte man sich die blauen Flecke und Schnittwunden vom Angriff des Kätners weg – um denselben Sitha handelte.

Jiriki machte eine Handbewegung, und An'nai entfernte sich. Wegen seiner selbstsicheren Haltung und der Achtung, die seine Umgebung ihm zollte, hatte Simon ihn zunächst für älter gehalten, zumindest für ebenso alt wie die anderen Sithi. Jetzt aber, trotz der seltsamen Alterslosigkeit der goldenen Gesichter, hatte Simon plötzlich das Gefühl, der edle Jiriki sei, zumindest nach Sithi-Rechnung, noch jung.

Während die Gefangenen sich wieder Gefühl in die befreiten Handgelenke rieben, hielt Jiriki den Pfeil in die Höhe. »Vergebt das Warten. An'nai hat sich geirrt, weil er weiß, wie ernst ich das Shent-Spiel nehme.« Seine Augen wanderten von den Gefährten nach dem Pfeil und wieder zurück. »Ich hätte niemals geglaubt, dich wiederzusehen, Seoman«, sagte er mit einem vogelartigen Heben des Kinns und einem Lächeln, das seine Augen nie ganz erreichte. »Aber eine Schuld ist eine Schuld … und der Staj'a Ame bedeutet sogar noch mehr. Du hast dich verändert seit unserer ersten Begegnung. Damals ähneltest du mehr einem wilden Tier als deinen Mitmenschen. Du schienst auf mancherlei Weise verirrt.« Sein Blick brannte hell.

»Auch Ihr habt Euch verändert«, erwiderte Simon.

Über Jirikis eckige Züge huschte ein Anflug von Schmerz. »Drei Nächte und zwei Tage hing ich in der Falle jenes Sterblichen. Bald wäre ich gestorben, auch dann, wenn der Holzfäller nicht gekommen wäre – vor Scham.« Seine Miene änderte sich, als habe er über seiner Verletzlichkeit einen Deckel geschlossen. »Nun kommt«, sagte er, »wir müssen euch zu essen geben. Es ist bedauerlich, daß wir euch nicht so gute Dinge vorsetzen können, wie ich es gern täte, aber wir bringen nur wenig mit in unsere«, er machte eine Bewegung nach dem Raum, während er das passende Wort suchte, »… Jagdhütte.«

Obwohl er die Westerlingsprache wesentlich geläufiger sprach, als Simon es bei ihrer ersten Begegnung für möglich gehalten hätte, zeigte seine Redeweise doch etwas Zögerndes und zugleich Übergenaues, das darauf hindeutete, wie fremdartig die Sprache ihm erscheinen mußte.

»Ihr seid … zum Jagen hier?« fragte Simon, während er sie ans Feuer führte und dort Platz nehmen ließ. »Was jagt Ihr? Die Berge kommen mir jetzt so leer vor.«

»Ah, aber das Wild, das wir suchen, ist zahlreicher denn je«, antwortete Jiriki und schritt an ihm vorbei auf eine Reihe von Gegenständen zu, die, zugedeckt mit einem schimmernden Tuch, an einer Wand der Höhle aufgestellt waren.

Der grüngekleidete, rothaarige Sitha stand vom Spieltisch auf, an dem An'nai Jirikis Platz eingenommen hatte, und sagte etwas in der Sithisprache, das fragend, vielleicht auch zornig klang.

»Ich will unseren Besuchern nur unsere Jagdbeute zeigen, Onkel Khendraja'aro«, erklärte Jiriki munter, aber wieder schien es Simon, als mangele dem Lächeln des Sitha etwas.

Jiriki kniete geschmeidig neben der Reihe der zugedeckten Formen nieder, als lande ein Seevogel. Mit einer schwungvollen Bewegung zog er das Tuch fort und enthüllte ein halbes Dutzend große, weißhaarige Köpfe, die toten Gesichter zu geiferndem Haß erstarrt.

»Bei Chukkus Eiern!« fluchte Binabik. Die anderen schnappten nach Luft.

Simon brauchte einen entsetzten Augenblick, bis er die lederhäutigen Züge erkannte.

»Riesen!« stammelte er endlich. »Hunen!«

»In der Tat«, erwiderte Prinz Jiriki und drehte sich zu ihm um. In seiner Stimme blitzte Gefahr. »Und ihr, sterbliche Eindringlinge … was jagt ihr in meines Vaters Bergen?«

XXXVIII Uralte Lieder

Deornoth erwachte in eisiger Dunkelheit. Er schwitzte. Draußen zischte und heulte der Wind und krallte sich in die Fensterläden wie ein Schwarm der einsamen Toten. Deornoths Herz blieb fast stehen, als er eine dunkle Gestalt vor sich stehen sah, ein scharfer Umriß vor der Glut im Kamin.

»Hauptmann!« Es war einer seiner Männer, Panik in der flüsternden Stimme. »Jemand kommt auf das Tor zu! Bewaffnete!«

»Gottes Baum!« fluchte er und zwängte sich in die Stiefel. Er warf das Kettenhemd über den Kopf, packte Schwertscheide und Helm und folgte dem Soldaten nach draußen.

Vier weitere Männer kauerten, hinter die Brüstung geduckt, auf der obersten Plattform des Torhauses. Der Wind warf Deornoth fast um. Hastig ließ er sich in die Hocke fallen.

»Dort, Hauptmann!« Es war der Mann, der ihn geweckt hatte. »Sie kommen durch den Ort, die Straße hoch!« Er beugte sich an Deornoth vorbei nach vorn und deutete mit dem Finger.

Das Mondlicht, das durch die vorüberströmenden Wolken schien, versilberte das schäbige Stroh auf den dicht aneinandergedrängten Hausdächern der Stadt Naglimund. Tatsächlich gab es eine Bewegung auf der Straße, ein kleiner Trupp Berittener, vielleicht ein Dutzend stark.

Die Männer auf dem Torhaus beobachteten, wie die Reiter näher kamen. Einer der Soldaten stöhnte leise vor sich hin. Auch Deornoth empfand das Schmerzhafte dieses Wartens. Besser war es, wenn die Hörner gellten und das Schlachtfeld voller Rufe war.

Es ist das Warten, das uns alle so entmutigt, dachte Deornoth. Wenn sie erst wieder Blut geleckt haben, werden unsere Naglimunder sich wacker schlagen.

»Es müssen noch mehr sein; sie haben sich versteckt!« flüsterte ein anderer Soldat. »Was sollen wir tun?« Selbst im Schreien des Windes kam seine Stimme ihnen laut vor. Wie konnten die Reiter dort unten sie nicht hören?

»Nichts«, erklärte Deornoth fest. »Abwarten.«

Es schien Stunden zu dauern, bis die Reiter näherkamen. Der Mond leuchtete auf blitzenden Speerspitzen und glänzenden Helmen, als die schweigenden Männer vor dem schweren Tor die Pferde zügelten und dasaßen, als lauschten sie auf etwas. Einer der Torwächter stand auf, spannte den Bogen und zielte auf die Brust des Vordersten. Noch während Deornoth, der die Anspannung im Gesicht des Wächters, die Verzweiflung in seinen Augen gesehen hatte, nach ihm sprang, ertönte von unten ein lautes Hämmern. Deornoth bekam den Bogenarm zu fassen und zwang ihn nach oben; der Pfeil sauste von der Sehne und verschwand in der windigen Finsternis über der Stadt.

»Beim guten Gott, öffnet das Tor!« schrie ein Mann, und wieder donnerte ein Speerende gegen die Bohlen. Es war die Stimme eines Rimmersmannes, aber, dachte Deornoth, fast lag ein Unterton von Wahnsinn darin. »Schlaft ihr denn alle? Laßt uns ein! Ich bin Isorn, Isgrimnurs Sohn, der aus der Hand unserer Feinde entkommen ist!«


»Seht! Seht doch, die Wolken reißen auf! Haltet Ihr das nicht auch für ein hoffnungsvolles Vorzeichen, Velligis?«

Bei seinen Worten beschrieb Herzog Leobardis mit der ausgestreckten Hand einen weiten Bogen zum offenen Fenster der Kabine hinüber und hätte dabei mit dem gepanzerten Arm fast seinen schwitzenden Knappen am Kopf getroffen. Der Knappe, im Begriff, dem Herzog die Beinschienen anzupassen, duckte sich, schluckte einen wortlosen Fluch hinunter und knuffte einen jungen Pagen, der ihm nicht schnell genug ausgewichen war. Der Page, der schon die ganze Zeit versucht hatte, sich in der vollgestopften Schiffskabine so klein wie möglich zu machen, erneuerte seine verzweifelten Anstrengungen, ganz und gar unsichtbar zu werden.

»Vielleicht sind wir in gewisser Weise das dünne Ende des Keils, der diesem Wahnsinn ein Ende setzen wird.« Leobardis klirrte zum Fenster. Sein Knappe kroch auf dem Boden hinter ihm her, bemüht, eine erst halb befestigte Beinschiene an ihrem Platz zu halten. Der bedeckte Himmel zeigte tatsächlich lange, wellige Streifen Blau, als fingen sich die tiefhängenden Wolken an den dunklen, massigen Klippen von Crannhyr, die dort, wo Leobardis' Flaggschiff, die Juwel von Emettin, unmittelbar vor ihnen ankerte, hoch über die Bucht ragten und die Wolken zerrissen.

Velligis, ein großer, dicker Mann in den Goldgewändern des Escritors, stampfte zum Fenster und stellte sich neben den Herzog.

»Wie kann Öl, das man ins Feuer gießt, beim Löschen helfen, Herr? Entschuldigt meine Dreistigkeit, aber der Gedanke ist töricht.«

Das Dröhnen der Appelltrommel hallte über das Wasser. Leobardis strich sich das strähnige weiße Haar aus den Augen. »Ich kenne die Gefühle des Lektors«, erwiderte er, »und ich weiß, daß er Euch, geliebter Escritor, angewiesen hat, mich zu überreden, von diesem Kampf abzulassen. Die Friedensliebe Seiner Heiligkeit … jawohl, sie ist bewunderungswürdig; aber Worte werden uns dieses Mal keinen Frieden bringen.«

Velligis öffnete eine kleine Messingschatulle und schüttelte ein Zuckerbonbon heraus, das er sich zierlich auf die Zunge legte. »Das klingt gefährlich nach Lästerung, Herzog Leobardis. Sind Gebete ›Worte‹? Ist die Einschaltung Seiner Heiligkeit des Lektors Ranessin vielleicht weniger wert als die Stärke Eurer Truppen? Wenn das so ist, wird unser Glaube an Usires' Wort und an das Wort seines ersten Schülers Sutrines zum Spott.« Der Escritor seufzte schwer und lutschte an seinem Bonbon.

Die Wangen des Herzogs röteten sich. Er winkte den Knappen beiseite und bückte sich knarrend, um selber die letzte Schnalle zu schließen. Dann befahl er seinen Überrock aus tiefblauem Tuch mit dem in Gold auf die Brust gestickten benidrivinischen Eisvogel.

»Gottes Segen mit mir, Velligis«, knurrte er ärgerlich, »aber ich habe heute anderes im Sinn, als mit Euch zu diskutieren. Der Hochkönig Elias hat mich zum Äußersten getrieben, und nun muß ich tun, was getan werden muß.«

»Aber Ihr zieht nicht selber in die Schlacht«, beharrte der Dicke und sprach erstmals mit einiger Hitzigkeit. »Ihr führt Hunderte, nein, Tausende von Männern an – von Seelen –, und in Eurer Hand liegt ihr Wohlergehen. Die Samen einer Katastrophe treiben im Wind, und Mutter Kirche trägt Mitverantwortung dafür, daß sie nicht auf fruchtbaren Boden fallen.«

Leobardis schüttelte betrübt den Kopf. Der kleine Page hielt ihm schüchtern den goldenen Helm mit dem blaugefärbten Roßhaarbusch hin.

»Fruchtbaren Boden gibt es heutzutage überall, Velligis, und die Katastrophe fängt bereits an zu sprießen – wenn Ihr mir diese Anleihe bei Euren poetischen Worten verzeiht. Unsere Aufgabe ist es, sie noch im Keim abzumähen. Kommt!« Er klopfte dem Escritor auf den fleischigen Arm. »Es ist Zeit, ins Landungsboot zu steigen. Begleitet mich.«

»Gewiß, guter Herzog, gewiß.« Velligis machte eine leichte Wendung zur Seite, um durch die schmale Tür zu schlüpfen. »Ihr werdet mir verzeihen, wenn ich nicht sofort mit Euch an Land gehe. Seit einiger Zeit fühle ich mich ein wenig unsicher auf den Beinen. Ich fürchte, ich werde alt.«

»Nun, Eure Rhetorik hat an Kraft nichts verloren«, bemerkte Leobardis, während sie langsam über das Deck schritten. Eine schmale, dunkelgekleidete Gestalt kreuzte ihren Weg, blieb kurz stehen und nickte ihnen mit über der Brust gefalteten Händen zu. Der Escritor zog die Stirn in Falten, aber Herzog Leobardis erwiderte das Nicken lächelnd.

»Nin Reisu fährt schon viele Jahre auf der Juwel von Emettin«, erklärte er, »und sie ist die beste aller Seewächterinnen. Ich schenke ihr die Formalitäten – die Niskies sind ohnehin ein seltsames Volk, Velligis, wie Ihr wissen würdet, wenn Ihr ein Seefahrer wärt. Kommt, dort drüben liegt mein Boot.«

Der Hafenwind verwandelte Leobardis' Mantel in ein Segel, das sich blau vor dem unschlüssigen Himmel blähte.

Als er landete, sah Leobardis seinen jüngsten Sohn Varellan, der ihn erwartete. Er sah aus, als sei er noch zu klein, um seine glänzende Rüstung richtig auszufüllen. Das schmale Gesicht lugte besorgt aus der Höhlung des Helmes hervor, während er zusah, wie sich die Nabbanai-Streitkräfte sammelten; so als könne sein Vater ihn für eine vielleicht nachlässige Aufstellung der wimmelnden, fluchenden Soldaten verantwortlich machen. Eine Gruppe von Männern drängte sich so achtlos an ihm vorbei, als wäre er der Trommeljunge, und fluchte fröhlich auf ein Pferdegespann ein, das sich, scheu geworden durch die allgemeine Verwirrung, von der Gangplanke ins seichte Wasser gestürzt und seinen Betreuer mitgenommen hatte. Varellan wich vor dem spritzenden, wiehernden Chaos zurück, die Stirn in Falten gezogen, die auch dann nicht verschwanden, als er den Herzog von dem auf Grund gelaufenen Boot herunterspringen und die letzten paar Schritte den felsigen Strand der Südküste von Hernystir hinaufwaten sah.

»Herr«, sagte er zögernd. Leobardis dachte bei sich, nun überlege er wohl, ob er vom Pferd steigen und vor ihm das Knie beugen solle. Der Herzog mußte einen unwilligen Blick unterdrücken. Er machte Nessalanta das scheue Wesen des Jungen zum Vorwurf, weil sie sich an ihn geklammert hatte wie ein Säufer an seinen Krug, um nicht zugeben zu müssen, daß auch das letzte ihrer Kinder erwachsen wurde. Natürlich war er auch nicht ohne Schuld. Nie hätte er sich über das aufkeimende Interesse des Jungen für die Priesterschaft lustig machen dürfen. Aber das war nun Jahre her, und der Lebensweg des Jungen ließ sich nicht mehr ändern; er würde Soldat bleiben, auch wenn er dabei sein Leben verlor.

»Nun, Varellan«, begrüßte ihn der Herzog und warf einen Blick in die Runde. »Gut, mein Sohn – es sieht ja aus, als wäre alles in Ordnung.«

Obwohl ihm der eigene Augenschein bestätigte, daß sein Vater entweder nicht bei Verstand war oder es allzu freundlich mit ihm meinte, schenkte ihm der junge Mann ein rasches, dankbares Lächeln. »Wir werden, denke ich, in zwei Stunden alle ausgeschifft haben. Wird heute nacht noch weitermarschiert?«

»Nach einer Woche auf See? Die Männer würden uns alle beide erschlagen und sich eine neue herzogliche Familie suchen. Obwohl sie dann vermutlich auch Benigaris erledigen müßten, um wirklich die ganze Linie auszurotten. Aber da wir gerade von deinem Bruder sprechen – warum ist er nicht hier?«

Er sagte es leichthin, obgleich er die Abwesenheit seines Ältesten ärgerlich fand. Nach wochenlangem bitterem Streit darüber, ob Nabban neutral bleiben sollte, und stürmischer Reaktion auf die Entscheidung des Herzogs, Prinz Josua zu unterstützen, hatte Benigaris seine Meinung völlig geändert und den Wunsch geäußert, sich seinem Vater und den Truppen anzuschließen. Der Herzog war überzeugt, Benigaris brächte es einfach nicht fertig, auf die Gelegenheit zu verzichten, die Legionen des Eisvogels in die Schlacht zu führen, selbst wenn das den Verzicht auf die Möglichkeit bedeutete, wenigstens für eine Weile seine Beine auf dem Thron der Sancellanischen Mahistrevis auszustrecken.

Er merkte, daß seine Gedanken abschweiften. »Nein, nein, Varellan, wir müssen den Leuten eine Nacht in Crannhyr lassen, obwohl es dort wahrscheinlich wenig Vergnügungen für sie geben wird, nachdem Lluths Krieg im Norden so übel ausgegangen ist. Wo, sagtest du, steckt Benigaris?«

Varellan errötete. »Ich habe gar nichts gesagt, Herr – es tut mir leid. Er ist mit seinem Freund, Graf Aspitis Preves, in die Stadt hinaufgeritten.«

Leobardis achtete nicht auf die Verlegenheit seines Sohnes. »Beim Baum, ich hätte es nicht für zuviel verlangt gehalten, wenn mein Sohn und Erbe mich hier erwartet hätte. Also gut, gehen wir nachsehen, wie es mit den anderen Führern steht.« Er schnalzte mit den Fingern, und der Knappe brachte das Roß des Herzogs. Am Geschirr klingelten die Glöckchen.


Sie fanden Mylin-sá-Ingadaris unter dem weißroten Albatrosbanner seines Hauses. Der alte Mann, seit vielen Jahren Leobardis' aufrichtiger Feind, rief den Herzog heran. Leobardis und Varellan saßen da und schauten zu, wie Mylin den Abschluß der Entladearbeiten an seinen beiden Karacken beaufsichtigte, und leerten dann in seinem gestreiften Zelt einen Humpen süßen ingadarinischen Weines mit dem alten Grafen.

Nachdem sie sich über Marschkarrees und Schlachtreihen ausgesprochen und Varellans wenig erfolgreiche Versuche, dabei ein Wort mitzureden, ertragen hatten, dankte Leobardis Graf Mylin für seine Gastfreundschaft und ging, seinen Jüngsten im Kielwasser. Sie nahmen von ihren Knappen wieder die Zügel entgegen und ritten weiter durch das geschäftige Feldlager, um den Lagerplätzen verschiedener anderer Edelleute kurze Höflichkeitsbesuche abzustatten.

Die beiden hatten gerade kehrtgemacht, um am Strand zurückzureiten, als dem Herzog eine vertraute Gestalt auf einem mächtigen, breitbrüstigen Rotschimmel ins Auge fiel, die, einen zweiten Ritter zur Seite, gemächlich die Straße von der Stadt heruntergeritten kam.

Benigaris' silberne Rüstung, sein kostbarster Besitz, war so mit Gravuren und kostspieligen Mustern aus Ilenit-Einlegearbeit übersät, daß es das Licht ablehnte, sich ordnungsgemäß darin zu spiegeln, und sie dadurch fast grau wirkte. Eingezwängt in seine Brünne, die etwas die übermäßige Fülle seines Körpers korrigierte, sah Benigaris in der Tat von Kopf bis Fuß nach einem Ritter ohne Furcht und Tadel aus. Der junge Aspitis daneben trug ebenfalls eine wundervoll gearbeitete Rüstung; das Fischadlerwappen seiner Familie war in Perlmutt in seine Brünne eingelegt. Auf einen Überrock, der die Rüstung verdeckte, hatte er verzichtet und ritt genau wie Benigaris ganz im Harnisch, rundum gepanzert wie ein glänzender Krebs.

Benigaris sagte etwas zu seinem Begleiter. Aspitis Preves lachte und ritt davon. Benigaris verließ die Straße und knirschte über den Kiesstrand auf seinen Vater und jüngeren Bruder zu.

»Das war Graf Aspitis, nicht wahr?« empfing ihn Leobardis und versuchte den bitteren Geschmack, der ihm tief im Hals saß, nicht in seine Stimme dringen zu lassen. »Ist das prevanische Haus seit neuestem unser Feind, daß der Graf nicht herkommen und seinem Herzog den Gruß entbieten kann?«

Benigaris lehnte sich im Sattel nach vorn und klopfte seinem Pferd den Hals. Leobardis konnte nicht sehen, ob er ihn unter den dichten schwarzen Brauen anblickte. »Ich habe Aspitis gesagt, daß wir ein persönliches Gespräch miteinander zu führen hätten. Er wollte kommen, aber ich habe ihn fortgeschickt. Er ging aus Respekt für Euch.« Er wandte sich Varellan zu, der in seiner glänzenden Rüstung ganz verloren aussah, und begrüßte den Bruder mit knappem Kopfnicken.

Leicht außer Fassung gebracht, wechselte der Herzog das Thema. »Was hat dich in die Stadt geführt, mein Sohn?«

»Neuigkeiten, Herr. Ich dachte, Aspitis, der schon früher hier gewesen ist, könnte mir helfen, nützliche Dinge in Erfahrung zu bringen.«

»Du warst lange fort, Benigaris.« Leobardis konnte nicht die Kraft aufbringen, wütend zu sein. »Was hast du herausgefunden – wenn überhaupt?«

»Nichts, das wir nicht schon von den Bootsleuten aus Abaingeat gehört hätten. Lluth ist verwundet und hat sich ins Gebirge zurückgezogen. Skali kontrolliert Hernystir, hat jedoch zu wenig Männer, um sich weiter auszudehnen, bevor nicht die Hernystiri im Grianspog endgültig unterworfen sind. Darum ist die Küste noch frei, ebenso alles Land diesseits von Agh Samrath – Nad Mullagh, Cuimhne, das ganze Flußgebiet bis hinauf zum Inniscrich.«

Leobardis rieb sich den Kopf und schielte auf den grellen Streifen, den die Sonne auf den Meeresspiegel malte. »Vielleicht könnten wir Prinz Josua am besten dadurch dienen, daß wir zuerst die Belagerung in Hernystir durchbrechen. Wenn wir Skali Scharfnase mit unseren zweitausend Mann in den Rücken fielen, hätten Lluths Truppen – oder das, was von ihnen übrig ist – wieder Spielraum, und Elias' eigener Rücken wäre ungeschützt, wenn er Naglimund belagert.«

Er erwog seinen Plan und fand ihn gut. Er schien ihm so zu sein, wie sein Bruder Camaris es geliebt hätte: schnell, energisch, ein Hieb wie ein Peitschenknall. Camaris, der wie eine klare Waffe gewesen war, hatte Feldzüge immer auf diese Art geführt – geradeheraus und ohne Zögern wie ein blitzender Hammer.

Benigaris schüttelte den Kopf; in seinem Gesicht zeigte sich etwas wie wirkliche Unruhe. »Nur das nicht, Herr! Wenn wir so vorgingen, brauchte Skali nur im Circoille zu verschwinden oder ebenfalls in die Grianspogberge zu klettern. Dann wären wir es, die festgenagelt wären wie eine aufgespannte Haut und warten müßten, bis die Rimmersmänner aus ihren Löchern kämen. Inzwischen könnte Elias Naglimund vernichten und dann über uns herfallen. Zwischen dem Hochkönig und dem Raben Skali würden wir zertreten werden wie eine Haselnuß.« Er schüttelte heftig den Kopf, als bereite der Gedanke ihm Angst.

Leobardis wandte sich von der blendenden Sonne ab. »Wahrscheinlich hast du recht, Benigaris, obwohl ich mich zu erinnern glaube, daß du noch vor kurzem ganz anders geredet hast.«

»Das war, bevor Ihr Euch entschloßt, das Heer in Marsch zu setzen, Herr.« Benigaris nahm den Helm ab und spielte einen Augenblick damit, bevor er ihn an seinen Sattelknopf hängte. »Jetzt, nachdem wir uns festgelegt haben, bin ich wie ein Löwe von Nascadu.«

Leobardis holte tief Atem. Die Luft roch nach Krieg, und der Geruch erfüllte ihn mit Unbehagen und Bedauern. Immerhin schien der Zerfall von Osten Ard nach den langen Jahren von Johans Frieden – dem Hochkönigsfrieden – wenigstens seinen starrköpfigen Sohn wieder zu ihm zurückgeführt zu haben. Das war etwas, wofür man dankbar sein mußte, so unbedeutend es auch in der Masse der größeren Ereignisse scheinen mochte. Der Herzog von Nabban richtete ein stilles Dankgebet an seinen verwirrenden, letzten Endes aber doch wohlwollenden Gott.


»Gelobt sei Usires Ädon, der dich uns zurückgegeben hat!« sagte Isgrimnur und merkte, daß ihm von neuem die Tränen in die Augen traten. Er beugte sich über das Bett und versetzte Isorns Schulter einen rauhen, begeisterten Stoß, der ihm einen scharfen Blick von Gutrun einbrachte. Sie war, seitdem er in der vorigen Nacht zu ihnen gekommen war, nicht von der Seite ihres erwachsenen Sohnes gewichen.

Isorn, dem die Strenge seiner Mutter nichts Neues war, grinste matt zu Isgrimnur hinauf. Er hatte die blauen Augen und das breite Gesicht seines Vaters, aber seitdem der Herzog ihn zum letzten Mal gesehen hatte, schien der Ausdruck blühender Jugend größtenteils daraus verschwunden zu sein; er sah abgehärmt und finster aus. So stämmig und breitschultrig er auch war, irgendeine Schwäche schien an ihm zu nagen.

Es sind nur seine schlimmen Erlebnisse und die Sorgen, die ihn so verändert haben, entschied der Herzog. Er ist doch ein kräftiger Kerl. Man sieht ja, wie er mit dem Getue seiner Mutter fertig wird. Er wird ein guter Mann werden – nein, er ist schon längst ein guter Mann geworden. Wenn er nach mir Herzog wird … wenn wir erst Skali brüllend zur Hölle hinabgeschickt haben…

»Isorn!« Eine neue Stimme verscheuchte den schweifenden Gedanken. »Es ist ein Wunder, dich wieder bei uns zu haben.« Prinz Josua bückte sich und ergriff Isorns Hand mit seiner Linken. Gutrun nickte zustimmend. Sie stand nicht auf, um vor dem Prinzen zu knicksen; anscheinend war ihr die Aufgabe als Mutter im Augenblick wichtiger als gute Manieren. Zudem schien es Prinz Josua nichts auszumachen.

»Zum Teufel mit solchen Wundern«, bemerkte Isgrimnur grob und runzelte die Stirn, damit ihn sein in der Brust schwellendes Herz nicht in Verlegenheit brachte. »Mit seinem Verstand und seinem Mut hat er seine Leute dort herausgebracht, und das ist bei Gott die Wahrheit.«

»Isgrimnur…«, warnte Gutrun. Josua lachte.

»Natürlich. Dann laß mich sagen, Isorn, daß dein Mut und dein Verstand ein wahres Wunder waren.«

Isorn setzte sich im Bett höher auf und änderte die Lage seines verbundenen Beines, das auf der Decke aufgebahrt lag wie eine Heiligenreliquie. »Ihr seid zu gütig, Hoheit. Wenn nicht ein Teil von Skalis Kaldskrykern keine Neigung verspürt hätten, ihre Mitmenschen zu foltern, säßen wir immer noch dort – als hartgefrorene Leichen.«

»Isorn!« rief seine Mutter ärgerlich. »Sprich nicht von solchen Dingen. Es ist ein Schlag ins Gesicht von Gottes Gnade.«

»Aber es ist wahr, Mutter. Skalis Raben selber gaben uns die Messer, mit deren Hilfe wir fliehen konnten.« Er wandte sich zu Josua. »Finstere Dinge gehen vor in Elvritshalla – in ganz Rimmersgard, Prinz Josua! Ihr müßt mir glauben! Skali ist nicht allein gekommen. Die Stadt war voll von Schwarz-Rimmersmännern aus der Gegend um Sturmspitze. Sie waren es auch, die Skali zu unserer Bewachung zurückließ. Und es waren diese gottverfluchten Unmenschen, die unsere Männer gefoltert haben – für nichts und wieder nichts, denn wir hatten ihnen ja gar nichts zu verschweigen. Sie taten es, kaum vorstellbar, aus Vergnügen. Nachts, wenn wir schlafen gingen, hörten wir die Schreie unserer Kameraden und fragten uns, wen sie als nächsten holen würden.«

Er stöhnte leise und zog die Hand aus Gutruns festem Griff, um sich die Schläfen zu reiben, als wollte er die Erinnerung fortwischen.

»Selbst Skalis eigene Leute erfüllte es mit Abscheu. Ich glaube, sie fragen sich langsam, in was ihr Than sie da hineingezogen hat.«

»Wir glauben dir«, antwortete Josua sanft, den Blick, den er dem danebenstehenden Isgrimnur zuwarf, voller Sorge.

»Aber es waren noch andere dort – sie kamen nachts und trugen schwarze Kapuzen. Nicht einmal unsere Wächter bekamen ihre Gesichter zu sehen!« Isorns Stimme blieb ruhig, aber seine Augen weiteten sich bei der Erinnerung. »Sie bewegten sich nicht einmal wie Menschen, Ädon sei mein Zeuge! Sie stammten aus den Eiswüsten jenseits des Gebirges. Wir konnten ihre Kälte fühlen, wenn sie an unserem Gefängnis vorübergingen. Vor ihrer Nähe hatten wir mehr Angst als vor allen glühenden Eisen der Schwarz-Rimmersmänner.« Isorn ließ sich kopfschüttelnd auf sein Kissen zurücksinken. »Es tut mir leid, Vater … Prinz Josua. Ich bin sehr müde.«

Die beiden nickten und zogen sich zurück, der Herzog mit einem Blick auf seine Frau, die sich aber bereits wieder ganz ihrem Sohn zugewandt hatte.

»Er ist ein starker Mann, Isgrimnur«, sagte der Prinz, als sie den mit Pfützen bedeckten Korridor entlang gingen. Das Dach war undicht, wie so oft in Naglimund nach einem harten Winter und einem ebenso schlechten Frühling und Sommer.

»Ich wünschte nur, ich hätte verhindert, daß er allein diesem Hurensohn Skali gegenübertreten mußte. Verdammt!« Isgrimnur rutschte auf dem nassen Stein aus und verfluchte sein Alter und seine Tolpatschigkeit.

»Er hat alles getan, was man hätte tun können, Onkel. Ihr solltet stolz auf ihn sein.«

»Das bin ich auch.«

Eine Weile gingen sie weiter, bevor Josua erneut begann: »Ich muß gestehen, daß Isorns Anwesenheit es mir leichter macht, Euch um etwas zu bitten … etwas, um das ich Euch bitten muß.«

Isgrimnur zupfte an seinem Bart. »Nämlich?«

»Einen Gefallen. Um den ich nicht bitten würde, wenn nicht…« Er zögerte. »Nein. Wir wollen in meine Gemächer gehen. Es ist etwas, das man unter vier Augen besprechen sollte.« Er hakte den rechten Arm unter den Ellenbogen des Herzogs, und die Lederkappe über dem Handgelenkstumpf war wie ein stummer, für den Fall der Ablehnung vorweggenommener Vorwurf.

Isgrimnur zupfte erneut an seinem Bart, bis es weh tat. Er hatte das Gefühl, daß ihm das, was er da zu hören gekommen sollte, nicht gefallen würde. »Beim Baum, nehmen wir doch einen Weinkrug mit, Josua. Ich habe ihn dringend nötig.«


»Um Usires' Liebe willen! Bei Drors scharlachrotem Hammer! Bei Sankt Eahlstans und Sankt Skendis Knochen! Seid Ihr von Sinnen? Warum sollte ich von Naglimund weggehen?«

Isgrimnur zitterte vor Schreck und Wut.

»Ich würde Euch nicht bitten, wenn es nur irgendeinen anderen Weg gäbe, Onkel.« Der Prinz sprach geduldig, aber selbst durch den Nebel seines Zornes konnte der Herzog Josuas Qual erkennen. »Zwei Nächte habe ich schlaflos im Bett gelegen und versucht, eine andere Lösung zu finden. Es gibt keine. Jemand muß die Prinzessin Miriamel suchen.«

Isgrimnur nahm einen tiefen Zug von dem Wein, merkte, daß ihm etwas davon in den Bart rann, achtete jedoch nicht darauf. »Warum?« fragte er endlich und knallte den Krug auf den Tisch, daß es krachte. »Und warum gottverdammtnochmal ich? WARUM ICH?«

Der Prinz war ganz erschöpfte Geduld. »Sie muß gefunden werden, weil ihre Person von entscheidender Wichtigkeit ist … und weil sie meine einzige Verwandte ist. Was wird, wenn ich sterbe, Isgrimnur? Was ist, wenn wir Elias abwehren und die Belagerung brechen, mich aber ein Pfeil trifft oder ich von der Burgmauer stürze? Wem wird das Volk folgen – nicht nur die Barone und die Kriegsführer, sondern das einfache Volk, das sich in den Schutz meiner Mauern geflüchtet hat? Es wird schwer genug für euch alle sein, mit mir als Anführer gegen Elias zu kämpfen, weil man mich für wunderlich und wankelmütig hält – aber was wird erst, wenn ich tot bin?«

Isgrimnur starrte zu Boden. »Da ist noch Lluth. Oder Leobardis.« Josua schüttelte hart den Kopf. »König Lluth ist verwundet und wird vielleicht sterben. Leobardis ist Herzog von Nabban – und es gibt noch genügend Leute, die sich daran erinnern, wie Nabban mit Erkynland im Krieg gelegen hat. Die Sancellanische Mahistrevis selbst ist das Denkmal einer Zeit, in der Nabban über alles andere herrschte. Sogar Ihr, Onkel, der Ihr ein guter und allseits geachteter Mann seid, könntet keine Streitmacht zusammenhalten, die Elias Widerstand zu leisten imstande wäre. Er ist ein Sohn von Johan Presbyter! Johan selbst hat ihn auf den Drachenbeinthron gesetzt. Trotz aller seiner Missetaten muß es ein Mitglied derselben Familie sein, das ihm diesen Thron wieder nimmt … und das wißt Ihr auch!«

Isgrimnurs langes Schweigen war Antwort genug.

»Aber warum ausgerechnet ich?« fragte er dann.

»Weil Miriamel keinem anderen Boten folgen würde. Deornoth? Er ist tapfer und treu wie ein Jagdfalke, aber er müßte die Prinzessin in einem Sack nach Naglimund schleppen. Außer mir seid Ihr der einzige, der sie zurückbringen kann, ohne daß sie sich dagegen wehrt. Und freiwillig zurückkommen muß sie, denn es wäre verhängnisvoll, wenn man Euch entdeckte. Schon bald kann Elias erfahren, daß sie nicht mehr hier ist. Dann wird er den ganzen Süden in Brand setzen, um sie aufzuspüren.«

Josua ging zu seinem Schreibtisch hinüber und blätterte gedankenverloren in einem Pergamentstapel. »Denkt sorgfältig nach, Isgrimnur. Vergeßt einen Augenblick, daß wir von Euch selber sprechen. Wer sonst ist so weit herumgekommen und hat Freunde an den merkwürdigsten Orten? Wer sonst, wenn Ihr mir verzeihen wollt, kennt das falsche Ende von so vielen dunklen Hintergassen in Ansis Pelippé und Nabban?«

Wider Willen mußte Isgrimnur mürrisch grinsen. »Aber trotzdem scheint es mir sinnlos, Josua. Wie kann ich meine Männer im Stich lassen, jetzt, wo Elias gegen uns marschiert? Und wie könnte ich hoffen, daß ein solcher Auftrag geheim bleibt, bekannt wie ich bin?«

»Was das erste betrifft: Gerade darum dünkt es mich ja ein Wink des Schicksals, daß Isorn jetzt hier ist. Einskaldir, da sind wir uns wohl einig, verfügt nicht über die Selbstbeherrschung eines Anführers. Bei Isorn ist das anders. Außerdem, Onkel, verdient er die Chance, sich jetzt auszuzeichnen. Der Fall von Elvritshalla hat seinem jugendlichen Stolz einen schweren Schlag versetzt.«

»Gerade der Stolz, der einen Schlag erlitten hat, macht einen Knaben zum Mann«, knurrte der Herzog. »Fahrt fort.«

»Und zum zweiten: Jawohl, Ihr seid ein bekannter Mann, aber Ihr seid seit zwanzig Jahren kaum noch südlich über Erkynland hinausgekommen. Und außerdem werden wir Euch verkleiden.«

»Verkleiden?« Isgrimnur betastete zerstreut die Flechten seines Bartes. Josua ging zur Tür und rief etwas. Dem Herzog war es seltsam schwer ums Herz. Er hatte sich vor diesem Kampf gefürchtet, weniger seinet- als seines Volkes, seiner Gutrun wegen, und nun war auch noch sein Sohn gekommen und legte ihm eine weitere Sorge auf. Jetzt fortzugehen, und sei es auch, um sich in eine Gefahr zu begeben, die ebenso groß war wie die, die er hinter sich zurückließ … das sah unerträglich nach Feigheit aus, nach Verrat. Aber ich habe Josuas Vater einen Eid geschworen – meinem lieben alten Johan – wie kann ich seinem Sohn eine Bitte abschlagen? Und seine Gründe sind so gottverdammt einleuchtend…

»Hier«, sagte der Prinz und trat von der Tür zurück, um jemanden einzulassen. Es war Vater Strangyeard, auf dem rosigen Gesicht mit der Augenklappe ein schüchternes Lächeln, die lange Gestalt gebeugt unter der Last eines Bündels aus schwarzem Stoff.

»Hoffentlich paßt es«, meinte der Archivar. »Meistens passen sie nicht; ich weiß nicht, warum; es ist nur eine weitere kleine Ermahnung, eine von den kleinen Lehren des Meisters.« Er verstummte, schien aber nach einer Weile den Faden wiederzufinden. »Es war ungemein freundlich von Eglaf, es uns zu leihen. Er hat so etwa Eure Gestalt, glaube ich, wenn auch nicht ganz so hochgewachsen.«

»Eglaf?« fragte Isgrimnur ratlos. »Wer ist Eglaf? Josua, was soll dieser Unfug?«

»Bruder Eglaf, natürlich«, erläuterte Strangyeard.

»Eure Verkleidung, Isgrimnur«, führte der Prinz weiter aus, während der Burgarchivar das Bündel entfaltete. Es entpuppte sich als Auswahl schwarzwollener Priestergewänder. »Ihr seid ein frommer Mann, Onkel. Ich bin überzeugt, Ihr könnt die Rolle spielen.« Der Herzog hätte schwören können, daß Josua sich ein Lächeln verbiß.

»Was? Priesterkleidung?« Isgrimnur erkannte allmählich die Umrisse des Planes und war keineswegs zufrieden damit.

»Wie könntet Ihr besser unbemerkt nach Nabban reisen, wo Mutter Kirche als Königin herrscht und es fast mehr Priester aller Richtungen gibt als andere Bürger?« Jetzt lächelte Josua tatsächlich.

Isgrimnur war außer sich vor Wut. »Josua! Ich habe schon früher um Euren Verstand gefürchtet; jetzt aber weiß ich, daß Ihr ihn vollständig verloren habt. Das ist der hirnverbrannteste Einfall, den ich je gehört habe. Und wer, zu allem Überfluß, hat je von einem Ädoniterpriester mit Bart gehört?« Er schnaubte verächtlich.

Der Prinz, mit einem warnenden Blick auf Vater Strangyeard, der die Gewänder auf einen Stuhl legte und sich rückwärts auf die Tür zubewegte, trat an einen Tisch und hob ein Tuch. Darunter zeigte sich … eine Schüssel mit heißem Wasser und ein blinkendes, frischgewetztes Rasiermesser.

Isgrimnurs gewaltiges Aufbrüllen ließ unten in der Burgküche das Geschirr aneinanderschlagen.


»Sprecht, Sterbliche. Kommt ihr als Spione in unsere Berge?«

Eisiges Schweigen folgte Prinz Jirikis Worten. Aus dem Augenwinkel beobachtete Simon, wie Grimmric hinter sich griff und die Wand nach etwas abtastete, das er als Waffe benutzen könnte. Sludig und Haestan warfen den Sithi, die sie umringt hielten, grimmige Blicke zu, fest überzeugt, daß man jetzt gleich über sie herfallen würde.

»Nein, Prinz Jiriki«, antwortete Binabik rasch. »Gewiß seht Ihr selbst, daß wir keine Erwartung hatten, hier auf Euer Volk zu stoßen. Wir kommen aus Naglimund, ausgesandt von Prinz Josua, mit einem Auftrag von höchster Wichtigkeit. Wir suchen…«

Der Troll zögerte, als fürchte er, zuviel zu sagen. Dann jedoch fuhr er achselzuckend fort: »Wir sind unterwegs zum Drachenberg, um dort nach Camaris-sá-Vinittas Schwert Dorn zu suchen.«

Jirikis Augen wurden schmal, und der Grüngekleidete hinter ihm, den er Onkel genannt hatte, stieß mit dünnem Pfeifen den Atem aus.

»Was wollt ihr mit einem solchen Ding anfangen?« fragte Khendraja'aro.

Darauf wollte Binabik nicht antworten. Er blickte unglücklich auf den Boden der Höhle. Die Luft schien zu stehen, als die Sekunden vergingen.

»Es soll uns vor Ineluki retten – vor dem Sturmkönig!« platzte Simon heraus. Bis auf ein Blinzeln verzog keiner der Sithi eine Miene. Niemand sagte ein Wort.

»Sprecht weiter«, verlangte Jiriki endlich.

»Wenn Ihr es wünscht«, erwiderte Binabik. »Es ist Teil einer Geschichte, die fast so lang ist wie Euer Ua'kiza Tumet' ai nei-R'ïanis – das Lied vom Untergang Tumet'ais. Wir wollen versuchen, Euch mitzuteilen, was wir wissen.«

Der Troll erklärte eilig die wichtigsten Tatsachen. Simon kam es vor, als lasse er absichtlich vieles aus; einige Male sah Binabik beim Sprechen auf und begegnete seinem Blick, als mahne er den Jungen zu schweigen.

Binabik berichtete den schweigenden Sithi von den Verteidigungsvorbereitungen in Naglimund und den Verbrechen des Hochkönigs. Er erläuterte, was Jarnauga erzählt hatte, sprach von Nisses' Buch und sagte die Verse her, die sie veranlaßt hatten, sich auf die Reise zum Urmsheim zu machen.

Als er seine Geschichte beendet hatte, sah sich der Troll Jirikis ausdruckslos starrem Blick, der noch mehr Zweifel verratenden Miene seines Onkels und einer so tiefen Stille gegenüber, daß das tönende Echo des Wasserfalles anzuschwellen schien, bis es diese kleine Welt mit seinem Klang erfüllte. Was für ein Ort voller Wahnsinn und Träume diese Höhle doch war, und in was für eine aberwitzige Geschichte sie hineingeraten waren! Simon merkte, daß sein Herz wie rasend schlug, und zwar nicht allein aus Furcht.

»Das ist schwer zu glauben, Sohn meiner Schwester«, bemerkte Khendraja'aro endlich und spreizte mit einer sonderbaren Geste die beringten Hände.

»Allerdings, Onkel. Aber ich glaube, daß jetzt nicht der Augenblick ist, darüber zu sprechen.«

»Aber dieser andere, den der Knabe erwähnt hat…«, begann Khendraja'aro von neuem, Sorge in den gelben Augen, aufkeimenden Zorn in der Stimme. »Der Schwarze unter Nakkiga…«

»Nicht jetzt.« Die Antwort des Sithiprinzen war nicht ohne Schärfe. Er wandte sich an die fünf Fremdlinge. »Wir müssen uns entschuldigen. Es ist jedoch nicht gut, über solche Dinge zu reden, solange ihr nicht gegessen habt. Ihr seid unsere Gäste.« Simon, den bei diesen Worten eine Woge der Erleichterung überschwemmte, schwankte leicht vor sich hin. Seine Knie wurden plötzlich schwach.

Jiriki, der es bemerkte, winkte sie näher ans Feuer. »Setzt euch. Ihr müßt unser Mißtrauen verzeihen. Seoman, verstehe auch du mich: Obwohl ich dir mein Blut schulde – du bist mein Hikka Staj'a –, haben eure Rassen der unseren wenig Freundlichkeit bezeigt.«

»Ich muß Euch zum Teil widersprechen, Prinz Jiriki«, entgegnete Binabik und ließ sich auf einem flachen Stein am Feuer nieder. »Von allen Sithi sollte Eure Familie am besten wissen, daß wir Qanuc Euch niemals etwas Übles zugefügt haben.«

Jiriki sah zu dem Kleinen hinunter, und seine angespannten Züge lockerten sich zu einem Ausdruck, in dem fast etwas Liebevolles stand. »Du hast mich bei einer Unhöflichkeit ertappt, Binbiniqegabenik. Nach den Menschen des Westens, die uns am vertrautesten waren, haben wir einst die Qanuc sehr gern gehabt.«

Binabik hob den Kopf, und sein rundes Gesicht war voller Verwunderung. »Woher kennt Ihr meinen vollen Namen? Ich habe ihn nicht erwähnt, noch haben meine Gefährten ihn verkündet.«

Jiriki lachte, ein zischendes Geräusch, aber seltsam vergnügt, ohne jeden Anflug von Unaufrichtigkeit. In dieser Sekunde empfand Simon eine jähe, heftige Zuneigung zu ihm. »Ach, Troll«, sagte der Prinz, »jemand, der so weitgereist ist wie du, sollte sich nicht wundern, wenn man seinen Namen kennt. Wie viele Qanuc außer deinem Meister und dir trifft man denn südlich der Berge?«

»Ihr kanntet meinen Meister? Er ist tot.« Binabik hockte sich hin, zog die Handschuhe aus und bewegte die Finger. Simon setzte sich neben ihn.

»Er kannte uns«, erklärte Jiriki. »Hast du nicht unsere Sprache von ihm gelernt? An'nai, du hast doch gesagt, der Troll habe zu dir gesprochen?«

»Das hat er, Prinz. Und fast ganz richtig.«

Binabik errötete erfreut und verlegen zugleich. »Ookequk hat mir etwas davon beigebracht, mir aber nie verraten, wo er selbst es gelernt hatte. Ich besaß den Gedanken, daß es ihn vielleicht sein Meister gelehrt hätte.«

»Setzt euch doch, setzt euch«, forderte Jiriki Haestan, Grimmric und Sludig auf, Simons und Binabiks Beispiel zu folgen. Sie näherten sich wie Hunde, die Angst vor Schlägen haben, und suchten sich Plätze am Feuer. Nun trugen mehrere Sithi Tabletts aus kunstvoll geschnitztem und poliertem Holz herbei, die mit allen möglichen guten Dingen schwer beladen waren: Butter und dunkles Brot, ein Rad würziger, salziger Käse, kleine rotgelbe Früchte, die Simon noch nie gesehen hatte. Es gab mehrere Schüsseln mit leicht zu erkennenden Beeren und sogar einen Stapel langsam vor sich hin tropfender Honigwaben. Als Simon die Hand ausstreckte und sich zwei der klebrigen Waben nahm, lachte Jiriki wieder, ein leises Zischen wie von einem Häher auf einem Baum in der Ferne.

»Überall ist Winter«, meinte er, »aber in den geschützten Festungen von Jao é-Tinukai'i wissen die Bienen das nicht. Nimm, soviel du magst.«

Ihre Ergreifer, die nun ihre Gastgeber geworden waren, schenkten den Gefährten einen unbekannten, aber starken Wein ein. Aus steinernen Kannen füllten sie ihnen die hölzernen Pokale. Noch während Simon überlegte, ob vorher nicht vielleicht ein Gebet gesprochen würde, hatten die Sithi schon zu essen begonnen. Haestan, Sludig und Grimmric blickten einander traurig an. Sie hätten auch gern gegessen, waren aber immer noch voller Furcht und Mißtrauen. Aufmerksam beobachteten sie, wie Binabik das Brot brach und einen Bissen von der dick mit Butter bestrichenen Kruste abbiß. Ein Weilchen später, als er nicht nur noch am Leben war, sondern sogar munter weiteraß, hielten die Männer es für ungefährlich, sich über die Sithispeisen herzumachen, was sie dann auch mit dem Heißhunger begnadigter Gefangener taten. Simon tupfte sich den Honig vom Kinn und hielt inne, um den Sithi zuzusehen. Das Schöne Volk aß langsam. Manchmal betrachteten sie lange Augenblicke eine Beere in ihren Fingern, bevor sie sie zum Munde führten. Es wurde wenig gesprochen, aber wenn einer von ihnen in seiner fließenden Sprache eine Bemerkung machte, lauschten alle. Meistens folgte keine Antwort; hatte jedoch einmal ein anderer etwas zu erwidern, hörten auch ihm alle zu. Es gab viel leises Lachen, aber weder Rufen noch Streiten, und Simon stellte kein einziges Mal fest, daß jemand einem Sprecher ins Wort fiel.

An'nai war nähergerückt und hatte sich zu Simon und Binabik gesetzt. Einer der Sithi gab eine feierliche Erklärung von sich, die die anderen zum Lachen brachte. Simon bat An'nai, ihm den Scherz zu erklären.

Der Sitha mit der weißen Jacke machte ein etwas verlegenes Gesicht. »Ki'ushapo hat gesagt, deine Freunde äßen, als hätten sie Angst, die Speisen liefen ihnen davon.« Er deutete auf Haestan, der sich mit beiden Händen das Essen in den Mund stopfte.

Simon verstand nicht ganz, was An'nai meinte – bestimmt hatten sie doch schon Hungrige gesehen? –, lächelte jedoch trotzdem.

Als das Mahl seinen Fortgang nahm und ein anscheinend unerschöpflicher Strom von Wein immer wieder ihre hölzernen Pokale füllte, begannen der Rimmersmann und die beiden Krieger der Erkynländer Wache sich langsam wohlzufühlen. Irgendwann stand Sludig auf, ließ den Becher in seiner Hand hin- und herschwappen und brachte einen herzhaften Trinkspruch auf die neuen Sithifreunde aus. Jiriki lächelte und nickte, aber Khendraja'aro erstarrte. Als Sludig dann ein altes nordisches Trinklied anstimmte, zog sich der Onkel des Prinzen unauffällig in eine Ecke der großen Höhle zurück, um in den vom Schein der Lampen erhellten, sanft gewellten Teich zu starren.

Die anderen Sithi an der Tafel lachten, als Sludig mit seiner grölenden Stimme die Kehrreime sang, und schwankten im trunkenen Rhythmus mit, wobei sie manchmal untereinander tuschelten. Sludig, Haestan und Grimmric machten jetzt einen recht zufriedenen Eindruck, und selbst Binabik grinste vor sich hin und lutschte an einer Birnenschale. Nur Simon, der an die zauberhafte Musik der beiden Sithi dachte, fühlte einen Anflug von Scham für seinen Gefährten, als wäre der Rimmersmann ein Festbär, der auf der Mittelgasse für ein paar Krümel tanzte.

Nachdem er eine Weile zugeschaut hatte, stand Simon auf und wischte sich vorn am Hemd die Hände ab. Auch Binabik erhob sich und erbat Jirikis Erlaubnis, den verdeckten Gang hinunterzusteigen, um nach Qantaqa zu sehen. Die drei Soldaten lachten brüllend untereinander und erzählten sich – Simon zweifelte nicht daran – Witze über betrunkene Kameraden. Er trat an eine der Wandnischen, um sich die seltsamen Lampen genauer anzusehen. Jäh fiel ihm der leuchtende Kristall ein, den Morgenes ihm gegeben hatte – war er vielleicht auch ein Werk der Sithi gewesen? Ihm wurde kalt und einsam ums Herz. Er hob eine der Lampen auf und sah durch sie hindurch den schwachen Schatten seiner Handknochen, als bestehe das Fleisch nur aus trübem Wasser. So scharf er aber auch hinschaute, er konnte nicht herausfinden, wie die Flamme in den durchscheinenden Kristall hineingekommen war.

Er fühlte einen Blick im Nacken und drehte sich um. Es war Jiriki, der ihn anstarrte. Von der anderen Seite des Feuers glühten seine Katzenaugen zu ihm hinüber. Simon zuckte überrascht zusammen; der Prinz nickte.

Haestan, dem der Wein in den zottigen Schädel gestiegen war, hatte einen der Sithi – den An'nai Ki'ushapo genannt hatte – zum Armdrücken herausgefordert. Ki'ushapo, mit gelben Zöpfen und schwarzgrauer Kleidung, erhielt von dem beschwipsten Grimmric gute Ratschläge. Es war auch klar, weshalb der dürre Wachsoldat seine Unterstützung für angebracht hielt: Der Sitha war einen Kopf kleiner als Haestan und sah aus, als hätte er kaum mehr als die Hälfte von dessen Gewicht. Als der Sitha sich mit etwas verwirrter Miene über den glatten Stein beugte, um Haestans breite Hand zu ergreifen, stand Jiriki auf und glitt an ihnen vorbei, um geschmeidig den Raum zu durchqueren, bis er neben Simon stand.

Es fiel dem Jungen immer noch schwer, diese selbstsichere, kluge Persönlichkeit mit dem halbwahnsinnigen Geschöpf zusammenzubringen, das er in der Falle des Kätners gefunden hatte. Nur wenn Jiriki eine bestimmte Kopfbewegung machte oder die langgliedrigen Finger bog, konnte Simon die Wildheit entdecken, die ihn damals gleichermaßen erschreckt und fasziniert hatte; und wenn sich der Feuerschein in den goldgefleckten Bernsteinaugen des Prinzen brach, leuchteten sie uralt wie Edelsteine im schwarzen Boden des Waldes.

»Komm, Seoman«, sprach der Sitha ihn an, »ich möchte dir etwas zeigen.« Er schob die Hand unter den Ellenbogen des Jungen und führte ihn zu dem Teich, an dem Khendraja'aro saß und die Finger durchs Wasser gleiten ließ. Als sie am Feuer vorbeikamen, sah Simon, daß der Wettkampf im Armdrücken in vollem Gange war. Die beiden Gegner hatten sich fest ineinander verkrallt, ohne daß einer von beiden im Vorteil zu sein schien. Aber Haestans bärtiges Gesicht war zu einem verbissenen Grinsen der Anstrengung verzogen, während dem schlanken Sitha die unentschiedene Situation wenig auszumachen schien, nur daß sein graugekleideter Arm unter der Anspannung des Kampfes ein wenig zitterte. Simon dachte, daß dies für Haestan nichts Gutes besage. Sludig, der merkte, wie der Kleine den Großen zu besiegen begann, saß mit offenem Mund daneben.

Als sie näherkamen, flötete Jiriki seinem Onkel etwas zu, erhielt jedoch von Khendraja'aro keine Antwort. Das alterslose Gesicht schien unzugänglich wie eine verriegelte Tür. Simon folgte dem Prinzen an ihm vorbei und die Höhlenwand entlang. Gleich darauf verschwand Jiriki vor seinem erstaunten Blick. Der Sitha war jedoch nur in einen anderen Tunnel getreten, der sich um den steinernen Zufluß des kleinen Wasserfalles wand. Simon ging ihm nach. Der Tunnel führte auf rauhen Steinstufen in die Höhe. Eine Lampenreihe erhellte ihn.

»Bitte folge mir«, sage der Sitha und begann hinaufzusteigen.

Simon kam es vor, als kletterten sie hoch in das Innere des Berges, lange Zeit und immer wieder im Kreis herum. Endlich ließen sie die letzte Lampe hinter sich und setzten ihren Weg in fast völliger Dunkelheit vorsichtig fort, bis Simon vor sich Sterne schimmern sah. Gleich darauf erweiterte sich der Gang zu einer kleinen Kammer, deren eine Seite dem Nachthimmel offenstand.

Simon folgte Jiriki ans Ende der Höhle, wo sich eine gürtelhohe Steinbrüstung erhob. Unter ihnen fiel die felsige Bergwand steil ab: zehn kahle Ellen bis zu den Spitzen der hohen Immergrünbäume, fünfzig weitere bis zum verschneiten Boden. Die Nacht war klar, die Sterne leuchteten grimmig in der Finsternis, und von allen Seiten umgab sie der Wald wie ein ungeheures Geheimnis.

Nachdem sie eine Weile still verharrt hatten, sagte Jiriki: »Ich schulde dir ein Leben, Menschenkind. Fürchte nicht, daß ich es vergessen werde.«

Simon antwortete nicht, aus Angst, den Zauber zu brechen, der es ihm erlaubte, hier mitten in der Nacht des Waldes zu stehen, ein Spion in Gottes dunklem Garten. Eine Eule rief.

Wieder verging eine schweigende Zeit, dann berührte der Sitha Simon leicht am Arm und deutete über das stumme Meer der Bäume hinweg.

»Dort, im Norden, unter Lu'yasas Stab…« Er wies auf eine Reihe von drei Sternen am tiefsten Rand des samtenen Himmels. »Kannst du den Umriß der Berge erkennen?«

Simon starrte. Er glaubte ein mattes Leuchten am unbestimmten Horizont wahrzunehmen, die ganz schwache Andeutung eines großen, weißen Gebildes, so weit entfernt, daß das Mondlicht, das unter ihnen auf Bäume und Schnee fiel, es gar nicht mehr zu erreichen schien. »Ich glaube, ja«, erwiderte er leise.

»Das ist euer Ziel. Der Gipfel, den die Menschen Urmsheim nennen, ist ein Teil dieser Bergkette, obwohl die Nacht klarer sein müßte, damit du ihn genauer sehen kannst.« Er seufzte. »Dein Freund Binabik sprach heute vom verlorenen Tumet'ai. Einst konnte man es von hier aus sehen, dort drüben im Osten«, er deutete ins Dunkle, »hier von diesem Aussichtspunkt aus; doch das war zu einer Zeit, als mein Ur-Urgroßvater noch am Leben war. Bei Tageslicht fing sich die aufgehende Sonne in den Kristall- und Golddächern des Sení Anzi'in, des Turmes der Wandelnden Morgendämmerung. Es heißt, er soll ausgesehen haben wie eine wunderbare Fackel, die am Morgenhorizont loderte…«

Er brach ab und richtete die Augen auf Simon; Nachtschatten verdunkelten das übrige Gesicht.

»Tumet'ai ist lange begraben«, fuhr Jiriki achselzuckend fort. »Nichts ist von Dauer, nicht einmal die Sithi … nicht einmal die Zeit selbst.«

»Wie … wie alt seid Ihr?«

Der Sithi-Prinz lächelte mit im Mondschein blitzenden Zähnen. »Älter als du, Seoman. Wir wollen nun wieder hinuntersteigen. Vieles hast du heute gesehen und überlebt, und sicher mußt du jetzt schlafen.«

Als sie in die vom Feuerschein erhellte Höhle zurückkamen, schnarchten die drei Soldaten bereits kräftig vor sich hin. Binabik war wieder da und lauschte ein paar Sithi, die ein langsames, trauriges Lied sangen, das wie ein Bienenstock summte, wie ein Fluß rauschte und die Höhle zu erfüllen schien wie der starke Duft einer seltenen, sterbenden Blume.

In seinen Mantel gehüllt, sah Simon dem Licht der Flammen zu, das auf den Steinen der Decke tanzte, bis ihn die seltsame Musik von Jirikis Stamm in den Schlaf wiegte.

XXXIX Die Hand des Hochkönigs

Simon erwachte und merkte, daß das Licht in der Höhle sich verändert hatte. Das Feuer brannte noch, dünne gelbe Flammen in weißer Asche, aber die Lampen waren erloschen. Durch Ritzen in der Decke, die nachts nicht zu sehen gewesen waren, sickerte Tageslicht und verwandelte die steinerne Kammer in eine Säulenhalle voller Licht und Schatten.

Seine drei Soldatenkameraden schliefen noch, schnarchend in ihre Mäntel verstrickt, alle Glieder von sich gestreckt wie in der Schlacht Gefallene. Sonst war die Höhle leer bis auf Binabik, der mit untergeschlagenen Beinen am Feuer saß und gedankenverloren auf seiner Wanderstabflöte blies.

Simon richtete sich benommen auf. »Wo sind die Sithi?«

Binabik flötete ein paar weitere Noten, ohne sich umzudrehen.

»Gegrüßt, guter Freund«, meinte er nach einer Weile. »War dein Schlaf zufriedenstellend?«

»Vermutlich«, grunzte Simon und ließ sich wieder fallen, um die Staubkörnchen zu betrachten, die unter dem Höhlendach schimmerten. »Wo sind die Sithi hingegangen?«

»Auf die Jagd, könnte man wohl sagen. Komm, steh auf! Ich benötige deine Hilfe.«

Simon stöhnte, erhob sich jedoch mühsam in eine sitzende Stellung.

»Auf die Jagd nach Riesen?« fragte er wenig später, den Mund voller Obst. Haestans Schnarchen war so laut geworden, daß Binabik empört die Flöte weggelegt hatte.

»Auf der Jagd nach allem, was ihre Grenzen bedroht, nehme ich an.« Der Troll starrte auf etwas, das vor ihm auf dem Steinboden der Höhle lag. »Kikkasut! Das ergibt keinen vernünftigen Sinn. Gefallen will es mir kein bißchen.«

»Was ergibt keinen Sinn?« Simon ließ den Blick träge durch die Felsenkammer schweifen. »Ist das ein Sithi-Haus?«

Binabik musterte ihn stirnrunzelnd. »Wahrscheinlich ist es gut, daß du deine Fähigkeit zurückgewonnen hast, viele Fragen auf einmal zu stellen. Nein, dieses ist kein Sithi-Haus, soweit es so etwas überhaupt gibt. Es ist, denke ich, das, was Jiriki gesagt hat – eine Jagdhütte, ein Ort, an dem ihre Jäger sich während ihrer Streifzüge aufhalten können. Und was deine erste Frage angeht: Es sind die Knochen, die keinen Sinn machen – oder vielmehr zuviel Sinn.«

Die Wurfknöchel lagen als Häufchen vor Binabiks Knien. Simon betrachtete sie. »Was bedeuten sie?«

»Ich werde es dir sagen. Vielleicht wäre es gut, wenn du diese Zeit nutztest, um dir den Schmutz, das Blut und den Beerensaft vom Gesicht zu waschen.« Der Troll schenkte ihm ein mürrisches gelbes Grinsen und deutete auf den Teich in der Ecke. »Dort kannst du dich reinigen.«

Er wartete, bis Simon einmal den Kopf in das beißend kalte Wasser gesteckt hatte.

»Brrr!« sagte der Junge bibbernd. »Eisig!«

»Du hast vielleicht gesehen«, erläuterte Binabik, ungerührt von Simons Jammern, »daß ich heute morgen die Knöchel geworfen habe. Was sie sagen, ist dieses: Pfad im Schatten, Offener Wurfspieß und Schwarze Spalte. Viel Verwirrung und Sorge macht mir das.«

»Warum?« Simon spritzte sich noch etwas Wasser ins Gesicht und rieb es mit dem Wamsärmel, der auch nicht mehr der sauberste war, wieder trocken.

»Weil ich die Knochen geworfen habe, bevor wir Naglimund verließen«, erklärte Binabik gereizt, »und dabei genau die gleichen Bilder bekam! Genau die gleichen!«

»Aber wieso ist das schlecht?« Etwas Helles, das auf dem Rand des Teiches lag, fiel Simon ins Auge. Er hob es vorsichtig auf und sah, daß es ein runder Spiegel war, gefaßt in einen wundervoll geschnitzten Holzrahmen. In den Rand des dunklen Glases waren fremdartige Schriftzeichen geätzt.

»Schlecht ist es oft, wenn Dinge immer gleich sind«, antwortete Binabik, »aber bei den Knochen ist es mehr als das. Die Knochen sind Führer zur Weisheit für mich.«

»Mmm-hmm.« Simon rieb den Spiegel an seinem Hemd blank. »Nun, was wäre, wenn du euer Buch Ädon aufschlagen und entdecken würdest, daß auf allen Seiten nur noch ein Vers steht – derselbe Vers, immer und immer wieder?«

»Meinst du ein Buch, das ich vorher schon gekannt hätte? Das vorher anders war? Dann müßte es Zauberei sein.«

»Eben«, versetzte Binabik, schon wieder besänftigt. »Damit hast du mein Problem. Es gibt Hunderte von Möglichkeiten, wie die Knöchel fallen können. Aber sechsmal hintereinander der gleiche Wurf – das muß etwas Übles bedeuten. Soviel ich auch studiert habe, immer noch liebe ich das Wort ›Zauberei‹ nicht; aber es muß eine Macht geben, die nach den Knöcheln greift, so wie ein starker Wind alle Fahnen in dieselbe Richtung wehen läßt … Simon? Hörst du mir überhaupt zu?«

Simon jedoch starrte wie gebannt in den Spiegel, aus dem ihm zu seiner Verblüffung ein fremdes Gesicht entgegenblickte. Der Fremde hatte längliche, starkknochige Züge, blau umschattete Augen und rotgoldenen Bartflaum auf Kinn, Wangen und Oberlippe. Simon staunte noch mehr, als er begriff, daß er – natürlich – doch nur sich selber sah, abgemagert und wettergegerbt von seinen Fahrten, mit dem ersten Anflug eines männlichen Bartes, der ihm das Kinn verdunkelte. Was für eine Sorte Gesicht mochte es wohl sein, fragte er sich plötzlich. Es war noch immer nicht das eines Mannes, vom Leben gezeichnet und streng, aber er bildete sich ein, etwas von seinem Mondkalbtum abgestreift zu haben. Dennoch fand er den zerzausten Burschen mit dem langen Kinn, der ihn da aus dem Spiegel anstarrte, eher enttäuschend.

Hat auch Miriamel mich so gesehen? Einen Bauernjungen – einen Ackerknecht?

Und während er noch an die Prinzessin dachte, war es ihm, als sehe er in dem Spiegel ihre Züge aufblitzen, fast als wüchsen sie aus den seinen hervor. Einen schwindelnden Augenblick lang verschmolzen sie miteinander wie zwei wolkige Seelen in einem Körper; gleich darauf war es nur noch Miriamel, deren Gesicht er sah, oder besser gesagt, Malachias, denn ihr Haar war wieder schwarz und kurzgeschnitten, und sie trug Knabenkleidung. Ein farbloser Himmel lag hinter ihr, über den schwarze Gewitterwolken zogen. Und da war noch jemand, unmittelbar an ihrer Seite, ein Mann mit rundem Gesicht und grauer Kapuze. Simon wußte, daß er ihn schon früher gesehen hatte, er war sich ganz sicher – aber wo?

»Simon!« Binabiks Stimme war wie ein Guß kaltes Teichwasser, gerade als der flüchtige Name zum Greifen nah an ihm vorüberschwebte. Eine Sekunde schwankte der Spiegel in Simons erschrockener Hand. Als er ihn wieder fest im Griff hatte, war nur noch sein eigenes Gesicht darin zu sehen.

»Wird dir übel?« erkundigte sich der Troll, dem Simons schlaffer, verwirrter Gesichtsausdruck Sorgen machte.

»Nein … ich glaube jedenfalls nicht…«

»Dann, wenn du dich gewaschen hast, komm und hilf mir. Wir werden uns später über die Vorzeichen unterhalten, wenn deine Aufmerksamkeit nicht so anfällig ist.« Binabik stand auf und ließ die Knöchel in ihren Lederbeutel zurückfallen.


Binabik rutschte als erster die Eisrinne hinunter, nachdem er Simon ermahnt hatte, die Zehen gestreckt und die Hände nah am Kopf zu halten. Die rasenden Sekunden, in denen der Junge durch den Tunnel sauste, waren wie ein Traum vom Abstürzen aus großer Höhe; und als er auf dem weichen Schnee vor dem Ausgang des Tunnels landete und ihm das strahlende, kalte Tageslicht in die Augen drang, war er zufrieden, einen Moment lang still sitzenzubleiben und das Gefühl seines beschleunigten Herzschlages zu genießen.

Aber sofort warf ihn ein unerwarteter Stoß in den Rücken um, und eine erstickende Lawine von Muskeln und Pelz ging auf ihn nieder.

»Qantaqa!« hörte er Binabik lachend rufen. »Wenn du schon deine Freunde so behandelst, bin ich froh, nicht dein Feind zu sein!«

Simon schubste die Wölfin zur Seite, nur um sich dem erneuten Angriff einer rauhen Zunge auf sein Gesicht ausgesetzt zu sehen. Endlich rollte er sich mit Binabiks Hilfe unter Qantaqa vor. Aufgeregt jaulend sprang das Tier auf die Füße, umkreiste den Jungen und den Troll und lief dann in den verschneiten Wald hinein.

»Jetzt«, meinte Binabik und wischte sich den Schnee aus den schwarzen Haaren, »müssen wir herausfinden, wo die Sithi unsere Pferde untergestellt haben.«

»Nicht weit von hier, Qanuc.«

Simon fuhr herum und sah eine Reihe von Sithi lautlos unter den Bäumen heraustreten, angeführt von Jirikis Onkel in der grünen Jacke. »Und warum sucht ihr sie?«

Binabik lächelte. »Ganz gewiß nicht, um Euch zu entfliehen, guter Khendraja'aro. Eure Gastfreundschaft ist zu üppig, als daß wir ihr eilig den Rücken kehren wollten. Nein, es gibt einige Dinge, deren Verbleib ich feststellen muß, Dinge, die ich in Naglimund mit einiger Mühe beschafft habe und die wir auf unserem Weg noch brauchen werden.«

Khendraja'aro blickte den Troll einen Moment lang ausdruckslos an und gab dann zweien seiner Gefolgsleute ein Zeichen. »Sijandi, Ki'ushapo – zeigt es ihnen.«

Das gelbhaarige Paar ging ein paar Schritte am Hang entlang, von der Tunnelmündung fort, blieb dann stehen und winkte Simon und dem Troll, ihnen zu folgen. Als Simon sich umdrehte, sah er Khendraja'aro, der ihnen mit einem undeutbaren Ausdruck in den hellen, schmalen Augen nachschaute.

Sie fanden die Pferde wenige Achtelmeilen entfernt, untergebracht in einer kleinen, hinter zwei schneebeladenen Fichten verborgenen Höhle. Innen war es warm und trocken; alle sechs Pferde kauten zufrieden an einem Ballen süßduftenden Heues.

»Woher kommt das?« fragte Simon überrascht.

»Auch wir bringen oft unsere Pferde mit«, erklärte Ki'ushapo in sorgsam gewählter Westsprache. »Überrascht es dich da, daß wir einen Stall für sie haben?«

Während Binabik in einer der Satteltaschen wühlte, untersuchte Simon die Höhle und bemerkte das Licht, das durch einen Spalt hoch oben in der Wand fiel, und den mit klarem Wasser gefüllten Steintrog. An der gegenüberliegenden Seite war ein Haufen Helme, Äxte und Schwerter aufgeschichtet. Simon erkannte eine der Klingen als seine eigene aus der Waffenkammer von Naglimund.

»Das sind ja unsere, Binabik!« sagte er. »Wie kommen sie hierher?«

Ki'ushapo sprach langsam wie zu einem Kind. »Wir haben sie hergebracht, nachdem wir sie euch und euren Gefährten abgenommen hatten. Hier liegen sie sicher und trocken.«

Simon sah den Sitha mißtrauisch an. »Aber ich dachte immer, ihr könntet kein Eisen berühren, es wäre wie Gift…« Er verstummte, weil er fürchtete, sich damit auf verbotenes Gelände gewagt zu haben, aber Ki'ushapo tauschte nur einen Blick mit seinem schweigenden Kameraden und antwortete dann.

»Du hast also Geschichten aus den Tagen des Schwarzen Eisens gehört«, sagte er. »Ja, es war einst so, aber diejenigen von uns, die jene Zeit überlebten, haben viel dazugelernt. Wir wissen heute, welches Wasser wir aus ganz bestimmten Quellen trinken müssen, um sterbliches Eisen für eine Weile ohne Schaden für uns anfassen zu können. Was glaubst du denn, weshalb wir dir dein Panzerhemd gelassen haben? Natürlich lieben wir das Eisen nicht, gebrauchen es nicht … und berühren es auch nicht ohne Not.« Er sah zu Binabik hinüber, der immer noch emsig in den Satteltaschen herumstöberte. »Wir werden euch alleinlassen, damit ihr in Ruhe weitersuchen könnt«, erklärte der Sitha. »Ihr werdet feststellen, daß nichts fehlt – jedenfalls nichts, was ihr bei euch hattet, als ihr in unsere Hände gerietet.«

Binabik blickte auf. »Natürlich«, versetzte er. »Ich bin nur in Sorge über Dinge, die während des gestrigen Kampfes verlorengegangen sein könnten.«

»Natürlich«, erwiderte Ki'ushapo, und er und der schweigsame Sijandi traten hinaus unter die Zweige des Einganges.

»Aha!« rief Binabik endlich und hielt einen Sack hoch, der klirrte wie eine Börse voller Gold-Imperatoren. »Eine Sorge weniger ist das hier.« Er stopfte ihn wieder in die Satteltasche.

»Was ist es?« fragte Simon, ärgerlich über sich selber, weil er schon wieder eine Frage stellte.

Binabik grinste boshaft. »Noch ein paar Qanuc-Tricks, die uns bald sehr nützlich sein werden. Aber wir sollten jetzt gehen. Wenn die anderen aufwachen, steif vom Trinken und allein, könnten sie Angst bekommen und Dummheiten machen.«

Auf dem kurzen Rückweg fanden sie Qantaqa, Mund und Nase voller Blutflecken von irgendeinem unseligen Tier. Sie sprang mehrmals um sie herum und witterte mit gesträubten Nackenhaaren. Dann senkte sie den Kopf und schnüffelte wieder, um schließlich mit großen Sätzen vor ihnen her zu springen. Bei Kendraja'aro standen inzwischen auch Jiriki und An nai. Der Prinz hatte sein weißes Gewand mit einer lohfarben-blauen Jacke vertauscht. Er hielt einen hohen, entspannten Bogen in der Hand und trug einen Köcher mit braungefiederten Pfeilen. Qantaqa umrundete die Sithi grollend und witternd, aber zugleich mit heftigem Schwanzwedeln, als begrüße sie alte Bekannte. Sie stürmte auf das ungerührt zusehende Schöne Volk zu, sprang wieder zurück, knurrte tief in der Kehle und schüttelte den Kopf, als wollte sie einem Kaninchen das Genick brechen. Als Binabik und Simon in den Kreis traten, kam sie so nahe, daß sie mit der schwarzen Nase Binabiks Hand berühren konnte, hüpfte dann wieder fort und nahm ihr unruhiges Kreisen von neuem auf.

»Habt ihr eure Besitztümer alle wohlbehalten vorgefunden?« erkundigte sich Jiriki.

Binabik nickte. »Ja, mit Sicherheit. Habt Dank, daß Ihr unsere Pferde versorgt habt.«

Jiriki winkte nachlässig mit der schmalen Hand. »Und was soll nun geschehen?« fragte er.

»Ich denke, wir sollten uns bald auf den Weg machen«, erwiderte der Troll und legte die Hand über die Augen, um in den graublauen Himmel zu blicken.

»Aber doch nicht heute«, meinte Jiriki. »Ruht euch diesen Nachmittag noch aus und eßt noch einmal mit uns. Es gibt noch vieles zu besprechen, und ihr könnt morgen mit dem ersten Tageslicht aufbrechen.«

»Ihr … und Euer Onkel … erweist uns viel Freundlichkeit. Und Ehre.« Binabik verneigte sich.

»Wir sind kein freundliches Volk, Binbiniqegabenik, nicht, wie wir es einmal waren. Aber höflich sind wir immer noch. Kommt.«

Nach einem hervorragenden Mittagessen aus Brot, süßer Milch und einer wundervollen, fremdartig schmeckenden, würzigen Suppe aus Nüssen und Schneeblumen verbrachten Sithi, Troll und Menschen den langen Nachmittag gemeinsam mit leisen Gesprächen, Liedern und langen Schlafpausen.

Simon schlief nicht tief und träumte von Miriamel. Sie stand mitten auf dem Meer wie auf einem Fußboden aus unregelmäßigem grünem Marmor und winkte ihm, zu ihr zu kommen. Im Traum sah er wütende schwarze Wolken am Horizont und rief ihr etwas zu, um sie zu warnen. Aber im stärker wehenden Wind verstand ihn die Prinzessin nicht, sondern lächelte und winkte nur. Er wußte, daß er nicht auf den Wellen stehen konnte und sprang hinein, um zu ihr zu schwimmen, aber er fühlte, wie die kalten Wasser ihn hinabzogen, ihn untertauchten…

Als es ihm endlich gelang, sich aus dem Traum loszureißen, neigte sich der Nachmittag seinem Ende zu. Die Lichtsäulen waren blasser geworden und standen schräg wie Betrunkene. Einige Sithi waren dabei, die Kristall-Lampen in ihre Wandnischen zu setzen, aber obwohl er ihnen genau zusah, konnte Simon nicht besser als vorher verstehen, was die Lampen zum Leuchten brachte. Wenn man sie hinstellte, fingen sie einfach langsam an, ein mildes, durchdringendes Licht auszustrahlen.

Simon setzte sich zu seinen Gefährten in den Steinkreis am Feuer. Sie waren unter sich; die Sithi, obwohl gastlich und sogar freundlich, schienen doch ihre eigene Gesellschaft vorzuziehen und saßen in kleinen Grüppchen zusammen, über die ganze Höhle verstreut.

»Junge«, sagte Haestan und langte nach oben, um ihm auf die Schulter zu klopfen, »wir hatten schon Angst, du würdest den ganzen Tag schlafen.«

»Ich würde auch schlafen, wenn ich soviel Brot gegessen hätte wie er«, meinte Sludig und machte sich mit einem Holzstückchen die Nägel sauber.

»Wir waren uns alle einig, daß wir morgen ganz früh aufbrechen wollen«, erklärte jetzt Binabik, und Grimmric und Haestan nickten. »Es gibt keine Gewißheit, daß die Milde des Wetters lange anhalten wird, und weit müssen wir noch reiten.«

»Mildes Wetter?« fragte Simon und runzelte beim Hinsetzen die Stirn über seine steifen Beine. »Es schneit wie verrückt.«

Binabik lachte tief in der Kehle. »Ho, Freund Simon, frag einen Schneebewohner, wenn du wissen willst, was kaltes Wetter heißt. Dies hier ist wie unser Qanuc-Frühling, wenn wir am Mintahoq nackt im Schnee spielen. Wenn wir erst in die Berge kommen, dann, ich sage es ungern, wirst du wirkliche Kälte erleben.«

Er sieht nicht aus, als ob ihm das besonders leid tut, dachte Simon. »Also, wann reiten wir?«

»Erstes Morgenrot«, antwortete Sludig. »Je eher«, fügte er bedeutungsvoll hinzu und schaute sich in der Höhle nach ihren seltsamen Gastgebern um, »desto besser.«

Binabik musterte ihn und wandte sich dann wieder an Simon. »Darum müssen wir heute abend noch alles Nötige regeln.«

Wie aus dem luftleeren Raum stand Jiriki neben ihnen und nahm am Feuer Platz. »Aha«, sagte er, »genau darüber möchte ich mit euch sprechen.«

»Gewiß gibt es keine Schwierigkeiten mit unserem Abschied?« erkundigte sich Binabik, dessen heitere Miene eine gewisse Besorgnis nicht völlig verbarg. Haestan und Grimmric sahen bestürzt aus, Sludig wirkte leicht gekränkt.

»Ich glaube nicht«, erwiderte der Sitha. »Aber es gibt etwas, das ich euch mitgeben möchte.« Mit einer fließenden Bewegung griff er mit der langfingrigen Hand in sein Gewand und zog Simons Weißen Pfeil heraus.

»Das gehört dir, Seoman«, erklärte er.

»Was? Aber er … er ist Euer Eigentum, Prinz Jiriki.«

Der Sithi hob einen Augenblick den Kopf, als lausche er einem fernen Ruf, und schlug dann die Augen wieder nieder. »Nein, Seoman, er gehört erst dann wieder mir, wenn ich ihn mir zurückverdiene – ein Leben für ein Leben.« Er hielt ihn zwischen den Händen wie ein Stück Schnur, so daß das schräge Licht von oben die winzigen und komplizierten Muster aufleuchten ließ, die den ganzen Schaft bedeckten.

»Ich weiß, daß du nicht lesen kannst, was da geschrieben steht«, sagte Jiriki langsam, »aber ich will dir sagen, daß es sich um Worte der Schöpfung handelt, die Vindaomeyo der Pfeilmacher selbst auf diesen Pfeil geschrieben hat – in längstvergangener Zeit, bevor wir vom Ersten Volk in die Drei Stämme gespalten wurden. Er ist so sehr ein Teil meiner Familie, als wäre er aus meinen eigenen Knochen und Sehnen gemacht – und genauso ist er ein Teil von mir. Ich habe ihn nicht unüberlegt aus der Hand gegeben – nur wenige Sterbliche haben jemals einen Staj'a Ame besessen –, und ich kann ihn auf keinen Fall zurücknehmen, bevor ich nicht die Schuld bezahlt habe, deren Zeichen er ist.« Mit diesen Worten gab er den Pfeil Simon, dessen Finger bebten, als er den glatten Schaft berührte.

»Ich … ich habe das nicht gewußt…«, stotterte er, als sei er es plötzlich, der dem anderen etwas schuldete. Er zuckte die Achseln und brachte kein Wort mehr heraus.

»Nun denn«, fuhr Jiriki, zu Binabik und den anderen gewandt, fort. »Mein Schicksal, wie ihr Sterblichen es wohl nennen würdet, scheint auf seltsame Weise mit diesem Menschenkind verknüpft. Es wird euch darum sicher nicht allzusehr überraschen, wenn ihr hört, was ich euch noch auf eure ungewöhnliche und wahrscheinlich zwecklose Reise mitgeben möchte.«

Nach einer kleinen Weile fragte Binabik: »Und was wäre das, Prinz?«

Jiriki lächelte ein katzenhaft selbstzufriedenes Lächeln. »Mich selbst«, antwortete er. »Ich werde euch begleiten.«


Lange Augenblicke stand der junge Spießkämpfer da und wußte nicht, ob er die Gedanken des Prinzen unterbrechen sollte. Josua starrte in die nicht allzu weite Ferne hinaus und umklammerte mit weißen Knöcheln die Brüstung der Westmauer von Naglimund.

Endlich schien der Prinz die Anwesenheit eines Fremden zu bemerken. Er drehte sich um und zeigte ein Gesicht von so unnatürlicher Blässe, daß der Soldat einen halben Schritt zurückwich.

»Hoheit?« fragte er, und es fiel ihm schwer, Josua in die Augen zu sehen. Der starre Blick des Prinzen, dachte der Soldat, glich dem eines verletzten Fuchses, den er einmal gesehen hatte, als ihn die Hunde packten und bei lebendigem Leibe zerrissen.

»Schick mir Deornoth«, sagte der Prinz und zwang sich zu einem Lächeln, das dem jungen Soldaten noch grausiger vorkam als alles andere. »Und den alten Jarnauga – den Rimmersmann. Kennst du ihn?«

»Ich glaube schon, Hoheit. Sitzt mit dem einäugigen Vater im Zimmer mit den Büchern.«

»Guter Mann.« Josua hob das Gesicht zum Himmel und betrachtete die tintenschwarzen Wolkenmassen wie ein prophetisches Buch. Der Spießkämpfer zögerte, unsicher, ob er entlassen war, drehte sich dann um und wollte sich unauffällig entfernen.

»Du«, sagte der Prinz und ließ ihn mitten im Schritt erstarren.

»Hoheit?«

»Wie ist dein Name?« Es war, als fragte er den Himmel.

»Ostrael, Hoheit … Ostrael Firsframs-Sohn, Herr … aus Runchester.«

Der Prinz warf ihm einen kurzen Blick zu, ließ dann aber seine Augen wie unwiderstehlich angezogen wieder zu dem sich verfinsternden Horizont hinüberschweifen. »Wann warst du zum letztenmal zu Hause in Runchester, mein guter Mann?«

»Vorletzte Elysiamansa, Prinz Josua, aber ich schick ihnen immer die Hälfte vom Sold.«

Der Prinz zog den hohen Kragen am Hals enger und nickte, als hätte er eine tiefe Weisheit vernommen. »Nun gut denn … Ostrael Firsframs-Sohn. Schick mir Deornoth und Jarnauga. Geh jetzt.«

Lange vor diesem Tag hatte man dem jungen Spießkämpfer erzählt, der Prinz sei halbverrückt. Als er jetzt mit den schweren Stiefeln die Torhaustreppe hinunterpolterte, dachte er an Josuas Gesicht und erinnerte sich mit Schaudern an die leuchtenden, verzückten Augen gemalter Märtyrer im Buch Ädon seiner Familie – und zwar nicht allein an die singenden Märtyrer, sondern auch an die müde Trauer des Herrn Usires selber, als man ihn in Ketten zum Hinrichtungsbaum führte.


»Und die Kundschafter sind sich ihrer Sache sicher, Hoheit?« erkundigte Deornoth sich vorsichtig. Er wollte niemandem unrecht tun, aber er fühlte heute eine Wildheit in dem Prinzen, die er nicht verstand.

»Gottes Baum, Deornoth, natürlich sind sie das! Du kennst sie – alle beide zuverlässige Männer. Der Hochkönig steht an der Grünwate-Furt, keine zehn Meilen von hier. Morgen früh wird er vor unseren Mauern sein. Mit einer beachtlichen Streitmacht.«

»Also ist Leobardis zu langsam.« Deornoth kniff die Augen zusammen, spähte aber nicht südwärts, von wo Elias' Heer unaufhaltsam näherkam, sondern nach Westen, wo sich irgendwo hinter dem Spätmorgennebel die Eisvogel-Legionen mühsam über den Inniscrich und die südliche Frostmark vorarbeiteten.

»Wenn nicht ein Wunder geschieht«, sagte der Prinz. »Ans Werk, Deornoth. Sag Herrn Eadgram, er möge alles vorbereiten. Ich wünsche alle Speere scharf, alle Bogen straff gespannt und keinen Tropfen Wein im Torhaus … oder in den Torhütern. Verstanden?«

»Jawohl, Hoheit.« Deornoth nickte. Erfühlte, wie sein Atem schneller ging und ihm vor lauter Aufregung flau im Magen wurde. Beim Barmherzigen Gott, sie würden dem Hochkönig zeigen, was die Ehre von Naglimund bedeutete, verdammt, das würden sie.

Jemand räusperte sich warnend. Es war Jarnauga, der die Stufen zum breiten Wehrgang so mühelos hinaufstieg wie ein nur halb so alter Mann. Er trug eine von Strangyeards losen, schwarzen Kutten und hatte das Ende seines langen Bartes unter den Gürtel gesteckt.

»Ihr habt mich rufen lassen, Prinz Josua«, grüßte er mit steifer Höflichkeit.

»Ich danke Euch, daß Ihr gekommen seid, Jarnauga«, erwiderte Josua. »Geh nun, Deornoth! Wir sprechen beim Abendessen weiter.«

»Jawohl, Hoheit.« Deornoth, den Helm in der Hand, verbeugte sich und rannte dann, zwei Stufen auf einmal, die Treppe hinunter.

Josua ließ eine kleine Weile verstreichen, bevor er etwas sagte.

»Sieh dort, Alter, dort drüben«, begann er endlich und streckte den Arm über das Gewirr der Stadt Naglimund und die dahinterliegenden Wiesen und Äcker aus, deren Grün und Gelb der düstere Himmel schwarz übermalte. »Die Ratten kommen, um an unseren Mauern zu nagen. Wir werden diese Aussicht lange Zeit nicht mehr ungestört genießen – vielleicht nie mehr.«

»Die ganze Burg spricht von Elias' Ankunft, Josua.«

»Mit Recht.« Als hätte er den Anblick bis zur Neige gekostet, kehrte der Prinz der Brüstung den Rücken und heftete den eindringlichen Blick auf den helläugigen Alten. »Hast du Isgrimnur verabschiedet?«

»Ja. Es hat ihm nicht gefallen, daß er in aller Heimlichkeit abreisen mußte, und das vor Anbruch der Dämmerung.«

»Was hätten wir sonst tun sollen? Nachdem wir die Geschichte von seinem Auftrag in Perdruin verbreitet hatten, wäre es schwer erklärlich gewesen, wenn ihn jemand in Priestergewändern hätte aufbrechen sehen, noch dazu so bartlos wie einst als Knabe in Elvritshalla.« Der Prinz rang sich ein verbissenes Lächeln ab. »Gott weiß es, Jarnauga, obwohl ich mich selbst über seine Verkleidung lustig gemacht habe, ist es ein Messer in meinen Eingeweiden, daß ich diesen guten Mann aus den Armen seiner Familie gerissen und ihn fortgeschickt habe, damit er versucht, meine eigenen Fehler wieder gutzumachen.«

»Ihr seid der Gebieter, Josua. Das kann bedeuten, daß der Herr in manchen Dingen weniger frei ist als sein geringster Sklave.«

Der Prinz steckte den rechten Arm unter seinen Mantel. »Hat er Kvalnir mitgenommen?«

Jarnauga grinste. »Er trägt die Scheide unter seinem Übergewand. Möge Euer Gott dem gnädig sein, der diesen dicken, alten Mönch auszurauben gedenkt.«

Das müde Lächeln des Prinzen wurde sekundenlang breiter. »Nicht einmal unser Gott persönlich könnte ihm helfen, so wie Isgrimnur zur Zeit gelaunt ist.« Schon verschwand das Lächeln wieder. »Mach einen Gang über die Zinnen mit mir, Jarnauga. Ich brauche deine scharfen Augen und die Weisheit deiner Worte.«

»Es ist wahr, daß ich weiter sehen kann als die meisten anderen Menschen, Josua – mein Vater und meine Mutter brachten es mir bei. Darum trage ich auch meinen Namen, der in unserer Rimmerspakk ›Eisenaugen‹ bedeutet, denn ich habe gelernt, durch trügerische Schleier hindurchzusehen, wie schwarzes Eisen Zauber durchbohrt. Was jedoch das übrige angeht, so kann ich Euch zu dieser späten Stunde keine Weisheit versprechen, die dieses Namens würdig ist.«

Der Prinz machte eine abwehrende Handbewegung. »Ich habe den Verdacht, daß du uns schon sehr viel geholfen hast – nämlich dabei, vieles zu sehen, das uns sonst entgangen wäre. Erzähl mir von diesem Bund der Schriftrolle. Hat er dich nach Tungoldyr geschickt, um die Sturmspitze auszuspähen?«

Der alte Mann schritt neben Josua her, und seine Ärmel flatterten im Wind wie schwarze Banner. »Nein, Prinz, das ist nicht die Art des Bundes. Auch mein Vater war ein Träger der Schriftrolle.« Aus dem Halsausschnitt seiner Kleidung zog Jarnauga eine goldene Kette und zeigte Josua eine feingeschnittene Feder und Schriftrolle, die daran hingen. »Er erzog mich dazu, seine Stelle einzunehmen, und ich hätte mehr als das für ihn getan. Der Bund zwingt niemanden; er bittet die Menschen nur, das zu tun, was sie können.«

Josua ging schweigend und grübelnd weiter. »Wenn man doch auch ein Land so regieren könnte«, meinte er dann. »Wenn doch die Menschen täten, was sie sollten.« Er richtete den nachdenklichen Blick der grauen Augen auf den alten Rimmersmann. »Aber es ist nicht immer so einfach – Recht und Unrecht lassen sich nur selten so deutlich unterscheiden. Gewiß hat doch euer Bund auch einen Hohepriester oder Fürsten? War es Morgenes?«

Jarnaugas Lippen zuckten. »Es gibt in der Tat Zeiten, in denen es von Vorteil für uns wäre, einen Anführer, eine starke Hand, zu besitzen. Unser beklagenswerter Mangel an Vorbereitung auf die jetzigen Ereignisse beweist das.« Er schüttelte den Kopf. »Wir hätten Doktor Morgenes sicher ohne zu zögern diese Stellung eingeräumt, wenn er es gewünscht hätte. Er war ein Mann von unfaßbar tiefer Weisheit, Josua; ich hoffe nur, daß Ihr ihm zu seinen Lebzeiten mit größter Achtung begegnet seid. Aber er wollte davon nichts wissen. Ihm lag nur daran, zu forschen, zu lesen und Fragen zu stellen. Und dennoch danke ich allen höheren Mächten, wer sie auch sein mögen, daß wir ihn überhaupt so lange hatten. Seine Voraussicht ist jetzt unser einziger Schild.«

Josua blieb stehen und stützte die Ellenbogen auf die Brüstung. »Also hat euer Bund niemals einen Führer gehabt?«

»Nicht, seitdem König Eahlstan Fiskerne – Euer Sankt Eahlstan – ihn damals ins Leben rief…« Er brach ab und erinnerte sich. »Einmal hätte es fast jemanden gegeben, sogar zu meiner Zeit. Es war ein junger Hernystiri, auch eine von Morgenes' Entdeckungen. Er war fast so begabt wie der Doktor, jedoch weniger vorsichtig, so daß er Dinge studierte, die Morgenes nicht anfassen wollte. Er war ehrgeizig und meinte, wir sollten uns mehr zu einer Kraft des Guten aufbauen. Er hätte der Anführer werden können, den Ihr meint, Josua. Ein Mann von großer Weisheit und Kraft…«

Als der Alte nicht weitersprach, sah Josua ihn an. Jarnaugas Blick verlor sich am westlichen Horizont. »Was wurde aus ihm?« fragte der Prinz. »Ist er tot?«

»Nein«, antwortete Jarnauga langsam, und noch immer schweiften seine Augen über die wellige Ebene. »Nein, das glaube ich nicht. Er … er veränderte sich. Irgend etwas erschreckte oder verletzte ihn … oder sonst etwas. Er verließ uns; es ist schon lange her.«

»So habt auch ihr Mißerfolge«, sagte Josua und wollte weitergehen. Der alte Mann folgte ihm nicht.

»O ja«, antwortete er, hob die Hand, wie um die Augen zu beschatten und starrte in die unbestimmte Ferne hinaus. »Auch Pryrates war einst einer von uns.«

Bevor der Prinz etwas erwidern konnte, gab es eine Unterbrechung.

»Josua!« rief jemand unten im Hof. Die Falten um den Mund des Prinzen wurden tiefer.

»Die Herrin Vara«, erklärte er und drehte sich um, nach ihr hinunterzublicken. Empört stand sie da, in einem Kleid aus leuchtendem Rot, und der Wind wirbelte ihr Haar auf wie schwarzen Rauch. Neben ihr wartete unbehaglich Strupp.

»Was wollt Ihr von mir?« fragte der Prinz. »Ihr solltet im Bergfried sitzen. Ich befehle Euch, in den Turm zu gehen.«

»Ich war schon dort«, rief sie erbost hinauf. Sie hob ihren Kleidersaum und stöckelte auf die Treppe zu. Im Gehen redete sie weiter. »Und ich gehe auch bald dorthin zurück, habt keine Furcht. Aber zuerst muß ich noch einmal die Sonne sehen – oder wollt Ihr mich lieber in eine finstere Zelle sperren?«

Trotz seines Ärgers hatte Josua Mühe, sein strenges Gesicht zu wahren. »Der Himmel weiß, daß der Bergfried voller Fenster ist, Herrin.«

Stirnrunzelnd musterte er Strupp. »Kannst du sie nicht wenigstens von der Mauer fernhalten? Die Belagerung wird bald beginnen.«

Der kleine Mann zuckte die Achseln und hinkte hinter Vara die Stufen hinauf.

»Zeigt mir die Streitmacht Eures furchtbaren Bruders«, sagte sie, ein wenig außer Atem, sobald sie ihn erreicht hatte.

»Wenn sein Heer hier stünde, stündet Ihr nicht hier«, versetzte Josua gereizt. »Es ist nichts zu sehen, noch nicht. Geht jetzt bitte wieder nach unten!«

»Josua?« Jarnauga spähte noch immer nach dem wolkenverhangenen Westen. »Ich glaube, daß es vielleicht doch etwas zu sehen gibt.«

»Was?« Sofort war der Prinz an der Seite des alten Rimmersmannes, den Körper unbequem über die Brüstung gebeugt, während er sich anstrengte zu erkennen, was der andere erblickt hatte. »Ist es Elias? So schnell? Ich sehe nichts!« In ohnmächtigem Zorn schlug er mit der flachen Hand auf den Stein.

»Ich zweifle, daß es der Hochkönig ist, der so weit von Westen herkommt«, meinte Jarnauga. »Wundert Euch nicht, daß Ihr nichts erkennt. Wie ich Euch sagte, hat man mich gelehrt zu sehen, wo andere nichts finden können. Trotzdem ist dort etwas, viele Pferde und Männer, die auf uns zukommen, wenn auch zu weit entfernt, als daß man schätzen könnte, wie groß ihre Zahl ist. Dort.« Er deutete.

»Gelobt sei Usires!« rief Josua erregt. »Du mußt recht haben. Es kann nur Leobardis sein.« Plötzlich lebendig geworden, richtete er sich gerade auf. Gleichzeitig jedoch umwölkte sich sein Gesicht. »Das ist eine kitzlige Angelegenheit«, meinte er halb zu sich selbst. »Die Nabbanai dürfen nicht zu nahe herankommen, sonst werden sie uns nichts nützen, weil sie dann zwischen Elias und den Mauern von Naglimund gefangen sind. Das würde bedeuten, daß wir sie hereinlassen und dann noch ein paar Mäuler mehr stopfen müßten.« Er schritt auf die Treppe zu. »Wenn sie sich aber in zu großer Entfernung halten, werden wir sie unsererseits nicht schützen können, wenn Elias gegen sie vorgeht. Wir müssen ihnen Reiter entgegenschicken!« Er sprang in großen Sätzen die Stufen hinab und rief dabei nach Deornoth und Eadgram, dem Obersten der Wachen von Naglimund.

»Ach, Strupp«, sagte Vara, die Wangen vom Wind und dem schnellen Ablauf der Ereignisse gerötet, »wir werden doch noch gerettet! Es wird noch alles gut.«

»Das wäre mir sehr recht, Herrin«, erwiderte der Narr. »Ich habe das alles schon früher mit meinem Herrn Johan erlebt … und ich bin auf eine Wiederholung nicht erpicht.«

Unten im Burghof begannen die Soldaten zu fluchen und zu rufen. Auf dem Rand des Brunnens stand Josua, das schlanke Schwert in der Hand, und rief seine Befehle. Speere klirrten auf Schilden, und Helme und Schwerter wurden rasch aus den Ecken geholt, wo sie aufgestapelt gelegen hatten; und der Klang von Metall auf Metall stieg von den Mauern auf wie eine Beschwörung.


Graf Aspitis Preves tauschte ein paar knappe Worte mit Benigaris und lenkte dann sein Pferd neben das des Herzogs, um im gleichen Schritt mit ihm durch das hohe, taunasse Gras zu reiten. Am grauen Horizont stand wie ein glänzender Klecks die erste Morgensonne.

»Ah, der junge Aspitis!« sagte Leobardis jovial. »Was gibt es Neues?« Wenn sich das Verhältnis zwischen ihm und seinem Sohn bessern sollte, mußte er versuchen, umgänglich mit Benigaris' engen Freunden zu sein – selbst zu Aspitis, den er für eines der weniger gelungenen Ergebnisse des prevanischen Hauses hielt.

»Die Kundschafter sind soeben zurückgekehrt, Herzog.« Der Graf, ein hübscher schlanker Junge, war ganz blaß. »Wir befinden uns weniger als fünf Meilen vor den Mauern von Naglimund, Herr.«

»Gut! Wenn wir Glück haben, können wir am frühen Nachmittag dort sein.«

»Aber Elias ist uns voraus.« Aspitis sah zu dem Herzogssohn hinüber, der den Kopf schüttelte und einen unterdrückten Fluch ausstieß.

»Hat er bereits mit seinem ganzen Heer die Belagerung begonnen?« fragte Leobardis überrascht. »Wie denn? Hat er seinen Truppen das Fliegen beigebracht?«

»Nun … nein, Herr. Nicht Elias selber«, verbesserte sich Aspitis eilig. »Es ist ein starker Trupp, der unter der Fahne von Eber und Speeren reitet – Graf Guthwulf von Utanyeats Banner. Sie stehen etwa eine halbe Meile vor uns und werden uns von den Mauern abhalten wollen.«

Der Herzog schüttelte erleichtert den Kopf. »Wieviel Leute hat Guthwulf?«

»Etwa hundert Berittene, Herr, aber der Hochkönig kann nicht weit hinter ihm sein.«

»Nun, das soll uns wenig kümmern«, antwortete Leobardis und zügelte am Ufer eines der vielen kleinen Flüßchen, die das Wiesenland östlich des Grünwate kreuz und quer durchzogen, sein Roß. »Soll doch die Hand des Königs mit ihrer Schar dort warten, bis sie schwarz wird. Wir nützen Josua mehr, wenn wir den Belagerern aus einiger Entfernung zusetzen und ihm die Versorgungslinien offenhalten.« Wasser spritzte auf, als er durch die Furt ritt. Sofort spornten Benigaris und der Graf ihre Pferde und folgten ihm.

»Aber Vater«, begann Benigaris, »überlegt doch! Unsere Kundschafter melden, Guthwulf sei dem Heer des Königs vorangeritten, und das mit nur hundert Rittern.« Aspitis Preves nickte bestätigend, und Benigaris zog mit bedenklichem Stirnrunzeln die dunklen Brauen zusammen. »Wir haben dreimal soviele Männer, und wenn wir ein paar schnelle Reiter zu Josua schicken, können wir auch seine Truppen mit einbeziehen. Wir würden Guthwulf vor den Mauern von Naglimund zerschmettern wie zwischen Hammer und Amboß.« Er grinste und klopfte seinem Vater auf die gepanzerte Schulter. »Bedenkt doch einmal, wie das König Elias schmecken würde – wäre es nicht ein gehöriger Denkzettel für ihn?«

Eine lange Minute ritt Leobardis schweigend weiter. Er drehte sich um und betrachtete die wogenden Banner seiner Legionen, die sich mehrere Achtelmeilen weit über die Wiesen verteilten. Die Sonne hatte gerade eine dünnere Stelle am dicht bewölkten Himmel gefunden und gab dem windgebeugten Gras Farbe. Es erinnerte ihn an das Seenland östlich seines Palastes.

»Ruft den Trompeter«, erklärte er, und Aspitis machte kehrt und schrie einen Befehl.

»Heja! Ich werde Reiter nach Naglimund schicken, Vater«, sagte Benigaris und lächelte, fast als wäre er erleichtert. Der Herzog sah, wie gierig nach Ruhm sein Sohn war, aber sein Ruhm würde auch Nabbans Ruhm sein.

»Nimm deine schnellsten Reiter, mein Sohn«, rief er Benigaris nach, der durch die Linien zurückritt. »Denn wir werden schneller vorrücken, als es sich irgend jemand träumen läßt!« Er hob die Stimme zu einem lauten Ruf, und überall auf dem weiten Feld drehten sich ihm die Köpfe zu. »Die Legionen sollen reiten! Für Nabban und Mutter Kirche! Wehe unseren Feinden!«

Wenig später war Benigaris wieder da und meldete, daß die Boten unterwegs seien. Herzog Leobardis ließ die Trompeten einmal und dann noch einmal erschallen, und das gewaltige Heer setzte sich im Geschwindschritt in Marsch. Hufschlag dröhnte und rollte wie schnelles Trommeln über die Wiesensenken, als sie den Inniscrich hinter sich ließen. Am trüben Morgenhimmel stieg die Sonne auf, und die Banner flatterten blau und golden. Der Eisvogel flog nach Naglimund.


Josua war noch nicht damit fertig, sich den schmucklosen, blankpolierten Helm überzustülpen, als er schon an der Spitze von vierzig Rittern zum Tor hinaustrabte. Der Harfner Sangfugol rannte neben ihm her und streckte ihm etwas entgegen; der Prinz zügelte sein Pferd und ließ es in Schritt fallen.

»Was hast du, Mann?« fragte er ungeduldig und ließ den suchenden Blick über den nebligen Horizont schweifen.

Der Harfner rang nach Atem. »Es ist … Eures Vaters Banner, Prinz Josua«, keuchte er und reichte es ihm hinauf. »Vom … Hochhorst mitgebracht. Ihr tragt … als einzige Standarte … den grauen Schwan von Naglimund – könntet Ihr Euch ein besseres Banner als Johans wünschen?«

Der Prinz starrte auf die rotweiße Fahne, die halb entrollt auf seinem Schoß lag. Grimmig blitzte das Auge des Feuerdrachen, als bedrohe ein Eindringling den heiligen Baum, um den er sich geringelt hatte. Deornoth, Isorn und ein paar andere Ritter neben ihnen lächelten erwartungsvoll.

»Nein«, sagte Josua und gab Sangfugol das Banner zurück. Seine Augen waren kalt. »Ich bin nicht mein Vater. Und ich bin kein König.«

Er wandte sich ab, schlang die Zügel um den rechten Arm und hob die Hand.

»Vorwärts!« rief er. »Wir reiten unseren Freunden und Verbündeten entgegen!«

Mit seiner Schar ritt er die steilen Straßen der Stadt hinab. Ein paar Blumen, von Menschen, die ihnen Glück wünschten, von den Burgmauern geworfen, flatterten auf den zerstampften, schlammigen Weg.


»Was siehst du, Rimmersmann?« fragte Strupp, tiefe Falten auf der Stirn. »Warum murmelst du so vor dich hin?«

Josuas kleine Schar war nur noch ein Farbfleck, der rasch in der Weite verschwand.

»Vom Rand der südlichen Berge kommt ein Reitertrupp«, erklärte Jarnauga. »Von hier aus sieht es nicht nach einem großen Heer aus, aber sie sind noch sehr weit weg.« Er schloß sekundenlang die Augen, als wollte er sich an etwas erinnern und schlug sie dann wieder auf, um in die Ferne zu starren.

Strupp machte instinktiv das Zeichen des Baumes. Die Augen des alten Rimmersmannes waren so hell und leuchteten so wild wie Lampen aus Saphir.

»Ein Eberkopf zwischen gekreuzten Speeren«, zischte Jarnauga, »wer trägt das?«

»Guthwulf«, antwortete Strupp verwirrt. Nach allem, was der alte Narr am Horizont erkennen konnte, hätte Jarnauga ebensogut Gespenstern zuschauen können. »Der Graf von Utanyeat – die königliche Hand

Ein Stück weiter auf der Mauer sah die Herrin Vara sehnsüchtig der immer kleiner werdenden Reiterschar des Prinzen nach.

»Dann kommt er von Süden herauf, vor Elias' Hauptmacht. Es sieht aus, als hätte Leobardis ihn bemerkt; die Nabbanai schwenken nach den Südbergen um, als wollten sie ihn zum Kampf herausfordern.«

»Wieviele … wieviele Männer?« fragte Strupp, der allmählich ganz und gar den Überblick verlor. »Wie kannst du das überhaupt alles erkennen? Ich sehe gar nichts, und dabei ist doch mein Augenlicht das einzige, das –«

»Hundert Ritter, vielleicht auch weniger«, unterbrach ihn Jarnauga. »Das ist das Besorgniserregende: Warum so wenige?«

»Barmherziger Gott! Was hat der Herzog vor?« fluchte Josua und hob sich in den Bügeln, um besser Umschau halten zu können. »Er ist nach Osten umgeschwenkt und hält in vollem Galopp auf die Südberge zu. Hat er den Verstand verloren?«

»Seht doch, Herr!« rief Deornoth zu ihm hinüber. »Seht dort, am Saum des Stierrückenberges!«

»Bei der Liebe Ädons, es ist das Heer des Königs! Was tut Leobardis? Glaubt er, er könne Elias allein angreifen?« Josua gab seinem Pferd einen Schlag auf den Hals und spornte es vorwärts.

»Es sieht aus, als wäre es nur eine kleine Schar, Prinz Josua«, rief Deornoth. »Vielleicht die Vorhut.«

»Warum hat er nur keine Reiter zu uns geschickt?« fragte Josua klagend. »Seht nur, sie werden versuchen, sie nach Naglimund zu treiben, um sie dort vor der Mauer in die Falle zu locken. Warum um Gotteswillen hat Leobardis mir keine Boten gesandt?« Er seufzte und wandte sich Isorn zu, der sich den Bärenhelm seines Vaters von der Stirn geschoben hatte, um den Horizont besser überblicken zu können. »Jetzt werden wir doch noch zeigen müssen, ob wir Mut haben, Freund.«

Die Unvermeidlichkeit des Kampfes schien Gelassenheit über Josua zu legen wie einen Mantel. Seine Augen waren ruhig und auf den Lippen stand ein wunderliches, halbes Lächeln. Isorn grinste zu Deornoth hinüber, der seinen Schild vom Sattelknauf löste, und schaute dann wieder den Prinzen an.

»Zeigen wir es ihnen, Herr«, sagte der Herzogssohn.

»Reitet!« schrie der Prinz. »Vor uns steht der Räuber von Utanyeat. Reitet!« Damit spornte er sein scheckiges Schlachtroß zum Galopp, daß der Boden unter den Hufen aufspritzte.

»Für Naglimund!« rief Deornoth und riß das Schwert hoch. »Für Naglimund und unseren Prinzen!«


»Guthwulf hält stand«, berichtete Jarnauga. »Er hält am Berg und läßt die Nabbanai auf sich zukommen. Josua reitet ihnen jetzt entgegen.«

»Kämpfen sie?« erkundigte Vara sich ängstlich. »Was ist mit dem Prinzen?«

»Er hat den Kampfplatz noch nicht erreicht – aber dort!« Jarnauga lief auf der Mauer entlang bis zum kleinen Südwestturm. »Jetzt treffen Guthwulfs Ritter auf den ersten Angriff der Nabbanai. Alles geht durcheinander!« Er kniff die Augen zusammen und rieb sie mit den Knöcheln.

»Was? Was!?« Strupp steckte den Finger in den Mund und nagte mit aufgerissenen Augen daran herum. »Verlier jetzt deine Stimme nicht, Rimmersmann!«

»Es ist schwer, aus dieser Entfernung zu erkennen, was dort vor sich geht«, erläuterte Jarnauga unnötigerweise, denn weder seine beiden Begleiter noch sonst jemand auf den Burgmauern konnte mehr als die schwache Andeutung einer Bewegung im Schatten des in Dunst gehüllten Stierrückenberges ausmachen. »Der Prinz greift in den Kampf ein. Leobardis' und Guthwulfs Ritter sind über den ganzen Berg verstreut. Jetzt … jetzt…«

Er verstummte und konzentrierte sich.

»Ah!« sagte Strupp angewidert und schlug sich auf den dürren Schenkel. »Bei Sankt Muirfath und dem Erzengel, das ist das allerschlimmste. Ich könnte genauso gut in einem … Buch darüber lesen. Verdammt, Mann – sag doch etwas!«


Vor Deornoth entfaltete sich alles wie ein Traum – der verschwommene Glanz der Rüstungen, das Geschrei und der gedämpfte Aufprall von Klingen auf Schilden. Als die Schar des Prinzen auf die Kämpfenden zujagte, sah er nach und nach die Gesichter der Nabbanai-Ritter und ebenso die der Erkynländer deutlicher werden und merkte, wie eine Woge von Überraschung über die Schlacht ging. Einen Augenblick lang, der außerhalb aller Zeit lag, kam er sich wie eine schimmernde Schaumflocke vor, gefangen auf dem Kamm einer überhängenden Welle. Gleich darauf, mit furchtbarem Aufbrüllen und Waffengeklirr, waren sie mitten in der Schlacht. Josuas Ritter prallten mit voller Wucht auf die Flanke von Guthwulfs Männern.

Jäh kam einer auf ihn zu, ein blankes Helmgesicht über dem rollenden Auge und rotem Maul des Schlachtrosses. Deornoths Schulter traf ein Schlag, der ihn im Sattel wanken ließ; die Lanze des anderen Ritters fand seinen Schild und glitt daran ab. Sekundenlang sah er den dunklen Überrock des anderen unmittelbar vor sich und schwang mit beiden Händen sein Schwert. Er spürte den bebenden Aufprall, als es am Schild des Gegners vorbeisauste und seine Brust durchbohrte. Der andere stürzte vom Roß in Schlamm und blutiges Gras.

Einen Moment stand er frei. Er sah sich um und suchte Josuas Banner, ein schwaches Ziehen in der Schulter. Der Prinz und Isorn Isgrimnur-Sohn kämpften Rücken an Rücken inmitten einer strudelnden Brandung von Guthwulfs Rittern. Josuas rasche Hand schoß vor, und Naidel durchstieß das Visier eines der Reiter mit den schwarzen Helmbüschen. Die Hände des Mannes flogen an sein metallbedecktes Gesicht und färbten sich sogleich rot. Dann wurde er vom Pferd gerissen und war nicht mehr zu sehen, als das nunmehr zügellose Tier sich aufbäumte.

Deornoth erkannte Leobardis, den Herzog von Nabban, der am äußersten Südostrand der Schlacht unter seiner wogenden Eisvogelfahne hielt. Zwei Ritter bändigten neben ihm ihre scheuenden Pferde; Deornoth hielt den großen in der getriebenen Rüstung für den Herzogssohn Benigaris. Verdammter Kerl! Leobardis war alt, aber was tat Benigaris so fern vom Geschehen? Es war schließlich Krieg!

Eine Gestalt türmte sich vor ihm auf, und Deornoth trieb sein Pferd nach links, um einem niedersausenden Schlachtbeil auszuweichen. Der Reiter jagte vorbei, ohne sich noch einmal umzudrehen, aber ein anderer folgte ihm. Eine Weile kannte Deornoths Kopf nur noch den Tanz der Streiche, als er mit Guthwulfs Ritter Schläge tauschte; der Lärm des Feldes schien zu einem eintönigen Rauschen herabzusinken, das an stürzendes Wasser erinnerte. Endlich fand er eine Lücke in der Verteidigung des anderen und landete einen krachenden Schwerthieb auf dessen Helm, der am Scharnier des Visiers zerbrach. Der Ritter kippte zur Seite und nach unten. Sein Fuß verfing sich im Steigbügel, so daß er herunterhing wie ein geschlachtetes Schwein in einer Vorratskammer. Sein vor Angst wahnsinniges Pferd schleifte ihn fort.

Graf Guthwulfs schwarzer Mantel und Helm waren jetzt nur noch einen Steinwurf weit entfernt. Mit seinem großen Breitschwert teilte der Graf Hiebe nach rechts und links aus und hielt zwei Nabbanai-Reiter in blauen Mänteln in Schach, als wären sie nur Knaben. Deornoth beugte sich im Sattel nach unten, um sein Pferd auf ihn zuzutreiben – welch ein Ruhm, sich mit dem Ungeheuer von Utanyeat zuschlagen! –, als ein stürzender Gaul neben ihm sein Pferd plötzlich in die Gegenrichtung abdrängte.

Noch immer verwirrt, als träume er, merkte er, daß es ihn bergab an den Rand des Schlachtfeldes verschlagen hatte. Vor ihm wehte Leobardis' blaugoldenes Banner; der Herzog, dessen weißes Haar unter dem Helm hervorströmte, stand hoch in den Bügeln und feuerte seine Männer an, ja er zog sich gerade das Visier über die blitzenden Augen, um sich selber ins Getümmel zu stürzen.

Deornoth hatte den Blick noch nicht von ihm abgewendet, als sein Traum jäh zum Alptraum wurde. Der Mann, den er für Benigaris hielt, zog eine lange Klinge hervor. Er bewegte sich dabei so langsam, daß Deornoth fast das Gefühl hatte, er könne die Hand ausstrecken und den anderen festhalten. Zielsicher und bedächtig stieß der Nabbanai dem Herzog unterhalb des Helms seinen Dolch in den Nacken. In der wimmelnden Menge und dem Lärm der Schlacht schien es, als sehe nur Deornoth die furchtbare Tat. Als die Klinge, purpurn befleckt, wieder herausgezogen wurde, krümmte sich Leobardis und griff sich mit bebenden, behandschuhten Händen an den Hals, den er einen Augenblick umklammerte, als wollte er in seinem alles überwältigenden Gram noch etwas sagen. Gleich darauf sackte der Herzog im Sattel vornüber und fiel auf den weißen Nacken seines Pferdes. Sein Blut schoß hervor und färbte die Mähne, bevor er vom Sattel schwer zu Boden stürzte.

Benigaris warf ihm einen kurzen Blick zu, als betrachte er einen aus dem Nest gefallenen Vogel, dann hob er das Horn zum Munde. Inmittendes brüllenden Chaos auf allen Seiten war es Deornoth sekundenlang, als gewahre er in Benigaris' schwarzem Helmschlitz ein Glänzen, so als habe der Herzogssohn über die Köpfe der vielen kämpfenden Männer, die sie voneinander trennten, seinen Blick aufgefangen. Lange und rauh ertönte das Horn, und viele wandten die Köpfe danach.

»Tambana Leobardis eis!« brüllte Benigaris mit grausiger Stimme, heiser und gramvoll. »Der Herzog ist gefallen! Mein Vater erschlagen! Zieht euch zurück!«

Wieder stieß er ins Horn, und noch während Deornoth ihn in ungläubigem Entsetzen anstarrte, erklang vom Berghang über ihnen ein anderer Hornruf. Eine Schar bewaffneter Reiter sprengte aus dem Schattenversteck der Bäume hervor.


»Lichter des Nordens!« stöhnte Jarnauga und versetzte Strupp in erneute Zuckungen ohnmächtiger Wut.

»Sag es uns! Wie läuft die Schlacht?«

»Ich fürchte, sie ist verloren«, erwiderte der Rimmersmann mit hohler Stimme. »Jemand ist gefallen.«

»Nein!« keuchte Vara mit Tränen in den Augen. »Josua! Es ist doch nicht Josua?«

»Ich kann es nicht sagen. Ich glaube eher, daß es Leobardis ist. Aber jetzt kommt vom Berg herunter ein neuer Trupp, unter den Bäumen hervor. Rotmäntel … auf dem Banner ist ein … Adler?«

»Fengbald«, ächzte Strupp, riß sich die Schellenkappe vom Kopf und knallte sie klirrend auf die Steine. »Mutter Gottes, es ist Graf Fengbald! Oh, Usires Ädon, rette unseren Prinzen! Diese Hurensöhne! Bastarde!«

»Sie gehen auf Josua nieder wie ein Hammer«, fuhr Jarnauga fort. »Und die Nabbanai scheinen verwirrt. Sie … sie…«


»Zieht euch zurück!« schrie Benigaris, und Aspitis Preves neben ihm zog das Banner aus den kraftlosen Armen von Leobardis' Knappen und ritt den jungen Mann nieder.

»Es sind zu viele!« rief Aspitis. »Zieht euch zurück! Der Herzog ist tot!«

Deornoth riß sein Pferd herum und stürzte sich von neuem ins Gefecht, um sich zu Josua durchzuschlagen.

»Eine Falle!« brüllte er. Fengbalds Ritter donnerten mit blinkenden Lanzen den Berg hinunter. »Josua! Es ist eine Falle!«

Er hackte sich einen Weg durch zwei von Guthwulfs Ebern, die sich ihm entgegenstellen wollten, kassierte einige harte Hiebe auf Schild und Helm, rannte dem zweiten Mann das Schwert mitten durch die Kehle und hätte es fast verloren, als es im Rückgrat steckenblieb. Er sah ein blutiges Rinnsal über sein Visier laufen und wußte nicht, ob es sein Blut oder das eines anderen war.

Der Prinz rief seine Ritter zurück. Durch Geschrei und Waffengeklirr gellte Isorns Horn.

»Benigaris hat den Herzog ermordet!« schrie Deornoth. Josua sah erstaunt auf die blutbespritzte Gestalt, die da auf ihn zugaloppierte. »Benigaris hat ihn hinterrücks erstochen! Wir sitzen in der Falle.«

Einen kurzen Moment zögerte der Prinz und hob die Hand, als wolle er das Visier lüften und sich umsehen. Fengbald und seine Adler hatten die Flanke der Nabbanai angegriffen, um ihnen den Rückzug abzuschneiden.

Gleich darauf hob der Prinz den zügelumwickelten Schildarm. »Dein Horn, Isorn!« rief er. »Wir müssen uns den Weg freikämpfen! Zurück! Zurück nach Naglimund! Wir sind verraten!«

Mit einem gellenden Hornstoß und einen gewaltigen Aufschrei der Wut drangen nun die Ritter des Prinzen auf Fengbalds weit auseinandergezogene, purpurrote Schlachtreihe ein. Deornoth spornte sein Pferd, um die vorderste Linie zu erreichen, und sah, wie Josuas wirbelnde Klinge die Abwehr des ersten Adlers durchbrach und gleich einer Schlange zustieß, tief unter den Arm des Mannes, hinein und hinaus. Gleich darauf sah sich Deornoth einer ganzen Heerschar von Rotmänteln gegenüber. Fluchend schwang er sein Schwert. Ohne daß er es wußte, waren seine Wangen unter dem Helm naß von Tränen.

Fengbalds Männer, von der Wildheit der Angreifer erschreckt, schwenkten langsam herum, und die Naglimunder nutzten diesen Augenblick zum Durchbruch. Hinter ihnen befanden sich die Legionen von Nabban bereits in vollem Rückzug und flohen in ungeordneten Haufen dem Inniscrich zu. Guthwulf verfolgte sie nicht, sondern vereinigte seine Truppen mit denen Fengbalds, um Josuas ebenfalls fliehenden Rittern nachzusetzen.

Deornoth umklammerte den Hals seines Schlachtrosses. Er konnte den rasselnden Atem des Tieres hören, als sie in vollem Galopp über Wiesen und brachliegendes Ackerland brausten. Langsam verstummte hinter ihnen der Lärm der Verfolger, und die Mauern von Naglimund ragten vor ihnen auf.

Das Tor hob sich, ein schwarzer, offener Mund. Deornoth starrte es an, und sein Kopf dröhnte wie eine geschlagene Trommel. Plötzlich wünschte er sich nur noch, verschluckt zu werden – in tiefes, lichtloses Vergessen zu sinken und nie wieder aufzutauchen.

XL Das grüne Zelt

»Nein, Prinz Josua. Eine solche Torheit können wir Euch nicht gestatten.« Isorn, der sein Bein schonte, setzte sich schwerfällig hin.

»Gestatten?« Der Prinz hob den Blick vom Boden und sah dem Rimmersmann ins Gesicht. »Seid Ihr meine Bewacher? Bin ich ein unmündiges Kind auf dem Thron oder ein Schwachsinniger, daß man mir sagen muß, was ich zu tun habe?«

»Mein Prinz«, begann Deornoth und legte Isorn die Hand aufs Knie, damit er schwieg, »natürlich seid Ihr es, der hier gebietet. Folgen wir nicht Eurem Befehl? Haben wir Euch nicht alle Bündnistreue geschworen?« Die Köpfe im Raum nickten düster. »Aber Ihr verlangt zuviel von uns, das müßt Ihr verstehen. Glaubt Ihr denn wirklich noch, Ihr könntet dem König trauen, nachdem man uns solchen Verrat angetan hat?«

»Ich kenne ihn wie kein anderer von Euch.« Josua, als verbrenne ihn ein inneres Feuer, sprang vom Stuhl auf und trat zu seinem Tisch. »Er wünscht meinen Tod, das steht fest, aber nicht auf diese Weise. Nicht so ehrlos. Wenn er mir freies Geleit schwört – und wir offensichtliche Dummheiten vermeiden –, dann werde ich unverletzt zurückkehren. Er möchte immer noch wie ein Hochkönig auftreten, und ein Hochkönig erschlägt nicht seinen unbewaffneten Bruder, der unter der Parlamentärflagge zu ihm kommt.«

»Und warum hat er Euch dann in eine Zelle geworfen, wie Ihr es uns erzählt habt?« erkundigte sich Ethelferth von Tinsett mit finsterer Miene. »Haltet Ihr das für ein Zeichen seiner Ehrenhaftigkeit?«

»Nein«, entgegnete Josua, »aber ich glaube nicht, daß dieser Einfall von Elias stammt. Ich sehe keine andere Hand als die von Pryrates darin, jedenfalls nicht vor Ausführung der Tat. Elias ist zum Ungeheuer geworden – Gott helfe mir, denn er war einst mein Bruder, nicht nur dem Blute nach –, aber ich meine, daß er noch immer ein gewisses, verqueres Ehrgefühl besitzt.«

Deornoth stieß zischend die Luft aus. »So, wie er es Leobardis gegenüber bewies?«

»Die Ehre des Wolfes, der die Schwachen tötet und vor den Starken ausreißt«, spottete Isorn.

»Ich glaube nicht.« Josuas geduldige Grimasse wurde noch mühsamer. »Benigaris' Vatermord schmeckt mir nach altem Groll seinerseits. Ich habe den Verdacht, daß Elias…«

»Prinz Josua, mit Verlaub«, unterbrach ihn Jarnauga. Im Zimmer hoben sich verschiedene Augenbrauen. »Meint Ihr nicht, daß Ihr Euch allzusehr bemüht, Entschuldigungen für Euren Bruder zu finden? Die Sorgen Eurer Lehensleute sind nicht unberechtigt. Nur weil Elias eine Unterredung mit Euch wünscht, braucht Ihr noch lange nicht zu ihm zu gehen. Niemand wird an Eurer Ehre zweifeln, wenn Ihr es nicht tut.«

»Ädon steh mir bei, Mann, ich pfeife auf das, was andere von meiner Ehre denken!« fuhr der Prinz ihn an. »Ich kenne meinen Bruder, und ich kenne ihn auf eine Art, die Ihr alle nicht verstehen könnt – und sag mir nicht, er hätte sich verändert, Alter«, kam er finster blickend Jarnaugas Worten zuvor, »denn auch das weiß niemand besser als ich. Aber dennoch will ich zu ihm gehen, und ich schulde Euch keine weiteren Erklärungen dafür. Bitte laßt mich nun allein.«

Er kehrte dem Tisch den Rücken und winkte die Männer aus dem Zimmer.


»Ist er verrückt geworden, Deornoth?« fragte Isorn, das breite Gesicht voller Unruhe. »Wie kann er dem König so in die blutigen Hände laufen?«

»Starrköpfigkeit, Isorn – aber wer bin ich, daß ich das sagen darf? Vielleicht weiß er wirklich, wovon er redet.« Deornoth schüttelte den Kopf. »Steht das verdammte Ding noch da?«

»Das Zelt? Ja. Gerade außer Bogenschußweite vor den Mauern und genauso weit von Elias' Feldlager entfernt.«

Deornoth ging langsam und ließ den jungen Rimmersmann den Schritt vorgeben, den sein verwundetes Bein verlangte. »Gott sei uns gnädig, Isorn, aber ich habe ihn noch nie so erlebt, und ich diene ihm, seit ich alt genug bin, ein Schwert zu ziehen. Es ist, als wolle er unbedingt beweisen, daß Gwythinn recht hatte, als er ihm Unwilligkeit vorwarf.« Deornoth seufzte. »Nun gut – wenn wir ihn nicht zurückhalten können, müssen wir wenigstens unser bestes tun, ihn zu schützen. Sprach der Herold des Königs wirklich von nur zwei Leibwächtern?«

»Und dasselbe für Elias.«

Deornoth nickte und dachte nach. »Wenn ich meinen Arm«, er deutete auf die Schlinge aus weißem Leinen, »übermorgen wieder bewegen kann, wird mich keine Macht der Welt davon abhalten, einer dieser beiden Wächter zu sein.«

»Und ich bin der andere«, erklärte Isorn.

»Ich würde es besser finden, wenn du mit ungefähr zwanzig Reitern hinter der Mauer bereitstehen würdest. Wir wollen lieber mit Herrn Eadgram sprechen, dem Obersten der Wachen. Wenn es einen Hinterhalt gibt – und sei es nur ein Sperling, der aus dem königlichen Feldlager nach dem Zelt fliegt –, kannst du in wenigen Herzschlägen bei uns sein.«

Isorn nickte. »Das ist anzunehmen. Vielleicht können wir auch noch einmal mit dem weisen Jarnauga sprechen und ihn um einen Schutzzauber für Josua bitten.«

»Was er braucht – und ich sage es wirklich nur ungern –, ist ein Zauber, der ihn vor seiner eigenen Voreiligkeit schützt.« Deornoth machte einen Schritt über eine große Pfütze. »Außerdem hilft kein Zauber gegen einen Dolch im Rücken.«


Lluths Lippen bewegten sich pausenlos und stumm, als gebe er eine endlose Folge von Erklärungen ab. Seit dem Vortag war sein Murmeln lautlos geworden; Maegwin verfluchte sich, weil sie sich seine letzten Worte nicht gemerkt hatte. Aber sie war überzeugt gewesen, daß er, wie schon viele Male vorher seit seiner Verwundung, die Stimme wiedererlangen würde. Dieses Mal jedoch, das konnte sie fühlen, würde es anders sein.

Die Augen des Königs waren geschlossen, aber der Ausdruck seines wachsbleichen Gesichtes wechselte unaufhörlich zwischen Angst und Sorge. Maegwin berührte die brennende Stirn, spürte die sich im unvollständigen Sprechrhythmus schwach bewegenden Muskeln und hatte wieder das Gefühl, sie müsse weinen, als überschwemmten sie die unvergossenen Tränen, bis sie sich am Ende gewaltsam einen Weg durch die Haut ins Freie bahnten. Aber sie hatte seit der Nacht, in der ihr Vater sein Heer zum Inniscrich geführt hatte, nicht mehr geweint – nicht einmal, als sie ihn auf einer Bahre zurückbrachten, fast von Sinnen vor Schmerz, die meterlangen Stoffbinden um seinen Leib triefend von Blut. Wenn sie damals nicht geweint hatte, brauchte sie es nie mehr zu tun. Tränen waren für Kinder und Schwachköpfe.

Eine Hand berührte ihre Schulter. »Maegwin. Prinzessin.« Es war Eolair, das kluge Gesicht so ordentlich in Kummerfalten gelegt wie ein Sommerkleid, das man für den Winter zusammenfaltet. »Ich muß mit Euch sprechen – draußen.«

»Geht, Graf«, antwortete sie und sah auf das einfache Bett aus Holzbalken und Stroh. »Mein Vater liegt im Sterben.«

»Ich teile Euren Kummer, Herrin.« Seine Berührung wurde schwerer, wie ein Tier, das blind im Dunkeln tastet. »Glaubt mir, es ist so. Aber die Lebenden müssen leben, das wissen die Götter, und Euer Volk braucht Euch jetzt.« Als empfände er seine Worte als zu kalt und zu stolz, drückte er noch einmal kurz ihren Arm und ließ sie dann los. »Bitte. Lluth ubh-Llythinn würde es nicht anders wollen.«

Maegwin schluckte eine bittere Bemerkung hinunter. Natürlich hatte er recht. Sie stand mit vom steinernen Höhlenboden schmerzenden Knien auf und folgte ihm, vorbei an ihrer jungen Stiefmutter Inahwen, die still am Fuße des Lagers saß und auf die flackernden Wandfackeln starrte.

Schaut uns doch an, dachte Maegwin verwundert. Tausend, tausend Jahre haben die Hernystiri gebraucht, um aus ihren Höhlen hinaus ans Sonnenlicht zu kriechen. Sie duckte sich, um unter der tiefen Stelle der Höhlendecke durchzugehen, und kniff vor dem rußigen Fackelrauch die Augen zusammen. Und nun hat es nicht einmal einen Monat gebraucht, um uns wieder hineinzutreiben. Wir sind dabei, zu Tieren zu werden. Die Götter haben uns den Rücken gekehrt.

Als sie hinter Eolair in das Licht des Tages hinaustrat, hob sie ihren Kopf wieder. Um sie herum war die Unordnung des Lagertages, sorgsam bewachte Kinder, die auf der lehmigen Erde spielten, Frauen des Hofes, vielfach in ihren zerfetzten Staatskleidern, die kniend Eichhörnchen und Hasen für den Kochkessel zubereiteten und auf flachen Steinen Korn mahlten. Die Bäume auf dem mit Felsen übersäten Berghang umgaben sie dicht von allen Seiten und neigten sich unwillig vor dem Wind.

Fast alle Männer waren fort. Wer nicht am Inniscrich sein Leben gelassen hatte oder im Wabengewirr der Höhlen seine Wunden versorgt bekam, befand sich auf der Jagd oder bewachte die unteren Hänge vor Angriffen von Skalis Truppen, deren Aufgabe es war, Hernystirs wankenden Widerstand endgültig zu zerschlagen.

Alles, was uns bleibt, sind Erinnerungen, dachte sie und betrachtete ihren schmutzigen und zerlumpten Rock, und unsere Verstecke im Grianspog. Man hat uns in die Enge getrieben wie Füchse. Wenn der Herr Elias kommt, um seinem Hund Skali die Beute aus dem Maul zu nehmen, sind wir erledigt.

»Was wollt Ihr von mir, Graf?« fragte sie.

»Nicht ich bin es, der etwas will, Maegwin«, antwortete Eolair kopfschüttelnd, »es ist Skali. Ein paar von den Posten sind zurückgekommen und sagen, er stehe schon den ganzen Morgen unten am Moir Brach und schreie nach Eurem Vater.«

»Laßt doch das Schwein schreien«, entgegnete Maegwin mit finsterer Miene. »Warum jagt ihm nicht einer von den Männern einen Pfeil durch das schmutzige Fell?«

»Er ist außer Bogenschußweite, Prinzessin. Zudem hat er ein halbes Hundert Männer bei sich. Nein, ich meine, wir sollten nach unten gehen und ihn anhören – aus der Deckung natürlich, ohne daß er uns sieht.«

»Natürlich«, erwiderte sie verächtlich. »Aber warum sollte uns kümmern, was Scharfnase schwatzt? Bestimmt verlangt er nur wieder, daß wir uns unterwerfen.«

»Möglich.« Graf Eolair senkte grübelnd den Blick, und Maegwin fühlte, wie eine Welle von Mitleid für ihn in ihr aufstieg, weil er ihre schlechte Laune ertragen mußte. »Aber ich glaube, daß es mehr ist, Herrin. Er steht schon über eine Stunde dort, sagen die Männer.«

»Also gut.« Sie sehnte sich danach, von Lluths dunklem Bett fortzukommen, und haßte sich zugleich für diesen Wunsch. »Ich will nur meine Schuhe anziehen, dann begleite ich Euch.«


Sie brauchten fast eine Stunde, um durch den Bergwald nach unten zu steigen. Der Boden war feucht und die Luft kalt; Maegwins Atem kam in kleinen Wolken, als sie sich hinter Eolair ihren Weg durch die Klüfte suchte. Die graue Kälte hatte die Vögel aus dem Circoille vertrieben oder sie verstummen lassen. Kein Laut begleitete ihren Gang außer dem bebenden Murmeln windgepeitschter Äste.

Während sie den Grafen von Nad Mullagh beobachtete, der mit schlankem Rücken und glänzendem Haarschweif behende wie ein Kind durch das Unterholz glitt, war Maegwin wieder einmal von dumpfer, hoffnungsloser Liebe zu ihm erfüllt. Es kam ihr so albern vor, dieses Gefühl – bei ihr, dem langen, tolpatschigen Kind eines sterbenden Mannes –, daß es in eine Art Zorn umschlug. Als Eolair sich umdrehte, um ihr über einen vorspringenden Stein zu helfen, runzelte sie so finster die Stirn, als hätte er ihr statt seiner Hand eine Beleidigung geboten.

Die im Gehölz oberhalb des langgestreckten Bergrückens, der Moir Brach hieß, zusammengekauerten Männer blickten erschreckt auf, als Eolair und Maegwin auf sie zukamen. Sie senkten jedoch sofort wieder die Bogen und winkten die beiden nach vorn. Maegwin spähte durch das Farnkraut den steinernen Finger hinunter, von dem der Kamm seinen Namen hatte, und sah unten eine wimmelnde Schar ameisengroßer Gestalten, etwa drei Achtelmeilen von ihnen entfernt.

»Er hat gerade aufgehört zu sprechen«, flüsterte einer der Posten – ein Knabe noch, die Augen groß vor Unruhe. »Ihr werdet sehen, Prinzessin, er fängt gleich wieder an.«

Wie abgesprochen, trat aus der Schar der Männer in Helmen und Umhängen, die einen Wagen mit Pferdegespann umringten, eine einzelne Gestalt hervor. Sie hob die Hände zum Mund und sah auf eine Stelle, die etwas nördlich vom Versteck der Beobachter lag.

»Zum letzten Mal…«, klang die durch die Entfernung gedämpfte Stimme nach oben, »ich biete euch … Geiseln … Ausgleich für…«

Maegwin strengte sich an, die Worte zu verstehen. Auskünfte?

»… über den Zauberlehrling und … Prinzessin…«

Eolair warf einen schnellen Blick auf Maegwin, die erstarrt dasaß. Was wollten sie von ihr?

»Wenn ihr uns nicht sagt, wo … Prinzessin … werden wir diese … Geiseln…«

Der Sprecher, von dem Maegwin sicher war, daß es sich um Skali selber handelte, nur danach, wie er so breitbeinig dastand und nach dem mürrischen, höhnischen Unterton in seiner Stimme, den selbst die Entfernung nicht völlig verwischen konnte, schwenkte den Arm. Eine widerstrebende Frau in hellblauen Fetzen wurde vom Wagen gezerrt und zu ihm gebracht. Maegwin starrte hinunter und fühlte einen häßlichen Druck auf ihrem Herzen. Sie war sicher, daß das hellblaue Kleid Cifgha gehörte … der kleinen Cifgha, hübsch und dumm.

»Wenn ihr es uns aber nicht sagt … ihr wißt … Prinzessin Miriamel … ergeht es diesen hier schlecht…«. Skali machte eine Handbewegung, und das strampelnde, dünn vor sich hin weinende Mädchen – das vielleicht doch nicht Cifgha war, wie Maegwin sich einzureden versuchte – wurde wieder auf den Wagen geworfen, zwischen andere bleiche Gefangene, die auf dem Wagenboden in einer Reihe lagen wie Finger.

Also war es die Prinzessin Miriamel, nach der sie suchten, wunderte sich Maegwin. Die Tochter des Hochkönigs! War sie fortgelaufen? Hatte man sie geraubt?

»Können wir denn gar nichts tun?« flüsterte sie Eolair zu. »Und wer ist dieser ›Zauberlehrling‹?«

Der Graf schüttelte barsch den Kopf, ohnmächtigen Grimm in jeder Linie seines Gesichtes. »Was sollten wir tun, Prinzessin? Skali wäre überglücklich, wenn wir zu ihm herunterkämen. Er hat zehnmal soviel Männer wie wir!«

Lange, schweigende Minuten vergingen. Maegwin beobachtete. An ihren Gefühlen zerrte Wut wie ein aufdringliches Kind. Sie dachte über das nach, was sie Eolair und den anderen gern gesagt hätte – daß sie, wenn keiner der Männer gewillt war, sie zu begleiten, selber zum Taig gehen und Skalis Gefangene befreien oder, was wahrscheinlicher war, bei dem Versuch heldenhaft untergehen würde. Da trat die untersetzte Gestalt, die jetzt den Helm abgesetzt hatte, so daß die kleinen gelben Flecke von Haar und Bart sichtbar wurden, noch einmal ganz nahe an den Fuß des Moir Brach heran.

»Also gut!« brüllte er. »… und Löken soll … Halsstarrigkeit verfluchen! Wir nehmen diese … mit!« Er deutete auf den Wagen. »Aber … hinterlassen euch … Geschenk!« Etwas wurde von einem der Pferde geschnallt, ein dunkles Bündel, und Skali Scharfnase vor die Füße geworfen. »Nur für den Fall … Hilfe erwartet! … nicht mehr viel nützen … gegen Kaldskryke!«

Gleich darauf hatte er sein Pferd bestiegen, und mit einem rauhen Hornruf donnerte er samt seinen Rimmersmännern das Tal nach Hernysadharc hinab, der Wagen polternd hinterdrein.

Sie warteten eine Stunde, bevor sie vorsichtig die Böschung hinunterkletterten, wachsam wie eine Ricke beim Überqueren einer Lichtung. Als sie am Fuß des Moir Brach angekommen waren, huschten sie zu dem schwarzen Bündel, das Skali zurückgelassen hatte.

Als sie es geöffnet hatten, schrien die Männer entsetzt auf – und weinten, ein wildes, qualvolles Schluchzen hilflosen Grams. Nur Maegwin vergoß keine Träne, nicht einmal, als sie sah, was Skali und seine Schlächter ihrem Bruder Gwythinn vor seinem Tode angetan hatten. Als Eolair den Arm um sie legte, um sie von der blutdurchtränkten Decke wegzuführen, stieß sie ihn zornig zurück, drehte sich um und schlug ihn hart auf die Wange. Er machte keinen Versuch, sich zu schützen, sondern starrte sie nur an. Die Tränen in seinen Augen, das wußte sie, hatten mit ihrem Schlag nichts zu tun, und das machte ihren Haß auf ihn in diesem Augenblick nur noch stärker. Aber ihre Augen blieben trocken.


Die Luft war voller Schneeflocken – sie verwirrten den Blick, machten die Kleider schwer, ließen Finger und Ohren steif werden und schmerzhaft prickeln. Aber Jiriki und seinen drei Sithigefährten schien das wenig auszumachen. Während Simon und die anderen auf ihren Pferden mühselig vorwärtsstapften, liefen die Sithi munter vor ihnen her, wobei sie oft noch stehenblieben, damit die Reiter sie einholen konnten, geduldig wie wohlgenährte Katzen, undurchschaubare Gelassenheit in den leuchtenden Augen. Als sie den ganzen Tag vom Sonnenaufgang bis zur Abenddämmerung marschiert waren, machten Jiriki und seine Kameraden am Abend noch denselben leichtfüßigen Eindruck wie im Morgengrauen.

Während die anderen dürres Holz für das abendliche Feuer zusammentrugen, trat Simon zögernd zu An'nai.

»Darf ich dich ein paar Dinge fragen?« erkundigte er sich.

Der Sithi hob den gleichmütigen Blick. »Frage.«

»Warum war Prinz Jirikis Onkel so zornig, als er sagte, er wolle mit uns kommen? Und warum hat er euch drei mitgenommen?«

An'nai führte die spinnenfingrige Hand zum Mund, als wollte er ein Lächeln verbergen, das nicht da war. Sofort ließ er sie wieder sinken und zeigte die gleiche ausdruckslose Miene wie zuvor.

»Was zwischen dem Prinzen und S'hue Khendraja'aro vorgeht, ist nicht meine Angelegenheit, so daß ich es dir auch nicht mitteilen kann.« Er nickte ernsthaft. »Was das andere betrifft, kann er es selber vielleicht am besten beantworten … nicht, Jiriki?«

Simon blickte erschreckt auf und sah den Prinzen hinter sich stehen, die dünnen Lippen zu einem Lächeln gestrafft.

»Warum ich die anderen mitgenommen habe?« fragte Jiriki und machte eine umfassende Handbewegung zu An'nai und den anderen beiden Sithi, die gerade von einem Erkundungsgang durch den dichten Wald rings um den Lagerplatz zurückkamen. »Ki'ushapo und Sijandi nahm ich mit, weil sich jemand um die Pferde kümmern muß.«

»Um die Pferde kümmern?«

Jiriki hob die Brauen und schnalzte mit den Fingern. »Troll!« rief er über die Schulter, »wenn dieses Menschenkind dein Schüler ist, bist du wirklich ein schlechter Lehrer! Ja, Seoman, die Pferde – oder dachtest du, sie würden mit dir die Berge hinaufklettern?«

Simon war verdutzt. »Aber … klettern? Die Pferde? Ich habe nicht daran gedacht … ich meine, könnten wir sie nicht einfach laufen lassen? Freilassen?« Er fand es ungerecht; auf der ganzen Reise war er sich immer nur als Anhängsel vorgekommen – bis auf den Weißen Pfeil natürlich –, und jetzt machte der Sitha ihn auch noch für die Pferde verantwortlich!

»Sie freilassen?« Jirikis Stimme klang barsch, fast zornig, aber sein Gesicht blieb ausdruckslos. »Sie ihrem Schicksal überliefern, meinst du? Nachdem man sie so weit geritten hat, wie sie freiwillig nie gehen würden, sollen wir sie freilassen, damit sie sich durch die Schneewüsten durchschlagen oder sterben?«

Simon wollte schon protestieren und einwenden, daß nicht er dafür verantwortlich wäre, fand es dann aber besser, einen Streit zu vermeiden.

»Nein«, antwortete er statt dessen. »Nein, wir dürfen sie nicht allein lassen, damit sie nicht sterben.«

»Außerdem«, fügte Haestan hinzu, der gerade mit einem Armvoll Holz an ihnen vorüberging, »wie sollten wir selbst dann durch die Wüsten zurückkommen?«

»So ist es«, erwiderte Jiriki, dessen Grinsen breiter wurde; er war zufrieden. »Darum habe ich Ki'ushapo und Sijandi mitgebracht. Sie werden die Pferde versorgen und alles für meine … unsere Rückkehr vorbereiten.« Er legte die Spitzen seiner beiden Zeigefinger aneinander, als wollte er eine Art Abschluß andeuten. »Mit An'nai dagegen«, fuhr er fort, »ist es etwas schwieriger. Sein Grund, hier zu sein, ist meinem ähnlicher.« Er sah den anderen Sitha an.

»Ehre«, erklärte An'nai und starrte auf seine verschlungenen Finger. »Ich habe den Hikka Staj'a gefesselt – den Pfeilträger. Ich habe einem … heiligen Gast … nicht genügend Achtung erwiesen. Das werde ich wieder gut machen.«

»Eine kleine Schuld«, meinte Jiriki sanft, »verglichen mit meiner großen; aber An'nai tut, was er muß.«

Simon hätte gern gewußt, ob An'nai diesen Entschluß selber gefaßt oder Jiriki ihn auf irgendeine Weise gezwungen hatte, sich ihnen anzuschließen. Es war schwer, etwas über diese Sithi herauszufinden, darüber, wie sie dachten und was sie wollten. Sie waren so ungeheuer anders, so innehaltend und tief!

»Kommt jetzt her«, verkündete Binabik. Vor ihm wehte ein hauchdünner Flammenfaden, den er mit den Händen fächelte. »Wir machen ein Feuer, und ich bin sicher, daß ihr alle etwas für ein paar Speisen und einen Schluck Wein zum Erwärmen der inneren Hohlräume übrig haben werdet!«


Im Lauf der nächsten Tagesritte ließen sie den nördlichen Aldheorte hinter sich und stiegen vom letzten Ausläufer der Weldhelmberge in die flache, schneeverwehte Öde hinunter.

Es war jetzt ständig kalt, jede lange Nacht, jeden trüben weißen Tag, bitter-beißend kalt. Ununterbrochen wehte Simon der Schnee ins Gesicht, stach in den Augen, brannte auf den Lippen, ließ sie aufspringen. Sein Gesicht war schmerzhaft gerötet, als hätte er es zu lange der Sonne ausgesetzt, und er bibberte so, daß er kaum die Zügel seines Pferdes halten konnte. Es war, als hätte das Schicksal ihn ein für alle Mal zur Tür hinausgeworfen, eine Strafe, die schon viel zu lange dauerte. Aber er sah keine Möglichkeit, seine Lage zu ändern; er konnte nur jeden Morgen still zu Usires beten, er möge ihn durchhalten lassen, bis sie abends ihr Lager aufschlugen.

Wenigstens, sann er betrübt, und seine Ohren brannten sogar noch unter der Mantelkapuze, fühlt Binabik sich jetzt wohl.

Der Troll war in der Tat in seinem Element. Er ritt als erster, feuerte seine Gefährten an und lachte von Zeit zu Zeit vor lauter Vergnügen, wenn er mit Qantaqa über die immer höher werdenden Schneewehen sprang. An den langen Abenden am Feuer, wenn die anderen Sterblichen der Gruppe zitternd ihre schneenassen Handschuhe und Stiefel ölten, hielt Binabik Vorträge über die verschiedenen Schneesorten, die unterschiedlichen Anzeichen, die auf Lawinen hindeuteten, alles, um die anderen auf die Berge vorzubereiten, die vor ihnen am Horizont unversöhnlich aufragten, streng und richterlich wie Götter unter ihren Kronen aus weißem Schnee.

Jeden Tag kam ihnen die gewaltige Bergkette vor ihnen größer, niemals aber auch nur einen Fußbreit näher vor, so weit sie auch geritten waren. Nach einer knappen Woche in den wärmelosen, einförmigen Öden begann Simon Sehnsucht nach dem übelberüchtigten Dimmerskog-Wald zu empfinden, ja, nach den windumtosten Gipfeln der Berge selbst – nach allem außer dieser endlosen Ebene voller Schnee, die einem das Mark in den Knochen gefrieren ließ.

Am sechsten Tag kamen sie an den Ruinen des Sankt-Skendi-Klosters vorüber. Es war fast völlig unter Schnee begraben; nur der spitze Turm der Kapelle ragte mehr als ein kleines Stück über die Oberfläche hinaus. Ein eiserner Baum, umringt von den Windungen eines schlangenartigen Tieres, krönte das verfallene Dach. Es hob sich vor ihnen aus dem frostschweren Nebel wie ein Schiff, fast versunken in einem Meer aus allerreinstem Weiß.

»Welche Geheimnisse es auch bergen mag – was immer es noch von Colmund und dem Schwert Dorn weiß –, es verbirgt sie zu gut für uns«, bemerkte Binabik, als ihre Pferde an der ertrinkenden Abtei vorbeistapften. Sludig machte das Zeichen des Baumes auf Stirn und Herz und blickte sorgenvoll, während die Sithi langsam um das Kloster herumritten und es anstarrten, als hätten sie noch nie etwas so Aufregendes gesehen.


Abends, als die Reisenden am Lagerfeuer zusammensaßen, wollte Sludig wissen, warum Jiriki und seine Begleiter soviel Zeit darauf verwendet hatten, das untergegangene Kloster zu besichtigen.

»Weil wir«, erwiderte der Prinz, »es erfreulich fanden.«

»Was soll das heißen?« fragte Sludig verärgert und verwirrt und sah zu Haestan und Grimmric hinüber, als ob sie wissen könnten, was der Sitha meinte.

»Vielleicht sollten wir lieber nicht von diesen Dingen sprechen«, bemerkte An'nai und machte mit gespreizten Fingern eine beschwichtigende Gebärde. »Wir sind Gefährten an diesem Feuer.«

Jiriki sah einen Moment feierlich in die Flammen und verzog dann das Gesicht zu einem unerwartet schalkhaften Grinsen. Simon staunte. Manchmal konnte er kaum glauben, daß Jiriki älter war als er selber, so jung und leichtsinnig schien er sich zu benehmen. Aber Simon erinnerte sich auch an die Höhle über dem Wald. Eine verwirrende Mischung aus Jugend und hohem Alter, das war Jiriki.

»Wir starren an, was uns interessiert«, erläuterte der Sitha, »wie ihr Sterblichen auch. Nur die Gründe unterscheiden sich, und ihr würdet unsere wahrscheinlich nicht verstehen.« Sein breites Lächeln schien ganz und gar freundlich, aber Simon fand einen fremden Unterton darin, etwas, das nicht dazu paßte.

»Die Frage, Nordmann«, fuhr Jiriki fort, »ist aber, warum unser Anstarren dir so mißfällt?«

Einen Augenblick senkte sich Stille über den Feuerkreis, als Sludig dem Sithiprinzen einen langen, harten Blick zuwarf. Die Flammen hüpften und prasselten im nassen Holz, und der Wind heulte, bis die Pferde unruhig von einem Fuß auf den anderen traten Sludig schlug die Augen nieder. »Natürlich könnt Ihr anschauen, was Ihr wollt«, meinte er mit traurigem Lächeln; sein blonder Bart war gefleckt von schmelzendem Schnee. »Es ist nur, weil es mich an Saegard erinnert hat – an den Skipphaven. Es war, als würdet Ihr Euch über etwas lustig machen, das mir teuer ist.«

»Skipphaven?« murmelte Haestan, tief in seine Pelze vergraben. »Nie gehört. Ist das auch eine Kirche?«

»Boote…« Grimmric verzog in nachdenklicher Erinnerung das schmale Gesicht. »Da sind Boote.«

Sludig nickte ernsthaft. »Ihr würdet ›Schiffshafen‹ sagen. Die Langschiffe von Rimmersgard liegen dort.«

»Aber Rimmersmänner fahren nicht zur See!« Haestan war überrascht. »In ganz Osten Ard klebt kein anderes Volk so am festen Land!«

»Ja, aber das war einmal anders.« Sludigs Züge glühten im Widerschein des Feuers. »Bevor wir über das Meer kamen – als wir noch in Ijsgard wohnten, im verschollenen Westen –, verbrannten unsere Väter Menschen und begruben Schiffe. Wenigstens erzählen das unsere Sagen.«

»Sie verbrannten Menschen?« fragte Simon erstaunt.

»Die Toten«, erklärte Sludig. »Unsere Väter bauten Totenschiffe aus frischem Eschenholz und steckten sie mit den Toten auf dem Wasser in Brand, damit ihre Seelen mit dem Rauch zum Himmel aufstiegen. Aber unsere großen Langschiffe, die uns über die Meere und Flüsse der Welt trugen – die Schiffe, die für uns das Leben bedeuteten wie Äcker für die Bauern und Herden für die Hirten –, diese Schiffe begruben wir in der Erde, wenn sie zu alt waren, um noch seetüchtig zu sein. Dadurch sollten ihre Seelen in die Bäume wandern und sie hoch und gerade emporwachsen lassen, damit einmal neue Schiffe daraus würden.«

»Aber du hast gesagt, daß das jenseits des Meeres war, vor langer Zeit«, wandte Grimmric ein. »Und Saegard liegt doch hier. In Osten Ard.«

Die Sithi am Feuer verharrten stumm und reglos und lauschten gespannt Sludigs Antwort.

»Ja. Dort stieß der Kiel von Elvrits Boot zum ersten Mal auf Grund, und dort sagte er: ›Wir sind über die schwarze See in eine neue Heimat gekommen.‹«

Sludig sah sich im Kreis um. »Sie haben die großen Langschiffe dort begraben. ›Nie mehr wollen wir über die See segeln, in der die Drachen hausen‹, erklärte Elvrit. Überall am Grunde des Tals, zu Füßen der Berge, liegen die Hügel der letzten Schiffe. Auf der Landzunge am Rande des Wassers, unter der größten Aufschüttung, begruben sie Elvrits Schiff Sotfengsel und ließen nur seinen hohen Mast stehen, der aus der Erde aufragte wie ein Baum ohne Äste – und das fiel mir ein, als ich das Kloster vor mir sah.«

Er schüttelte den Kopf, die Augen hell von Erinnerungen. »Auf Sotfengsels Mast wachsen Misteln. Jedes Jahr zu Elvrits Todestag sammeln junge Mädchen aus Saegard die weißen Mistelbeeren und bringen sie zur Kirche.«

Sludig verstummte. Das Feuer zischte.

»Was du nicht erzählst«, sagte Jiriki nach einer Weile, »ist, wie ihr Rimmersmänner in dieses Land kamt, nur um andere daraus zu vertreiben.«

Simon holte scharf Atem. Er hatte unter der gelassenen Miene des Prinzen etwas dieser Art vorausgesehen.

Sludig antwortete mit überraschender Sanftmut, vielleicht, weil er immer noch die frommen Jungfrauen von Saegard vor Augen hatte. »Ich kann nicht ungeschehen machen, was meine Vorfahren getan haben.«

»Daran ist etwas Wahres«, entgegnete Jiriki, »aber auch wir Zida'ya-Sithi – werden nicht mehr die gleichen Fehler machen wie unsere Verwandten vor uns.« Er richtete den grimmigen Blick auf Binabik, der ihn feierlich erwiderte. »Einige Dinge sollten zwischen uns allen klar sein, Binbiniqegabenik. Ich habe nicht mehr als die Wahrheit gesagt, als ich dir meine Gründe, euch zu begleiten, nannte: ein gewisses Interesse für euer Ziel und eine lose, ungewöhnliche Bindung zwischen dem Menschenkind und mir. Glaube aber keinen Augenblick lang, daß ich eure Furcht teile und euren Kampf unterstütze. Was mich angeht, so könnt ihr und euer Hochkönig einander gegenseitig zu Staub zermahlen.«

»Mit Respektfülle zu sagen, Prinz Jiriki«, wandte Binabik ein, »Ihr habt die volle Wahrheit nicht geprüft. Wenn es nur um den Streit sterblicher Könige und Prinzen ginge, so säßen wir jetzt alle in Naglimund, um es zu verteidigen. Ihr wißt aber sehr wohl, daß zumindest wir fünf einen anderen Zweck verfolgen.«

»Dann wisse auch das«, versetzte Jiriki steif. »Selbst wenn die Jahre, die zwischen unserer Trennung von den Hikeda'ya – die ihr Nornen nennt – und heute liegen, zahlreich sind wie Schneeflocken, sind wir doch vom selben Blut. Wie könnten wir uns auf die Seite der Menschen, der Emporkömmlinge, stellen, wenn es um unser eigenes Geschlecht geht? Warum sollten wir das tun, wenn wir doch einst mit jenen anderen unter derselben Sonne gewandelt sind, als wir aus dem äußersten Osten hierher kamen? Welche Bündnistreue könnten wir den Sterblichen schulden, die uns so eifrig vernichtet haben wie alles andere … sogar sich selbst?« Keiner der Sterblichen außer Binabik hielt seinen kalten Blick aus. Jiriki hob einen langen Finger. »Und der, den ihr im Flüsterton den Sturmkönig nennt … er, der einst Ineluki hieß…« Er lächelte bitter, als die Gefährten sich unruhig regten und ein Schauer sie überlief. »Ja, sein bloßer Name macht euch angst! Einst war er von uns allen der Beste – herrlich anzusehen, weise über alles Verständnis der Sterblichen hinaus, hell strahlend wie eine Flamme! Wenn er jetzt ein Wesen finsteren Grauens ist, kalt und voller Haß, wer trägt die Schuld daran? Wenn er heute, körperlos und rachedürstend, Pläne schmiedet, die Menschheit von seinem Land zu fegen wie man Staub von einer Buchseite wischt – warum sollten wir nicht jubeln? Nicht Ineluki war es, der uns in die Verbannung trieb, so daß wir uns unter Aldheortes dunklen Bäumen verbergen müssen wie das Wild, stets wachsam, damit man uns nicht entdeckt. Im Sonnenlicht schritten wir durch Osten Ard, bevor die Menschen kamen, und das Werk unserer Hände war köstlich unter den Sternen. Was haben die Sterblichen uns je gebracht außer Leid?«

Niemand konnte ihm antworten, aber in dem Schweigen, das Jirikis Worten folgte, stieg ein klagender, leiser Klang empor. Voll unbekannter Worte schwebte er im Dunkel, eine Melodie von geisterhafter Schönheit.

Als er seinen Gesang beendet hatte, sah An'nai seinen stillen Prinzen und seine Sithikameraden an und blickte dann auf die anderen, die jenseits der tanzenden Flammen saßen.

»Es ist eines von unseren Liedern, das einst auch die Sterblichen sangen«, murmelte er. »Die Menschen des Westens liebten es vor langer Zeit und gaben ihm Worte in ihrer Sprache. Ich will … ich will versuchen, es in eure zu übersetzen.«

Er sah zum Himmel auf und dachte nach. Der Wind hatte sich gelegt, und als das Schneegestöber aufhörte, wurden die Sterne sichtbar und leuchteten kalt und fern.

Endlich begann An'nai zu singen, und die Schnalzlaute und fließenden Vokale der Sithisprache schwangen gedämpft in seinen Worten mit.

Moos wächst auf den Steinen von Sení Ojhisá.

Noch warten die Schatten, als lauschten sie still.

In Da'ai Chikiza zerfallen die Mauern.

Die Schatten, sie wispern, lang, lang ist es her.

So hoch weht das Gras über Enki-e-Sha'osaye.

Es wandern die Schatten weit über das Grün.

Auf Nenais'us Grab fallen Blumen in Schauern.

Der dunkle Bach schweigt. Niemand trauert dort mehr.

Wohin sind sie alle?

Die Wälder, sie schweigen.

Wohin sind sie alle?

Das Lied, es verklang.

Nie tanzen sie wieder

den Dämmerungsreigen,

künden Lampen die Sterne,

wenn Taglicht versank…

Als An'nais Stimme sich hob und die klagenden Worte liebkoste, erfaßte Simon eine nie gekannte Sehnsucht – Heimweh nach einer Heimat, die er niemals gekannt, ein Gefühl des Verlustes für etwas, das ihm nie gehört hatte. Niemand sprach, während An'nai sang. Niemand hätte ein Wort herausgebracht.

Das Meer rauscht dahin über Jhiná-T'seneí.

Die Schatten, sie schlafen, in Grotten versteckt.

Blaues Eis bedeckt Tumet'ai; Schatten, sie lauern,

das Muster der Zeit ist befleckt und gähnt leer.

Wohin sind sie alle?

Die Wälder, sie schweigen.

Wohin sind sie alle?

Das Lied, es verklang.

Nie tanzen sie wieder

den Dämmerungsreigen,

künden Lampen die Sterne,

wenn Taglicht versank…

An'nai verstummte. Das Feuer war ein einsamer heller Fleck in einer Wüste von Schatten.


Das grüne Zelt stand ganz allein in der feuchten Leere der Ebene vor den Mauern von Naglimund. Seine Wände hoben und senkten sich und wogten im Wind, als ob es als einziges von allen Dingen, die sich vielleicht ungesehen auf dieser riesigen offenen Fläche bewegten, lebte und atmete.

Deornoth biß die Zähne zusammen, um einen abergläubischen Schauder zu unterdrücken, obwohl der feuchte, messerscharfe Wind genügte, sie klappern zu lassen. Er sah auf Josua, der ein kleines Stück vor ihm herritt.

Schaut ihn an, dachte er. Als ob er seinen Bruder schon vor sich sähe – als könnten seine Augen mitten durch die grüne Seide und das schwarze Drachenwappen darauf sehen, tief in Elias' Herz.

Als er sich nach dem dritten und letzten Mitglied ihrer Abordnung umsah, fühlte Deornoth sein ohnehin schweres Herz noch tiefer sinken. Der junge Soldat, auf dessen Anwesenheit Josua bestanden hatte – ein gewisser Ostrael –, wirkte, als würde er vor lauter Angst gleich ohnmächtig werden. Seine derben, kantigen Züge, deren Röte durch die sonnenlosen Frühjahrswochen inzwischen verblaßt war, zeigten einen Ausdruck krampfhaften, nur mühsam unterdrückten Entsetzens.

Ädon steh uns bei, wenn wir uns auf den verlassen müssen. Warum in aller Welt hat ihn Josua nur ausgesucht?

Während sie sich langsam dem Zelt näherten, teilte sich die Zeltklappe. Deornoth straffte sich, den Bogen griffbereit. Nur ein Augenblick blieb ihm, sich selber zu verfluchen, weil er zugelassen hatte, daß sein Prinz eine so ungeheure Dummheit machte. Aber der heraustretende Soldat blickte sie nur gleichgültig an und trat dann neben den Eingang, um ihnen den Weg freizuhalten.

Deornoth gab Josua ein respektvolles Zeichen zu warten und spornte sein Pferd rasch einmal um das grüne Zelt herum. Es war groß, ein Dutzend Schritte oder mehr nach allen Seiten, und die Haltetaue, an denen der Wind zerrte, summten unter seinem Gewicht; aber das zertretene Gras ringsum war frei von jedem Hinterhalt.

»So, Ostrael«, sagte er, als er wiederkam. »Du bleibst hier stehen, neben diesem Mann«, er deutete auf den anderen Soldaten, »und zwar so, daß man ständig wenigstens eine deiner Schultern in der Tür sieht, verstanden?«

Deornoth nahm das matte Lächeln des jungen Spießkämpfers als Bestätigung und wandte sich dem Wachsoldaten des Königs zu. Das bärtige Gesicht des Mannes kam ihm bekannt vor; bestimmt hatte er ihn schon auf dem Hochhorst gesehen. »Wenn auch du dich so neben die Tür stellen würdest, wäre es für alle Beteiligten besser.«

Der Wächter verzog den Mund, trat jedoch einen Schritt näher an den Eingang heran. Josua war bereits abgestiegen und näherte sich der Tür. Deornoth beeilte sich, ihm zuvorzukommen und trat ein, die eine Hand locker am Schwertgriff.

»Soviel Vorsicht ist kaum vonnöten, Deornoth«, bemerkte eine leise, aber durchdringende Stimme, »so heißt Ihr doch, oder? Schließlich sind wir hier alle Ehrenmänner.«

Deornoth blinzelte. Josua war ihm gefolgt. Innen war es schneidend kalt und finster. Die Wände gaben ein schwaches Licht von sich, ließen jedoch nur einen Bruchteil der Helligkeit von außen herein, als schwömmen die Insassen des Zeltes in einem gewaltigen, wenn auch unvollkommen geschliffenen Smaragd.

Vor ihm schwebte ein bleiches Gesicht, die schwarzen Augen wie Nadelstichlöcher ins Nichts. Im grünen Dämmerlicht erschien Pryrates' Scharlachgewand rostrot, von der Farbe getrockneten Blutes. »Und Josua!« sagte er im Tonfall schrecklicher Leichtfertigkeit. »So sehen wir uns wieder. Wer hätte gedacht, daß sich seit unserem letzten Gespräch so vieles ereignen würde?«

»Haltet den Mund, Priester – oder was immer Ihr seid«, fuhr der Prinz ihn an. In seinen Worten lag soviel kalte Stärke, daß selbst Pryrates vor Erstaunen blinzelte wie eine aufgeschreckte Eidechse. »Wo ist mein Bruder?«

»Ich bin hier, Josua«, sagte eine Stimme, ein tiefes, zerbrochenes Flüstern, das wie ein Echo des Windes klang.

In einem hochlehnigen Stuhl in der Zeltecke saß jemand an einem niedrigen Tisch, vor dem ein zweiter Stuhl stand; die einzigen Möbelstücke in dem riesigen, schattendunklen Zelt. Josua trat näher. Deornoth schlug den Mantel enger um sich und folgte, mehr, um nicht bei Pryrates stehenbleiben zu müssen, als weil er es eilig gehabt hätte, den König zu sehen.

Der Prinz nahm auf dem Stuhl gegenüber seinem Bruder Platz. Elias saß seltsam steif da, die Augen im Falkengesicht hell wie Edelsteine, das schwarze Haar und die blasse Stirn unter dem Ring der eisernen Hochhorstkrone. Zwischen seinen Beinen stand aufrecht ein Schwert in schwarzer Lederscheide. Die starken Hände des Hochkönigs ruhten auf dem Knauf über dem fremdartigen Doppelgriff. Obwohl er es einen Moment lang anstarrte, weigerte sich Deornoths Blick, auf dem Schwert zu verweilen; es gab ihm ein flaues Gefühl von Übelkeit, als schaue er aus großer Höhe nach unten. Statt dessen sah er wieder den König an, aber das war kaum besser; in der tödlichen Kälte des Zeltes, in dem die Luft so eisig war, daß Deornoth sein Atem als Nebel vor den Augen stand, trug Elias nur ein ärmelloses Wams, und seine weißen Arme, in denen unter der Haut die Sehnen zuckten, als führten sie ein Eigenleben, waren bis auf die schweren Armbänder nackt.

»So, Bruder«, sagte der König und fletschte die Zähne zu einem Lächeln. »Du siehst gut aus.«

»Du aber nicht«, erwiderte Josua knapp, und Deornoth sah die Sorge in seinen Augen. Irgend etwas Furchtbares stimmte hier nicht, das stand außer Zweifel. »Du hast diese Unterredung gewünscht, Elias. Was willst du?«

Die Augen des Königs wurden so schmal, daß der grüne Schatten sie verbarg. Er ließ eine lange Weile verstreichen, bevor er antwortete. »Meine Tochter. Ich will meine Tochter. Und da ist noch jemand … ein Junge … aber er ist weniger wichtig. Nein, ich will vor allem Miriamel. Wenn du sie mir auslieferst, gebe ich dir mein Wort, daß allen Kindern und Frauen in Naglimund freier Abzug gewährt wird. Wenn nicht, werden alle, die sich in seinen Mauern verstecken und mir Widerstand leisten … sterben.«

Er sagte das letzte Wort mit einem so selbstverständlichen Mangel an Bosheit, daß der hungrige Blick, der unverhüllt über sein Gesicht huschte, Deornoth zutiefst erschreckte.

»Ich habe sie nicht, Elias«, erklärte Josua langsam.

»Wo ist sie?«

»Ich weiß es nicht.«

»Lügner!« Die Stimme des Königs war so voller Zorn, daß Deornoth um ein Haar das Schwert gezogen hätte, weil er glaubte, Elias wolle vom Stuhl aufspringen. Statt dessen verharrte der König fast regungslos und winkte lediglich Pryrates, aus einer Kanne mit einer schwarzen Flüssigkeit seinen Pokal nachzufüllen.

»Halte mich nicht für einen schlechten Gastgeber, weil ich dir nichts anbiete«, sagte Elias, nachdem er einen tiefen Zug genommen hatte. »Ich fürchte nur, dieses Getränk würde dir nicht bekommen.« Er reichte den Becher Pryrates zurück, der ihn vorsichtig mit den Fingerspitzen ergriff und auf den Tisch stellte. »Nun also«, begann Elias von neuem, »können wir uns nicht dieses nutzlose Geplänkel ersparen? Ich will meine Tochter, und ich werde sie bekommen.« Sein Ton wurde auf groteske Weise kläglich. »Hat denn ein Vater kein Recht mehr auf die Tochter, die er geliebt und großgezogen hat?«

Josua holte tief Atem. »Die Rechte, die du auf sie hast, gehen nur dich und sie etwas an. Ich habe deine Tochter nicht, und wenn ich sie hätte, würde ich sie nicht gegen ihren Willen zu dir schicken.« Hastig, bevor der König etwas entgegnen konnte, fuhr er fort. »Elias, ich bitte dich. Du warst einmal mein Bruder in allem. Unser Vater liebte uns beide, dich mehr als mich, aber unser Land liebte er noch mehr. Begreifst du denn nicht, was du tust? Nicht mit diesem Krieg allein – Ädon weiß, daß dieses Land schon manchen Streit erlebt hat. Aber da ist noch etwas anderes. Pryrates weiß, wovon ich spreche. Ich zweifle nicht, daß er es war, der zuerst deine Schritte auf diesen Pfad gelenkt hat.«

Deornoth sah, daß sich Pryrates bei diesen Worten des Prinzen umdrehte und eine überraschte Atemwolke ausstieß.

»Bitte, Elias«, fuhr Josua fort, und sein strenges Gesicht war voller Trauer. »Wende dich ab von dem Weg, den du gewählt hast, schick das verfluchte Schwert an jene Unseligen zurück, die dich und Osten Ard vergiften wollen … und ich bin bereit, mein Leben in deine Hände zu legen. Ich werde dir die Tore von Naglimund öffnen, wie eine Jungfrau dem Geliebten ihr Fenster auftut. Ich werde jeden Stein im Himmel und auf der Erde umdrehen, um Miriamel zu finden. Wirf dieses Schwert weg, Elias! Wirf es weg! Es war kein Zufall, der ihm den Namen Leid gab.«

Der König starrte Josua an wie betäubt. Pryrates, vor sich hin murmelnd, wollte auf ihn zueilen, aber Deornoth machte einen Satz und packte ihn. Unter seinem festen Griff wand sich Pryrates wie eine Schlange, und seine Berührung hatte etwas Grausiges, aber Deornoth hielt fest.

»Bewegt Euch nicht!« zischte er Pryrates ins Ohr. »Und wenn Euer Zauber mich verbrennt – bevor ich sterbe, schneide ich Euch noch den Lebensfaden durch!« Mit dem gezückten Dolch stach er in die Seite des Scharlachgewandes, eben tief genug, um bekleidetes Fleisch zu berühren. »Ihr habt Euch hier nicht einzumischen, so wenig wie ich. Das geht nur die beiden Brüder an.«

Pryrates rührte sich nicht mehr. Josua hatte sich vorgebeugt und starrte den Hochkönig an. Elias machte einen verwirrten Eindruck.

»Sie ist schön, meine Miriamel«, flüsterte er leise. »Manchmal sehe ich ihre Mutter Hylissa in ihr – armes, totes Kind!« Das Gesicht des Königs, eben noch starr und böse, wurde weich und verstört. »Wie konnte Josua das zulassen? Wie konnte er? Sie war so jung…«

Tastend streckte er die weiße Hand aus. Zu spät hielt Josua ihm die seine entgegen. Statt sie zu ergreifen, berührten die langen, kalten Finger des Königs den lederumwickelten Stumpf an Josuas rechtem Arm. Seine Augen blitzen und wurden lebendig, das Gesicht verzerrte sich zu einer starren Maske der Wut.

»Kriech zurück in dein Versteck, Verräter!« fauchte er. Josua riß den Arm zurück. »Lügner! Lügner! Bis auf den letzten Stein werde ich es niederreißen!«

Der Haß, der von dem König ausging, war so schrecklich, daß Deornoth zurücktaumelte und Pryrates sich befreien konnte.

»Ich werde dich so völlig vernichten«, donnerte Elias und wand sich in seinem Stuhl, während Josua zur Zelttür schritt, »daß Gott der Allmächtige tausend Jahre lang, suchen kann und nicht einmal deine Seele finden wird!«

Der junge Soldat Ostrael war von den Gesichtern Deornoths und des Prinzen so entsetzt, daß er den ganzen windverwehten Rückweg bis nach Naglimunds düsteren Mauern lautlos vor sich hin weinte.

XLI Kaltes Feuer und störrischer Stein

Langsam wich der Traum, löste sich auf wie Nebel, ein schrecklicher Traum, in dem ein grünes Meer ihn umwogte und erstickte. Es gab weder Oben noch Unten, nur unbestimmtes Licht ringsum, dazu ein Heer schneidendscharfer Schatten, Haie, alle mit Pryrates' leblosen schwarzen Augen.

Als die See von ihm abglitt, kam Deornoth nach oben, ruderte mit wild fuchtelnden Armen aus dem Schlaf in trübes Halbwachsein. Kaltes Mondlicht lag in Flecken auf den Wänden der Kaserne, und der regelmäßige Atem der anderen Männer glich dem Wind in trockenen Blättern.

Noch während das Herz in seiner Brust hastig flatterte, fühlte er, wie von neuem der Schlaf nach ihm griff, ihn mit federleichten Fingern besänftigte, ohne Stimme in sein Ohr flüsterte. Nach und nach glitt er wieder hinab, der Sog des Traumes jetzt sachter als vorher. Diesmal trug es ihn an einen helleren Ort, eine Stätte morgendlicher Feuchte und milder Mittagssonne: das Landgut seines Vaters in Hewenshire, wo er mit seinen Schwestern und dem älteren Bruder bei der Feldarbeit aufgewachsen war. Ein Teil seines Ichs lag in der Kaserne – es war vor Morgengrauen, am neunten Tag des Yuven, das wußte er –, aber ein anderer Teil war zurückgereist in die Vergangenheit. Wieder roch er den Moschus aufgeworfener Erde und hörte das geduldige Knarren des Pfluggeschirrs und das taktmäßige Quietschen der Wagenräder, als der Ochse den Karren die Straße zum Markt entlangzog.

Das Knarren nahm an Lautstärke zu, während der beißende, lehmige Geruch der Furchen schwächer wurde. Der Pflug kam näher; es klang, als sei der Wagen direkt hinter ihm. Schliefen die Ochsentreiber? Hatte jemand die Ochsen unbeaufsichtigt die Felder zerstampfen lassen? Er empfand kindisches Entsetzen.

Der Alte wird stocksauer sein – War ich das etwa? Hätte ich auf sie aufpassen sollen? Er wußte, wie sein Vater aussehen würde, das verkniffene, vor Wut fleckige Gesicht, das keine Entschuldigung zuließ, das Gesicht Gottes, so hatte der junge Deornoth stets gedacht, der einen Sünder zur Hölle schickt. Mutter Elysia, mit dem Riemen wird er mich schlagen, ganz bestimmt…

Keuchend fuhr er vom Strohsack auf. Sein Herz hämmerte so wild wie nach dem Hai-Traum. Als Deornoth sich in der Kaserne umblickte, wurde es nach und nach langsamer.

Wie lange bist du schon tot, Vater? fragte er sich selber und wischte sich mit dem Handgelenk den schnell erkaltenden Schweiß von der Stirn. Warum verfolgst du mich immer noch? Haben dich die Jahre und Gebete nicht …?

Jäh fühlte Deornoth Furcht mit kaltem Finger über sein Rückgrat streichen. Er war jetzt doch wach, oder etwa nicht? Warum war dann das erbarmungslose Knarren nicht verstummt, als sein halber Traum verging? Sofort war er auf den Beinen, laut schreiend, der Geist des toten Vaters ausgelöscht wie eine Kerze.

»Auf, Männer, auf! Zu den Waffen! Die Belagerung hat begonnen!«

Im Laufen streifte er das Panzerhemd über, vorbei an der Reihe der Feldbetten, trat die Benommenen und Weinwirren wach, rief denen, die sein erster Aufschrei blitzartig zum Leben erweckt hatte, Befehle zu. Vom Torhaus über ihnen kamen Alarmrufe und das rauhe Blöken einer Trompete.

Den Helm schief auf dem Kopf, trabte er zur Tür hinaus. Er kämpfte mit seinem Schwertgurt; der Schild schlug ihm gegen die Flanke. Deornoth steckte die Nase in den anderen Kasernenraum und sah dessen Bewohner bereits aufgestanden und hastig dabei, sich zu wappnen.

»Ho, Naglimunder!« rief er und schwang die Faust, während er mit der anderen den Gürtel zuhielt. »Jetzt gilt es, bei der Liebe Gottes, jetzt gilt es!«

Er lächelte über den wilden Schrei, der ihm antwortete, und rannte nach der Treppe. Unterwegs richtete er sich den Helm gerade.

Der obere Stock des großen Torhauses in der westlichen Vormauer sah im Schein des Halbmondes sonderbar unförmig aus: Erst vor wenigen Tagen hatte man die Bretterverschalungen fertiggestellt, Holzwände und ein Dach, die die Verteidiger vor Pfeilen schützen sollten. Schon wimmelte es dort oben von halbbekleideten Wachen, auf deren hin und her huschende Gestalten die durch die Bretterwände sickernden Mondstrahlen unheimliche Streifen malten.

Überall auf der Mauer loderten Fackeln auf. Bogenschützen und Spießkämpfer nahmen ihre Stellungen ein. Wieder krähte eine Trompete, wie ein Hahn, der es aufgegeben hat, auf den Morgen zu warten, und rief weitere Soldaten auf den Hof hinaus.

Der schrille Protest hölzerner Räder wurde lauter. Deornoth starrte auf die kahle, abschüssige Ebene unterhalb der Stadtmauer und suchte den Ursprung des Geräusches. Er wußte, was es sein mußte, ohne doch wirklich auf den Anblick gefaßt zu sein.

»Gottes blutiger Baum!« fluchte er und hörte, wie der Mann neben ihm die Verwünschung wiederholte.

Was da langsam wie gefesselte Giganten auf sie zurollte und in den Schatten vor der Morgendämmerung Gestalt gewann, waren sechs gewaltige Belagerungstürme, deren hölzerne Plattformen Naglimunds mächtiger Vormauer an Höhe keinen Zoll nachstanden. Über und über mit dunklen Tierhäuten behangen, schoben sie sich vorwärts wie baumlange, vierkantschädlige Bären; das Ächzen und Geschrei der Männer, die sie bewegten, und das Kreischen der haushohen Räder klangen wie Stimmen von Ungeheuern, wie sie seit Urzeiten niemand mehr erblickt hatte.

Deornoth überkam eine nicht unangenehme Wallung von Furcht. Endlich war der König da; sein Heer stand vor ihren Toren. Beim Guten Gott, wie immer es auch ausgehen mochte, von diesem Tag würden einst die Lieder singen!

»Spart eure Pfeile, Dummköpfe!« schrie er, als einige der Verteidiger wild ins Dunkel schossen, obwohl die Pfeile die noch fernen Ziele gar nicht erreichen konnten. »Wartet, wartet, wartet! Sie werden schon bald näher bei euch sein, als es euch lieb ist!«

Wie als Antwort auf das Feuer, das auf Naglimunds Wällen loderte, ließ Elias' Heer seine Trommeln durch die Finsternis dröhnen, ein lautes, rollendes Grollen, das nach und nach in einen schweren Doppelschlag wie von titanischen Schritten überging. Die Verteidiger bliesen von allen Türmen ihre Hörner – nur ein schwacher und blecherner Ton gegen das Krachen der Trommeln, aber trotzdem ein Zeichen von Leben und Widerstand.

Deornoth fühlte eine Hand auf der Schulter und blickte auf. Neben ihm standen zwei gepanzerte Gestalten: Isorn mit dem Bärenhelm und der finstere Einskaldir in einer Stahlhaube, die als einzigen Schmuck einen über die Nase hinuntergezogenen Metallschnabel aufwies. Die Augen des schwarzbärtigen Rimmersmannes brannten wie Fackellicht, als er mit fester Hand nach dem Sohn seines Herrn Isgrimnur griff und ihn behutsam, aber kräftig zur Seite schob, um selbst auf die Zinnen hinauszutreten. Er starrte in die Dämmerung hinaus und stieß ein dumpfes Grollen aus wie ein Hund.

»Dort drüben«, knurrte er und deutete auf die Sockel der Belagerungstürme, »am Fuß der großen Bären: Steinschleudern und Rammböcke.« Er zeigte auf mehrere weitere große Maschinen, die hinter den Türmen herfuhren. Darunter befanden sich einige Katapulte, die langen, starken Arme zurückgebogen wie die Köpfe erschreckter Schlangen. Andere sahen nur wie lederbedeckte Kästen aus, deren Innenleben die Panzerung verbarg; sie dienten dazu, wie hartschalige Krebse durch Pfeile und Steine unversehrt bis an die Mauer zu gelangen, um dort ihre jeweiligen Aufgaben auszuführen.

»Wo ist der Prinz?« fragte Deornoth, der den Blick nicht von den herankriechenden Maschinen losreißen konnte.

»Schon unterwegs«, antwortete Isorn, der sich auf die Zehen gestellt hatte, um über Einskaldirs Kopf hinweg zu sehen. »Seitdem er von der Unterredung mit Elias zurückgekehrt ist, steckt er mit Jarnauga und dem Archivar zusammen. Ich hoffe nur, daß sie sich eine Wunderwaffe ausgedacht haben, um uns Stärke zu verleihen oder die des Königs zu mindern. Bei Gottes Wahrheit, Deornoth, schau dir diese Massen an!« Er deutete auf die dunklen Schwärme von königlichen Truppen, zahlreich wie Ameisen hinter den langsam weiterrollenden Türmen. »Es sind so verdammt viele.«

»Bei Ädons Wunden!« fauchte Einskaldir und sah sich mit blutunterlaufenen Augen nach Isorn um. »Mögen sie kommen! Wir werden sie fressen und wieder ausspucken!«

»Da hast du es«, meinte Deornoth und hoffte, daß sein Gesicht auch wirklich das beabsichtigte Lächeln zeigte. »Mit Gott, dem Prinzen und Einskaldir – wovor sollten wir uns fürchten?«


Das Heer des Königs folgte den Belagerungsmaschinen auf die Ebene hinaus und breitete sich auf den nebelnassen Wiesen aus wie Fliegen auf einer grünen Apfelschale. Überall schienen Zelte aus der feuchten Erde zu sprießen wie eckige Pilze.

Während die Belagerer ihre Stellungen einnahmen, kam lautlos das Morgengrauen. Die verborgene Sonne schälte nur eine einzige Schicht von der nächtlichen Dunkelheit ab und tauchte die Welt in unbestimmtes graues Licht.

Auf einmal setzten sich die riesigen Belagerungstürme, die eine lange Stunde an Ort und Stelle verharrt hatten wie dösende Posten, wieder in Bewegung. Soldaten liefen zwischen den mächtigen Rädern hin und her und spannten sich an die Zugseile, während die schweren Maschinen mühsam bergan rollten. Endlich kamen sie in Schußweite. Die Bogenschützen auf den Wällen gaben ihre Schüsse ab und schrien in entsetzter Freude auf, als die Pfeile davonzischten, so als lockerten sich mit den Bogensehnen auch die Fesseln um ihre Herzen. Nach der ersten unsicheren Salve stellten sie sich allmählich auf ihr Schußfeld ein; viele Männer des Königs sanken tot zusammen oder wurden, während sie verwundet am Boden lagen, schreiend von den erbarmungslosen Rädern der eigenen Maschinen zerquetscht. Doch für jeden pfeildurchbohrten Gefallenen sprang ein anderer behelmter Meisterwerker in blauer Jacke vor, um sein Tau zu übernehmen. Ungerührt holperten die Belagerungsmaschinen weiter auf die Mauern zu.

Jetzt waren auch die Fußtruppen des Königs so weit herangekommen, daß die dortigen Bogenschützen das Feuer erwidern konnten. Wie gereizte Bienen sausten die Pfeile zwischen den Mauern und der Erde darunter hin und her. Klappernd und knarrend näherten sich die Maschinen der Vormauer. Für einen kurzen Augenblick brach die Sonne durch; schon waren die Brüstungen hier und da rotgesprenkelt wie von einem sanften Regen.

»Deornoth!« Das weiße, schmutzstreifige Gesicht des Soldaten leuchtete unter dem Helm hervor wie ein Vollmond. »Grimsted bittet Euch, sofort zu ihm zu kommen! Sie haben unter dem Dendinis-Turm Leitern an die Mauer gestellt!«

»Gottes Baum!« Deornoth biß in ohnmächtiger Wut die Zähne zusammen und drehte sich zu Isorn um. Der Rimmersmann hatte einem verwundeten Wächter den Bogen abgenommen und half, die letzten paar Ellen Grund zwischen dem ersten Belagerungsturm und der Mauer freizuhalten, indem er jeden Soldaten aufspießte, der töricht genug war, die schützende Verkleidung des zum Stehen gebrachten Turmes zu verlassen, um eines der losen Zugtaue zu ergreifen, die im Wind flatterten.

»Isorn!« schrie Deornoth. »Während wir hier die Türme abwehren, bringen sie Leitern an die Südwestmauer!«

»Dann geh dorthin!« Isgrimnurs Sohn sah nicht von seiner Pfeilspitze auf. »Ich komme nach, sobald ich kann.«

»Aber wo steckt Einskaldir?« Aus dem Augenwinkel sah er, wie der Bote voller Angst und Ungeduld von einem Fuß auf den anderen trat.

»Gott weiß es!«

Wieder stieß Deornoth einen unterdrückten Fluch aus, duckte sich und rannte ungeschickt hinter Grimsteds Boten her. Unterwegs sammelte er ein halbes Dutzend Wachen um sich, müde Männer, die sich für einen Augenblick im Schutz der Zinnen niedergelassen hatten, um zu verschnaufen. Als er sie rief, schüttelten sie bedauernd den Kopf, setzten jedoch die Helme wieder auf und folgten ihm. Deornoth genoß großes Ansehen; viele nannten ihn die rechte Hand des Prinzen oder, poetischer, die prinzliche Rechte.

Aber Josua hatte wenig Glück mit seiner ersten Rechten, dachte Deornoth unfroh, während er mit eingezogenem Kopf über den Wehrgang eilte. Trotz der kalten grauen Luft schwitzte er. Ich hoffe, diese hier bleibt ihm länger erhalten. Wo steckt der Prinz überhaupt? Gerade jetzt sollte er sich sehen lassen …

Als er um die gewaltige Masse des Dendinis-Turmes bog, bemerkte er zu seinem Entsetzen, daß Grimsteds Männer zurückfielen und ein Schwarm Krieger in Rot und Blau über die Zinnen der Vormauer strömte – Baron Godwigs Cellodshirer.

»Für Josua!« schrie er und stürmte auf sie zu. Die Männer hinter ihm nahmen den Ruf auf. Mit einem blechernen Klirren von Schwert auf Schwert drangen sie auf die Belagerer ein und schafften es, die Cellodshirer für kurze Zeit zurückzuwerfen. Ein Mann kippte aufkreischend von der Mauer, wobei er mit den Armen fuchtelte wie eine Windmühle, als könne der eisige Wind ihn wieder nach oben tragen. Grimsteds Männer faßten neuen Mut und machten einen Ausfall. Während der Feind damit beschäftigt war, zog Deornoth einen Spieß aus dem erstarrten Griff eines am Boden ausgestreckten Leichnams, fing von einem verirrten Speerende einen heftigen Schlag auf den Körper ein, und stieß die erste der langen Leitern von der Mauer fort. Gleich darauf waren zwei seiner Wachen bei ihm, und gemeinsam hebelten sie die Leiter aus; sie stürzte bebend ins Leere, während die Belagerer sich fluchend festklammerten und ihre aufgerissenen Münder wie leere, schwarze Löcher gähnten. Sekundenlang stand die Leiter frei zwischen Himmel und Erde, senkrecht zu beiden; dann kippte sie rückwärts um und warf die Soldaten ab wie ein Ast, den man schüttelt, seine Früchte.

Bald lagen bis auf zwei alle Rotblauen auf dem Wehrgang in ihrem Blut. Die Verteidiger stießen auch die übrigen drei Leitern um, und Grimsted ließ seine Männer einen der großen Steinblöcke herbeirollen, die zu holen die Zeit nicht mehr gereicht hatte, als der Angriff begann. Sie kippten ihn über die niedrige Stelle der Brüstung, so daß er krachend auf den umgestürzten Leitern landete und sie zersplitterte wie Anmachholz. Dabei verlor ein Mann der Leiterbesatzung sein Leben, der dort, wo er hingestürzt war, sitzengeblieben war und mit leerem Blick vor sich hinstarrte, als der gewaltige Stein auf ihn hinunterrollte.

Von den Wächtern, die die Mauer verteidigt hatten, war einer gefallen, ein bärtiger junger Bursche, der einmal mit Deornoth gewürfelt hatte. Eine Schildkante hatte ihm das Genick gebrochen. Auch von Grimsteds Männern waren vier tot, zusammengekrümmt wie vom Wind heruntergerissene Vogelscheuchen, um sie herum sieben Krieger aus Cellodshire, die wie sie den fehlgeschlagenen Angriff nicht überlebt hatten.

Deornoth spürte den Schlag gegen den Magen, den er sich zugezogen hatte. Keuchend stand er da, als der zahnlückige Grimsted zu ihm herüberhinkte, in der gestiefelten Wade ein zerfetztes, blutiges Loch.

»Sieben hier, und ein halbes Dutzend weitere, die von der Leiter gefallen sind«, stellte der Ritter fest und musterte die sich windenden Leiber und die Zerstörung unter ihnen befriedigt. »Auf der ganzen Mauer dasselbe. Hat viel größere Verluste als wir, König Elias, viel größere.«

Deornoth war übel. Die verletzte Schulter stach, als hätte man einen Nagel hindurchgetrieben.

»Aber der König hat auch viel mehr als wir«, entgegnete er. »Er kann … sie wegwerfen … wie Apfelschalen.« In diesem Moment merkte er, daß er sich übergeben mußte und trat an den Rand der Mauer.

»Apfelschalen…«, sagte er noch einmal und lehnte sich über die Brüstung. Es tat so weh, daß er sich nicht schämte.


»Bitte lies es noch einmal«, sagte Jarnauga ruhig und starrte auf seine gefalteten Hände.

Vater Strangyeard sah auf, und sein erschöpfter Mund wollte sich zu einer Frage öffnen. Statt dessen erfüllte ein markerschütterndes Krachen draußen das Gesicht des einäugigen Priesters mit Panik, und er schlug hastig einen Baum über der Brust seiner schwarzen Kutte.

»Steine!« rief er mit schriller Stimme. »Sie werfen … sie werfen Steine über die Mauer! Sollten wir nicht … gibt es denn keine ….?«

»Die Männer, die auf den Mauern kämpfen, sind auch in Gefahr«, erwiderte der alte Rimmersmann mit strenger Miene. »Wir sind hier, weil wir hier am nützlichsten sein können. Unsere Kameraden suchen unter Lebensgefahr im weißen Norden das eine Schwert. Das zweite ist bereits in der Hand des Feindes, der unsere Mauern belagert. Die geringe Hoffnung, die noch besteht, herauszufinden, was aus Fingils Klinge Minneyar wurde, ruht auf uns.« Sein Blick wurde weicher, als er den besorgten Strangyeard ansah. »Die wenigen Steine, die die innere Burg erreichen, müßten erst die hohe Mauer hinter diesem Raum überwinden. Das Risiko ist unbedeutend. Jetzt lies mir bitte noch einmal diese Stelle vor! Sie enthält irgend etwas, auf das ich meine Hand nicht legen kann, aber es scheint mir wichtig.«

Der lange Priester starrte ein paar Sekunden auf das Blatt. Im Raum war es still, bis eine Welle von Geschrei und anfeuernden Rufen, von der Entfernung gedämpft, zum Fenster hereindrang wie ein Nebel.

Strangyeards Mund zuckte.

»Lies«, forderte Jarnauga ihn noch einmal auf.

Der Priester räusperte sich.

»… Und so stieg Johan hinab in die Tunnel unter dem Hochhorst – dampfende Schlote und schwitzende Gänge, erfüllt vom Atem Shurakais. Unbewaffnet bis auf Speer und Schild war er, und selbst das Leder seiner Stiefel qualmte, als er sich dem Lager des Feuerdrachen näherte; und es besteht kaum ein Zweifel, daß er soviel Angst hatte wie kaum jemals später in seinem langen Leben…«

Strangyeard hielt inne. »Was nützt uns das, Jarnauga?« Ganz in der Nähe schlug etwas dröhnend in die Erde; es klang, als sause ein Riesenhammer nieder. Strangyeard überhörte es stoisch. »Willst du … soll ich weiterlesen? Den ganzen Kampf zwischen König Johan und dem Drachen?«

»Nein.« Jarnauga winkte mit der knotigen Hand. »Nimm den letzten Absatz.«

Der Priester blätterte vorsichtig einige Blätter um.

»… Und so geschah es, daß er wieder heraustrat ans Licht, obwohl niemand mehr auf seine Rückkehr gehofft hatte. Die wenigen, die am Höhleneingang zurückgeblieben waren – auch das ein Zeichen großer Tapferkeit, denn wer konnte wissen, was vor der Tunneltür eines gereizten Drachens alles geschehen mochte? –, stießen vor lauter Freude und Erstaunen gewaltige Flüche aus – vor Freude, weil sie Johan von Warinsten lebendig aus der Höhle des Lindwurms wiederkehren sahen, und vor Erstaunen über die riesige Klaue, mit purpurnen Schuppen und krummen Krallen, die er über der blutenden Schulter trug. Und als sie ihm laut rufend voraneilten und sein Pferd im Triumph durch die Tore von Erchester führten, kamen die Menschen an die Fenster und auf die Straßen gelaufen und glotzten ihn an. Manche sagen, daß diejenigen, die Johan am lautesten ein schreckliches Ende und für sich selber die furchtbarsten Folgen der Tat des jungen Ritters prophezeit hatten, ihm jetzt für seine Heldentat am eifrigsten Beifall spendeten. Als sich die Nachricht verbreitete, waren die Gassen im Nu von jubelnden Bürgern gesäumt, die Johan Blumen streuten, als er vorbeiritt, Hellnagel hoch erhoben wie eine brennende Fackel, quer durch die Stadt, die fortan die seine war…«

Seufzend legte Strangyeard die Blätter der Handschrift sanft in das Zedernholzkästchen zurück, in dem er sie aufbewahrte. »Eine wunderbare und erschreckende Geschichte, würde ich sagen; und Morgenes, hmmm, ja, er formuliert es großartig, aber was nützt es uns? Ohne Mangel an Respekt, verstehst du.«

Jarnauga schielte auf seine eigenen, hervortretenden Knöchel und legte die Stirn in Falten. »Ich weiß nicht. Da ist etwas – irgend etwas steckt in dieser Geschichte. Ob mit Absicht oder nicht, Doktor Morgenes hat etwas darin verborgen. Himmel und Wolken und Steine! Ich kann es fast mit Händen greifen! Ich komme mir vor, als wäre ich blind!«

Wieder flutete ein Schwall von Lärm durch das Fenster, laute, besorgte Rufe, dann das Klirren schwerer Rüstungen, als draußen ein Trupp Wachsoldaten über den Burganger rannte.

»Ich glaube nicht, daß uns noch viel Zeit zum Grübeln bleibt, Jarnauga«, sagte Strangyeard endlich.

»Ich auch nicht«, bestätigte der Alte und rieb sich die Augen.


Den ganzen Nachmittag brandete die Flut von König Elias' Heer gegen Naglimunds steinige Klippen. Das matte Sonnenlicht schlug glitzernde Spiegelscherben aus poliertem Metall, als Welle auf Welle gepanzerter und behelmter Soldaten die Leitern hinaufströmte, heldenhaft abgewehrt von den Verteidigern. Hier und da fand die Streitmacht des Königs für kurze Zeit eine Lücke in dem Ring finsterer Männer und störrischer Steine, wurde aber immer wieder zurückgeschlagen. Der dicke Ordmaer, Baron von Utersall, stopfte für lange Minuten ganz allein eine dieser Breschen, kämpfte Hand gegen Hand mit den Soldaten, die von unten die Leitern emporkletterten, erschlug vier von ihnen und hielt die übrigen auf, bis Hilfe kam, obwohl er selbst dabei tödlich verwundet wurde.

Es war Prinz Josua persönlich, der einen Wachtrupp zu ihm führte, den Mauerabschnitt sicherte und die Leitern zerstörte. Josuas Schwert Naidel war ein Sonnenstrahl, der durch Blätter tanzt, so geschwind sauste es hin und her und verwandelte lebende Männer in tote, während die Angreifer unhandliche Breitschwerter oder viel zu kurze Dolche schwangen.

Der Prinz weinte, als man Ordmaers Leiche fand. Die beiden waren keine Freunde gewesen, aber Ordmaer war gestorben wie ein Held, und im Pulsschlag der Schlacht erschien sein Sterben Josua plötzlich wie ein Sinnbild des Todes überhaupt – des Todes aller dieser Spießkämpfer und Bogenschützen und Fußsoldaten auf beiden Seiten, die jetzt unter dem kalten, wolkigen Himmel in ihrem Blute lagen und starben. Der Prinz befahl, den großen, schlaffen Körper des Barons in die Burgkapelle hinunterzutragen. Leise fluchend gehorchten seine Männer.

Als die rot gefärbte Sonne auf den westlichen Horizont zukroch, schien König Elias' Heer nachzulassen, der Ansturm schwächer zu werden: Die Versuche, durch die herunterzischenden Pfeilsalven die Belagerungsmaschinen an die Vormauer heranzuschieben, wirkten allmählich halbherzig, und beim ersten Widerstand von oben fingen die Hinaufkletternden an, ihre Leitern im Stich zu lassen. Schwer fiel es Erkynländern, Erkynländer zu töten, selbst auf Befehl des Hochkönigs, und noch schwerer, wenn die eigenen erkynländischen Brüder fochten wie in die Enge getriebene Dachse.

Bei Sonnenuntergang tönte aus den Zeltreihen ein klagender Hornruf über das Schlachtfeld, und Elias' Truppen begannen sich zurückzuziehen. Die Verwundeten und viele ihrer Toten nahmen sie mit, die mit Tierhäuten bedeckten Belagerungsmaschinen und die Sicherheitskästen der Mineure ließen sie für die Angriffe des nächsten Morgens stehen. Wieder erklang das Horn und die Trommeln wurden geschlagen, laut und wie um die Verteidiger daran zu erinnern, daß das riesige Heer des Königs gleich dem grünen Ozean wieder und immer wieder seine Wellen gegen sie anbranden lassen könne. Irgendwann, schienen die Trommeln zu verkünden, müßte selbst der hartnäckigste Stein zerbröckeln.

Die Belagerungstürme, die vor den Mauern aufragten wie einsame Obelisken, waren eine weitere unübersehbare Erinnerung daran, daß Elias wiederkommen würde. Die feuchten Häute, die sie bedeckten, schützten sie vor Schaden durch bloße Brandpfeile, aber darüber hatte sich Eadgram, der Oberste der Wachen, schon den ganzen Tag Gedanken gemacht. Er hatte sich bei Jarnauga und Strangyeard Rat geholt und schließlich einen Plan ersonnen.

Noch während die letzten Angreifer den Hang hinab auf ihr Feldlager zuhinkten, ließ Eadgram von seinen Schützen mit Öl gefüllte Weinschläuche auf die Wurfarme der beiden kleinen Steinschleudern von Naglimund laden. Sobald die Arme hochschnellten, sausten die Ölsäcke über das freie Feld vor den Mauern und zerplatzten an der Lederverkleidung der Türme. Danach war es nicht schwer, ein paar Brandpfeile mit pechgetränkten Spitzen durch die blaue Dämmerung zu schicken. Sekunden später hatten sich die vier gewaltigen Türme in lodernde Fackeln verwandelt.

Die Männer des Königs konnten nichts tun, um das Feuer zu löschen. Als das orangerote Licht über den Zinnen flackerte, klatschten die Verteidiger auf den Wällen in die Hände und stampften und riefen, erschöpft, aber ermutigt.

Als der König, in seinen weiten, schwarzen Mantel gehüllt, wie eine Schattengestalt aus dem Lager hervorritt, spotteten die Verteidiger von Naglimund. Als er sein unheimliches Schwert hob und wie ein Wahnsinniger nach Regen schrie, der die feurigen Türme löschen sollte, lachten sie unbehaglich. Erst nach einer ganzen Weile, während der Elias hin und her ritt und sein kohlschwarzer Umhang im kalten Wind wehte, erkannten sie allmählich aus dem furchtbaren Zorn in seiner Stimme, daß der König wirklich erwartet hatte, der Regen, den er gerufen hatte, werde auch kommen, und daß er außer sich vor Wut war, weil das nicht geschehen war. Das Gelächter wurde zu angstvollem Schweigen. Einer nach dem anderen hörten die Verteidiger von Naglimund auf zu jubeln und stiegen von den Mauern, um ihre Wunden versorgen zu lassen. Schließlich hatte die Belagerung kaum begonnen. Eine Unterbrechung war nicht in Sicht, und keine Ruhe diesseits des Himmels.


»Ich habe schon wieder diese seltsamen Träume, Binabik.«

Simon hatte sein Pferd neben Qantaqa gelenkt, dem Rest der Gesellschaft ein paar Meter voraus. Es war ein klarer, aber schneidend kalter Tag, ihr siebter auf dem Ritt über die Weiße Wüste.

»Was für Träume?«

Simon rückte die Maske zurecht, die der Troll ihm gefertigt hatte, einen Fellstreifen mit Schlitzen zum Schutz vor dem grellen Glitzern des Schnees. »Vom Grünengel-Turm … es kann auch ein anderer Turm sein. Letzte Nacht habe ich geträumt, er wäre blutüberströmt.«

Binabik spähte unter seiner eigenen Maske hervor und deutete auf einen dünnen, grauen Streifen, der sich am Horizont am Fuß der Berge entlangzog. »Das, ich bin sicher, ist der Rand des Dimmerskogs – oder des Qilakitsoq, wie mein Volk ihn treffender nennt: des Schattenwaldes. Wir müßten ihn in ein bis zwei Tagen erreicht haben.«

Simon starrte den öden Streifen an und fühlte, wie ohnmächtige Wut in ihm kochte.

»Der verdammte Wald ist mir scheißegal«, bemerkte er giftig, »und Eis und Schnee und immer wieder Eis und Schnee hängen mir zum Hals heraus. Wir werden in dieser gräßlichen Wildnis erfrieren und sterben! Und was ist mit meinen Träumen?«

Der Troll hüpfte einen Moment auf Qantaqas Rücken mit, als die Wölfin über eine Reihe kleiner Schneewehen hinwegsetzte. Durch den Gesang des Windes konnte man Haestan hören, der jemandem etwas zurief.

»Ich bin bereits erfüllt von Sorgen«, verkündete Binabik gemessen, als wolle er seine Rede dem Rhythmus ihres Vorwärtskommens anpassen. »Wach lag ich in Naglimund zwei Nächte und quälte mich, welchen Schaden ich verursachen würde, wenn ich dich auf diese Reise mitnähme. Ich weiß nicht, was deine Träume bedeuten, und die einzige Art, es herauszufinden, wäre es, auf der Straße der Träume zu gehen.«

»Wie damals bei Geloë?«

»Aber ohne Hilfe habe ich kein Vertrauen in meine Kraft dazu – nicht hier, nicht jetzt. Es ist möglich, daß deine Träume uns Hilfe bringen könnten, aber dennoch scheint es mir unklug, jetzt die Traumstraße aufzusuchen. Ich kann nur sagen, daß ich getan habe, was mir am besten schien.«

Simon dachte brummend darüber nach. Hier sind wir jetzt. Binabik hat recht. Wir sind jetzt alle hier, viel zu weit, um noch zurückzukönnen.

»Ist Inelu…«, mit Fingern, die nicht allein vor Kälte zitterten, schlug er das Zeichen des Baumes, »ist der Sturmkönig … der Teufel?« fragte er endlich.

Binabik zog die Stirn in tiefe Falten.

»Der Teufel? Der Feind eures Gottes? Warum fragst du das? Du hast Jarnaugas Worte gehört – du weißt, was Ineluki ist.«

»Ja, schon.« Ihn schauderte. »Es ist nur … ich sehe ihn in meinen Träumen. Jedenfalls glaube ich, daß er es ist. Rote Augen, das ist eigentlich alles, was ich erkenne, alles andere ist schwarz … wie verkohlte Scheite, in denen man noch glühende Stellen sieht.« Beim bloßen Gedanken daran wurde ihm übel.

Der Troll, die Hände in der Halskrause der Wölfin vergraben, zuckte die Achseln. »Er ist nicht euer Teufel, Freund Simon. Aber trotzdem ist er etwas Böses, oder zumindest glaube ich, daß das, was er will, für uns alle Böses bedeutet. Das ist schlimm genug.«

»Und … der Drache?« fragte Simon nach einer Weile zögernd. Binabik drehte scharf den Kopf und sah ihn aus seltsamen geschlitzten Augen an.

»Drache?«

»Der auf dem Berg lebt. Dessen Namen ich nicht aussprechen kann.«

Binabik lachte laut auf; sein Atem war wie eine Wolke. »Igjarjuk ist sein Name. Tochter der Berge, viele Sorgen hast du, junger Freund! Teufel! Drachen!« Mit dem Finger seines Handschuhs fing er eine Träne auf und hielt sie in die Höhe. »Schau her!« lachte er. »Als ob es nötig wäre, noch mehr Eis zu machen!«

»Aber es war ein Drache da!« versetzte Simon hitzig. »Alle haben es gesagt.«

»Vor langer Zeit, Simon. Es ist ein verrufener Ort, aber ich denke, daß das vor allem auf seine Abgelegenheit zurückzuführen ist. Die Legenden der Qanuc erzählen, daß dort einst ein riesiger Eiswurm lebte, und mein Volk meidet den Ort, aber ich glaube, daß er heutzutage wahrscheinlich nur ein Schlupfwinkel für Schneeleoparden und ähnliches Getier ist. Das heißt nicht, daß es dort nichts Gefährliches gäbe. Die Hunen, wie wir sehr wohl wissen, treiben sich neuerdings überall herum.«

»Heißt das dann, daß ich in Wirklichkeit gar keine Angst zu haben brauche? Nachts gehen mir immer die schrecklichsten Dinge durch den Kopf.«

»Ich habe nicht gesagt, daß du keine Angst zu haben brauchst, Simon. Wir dürfen nie vergessen, daß wir Feinde haben; und manche von ihnen scheinen in der Tat große Macht zu besitzen.«


Wieder eine kalte Nacht in der Öde; wieder ein Lagerfeuer in der dunklen Leere der Schneefelder. Nichts auf der ganzen Welt wäre Simon lieber gewesen, als zusammengerollt in Naglimund im Bett zu liegen, unter Decken versteckt, und wenn auch die blutigste Schlacht in der ganzen Geschichte von Osten Ard unmittelbar vor seiner Tür getobt hätte. Er war überzeugt, wenn jetzt jemand käme und ihm einen warmen, trockenen Schlafplatz anböte, würde er lügen oder töten oder Usires' Namen unnützlich führen, nur um diesen Platz zu ergattern. Er saß da, in seine Satteldecke gewickelt, damit die Zähne nicht so klapperten, und war ganz sicher, er könnte fühlen, wie ihm die Wimpern an den Lidern festfroren.

In der endlosen Finsternis hinter dem schwachen Schein des Feuers jappten und heulten die Wölfe und führten lange und klagende, komplizierte Gespräche miteinander. Vor zwei Nächten, als die Gesellschaft zum ersten Mal ihren Gesang vernommen hatte, war Qantaqa den ganzen Abend nervös um das Lagerfeuer herumgestrichen. Inzwischen hatte sie sich an das nächtliche Rufen ihrer Artgenossen gewöhnt und reagierte nur manchmal mit einem bedrückten Winseln.

»W-warum s-sagt sie ihnen nicht auch mal w-was?« erkundigte Haestan sich besorgt. Als Mann der Ebenen des erkynländischen Nordens liebte er die Wölfe ebenso wenig wie Sludig, obwohl er für Binabiks Reittier fast so etwas wie Zuneigung entwickelt hatte. »W-warum erklärt sie ihnen nicht, s-sie s-sollten weggehen und andere Leute quälen?«

»So wie die Menschen leben auch nicht alle, die zu Qantaqas Art gehören, in Frieden miteinander«, erwiderte Binabik, was für niemanden eine Beruhigung darstellte.

Heute abend tat die große Wölfin tapfer ihr Bestes, das Heulen nicht zu beachten, indem sie zu schlafen vorgab – aber sie verriet sich, als sie die gespitzten Ohren den lauter werdenden Rufen zudrehte. Das Wolfslied, fand Simon, als er sich fester in seine Decke kauerte, war so ziemlich der einsamste Klang, den er je gehört hatte.

Warum bin ich nur hier? fragte er sich grübelnd. Warum sind wir alle hier? In diesem grauenhaften Schnee suchen wir nach einem Schwert, an das seit Jahren überhaupt niemand mehr gedacht hat. Inzwischen sitzen die Prinzessin und alle anderen Leute in der Burg und warten darauf, daß der König sie angreift. Hirnverbrannt! Binabik ist im Gebirge, im Schnee, aufgewachsen – Grimmric, Haestan und Sludig sind Soldaten – was die Sithi wollen, weiß Ädon allein. Aber wieso bin ich hier? Welche Dummheit!

Das Heulen verstummte. Ein langer Zeigefinger berührte Simons Hand. Er fuhr vor Schreck zusammen.

»Lauschst du den Wölfen, Seoman?« erkundigte sich Jiriki.

»D-das ist schwer zu vermeiden.«

»Sie singen solch wilde Lieder.« Der Sitha schüttelte den Kopf. »Und gleichen euch Sterblichen. Sie singen davon, wo sie gewesen sind und was sie gesehen und gewittert haben. Sie erzählen einander, wo die Elche ziehen und wer sich mit wem gepaart hat, aber meistens rufen sie nur Ich bin! Hier bin ich!« Jiriki lächelte mit verschleierten Augen und beobachtete das verglimmende Feuer.

»Und Ihr g-glaubt, das w-würden auch w-wir Sterblichen sagen?«

»Mit Worten und ohne Worte«, erwiderte der Prinz. »Du mußt versuchen, es mit unseren Augen zu sehen. Den Zida'ya kommt euer Geschlecht oft wie Kinder vor. Ihr seht, daß die langlebigen Sithi nicht schlafen, daß wir die lange Nacht der Geschichte hindurch wach bleiben. Ihr Menschen wollt, wie die Kinder, mit den Älteren am Feuer aufbleiben, um die Lieder und Geschichten zu hören und dem Tanz zuzuschauen.« Er machte eine Gebärde, als sei die Dunkelheit ringsum voller unsichtbarer Festgäste.

»Aber das könnt ihr nicht, Simon«, fuhr er freundlich fort. »Ihr dürft nicht. Eurem Volk wurde die Gabe des letzten Schlafes verliehen, so wie es unserer Art gegeben ist, die ganze Nacht unter den Sternen zu wandeln und zu singen. Vielleicht liegt sogar in euren Schlafträumen ein Reichtum, den wir Zida'ya nicht verstehen.«

Die Sterne am schwarzen Kristallhimmel schienen davonzugleiten und tiefer in der weiten Nacht zu versinken. Simon dachte an die Sithi und ein Leben, das kein Ende hatte, und konnte sich nicht vorstellen, wie das sein mochte. Eiskalt bis ins Mark – bis in die Seele, so schien es ihm – beugte er sich dichter zum Feuer und zog die feuchten Fausthandschuhe aus, um seine Hände zu wärmen.

»Aber auch die S-sithi können sterben, n-nicht w-wahr?« erkundigte er sich vorsichtig und verfluchte sein vom Frost verursachtes Gestotter.

Jiriki neigte sich zu ihm. Seine Augen waren schmal geworden. Einen entsetzten Moment glaubte Simon, der Sithi wolle ihn seiner dreisten Frage wegen schlagen. Statt dessen griff Jiriki nach Simons zitternder Hand und hielt sie schräg.

»Dein Ring«, sagte er und starrte auf den fischförmigen Schnörkel darauf. »Ich hatte ihn noch nicht bemerkt. Von wem hast du ihn?«

»Von m-meinem … m-meinem M-meister, k-könnte m-man wohl sagen«, stammelte Simon. »D-doktor M-morgenes vom Hochhorst. Er hat ihn mir nachgeschickt, zu Binabik.« Der kühle, kräftige Griff der Hand des Sithiprinzen verwirrte ihn, aber er wagte sich nicht daraus zu lösen.

»Dann gehörst du zu denen deiner Rasse, die das Geheimnis kennen?« fragte Jiriki und musterte ihn scharf. Die Tiefe seiner goldenen Augen, denen der Feuerschein die Farbe von Rost gab, war erschreckend.


»G-geheimnis? N-n-nein! Nein, ich k-kenne k-kein Geheimnis.«

Jiriki starrte ihn an und hielt ihn mit seinen Augen so fest, als hätte er Simon mit beiden Händen am Kopf gepackt.

»Aber warum gab er dir dann den Ring?« fragte Jiriki hauptsächlich sich selber und ließ kopfschüttelnd Simons Hand los. »Und ich selbst gab dir einen Weißen Pfeil! Wahrlich, einen seltsamen Weg haben die Ahnen uns geführt.« Er drehte sich um und starrte in das schwach flackernde Feuer. Simons Fragen wollte er nicht beantworten.

Geheimnisse, dachte Simon erbost, noch mehr Geheimnisse! Binabik hat welche. Morgenes hatte welche. Und die Sithi sind voll davon! Ich habe alle Geheimnisse satt. Warum hat man gerade mich für diese Art von Bestrafung ausgesucht? Warum will mir jeder dauernd seine blöden Geheimnisse aufdrängen?

Er weinte eine Weile lautlos vor sich hin, umarmte zitternd seine Knie und wünschte sich lauter unmögliche Dinge.


Am Nachmittag des nächsten Tages erreichten sie die östlichen Ausläufer des Dimmerskogs. Obwohl ein dichter weißer Schneemantel den Forst bedeckte, schien er trotzdem das zu sein, was Binabik von ihm gesagt hatte: ein Ort der Schatten. Die Gesellschaft trat nicht unter sein Dach und hätte es vielleicht nicht einmal getan, wenn ihr Weg in diese Richtung geführt hätte, so bedrohlich war die Stimmung, die von dem Wald ausging. Die Bäume wirkten trotz ihrer Größe – und es waren Riesen unter ihnen – zwergwüchsig und verkrüppelt, als krümmten sie sich verbittert unter ihrer Last aus benadelten Ästen und Schnee. Die Durchlässe zwischen den schiefen Stämmen schienen aberwitzig gewunden und ähnelten von einem riesenhaften, berauschten Maulwurf gegrabenen Tunneln, die am Ende in gefährliche, rätselhafte Tiefen führten.

Simon, der fast lautlos an ihnen vorüberritt – nur die Hufe seines Pferdes knirschten leise im Schnee –, stellte sich vor, er folge den gähnenden Pfaden in die von Borkensäulen getragenen, weiß überdachten Hallen des Dimmerskogs, bis er endlich – wohin kam? Was mochte dort drinnen liegen? Vielleicht das dunkle, heimtückische Herz des Waldes, ein Ort, an dem die Bäume miteinander einatmeten und – schuppig Ast an Ast reibend – endlose Gerüchte weitergaben oder durch Zweige und gefrorene Blätter boshaften Wind ausatmeten?

Auch in dieser Nacht lagerten sie im Freien, obwohl sich ganz in ihrer Nähe der Dimmerskog duckte wie ein schlafendes Tier. Aber keiner wollte die Nacht unter den Ästen des Waldes verbringen, vor allem Sludig nicht, der mit Geschichten über die gräßlichen Wesen aufgewachsen war, die in den bleichen Gängen zwischen den Bäumen lauerten. Den Sithi schien es nichts auszumachen, aber auch Jiriki war einen Teil des Abends damit beschäftigt, sein schwarzes Hexenholzschwert zu ölen. Wieder kauerte die kleine Schar um ein ungeschütztes Feuer, und den ganzen langen Abend wehte der messerscharfe Ostwind über sie hin, ließ überall große Springbrunnen aus Schnee in die Höhe schießen und spielte in den Wipfeln des Dimmerskogs. Als sie sich schlafen legten, umgab sie das knarrende Geräusch des Waldes und der vom Wind gepeitschten Äste, die sich aneinander rieben.


Zwei weitere langsame Tagesritte führten sie um den Wald herum und über das letzte Stück offener eisiger Fläche an die Ausläufer des Gebirges heran. Die Landschaft war eintönig, und die Schneekruste glitzerte im grellen Tageslicht, bis Simon vom Zusammenkneifen der Augen Kopfweh bekam; aber es schien etwas wärmer zu werden. Zwar fiel immer noch Schnee, aber der beißende Wind drang nicht mehr so durch Mantel und Überrock wie draußen vor dem breiten Windschatten der Berge.

»Seht!« rief Sludig und deutete nach dem abschüssigen Vorfeld des Gebirges.

Zuerst sah Simon nur die allgegenwärtigen schneebedeckten Felsen und Bäume. Dann, als sein Blick die Reihe der niedrigen Hügel im Osten entlangglitt, erkannte er eine Bewegung. Zwei merkwürdig aussehende Gestalten – oder waren es vier, sonderbar vermischt? – zeichneten sich auf der eine Achtelmeile entfernten Kammhöhe ab.

»Wölfe?« fragte er beunruhigt.

Binabik ritt mit Qantaqa aus der Gruppe der anderen heraus, bis beide sich deutlich vom Rest abhoben. Dann nahm er die hohlen Hände in ihren Handschuhen zum Mund. »Yah aqonik mij'ayah nu tutusiq, henimaatuq?« rief er. Seine Worte hallten kurz wider und erstarben dann in den weißverhüllten Hügeln. »Eigentlich sollte man hier nicht rufen«, flüsterte er dem verwirrten Simon zu. »Weiter oben könnte es Lawinen auslösen.«

»Aber wen rufst du?«

»Sch.« Binabik winkte mit der Hand. Sofort kamen die Gestalten ein Stückchen den Kamm herunter und auf die Gefährten zu. Jetzt merkte Simon, daß es sich um zwei kleine Männer handelte, die auf zottigen, krummgehörnten Widdern saßen. Trolle!

Einer von ihnen antwortete. Binabik hörte aufmerksam zu und drehte sich dann lächelnd zu seinen Kameraden um.

»Sie wünschen zu wissen, wohin wir reisen, und ob das nicht ein fleischfressender Rimmersmann ist, den wir bei uns haben, und ob er unser Gefangener sei?«

»Hol sie der Teufel!« knurrte Sludig. Binabiks Lächeln wurde breiter, und er sah wieder nach dem Kamm hinauf.

»Binbiniqegabenik ea sikka!« schrie er. »Uc sikkan mo-hinaq da Yijarjuk!«

Die beiden runden Köpfe in den Pelzkapuzen sahen ihn einen Augenblick an, verständnislos wie von der Sonne geblendete Eulen. Gleich darauf schlug sich der eine mit der Hand auf die Brust, während der andere mit dem Arm einen weiten Kreis beschrieb. Sie rissen ihre Tiere herum und galoppierten in einer Wolke von Pulverschnee den Kamm hinauf und davon.

»Was war das?« fragte Sludig gereizt.

Binabiks Grinsen machte einen etwas gezwungenen Eindruck. »Ich habe ihnen gesagt, daß wir unterwegs zum Urmsheim sind«, erklärte er. »Der eine hat das Zeichen gemacht, mit dem man sich vor Bösem schützt, der andere benutzte einen Zauber gegen Wahnsinnige.«


Die Gesellschaft schlug den Weg in die Berge ein und lagerte in einer felsigen Mulde, die sich in den Mantelsaum des Urmsheim schmiegte.

»Hier sollten wir die Pferde und alles sonst Entbehrliche zurücklassen«, meinte Binabik, nachdem er sich das geschützte Gelände angesehen hatte.

Jiriki schritt nach dem Eingang des Tales, lehnte sich zurück und starrte zum zerklüfteten, schneebedeckten Haupt des Urmsheim hinauf, dessen Westwand die sinkende Sonne rosig färbte. Der Wind blähte den Mantel des Prinzen und blies ihm die Haare ins Gesicht wie lavendelblaue Wolkenfetzen.

»Es ist lange her, daß ich diesen Ort erblickt habe«, bemerkte er.

»Habt Ihr den Berg schon einmal bestiegen?« fragte Simon, der sich mit der Gurtschnalle seines Pferdes abplagte.

»Ich habe niemals die andere Seite des Gipfels gesehen«, antwortete der Sitha. »Das wird etwas Neues für mich sein – das östlichste Reich der Hikeda'ya zu betrachten.«

»Der Nornen?«

»Damals zur Zeit der Trennung wurde ihnen alles Land nördlich der Berge abgetreten.« Jiriki stieg die Schneerinne wieder hinauf. »Ki'ushapo, du mußt mit Sijandi einen Unterstand für die Pferde bauen. Sieh dort drüben – unter den überhängenden Felsen wachsen ein paar kleine Büsche; das kann gut sein, wenn das Heu knapp wird.« Er fiel in die Sithisprache, und An'nai und die beiden anderen machten sich daran, ein dauerhafteres Lager zu errichten, als die Männer es seit dem Verlassen der ›Jagdhütte‹ bisher genossen hatten.

»Simon, schau, was ich mitgebracht habe!« rief Binabik. Der Junge ging an den drei Soldaten vorbei, die kleinere Bäume gefällt hatten und sie nun zu Brennholz spalteten. Der Troll hockte auf der Erde und zog in Ölhaut verpackte Bündel aus seiner Satteltasche.

»Der Schmied in Naglimund hielt mich für ebenso verrückt, wie ich klein bin«, lächelte Binabik, als Simon näherkam, »aber er hat mir angefertigt, was ich haben wollte.«

Aus den aufgeschnürten Bündeln kamen allerlei merkwürdige Gegenstände zum Vorschein: mit Stacheln besetzte Metallplatten mit Riemen und Schnallen, wunderliche Hämmer mit spitzen Köpfen und Geschirre, die aussahen, als wären sie für sehr kleine Pferde bestimmt.

»Was ist das alles?«

»Um den Bergen den Hof zu machen und sie für uns zu gewinnen«, feixte Binabik. »Sogar wir Qanuc, so leichtfüßig wir auch sind, klettern nicht ungerüstet auf die höchsten Gipfel. Sieh, das hier schnallt man an die Stiefel« – er zeigte auf die Stachelplatten – »und dies hier sind Eispickel – sehr nützlich sind sie. Sludig wird sie sicher kennen.«

»Und die Geschirre?«

»Damit können wir uns aneinanderseilen. Wenn dann Graupelschauer kommen oder wir auf Drachenschnee oder zu dünnem Eis gehen und einer von uns stürzt, können die anderen sein Gewicht halten. Hätte die Zeit gereicht, hätte ich auch ein Geschirr für Qantaqa vorbereiten lassen. Sie wird sich aufregen, wenn sie zurückbleiben muß, und es wird einen traurigen Abschied geben.« Der Troll ölte und polierte und summte dabei ein leises Lied vor sich hin.

Simon starrte Binabiks Gerätschaften stumm an. Irgendwie hatte er sich vorgestellt, eine Bergbesteigung wäre ungefähr so wie das Erklettern der Stufen im Grünengel-Turm: steil aufwärts, aber im wesentlichen nicht schwieriger als eine anstrengende Wanderung. Aber dieses Gerede von Abstürzenden und dünnem Eis …

»Ho, Simon, Bursche!« Das war Grimmric. »Komm her und mach dich nützlich. Sammel ein paar von den Spänen auf. Wir wollen noch einmal ein richtig schönes Feuer machen, bevor wir uns da oben in den Bergen umbringen.«

Wieder ragte nachts in seinen Träumen der weiße Turm auf. Verzweifelt klammerte sich Simon an seine schlüpfrigen Wände, während unter ihm die Wölfe heulten und über ihm eine schwarze Gestalt mit roten Augen die boshaften Glocken läutete.


Der Schankwirt sah auf, den Mund schon zum Sprechen geöffnet, schwieg dann aber. Er blinzelte und schluckte wie ein Frosch.

Der Fremde war ein Mönch in schwarzer Kutte und Kapuze, das Gewand vielfach mit dem Schmutz der Straße bespritzt. Was an ihm auffiel, war seine Größe: Er war ziemlich lang, dabei rund wie ein Bierfaß und so breit, daß der Schankraum, ohnehin nicht besonders hell, sich merklich verdunkelt hatte, als er sich zur Tür hineindrängte.

»Ich … ich bedaure sehr, Vater.« Der Wirt lächelte einschmeichelnd. Hier war ein ädonitischer Gottesmann, der aussah, als könne er einem die Sünde aus allen Poren quetschen, wenn ihm danach zumute war. »Wonach fragtet Ihr?«

»Ich habe gesagt, daß ich im ganzen Dockviertel in allen Gassen in sämtlichen Kneipen war und kein Glück gehabt habe. Mir tut das Kreuz weh. Gib mir einen Krug von deinem besten.« Er stampfte an einen Tisch und ließ sein Gewicht auf eine ächzende Bank sinken. »Dieses verdammte Abaingeat hat mehr Gasthäuser als Straßen.«

Seine Aussprache, stellte der Wirt fest, war die eines Rimmersmannes. Das erklärte das nackte, rosige Aussehen seines Gesichtes; der Wirt hatte gehört, den Männern aus Rimmersgard wüchsen so dichte Bärte, daß sie sich dreimal am Tag rasieren müßten – die wenigen jedenfalls, die ihren Bart nicht einfach stehen ließen.

»Wir sind eine Hafenstadt, Vater«, meinte er und setzte einen ordentlichen Humpen vor den finsterblickenden Mönch hin. »Und so, wie heutzutage die Dinge liegen«, er verzog achselzuckend das Gesicht, »gibt es eben viele Fremde auf der Suche nach einer Unterkunft.«

Der Mönch wischte sich den Schaum von der Oberlippe und runzelte die Stirn. »Ich weiß. Eine verdammte Schande. Der arme Lluth…«

Der Wirt sah sich unruhig um, aber die erkynländischen Wachsoldaten in der Ecke achteten nicht auf sie. »Ihr sagtet, Ihr hättet kein Glück gehabt, Vater«, bemühte er sich, das Thema zu wechseln. »Darf ich fragen, wonach Ihr sucht?«

»Nach einem Mönch«, knurrte der große Mann, »das heißt natürlich, nach einem Mönchsbruder von mir – und nach einem Jungen. Ich habe alle Docks von oben bis unten nach ihnen abgekämmt.«

Der Inhaber der Schenke lächelte und polierte mit seiner Schürze einen Metallkrug. »Und hierhin hat es Euch zuletzt verschlagen? Vergebt mir, Vater, aber ich fürchte, Euer Gott wollte Euch prüfen.«

Der Lange brummte etwas und sah dann von seinem Bier auf. »Was meinst du damit?«

»Sie waren hier, alle beide – wenn sie es sind.«

Das befriedigte Lächeln gefror auf seinem Gesicht, als der Mönch von seiner Bank aufsprang. Sein gerötetes Gesicht war plötzlich nur wenige Zoll von dem des Wirtes entfernt.

»Wann?«

»V-vor zwei, drei T-tagen – ich weiß es nicht mehr genau…«

»Weißt du es wirklich nicht mehr genau«, erkundigte der Mönch sich drohend, »oder willst du nur Geld?« Er klopfte auf seine Kutte. Der Schankwirt wußte nicht, ob es eine Geldbörse oder ein Messer war, auf die der seltsame Gottesmann da klopfte; er hatte den Usires-Anhängern nie recht getraut, und das Leben in der weltoffensten Stadt von Hernystir hatte seine Meinung von ihnen nicht verbessert.

»O nein, Vater, wirklich nicht! Sie … sie waren vor ein paar Tagen hier. Fragten nach einem Schiff, das die Küste hinuntersegelt – nach Perdruin. Der Mönch war ein kleiner Kerl … kahlköpfig? Der Junge mit schmalem Gesicht und schwarzem Haar? Sie waren hier.«

»Wo hast du sie hingeschickt?«

»Zum alten Gealsgiath, unten beim Eirgid Ramh – das ist die Schenke mit dem gemalten Ruder an der Tür, am Ende der Landzunge!«

Er brach bestürzt ab, als die gewaltigen Hände des Mönchs sich um seine Schultern legten. Der Wirt, ein durchaus kräftig gebauter Mann, fühlte sich so sicher gehalten wie ein Kind. Gleich darauf schwankte er unter einer rippenzerquetschenden Umarmung und konnte nur noch dastehen und nach Luft ringen, als ihm der Mönch einen goldenen Imperator in die Hand drückte.

»Möge der gnädige Usires deine Schenke segnen, Hernystiri!« röhrte der große Mann, daß sich weit draußen auf der Straße Köpfe umdrehten. »Das ist der erste glückliche Moment in meinem Leben, seit ich diese gottverfluchte Suche angefangen habe!« Er donnerte zur Tür hinaus wie jemand, der aus einem brennenden Haus stürzt.

Der Wirt holte unter Schmerzen Atem und hielt die Münze fest, die von der mächtigen Pranke des Mönches noch warm war.

»Verrückt wie die Mondkälber, diese Ädoniter«, sagte er. »Irrsinnig.«


Sie stand an der Reling und sah Abaingeat davongleiten, bis es der Nebel verschlang. Der Wind zerzauste ihr kurzgeschnittenes schwarzes Haar.

»Bruder Cadrach!« rief sie. »Kommt her! Gibt es etwas Herrlicheres?« Sie deutete auf den stetig wachsenden Streifen grünes Meer, der sie von der nebligen Küstenlinie trennte. Über dem schäumenden Kielwasser des Schiffes kreisten und kreischten die Möwen.

Der Mönch, hinter einen Stapel festgezurrter Fässer geduckt, machte eine schlaffe Handbewegung. »Wenn es Euch nur gefällt … Malachias. Ich bin noch nie ein großer Seefahrer gewesen. Weiß Gott, ich glaube auch nicht, daß diese Reise das ändern wird.« Er wischte sich Gischt – oder Schweiß – von der Stirn. Seit sie an Bord gegangen waren, hatte Cadrach noch keinen Tropfen Wein angerührt.

Miriamel sah auf und bemerkte zwei Hernystiri-Matrosen, die sie vom Vorderdeck aus neugierig betrachteten. Sie senkte den Kopf, ging zu dem Mönch hinüber und setzte sich neben ihn.

»Warum seid Ihr mit mir gekommen?« fragte sie nach einer Weile. »Das ist etwas, das ich immer noch nicht verstehe.«

Der Mönch blickte nicht auf. »Ich kam, weil die Herrin Vara mich dafür bezahlte.«

Miriamel zog ihre Kapuze herunter. »Nichts ist besser geeignet als das Meer, einen an wirklich wichtige Dinge zu erinnern«, bemerkte sie ruhig und lächelte. Cadrach lächelte matt zurück.

»Ach ja, beim Guten Gott, das stimmt«, stöhnte er. »Mich erinnert es daran, daß das Leben süß und die See trügerisch ist, und daß ich ein Narr bin.«

Miriamel schaute zu den sich blähenden Segeln auf und nickte. »Das sind Dinge, die man nicht vergessen sollte«, erklärte sie feierlich.

XLII Unter dem Udunbaum

»Es geht eben nicht schneller, Elias«, grollte Guthwulf. »Es geht nicht. Naglimund ist eine harte Nuß … sehr hart … aber das wußtet Ihr…« Er hörte selber, wie verwaschen seine Sprache klang; er hatte sich Mut antrinken müssen, um seinem alten Gefährten überhaupt unter die Augen zu treten. Der Graf von Utanyeat fühlte sich in der Gesellschaft des Königs nicht mehr wohl, schon gar nicht, wenn er ihm schlechte Nachrichten zu überbringen hatte.

»Du hattest vierzehn Tage Zeit. Ich habe dir alles gegeben – Truppen, Belagerungsmaschinen – alles!« Der König zupfte an seiner Gesichtshaut herum und zog die Stirn in Falten. Er wirkte erschöpft und kränklich und hatte Guthwulf nicht einmal in die Augen gesehen. »Ich kann nicht länger warten. Morgen ist Mittsommerabend.«

»Und wieso ist das wichtig?« Guthwulf, dem es eiskalt und flau im Magen war, drehte sich um und spie das fade gewordene Stück Citrilwurzel aus, auf dem er herumgekaut hatte. Das königliche Zelt war so feucht und modrig wie der Boden eines Brunnens. »Noch nie hat jemand in nur vierzehn Tagen eine der großen Festungen eingenommen, selbst wenn sie schlecht verteidigt wurden – es sei denn durch Verrat; und diese Naglimunder kämpfen wie in die Enge getriebene Ratten. Habt Geduld, Hoheit, wir brauchen nur Geduld. In ein paar Monaten könnten wir sie aushungern.«

»Monate!« Elias stieß ein hohles Gelächter aus. »Monate, sagt er, Pryrates!«

Der rote Priester zeigte ein skelettartiges Lächeln. Jäh verstummte das Lachen des Königs, und er senkte das Kinn bis fast auf den Knauf des langen, grauen Schwertes, das zwischen seinen Knien stand. Dieses Schwert besaß etwas, das Guthwulf unheimlich war, obwohl er wußte, daß es töricht war, sich von einem bloßen Gegenstand derart beeinflussen zu lassen. Aber wohin Elias auch ging, seit einiger Zeit hatte er ständig das Schwert bei sich, als sei es ein verzärtelter Schoßhund.

»Heute ist deine letzte Chance, Utanyeat.« Die Stimme des Königs kam dick und schwer. »Entweder ihr öffnet das Tor, oder ich muß … andere Maßnahmen ergreifen.«

Guthwulf stand schwankend auf. »Seid Ihr von Sinnen, Elias? Seid Ihr nicht bei Euch? Wie können wir denn … die Mineure sind noch nicht halbwegs unter der Mauer durch…« Schwindlig verstummte er und überlegte, ob er zu weit gegangen war. »Warum sollte es darauf ankommen, daß morgen Mittsommerabend ist?« Wieder beugte er das Knie und sagte flehend: »Sprecht mit mir, Elias.«

Der Graf hatte einen Ausbruch seines erzürnten Königs befürchtet, zugleich aber die schwache Hoffnung gehabt, daß sich die alte Kameradschaft doch wieder einstellen könnte. Beide Erwartungen wurden enttäuscht.

»Du kannst das nicht verstehen, Utanyeat«, erwiderte Elias, und seine starren, rotgeränderten Augen hefteten sich auf die Zeltwand oder die leere Luft. »Ich habe … andere Verpflichtungen. Ab morgen wird alles anders.«


Simon hatte geglaubt, er wisse inzwischen, was Winter sei. Nach dem Ritt durch die trostlose Öde der Wüste, den endlosen weißen Tagen voller Wind und Schnee und brennender Augen war er sicher gewesen, es gebe keine weiteren Lektionen mehr, die der Winter ihn lehren könne. Nach den ersten paar Tagen auf dem Urmsheim wunderte er sich selbst über soviel Unschuld.

Einer hinter dem anderen angeseilt, wanderten sie über die schmalen Eispfade und gruben sorgfältig Zehen und Ferse in den Boden, ehe sie den Schritt wirklich taten. Manchmal trieb sie aufkommender Wind vor sich her wie Laub, und sie mußten sich an die eisige Flanke des Urmsheim pressen und dort kleben bleiben, bis das Wehen nachließ. Auch der eigene Halt war etwas Trügerisches; Simon, der sich als Herrscher über die Gipfel des Hochhorstes immer für einen beachtlichen Kletterer gehalten hatte, sah sich über schmale Wegspuren rutschen, mühsam festgekrallt, bei denen keine zwei Ellen zwischen Wand und Abgrund lagen und nur eine wirbelnde Wolke von Pulverschnee den Pfad von der fernen Erde trennte. Der Blick vom Grünengel-Turm, der ihm einst als Höhepunkt der Welt erschienen war, kam ihm jetzt so kindisch und harmlos vor wie die Aussicht von einem Schemel in der Burgküche.

Vom Bergpfad aus konnte er bald auch andere Bergspitzen und die Wolkenwirbel sehen, die sie umgaben. Unter ihm ausgebreitet lag der Nordosten von Osten Ard, aber in so großer Ferne, daß er lieber nicht hinsah. Aus solcher Höhe hinabzuschauen tat nicht gut. Es führte dazu, daß sein Herz raste und ihm der Atem in der Kehle stecken blieb. Simon wünschte sich aus tiefster Seele, unten geblieben zu sein; jetzt aber lag seine ganze Hoffnung, je wieder herunterzukommen, im Weiterklettern.

Er stellte fest, daß er jetzt oft betete, und hoffte, daß die Erhabenheit der Umgebung seine Worte noch schneller zum Himmel aufsteigen lassen würde.

Die schwindelnden Höhen und sein schnell abnehmendes Selbstvertrauen waren erschreckend genug, aber Simon war durch das Seil um seine Mitte auch mit allen seinen Gefährten verknüpft, mit Ausnahme der nicht angeseilten Sithi. Das bedeutete, daß er sich nicht nur eigener Fehler wegen Sorgen machen mußte; der Fehltritt eines anderen konnte sie wie Gewichte an einer Angelschnur alle hinabziehen und kopfüber in die grenzenlosen, wirbelnden Tiefen stürzen lassen. Sie kamen qualvoll langsam voran, aber keiner, Simon am wenigsten, hätte es anders gewollt.

Aber nicht alle Lehren, die der Berg ihm erteilte, waren unangenehm. Obwohl die Luft so dünn und ätzend kalt war, daß er manchmal das Gefühl hatte, der nächste Atemzug könne ihn zum Eisblock erstarren lassen, erzeugte gerade diese Eiseskälte der Atmosphäre in ihm eine sonderbare Begeisterung, ein Gefühl von Offenheit und Körperlosigkeit, so als wehe ein aufrüttelnder Wind mitten durch ihn hindurch.

Das eisige Antlitz des Berges selbst war von schmerzhafter Schönheit.

Simon hatte sich im Traum nicht vorgestellt, daß Eis Farbe haben könnte; die zahme Sorte, die er kannte, die zur Ädonzeit die Dächer des Hochhorstes mit Girlanden verzierte und im Jonever die Brunnen bedeckte, war diamantklar oder von milchigem Weiß. Im Gegensatz dazu erschien ihm der Eispanzer des Urmsheim, vom Wind und der scheinbar fernen Sonne verformt, verzerrt, uneben, wie ein Traumbild voller Farben und fremdartiger Gebilde. Große Eistürme, von seegrünen und violetten Adern durchzogen, ragten weit über die Köpfe der mühsam Kletternden hinaus. An anderen Stellen waren die Eisklippen abgebrochen und in Kristallbrocken zerfallen, mit edelsteinartigen, rauhen Kanten, in stürmischem Blau geätzt, die in mosaikhafter Verwirrung durcheinanderlagen wie die zurückgelassenen Steinblöcke eines Riesenbaumeisters. Ein Stück weiter standen die schwarzen Gebeine zweier erfrorener, längst abgestorbener Bäume wie im Stich gelassene Posten am Eingang einer in weißen Nebel gehüllten Spalte. Die Sonne hatte die Eiswand, die zwischen ihnen entstanden war, pergamentdünn geschmolzen, so daß die mumifizierten Bäume Torpfosten zum Himmel zu sein schienen, das Eis zwischen ihnen ein schimmernder, vergänglicher Fächer, der das Tageslicht in einen glühenden Regenbogen aus rubin- und nektarinenrotem Licht auflöste, goldene, lavendelblaue und blaßrosige Strudel, von denen Simon überzeugt war, daß neben ihnen selbst die berühmten Fenster der Sancellanischen Ädonitis so stumpf wie Teichwasser und Kerzenwachs aussehen würden.


Doch noch während seine strahlende Oberfläche ihre Augen betörte, schmiedete das kalte Herz des Berges finstere Pläne gegen die ungebetenen Gäste. Am späten Nachmittag des ersten Tages, während Simon und seine sterblichen Gefährten sich noch an den ungewohnt bedächtigen Schritt zu gewöhnen versuchten, den ihnen Binabiks Schuhdorne aufzwangen (die Sithi, die solche Hilfsmittel verachteten, kletterten trotzdem fast genauso langsam und vorsichtig wie die anderen), verdunkelte sich der Himmel so jäh und vollständig wie ein Löschblatt, über das man Tinte schüttet.

»Hinlegen!« schrie Binabik gellend, während Simon und die beiden Erkynländer noch neugierig auf die Stelle starrten, an der eben noch die Sonne am Himmel gestanden hatte. Hinter Haestan und Grimmric hatte Sludig sich bereits in den harten Schnee geworfen. »Flach auf den Boden!« brüllte der Troll. Haestan zerrte Simon nach unten.

Noch während er sich fragte, ob Binabik weiter vorn auf dem Pfad etwas Gefährliches gesehen hätte – und wie es dann um die beiden Sithi stand, die schon hinter der Biegung verschwunden waren, die der Pfad um einen Teil der südöstlichen Flanke des Urmsheim machte –, hörte Simon, wie sich das Geräusch des Windes, seit Stunden ein leises, stetiges Pfeifen, zum Aufkreischen steigerte. Er spürte ein Zupfen, dann ein heftiges Zerren und grub durch den Pulverschnee die Finger in das darunterliegende Packeis. Gleich darauf drang ihm krachend ein Donnerschlag in beide Ohren. Das erste Dröhnen hallte noch unten im Tal wider, als ihn bereits ein zweites schüttelte wie Qantaqa eine gefangene Ratte. Wimmernd krallte er sich am Boden fest, während die Knochenfinger des Windes ihn zerkratzten und über ihm immer wieder der Donner rollte, als sei der Berg, an den sie sich klammerten, der Amboß eines ungeheuren und entsetzlichen Schmiedes.

Das Gewitter hörte so übergangslos auf, wie es eingesetzt hatte. Noch lange Minuten, nachdem das Schreien des Windes sich gelegt hatte, verharrte Simon dort, wo er lag, die Stirn gegen den eisigen Boden gepreßt. Als er sich endlich aufsetzte, summte es ihm in den Ohren. Aus den Tintenklecksen der Wolken tauchte die weiße Sonne auf. Hinter ihm saß Haestan, verstört wie ein Kind, mit blutender Nase, den Bart voller Schnee.

»Bei Ädon!« fluchte er. »Beim leidenden, geschundenen, sorgenden Ädon und Gott dem Allerhöchsten!« Er wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab und starrte töricht auf den blutigen Streifen auf seinem Pelzhandschuh. »Was …?«

»Ein Glück, daß wir auf einer breiten Stelle des Pfades standen«, sagte Binabik und richtete sich auf. Obwohl auch er voller Schnee war, sah er beinahe fröhlich aus. »Die Gewitter kommen hier schnell.«

»Schnell…« murmelte Simon und blickte nach unten. Er hatte den Knöchel seines rechten Stiefels mit den Dornen durchbohrt, die an den linken geschnallt waren, und es stach so, daß es bestimmt untendrunter blutete.

Einen Augenblick später erschien Jirikis schlanke Gestalt an der Wegbiegung.

»Habt ihr jemanden verloren?« schrie er. Als Binabik zurückrief, alle seien in Sicherheit, grüßte der Sitha spöttisch zu ihm herüber und verschwand wieder.

»Ich sehe keinen Schnee an ihm«, bemerkte Sludig unfreundlich.

»Berggewitter sind sehr schnell«, erwiderte der Troll. »Aber Sithi auch.«


Die Gruppe verbrachte die erste Nacht im Hintergrund einer flachen Eishöhle an der Ostwand des Berges. Die Außenkante des schmalen Pfades war nur fünf oder sechs Ellen von ihnen entfernt, und dahinter wartete der schwarze Abgrund. Simon saß da und schlotterte in der alles durchdringenden Kälte, von Jirikis und An'nais leisem Singen zwar getröstet, aber nicht gewärmt, und ihm fiel etwas ein, das einst, mitten in einem schläfrigen Nachmittag, Doktor Morgenes zu ihm gesagt hatte, als Simon sich über das Leben im überfüllten, kein Alleinsein gestattenden Dienstbotenflügel beklagte.

»Nimm dir nie einen Ort als Heimat«, hatte der alte Mann erklärt, in der Frühlingswärme zu faul, um mehr als einen Finger zu heben. »Such dir eine Heimat in deinem eigenen Kopf. Das, was du dazu brauchst – Erinnerungen, Freunde, denen du vertrauen kannst, Liebe zum Lernen und anderes mehr – wirst du schon finden.« Morgenes hatte gegrinst. »Auf diese Art wird deine Heimat dich begleiten, wohin es dich auch verschlägt. Nie brauchst du darauf zu verzichten – solange du nicht den Kopf verlierst, natürlich…«

Simon wußte immer noch nicht so ganz, was der Doktor gemeint hatte; eigentlich war er sicher, daß er sich nichts sehnlicher wünschte, als wieder eine Heimat zu haben. Schon nach einer Woche war ihm Vater Strangyeards kahles Zimmer in Naglimund fast so vorgekommen. Dennoch war etwas Romantisches an der Vorstellung, auf freier Straße zu leben und seine Heimat dort zu finden, wo man gerade Rast machte, wie ein Hyrka-Pferdehändler. Doch war er auch zu anderem bereit. Langsam hatte er den Eindruck, schon seit Jahren unterwegs zu sein – wie lange war es eigentlich in Wirklichkeit?

Als er anhand der Mondwechsel sorgfältig zurückgerechnet hatte, dort, wo er sich nicht mehr recht erinnern konnte, mit Binabiks Hilfe, war er völlig verdutzt, als er feststellte, daß es … weniger als zwei Monate waren! Erstaunlich, aber wahr: der Troll bestätigte seine Vermutung, daß drei Yuven-Wochen vergangen waren, und Simon wußte genau, daß seine Reise in jener unheilvollen Steinigungsnacht begonnen hatte – in den letzten Stunden des April. Wie sich in diesen sieben Wochen doch die Welt verändert hatte! Und, dachte er dumpf, als er taumelnd in Schlaf sank, überwiegend zum Schlechteren.


Am späten Morgen kletterten die Männer gerade über eine massive Eisscholle, die von der Schulter des Berges abgeglitten war und jetzt wie ein riesiges weggeworfenes Paket quer über ihrem Pfad lag, als Urmsheim zum zweiten Mal zuschlug. Mit einem gräßlichen, mahlenden Geräusch verfärbte sich ein langer Keil der Eisscholle von Blaugrau zu Weiß und brach ab. Er rutschte Grimmric unter den Füßen weg und stürzte zerbröckelnd den Berg hinunter. Dem Erkynländer blieb nur noch Zeit zu einem kurzen, überraschten Aufschrei. Eine Sekunde später torkelte er in die Spalte, die der Keil hinterlassen hatte, und war verschwunden. Noch ehe Simon einen Gedanken fassen konnte, merkte er, wie Grimmrics Sturz ihn nach vorn riß. Er stolperte und streckte verzweifelt die Hand aus, um sich an der Eiswand festzuhalten, aber die schwarze Spalte kam immer näher. In hilflosem Entsetzen sah er durch den Riß des Pfades einen dünnen Streifen leere Luft und darunter die unbestimmten Umrisse der eine halbe Meile tiefer liegenden Klippen. Er schrie und merkte, daß er weiter rutschte. Vergeblich krallten sich seine Finger in den eisglatten Pfad.

Binabik war der erste am Seil. Weil er schnell und erfahren war, gelang es ihm, sich sofort nach vorn zu werfen, als er das Eis brechen hörte; Gesicht nach unten, lag er flach auf der Erde, klammerte sich mit der einen behandschuhten Hand am Eis fest und trieb mit der anderen Pickel und Dornen so tief hinein, wie es nur irgend ging. Dann packte Haestans breite Hand Simon am Gürtel, aber selbst das Gewicht des bärtigen Wachsoldaten konnte ihr unausweichliches Weiterrutschen nicht aufhalten. Grimmrics verborgene Last zog sie nach unten. Unter dem Rand der Spalte schrie er kläglich und schwang hin und her, am Seil über schneewirbelndem Nichts hängend. Ganz hinten stemmte sich Sludig gegen den Boden und brachte Simons und Haestans Vorwärtsbewegungen für einen Augenblick zum Stehen. Angstvoll schrie er nach den Sithi.

An'nai und Prinz Jiriki kamen bereits den Bergpfad herunter. Sie sprangen leichtfüßig wie Schneehasen über die pudrige Oberfläche. Hastig schlugen sie die eigenen Pickel tief in das Eis und befestigten mit raschen Knoten das Ende von Binabiks Seil daran. Der Troll, dadurch befreit, kletterte mit den beiden Sithi um den Rand der Spalte herum und nach hinten zu Sludig, um ihm zu helfen.

Simon spürte, wie der Zug an seinem Gürtel stärker wurde. Langsam wich die Spalte vor ihm zurück. Er glitt rückwärts. Er würde nicht sterben! Wenigstens nicht in diesem Augenblick. Während er wieder Halt zu finden versuchte, bückte er sich nach einem heruntergefallenen Fausthandschuh, und sein Kopf hämmerte.

Nachdem jetzt die gesamte Schar an den Seilen zog, gelang es endlich, Grimmric – inzwischen bewußtlos, das Gesicht in der Kapuze grau – durch die Lücke im Eis nach oben zu hieven und in Sicherheit zu schleifen. Auch als er wieder wach war, dauerte es noch Minuten, bis Grimmric seine Gefährten wiedererkannte, und er schlotterte wie in tödlichem Fieber. Sludig und Haestan bauten aus zwei Pelzmänteln eine Bahre, um ihn zu tragen, bis man anhalten und lagern konnte.

Als sie eine tiefe Kluft fanden, die so weit in den Berg hineinreichte, daß hinten das Gestein zutage trat, hatte die Sonne die Mitte des Himmels noch kaum überschritten, aber es blieb ihnen nichts übrig, als schon jetzt ihr Lager aufzuschlagen. Mit Brennholz, das sie am Fuß des Urmsheim zusammengesucht und für Anlässe wie diesen mitgeschleppt hatten, zündeten sie ein kleines, kaum kniehohes Feuer an. Bibbernd und mit klappernden Zähnen lag Grimmric daneben und wartete auf den Trolltrank, den Binabik mühevoll zubereitete, indem er Kräuter und Pulver aus seinem Rucksack mit geschmolzenem Schnee verrührte. Niemand mißgönnte dem Soldaten die kostbare Hitze.

Im Laufe des Nachmittages stieg der schmale Sonnensplitter, der wie ein Pfeil in die Kluft eingedrungen war, an den blauen Wänden hinauf und verschwand dann, und eine noch stärkere und qualvollere Kälte setzte ein. Simons Muskel bebten wie Lautensaiten, und trotz der Pelzkapuze schmerzten ihn die Ohren. Er merkte, wie er – so kopfüber und hilflos, wie er auf die nackte Leere der Spalte zugerutscht war – in einen Wachtraum hineinglitt. Aber statt der öden Kälte, die er erwartet hatte, empfing ihn sein Traum mit warmen, duftenden Armen und hieß ihn willkommen.


Es war wieder Sommer – wie lange mochte das her sein? Doch nein, die Jahreszeiten hatten ihren Kreis endlich wieder vollendet, und die heiße, erwartungsvolle Luft war voller Bienengesumm. Die Frühlingsblumen hingen jetzt prall und überreif am Stengel, knusprig braun an den Rändern wie Judiths Hammelpasteten, die in den Ofen der Burg brutzelten. In den Feldern unterhalb der Hochhorstmauern färbte sich das Gras langsam gelb, um die alchimistische Umformung einzuleiten, die bis zum Herbst dauern würde – bis es dann in goldenen, duftenden Garben aufgestapelt dalag und das Land wie mit kleinen Häuschen übersät aussah.

Simon konnte die Hirten schläfrig vor sich hin singen hören, während sie ihre blökenden Schützlinge über die Wiesen führten; es klang wie ein Echo der Bienen. Sommer! Bald, das wußte er, würden die Feste beginnen … das Sankt-Sutrins-Fest, Hlafmansa … aber zuerst das, was er am liebsten hatte: Mittsommerabend…

Mittsommerabend, wenn alles anders war als sonst und man sich verkleidete, wenn maskierte Freunde und kostümierte Feinde sich unerkannt in der atemlosen Dunkelheit begegneten, wenn die ganze schlaflose Nacht hindurch Musik spielte, der Heckengarten mit Girlanden aus Silberbändern geschmückt war, und lachende, springende Figuren die Stunden des Mondes bevölkerten…


»Seoman?« Eine Hand berührte seine Schulter und rüttelte ihn sanft. »Seoman, du weinst ja. Wach auf.«

»Die Tänzer … die Masken…«

»Wach auf!« Wieder schüttelte ihn die Hand, diesmal kräftiger. Er schlug die Augen auf und schaute in Jirikis schmales Gesicht, nur Stirn und Wangenknochen im trüben, schrägen Licht.

»Du scheinst einen Angsttraum gehabt zu haben«, sagte der Sitha und hockte sich neben Simon nieder.

»Aber … das war es eigentlich gar nicht.« Er schauderte. »Es war Ssommer … es war M-mittsommerabend.«

»Aha.« Jiriki hob die Brauen und zuckte dann geschmeidig die Schultern. »Ich glaube, du bist vielleicht durch Reiche gewandert, in denen du dich nicht aufhalten solltest.«

»Was könnte am Sommer schädlich sein?«

Wieder zuckte der Sithiprinz die Achseln und holte aus seinem Mantel – mit der Gebärde eines Lieblingsonkels, der ein Spielzeug aus der Tasche zieht, um ein flennendes Kind abzulenken – einen glänzenden, in einen zierlich geschnitzten Holzrahmen gefaßten Gegenstand hervor.

»Weißt du, was das ist?« fragte Jiriki.

»Ein … ein Spiegel.« Simon verstand nicht, worauf der Sitha hinauswollte. Wußte er, daß Simon den Spiegel in der Höhle in den Händen gehabt hatte?

Jiriki lächelte. »Ja. Ein ganz besonderer Spiegel, mit einer sehr langen Geschichte. Weißt du, was man mit einem solchen Spiegel anfangen kann? Außer sich das Gesicht zu rasieren, wie die Menschen das tun?« Er strich Simon mit dem ausgestreckten, kühlen Finger über die flaumige Wange. »Kannst du es dir denken?«

»Etwas s-sehen, das w-weit w-weg ist?« erwiderte Simon nach einem Augenblick des Zögerns und wartete auf den Ausbruch, der bestimmt folgen würde.

Der Sitha machte große Augen. »Du hast von den Spiegeln des Schönen Volkes gehört?« fragte er endlich voller Verwunderung. »Kommen sie immer noch in euren Geschichten und Liedern vor?«

Simon hätte jetzt leicht der Wahrheit aus dem Weg gehen können. Statt dessen überraschte er sich selber.

»Nein. Ich habe hineingeschaut, als wir in Eurer … Jagdhütte waren.«

Zu seiner noch größeren Überraschung machte Jiriki bei diesem Geständnis nur ein noch erstaunteres Gesicht. »Du hast andere Orte darin gesehen? Mehr als ein Spiegelbild?«

»Ich sah … ich sah die Prinzessin Miriamel … m-meine Freundin.« Er nickte und strich über ihren blauen Schal, den er sich um den Hals geknotet hatte. »Es war wie ein Traum.«

Der Sitha starrte düster auf den Spiegel, nicht zornig, sondern als wäre das Glas die Oberfläche eines Teiches, unter der ein unsichtbarer Fisch dahinschoß, den er gern finden wollte.

»Du bist ein junger Mann von großer Willenskraft«, erklärte er schließlich langsam, »größer, als du selbst es weißt – entweder das, oder es haben dich auf irgendeine Weise andere Mächte berührt…« Er sah von Simon wieder auf den Spiegel und schwieg eine Weile.

»Dieser Spiegel ist uralt«, fuhr er dann fort. »Er soll eine Schuppe des Urwurmes sein.«

»Was bedeutet das?«

»Der Urwurm, das ist der Wurm, von dem es in vielen Sagen heißt, er ringele sich um die Welt. Wir Sithi jedoch sehen den Wurm als etwas, das alle Welten gleichzeitig umschlingt, die wachenden und die träumenden … die, die waren, und die, die sein werden. Er beißt sich selbst in den Schwanz, so daß er weder Ende noch Anfang hat.«

»Ein Wurm? Meint Ihr einen D-d-drachen?«

Jiriki nickte, eine abrupte Bewegung wie bei einem Vogel, der nach Körnern pickt. »Es heißt auch, alle Drachen stammten von diesem Urwurm ab, und jeder sei geringer als sein Vorgänger. Igjarjuk und Shurakai waren weniger gewaltig als ihre Mutter Hidohebhi, die ihrerseits nicht so ungeheuer war wie ihr Vater Khaerukama'o der Goldene. Wenn das alles stimmt, werden die Drachen eines Tages ganz aussterben – sofern sie es nicht schon getan haben.«

»D-das w-wäre gut«, meinte Simon.

»Wirklich?« Wieder lächelte Jiriki, aber seine Augen blieben kalte, glänzende Steine. »Die Menschen werden groß, während die großen Lindwürmer … und andere … kleiner werden. Das scheint der Lauf der Welt zu sein.« Er streckte sich mit der bebenden, glatten Anmut einer soeben erwachten Katze. »Der Lauf der Welt«, wiederholte er.

»Aber ich habe diese Schuppe des Urwurmes hervorgeholt, weil ich dir etwas zeigen wollte. Möchtest du es sehen, Menschenkind?«

Simon nickte.

»Diese Reise war nicht einfach für dich.« Jiriki warf über die Schulter einen schnellen Blick auf die anderen, die um Grimmric und das winzige Lagerfeuer kauerten. Nur An'nai sah auf, und zwischen den beiden fand ein unerklärlicher, blitzschneller Gedankenaustausch statt. »Schau«, sagte Jiriki.

Der Spiegel, den er in der hohlen Hand hielt wie einen kostbaren Schluck Wasser, schien sich zu kräuseln. Aus seiner Dunkelheit, nur gespalten von einem zackigen, hellgrauen Streifen, dem Spiegelbild des Himmels über der Kluft, in der sie saßen, schienen langsam grüne Lichtpunkte zu wachsen wie seltsame Pflanzensterne, die am Abendhimmel keimten. »Ich will dir einen wirklichen Sommer zeigen«, erklärte Jiriki leise, »wirklicher als alle, die du bisher erlebt hast.«

Die schimmernden grünen Flecken begannen zu flackern und miteinander zu verschmelzen, funkelnde Smaragdfische, die an die Oberfläche eines schattigen Teiches stiegen. Simon fühlte, wie er in den Spiegel hineingezogen wurde, obwohl er seinen Platz nicht verließ und sich nur darüber beugte. Aus dem einen Grün wurden viele, so viele Schattierungen und Töne, wie es überhaupt gab. Gleich darauf hatten sie sich in ein erstaunliches Gewirr von Brücken, Türmen und Bäumen aufgelöst: eine Stadt und ein Wald, ineinandergewachsen, mitten aus einer grasigen Ebene in die Höhe geschossen – keine Stadt, über die ein Wald hinweggewachsen war wie in Da'ai Chikiza, nein, eine blühende, lebendige Verschmelzung von Pflanze und poliertem Stein, von Myrte, Jade und Viridian.

»Enki-e-Shao'saye«, flüsterte Jiriki. Das Gras auf der Ebene neigte sich üppig im Wind; scharlachrote, weiße und himmelblaue Banner wehten wie Blumen von den ausladenden Türmen der Stadt. »Die letzte und großartigste Stadt des Sommers.«

»Wo … ist … sie?« hauchte Simon, hingerissen und bezaubert von soviel Schönheit.

»Nicht wo, Menschenkind … frag lieber, wann. Die Welt ist nicht nur größer, als du weißt, Seoman, sie ist auch viel, viel älter. Enki-e-Shao'saye ist schon lange zu Staub zerfallen. Es lag im Osten des großen Waldes.«

»Zerfallen?«

»Es war der letzte Ort, an dem Zida'ya und Hikeda'ya noch zusammenlebten, vor der großen Trennung. Es war eine Stadt voller Handwerkskunst, vor allem aber voller Schönheit; selbst der Wind in den Türmen machte Musik, und die Lampen in der Nacht leuchteten so hell wie Sterne. Nenais'u tanzte im Mondlicht an ihrem Waldteich, und die bewundernden Bäume neigten sich, um ihr zuzuschauen.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Das alles ist nicht mehr. Es war der Sommer meines Volkes. Jetzt stehen wir weit im Herbst.«

»Ist nicht mehr?« Simon konnte die Tragödie noch immer nicht fassen. Ihm war, als könne er in den Spiegel hineingreifen und einen der nadelspitzen Türme mit dem Finger berühren. Er fühlte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. Keine Heimat! Die Sithi hatten ihre Heimat verloren … einsam und heimatlos durchstreiften sie die Welt.

Jiriki strich mit der Hand über den Spiegel, der sich sofort trübte. »Dahin«, sagte er. »Aber solange es eine Erinnerung gibt, bleibt auch der Sommer. Und selbst der Winter vergeht.« Er sah Simon lange an, und der Ausdruck von Kummer und Entsetzen im Gesicht des Jungen ließ endlich ein kleines, vorsichtiges Lächeln auf Jirikis Züge treten.

»Sei nicht traurig«, meinte er schließlich und klopfte Simon leicht auf den Arm. »Noch ist das Helle nicht ganz aus der Welt verschwunden – noch nicht. Und nicht alle schönen Orte sind verfallene Ruinen. Noch gibt es Jao é-Tinukai'i, die Wohnung meiner Familie und meines Volkes. Vielleicht, wenn wir beide heil von diesem Berg hinunterkommen, wirst du es eines Tages sehen.« Er grinste sein seltsames Grinsen, als habe er einen Plan. »Vielleicht…«


Der Rest des Aufstieges zum Urmsheim – drei weitere Tage auf schmalen, gefährlichen Pfaden, kaum mehr als Eisbänder, oder mit mühsam hineingehackten Hand- und Fußrasten über glatte, glasige Eisfelder, zwei weitere Nächte voll heimtückischer, zähneknirschender Kälte – verging für Simon wie ein flüchtiger, wenn auch schmerzhafter Traum. In der furchtbaren Müdigkeit, die ihn quälte, klammerte er sich an Jirikis Geschenk des Sommers – denn es war ein Geschenk, das verstand er – und war getröstet. Während seine tauben Finger sich mühsam festkrallten und die erstarrten Füße sich anstrengten, auf dem Weg zu bleiben, dachte er daran, daß es irgendwo Wärme und Dinge wie ein Bett und saubere Sachen geben würde – sogar über ein Bad würde er sich freuen! Das alles wartete irgendwo da draußen, wenn er es nur schaffte, den Kopf weit genug einzuziehen, um lebendig wieder von diesem Berg herunterzukommen.

Wenn man sich einmal wirklich Gedanken darüber machte, grübelte, gab es gar nicht so vieles im Leben, das man wirklich brauchte. Zuviel Wünsche zu haben war schlimmer als Habgier: Es war Dummheit – Verschwendung kostbarer Zeit und Mühe.

Langsam arbeitete sich die kleine Schar um das Bergmassiv herum, bis die Sonne, wenn sie morgens aufging, ihnen über die rechte Schulter schien. Die Luft wurde schmerzhaft dünn und zwang sie, häufig stehenzubleiben und Atem zu holen; selbst der zähe Jiriki und der geduldige An'nai bewegten sich langsamer, die Glieder schwer wie von lastenden Gewändern. Die Menschen schleppten sich mühsam vorwärts. Nur der Troll machte eine Ausnahme. Grimmric war dank der Stärke des Qanuc-Elixier wieder auf die Beine gekommen, schlotterte und hustete jedoch beim Klettern.

Von Zeit zu Zeit schwoll der Wind an und trieb die Wolken, die die Schultern des Urmsheim dicht umgaben, auseinander wie zerfetzte Gespenster. Langsam kamen dann auch die schweigenden Nachbarn des Berges zum Vorschein, zerklüftete Gipfel, hoch über der Erde von Osten Ard in erhabene Gespräche vertieft, unbekümmert um die unwürdige und winzige Landschaft zu ihren Füßen. Binabik, der die körperlose Luft des Daches der Welt so bequem atmete, als säße er in der Vorratskammer von Naglimund, zeigte seinen keuchenden Gefährten den breiten, felsigen Mintahoq im Osten und mehrere andere Berge, die die Troll-Fjälle von Yiqanuc begrenzten.


Sie stießen ganz überraschend darauf, als sie noch gut die Hälfte des Berges vor sich hatten. Gerade kämpften sie sich mühsam über einen Felsvorsprung, das Halteseil zwischen ihnen straff wie eine Bogensehne, jeder Atemzug ein Brennen in den Lungen, da hörten sie von einem der Sithi, der vorausgeklettert und nicht mehr zu sehen war, einen seltsamen, pfeifenden Aufschrei. So schnell sie nur konnten, stürzten die Gefährten den Felsen hinauf; die Frage, was wohl dort auf sie wartete, blieb unausgesprochen. Binabik, der erste am Seil, blieb oben auf dem Kamm stehen, ein wenig schwankend, um das Gleichgewicht zu halten.

»Tochter der Berge!« Der Troll rang nach Atem. Eine Dampfwolke strömte aus seinem Mund. Er stand da und rührte sich nicht. Simon kletterte vorsichtig die letzten paar Schritte zu ihm hinauf.

Zuerst sah er weiter nichts vor sich als ein neues, weites Tal voller Schnee. Gegenüber erhob sich die weiße Bergwand, die rechte Seite stand der Luft und dem Himmel offen, und eine Reihe verschneiter Klippen zog sich an der Flanke des Urmsheim in die Tiefe. Simon drehte sich um und wollte Binabik fragen, warum er gerufen hatte. Die Frage erstarb ihm auf den Lippen.

Auf der linken Seite grub das Tal sich tief in den Berg hinein. Der Talboden stieg an, während sich die hohen Wände immer mehr einander näherten. An ihrem höchsten Punkt, vom Boden hinaufreichend bis in das Dreieck graublauen Himmels, ragte ihnen der Udunbaum entgegen.

»Elysia, Mutter Gottes!« sagte Simon mit brechender Stimme. »Mutter Gottes«, wiederholte er.

Angesichts der ungeheuerlichen, aberwitzigen Unwahrscheinlichkeit der Erscheinung hielt er sie im ersten Augenblick tatsächlich für einen Baum – einen titanischen Eisbaum, tausend Fuß hoch, dessen Myriaden Äste in der Mittagssonne funkelten und blitzten, während eine Krone aus Nebel die unfaßbar hohe Spitze verhüllte. Erst als er endlich selbst glaubte, daß es Wirklichkeit war, was er da sah – daß ein solches Wunder in einer Welt existieren konnte, die auch so profanen Dingen wie Schweinen, Gartenzäunen und Rührschüsseln Platz bot –, erkannte er allmählich, was tatsächlich vor ihm lag: ein gefrorener Wasserfall, entstanden aus jahrelang heruntergetropftem, geschmolzenem Eis und Schnee, gefangen in Millionen Eiszapfen, ein kristallenes Maßwerk über einem zerklüfteten, steinernen Grat, der den Stamm des Udunbaumes bildete.

Jiriki und An'nai standen nur wenige Ellen oberhalb der Talmulde wie angewurzelt und blickten zu dem Baum auf. Simon folgte Binabik und stieg nicht ohne Mühe zu ihnen hinunter; er fühlte, wie sich das Seil um seine Mitte spannte, als Grimmric oben ankam und ebenfalls zu Stein erstarrte, und wartete dann geduldig ab, bis es Haestan und Sludig genauso ergangen war. Endlich waren sie alle, stolpernd und geistesabwesend, durch den tiefen Schnee auf den Talboden hinunter geklettert. Die Sithi sangen leise vor sich hin und kümmerten sich nicht um ihre menschlichen Gefährten. Lange Zeit sprach keiner ein Wort. Die Majestät des Udunbaumes schien allen den Atem zu rauben, und die Männer standen nur da und starrten, als sei ihr Inneres von allem leer.

»Wir wollen weitergehen«, sagte endlich Binabik. Simon schrak zusammen und war plötzlich wütend auf den Troll, dessen Stimme ihm vorkam wie ein frecher Eindringling.

»D-d-das ist d-das verd-dammteste Ding, d-das ich je gesehen habe«, stotterte Grimmric.

»Hier ist der alte schwarze Einaug zu den Sternen hinaufgestiegen«, bemerkte Sludig leise. »Gott verzeih mir die Sünde, aber ich kann seine Gegenwart noch fühlen.«

Binabik schlug den Weg über die offene Talsohle ein. Die anderen, vom am Geschirr des Trolls befestigten Seil weitergezogen, folgten schnell. Der Schnee war schenkelhoch und erlaubte nur ein langsames Vorwärtskommen. Nachdem sie mit Mühe ungefähr dreißig Schritte zurückgelegt hatten, riß Simon den Blick von dem Schauspiel los und sah nach hinten. An'nai und Jiriki waren nicht mitgekommen; die beiden Sithi standen Seite an Seite, als warteten sie auf etwas.

Sie stapften weiter. Die Talwände beugten sich noch tiefer zu ihnen hinunter, wie fasziniert von den seltenen Wanderern. Simon sah jetzt, daß der Sockel des Eisbaumes aus einer riesigen, von Löchern durchsetzten Halde verstreuter Gerölltrümmer bestand, verdeckt von den herabhängenden unteren Ästen – die natürlich keine wirklichen Äste waren, sondern unzählige, übereinandergeflossene Schichten geschmolzener und wieder gefrorener Eiszapfen, die untere immer breiter als die nächsthöhere, so daß die untersten Zweige über dem Felsengewirr eine Decke bildeten, halb so groß wie ein Turnierplatz.

Sie waren inzwischen so nah herangekommen, daß die gewaltige Eissäule fast durch das Dach des Himmels hindurchzureichen schien. Als Simon unter Schmerzen den Kopf zurücklegte, um einen letzten Blick auf die kaum sichtbare Baumspitze zu werfen, überkam ihn eine Welle von Überraschung und Furcht. Sekundenlang wurde ihm schwarz vor Augen.

Der Turm! Aus meinen Träumen! Der Turm mit den Ästen! Benommen stolperte er und fiel in den Schnee. Haestan streckte wortlos die breite Hand aus und hob ihn auf. Simon wagte einen zweiten Blick in die Höhe, und ein Angstgefühl, das mehr war als nur Schwindel, überschwemmte ihn.

»Binabik!« schrie er. Der Troll, der gerade in der violetten Dunkelheit verschwinden wollte, die der Schatten des Udunbaumes war, drehte sich hastig um.

»Still, Simon!« zischte er. »Wir wissen nicht, ob wir nicht durch laute Worte scharfes Eis lockern, was wir dann sehr bedauern würden.«

Simon lief durch den klebrigen Schnee weiter, so schnell er konnte.

»Binabik, das ist der Turm, von dem ich geträumt habe – ein weißer Turm mit Ästen wie ein Baum! Das ist er!«

Der Troll musterte die Haufen von gewaltigen Felsblöcken und Steintrümmern an der dunklen Unterseite des Baumes. »Ich dachte, du hättest den Glauben gehabt, es wäre der Grünengel-Turm im Hochhorst, den du sahst?«

»Ja, das habe ich auch – das heißt, es war etwas von beiden. Aber ich hatte diesen hier ja noch nie gesehen, darum wußte ich nicht, daß ein Teil davon auch ein Teil hiervon war! Verstehst du?«

Binabik zog die buschigen schwarzen Brauen hoch. »Wenn wir das nächste Mal Zeit finden, werde ich die Knöchel werfen. Jetzt aber haben wir einen Auftrag, der noch unerfüllt ist!«

Er wartete, bis die Nachzügler herangekommen waren, bevor er fortfuhr. »Es ist mein Gedanke«, erklärte er, »daß wir bald ein Lager aufschlagen sollten. Danach können wir die letzten Tageslichtstunden dazu benutzen, nach Zeichen von Colmunds Schar oder dem Schwert Dorn zu suchen.«

»Werden sie«, Haestan deutete auf die weit zurückgebliebenen Sithi, »dabei helfen?«

Bevor Binabik eine Meinung dazu äußern konnte, stieß Grimmric einen aufgeregten Pfiff aus und deutete auf die Steintrümmer. »Seht doch!« rief er. »Ich denke, hier war schon jemand vor uns. Seht euch nur die Steine da oben an!«

Simon folgte den Fingern des Soldaten zu einer Stelle etwas weiter oben zwischen den Felsen am Hang. Dort waren im Eingang eines der höhlenartigen Löcher mehrere Reihen Steine aufgeschichtet.

»Du hast recht!« rief Haestan. »Er hat recht! So gewiß, wie Tunaths Gebeine von Norden nach Süden liegen – da oben hat sich jemand ein Lager gebaut.«

»Vorsichtig!« mahnte Binabik eindringlich, aber Simon hatte bereits sein Geschirr abgestreift und war in das Geröll hineingeklettert. Dort, wo er vorsichtig die Füße hinsetzte, lösten sich kleine Lawinen. In wenigen Augenblicken hatte er die Höhle erreicht und blieb, auf einem lockeren Stein schwankend, davor stehen.

»Diese Mauer wurde ganz bestimmt von Menschen errichtet!« rief er aufgeregt nach unten. Die Öffnung der Höhle war vielleicht drei Ellen breit, und jemand hatte eilig, aber nicht ungeschickt, im Eingang Felsen aneinandergeschichtet – vielleicht, um die Wärme nicht hinauszulassen, vielleicht auch, um Tiere am Eindringen zu hindern.

»Schrei nicht, Simon, freundlicherweise«, warnte Binabik. »Wir sind gleich bei dir.«

Ungeduldig sah Simon zu, wie die anderen zu ihm hinaufstiegen. Alle Gedanken an dünne Luft und tödliche Kälte waren für den Augenblick vergessen. Als Haestan gerade über den Steinhaufen klettern wollte, erschienen auch die beiden Sithi unter den überhängenden Ästen des Udunbaumes. Nachdem sie einen kurzen Blick auf die Szene geworfen hatten, näherten sie sich der Höhle so gewandt wie zwei von Ast zu Ast hüpfende Eichhörnchen.

Simon brauchte einen Moment, bis sich sein Blick an das tiefere Dunkel im Inneren der niedrigen Höhle gewöhnt hatten. Als er endlich wieder etwas sehen konnte, dauerte es keine weitere Sekunde, bis seine Augen groß wurden vor Entsetzen.

»Binabik! Es ist … sie sind…«

Der Troll, der aufrecht stehen konnte, wo Simon hocken mußte, schlug sich mit dem Handballen aufs Brustbein.

»Qinkipa!« sagte er. »Sie haben auf unser Kommen gewartet.«

Überall in der Höhle lagen gebräunte Menschenknochen. Die Skelette, nackt bis auf Ausrüstungsgegenstände und Schmuck aus verwittertem schwarzem und grünem Metall, saßen an die Höhlenwände gelehnt da. Eine dünne Eisschicht lag über ihnen wie schützendes Glas.

»Ist das Colmund?« fragte Simon.

»Usires steh uns bei«, würgte hinter ihm Sludig, »nur weg von hier! Die Luft muß voller Gift sein.«

»Hier ist kein Gift«, erwiderte Binabik tadelnd. »Und ob das Herrn Colmunds Leute sind, nun, es scheint mir eine starke Wahrscheinlichkeit zu sein.«

»Es ist eine interessante Frage, wie sie wohl gestorben sein mögen.« In der kleinen Höhle klang Jirikis Stimme erstaunlich laut. »Wenn sie froren, warum drängten sie sich dann nicht wärmesuchend aneinander?« Er deutete auf die in der Kammer verstreuten Knochen. »Und wenn ein Tier sie getötet hat – oder sie sich gegenseitig umbrachten –, wieso sind dann die Knochen so sorgfältig geordnet, als habe sich einer nach dem anderen ordentlich zum Sterben hingelegt?«

»Es gibt Geheimnisse hier, über die eines Tages lange zu sprechen sich lohnt«, entgegnete der Troll, »aber wir haben andere Pflichten, und das Licht schwindet schnell.«

»Kommt alle her«, sagte Sludig mit einer Stimme von schrecklicher Eindringlichkeit, »hierher!«

Er stand vor einem der Skelette. Obwohl die Knochen zu einem rostroten Haufen zusammengesackt waren, hatte es immer noch das Aussehen eines mitten im Gebet vornüber gefallenen Menschen, der mit ausgestreckten Armen gekniet hatte. Zwischen den Knochen der beiden Hände, die halb unter Eis versteckt waren wie Steine in einer Schale mit Milch, lag ein langes, in froststarres, moderndes Öltuch gewickeltes Bündel.

Jäh schien alle Luft aus der Höhle zu weichen. Ein angespanntes, erstickendes Schweigen legte sich auf die Versammelten. Der Troll und der Rimmersmann knieten nieder, als wollten sie dem Beispiel der uralten Gebeine folgen, und begannen mit den Eispickeln auf das gefrorene Bündel einzuhacken. Das Öltuch splitterte wie Borke. Ein langer Streifen sprang ab. Darunter zeigte sich tiefe Schwärze.

»Es ist kein Metall«, sagte Simon enttäuscht.

»Dorn ist auch nicht aus Metall«, brummte Binabik, »jedenfalls aus keinem Metall, das du je gesehen hast.«

Sludig gelang es, die Spitze seines Pickels unter das versteinerte Tuch zu schieben, und mit Haestans kräftiger Hilfe rissen sie einen zweiten Streifen herunter. Simon schnappte nach Luft. Binabik hatte recht: Was da wie ein kohlschwarzer Schmetterling aus dem Gefängnis seiner Verpuppung zum Vorschein kam, war kein gewöhnliches Schwert; es war ein Schwert, wie er es noch nie erblickt hatte: so lang wie der Raum zwischen den ausgebreiteten Armen eines Mannes, von Fingerspitze zu Fingerspitze, und schwarz. Die Reinheit dieser Schwärze wurde von den Farben, die an seiner Schneide funkelten, nicht getrübt, so als sei diese Klinge so übernatürlich scharf, daß sie selbst das matte Licht in der Höhle noch in Regenbogen zerschnitt. Wäre die Silberschnur nicht gewesen, die sich als Halt für die Hand um den Griff schlang und das freiliegende Stichblatt und den Knauf so pechschwarz ließ wie den Rest der Klinge, hätte es den Anschein gehabt, als stehe das Schwert überhaupt in keiner Beziehung zu den Menschen. Vielmehr hätte es trotz seiner Symmetrie wie etwas natürlich Gewachsenes gewirkt, die reine Essenz natürlicher Schwärze, durch Zufall manifestiert in der Gestalt eines wundervollen Schwertes.

»Dorn«, flüsterte Binabik, und seine Zufriedenheit hatte einen Unterton von Ehrfurcht.

»Dorn«, wiederholte Jiriki, und Simon konnte sich seine Gedanken, als er das Schwert bei seinem Namen nannte, nicht einmal annähernd vorstellen.

»Dann ist es das also wirklich?« fragte Sludig. »Es ist sehr schön. Was konnte sie töten, solange sie eine Klinge besaßen wie diese?«

Alle starrten weiter auf die Waffe. Endlich richtete sich Grimmric, dem Höhleneingang am nächsten, aus der Hocke auf und schlug die dünnen Arme um sich.

»Wie der Troll sagen würde, ›Schwerter kann man nicht essen‹. Ich mache uns Feuer für die Nacht.« Er trat vor die Höhle und streckte sich. Dabei pfiff er vor sich hin; die Melodie, zuerst leise, erklang bald lauter.

»In den Felsspalten wächst Gestrüpp, das vielleicht zusammen mit unserem Anmachholz brennen wird«, rief Sludig ihm nach.

Haestan beugte sich vor und berührte die schwarze Klinge vorsichtig mit dem Finger. »Kalt«, lächelte er. »Ist ja auch kein Wunder, was?« Er wandte sich, merkwürdig schüchtern, an Binabik. »Darf ich es aufheben?«

Der Troll nickte. »Aber vorsichtig.«

Haestan ließ die Finger unter den schnurumwickelten Griff gleiten und zog, aber das Schwert rührte sich nicht. »Festgefroren«, meinte er. Wieder zog er, diesmal fester, aber mit genauso wenig Erfolg. »Richtig fest angefroren«, keuchte er und zerrte mit aller Macht. Sein Atem stieg als Wolke empor.

Sludig lehnte sich hinüber, um ihm zu helfen. Draußen vor der Höhle hörte Grimmric zu pfeifen auf und murmelte etwas Unverständliches.

Als Rimmersmann und Erkynländer gemeinsam anpackten, bewegte sich das schwarze Schwert endlich, aber anstatt mit einem Ruck die Fesseln des Eises zu durchbrechen, glitt die Klinge lediglich ein kleines Stück zur Seite und blieb dort liegen.

»Es ist nicht angefroren«, schnaufte Sludig. »Es ist schwer wie ein Mühlstein. Wir können es zu zweit kaum bewegen!«

»Wie bekommen wir es dann den Berg hinunter, Binabik?« fragte Simon. Am liebsten hätte er gelacht. Es war alles so albern und sonderbar – ein Zauberschwert zu finden und es dann nicht mitnehmen zu können! Er streckte die Hand aus und fühlte das tiefe, kalte Gewicht des Schwertes – und noch etwas. Wurde es warm? Ja, irgend etwas wie unbestimmtes Leben regte sich unter der kalten Oberfläche, wie eine schlafende Schlange, die langsam erwacht – oder bildete er sich das nur ein?

Binabik betrachtete die unbewegliche Klinge und kratzte sich nachdenklich im zottigen Haar. Da kam Grimmric in die Höhle zurück, wild mit den Armen rudernd. Noch während sich alle nach ihm umdrehten, brach er in die Knie und sackte vornüber, schlaff wie ein Mehlsack.

Ein schwarzer Pfeil, eine andere Art von Dorn, bebte in seinem Rücken.


Blaues Licht badete die Silbermaske und malte ihre Umrisse in bleichem Feuer. Das Gesicht unter der Maske war einst Vorbild ihrer gemeißelten, unmenschlichen Schönheit gewesen, aber kein lebendes Wesen wußte heute noch, was die Maske bedeckte. Seitdem Utuk'kus Gesicht für immer unter ihren schimmernden Linien verschwunden war, hatte die Welt sich unzählige Male gedreht.

Die bläulich überhauchte Maske wandte sich und betrachtete die riesige Steinhalle und ihre tiefen Schatten. Sie musterte ihre hin und her eilende Dienerschar, die sich mühte, ihre Befehle zu erfüllen. Ihre Stimmen erklangen in Liedern zu ihrem Preis und Gedenken; ihre weißen Haare flatterten im ewigen Wind der Halle der Harfe. Beifällig lauschte sie dem Echo der dröhnenden Hexenholzhämmer im endlosen Irrgarten der Gänge, die das gefrorene Nakkiga durchzogen, den Berg, den die Nornen Maske der Tränen nannten. Bei den Menschen hieß ihr Wohnort Sturmspitze, und Utuk'ku wußte, daß er sie in ihren Träumen verfolgte … und das war gut so. Das silberne Gesicht nickte befriedigt. Alles war bereit.

Die Harfe, die im Nebel über dem Großen Brunnen schwebte, stöhnte plötzlich auf – ein trostloser Ton, wie Wind in den hohen Pässen. Die Nornenkönigin wußte, daß es nicht seine Stimme war – nicht Er, der die Atmende Harfe zum Singen und Heulen bringen, Er, dessen wildes Lied die gesamte Brunnenhalle von unfaßlichen Melodien widerhallen lassen konnte. Eine geringere Stimme war es, die durch die Harfe kroch, in ihren unendlichen Rätseln gefangen wie ein Insekt in einem versiegelten Labyrinth.

Sie hob einen in silberweißem Handschuh steckenden Finger wenige Zoll über den schwarzen Stein ihres Thrones und machte eine winzige Gebärde. Das Stöhnen wurde lauter, und im Nebel über dem Brunnen zitterte etwas und wurde sichtbar – das graue Schwert Jingizu, das in schmerzhaftem Licht pulsierte. Jemand hielt es fest, eine Schattengestalt, die Hand ein formloser Knoten um Jingizus Griff.

Utuk'ku verstand. Sie brauchte den Bittsteller nicht zu sehen. Das Schwert war da, weit wirklicher als jeder Sterbliche, dem sein Besitz für eine kurze Weile gestattet war.

Wer tritt vor die Königin der Hikeda'ya? fragte sie, obwohl sie die Antwort längst wußte.

Elias, Hochkönig von Osten Ard, erwiderte die Schattengestalt. Ich habe mich entschlossen, die Bedingungen Eures Meisters anzunehmen.

Das Wort ›Meister‹ erregte ihren Unwillen. Sterblicher, entgegnete sie endlich mit königlicher Lässigkeit, was du wünschst, sollst du erhalten. Aber du hast lange gewartet … fast zu lange.

Es gab … Das Schattenwesen mit dem Schwert in der Hand schwankte, als sei es erschöpft. Wie fleischlich, wie schwach doch diese Sterblichen waren! Wie hatten sie es nur fertiggebracht, so viel Schaden anzurichten? Ich dachte, fuhr es fort, es würde alles … anders ausgehen. Jetzt willige ich ein.

Natürlich willigst du ein. Und du sollst erhalten, was dir versprochen wurde.

Habt Dank, o Königin. Auch ich werde Euch geben, was ich versprochen habe.

Natürlich.

Sie senkte die behandschuhten Finger, und die Erscheinung verschwand. Tief im Inneren des Brunnens glühte ein rotes Licht auf, als Er kam. Er nahm die Harfe in Besitz, und sie vibrierte in einer Note vollendeten Triumphes.


»Ich … ich will nicht sterben«, keuchte Grimmric. Blutigen Schaum auf Kinn und Wangen, die schiefen Zähne bleich im aufgerissenen Mund, sah er aus wie ein Hase, den die Hunde gefangen und zerrissen haben. »Es … es ist so verdammt kalt.« Ein Schauer überlief ihn.

»Wer war das?« quiekte Simon, der vor Schreck und Panik die Herrschaft über seine Stimme verloren hatte.

»Ganz gleich«, murmelte Haestan und beugte sich über seinen am Boden liegenden Landsmann, »sie haben uns hier drin wie Ratten in der Falle.«

»Wir müssen weg!« fauchte Sludig.

»Wickelt euch die Mäntel um den Arm«, sagte Binabik und holte das Blasrohr aus seinem Wanderstab. »Wir haben keine Schilde gegen die Pfeile, aber das wird wenigstens eine Hilfe sein.«

Ohne ein Wort zu sagen schritt Jiriki über den dahingestreckten Grimmric hinweg nach dem Höhleneingang. An'nai kam mit schmalen Lippen hinterher.

»Prinz Jiriki …?« begann Binabik, aber der Sithi achtete nicht auf ihn.

»Kommt«, sagte Sludig, »wir können sie nicht allein hinausgehen lassen.« Er hob sein Schwert von dem Mantel, auf den er es gelegt hatte.

Während die anderen den Sithi zur Öffnung der Höhle folgten, warf Simon einen Blick auf das schwarze Schwert Dorn. Sie hatten einen so langen Weg zurückgelegt, um es zu finden – sollten sie es jetzt verlieren? Was war, wenn sie entkamen, aber von der Höhle abgeschnitten wurden und nicht zurückkehren konnten? Er legte die Hand auf den Griff und spürte wieder das seltsame Erbeben. Er zog daran, und zu seiner Verblüffung bewegte die Klinge sich. Ihr Gewicht war gewaltig, aber mit Hilfe beider Hände schaffte er es, sie von dem gefrorenen Höhlenboden zu lösen.

Was war das? Ihm schwindelte. Zwei starke Männer hatten das Schwert nicht heben können, und ihm gelang es? Magie?

Vorsichtig schleppte Simon die lange, qualvoll schwere Klinge zu seinen Gefährten hinüber. Haestan nahm gerade seinen Mantel ab, aber anstatt ihn um den Arm zu wickeln, legte er ihn sanft über Grimmric. Der Verwundete hustete und spie wieder Blut. Beide Erkynländer weinten.

Bevor Simon ein Wort über das Schwert sagen konnte, trat Jiriki aus der Höhle und stellte sich auf den davorliegenden Felsvorsprung, keck wie ein Gaukler.

»Zeigt euch!« schrie er, und die eisigen Talwände warfen schallend das Echo zurück. »Wer wagt es, die Gefährten Prinz Jirikis anzugreifen, Shima'onaris Sohn, Sproß des Hauses der Tanzenden Jahre? Wer will Krieg führen mit dem Zida'ya?«

Wie als Antwort kam ein Dutzend Gestalten die steilen Talwände hinunter und blieb in einem Abstand von hundert Ellen vom Fuß des Udunbaumes stehen. Sie waren alle bewaffnet, trugen Blendmasken und weiße Kapuzenmäntel und zeigten auf der Brust das dreieckige Mal der Sturmspitze.

»Nornen?« ächzte Simon und vergaß für eine Sekunde den seltsamen Gegenstand in seinen Armen.

»Das sind keine Hikeda'ya«, antwortete An'nai kurz. »Es sind Sterbliche, die Utuk'kus Befehl folgen.«

Einer der Verhüllten machte einen hinkenden, steifbeinigen Schritt nach vorn und nahm die Maske ab. Simon erkannte die sonnverbrannte Haut und den fahlen Bart. »Entfernt Euch, Zida'ya«, sagte Ingen Jegger, und seine Stimme klang langsam und kalt. »Der Jäger der Königin hat keinen Streit mit Euch. Es sind die Sterblichen, die sich hinter Euch ducken, die sich mir widersetzen und denen ich nicht erlauben kann, diesen Ort zu verlassen.«

»Sie stehen unter meinem Schutz, Sterblicher.« Prinz Jiriki klopfte auf sein Schwert. »Geh nach Hause und setz dich wieder unter Utuk'kus Tisch – hier gibt es keine Krümel für dich.«

Ingen Jegger nickte. »So sei es.« Er winkte nachlässig mit der Hand, und sofort hob einer der Jäger den Bogen und schoß. Jiriki sprang zur Seite und riß Haestan, der unmittelbar hinter ihm gestanden hatte, mit sich. Der Pfeil zersplitterte an einem Felsen neben dem Höhleneingang.

»Hinlegen!« schrie der Prinz. Gleichzeitig sandte An'nai seinerseits einen Pfeil ab. Die Jäger unten zerstreuten sich, wobei sie einen der ihren mit dem Gesicht nach unten im Schnee liegen ließen. Simon und seine Gefährten hasteten in großen Sprüngen über die schlüpfrigen Felsen zum Fuß des Eisbaumes. Pfeile zischten an ihnen vorbei.

Es dauerte nur Minuten, bis die mageren Pfeilvorräte beider Seiten erschöpft waren, allerdings nicht ohne daß Jiriki einen zweiten von Ingens Räubern durchbohrt hatte, indem er das Auge des fliehenden Mannes so säuberlich mit dem Pfeil traf, als schösse er einen Apfel von einer Steinmauer. Neben dem Sithi-Prinzen wurde Sludig ins Fleisch des Oberschenkels getroffen, aber der Pfeil war vorher von einem Stein abgeprallt, und der Rimmersmann konnte die Spitze herausziehen und hinkend Deckung suchen.

Simon duckte sich hinter einer Felsnase, die ein Teil des Udunbaum-Stammes war, und verwünschte sich, weil er seinen Bogen und die kostbaren Pfeile oben in der Höhle gelassen hatte. Er sah zu, wie An'nai, dessen Köcher inzwischen auch leer war, den Bogen fortwarf und das schlanke, dunkle Schwert aus der Scheide zog; das Gesicht des Sitha war so ungerührt, als repariere er Zäune. Simon war ganz sicher, daß man ihm die überwältigende Angst an der Nasenspitze ansehen müßte, das Herz, das immer wieder aussetzte, das hohle Gefühl im Magen. Er sah hinunter auf Dorn und fühlte wieder, wie etwas darin zum Leben erwachte. Die Schwere hatte sich verwandelt, belebt, als wäre sie voller summender Bienen; das Schwert kam ihm vor wie ein gefesseltes Tier, das den verlockenden Duft der Freiheit einatmet und sich zu regen beginnt.

Ein Stückchen weiter links, auf der anderen Seite des steinernen Stammes, schlichen Haestan und Sludig nach vorn, indem sie die riesigen, herabhängenden Eisäste als Deckung benutzten. Unten im Tal sammelte Ingen, jetzt sicher vor Pfeilen, seine Jäger zum Angriff.

»Simon!« zischte jemand. Erschrocken fuhr der Junge herum und sah Binabik, der über seinem Kopf auf der Felsnase hockte.

»Was machen wir jetzt?« fragte Simon und versuchte dabei erfolglos, seiner Stimme einen gleichmütigen Klang zu geben. Der Troll seinerseits starrte fassungslos auf Dorns schwarze Länge hinunter, die sich in Simons Arme schmiegte wie ein Kind.

»Wie …?« begann Binabik, das runde Gesicht voller Staunen.

»Ich weiß nicht. Ich habe es einfach hochgehoben. Ich weiß wirklich nicht! Was machen wir jetzt?«

Der Troll schüttelte den Kopf. »Du bleibst, wo du bist. Ich werde helfen, so gut ich kann. Ich wünschte nur, ich hätte einen Speer.« Er sprang leichtfüßig nach unten und überschüttete Simon im Vorbeijagen mit einer Wolke von kleinen Steinchen.

»Für Josua Ohnehand!« brüllte Haestan und stürmte unter den vorspringenden Ästen des Udunbaumes hervor und in das weiße Tal hinunter. Sludig hinkte zielstrebig hinterdrein. Sobald sie den Tiefschnee erreichten, wurden sie langsamer; es sah aus, als liefen sie durch Sirup. Ingens Jäger kamen ihnen im gleichen zögernd-tödlichen Tanz entgegen.

Haestan hob das schwere Schwert, aber noch bevor er den Angreifern gegenüberstand, fiel die erste Gestalt im weißen Mantel und umklammerte mit den Händen ihren Hals.

»Yiqanuc!« schrie Binabik triumphierend und hockte sich hin, um sein Blasrohr neu zu stopfen.

Das Tal hallte von Schwertgeklirr wider, als Ingens erste Männer auf Haestan und Sludig trafen. Zwar folgten ihnen die Sithi, die leichtfüßig über den Schnee flogen, auf dem Fuße, aber dennoch waren die Gefährten weit in der Minderzahl. Eine flache Klinge traf Haestans Schädel unter der Kapuze, und er ging in einer Wolke von Schnee zu Boden. Nur An'nai, der sich mit einem Satz vor ihn stellte, verhinderte, daß er sofort aufgespießt wurde.

Klingen blinkten im matten Sonnenlicht, und Wut- und Schmerzensschreie übertönten beinahe noch das Klirren des Metalls. Simon sah mit sinkendem Mut, daß Binabik, dessen übrige Dornen sich gegen die dicken Mäntel der Jäger als wirkungslos erwiesen hatten, das lange Messer aus dem Gürtel zog.

Wie kann er so tapfer sein? Er ist doch so klein – sie werden ihn töten, bevor er nahe genug an sie herankommt!

»Binabik!« schrie er und sprang auf. Er schwang das schwere schwarze Schwert über den Kopf und spürte, wie ihn die entsetzliche Last niederzwingen wollte, während er noch vorwärtsstolperte.

Plötzlich hob sich unter seinen Füßen die Erde. Breitbeinig torkelte er weiter. Es kam ihm vor, als wanke der ganze Berg. Ein grollendes Aufkreischen durchbohrte ihm die Ohren. Es klang, als schleife man einen schweren Felsblock durch einen Steinbruch. Die Kämpfenden hielten verblüfft inne und starrten auf ihre Stiefel.

Mit einem neuen grausigen Schrei des gefolterten Eises begann sich der Boden zu wölben. Mitten im Talgrund, nur wenige Ellen von der Stelle, an der Ingen Jegger mit weit aufgerissenen Augen in entsetzter Verwirrung stand, schob sich eine mächtige Eisscholle nach oben und richtete sich splitternd und bockend auf. Schnee fiel in großen Wehen von ihr herunter.

Von der jähen Bewegung des Erdbodens nach vorn geschleudert, taumelte Simon und stürzte vorwärts. Dorn fest umklammert, kam er genau in der Mitte zwischen den beiden Parteien zum Halt. Aber niemand schien ihn zu bemerken, alle standen wie angewurzelt, als hätte das Eis des Udunbaumes ihr Blut in lähmenden Frost verwandelt. Sie stierten das Unfaßliche an, das jetzt durch den Schnee brach.

Der Eisdrache.

Aus der neu entstandenen Spalte stieß ein mannshoher Schlangenkopf, weißschuppig, das Maul voller Zähne, die starren Augen blau und wolkig. Auf seinem langen Hals wiegte er sich geschmeidig nach allen Seiten, als beobachte er neugierig die winzigen Geschöpfe, die ihn aus jahrelangem Schlummer erweckt hatten. Dann schoß er mit grausiger Schnelligkeit vor und packte einen der Jäger mit seinen Kiefern, biß ihn entzwei und verschlang seine Beine. Der zerquetschte, blutige Leib fiel in den Schnee wie ein fortgeworfener Lumpen.

»Igjarjuk! Es ist Igjarjuk!« rief Binabik mit dünner Stimme. Der elfenbeinglänzende Kopf schnappte nach einem zweiten weißgekleideten Leckerbissen. Als die übrigen, die Gesichter leer vor Grauen, auseinanderstoben, griffen weiße Füße mit gespreizten Klauen nach dem Rand der Spalte, und der lange Drachenleib, auf dessen Rücken seltsam bleiches Fell wucherte, gelblich wie altes Pergament, kroch langsam empor. Ein peitschenartiger Schwanz von der Länge einer Turnierbahn fegte zwei weitere schreiende Jäger in den Abgrund.

Simon saß betäubt im Schnee. Er konnte das Ungeheuer, das auf dem Rand der Eisspalte hockte wie eine Katze auf der Stuhllehne, einfach nicht fassen. Jetzt senkte sich der Kopf mit der langgestreckten Schnauze, um ihn zu betrachten, und die trüben, blauen Augen, die niemals blinzelten, musterten ihn mit gelassener, uralter Bosheit. Simon tat der Kopf weh, als versuche er durch Wasser hindurchzuschauen – diese Augen, die so hohl waren wie Gletscherspalten! Es sah ihn, ja, es erkannte ihn auf irgendeine Weise – es war so alt wie die Gebeine der Berge, so weise und grausam und achtlos wie die Zeit selbst.

Die Kiefer öffneten sich und ein schwarzer Zungensplitter zischte hervor wie ein Messer und kostete die Luft. Der Kopf nickte näher.

»Ske'i, Hidohebhi-Brut!« rief eine Stimme, und gleich darauf war An'nai auf den Rücken des Untiers gesprungen. Er hielt sich im dicken Pelz fest, hob singend sein Schwert und hackte auf ein schuppiges Hinterbein ein. Simon kam auf die Füße und stolperte rückwärts. Der Drache hob den Schwanz und schleuderte den Sitha fort. An'nai flog fünfzig Ellen durch die Luft und landete am steilen Außenrand des Tales im Schnee, wo er zusammenbrach, nur noch Nebel zwischen sich und der Tiefe. Mit einem Aufschrei der Wut und Verzweiflung rannte Jiriki ihm nach.

»Simon!« brüllte der Troll. »Lauf! Wir können dir nicht helfen!«

Noch während er rief, lichtete sich der Nebel, der Simons Verstand getrübt hatte. Schon war er aufgesprungen und lief hinter Jiriki her. Binabik, der am anderen Rand der Spalte gestanden hatte, warf sich, als der Drache von neuem zuschnappte, nach hinten, und die gewaltigen Kiefer schlossen sich mit einem Krachen, als fiele ein eisernes Tor ins Schloß, über leerem Raum. Der Troll versank in einer Eisspalte und war nicht mehr zu sehen.

Jiriki, reglos wie eine Statue, saß über An'nais Körper gebeugt. Als er auf ihn zustürmte, warf Simon einen kurzen Blick über die Schulter und stellte fest, daß Igjarjuk von der zerbrochenen Eiszinne heruntergeglitten war und ihm durch das kleine Tal folgte. Die kurzen Beine gruben sich tief in das Eis, während er sich über den Boden schob und die Entfernung zwischen sich und seiner stolpernden Beute rasch immer mehr verringerte. Simon wollte Jirikis Namen rufen, aber seine Kehle war wie zugeschnürt; alles, was er herausbrachte, war ein ersticktes Ächzen. Der Sitha drehte sich um. Seine Bernsteinaugen leuchteten. Er stand auf und stellte sich neben den Körper seines Kameraden, das lange, runenbedeckte Hexenholzschwert kampfbereit vor sich.

»Komm, Uralter!« schrie Jiriki. »Komm und koste Indreju, du Bastardkind Hidohebhis!«

Simon verzog das Gesicht und wühlte sich weiter auf den Prinzen zu. Unnötiges Geschrei – der Drache kommt von ganz allein zu uns.

»Stell dich hinter mich«, wollte Jiriki gerade sagen, als Simon ihn endlich erreicht hatte. In diesem Augenblick kippte der Sitha jäh nach hinten; der Schnee unter ihm hatte nachgegeben. Jiriki rutschte rückwärts an den Talrand und in die leere Weite darunter. Vergeblich versuchte er sich im Schnee festzuhalten, kam in letzter Sekunde zum Stehen, blieb an den Boden gekrallt hängen; seine Füße baumelten über dem Nichts. Eine Elle daneben lag unbeachtet An'nai, ein blutiges Gewirr von Armen und Beinen.

»Jiriki …!« Simon verstummte. Hinter ihm ertönte ein Geräusch wie Donner. Er wirbelte herum und sah die gewaltige weiße Masse Igjarjuks auf sich zukommen. Im Takt zur Bewegung der Beine, die ihn vorwärtstrugen, peitschte sein Kopf von einer Seite zur anderen. Simon machte einen Sprung nach der von Jiriki und An'nai entfernten Seite, rollte durch den Schnee und kam wieder auf die Füße. Die blauen Untertassenaugen wichen nicht von ihm, und das Tier, keine hundert Schritte entfernt, schwenkte um und folgte.

Simon merkte plötzlich, daß er noch immer Dorn umklammert hielt. Er hob es in die Höhe. Es war auf einmal so leicht wie eine Weidengerte und schien unter seinen Händen zu singen wie ein Tau im Wind. Er schaute kurz hinter sich: ein paar Schritte fester Boden, dann leere Luft. In den wirbelnden Nebeln über dem Abgrund schwebte einer der fernen Gipfel – weiß, ruhig, gelassen.

Usires steh mir bei, dachte er, warum ist der Drache so lautlos? Sein Geist schien lose in seinem Körper zu treiben. Eine Hand stahl sich zu Miriamels Schal, dann packte er von neuem den silberumspannten Griff. Vor ihm türmte sich Igjarjuks Kopf, der Rachen wie ein schwarzes Loch, das Auge eine blaue Laterne. Die Welt schien aus Schweigen zu bestehen.

Was sollte er als letztes rufen?

Während der frostige Moschus des Drachen schon zu ihm herüberwehte, ein Gestank nach saurer, kalter Erde und nassen Steinen, erinnerte er sich an das, was Jiriki einst über die Sterblichen gesagt hatte.

»Hier bin ich!« schrie er und ließ Dorn pfeifend auf das tückische Auge zusausen. »Ich bin … Simon!«

Die Klinge traf, und ein Schwall schwarzen Blutes überströmte ihn, brannte wie Feuer, wie Eis, versengte sein Gesicht; und etwas Großes, Weißes stürzte krachend auf ihn zu und riß ihn hinab ins Dunkel.

XLIII Dem Erdboden gleich

Das Rotkehlchen landete auf einem niedrigen Ulmenast. Seine orangefarbige Brust leuchtete wie verlöschende Glut. Es drehte langsam den Kopf nach allen Seiten und betrachtete den Kräutergarten. Dabei zwitscherte es ungeduldig, als sei es unzufrieden, alles so verwahrlost vorzufinden.

Josua sah es fortfliegen, in einem Bogen über die Gartenmauer, dann steil aufwärts über die Zinnen der inneren Burg. Sekunden später war es nur noch ein schwarzer Fleck in der hellgrauen Morgendämmerung.

»Das erste Rotkehlchen seit langer Zeit. Vielleicht ist es ein Zeichen der Hoffnung in diesem finsteren Yuven.«

Der Prinz drehte sich überrascht um. Hinter ihm auf dem Weg stand Jarnauga, den Blick auf die Stelle gerichtet, an der gerade noch der Vogel gesessen hatte. Der Alte, dem die Kälte nichts anzuhaben schien, war nur mit Hosen und einem dünnen Hemd bekleidet; die weißen Füße waren nackt.

»Guten Morgen, Jarnauga«, sagte Josua und zog den Mantel um den Hals ein wenig enger, als lasse ihn die Unempfindlichkeit des Rimmersmannes die Kälte nur noch stärker spüren. »Was führt dich so früh in den Garten?«

»Mein alter Körper braucht wenig Schlaf, Prinz Josua«, lächelte der andere. »Und ich könnte Euch das gleiche fragen, wenn ich die Antwort nicht zu kennen glaubte.«

Josua nickte trübe. »Seit ich zum ersten Mal die Verliese meines Bruders betrat, habe ich nicht mehr gut geschlafen. Zwar wohne ich inzwischen bequemer, aber auch wenn ich nicht mehr in Ketten liege, läßt mich doch die Sorge nicht zur Ruhe kommen.«

»Es gibt viele Arten von Gefangenschaft«, nickte Jarnauga.

Eine Weile wanderten sie schweigend durch das Gewirr der Pfade. Der Garten war einst der Stolz der Herrin Vara gewesen, nach ihren peinlich genauen Anweisungen angelegt – für ein Mädchen, das im Planwagen geboren war, tuschelten die Hofleute des Prinzen, legte sie wirklich übertrieben viel Wert auf Eleganz. Jetzt freilich war der Garten vernachlässigt, zum einen des schlechten Wetters wegen, zum anderen wegen allzuvieler weit dringlicherer Dinge, die getan werden mußten.

»Irgend etwas stimmt nicht, Jarnauga«, sagte Josua endlich. »Ich kann es fühlen. Ich kann es beinahe riechen, wie ein Fischer das Wetter. Was brütet mein Bruder aus?«

»Mir scheint, er tut sein bestes, um uns alle zu töten«, erwiderte der alte Mann, und ein bitteres Grinsen verzog sein ledriges Gesicht. »Ist es das, was ›nicht stimmt‹?«

»Nein«, erklärte der Prinz ernsthaft. »Nein. Das ist ja gerade das Bedenkliche. Seit einem Monat wehren wir ihn ab, unter bitteren Verlusten – Baron Ordmaer, Herr Grimsted, Wuldorcen von Caldsae und Hunderte wackerer freier Männer –, aber es ist jetzt fast vierzehn Tage her, daß er den letzten wirklichen Angriff unternommen hat. Seine Attacken waren … eher beiläufig. Er tut nur so, als belagere er uns. Warum?« Er setzte sich auf eine niedrige Bank, Jarnauga neben ihn. »Warum?« wiederholte er.

»Nicht immer wird eine Belagerung mit Waffengewalt gewonnen. Vielleicht will er uns aushungern.«

»Aber warum greift er dann überhaupt an? Wir haben unseren Gegnern schreckliche Verluste zugefügt. Warum wartet er nicht einfach ab? Es sieht aus, als lege er nur Wert darauf, uns in unseren Mauern festzuhalten und selber draußen zu bleiben. Was hat Elias vor?«

Der Alte zuckte die Achseln. »Wie ich Euch schon gesagt habe: Ich sehe vieles, aber das, was in den Herzen der Menschen liegt, überschreitet die Kraft meiner Augen. Bisher haben wir überlebt. Seien wir dankbar.«

»Das bin ich auch. Aber ich kenne meinen Bruder. Er gehört nicht zu denen, die geduldig dasitzen und abwarten. Es liegt etwas in der Luft, irgendein Plan…« Er verstummte und starrte auf ein verwildertes Hohnblatt-Beet. Die Blüten hatten sich nicht geöffnet, und unter den ineinandergewachsenen Stengeln stand frech das Unkraut, wie Aasfresser sich unter eine sterbende Herde mischen.

»Er hätte ein großartiger König sein können, weißt du«, sagte Josua unvermittelt, als beantworte er eine unausgesprochene Frage. »Es gab eine Zeit, in der er nur stark war und kein Tyrann. Das heißt, er war zwar manchmal grausam, als wir jünger waren, aber nur mit dieser unschuldigen Grausamkeit, die große Jungen den kleineren gegenüber zeigen. Er hat mir sogar manches beigebracht – Schwertfechten, Ringen … Von mir hat er nie etwas gelernt. Er hat sich für die Dinge niemals interessiert.« Der Prinz lächelte traurig.

»Wir hätten sogar Freunde sein können…« Der Prinz faltete die langen Finger und blies warmen Atem hinein. »Wenn nur Hylissa am Leben geblieben wäre.«

»Miriamels Mutter?« fragte Jarnauga leise.

»Sie war sehr schön, eine südliche Schönheit – schwarze Haare, weiße Zähne. Sehr scheu war sie; aber wenn sie lächelte, war es, als habe man eine Lampe entzündet. Und sie liebte meinen Bruder – so gut es ihr möglich war. Aber sie hatte auch Angst vor ihm: so laut, so groß. Und sie war sehr klein … schlank wie eine Weide … erschrak, wenn man nur ihre Schulter berührte…« Der Prinz sprach nicht weiter, sondern saß gedankenverloren da. Durch die Wolken am Himmel floß wäßriger Sonnenschein und brachte ein wenig Farbe in den öden Garten.

»Ihr klingt, als hättet Ihr viel von ihr gehalten«, meinte der alte Mann sanft.

»Oh, ich liebte sie.« Josua sprach in sachlichem Ton, den Blick noch immer fest auf das Hohnblattgestrüpp gerichtet. »Ich brannte vor Liebe zu ihr. Ich betete zu Gott, mich von dieser Liebe zu befreien, obwohl ich wußte, daß ich dann nur noch eine leere Hülle sein würde, ihres lebendigen Kernes beraubt. Nicht, daß meine Gebete mir etwas genützt hätten. Und ich glaube, auch sie liebte mich; oft sagte sie, ich sei ihr einziger Freund. Niemand kannte sie so gut wie ich.«

»Ahnte Elias etwas davon?«

»Natürlich. Er hatte jeden im Verdacht, der bei den Festveranstaltungen des Hofes auch nur neben ihr stand, und ich war ständig an ihrer Seite. Aber immer in Ehren«, fügte er hastig hinzu und unterbrach sich sofort wieder. »Warum nehme ich das so wichtig, selbst heute noch? Usires vergib mir, ich wünschte nur, wir hätten ihn betrogen!« Josua biß die Zähne zusammen. »Ich wünschte, sie wäre meine tote Geliebte und nicht nur die verstorbene Gattin meines Bruders.« Er starrte anklagend auf den vernarbten Fleischklumpen, der aus seinem rechten Ärmel ragte. »Ihr Tod liegt auf meinem Gewissen wie ein großer Stein – es war meine Schuld! Mein Gott, wir sind ein vom Unheil verfolgtes Geschlecht.«

Er hielt inne, als sich auf dem Pfad Schritte näherten.

»Prinz Josua! Prinz Josua, wo seid Ihr?«

»Hier«, rief der Prinz zerstreut, und einen Augenblick später tauchte einer seiner Wachsoldaten hinter einer Heckenwand auf.

»Mein Prinz!« keuchte er und beugte das Knie. »Herr Deornoth bittet Euch, sofort zu ihm zu kommen!«

»Sind sie schon wieder unter den Mauern?« fragte Josua, stand auf und schüttelte sich den Tau vom wollenen Mantel. Seine Stimme klang noch immer unbeteiligt.

»Nein, Herr«, antwortete der Wachsoldat, und sein Mund unter dem Schnurrbart klappte erregt auf und zu, als wäre er ein bärtiger Fisch. »Es ist Euer Bruder – ich meine, der König, Herr. Er zieht sich zurück. Die Belagerung ist beendet!«

Der Prinz warf Jarnauga einen verwirrten, sorgenvollen Blick zu, als sie hinter dem aufgeregten Wächter den Pfad entlanghasteten.


»Der Hochkönig hat aufgegeben!« schrie Deornoth, sobald Josua mit vom Wind geblähtem Mantel die Treppe hinaufkam. »Seht doch! Er zieht den Schwanz ein und rennt!«

Deornoth drehte sich um und gab Isorn einen kameradschaftlichen Schlag auf die Schulter. Der Herzogssohn grinste, während der neben ihm stehende Einskaldir dem jungen Erkynländer einen finsteren Blick zuwarf, damit er nur nicht auf den Gedanken kam, etwas so Närrisches auch bei ihm zu versuchen.

»Also was ist?« fragte Josua und drängte sich neben Deornoth auf die leicht abgesackte Vormauer. Genau unter ihnen lagen die zerschmetterten Überreste eines Mineurkastens, Beweis für den vergeblichen Versuch, die Vormauer durch Untertunneln zum Einsturz zu bringen. Die Mauer war ein paar Fuß eingebrochen, hatte aber gehalten; Dendinis hatte für Jahrtausende gebaut. Die Mineure hatten die Holzpfeiler, die ihren Tunnel stützten, in Brand gesetzt und waren von den wenigen Steinen, die sie selber gelockert hatten, erschlagen worden.

Drüben lag Elias' Feldlager, ein Ameisenhaufen geschäftiger Betriebsamkeit. Die noch übrigen Belagerungsmaschinen waren umgekippt und zerstört worden, damit niemand sonst einen Vorteil von ihnen hätte; die Vielzahl der Zeltreihen war verschwunden, als hätten Sturmböen sie aufgewirbelt und fortgeweht. Schwache Geräusche – fernes Schreien der Fuhrleute und Peitschengeknall – drangen zu ihnen herauf: Die Wagen des Hochkönigs wurden beladen.

»Er zieht sich zurück!« sagte Deornoth beglückt. »Wir haben es geschafft!«

Josua schüttelte den Kopf. »Warum? Warum sollte er? Wir haben ihm kaum einen Bruchteil seiner Truppen genommen.«

»Vielleicht hat er eingesehen, wie stark Naglimund ist«, meinte Isorn und spähte nach unten.

»Und warum hungert er uns dann nicht aus?« fragte der Prinz. »Ädon! Was geht hier vor? Ich könnte mir noch vorstellen, daß vielleicht Elias selber zum Hochhorst zurückkehrt – aber warum läßt er nicht einmal eine symbolische Belagerung weiterbestehen?«

»Um uns herauszulocken«, meinte Einskaldir gelassen. »In offenes Gelände.« Mit finsterer Miene rieb er mit rauhem Daumen über die Klinge seines Messers.

»Das könnte sein«, erwiderte der Prinz, »aber er müßte mich besser kennen.«

»Josua…« Jarnauga blickte über das abziehende Heer in den Morgendunst, der den nördlichen Himmel verschleierte. »Es stehen seltsame Wolken oben im Norden.«

Die anderen bemühten sich, seinem Blick zu folgen, konnten aber nur die unbestimmten Anfänge der Frostmark erkennen.

»Was für Wolken?« erkundigte der Prinz sich schließlich.

»Sturmwolken. Äußerst ungewöhnlich. Wie keine, die ich jemals südlich des Gebirges gesehen habe.«


Der Prinz stand am Fenster und lauschte dem Raunen des umherstreifenden Windes, die Stirn an den kalten Steinrahmen gepreßt. Unter ihm lag im Mondschein der schmale Hof, und die Bäume schwankten.

Vara streckte einen weißen Arm unter der Pelzdecke hervor.

»Was habt Ihr, Josua? Es ist kalt. Schließt das Fenster und kommt zurück ins Bett.«

Er drehte sich nicht um. »Der Wind geht, wohin er will«, sagte er ruhig. »Man kann ihn nicht vor der Tür lassen und ihn auch nicht einsperren, wenn er wieder hinaus will.«

»Es ist zu spät in der Nacht für Eure Rätsel, Josua«, entgegnete sie. Gähnend fuhr sie sich mit den Fingern durch das tintenschwarze Haar, so daß es auf dem Laken ausgebreitet lag wie schwarze Schlangen.

»Es ist vielleicht zu spät für viele Dinge«, meinte er und setzte sich zu ihr auf das Bett. Seine Hand streichelte sanft ihren langen Hals, aber noch immer sah er zum Fenster hinüber. »Es tut mir leid, Vara. Ich bin … verwirrend, ich weiß es. Nie war ich der rechte Mann … für meine Lehrer nicht, für meinen Bruder, für meinen Vater … und nicht für Euch. Manchmal frage ich mich, ob ich nicht in der falschen Zeit geboren bin.« Er hob den Finger, um über ihre Wange zu streichen, und ihr warmer Atem berührte seine Hand. »Wenn ich die Welt sehe, wie sie sich mir darstellt, empfinde ich nur tiefe Einsamkeit.«

»Einsamkeit?« Vara setzte sich auf. Die Pelzdecke glitt herab, und das Mondlicht malte Streifen auf die glatte Elfenbeinhaut. »Bei meinem Stamm, Josua, Ihr seid ein grausamer Mensch! Immer noch bestraft Ihr mich für den Fehler, der Prinzessin helfen zu wollen. Wie könnt Ihr mein Bett teilen und Euch einsam nennen? Geht fort, Ihr Kopfhänger, schlaft mit Euren kalten Nordmädchen oder in einer Mönchszelle. So geht doch!«

Sie schlug nach ihm, und er packte ihren Arm. Trotz ihrer Schlankheit war sie kräftig und versetzte ihm mit der anderen Hand zwei Schläge, bevor er sich über sie rollen und sie mit seinem Gewicht festhalten konnte.

»Friede, Herrin, Friede!« sagte er und lachte, obwohl sein Gesicht brannte. Vara starrte ihn finster an und wand sich, um freizukommen. »Ihr habt recht«, erklärte er. »Ich habe Euch gekränkt und bitte um Verzeihung. Ich heische Frieden.« Er beugte sich über sie und küßte ihren Hals und die zorngerötete Wange.

»Kommt näher, und ich werde Euch beißen«, zischte sie. Ihr Körper bebte unter seinem. »Ich hatte Angst um Euch, als Ihr in die Schlacht zogt, Josua. Ich dachte, Ihr würdet sterben.«

»Ich hatte nicht weniger Angst, Herrin. Es gibt so vieles auf der Welt, vor dem man sich fürchten kann.«

»Und nun fühlt Ihr Euch einsam.«

»Einsam«, sagte der Prinz und bot ihr die Lippen zum Hineinbeißen, »kann man sich in der vornehmsten und besten Gesellschaft fühlen.«

Ihr Arm, wieder frei, schlang sich um seinen Hals und zog ihn zu ihr. Das Mondlicht tauchte ihre verschlungenen Glieder in Silber.


Josua ließ seinen Beinlöffel in die Suppenschale zurücksinken und beobachtete zornig die kleinen Strudel, die die Oberfläche kräuselten. Der Speisesaal summte vom Lärm vieler Stimmen.

»Ich kann nicht essen. Ich muß es wissen!«

Vara, die schweigend, aber mit ihrem gewöhnlichen guten Appetit aß, warf ihm über den Tisch einen beunruhigten Blick zu.

»Was immer auch geschieht, Prinz«, meinte Deornoth schüchtern, »Ihr braucht Eure Kraft.«

»Ihr werdet sie brauchen, um zu Eurem Volk zu sprechen, Prinz Josua«, bemerkte Isorn, den Mund voll Brot. »Die Menschen sind aufgeregt und verunsichert. Der König ist abgezogen. Warum feiern wir kein Fest?«

»Ihr wißt verdammt gut, warum nicht!« fauchte Josua und hob die Hand an die schmerzende Schläfe. »Ihr müßt doch sehen, daß es eine Falle ist – daß Elias niemals so leicht aufgeben würde!«

»Wenn Ihr meint«, antwortete Isorn, schien jedoch nicht recht überzeugt zu sein. »Das heißt aber nicht, daß die Leute, die in der inneren Burg eingepfercht sind wie Vieh –«, er deutete mit der großen Hand auf die Menschenmenge, die sich von allen Seiten um die Tafel des Prinzen drängte (die meisten saßen auf dem Boden oder an den Wänden des Speisesaales, weil Stühle so selten waren, daß nur die Alleredelsten Anspruch darauf hatten) –, »daß sie es verstehen werden. Glaubt es einem Mann, der einen Höllenwinter eingeschneit in Elvritshalla verbracht hat.« Isorn biß einen weiteren großen Kanten von seinem Brot ab.

Josua seufzte und wandte sich Jarnauga zu. Der alte Mann, dessen Schlangentätowierungen im Lampenlicht auf unheimliche Art lebendig wirkten, war in ein Gespräch mit Vater Strangyeard vertieft.

»Jarnauga«, sagte der Prinz ruhig. »Du wolltest mir mit über einen Traum sprechen, den du gehabt hast.«

Der alte Rimmersmann entschuldigte sich bei dem Priester.

»Ja, Josua«, antwortete er dann und beugte sich nahe zu ihm, »aber vielleicht sollten wir warten, bis wir unter vier Augen reden können.« Er spitzte die Ohren nach dem Lärm im Speisesaal. »Andererseits könnte uns hier kein Mensch belauschen – und wenn er unter Eurem Stuhl säße.« Er zeigte ein frostiges Lächeln. »Ich habe wieder Träume gehabt«, fuhr er fort, und seine Augen unter den dichten Brauen glänzten hell wie Edelsteine. »Ich besitze nicht die Macht, sie zu rufen, aber manchmal kommen sie von allein. Mit den Männern, die wir zum Urmsheim geschickt haben, ist etwas vorgefallen.«

»Etwas?« Josuas Gesicht war düster und schlaff.

»Ich habe ja nur geträumt«, versetzte Jarnauga abwehrend, »aber ich fühlte ein gewaltiges Aufreißen – Schmerz und Entsetzen – und den Jungen Simon, der rief … voller Furcht und Zorn rief er … und dann noch etwas anderes…«

»Könnte das, was ihnen widerfahren ist, die Ursache des Sturmes sein, den du heute morgen gesehen hast?« fragte der Prinz mit bleischwerer Stimme, als höre er die schlechte Nachricht, auf die er schon lange wartete.

»Ich glaube nicht. Urmsheim liegt in einer Bergkette weiter östlich, hinter dem Drorshullsee und jenseits der Öden.«

»Sind sie noch am Leben?«

»Das kann ich nicht wissen. Es war ein Traum, und nur ein kurzer und wunderlicher.«

Später wanderten die beiden stumm über die hohen Burgmauern. Der Wind hatte die Wolken vertrieben, und der Mond verwandelte die verlassene Stadt unter ihnen in Knochen und Pergament.

Josua starrte in den schwarzen Nordhimmel und stieß dampfend den Atem aus. »Damit ist auch unsere schwache Hoffnung auf Dorn dahin.«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Das war auch nicht nötig. Und ich nehme an, du und Strangyeard seid auch nicht näher daran herauszufinden, was aus Fingils Schwert Minneyar geworden ist?«

»Leider nein.«

»Was ist dann noch nötig, damit unser Untergang feststeht? Gott hat uns einen grausamen Streich –« Josua brach ab, als der alte Mann ihn am Arm packte.

»Prinz«, sagte er und spähte mit schmalen Augen nach dem Horizont, »Ihr überzeugt mich davon, daß man niemals die Götter herausfordern soll, selbst wenn es nicht die eigenen sind.« Er klang erschüttert, zum ersten Mal alt.

»Was meinst du?«

»Ihr habt gefragt, was man uns noch antun könnte?« Der alte Mann schnaubte in bitterer Belustigung. »Seht Ihr die Sturmwolke, das schwarze Gewitter im Norden? Es kommt auf uns zu – und zwar mit großer Geschwindigkeit.«


Der junge Ostrael aus Runchester stand schlotternd auf der Vormauer und dachte über etwas nach, das sein Vater einmal gesagt hatte.

»Es ist gut, wenn du deinem Prinzen dienst. Siehst ein Stück von der Welt, Junge, wenn du Soldat wirst«, hatte Firsfram ihm erzählt und seinem Sohn die ledrigen Bauernhände auf die Schultern gelegt, während seine Mutter mit roten Augen stumm zugeschaut hatte. »Vielleicht kommst du sogar bis zu den südlichen Inseln oder nach Naglimund, jedenfalls heraus aus diesem verdammten Frostmarkwind.«

Sein Vater lebte nicht mehr. Letzten Winter war er verschwunden, in jenem grausam kalten Decander von Wölfen verschleppt … Wölfen oder etwas anderem, denn es wurde nie eine Spur von ihm gefunden. Und Firsframs Sohn, der das Leben im Süden noch nicht zu kosten bekommen hatte, stand im eisigen Wind auf einer Mauer und fühlte, wie ihm die Kälte bis ins innerste Herz drang.

Ostraels Mutter und Schwestern hausten mit Hunderten anderer Heimatloser unten in Behelfsbaracken in der dicken steinernen Feste von Naglimund. Die Burgmauern boten weit besseren Schutz vor dem Wind als Ostraels hohe Warte, aber selbst Steinmauern, und mochten sie noch so dick sein, konnten die furchtbare Musik des heranziehenden Sturmes nicht abhalten.

Angstvoll, aber unwiderstehlich wurden Ostraels Augen von dem dunklen Fleck angezogen, der brodelnd am Horizont hing und sich im Näherkommen ausbreitete wie graue Tinte, die man in Wasser gießt. Es war ein Klecks, eine leere Stelle, als hätte man die Wirklichkeit dort fortgerieben, eine Stelle, an der der Himmel selbst umzukippen und die Wolken wie durch einen Trichter nach unten zu pressen schien, wo sie sich in eine langsam dahinwirbelnde Masse verwandelten, der Schweif eines Wirbelsturmes. Von Zeit zu Zeit zuckten helle Blitzstacheln über das Gewitter hinweg. Und immer und immer wieder ließ sich das grausige Trommeln vernehmen, fern wie das Prasseln von Regen auf einem festen Dach, hartnäckig wie das Klappern von Ostraels Zähnen.

Die heiße Luft und die sagenhaften, sonnenfleckigen Hügel von Nabban kamen Firsframs Sohn immer mehr wie die Geschichten aus dem Buch Ädon vor, die der Priester erzählte, ein Stückchen imaginärer Trost, der einem durchs Leben half und das Grauen des unausweichlichen Todes verschleiern sollte.

Immer näher kam der Sturm, von Trommeln surrend wie ein Wespennest.


Deornoths Laterne flackerte in der steifen Brise und wäre um ein Haar ausgegangen; er hielt den Mantel davor, bis die Flamme wieder stetig leuchtete. Neben ihm stand Isorn, Isgrimnurs Sohn und starrte in die kalte, von Blitzen zerkratzte Finsternis hinaus.

»Gottes Baum! Es ist schwarz wie die Nacht«, stöhnte Deornoth. »Kaum Mittag vorbei, und ich kann fast nichts mehr sehen.«

Isorn öffnete den Mund, einen dunklen Schlitz im blassen, von der Laterne beschienenen Gesicht, aber es kam kein Ton heraus. Seine Kiefer mahlten.

»Alles wird gut«, sagte Deornoth, den die Furcht des jungen Rimmersmannes ansteckte. »Es ist nur ein Gewitter – irgend so ein übler, kleiner Trick von Pryrates…« Noch während er es aussprach, wußte er, daß es eine Lüge war. Die schwarzen Wolken, welche die Sonne verdeckten und die Nacht bis vor die Tore von Naglimund schleiften, brachten eine Angst mit sich, die sich wie eine Zentnerlast auf sein ganzes Ich legte, wie der steinerne Deckel eines Sarkophages. Was war das für eine magische Beschwörung, was für ein Zauber, der ihm diesen eisigen Speer des Grauens tief in die Eingeweide stieß?

Der Sturm trieb weiter auf sie zu, ein Klumpen Schwärze, der sich auf beiden Seiten weit über die Mauern der Burg hinausdehnte und noch die höchsten Zinnen überragte, durchzogen vom blauweißen Flackern der Blitze. Sekundenlang traten die zusammengekauerte Stadt und das Land ringsum klar hervor, dann versank alles wieder in Finsternis. Die hämmernden Trommelschläge fanden ihr Echo an der Vormauer.

Als der Blitz wieder aufflammte und für eine Sekunde das gestohlene Tageslicht nachäffte, entdeckte Deornoth etwas, das ihn zurückfahren und Isorns breiten Arm so fest umklammern ließ, daß der Rimmersmann zusammenzuckte.

»Hol den Prinzen«, sagte Deornoth mit klangloser Stimme.

Isorn sah auf und vergaß über Deornoths merkwürdigem Benehmen die eigene abergläubische Furcht vor dem Sturm. Das Gesicht des jungen Naglimunders war schlaff und leer wie ein alter Mehlsack, und seine Fingernägel kratzten, von ihm selbst unbemerkt, ein blutiges Rinnsal in Isorns Arm.

»Was … was ist?«

»Hol Prinz Josua«, wiederholte Deornoth. »Schnell!«

Der Rimmersmann warf seinem Freund noch einen Blick zu, schlug das Zeichen des Baumes und stolperte den Wehrgang entlang zur Treppe.

Betäubt, bleischwer, stand Deornoth da und wünschte sich nur, am Stierrückenberg gefallen zu sein – auch wenn es ein schimpflicher Tod gewesen wäre – und nicht sehen zu müssen, was dort unten auf ihn wartete.

Als Isorn mit dem Prinzen und Jarnauga zurückkam, stand Deornoth mit weit aufgerissenen Augen noch immer an derselben Stelle. Man brauchte nicht mehr zu fragen, was er sah, denn der Blitz erhellte jeden Winkel.

Ein riesiges Heer war nach Naglimund gekommen. Aus dem wirbelnden Dunst des Gewitters erhob sich ein unendlicher Wald borstiger Speere. Eine Milchstraße leuchtender Augen glänzte in der Dunkelheit. Wieder rollten die Trommeln wie Donner, und über Burg und Stadt senkte sich der Sturm wie ein gewaltiges, geblähtes Zelt aus Regen, schwarzen Wolken und eisigem Nebel.

Die Augen sahen zu den Mauern hinauf – Tausende glitzernder Augen voll grimmiger Vorfreude. Weißes Haar strömte im Wind, schmale weiße Gesichter unter dunklen Helmen richteten sich nach oben und starrten auf die Wälle von Naglimund. In einem neuerlichen Blitz von Himmelsfeuer blinkten blaue Speerspitzen. Schweigend spähten die Fremdlinge in die Höhe wie eine Armee von Gespenstern, bleich wie Blindfische, durchsichtig wie Mondschein. Die Trommeln bebten. Andere, längere Schatten pirschten im Nebel näher – riesenhafte Wesen in Rüstungen und mit großen, knorrigen Keulen. Wieder bebten die Trommeln und verstummten.

»Barmherziger Ädon, schenke mir Ruhe«, betete Isorn. »In deinen Armen will ich schlafen und in deinem Schoße…«

»Wer ist das, Josua?« fragte Deornoth mit einer Stimme so ruhig, als sei er lediglich neugierig.

»Das sind ›Weißfüchse‹ – Nornen«, antwortete der Prinz. »Sie sind Elias' Verstärkungstruppen.« Müde hob er die Hand, als wollte er den Anblick der geisterhaften Legion zudecken. »Die Kinder des Sturmkönigs.«


»Eminenz, ich bitte Euch!« Vater Strangyeard zupfte den alten Mann am Arm, erst sacht, dann immer stärker. Der Alte klammerte sich an die Bank wie eine Haftschnecke, eine kleine Gestalt in der Dunkelheit des Kräutergartens.

»Wir müssen beten, Strangyeard«, wiederholte Bischof Anodis hartnäckig. »Knie nieder!«

Der pochende, hämmernde Lärm des Sturmes wurde lauter. Der Archivar fühlte den panischen Drang fortzulaufen – einfach weg, ganz gleich wohin.

»Dies ist … es ist keine natürliche Dämmerung, Bischof. Ihr müßt hineingehen, jetzt sofort. Bitte.«

»Ich wußte, daß ich nicht hätte hierbleiben sollen. Ich habe Prinz Josua gesagt, er sollte sich dem rechtmäßigen König nicht widersetzen«, erklärte Anodis anklagend. »Gott zürnt uns. Wir müssen beten, daß er uns den rechten Weg zeigt – wir müssen seines Martyriums am Baum gedenken…« Er machte krampfhafte Handbewegungen, als schlage er nach Fliegen.

»Gott? Das hier ist nicht Gottes Werk«, erwiderte Strangyeard, und sein sonst so freundliches Gesicht verfinsterte sich. »Dies ist das Werk Eures ›rechtmäßigen Königs‹ – seines und seines zahmen Zauberers.«

Der Bischof achtete nicht auf ihn. »Gesegneter Usires«, Stammelte er und wich vor dem Priester in das dunkle Gewirr des Hohnblatt-Beetes zurück. »Wir, die wir demütig zu dir flehen, bereuen unsere Sünden. Wir haben uns deinem Willen widersetzt und damit deinen gerechten Zorn erregt…«

»Bischof Anodis!« rief Strangyeard unruhig und ärgerlich zugleich und trat einen Schritt näher, um überrascht stehenzubleiben. Eine dichte, brodelnde Kälte schien sich über den Garten zu legen. Und während der Archivar noch schaudernd in der immer eisiger werdenden Luft stand, verstummte der Trommelschlag.

»Da ist etwas…« Ein frostiger Wind schlug Strangyeard die Kapuze ins Gesicht.

»O wahrlich, schwer haben wir gesündigt in unserem Hochmut, wir armseligen Menschlein!« trompetete Anodis, daß es durch das Hohnblatt raschelte. »Wir b-beten … wir … b-b-beten…« Er wurde langsamer und seine Stimme seltsam schrill.

»Bischof?«

In der Tiefe des Hohnblattes gab es eine schaudernde Bewegung. Vor Strangyeard tauchte mit weit aufgerissenem Mund das Gesicht des alten Mannes auf. Etwas schien nach ihm zu greifen; ringsum spritzte Erde und machte die Ereignisse im Schatten der Pflanzen noch unübersichtlicher. Der Bischof schrie, ein dünner, greinender Laut.

»Anodis!« Strangyeard stürzte sich in das Hohnblatt.

Das Schreien brach ab. Gleich darauf stand Strangyeard vor der zusammengesunkenen Gestalt des Bischofs. Langsam, als offenbare er den Abschluß eines komplizierten Kunststückes, rollte der alte Kleriker zur Seite.

Ein Teil seines Gesichtes war ein roter Blutstrom. Am Boden daneben lag ein schwarzer Kopf wie eine von einem vergeßlichen Kind fortgeworfene Puppe. Der Kopf, emsig kauend, wandte sich grinsend Strangyeard zu. Die winzigen Augen waren bleich wie weiße Johannisbeeren, der schüttere Bart glänzte vom Blut des Bischofs. Im selben Augenblick schossen auf beiden Seiten zwei weitere Köpfe aus der Erde. Der Archivar machte einen Schritt zurück. In seiner Kehle steckte ein Schrei, fest verkeilt wie ein Stein. Wieder bebte der Boden – hier, dort, überall. Dünne schwarze Hände wühlten sich hervor wie Maulwurfsschnauzen.

Strangyeard taumelte zurück und fiel hin. Mühsam schleppte er sich wieder auf den Weg, überzeugt, daß sich jede Sekunde eine feuchtkalte Hand um seinen Knöchel legen würde. Sein Mund war zu einem starren Grinsen der Furcht verzerrt, aber er brachte keinen Ton heraus. Im Gebüsch hatte er die Sandalen verloren und wankte nun auf lautlosen nackten Füßen den Pfad zur Kapelle hinauf. Eine feuchte Decke aus Schweigen schien über der Welt zu liegen; sie erstickte ihn und drückte ihm das Herz ab. Selbst das Krachen der hinter ihm zufallenden Kapellentür wirkte gedämpft. Als er mit zitternden Fingern den Riegel vorschob, sank ein Vorhang aus verschwommenem Grau über seine Augen, und er ließ sich dankbar hineinfallen wie in ein weiches Bett.


Zwischen den Nornen leuchteten jetzt wie Blüten in einem Mohnfeld die Flammen unzähliger Fackeln auf, verwandelten die grausig schönen Gesichter in scharlachrote Umrisse und vergrößerten den Umfang der hinter ihnen lauernden Hunen in ihrer Kriegsausrüstung ins Groteske. Soldaten hasteten auf die Burgmauern, nur um in entsetztem Schweigen hinunterzustarren.

Fünf gespenstische Gestalten auf Pferden, so blaß wie Spinnenseide, ritten auf den freien Platz vor der Vormauer. Der Fackelschein spielte in ihren weißen Kapuzenmänteln, und auf den langen, rechteckigen Schilden glomm und pochte die rote Pyramide von Sturmspitze. Furcht schien die Verhüllten zu umgeben wie eine Wolke, die in die Herzen aller drang, die sie erblickten. Die Zuschauer auf den Wällen spürten, wie sie eine schreckliche, hilflose Schwäche erfaßte.

Der vorderste Reiter hob den Speer, die vier hinter ihm folgten seinem Beispiel. Dreimal schlugen die Trommeln.

»Wo ist der Herr von Ujin e-d'a Sikhunae – der Falle, die den Jäger fängt?« Die Stimme des ersten Reiters war ein spöttisches, hallendes Stöhnen, wie Wind in einer langen Schlucht. »Wo ist der Herr des Hauses der Tausend Nägel?«

Lange Augenblicke holte der lastende Sturm Atem, bevor die Antwort kam.

»Hier bin ich.« Josua trat vor, ein schmaler Schatten auf dem Torhaus. »Was sucht eine so seltsame Schar von Reisenden an meiner Tür?« Seine Stimme war ruhig, aber es lag ein winziges Zittern darin.

»Nun … wir sind gekommen, um nachzusehen, ob die Nägel rostig und wir stark geworden sind.« Die Worte kamen langsam, mit zischender Luft hervorgestoßen, als sei der Reiter das Sprechen nicht gewöhnt. »Wir sind gekommen, Sterblicher, um uns von dem, was uns gehört, ein kleines Stück zurückzuholen. Dieses Mal ist es Menschenblut, das den Boden von Osten Ard netzen wird. Wir sind gekommen, dein Haus dem Erdboden gleich zu machen.«

Die unversöhnliche Kraft und der Haß in der hohlen Stimme waren so machtvoll, daß viele Soldaten aufschrien und von den Mauern flohen, um sich unten in der Burg zu verstecken. Noch während Josua wortlos auf dem Tor stand, durchbrach ein Schrei das Stöhnen und ängstliche Flüstern der Naglimunder.

»Gräber! Es sind Gräber in den Mauern!«

Neben dem Prinzen gab es eine Bewegung. Er drehte sich um. Es war Deornoth, der auf unsicheren Beinen zu ihm heraufgeklettert kam.

»Die Gärten der Burg sind voller Bukken«, erklärte der junge Ritter und sah mit großen Augen auf die weißen Reiter.

Der Prinz trat vor. »Ihr sprecht, als wolltet ihr euch rächen«, rief er der bleichen Menge zu. »Aber das ist eine Lüge! Ihr kommt auf Geheiß des Hochkönig – eines Sterblichen. Ihr dient Elias, einem Sterblichen, wie Madenhacker dem Krokodil. Kommt doch! Tut euer Ärgstes! Ihr werdet sehen, daß nicht alle Nägel von Naglimund verrostet sind und es hier immer noch Eisen gibt, das den Sithi den Tod bringen kann!«

Von den auf der Mauer zurückgebliebenen Soldaten stieg ein wilder Jubelschrei auf. Der erste Reiter spornte sein Roß einen weiteren Schritt vorwärts.

»Wir sind die Rote Hand!« Seine Stimme war grabeskalt. »Wir dienen keinem außer Ineluki, dem Herrn der Stürme. Die Gründe dafür gehören nur uns – so wie euer Tod nur euch gehören wird!«

Er schwang den Speer über dem Kopf, und wieder rollten die Trommeln. Schrill gellten die Hörner.

»Bringt die Wagen!« schrie Josua vom Dach des Torhauses. »Versperrt den Weg! Sie werden versuchen, das Tor niederzureißen!«

Aber anstatt einen Rammbock zu holen, um den schweren Stahl und die dicken Balken des Tores zu zerschmettern, blieben die Nornen schweigend stehen und sahen zu, wie sich die fünf Reiter ohne Eile in Bewegung setzten. Einer der Wächter auf der Mauer schoß einen Pfeil ab. Ein Dutzend anderer folgte ihm, aber sofern sie die Reiter überhaupt trafen, gingen sie einfach durch sie hindurch; die bleichen Wesen zögerten keinen Schritt.

Wild schlugen die Trommeln, Pfeifen und fremdartige Trompeten stöhnten und kreischten. Die Reiter stiegen ab, nur im Aufblitzen immer wieder sichtbar, und gingen die letzten Schritte bis zum Tor zu Fuß.

Mit schrecklicher Langsamkeit griff der Anführer nach seinem Kapuzenmantel und öffnete ihn. Ein tiefrotes Licht schien daraus hervorzustrahlen. Als er sich den Mantel herunterriß, war es, als drehe er selbst sein Inneres nach außen: Plötzlich war da nur noch Formlosigkeit und schwelendrote Lohe. Die vier anderen taten es ihm nach. Fünf Wesen mit wechselnden, flackernden Umrissen wuchsen empor und standen enthüllt – größer als vorher, jeder von doppelter Mannshöhe, gesichtslos, wogend wie brennende Purpurseide.

Im augenlosen Gesicht des Anführers öffnete sich ein schwarzer Mund; er streckte die Arme nach dem Tor aus und legte die Flammenhände darauf.

»TOD!« schrie er, und es war, als erschüttere seine Stimme die Mauern bis in ihre Grundfesten. Die eisernen Angeln begannen in stumpfem Orange zu glühen.

»Hei ma'akajao'zha!« Die massiven Bohlen verfärbten sich schwarz und rauchten. Josua, den betäubten Deornoth heftig am Arm zerrend, sprang auf die Mauerkrone hinunter.

»T'si anh pra INELUKI!«

Schreiend rannten die Soldaten des Prinzen durch die Treppenhäuser nach unten. Es gab eine Explosion von Licht, ein ohrenbetäubendes Krachen, lauter als Trommeln oder Donner. Das mächtige Tor zerbarst zu dampfenden, funkelnden Splittern, und ein tödlicher Scherbenregen zischte herab. Auf beiden Seiten brach die Mauer zusammen und zerschmetterte Menschen, die zu fliehen versuchten.

In die noch rauchende Mauerlücke sprangen gepanzerte Nornen. Manche trugen lange Rohre aus Holz oder Knochen, die sie an einem Ende mit brennenden Fackeln anzündeten. Schreckliche Feuergarben schossen aus diesen Rohren und verwandelten fliehende Soldaten in taumelnde, schreiende Fackeln. Durch die Trümmer drängten sich riesige Gestalten, die Hunen, in den zottigen Fäusten lange, eisenbeschlagene Keulen. Wie tollwütige Bären brüllend, zerschmetterten sie, was ihnen im Weg stand. Zerschlagene Körper stoben wie Kegel nach allen Seiten auseinander.

Es gab Soldaten, die tapfer der würgenden Furcht Widerstand leisteten und den Kampf aufnahmen. Ein Riese fiel, zwei Speere in den Gedärmen, aber gleich darauf waren auch die Speerwerfer tot, von weißgefiederten Pfeilen durchbohrt. Wie Maden quollen die bleichen Nornen durch den qualmenden Mauerdurchbruch, schreiend und rufend.

Deornoth zog den stolpernden Josua nach der inneren Burg. Das rußgeschwärzte Gesicht des Prinzen war naß von Tränen und Blut.

»Elias hat Drachenzähne gesät«, würgte Josua hervor, während ihn Deornoth an einem röchelnden Soldaten vorbeizerrte. Deornoth glaubte den jungen Ostrael zu erkennen, der bei der Unterredung mit dem König für sie Posten gestanden hatte, begraben unter einem Dutzend sich windender schwarzer Bukken. »Mein Bruder hat die Saat für den Tod aller Menschen gelegt!« tobte Josua. »Er ist wahnsinnig!«

Noch bevor Deornoth antworten konnte – und welche Antwort, fragte er sich sekundenlang, hätte er schon geben können –, bogen zwei Nornenkrieger, in den Helmschlitzen ein feuriges Glühen, um die Ecke der inneren Burg. Sie schleppten ein schreiendes Mädchen hinter sich her. Als sie Deornoth sahen, zischte der eine etwas, führte das dunkle, schlanke Schwert nach unten und zog dem Mädchen die Klinge durch die Kehle. Zuckend brach sie zusammen.

Deornoth fühlte, wie ihm die Galle hochstieg, als er mit erhobenem Schwert vorwärtsstürzte. Der Prinz war noch schneller. Naidel zuckte grell wie der Blitz, der den schwarzen Himmel ätzte – Nachmittag, es war erst Nachmittag!

Das ist also die Stunde, dachte Deornoth wild. Stahl prallte hart auf poliertes Hexenholz. Es muß Ehre dabei sein. Ein verzweifelter Gedanke. Auch wenn es niemand sieht … Gott sieht es …

Die weißen Gesichter, verhaßt und haßerfüllt, verschwammen vor seinen Augen, in denen der Schweiß brannte.


Kein Höllentraum, kein Holzschnitt in seinen vielen Büchern, keine Warnung seiner sämtlichen ädonitischen Lehrer hatten Vater Strangyeard auf das heulende Inferno vorbereiten können, zu dem Naglimund geworden war. Blitze zischten über den Himmel, Donner brüllte, und die Stimmen von Mördern und Opfern stiegen gemeinsam in die Lüfte wie das Gestammel der Verdammten. Trotz Wind und peitschendem Regen sprangen überall in der Dunkelheit Feuer auf und töteten viele, die hinter dicken Türen Zuflucht vor dem Wahnsinn draußen zu finden gehofft hatten.

Während er durch die Schatten der inneren Gänge hinkte, sah der Archivar, wie Nornen durch die zerstörten Fenster in die Kapelle stiegen, und mußte hilflos mitansehen, wie sie den unseligen Bruder Eglaf abschlachteten, der im Gebet vor dem Altar kniete. Strangyeard brachte es ebenso wenig über sich, dazubleiben und das Grauen auf sich zukommen zu sehen, wie er es schaffte, einem Bruder in Gott zu Hilfe zu eilen. Tränenblind schlich er sich hinaus, das Herz in der Brust schwer wie Blei, und steuerte auf die innere Burg und die Gemächer des Prinzen zu.

Versteckt in der schwarzen Tiefe einer Hecke wurde er Zeuge, wie der standhafte Ethelbert von Tinsett und zwei seiner Wachen von der Keule eines grölenden Riesen zu rotem Brei zermalmt wurden. Zitternd beobachtete er, wie Eadgram, der Oberste der Wachen, aufrechtstehend verblutete, von quäkenden Gräbern überrannt.

Er sah, wie ein anderer zottiger Hune eine Hofdame in Stücke riß, während daneben eine Frau auf der Erde kauerte, das Gesicht leer und wahnsinnig.

Überall in der zerstörten Feste fanden diese Tragödien ein tausendfaches Echo; es war ein Alptraum, der kein Ende zu haben schien.

Weinend betete Strangyeard zu Usires. Einerseits überzeugt, daß Gott das Gesicht von Naglimunds Todeskampf abgewandt hatte, andererseits aus verzweifeltem, leidenschaftlichem Instinkt betend, stolperte er zum Vordereingang der inneren Burg. Dort standen inmitten wild umherliegender Leichen zwei versengte, helmlose Ritter und zeigten wie gehetzte Tiere das Weiß ihrer Augen. Es dauerte eine ganze Weile, bis der Archivar Deornoth und den Prinzen erkannte, und einen weiteren, herzlähmenden Augenblick, bis er sie dazu überredet hatte, mit ihm zu kommen.

In den labyrinthischen Gängen des Wohnflügels war es ruhiger. Zwar waren auch hier die Nornen eingedrungen; ein paar Leichen lagen zusammengekrümmt an den Wänden oder ausgestreckt auf den Steinfliesen. Aber die meisten Menschen waren in die Kapelle und den Speisesaal geflohen, und die Nornen hatten sich nicht damit aufgehalten, nach einzelnen zu suchen. Das würde später kommen.

Auf Josuas befehlenden Ruf hin entriegelte Isorn die Tür. Isgrimnurs Sohn bewachte mit Einskaldir und einer Handvoll erkynländischer und Rimmersgard-Soldaten die Herrin Vara und die Herzogin Gutrun. Auch ein paar von den Höflingen hatten hier Zuflucht gesucht, unter ihnen Strupp und der Harfner Sangfugol.

Während der Prinz sich kalt aus Varas tränenreicher Umarmung löste, fand Strangyeard auf einem Lager in der Ecke Jarnauga, um dessen Kopf ungeschickt ein blutgetränkter Verband gewickelt war.

»Das Dach der Bibliothek ist eingestürzt«, erklärte der alte Mann mit bitterem Lächeln. »Ich fürchte, die Flammen haben alles vernichtet.«

Für Vater Strangyeard war das in gewisser Weise der härteste Schlag von allen. Von neuem brach er in Schluchzen aus, und die Tränen liefen ihm sogar unter der Augenklappe hervor.

»Schlimmer … es hätte schlimmer sein können«, schluckte er endlich. »Auch du hättest dahingerafft werden können, mein Freund.«

Jarnauga schüttelte den weißen Kopf und zuckte zusammen. »Nein. Noch nicht. Aber bald. Doch etwas habe ich gerettet.« Aus seinen Kleidern zog er die zerknitterten Pergamente mit Morgenes' Handschrift; das oberste Blatt war blutverschmiert.

»Bring es in Sicherheit. Ich hoffe, daß es noch nützlich sein wird.«

Strangyeard nahm das Bündel vorsichtig entgegen, band es mit einer Schnur von Josuas Tisch zusammen und ließ es in die Innentasche seiner Kutte gleiten. »Kannst du stehen?« fragte er Jarnauga.

Der alte Mann nickte behutsam, und der Priester half ihm auf.

»Prinz Josua«, begann Strangyeard und hielt Jarnaugas Ellenbogen fest. »Mir ist etwas eingefallen.«

Der Prinz, in seiner dringenden Beratung mit Deornoth und den anderen unterbrochen, musterte den Archivar ungeduldig.

»Was denn?« Durch die versengten Augenbrauen schien Josuas Stirn weiter denn je hervorzutreten, ein bleicher, gewölbter Mond unter dem kurzgeschorenen Haar. »Soll ich dir vielleicht eine neue Bibliothek bauen?« Draußen wuchs der Tumult. Der Prinz lehnte sich erschöpft gegen die Wand. »Es tut mir leid, Strangyeard. Das war eine dumme Bemerkung. Was ist dir eingefallen?«

»Es gibt einen Weg ins Freie.«

Mehrere schmutzige, verzweifelte Gesichter fuhren herum.

»Was?« fragte Josua und beugte sich gespannt vor. »Sollen wir zum Tor hinausmarschieren? Ich höre, daß man es für uns geöffnet hat.«

Strangyeards Bewußtsein der Dringlichkeit gab ihm die Kraft, den Blick des Prinzen auszuhalten. »Es gibt einen verborgenen Gang, der aus dem Wachraum hinaus und zum Osttor führt«, erklärte er. »Ich sollte es wissen – Ihr habt mich bei den Vorbereitungen für die Belagerung monatelang Dendinis' Pläne der Burg anstarren lassen.« Er dachte an die unersetzlichen Rollen brauner Pergamente, in verblaßter Tinte mit Dendinis' sorgfältigen Notizen bedeckt, jetzt Asche, verkohlt in den Trümmern der Bibliothek. Er kämpfte neue Tränen nieder. »Wenn … wenn wir es bis d-dorthin schaffen, können wir vielleicht über die Steige in die Weldhelmberge fliehen.«

»Und danach?« erkundigte sich Strupp verdrossen. »In den Bergen verhungern? Im Altherzwald von Wölfen aufgefressen werden?«

»Möchtest du vielleicht lieber gleich gefressen werden, und zwar von weniger angenehmen Geschöpfen?« fauchte Deornoth ihn an. Die Worte des Priesters hatten sein Herz schneller schlagen lassen. Die Rückkehr einer schwachen Hoffnung war fast allzu schmerzlich, aber er würde alles in Kauf nehmen, um seinen Prinzen in Sicherheit zu bringen.

»Wir werden uns den Weg freikämpfen müssen«, sagte Isorn. »Ich kann schon hören, wie sich die Nornen im Wohnflügel verteilen. Wir haben Frauen und einige Kinder unter uns.«

Josuas Blick fiel auf fast zwanzig müde, verängstigte Gesichter im Raum.

»Besser draußen zu sterben, als hier lebendig verbrannt zu werden, meine ich«, erklärte er und hob die Hand in einer Gebärde des Segens oder der Selbstaufgabe. »Beeilen wir uns.«

»Noch eines, Prinz Josua«, meldete sich Strangyeard noch einmal zu Wort, während er dem sich mühsam fortschleppenden Jarnauga behilflich war. »Wenn wir das Tunneltor erreichen, müssen wir noch mit einer weiteren Schwierigkeit fertig werden. Der Gang ist zur Verteidigung, nicht zur Flucht gebaut worden. Man kann ihn von innen ebenso leicht öffnen wie schließen.«

Josua wischte sich Asche von der Stirn. »Du willst sagen, daß wir einen Weg finden müssen, ihn hinter uns zu versperren?«

»Wenn wir überhaupt eine Hoffnung auf Flucht haben wollen, ja!«

Der Prinz seufzte. Aus einer Schnittwunde an der Lippe tropfte Blut auf sein Kinn. »Wir wollen erst einmal bis zu diesem Tor kommen. Danach können wir tun, was erforderlich ist.«

Sie stürmten alle auf einmal aus der Tür, zur Verblüffung zweier auf dem Korridor wartender Nornen. Dem vorderen spaltetete Einskaldir krachend mit der Axt den Helm, daß im dämmrigen Gang die Funken stoben. Bevor der andere mehr tun konnte, als das kurze Schwert zu heben, war er zwischen Isorn und einem der Wachsoldaten von Naglimund aufgespießt. Deornoth und der Prinz führten die Hofleute hastig weiter.

Der Schlachtenlärm war weitgehend verstummt. Nur ab und zu hallte ein Schmerzensschrei oder aufsteigender Triumphgesang durch die leeren Flure. Rauch, der in die Augen biß, leckende Flammen und die Spottlieder der Nornen ließen den Wohnflügel wie eine furchtbare Unterwelt, ein Labyrinth am Rande des Großen Abgrundes erscheinen.

In den verwüsteten Ruinen des Schloßgartens fielen schnatternde Gräber über sie her. Einer der Soldaten brach, ein zackiges Bukkenmesser im Rücken, tot zusammen, und noch während der Rest der Flüchtlinge die anderen abwehrte, wurde eine von Varas Dienerinnen kreischend in einen Spalt der schwarzen Erde gezerrt. Deornoth sprang vor, um sie zu retten, und durchbohrte einen sich windenden, pfeifenden, schwarzen Körper mit seiner Schwertspitze; aber er kam zu spät. Nur ihr zierlicher Pantoffel, der im regennassen Schlamm lag, zeigte noch, daß sie überhaupt je existiert hatte.

Zwei der gewaltigen Hunen hatten die Weinkeller entdeckt und prügelten sich vor dem Wachhaus der inneren Burg betrunken um das letzte Faß. Brüllend vor Wut, gingen sie immer wieder mit Keulen und Klauen aufeinander los. Der Arm des einen Riesen hing schlaff herunter, und der andere hatte eine so fürchterliche Kopfwunde davongetragen, daß sein Gesicht wie ein blutiges Laken aussah. Trotzdem hackten sie weiter aufeinander ein und fauchten sich inmitten des Trümmerhaufens aus zerbrochenen Fässern und zerschmetterten Leichnamen der Verteidiger von Naglimund in ihrer unverständlichen Sprache an.

Josua und Strangyeard duckten sich am Rand der Gärten in den Schlamm und spähten durch den strömenden Regen hinüber.

»Die Tür zum Wachraum ist zu«, sagte Josua. »Vielleicht schaffen wir es über den offenen Hof, aber wenn sie von innen verriegelt ist, bedeutet das unser Ende. Wir können sie nie so schnell aufbrechen.«

Strangyeard zitterte. »Und selbst wenn … dann könnten wir sie nicht mehr hinter uns zuschließen.«

Josua sah auf Deornoth, der gar nichts sagte.

»Trotzdem«, zischte der Prinz, »wir müssen es versuchen. Wir haben keine Wahl.«

Als sie ihren kleinen Trupp formiert hatten, rannten sie in stolpernder Hast los. Die beiden Hunen, von denen sich der eine mit den riesigen Zähnen in die Kehle des anderen verbissen hatte, wälzten sich am Boden, in tobendem Kampf ineinander verkrallt wie Götter aus urweltlicher Vorzeit. Ohne die vorüberhuschenden Menschen zu bemerken, streckte einer von ihnen in einem Anfall krampfartigen Schmerzes jäh ein gewaltiges Bein aus und traf den Harfner Sangfugol, der der Länge nach hinschlug. Sofort machten Isorn und der alte Strupp kehrt und halfen ihm auf. Von der anderen Seite des Hofes ertönte ein schriller, erregter Schrei. Ein Dutzend Nornen, davon zwei auf hohen weißen Rossen, fuhr auf den Ruf ihres Kameraden herum. Als sie die Schar des Prinzen bemerkten, erhoben sie ein lautes Geschrei. Die beiden Berittenen spornten die Pferde zum Galopp, vorbei an den mittlerweile bewußtlosen Riesen.

Josua erreichte die Tür und zog. Sie sprang auf, aber noch während die entsetzten Flüchtlinge ins Innere drängten, war der erste Reiter bei ihnen, auf dem Kopf einen hohen Helm, den langen Speer in der Hand.

Mit einem Knurren wie ein in die Enge getriebener Hund stürzte sich der schwarzbärtige Einskaldir auf ihn. Er duckte sich unter dem schlangenartigen Vorstoß der Lanze, sprang in die Höhe und warf sich gegen die Seite des Angreifers. Mit der Hand packte er dessen wehenden Mantel, zog, stürzte herunter und nahm seinen Feind mit sich. Das reiterlose Pferd rutschte auf dem nassen Steinpflaster. Einskaldir kniete über dem Gefallenen und ließ hart die Axt hinabsausen, einmal, zweimal. Blind für seine gesamte Umgebung, wäre er sicher vom Speer des zweiten Nornenreiters durchbohrt worden, hätte nicht Deornoth den Deckel eines zerbrochenen Fasses hochgewuchtet und geschleudert. Er traf und warf den Reiter vom Pferd.

Die heulenden Fußtruppen hatten sie fast erreicht, als Deornoth den schäumenden Einskaldir von dem zerhackten Leichnam des Nornen wegriß. Knapp vor den Angreifern hasteten sie durch die Tür, die Isorn und zwei andere Flüchtlinge hinter ihnen krachend zufallen ließen. Speere donnerten gegen das dicke Holz; gleich darauf rief einer der Nornen mit hoher, schnalzender Stimme.

»Äxte!« sagte Jarnauga. »Soviel verstehe ich von der Sprache der Hikeda'ya. Sie holen Äxte.«

»Strangyeard!« schrie Josua. »Wo ist der verdammte Gang?«

»Er ist … es ist so dunkel«, antwortete der Priester mit zitternder Stimme. In der Tat erleuchtete nur der unstete Schein der orangefarbenen Flammen, die sich durch die Dachbalken zu fressen begannen, den Raum. Unter der niedrigen Decke sammelte sich Rauch. »Ich … ich glaube, der Gang ist auf der Südseite«, fuhr Strangyeard fort. Einskaldir und ein paar andere sprangen zur Mauer, um die schweren Wandteppiche abzureißen.

»Die Tür!« bellte Einskaldir, und gleich darauf: »Verschlossen.«

Das Schlüsselloch in der schweren Holztür war leer. Josua starrte sie an. Durch die Tür zum Hof drang krachend die Spitze einer Axtklinge. »Brecht sie auf!« befahl der Prinz. »Und ihr anderen stapelt alles, was ihr findet, vor die Außentür.«

Es dauerte nur Sekunden, bis Einskaldir und Isorn den Riegel aus dem Türpfosten herausgehackt hatten. Deornoth hielt eine unbenutzte Fackel an die glühende Decke, damit sie sich entzündete. Kaum war die Tür aus den Angeln geschlagen, waren sie schon hindurch und flohen den schrägen Gang hinauf. Wieder splitterte ein Stück aus der Tür zum Hof.


Sie rannten mehrere Achtelmeilen weit; die Stärkeren halfen den Schwächeren. Schließlich sank einer der Höflinge weinend zu Boden und konnte nicht weiter. Isorn wollte ihn aufheben, aber seine Mutter Gutrun, selbst zum Umfallen müde, hielt ihn zurück.

»Laß ihn liegen«, erklärte sie. »Er schafft es.«

Isorn sah sie scharf an und zuckte dann die Achseln. Als sie den ansteigenden Gang weiter hinaufliefen, hörten sie den Mann mühsam aufstehen, sie verwünschen und hinterherkommen.

Gerade als die Türen vor ihnen sichtbar wurden, schwarz und schwer im Schein ihrer einzigen Fackel, vom Boden des Ganges bis zur Decke aufragend, hörten sie hinter sich ihre Verfolger. Josua, der das Schlimmste befürchtete, streckte die Hand nach einem der Eisenringe aus und zog. Mit leisem Knarren schwang die Tür in ihren Angeln nach innen. »Usires sei gelobt«, sagte Vater Strangyeard.

»Bringt die Frauen und die anderen hinaus«, befahl Josua, und eine Minute später hatten zwei Soldaten alle durch den Gang und zu den mächtigen Toren hinausgeleitet.

»Jetzt ist es soweit«, erklärte Josua. »Entweder finden wir einen Weg, diese Tür zu versiegeln, oder wir müssen soviele Männer hierlassen, daß die Verfolger aufgehalten werden.«

»Ich bleibe«, brummte Einskaldir. »Ich habe heute nacht Elbenblut gekostet. Es schmeckte nach mehr.« Er klopfte auf seinen Schwertgriff.

»Nein. Es ist meine Aufgabe, und meine allein.« Jarnauga hustete und lehnte sich schwer auf Strangyeards Arm. Dann richtete er sich auf. Der lange Priester schaute den alten Mann an und begriff.

»Ich sterbe«, fuhr dieser fort. »Es war nie mein Schicksal, Naglimund wieder zu verlassen. Das wußte ich von Anfang an. Ihr braucht mir nur ein Schwert dazulassen.«

»Du bist nicht stark genug!« wandte Einskaldir fast ein wenig enttäuscht ein.

»Ich bin stark genug, um diese Tür zu schließen«, erwiderte der alte Mann sanft. »Siehst du?« Er deutete auf die riesigen Angeln. »Sie sind sehr fein gearbeitet. Sobald die Tür geschlossen ist, wird eine abgebrochene Klinge in der Angel-Spalte jedem Verfolger den Weg versperren. Geht nun.«

Der Prinz drehte sich um, als wollte er Einwendungen machen; ein klickender Schrei hallte den Gang hinauf. »Also gut«, sagte er leise. »Gott segne dich, alter Mann.«

»Unnötig«, entgegnete Jarnauga. Er zog etwas Glänzendes hervor, das er um den Hals getragen hatte, und drückte es Strangyeard in die Hand. »Seltsam, noch in letzter Stunde einen Freund zu finden.«

Die Augen des Priesters füllten sich mit Tränen, und er küßte den Rimmersmann auf die Wange.

»Mein Freund«, flüsterte er und schritt durch die offene Tür.

Das letzte, was sie von Jarnauga sahen, war sein heller Blick im Schein der Fackel, als er sich gegen die Tür stemmte. Sie schwang zu und dämpfte die Geräusche der Verfolger. Die Riegel an der Innenseite schoben sich fest an ihren Platz.


Sie stiegen eine lange Treppe hinauf und traten endlich in den windigen, regengepeitschten Abend. Der Sturm hatte nachgelassen, und als sie auf dem kahlen Hang unterhalb der bewaldeten Steige standen, konnten sie unten in den Ruinen von Naglimund Feuer flackern und schwarze, unmenschliche Gestalten um die hüpfenden Flammen tanzen sehen.

Lange stand Josua da und starrte hinunter, Regenstreifen im rußigen Gesicht. Seine kleine Schar duckte sich zitternd hinter ihn und wartete darauf, den Weg fortzusetzen.

Der Prinz hob die linke Faust.

»Elias!« schrie er, und der Wind hetzte ihm das Echo von den Lippen. »Du hast Tod und Schlimmeres über das Reich unseres Vaters gebracht! Du hast uraltes Böses geweckt und den Königsfrieden zerstört! Du hast mich heimatlos gemacht und vernichtet, was ich liebte!« Er hielt inne und kämpfte mit den Tränen. »Du bist kein König mehr! Ich werde dir die Krone entreißen. Ich werde sie mir holen, das schwöre ich dir!«

Deornoth nahm ihn beim Ellenbogen und führte ihn vom Wegrand fort. Josuas Untertanen erwarteten ihn, frierend und verängstigt, heimatlos im wilden Weldhelm. Er senkte einen Augenblick, vor Müdigkeit oder weil er betete, den Kopf, dann führte er sie hinein ins Dunkle.

XLIV Blut und die wirbelnde Welt

Das schwarze Drachenblut hatte sich über Simon ergossen und gebrannt wie Feuer. Im Augenblick der Berührung hatte er gefühlt, wie sein eigenes Leben in den Hintergrund gedrängt wurde. Die furchtbare Essenz durchdrang ihn, versengte seinen Geist und ließ nur Drachenleben übrig. Es war, als sei er selber – in jenem schwindenden Augenblick, bevor sich das Dunkel über ihn senkte – zum geheimen Herzen des Lindwurmes geworden.

Igjarjuks schwelend langsames und kompliziertes Leben nahm ihn gefangen. Er wuchs. Er veränderte sich, und die Verwandlung war schmerzhaft wie Tod und Geburt.

Seine Knochen wurden schwer, fest wie Stein und zugleich reptilienhaft biegsam. Seine Haut verhärtete sich zu Juwelenschuppen, und er fühlte Pelz über seinen Rücken gleiten wie ein Panzerhemd aus Diamanten.

Machtvoll strömte das Herzblut des Drachen in seiner Brust, gewichtig wie die Bahn eines dunklen Sternes in der leeren Nacht, stark und heiß wie die Schmiedefeuer der Erde selbst. Seine Klauen gruben sich in die steinerne Haut der Welt, und sein uraltes Herz pochte … und pochte … und pochte … Er nahm zu an spröder, uralter Klugheit des Drachenvolkes, fühlte als erstes die Geburt seiner Rasse in den Kleinkindertagen der Erde, dann die Last unzählbarer Jahre, die ihn niederdrückte, dunkler Jahrtausende, die an ihm vorbeirauschten wie schäumende Wasser. Er gehörte einer der ältesten aller Rassen an, war einer der Erstgeborenen der abkühlenden Erde, und doch lag er zusammengerollt unter der Oberfläche der Welt wie der winzigste Wurm unter der Schale eines Apfels…

Das alte schwarze Blut durchbrauste ihn. Immer noch wuchs er und erkannte und benannte alle Dinge auf der wirbelnden Welt. Ihre Haut, die Haut der Erde, wurde seine eigene – die wimmelnde Oberfläche, auf der alles Lebende geboren wurde, wo es kämpfte und unterlag, sich schließlich ergab, um wieder ein Teil von ihm zu werden. Ihre Knochen waren seine Knochen, die Felssäulen, auf denen alles ruhte und durch die er jedes Beben atmenden Lebens fühlte.

Er war Simon. Und doch auch die Schlange. Und trotzdem auch die Erde selbst in ihrer Unendlichkeit und jeder Einzelheit. Und immer noch wuchs er und spürte im Wachsen, wie ihm sein sterbliches Leben entglitt…

In der jähen Einsamkeit seiner Majestät fürchtete er, alles zu verlieren, und er griff nach denen, die er gekannt hatte, um sie zu berühren. Er konnte ihr warmes Leben fühlen, sie spüren wie Funken in einer gewaltigen, windigen Schwärze. So viele Leben – so wichtig, so klein…

Er sah Rachel – gebückt, alt. Sie saß in einem leeren Zimmer auf einem Schemel, den grauen Kopf in den Händen. Wann war sie so klein geworden? Vor ihren Füßen lag ein Besen, daneben ein säuberliches Staubhäufchen. Der Raum in der Burg wurde schnell dunkler.

Prinz Josua stand auf einem Berghang und schaute hinab. Ein schwaches, flammendrotes Licht färbte sein grimmiges Gesicht. Er konnte Josuas Zweifel und Schmerz erkennen; er wollte ihn berühren und trösten, aber er durfte diese Leben nur sehen, nicht anfassen.

Ein kleiner, brauner Mann, den er nicht kannte, stakte sein Flachboot einen Fluß hinauf. Große Bäume ließen ihre Äste ins Wasser hängen, Wolken von Mücken schwebten in der Luft. Der kleine Mann strich schützend über ein Pergamentbündel, das in seinem Gürtel steckte. Eine Brise fächelte die herabhängenden Zweige, und der kleine Mann lächelte dankbar.

Ein großer Mann – Isgrimnur? Aber wo war sein Bart? – ging auf einem von Wind und Wetter verzogenen Landungssteg auf und ab und starrte auf den sich verfinsternden Himmel und den windgepeitschten Ozean hinaus.

Ein schöner Greis, das lange, weiße Haar wirr, saß da und spielte mit einem Rudel halbnackter Kinder. Seine blauen Augen blickten mild und fern, von Lachfältchen umgeben.

Miriamel, mit kurzgeschnittenen Haaren, schaute von der Reling eines Schiffes nach den dichten Wolken, die sich am Horizont auftürmten. Über ihrem Kopf knatterten und wogten die Segel. Er wollte ihr länger zusehen, aber die Erscheinung wirbelte davon wie ein fallendes Blatt.

Eine hochgewachsene Hernystiri, schwarz gekleidet, kniete in einem Hain aus schlanken Birken vor zwei Steinhaufen, hoch am Hang eines vom Wind verwehten Berges.

König Elias starrte mit rotgeränderten Augen in einen Weinbecher. Leid lag auf seinen Knien. Das graue Schwert war ein wildes Tier, das so tat, als schliefe es…

Plötzlich stand Morgenes vor ihm, flammengekrönt, und sein Anblick durchbohrte selbst Simons Drachenherz mit einem Speer aus eisigem Schmerz. Der alte Mann hielt ein riesengroßes Buch in der Hand, und seine Lippen bewegten sich in qualvoll stummen Schreien, als riefe er eine Warnung … hüte dich vor dem falschen Boten … hüte dich …

Die Gesichter glitten davon, bis auf einen letzten Geist.

Ein Junge, dünn und tolpatschig, suchte sich einen Weg durch dunkle unterirdische Tunnel. Er weinte und kroch durch das Labyrinth wie ein gefangenes Insekt. Jede Einzelheit, jede Drehung und Windung rollte sich mühsam vor seinen Augen ab.

Der Junge stand auf einem Berghang unter dem Mond und starrte voller Grauen auf weißgesichtige Gestalten und ein graues Schwert, aber eine dunkle Wolke hüllte den Knaben in ihren Schatten.

Derselbe Junge, etwas älter, stand vor einem hohen weißen Turm. Von seinem Finger blitzte ein goldenes Licht, obgleich der Junge selbst in tiefem, immer dunkler werdendem Schatten stand. Glocken läuteten, und das Dach ging in Flammen auf…


Auch ihn umgab jetzt Finsternis, zog ihn fort zu anderen, unheimlicheren Orten – aber er wollte nicht dorthin. Nicht ehe ihm der Name dieses Kindes wieder einfiel, dieses tolpatschigen Jungen, der von nichts eine Ahnung hatte. Er wollte nicht fort; er wollte sich erinnern…

Der Name des Jungen war … der Name des Jungen war … Simon!

Simon.

Und dann verschwamm alles vor seinen Augen.


»Seoman«, sagte die Stimme, jetzt ganz laut; er begriff, daß sie ihn schon eine ganze Weile so rief.

Er schlug die Augen auf. Die Farben waren so intensiv, daß er die Lider sofort wieder schloß. Wirbelnde Räder in Silber und Rot tanzten vor der Dunkelheit seiner geschlossenen Augen.

»Komm, Seoman, komm zurück zu deinen Kameraden. Wir brauchen dich hier.«

Er hob die Lider halb, um sich an das Licht zu gewöhnen. Jetzt waren alle Farben weg – es gab nur noch Weiß. Er stöhnte, versuchte sich zu bewegen und merkte, daß er unendlich schwach war, als liege eine schwere Last auf ihm und drücke ihn nieder; gleichzeitig kam er sich so durchsichtig und zerbrechlich vor, als wäre er aus reinem Glas gesponnen. Selbst bei geschlossenen Augen war ihm, als spüre er Licht, das ihn durchdrang und mit einem Glanz erfüllte, der keine Wärme mitbrachte.

Ein Schatten streifte sein empfindliches Gesicht, als besäße er greifbares Gewicht. Etwas Nasses und Kaltes berührte seine Lippen. Er schluckte, empfand jähen Schmerz, hustete und trank noch einmal. Ihm war, als schmecke er jeden Ort, an dem das Wasser je gewesen war – den eisigen Gipfel, die geschwollene Regenwolke, den steinigen Wasserlauf im Gebirge.

Er öffnete die Augen weiter. Es war wirklich alles überwältigend weiß, ausgenommen Jirikis goldenes Gesicht, das sich über ihn beugte. Er lag in einer Höhle, deren Wände bis auf Spuren von dünnen Linien weiß von Asche waren; Pelze, Holzschnitzereien und verzierte Gefäße waren an den Seiten auf dem Steinboden aufgeschichtet. Simons schwere Hände, taub und doch seltsam feinfühlig, umklammerten die Pelzdecke und betasteten schwach das hölzerne Lager, auf dem er ruhte. Wie …?

»Ich…« Er hustete erneut.

»Dir tut alles weh, und du bist müde. Das war zu erwarten.« Der Sitha runzelte die Stirn, ohne daß seine leuchtenden Augen ihren Ausdruck änderten. »Du hast etwas ganz Furchtbares getan, Seoman, weißt du das? Du hast mir zum zweiten Mal das Leben gerettet.«

»Hmmm.« Sein Kopf reagierte so langsam wie seine Muskeln. Was war eigentlich geschehen? Da war der Berg gewesen … die Höhle … und der …

»Der Drache!« sagte Simon, verschluckte sich und versuchte sich aufzurichten. Die Pelzdecke rutschte zur Seite, und er merkte erst jetzt, wie kalt der Raum war. Unter einem Stück Leder am anderen Ende sickerte Licht herein. Ein plötzlicher Schwindel überkam ihn und machte ihn schlaff. Kopf und Gesicht pochten. Er sank zurück.

»Fort«, antwortete Jiriki kurz. »Ich weiß nicht, ob tot oder nicht, aber er ist fort. Als du zuschlugst, taumelte er an dir vorbei und stürzte in den Abgrund. Im Schnee und Eis der großen Tiefen konnte ich nicht sehen, wohin er fiel. Du hast das Schwert Dorn geschwungen wie ein wahrer Krieger, Seoman Schneelocke.«

»Ich…« Er holte unsicher Atem und versuchte es noch einmal. Das Sprechen verursachte ihm Schmerzen im Gesicht. »Ich glaube nicht … daß ich das war. Dorn … hat mich benutzt. Es wollte gerettet werden … glaube ich. Das mag töricht klingen, aber…«

»Nein. Ich denke, daß du recht haben könntest. Schau dort.« Jiriki deutete nach der wenige Fuß entfernten Höhlenwand. Auf dem Mantel des Sithi-Prinzen lag Dorn wie auf einem Kissen, schwarz und fern wie der Boden eines Brunnens. War es möglich, daß es in seiner Hand lebendig geworden war? »Es ließ sich ganz leicht hierher tragen«, fügte Jiriki hinzu, »vielleicht wollte es in diese Richtung.«

Diese Worte setzten in Simons Kopf ein langsames Gedankenrad in Bewegung.

Das Schwert wollte hierher kommen – aber was ist hier? Und wie sind wir … O Mutter Gottes, der Drache!

»Jiriki!« keuchte er. »Die anderen! Wo sind die anderen?«

Der Prinz nickte sanft. »Ach, ja. Ich hatte gehofft, ich könnte noch damit warten, aber ich sehe ein, daß es nicht geht.« Er schloß eine Sekunde die großen, hellen Augen.

»An'nai und Grimmric sind tot. Sie sind auf dem Berg Urmsheim begraben.« Er seufzte und bewegte die Hände in einer komplizierten Gebärde. »Du weißt nicht, was es bedeutet, einen Sterblichen und einen Sitha zusammen zu bestatten, Seoman. Es ist nur selten vorgekommen, und seit fünf Jahrhunderten überhaupt nicht mehr. An'nais Taten werden im Tanz der Jahre, den Analen unseres Volkes, weiterleben bis ans Ende der Welt, und so wird auch Grimmrics Name weiterleben. Sie werden auf ewig miteinander unter dem Udunbaum liegen.« Jiriki schloß die Augen und saß eine Weile schweigend da. »Die anderen … nun, sie sind alle am Leben geblieben.«

Simon fühlte, wie ihm das Herz weh tat, aber er verschob alle Gedanken an die beiden Gefallenen auf später. Er starrte an die mit Asche bemalte Decke und sah, daß die Linien dünne Zeichnungen von Riesenschlangen und Tieren mit Stoßzähnen darstellten und sich über die gesamte Decke und alle Wände zogen. Die leeren Augen der Geschöpfe machten ihn unruhig; wenn er zu lange hinschaute, schienen sie sich zu bewegen. Er wandte sich wieder dem Sitha zu.

»Wo ist Binabik?« fragte er. »Ich möchte gern mit ihm sprechen. Ich hatte einen ganz sonderbaren Traum … einen ganz sonderbaren Traum…«

Noch ehe Jiriki antworten konnte, steckte Haestan den Kopf durch den Höhleneingang. »Der König will nicht mit uns reden«, verkündete er. Dann sah er Simon. »Du bist ja wach, Junge!« krähte er. »Wunderbar!«

»Was denn für ein König?« fragte Simon verwirrt. »Doch nicht etwa Elias?«

»Nein, Junge.« Haestan schüttelte den Kopf. »Nach … nach dem, was da oben am Berg geschah, fanden uns die Trolle. Du hast ein paar Tage geschlafen. Wir sind jetzt auf dem Mintahoq – dem Trollberg.«

»Und Binabik ist bei seiner Familie?«

»Nicht ganz.« Haestan warf Jiriki einen Blick zu. Der Sitha nickte. »Binabik – und Sludig – hat der König gefangengenommen. Manche sagen sogar, zum Tode verurteilt.«

»Was? Gefangen?« fuhr Simon auf und sackte sofort wieder auf sein Lager, als sich ein schmerzhafter Reif grausam um seinen Kopf zusammenzog. »Warum?«

»Sludig, weil er ein verhaßter Rimmersmann ist«, erklärte Jiriki. »Und Binabik soll ein schreckliches Verbrechen gegen den Trollkönig begangen haben. Wir wissen noch nicht, was es ist, Seoman Schneelocke.«

Simon schüttelte verdutzt den Kopf. »Das ist Wahnsinn. Ich muß verrückt geworden sein – oder noch träumen.« Er sah vorwurfsvoll auf Jiriki. »Und weshalb nennt Ihr mich immer mit diesem Namen?«

»Warte…«, begann Haestan. Aber Jiriki achtete nicht darauf, sondern zog unter seiner Jacke den Spiegel hervor. Simon setzte sich auf und griff danach, die feine Schnitzerei des Rahmens rauh unter seinen empfindlichen Fingern. Vor der Höhle heulte der Wind, und unter dem Türvorhang wehte kalte Luft ins Innere.

War denn inzwischen die ganze Welt mit Eis bedeckt? Würde er dem Winter überhaupt nicht mehr entkommen?

Unter anderen Umständen hätte ihm der dichte, rotgoldene Bart, der jetzt überall in seinem Gesicht zu wachsen begann, große Freude gemacht; aber in diesem Augenblick sah er nur die lange Narbe, die vom Kinn die Wange hinauf und am linken Auge vorbeilief. Die Haut um sie herum war ganz blaß und sah frisch aus. Er strich darüber, zuckte zusammen und tastete dann mit den Fingern nach seiner Kopfhaut.

Eine lange Haarsträhne war so weiß geworden wie der Schnee am Urmsheim.

»Du bist gezeichnet, Seoman.« Jiriki streckte die Hand aus und berührte mit langem Finger seine Wange. »Ob zum Glück oder Unglück, du bist gezeichnet.«

Simon ließ den Spiegel sinken und vergrub das Gesicht in den Händen.

Noch sind Ineluki und seine schwarzen Scharen nicht besiegt. Viele Gefahren warten auf Simon Schneelocke, Prinz Josua Ohnehand und ihre Gefährten. Die Abenteuer in der versunkenen Wunderwelt von Osten Ard gehen weiter.

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