ERSTER TEIL Simon Mondkalb

I Grashüpfer und König

An diesem Tag aller Tage rührte sich etwas Fremdartiges tief im dämmernden Herzen des Hochhorstes, im verwirrenden Kaninchenbau der Burg mit ihren stillen Gängen und efeuüberwucherten Höfen, in den Mönchsverstecken und den feuchten, schattendunklen Kammern. Höflinge und Dienerschaft, sie alle rissen die Augen auf und flüsterten, Küchenjungen tauschten über den Waschwannen bedeutungsvolle Blicke. In allen Gängen und Torhöfen der gewaltigen Feste schienen sich Menschen mit gedämpfter Stimme zu unterhalten.

Der allgemeinen Stimmung atemloser Erwartung nach hätte es der erste Frühlingstag sein können, aber der große Kalender in Doktor Morgenes' vollgestopftem Zimmer zeigte etwas anderes: Man befand sich erst im Monat Novander. Der Herbst hielt die Tür auf, und langsam wanderte der Winter herein.

Was diesen Tag von allen anderen unterschied, war nicht die Jahreszeit, sondern ein Ort: der Thronsaal auf dem Hochhorst. Drei lange Jahre waren seine Pforten auf Befehl des Königs geschlossen gewesen, die buntfarbigen Fenster von schweren Vorhängen verhüllt. Nicht einmal die mit der Hausreinigung betraute Dienerschaft hatte die Schwelle übertreten dürfen, was der obersten Kammerfrau unendliche persönliche Qualen bereitet hatte. Drei Sommer und drei Winter war der Saal ungestört geblieben. Jetzt stand er nicht mehr leer, und die ganze Burg summte von Gerüchten.

Um die Wahrheit zu sagen, es gab einen Menschen im geschäftigen Hochhorst, einen zumindest, der nicht seine ganze Aufmerksamkeit auf jenen lange unbewohnten Raum gerichtet hatte, eine Biene im murmelnden Stock, deren einsames Lied nicht zur Tonart des größeren Gesumms paßte. Dieser eine hockte im Herzen des Heckengartens in einer Nische zwischen dem stumpfroten Stein der Kapelle und der Flanke eines zum Skelett entlaubten Heckenlöwen und glaubte, niemand werde ihn vermissen. Der Tag war bisher recht unerfreulich verlaufen – die Frauen steckten alle mitten in ihrer Arbeit und hatten wenig Zeit, Fragen zu beantworten, es hatte zu spät Frühstück gegeben, und kalt war es auch noch gewesen. Wie gewöhnlich hatte man ihm verwirrende Anordnungen erteilt, und niemand hatte auch nur ein bißchen Zeit auf seine Probleme verwendet …

Das war, dachte er mürrisch, ja auch nicht anders zu erwarten. Wenn er nicht diesen riesigen, prachtvollen Käfer entdeckt hätte – der da durch den Garten gekrochen war, selbstzufrieden wie ein erfolgreicher Dorfbewohner –, wäre der ganze Nachmittag eine einzige Zeitvergeudung gewesen.

Mit einem Zweig verbreiterte er die winzige Straße, die er in die dunkle, kalte Erde an der Mauer gekratzt hatte, aber trotzdem wollte der Gefangene nicht vorwärtslaufen. Vorsichtig kitzelte er den glänzenden Panzer, aber der dickköpfige Käfer rührte sich nicht. Der Junge runzelte die Stirn und sog an der Oberlippe.

»Simon! Wo im Namen der heiligen Schöpfung steckst du da!« Der Zweig entsank seinen kraftlosen Fingern, als hätte ihm ein Pfeil das Herz durchbohrt. Langsam drehte er sich zu der Gestalt um, die hinter ihm aufragte.

»Nirgendwo…«, wollte Simon sagen, aber noch während das Wort dem Mund entfloh, packte ihn ein knochiges Fingerpaar am Ohr und zerrte ihn ruckartig auf die Füße. Vor Schmerz jaulte er auf.

»Komm mir nicht mit ›nirgendwo‹, junger Strolch«, bellte ihm Rachel der Drache, die Oberste der Kammerfrauen, mitten ins Gesicht – eine Höhengleichheit, die nur dadurch erzielt wurde, daß Rachel auf den Zehenspitzen stand und der Junge von Natur aus zu schlechter Haltung neigte; denn Rachel fehlte fast ein Fuß an Simons Länge.

»Ja, Herrin, es tut mir leid, tut mir leid«, murmelte Simon und bemerkte betrübt, daß der Käfer auf einen Spalt in der Mauer der Kapelle und damit auf seine Freiheit zusteuerte.

»Mit ›tut mir leid‹ kommst du auf die Dauer auch nicht durch«, knurrte Rachel. »Jedermann im ganzen Haus rackert sich ab, damit alles bereit ist, nur du nicht! Und als ob das nicht schlimm genug wäre, muß ich auch noch meine kostbare Zeit verschwenden, um dich zu suchen! Wie kannst du so ein unartiger Junge sein, Simon, wenn du dich doch längst wie ein Mann benehmen solltest? Wie kannst du nur?«

Der Junge, vierzehn schlaksige Jahre alt und in peinlichster Verlegenheit, antwortete nicht. Rachel starrte ihn an. Traurig genug, dachte sie, dieses rote Haar und die Pickel, aber wenn er dann noch so nach oben schielt und eine Flunsch zieht, sieht er ja geradezu schwachsinnig aus!

Simon, seinerseits seine Ergreiferin anglotzend, sah, daß Rachel schwer atmete und kleine Dampfwölkchen in die Novanderluft pustete. Außerdem zitterte sie, wenn Simon auch nicht sagen konnte, ob vor Kälte oder vor Zorn. Es kam eigentlich auch nicht darauf an, so oder so machte es alles noch schlimmer für ihn.

Sie wartet immer noch auf eine Antwort – wie müde und verärgert sie aussieht! Er ließ die Schultern noch deutlicher hängen und warf finstere Blicke auf die eigenen Füße.

»Na, dann komm eben so mit. Der gute Gott weiß, daß ich genug Arbeit habe, um einen faulen Burschen damit in Trab zu halten. Weißt du nicht, daß der König vom Krankenbett aufgestanden und heute in seinen Thronsaal gegangen ist? Bist du denn taub und blind?« Sie packte ihn am Ellenbogen und schob ihn vor sich her durch den Garten.

»Der König? König Johan?« fragte Simon überrascht.

»Nein, du unwissender Knabe, König Wer-weiß-was! Natürlich König Johan!« Rachel blieb auf dem Absatz stehen, um eine dünne Strähne schlaffes, stahlgraues Haar unter die Haube zurückzuschieben. Ihre Hand bebte.

»So, hoffentlich bist du nun glücklich«, sagte sie endlich. »Du hast mich so durcheinandergebracht und aufgeregt, daß ich es geschafft habe, respektlos mit dem Namen unseres guten, alten Königs Johan umzugehen. Und das, wo er so krank ist, und überhaupt.« Sie schniefte laut, beugte sich dann vor und versetzte Simon einen schmerzhaften Klaps auf die dicke Stelle seines Arms. »Komm du nur mit.«

Sie stapfte weiter, den nichtsnutzigen Jungen im Schlepptau.

Simon hatte nie ein anderes Zuhause gekannt als die alterslose Burg mit dem Namen Hochhorst, was soviel bedeutete wie Hohe Feste. Sie trug den Namen zu Recht: Der Grünengel-Turm, ihr höchster Punkt, ragte weit über die ältesten und höchsten Bäume hinaus. Hätte der Engel selbst, der auf der Turmspitze stand, einen Stein aus der grünspanigen Hand fallen lassen, wäre dieser Stein fast zweihundert Ellen in die Tiefe gestürzt, bevor er in den brackigen Burggraben gefallen wäre und dort den Schlaf der gewaltigen Hechte gestört hätte, die dicht über dem jahrhundertealten Schlamm dahintauchten.

Der Hochhorst war weit älter als sämtliche Generationen erkynländischer Bauern, die in den Dörfern und auf den Feldern rund um die große Festung geboren wurden, gearbeitet hatten und gestorben waren. Die Erkynländer waren lediglich die bisher letzten, die Anspruch auf die Burg erhoben – viele andere vor ihnen hatten sie ihr eigen genannt, auch wenn sie niemandem je wirklich ganz gehört hatte. Die Außenmauer um das weitläufige Festungsgelände zeigte das Werk unterschiedlicher Hände und Zeitalter: den rohbehauenen Fels und die groben Balken der Rimmersmänner, das wahllose Flickwerk und die fremdartigen Steinmetzarbeiten der Hernystiri, ja sogar die übersorgfältige Mauerkunst der Handwerker aus Nabban. Alles jedoch überragte der Grünengel-Turm, den die unsterblichen Sithi errichtet hatten, bevor die Menschen ins Land kamen, damals, als sie über ganz Osten Ard herrschten. Die Sithi hatten als erste hier gebaut und ihre vorzeitliche Feste auf der Landzunge gegründet, die über den Kynslagh und die Wasserstraße zum Meer hinausblickte. Asu'a hatten sie ihre Burg genannt; wenn es einen wirklichen Namen hatte, dieses Haus so vieler Herren, dann lautete er Asu'a.

Das Schöne Volk war längst aus den grasigen Ebenen und dem wogenden Hügelland verschwunden, zumeist in die Wälder und zerklüfteten Berge geflohen oder an andere, für Menschen unbewohnbare Stätten. Das Gerippe der Burg, ein Heim für die Räuber der Macht, blieb zurück. Asu'a – der Widerspruch: stolz und schäbig zugleich, festlich und abweisend, scheinbar unberührt vom Wechsel seiner Bewohner. Asu'a – der Hochhorst: Wie ein Gebirge ragte er massig über Umland und Stadt, über seinem Lehen zusammengekauert wie eine schläfrige, honigschnauzige Bärin über ihren Jungen.

Oft hatte es den Anschein, als sei Simon der einzige Bewohner der gewaltigen Burg, der sich in seine Lebensstellung nicht hineinfinden wollte. Die Maurer verputzten die weißgetünchte Verblendung des Wohngebäudes und stützten die bröckelnden Burgmauern – obwohl das Bröckeln manchmal schneller voranzuschreiten schien als die Instandsetzung –, ohne sich je den Kopf darüber zu zerbrechen, wie oder warum die Welt sich drehte. Die Küchen- und Kellermeister pfiffen vergnügt und rollten riesige Fässer mit Südwein und gepökeltem Rindfleisch hierhin und dorthin. An der Seite des Burg-Seneschalls feilschten sie mit den Bauern um die bärtigen Zwiebeln und erdfeuchten Mohrrüben, die jeden Morgen säckeweise in die Küche des Hochhorstes geschleppt wurden. Und Rachel und ihre Kammermädchen hatten immer schrecklich viel zu tun; sie schwangen ihre aus Stroh gebundenen Besen, jagten den Staubflocken nach, als gelte es, ungebärdige Schafe zu hüten, murmelten fromme Verwünschungen über den Zustand, in dem manche Leute bei der Abreise ihre Zimmer hinterließen, und übten eine allgemeine Schreckensherrschaft über die Liederlichen und Nachlässigen aus.

Inmitten all dieses Fleißes war der ungeschickte Simon der sprichwörtliche Grashüpfer im Ameisenhaufen. Er wußte, daß er es nie zu etwas Rechtem bringen würde; das hatten ihm schon viele Leute gesagt, die fast alle erwachsen – und vermutlich klüger als er – waren. In einem Alter, in dem andere Jungen längst lautstark nach männlicher Verantwortung begehrten, war Simon noch ein unsteter Wirrkopf. Ganz gleich, welche Aufgabe man ihm übertrug, schon bald schweifte seine Aufmerksamkeit ab, und er träumte von Schlachten und Recken und Seereisen auf hohen, glänzenden Schiffen … und auf geheimnisvolle Weise zerbrach dann etwas oder ging verloren oder wurde falsch gemacht.

Manchmal war er überhaupt nicht aufzufinden. Wie ein magerer Schatten drückte er sich überall in der Burg herum, konnte so behende wie die Dachdecker und Glaser jede Wand hinaufklettern und kannte so viele Gänge und Verstecke, daß das Burgvolk ihn den »Geisterjungen« nannte. Rachel gab ihm häufig Kopfnüsse und rief ihn »Mondkalb«.

Endlich hatte Rachel der Drache seinen Arm losgelassen, und Simon zog mißmutig die Füße nach, während er der obersten der Kammerfrauen hinterher schlurfte wie ein Stock, der sich im Rocksaum verfangen hat. Er war erwischt worden, sein Käfer entkommen und der Nachmittag ruiniert.

»Was soll ich machen, Rachel«, murmelte er unwirsch, »in der Küche helfen?«

Rachel schnaubte verächtlich und watschelte weiter, ein Dachs mit Schürze. Voller Bedauern blickte sich Simon nach den schützenden Bäumen und Hecken des Gartens um. Seine Schritte mischten sich mit denen der Kammerfrau und hallten feierlich in dem langen Steinkorridor wider.


Die Kammerfrauen hatten Simon aufgezogen, aber da er ganz sicher nie eine der ihren werden würde – denn ganz abgesehen davon, daß er ein Junge war, konnte man ihm offensichtlich keine feineren Hausarbeiten anvertrauen –, hatte man sich gemeinschaftlich bemüht, eine passende Arbeit für ihn zu finden. In einem großen Haus, und der Hochhorst war zweifellos das größte Haus überhaupt, war für Leute, die nicht arbeiteten, kein Platz. Simon hatte eine Art Beschäftigung in den Burgküchen gefunden, aber selbst in dieser anspruchslosen Stellung war er wenig nützlich. Die anderen Küchenjungen lachten und pufften einander, wenn sie Simon betrachteten, der – bis zu den Ellenbogen im Wasser, die Augen in selbstvergessener Träumerei zugekniffen – gerade die Kunst des Vogelflugs erlernte oder Traumjungfrauen vor imaginären Untieren errettete, während sein Waschprügel quer durch die ganze Wanne davontrieb.

Der Legende nach war einst Herr Fluiren – ein Verwandter des berühmten Herrn Camaris von Nabban – in seiner Jugend auf den Hochhorst gekommen, um ein Ritter zu werden, und hatte in eben dieser Spülküche ein ganzes Jahr gearbeitet, so unsagbar demütig war er gewesen. Die Küchenleute hatten ihn geneckt, erzählte man, und ihn »Hübschhand« genannt, weil die schreckliche Schufterei das feine Weiß seiner Finger nicht beeinträchtigen wollte. Simon brauchte nur die eigenen rosagesottenen Pfoten mit den gesprungenen Nägeln anzuschauen, um zu wissen, daß er nicht der verwaiste Sohn eines großen Herrn war. Er war ein Küchenjunge und Eckenausfeger, und damit hatte es sein Bewenden.

König Johan hatte, wie jedermann wußte, in kaum höherem Alter den Roten Drachen erschlagen; Simon kämpfte mit Besen und Töpfen. Nicht, daß das einen großen Unterschied bedeutet hätte: Die heutige Welt war anders und ruhiger als in des Königs Jugend, was sie großenteils dem alten Herrscher selber verdankte. In den dunklen, endlosen Hallen des Hochhorstes wohnten keine Drachen mehr, zumindest keine feuerspeienden. Allerdings kam Rachel, wie Simon oft innerlich fluchte, mit ihrer sauren Miene und den gräßlichen Kneifefingern ihnen nahe genug.

Sie erreichten das Vorzimmer des Thronsaals und damit den Mittelpunkt der ungewohnten Betriebsamkeit. Die Kammerfrauen bewegten sich im Laufschritt und brummten von Wand zu Wand wie Fliegen in einer Flasche. Rachel blieb mit in die Hüfte gestemmten Fäusten stehen und musterte ihr Reich, und dem Lächeln nach, das ihren dünnen Mund zusammenzog, schien sie zufrieden.

Simon, einen Augenblick unbeachtet, kauerte an einer teppichgeschmückten Wand. Krummrückig starrte er aus den Augenwinkeln auf das neue Mädchen Hepzibah, das rundlich und lockenhaarig war und sich mit einem unverschämten Hüftschwung fortbewegte. Als sie mit einem überschwappenden Wassereimer an ihm vorbeikam, fing sie seinen Blick auf und lächelte breit und amüsiert zurück. Simon spürte, wie ihm knisterndes Feuer vom Hals bis in die Wangen stieg und drehte sich um, um an den ausgefransten Wandbehängen herumzuzupfen.

Rachel war der Blickaustausch nicht entgangen.

»Daß dich der Herr auspeitschen möge wie einen Esel, Junge! Hab ich dir nicht gesagt, du solltest dich an die Arbeit machen? Los damit!«

»Los damit? Was denn?« rief Simon und hörte tiefgekränkt, wie Hepzibahs silberhelles Lachen aus dem Gang herüberschwebte. In ohnmächtiger Wut zwickte er sich in den eigenen Arm. Es tat weh.

»Nimm den Besen hier und geh die Wohnung des Doktors ausfegen. Der Mann lebt wie ein Hamster, der alles in seinen Bau schleppt, und wer weiß, wohin der König noch gehen will, jetzt, da er wieder auf den Beinen ist!« Ihr Ton zeigte deutlich, daß Rachel die allgemeine Aufsässigkeit der Männer selbst durch eine königliche Stellung nicht gemindert fand.

»Die Wohnung von Doktor Morgenes?« fragte Simon. Zum ersten Mal, seit er im Garten erwischt worden war, besserte sich seine Laune. »Sofort!« Er schnappte sich den Besen und war schon fort.

Rachel schnaubte und drehte sich um, die fleckenlose Vollkommenheit des Vorzimmers zu prüfen. Sie fragte sich einen kurzen Augenblick, was wohl hinter der gewaltigen Tür des Thronsaales vorgehen mochte, verbannte dann jedoch diese Gedankenabschweifung so unbarmherzig, wie sie eine umhersummende Mücke erschlagen hätte. Mit Händeklatschen und stählernen Blicken trieb sie ihre Legionen zusammen und führte sie hinaus aus dem Vorraum und hinein in eine andere Schlacht gegen ihren Erzfeind, die Unordnung.


Dort in jener Halle hinter der Tür hingen in langen Reihen verstaubte Banner an den Wänden, ein verschossenes Bestiarium phantastischer Tiere: der sonnengoldene Hengst des Mehrdon-Stammes, Nabbans schimmernder Eisvogel-Helmschmuck, Eule und Ochse, Otter, Einhorn und Basilisk – Glied um Glied schweigender, schlafender Geschöpfe. Kein Luftzug bewegte diese fadenscheinigen Stoffbahnen; selbst die Spinnweben hingen leer und ungeflickt herunter.

Aber trotzdem hatte sich eine Kleinigkeit verändert im Thronsaal: In diesem Raum voller Schatten gab es wieder etwas Lebendiges. Mit der dünnen Stimme eines kleinen Jungen oder eines sehr alten Mannes sang jemand ein leises Lied.

Am äußersten Ende der Halle hing zwischen den Standbildern der Hochkönige des Hochhorstes ein gewichtiger Wandteppich, ein Gobelin mit dem königlichen Wappen, Feuerdrachen und Baum. Die grimmigen Malachitstatuen, eine Sechser-Ehrenwache, flankierten einen riesigen, schweren Sitz, der ganz aus vergilbendem Elfenbein geschnitzt zu sein schien, mit knotigen, knöchrigen Armlehnen, die Rückenlehne überragt von einem ungeheuren, vielzahnigen Schlangenschädel mit Augen wie schattige Teiche.

Auf diesem Sessel und davor saßen die beiden Figuren. Die kleine, buntscheckig gekleidete, sang; es war ihre Stimme, die vom Fuß des Thrones aufstieg, zu schwach, um auch nur ein einziges Echo auszulösen. Zu ihr hinunter beugte sich eine abgemagerte Gestalt, die auf der Kante des Thrones hockte wie ein altes Raubtier – ein müder, gefesselter Raubvogel, angekettet an den stumpfen Knochen.

Der König, drei Jahre lang krank und geschwächt, war zurückgekehrt in seine staubige Halle. Er lauschte dem kleinen Mann, der zu seinen Füßen sang; die langen, fleckigen Hände des Königs umklammerten die Armlehnen seines großen, vergilbenden Thrones. Er war ein hochgewachsener Mann – einst sogar sehr hochgewachsen, jetzt aber gebeugt wie ein Mönch beim Gebet. Er trug ein Gewand von himmelblauer Farbe, das an ihm herunterhing, und war bärtig wie ein Usires-Prophet. Quer über seinem Schoß lag ein Schwert, das glänzte, als sei es frisch poliert; auf der Stirn saß die eiserne Krone, über und über mit seegrünen Smaragden und geheimnisvollen Opalen besetzt.

Das Männchen zu Füßen des Königs hielt einen langen, stillen Augenblick inne und begann dann ein neues Lied.

Kannst du Tropfen zählen,

wenn kein Regen fällt?

Kannst im Fluß du schwimmen,

der kein Wasser hält?

Kannst du Wolken fangen?

Das kann nie geschehn …

und der Wind rief ›Warte!‹

im Vorübergehn.

Ja, der Wind rief ›Warte!‹

im Vorübergehn…

Als die Weise verklungen war, streckte der große alte Mann im blauen Gewand die Hand nach unten, und der Narr nahm sie. Keiner von beiden sagte ein Wort.

Johan Presbyter, Herr von Erkynland und Hochkönig von ganz Osten Ard, Geißel der Sithi und Verteidiger des wahren Glaubens, Schwinger des Schwertes Hellnagel, Verderben des Drachen Shurakai …

Johan der Priester saß wieder auf seinem Thron aus Drachenbein. Er war alt, sehr alt, und hatte geweint.

»Ach, Strupp«, flüsterte er endlich, und seine Stimme war tief, doch brüchig vom Alter, »das muß wohl doch ein unbarmherziger Gott sein, der mich in diesen elenden Zustand versetzen konnte.«

»Vielleicht, Herr.« Der kleine alte Mann im buntscheckigen Wams lächelte ein runzliges Lächeln. »Vielleicht … aber gewiß würden andere nicht über Grausamkeit klagen, wenn sie Eure Stellung im Leben erreicht hätten.«

»Aber das meine ich ja gerade, alter Freund!« Der König schüttelte unwillig den Kopf. »In diesem Schattenalter schwacher Hinfälligkeit sind alle Menschen gleich geworden. Jeder holzköpfige Schneiderlehrling hat mehr vom Leben als ich!«

»Ach, nicht doch, Herr…« Strupps grauer Kopf wackelte von einer Seite auf die andere, aber die Glöckchen an seiner Kappe, lange schon ohne Klöppel, klingelten nicht. »Herr, Ihr beklagt Euch zu angemessener Zeit, doch ohne angemessene Vernunft. Alle Menschen, ob groß oder klein, geraten in diesen Zustand. Ihr hattet ein schönes Leben.«

Johan der Priester hielt den Griff von Hellnagel vor sich wie einen Heiligen Baum. Er fuhr sich mit dem Rücken der langen, schmalen Hand über die Augen.

»Kennst du die Geschichte dieser Klinge?« fragte er. Strupp sah mit scharfem Blick zu ihm auf; er hatte die Geschichte viele Male gehört.

»Erzählt sie mir, o König«, erwiderte er ruhig.

Johan der Priester lächelte, ließ aber den lederumwundenen Griff vor sich nicht aus den Augen. »Ein Schwert, kleiner Freund, ist die Verlängerung der rechten Hand eines Mannes … und der Endpunkt seines Herzens.« Er hob die Klinge höher, bis sich ein Lichtschimmer aus einem der winzigen, hohen Fenster darin fing. »Genauso ist der Mensch die gute rechte Hand Gottes – er ist der Scharfrichter von Gottes Herz. Verstehst du?«

Jäh beugte er sich hinab, die Augen unter buschigen Brauen vogelblank. »Weißt du, was das ist?« Seine zitternden Finger deuteten auf ein Stückchen krummes, rostiges Metall, das mit Golddraht im Heft des Schwertes befestigt war.

»Sagt es mir, Herr.« Strupp wußte es ganz genau.

»Das ist der einzige Nagel des wahren Richtbaumes, den es in Osten Ard noch gibt.« Johan der Priester führte den Schwertgriff an die Lippen und küßte ihn. Dann hielt er das kühle Metall an die Wange. »Dieser Nagel stammt aus der Handfläche von Usires Ädon, unserem Erlöser … aus seiner Hand…« Die Augen des Königs, in die von oben sekundenlang ein seltsames Halblicht fiel, waren feurige Spiegel. »Und dann ist da natürlich auch die Reliquie«, fügte er nach einem Augenblick des Schweigens hinzu, »der Fingerknochen Sankt Eahlstans des Gemarterten, des vom Drachen Getöteten, genau hier im Griff…«

Wieder eine Pause der Stille. Als Strupp aufblickte, hatte sein Gebieter von neuem angefangen zu weinen.

»Pfui, pfui über alles!« stöhnte Johan. »Wie kann ich mich der Ehre Gottes würdig erweisen, wenn immer noch soviel Sünde, solch schwere Sündenlast, meine Seele befleckt? Ach, der Arm, der einst den Drachen erschlug, kann heute kaum noch die Milchtasse heben, geschweige denn das Schwert des Herrn. Ich sterbe, mein lieber Strupp, ich sterbe!«

Der Narr beugte sich vor, löste eine der knochigen Königshände vom Schwertgriff und küßte sie. Der alte König schluchzte.

»Ich bitte Euch, Gebieter«, flehte Strupp. »Weint doch nicht mehr! Alle Menschen müssen sterben – Ihr, ich, jedermann. Bringen uns nicht jugendliche Torheit oder ein Mißgeschick zu Tode, so ist es unser Schicksal, dahinzuleben wie die Bäume, älter und älter zu werden, bis wir endlich schwanken und stürzen. So geht es mit allen Dingen. Wie könnt Ihr Euch dem Willen des Herrn widersetzen?«

»Aber ich habe dieses Reich gegründet!« Johan Presbyter erfüllte bebender Zorn, als er die Hand aus dem Griff des Narren riß und sie jäh auf die Armlehne des Thrones fallen ließ. »Das muß jeden Sündenfleck auf meiner Seele aufwiegen, so schwarz er auch sein mag! Ganz gewiß wird der Gute Gott das in seinem Rechnungsbuch stehen haben! Ich zog diese Menschen aus dem Schlamm, geißelte die verfluchten, heimtückischen Sithi aus dem Land, gab den Bauern Recht und Gesetz … das Gute, das ich getan habe, muß schwer wiegen.« Seine Stimme wurde vorübergehend schwächer, als wanderten seine Gedanken in die Ferne.

»Ach, mein alter Freund«, meinte er endlich mit bitterer Stimme, »und jetzt kann ich nicht einmal mehr die Mittelgasse bis zum Marktplatz hinuntergehen! Im Bett muß ich liegen oder mich am Arm jüngerer Männer durch dieses kalte Schloß schleppen. Mein … mein Reich liegt verfaulend auf der Streu, während vor meiner Schlafzimmertür die Diener flüstern und auf Zehenspitzen gehen! Alles in Sünde!«

Die Worte des Königs hallten von den Steinwänden des Saales wider und zerfielen langsam zwischen den tanzenden Staubkörnchen. Strupp ergriff von neuem die Hand des Herrschers und drückte sie, bis der König seine Fassung wiedergewonnen hatte.

»Nun gut«, bemerkte Johan der Priester nach einiger Zeit, »wenigstens wird mein Elias mit festerer Hand regieren, als ich es jetzt kann. Als ich heute sah, wie hier alles verfällt«, er machte eine Handbewegung, die den ganzen Thronsaal umfaßte, »habe ich beschlossen, ihn aus Meremund zurückzurufen. Er muß sich darauf vorbereiten, die Krone zu übernehmen.« Der König seufzte. »Wahrscheinlich sollte ich dieses weibische Geflenne einstellen und dankbar sein, daß ich habe, was viele Könige nicht haben: einen starken Sohn, der mein Reich zusammenhält, wenn ich nicht mehr bin.«

»Zwei starke Söhne, Herr.«

»Pah!« Der König verzog das Gesicht. »Ich könnte Josua vieles nachsagen, aber ich glaube nicht, daß ›Stärke‹ dazugehört.«

»Ihr seid zu hart mit ihm, Gebieter.«

»Unsinn. Willst du mich belehren? Kennt der Narr den Sohn besser als sein Vater?« Johans Hand zitterte, und sekundenlang schien es, als wolle er sich mühsam erheben. Endlich ließ die Spannung nach.

»Josua ist ein Zyniker«, begann der König mit ruhigerer Stimme weiterzusprechen. »Ein Zyniker, ein Melancholiker, kalt zu seinen Untertanen. Ein Königssohn ist ja nur von Untertanen umgeben – und jeder einzelne davon kann ein Meuchelmörder sein. Nein, Strupp, er ist seltsam, mein jüngerer, vor allem, seit … seit er die Hand verlor. Ach, barmherziger Ädon, vielleicht ist es meine Schuld.«

»Was meint Ihr, Herr?«

»Ich hätte mir vielleicht eine neue Frau nehmen sollen, nach Ebekahs Tod. Ein kaltes Haus war es ohne Königin … vielleicht ist das der Grund für das merkwürdige Wesen des Jungen. Aber Elias ist trotzdem nicht so.«

»Prinz Elias' Wesen ist von einer gewissen rohen Geradlinigkeit«, murmelte der Narr, aber falls der König es hörte, ließ er es sich nicht anmerken.

»Ich danke dem wohltätigen Gott, daß Elias der Erstgeborene ist. Hat einen tapferen, kriegerischen Charakter, der Junge – ich glaube, wenn er der Jüngere wäre, säße Josua nicht sicher auf dem Thron.« Bei dem Gedanken schüttelte der König mit kalter Zuneigung den Kopf, tastete dann nach unten, packte seinen Narren beim Ohr und kniff ihn, als sei der kleine Alte ein Kind von fünf oder sechs Jahren.

»Versprich mir eins, Strupp…«

»Ja, Herr?«

»Wenn ich sterbe – und das wird bald sein, denn ich glaube nicht, daß ich den Winter überlebe –, mußt du Elias in diesen Saal führen … meinst du, daß die Krönung hier stattfinden wird? Und wenn schon – dann mußt du eben warten, bis sie vorbei ist. Anschließend bring ihn her und gib ihm Hellnagel. Ja, nimm das Schwert jetzt an dich, und verwahre es. Ich fürchte, daß ich vielleicht schon sterbe, während er noch weit weg ist, in Meremund oder an einem anderen Ort, und ich möchte, daß das Schwert mit meinem Segen ohne Umwege in seine Hände gelangt. Verstehst du mich, Strupp?«

Mit zittrigen Händen schob Johan der Priester das Schwert in die geprägte Scheide zurück und bemühte sich einen Augenblick vergeblich, das Wehrgehenk abzuschnallen, an dem sie befestigt war. Die Verschnürung hatte sich verhakt, und der Narr hob sich auf die Knie, um mit kräftigen alten Fingern an dem Knoten zu arbeiten.

»Wie lautet der Segen, Herr?« fragte er, die Zunge zwischen den Zähnen, während er an dem Knotengewirr herumzupfte.

»Sag ihm das, was ich dir gesagt habe. Erzähl ihm, daß das Schwert die Spitze seines Herzens und seiner Hand ist, so wie wir die Werkzeuge von Herz und Hand Gottvaters sind … und sag ihm, daß kein Preis, und sei er noch so edel, es wert ist … es wert ist…« Der König zögerte und führte die bebenden Finger an die Augen. »Nein, achte nicht darauf. Sprich nur von dem, was ich dir über das Schwert erzählt habe. Das genügt.«

»Ich werde es tun, mein Gebieter«, erwiderte Strupp. Er runzelte die Stirn, obwohl er den Knoten gelöst hatte. »Ich werde Euren Wunsch mit Freuden erfüllen.«

»Gut.« Johan der Priester lehnte sich wieder in seinen Drachenbeinthron zurück und schloß die Augen. »Sing mir noch etwas, alter Freund.«

Und Strupp sang. Die verstaubten Banner über ihnen schienen ganz leise zu schwanken, als wandere ein Flüstern durch die zuschauende Menge, durch die uralten Reiher und trübäugigen Bären und die anderen, die noch fremdartiger waren.

II Eine Zwei-Frosch-Geschichte

Müßiggang ist aller Laster Anfang. Über diesen Spruch, eine von Rachels Lieblingsweisheiten, dachte Simon mißmutig nach, als er auf das Sortiment von Pferdepanzerteilen starrte, die jetzt über die ganze Länge der Wandelhalle des Burgpfarrers verstreut lagen. Nur einen Augenblick vorher war er noch vergnügt den langen, mit Steinplatten gefliesten Gang hinuntergehüpft, der an der äußeren Längswand der Kapelle entlangführte, auf dem Weg zu Doktor Morgenes' Wohnung, die er ausfegen sollte. Natürlich hatte er ein bißchen mit dem Besen herumgefuchtelt und sich vorgestellt, es wäre die Baum-und-Drachen-Fahne der Erkyngarde von Johan Presbyter, die er, Simon, gerade in die Schlacht führte. Vielleicht hätte er besser aufpassen müssen, wo er mit dem Besen herumwedelte – aber welcher Trottel hängte auch eine Pferderüstung in die Wandelhalle des Pfarrers? Unnötig zu erwähnen, daß das Scheppern gewaltig gewesen war und Simon jede Sekunde damit rechnete, daß der dürre, rachsüchtige Vater Dreosan herunterkommen würde.

Hastig machte sich Simon daran, die schmuddligen Panzerplatten aufzusammeln, von denen einige aus den Lederriemen gerissen waren, welche die Rüstung zusammenhielten. Dabei dachte er über einen anderen von Rachels Grundsätzen nach: Für leere Hände findet der Teufel schon eine Arbeit. Das war natürlich töricht und erbitterte ihn. Schließlich waren es nicht die Leere seiner Hände oder die Müßigkeit seiner Gedanken, die ihn in Schwierigkeiten geraten ließen. Nein, es waren vielmehr sein Tun und Denken, die ihm immer wieder ein Bein stellten. Wenn sie ihn nur in Ruhe lassen wollten!

Vater Dreosan war immer noch nicht aufgetaucht, als Simon endlich alle Teile der Rüstung auf einen wackligen Haufen geschichtet und diesen dann eilig unter den Rock eines Tischbehangs geschoben hatte. Dabei hätte er fast noch den auf dem Tisch stehenden goldenen Reliquienbehälter umgeworfen. Aber endlich war, ohne weiteres Mißgeschick, die verräterische Rüstung außer Sicht, und nur ein geringfügig sauberer aussehender Fleck an der Wand deutete noch darauf hin, daß es überhaupt jemals eine solche Rüstung gegeben hatte. Simon ergriff seinen Besen und schabte damit eifrig über den rußigen Stein, um die Ränder zu verwischen, damit der helle Fleck nicht so auffiel. Dann rannte er weiter den Gang hinunter und an der Wendeltreppe zur Chorempore hinaus ins Freie.

Als er von neuem den Heckengarten erreichte, aus dem ihn der Drache gerade so grausam entführt hatte, hielt Simon einen Augenblick inne, um den stechenden Geruch von grünem Laub einzuatmen und so die letzten Reste des Talgseifengestanks aus seiner Nase zu vertreiben. Ein ungewöhnliches Gebilde in den oberen Zweigen der Festeiche zog seinen Blick auf sich. Der Baum am entfernten Ende des Gartens war uralt, knorrig und hatte derart ineinander gewachsene Äste, daß er aussah, als wäre er jahrhundertelang unter einem riesigen Scheffelkorb weitergewachsen. Simon kniff die Augen zusammen und hob die Hand gegen das schräg einfallende Sonnenlicht. Ein Vogelnest! Und so spät im Jahr!

Es war knapp. Schon hatte er den Besen fallengelassen und war mehrere Schritte in den Garten hineingelaufen, als ihm einfiel, daß er ja mit einem Auftrag zu Morgenes geschickt worden war. Keine andere Aufgabe hätte Simon daran gehindert, in einer Sekunde auf dem Baum zu sein, aber ein Besuch beim Doktor war eine besondere Vergünstigung, selbst wenn er mit Arbeit verbunden war. Simon versprach sich, daß das Nest nicht lange unerforscht bleiben würde, und setzte seinen Weg fort, zwischen den Hecken hindurch und in den Hof vor dem Inneren Zwingertor.

Zwei Gestalten hatten soeben das Tor durchschritten und kamen auf ihn zu; die eine langsam und kurzbeinig, die andere noch langsamer und noch kurzbeiniger. Es waren Jakob der Wachszieher und sein Gehilfe Jeremias. Letzterer trug einen großen, schweraussehenden Sack über der Schulter und bewegte sich, soweit das überhaupt möglich war, noch träger als sonst. Simon rief ihnen im Vorbeilaufen einen Gruß zu. Jakob lächelte und winkte.

»Rachel will neue Kerzen für den Speisesaal«, rief der Wachszieher, »also bekommt sie Kerzen!« Jeremias machte eine saure Miene.

Ein kurzer Trab den grasigen Abhang hinunter brachte Simon an das massive Torhaus. Über den Zinnen hinter ihm schwelte noch ein Splitter Nachmittagssonne, und die Schatten der Wimpel auf der Westmauer huschten wie dunkle Fische über das Gras. Der rotweiß uniformierte Wächter, kaum älter als Simon, lächelte, als der Meisterspion vorüberjagte, in der Hand den tödlichen Besen, das Haupt gesenkt für den Fall, daß die Tyrannin Rachel zufällig aus einem der hohen Turmfenster blicken sollte.

Sobald Simon unter dem Fallgitter durch und im Schatten der hohen Tormauer allen Blicken entzogen war, verlangsamte er seinen Schritt wieder. Der unbestimmte Schatten des Grünengel-Turms überbrückte den Burggraben; die verzerrte Silhouette des Engels, der auf seiner Turmspitze triumphierte, lag am äußersten Rand des Wassers in einer Lache aus Feuer.

Wenn er schon hier war, entschied Simon, konnte er genausogut ein paar Frösche fangen. Es würde nicht allzu lange dauern, und der Doktor konnte sie meist gut gebrauchen. Es würde nicht einmal bedeuten, daß er seinen Auftrag hinausschob, sondern war vielmehr eine Erweiterung seines Dienstes. Allerdings würde er sich beeilen müssen, es wurde schon bald Abend. Simon konnte bereits hören, wie sich die Grillen mühsam auf eine der letzten Vorstellungen des schwindenden Jahres einstimmten und die Ochsenfrösche mit ihrem unterdrückten, dumpf dröhnenden Kontrapunkt einsetzten.

Der Junge stieg in das lilienbedeckte Wasser, hielt sekundenlang lauschend inne und sah zu, wie sich der östliche Himmel zu mattem Violett verdunkelte. Neben Doktor Morgenes' Wohnung war der Burggraben sein liebster Ort in der ganzen Schöpfung … jedenfalls von dem, was er bisher davon gesehen hatte. Mit einem unbewußten Seufzer zog er den formlosen Stoffhut vom Kopf und watete an die Stelle, wo Teichgras und Hyazinthen am dichtesten standen.

Als Simon endlich am Mittleren Zwinger ankam, war die Sonne bereits untergegangen, und der Wind pfiff durch die Katzenschwänze, die um den Burggraben herumwuchsen. Mit triefenden Kleidern, in jeder Tasche einen Frosch, stand der Junge vor Morgenes' Tür. Er klopfte an die dicke Täfelung und achtete dabei sorgfältig darauf, das fremdartige Symbol nicht zu berühren, das mit Kreide auf das Holz gemalt war. Durch harte Erfahrung hatte er gelernt, nichts, was dem Doktor gehörte, ungefragt anzufassen. Eine kleine Weile verging, bevor Morgenes' Stimme sich hören ließ.

»Geht weg«, sagte sie in ärgerlichem Ton.

»Ich bin es … Simon!« rief der Junge und klopfte nochmals. Diesmal gab es eine längere Pause, gefolgt vom Geräusch schneller Schritte. Die Tür schwang auf, und Morgenes, dessen Kopf kaum bis an Simons Kinn reichte, stand vor ihm. Sein Gesicht lag im Dunkeln; sekundenlang schien er starr vor sich hinzuglotzen.

»Was?« fragte er endlich. »Wer?«

Simon lachte. »Na, ich natürlich. Möchtet Ihr ein paar Frösche?« Er zog einen der Gefangenen aus seinem Verlies und hielt ihn an einem glibbrigen Bein in die Höhe.

»Oh, oh!« Der Doktor schien wie aus tiefem Schlaf zu erwachen. Er schüttelte den Kopf. »Simon … aber natürlich! Komm herein, Junge! Du mußt mich entschuldigen – ich bin ein wenig zerstreut.« Er öffnete die Tür so weit, daß Simon an ihm vorbei in den schmalen Innengang schlüpfen konnte, und schloß sie dann wieder.

»Frösche, wie? Hmmmm, Frösche…« Morgenes stakste den Korridor hinunter. Im Glühen der blauen Lampen, die den Gang säumten, schien die dürre Gestalt des Doktors wie ein Affe zu hüpfen anstatt zu gehen. Simon, dessen Schultern die kalten Wände zu beiden Seiten fast berührten, folgte. Er hatte noch nie verstehen können, wie Räumlichkeiten, die von außen so klein wirkten wie die des Doktors – und er hatte von den Mauern des Zwingers auf sie hinabgeschaut und war im Hof ihre Ausdehnung abgegangen –, wie so eine kleine Wohnung derart lange Korridore haben konnte.

Simons Gedankengänge wurden von einem plötzlichen Höllenlärm unterbrochen: Pfiffe, Knaller und etwas, das wie das hungrige Gebell von hundert Hunden klang.

Morgenes machte einen überraschten Satz und sagte: »O Name eines Namens, ich habe vergessen, die Kerzen zu löschen. Warte hier.« Mit flatternden weißen Haarsträhnen rannte der kleine Mann den Gang hinunter, öffnete die Tür am Ende einen winzigen Spalt – das Heulen und Pfeifen schwoll an – und huschte schnell hinein. Simon vernahm einen erstickten Ausruf.

Jäh verstummte der entsetzliche Lärm – so schnell und vollständig, als ob … als ob man eine Kerze auslöscht, dachte Simon.

Der Doktor streckte den Kopf heraus, lächelte und winkte den Jungen herein.

Simon, der schon früher Szenen dieser Art erlebt hatte, folgte dem alten Mann vorsichtig in dessen Werkstatt. Ein hastiges Eintreten konnte – und das war noch das Wenigste – bedeuten, daß man auf irgend etwas Sonderbares trat, dessen Anblick Unbehagen bereitete.

Von den Urhebern des gräßlichen Geheuls von eben war keine Spur mehr zu erkennen. Wieder staunte Simon über den Unterschied zwischen dem, was Morgenes' Wohnung zu sein schien – eine umgebaute Wachkaserne von vielleicht zwanzig Schritt Länge, an die efeuüberwucherte Mauer der Nordostecke des Mittleren Zwingers geduckt –, und ihrem Anblick von innen, der ein weitläufiges Zimmer offenbarte, das zwar eine niedrige Decke hatte, aber beinahe so lang wie ein Turnierplatz war, wenn auch weit schmaler. Im orangefarbenen Licht, das durch die lange Reihe kleiner Fenster zum Hof hereinsickerte, spähte Simon nach dem hintersten Ende des Raumes und stellte fest, daß er große Mühe haben würde, es von der Tür aus, in der er stand, mit einem Stein zu treffen.

Aber dieser merkwürdige Dehneffekt war ihm durchaus vertraut. Tatsächlich sah das ganze Zimmer trotz der angsteinflößenden Geräusche eigentlich aus wie immer – so als hätte eine Horde geistesgestörter Krämer ihre Verkaufstische aufgebaut und dann mitten in einem wilden Sturmwind jäh die Flucht ergriffen. Der große Refektoriumstisch, der sich über die ganze Länge der einen Wand ausdehnte, war übersät mit Rillenglasröhren, Kästen und Tuchbeuteln mit Pulvern und stechenden Salzen sowie mit komplizierten Konstruktionen aus Holz und Metall, an denen Retorten und Phiolen und andere undefinierbare Behälter hingen. Den Mittelpunkt des Tisches bildete eine gewaltige Messingkugel, aus deren glänzender Oberfläche winzige, eckige Hähne hervorragten. Sie schien in einer Schüssel mit silbriger Flüssigkeit zu schwimmen, und Schüssel und Kugel balancierten auf der Spitze eines Dreifußes aus geschnitztem Elfenbein. Aus den Hähnen pustete Dampf, und der Messingball drehte sich langsam um sich selbst.

Auf Fußboden und Wandregalen wimmelte es von noch seltsameren Dingen. Polierte Steinblöcke, Kehrbesen und lederne Schwingen lagen auf den steinernen Platten verstreut und machten sich mit Tierkäfigen, teils leer, teils besetzt, den Platz streitig, mit Metallgerüsten unbekannter Geschöpfe, mit zerrupften Pelzen oder nicht zusammenpassenden Federn bedeckt, mit Platten aus scheinbar klarem Kristall, wahllos an den mit Gobelins verzierten Wänden aufgestapelt … und mit Büchern, überall mit Büchern, halb geöffnet fallengelassen oder hier und da im Zimmer aufgestellt wie riesenhafte, plumpe Schmetterlinge.

Es gab auch Glaskugeln mit farbigen Flüssigkeiten, die ohne Hitze vor sich hin blubberten, und eine flache Schachtel mit glitzerndem schwarzem Sand, der sich unaufhörlich neu formte, als fegten ihn unmerkliche Wüstenwinde. Von Zeit zu Zeit würgten hölzerne Wandschränkchen bemalte Holzvögel hervor, die unverschämt piepten und wieder verschwanden. Daneben hingen Karten von Ländern mit gänzlich fremdartiger Geographie – obwohl Geographie zugegebenermaßen ein Gebiet war, auf dem sich Simon ohnehin nicht sonderlich sicher fühlte. Alles in allem war die Höhle des Doktors ein Paradies für einen wißbegierigen jungen Mann … ganz ohne Zweifel der wunderbarste Ort in ganz Osten Ard.

Morgenes war inzwischen am anderen Ende des Raumes unter einer schlaff herabhängenden Sternkarte auf und ab gewandert. Sie verband die hellen Himmelspunkte durch eine gemalte Linie, so daß die Gestalt eines seltsamen Vogels mit vier Flügeln entstand. Mit einem kleinen triumphierenden Pfiff beugte der Doktor sich plötzlich nach unten und fing an zu graben wie ein Eichhörnchen im Frühling. Hinter ihm erhob sich ein Schneegestöber aus Schriftrollen, buntbemalten Lappen, Miniaturgeschirr und winzigen Pokalen von irgendeinem Zwergen-Abendbrottisch. Endlich richtete er sich wieder auf, wuchtete einen großen Kasten mit Glaswänden in die Höhe, watete zum Tisch, stellte den Glaswürfel hin und griff sich, offenbar wahllos, von einem Gestell ein Flaschenpaar.

Die Flüssigkeit in der einen hatte die Farbe des Sonnenuntergangshimmels draußen; sie schmauchte wie ein Weihrauchfäßchen. Die andere Flasche war mit etwas Blauem und Zähflüssigem gefüllt, das, als Morgenes die beiden Flaschen umdrehte, ganz, ganz langsam in den Kasten rann. Als sie sich vermischten, wurden die beiden Flüssigkeiten so klar wie Bergluft. Der Doktor breitete seine Arme aus wie ein fahrender Künstler. Einen Augenblick herrschte Stille.

»Frösche?« fragte er dann und wedelte mit den Fingern. Simon sprang herbei und zog die beiden Tiere, die gefangen in seinen Manteltaschen steckten, hervor. Der Doktor ergriff sie und warf sie mit schwungvoller Gebärde in das Aquarium. Die beiden verblüfften Amphibien plumpsten in die durchsichtige Flüssigkeit, sanken langsam auf den Grund und begannen dann energisch in ihrem neuen Heim umherzuschwimmen. Simon lachte erstaunt und erheitert.

»Ist das Wasser?«

Der alte Mann drehte sich um und blickte ihn mit hellen Augen an. »Mehr oder weniger, mehr oder weniger … so!« Morgenes fuhr sich mit langen, verkrümmten Fingern durch den schütteren Bartkranz. »Soso … hab Dank für die Frösche. Ich glaube, ich weiß schon, was ich mit ihnen anfange. Völlig schmerzlos. Vielleicht macht es ihnen sogar Spaß, obwohl ich nicht glaube, daß sie die Stiefel gern anziehen werden.«

»Stiefel?« wunderte sich Simon, aber der Doktor wuselte schon wieder im Zimmer herum. Jetzt schob er einen Stapel Landkarten von einem niedrigen Hocker und winkte Simon, sich hinzusetzen. »Nun also, junger Mann, welche Münze schulde ich dir für dein Tagwerk? Ein Fithingstück? Oder vielleicht möchtest du lieber Coccindrilis hier als Haustier?« Kichernd schwang der Doktor eine mumifizierte Eidechse.

Bei der Eidechse zögerte Simon einen Augenblick – es mußte herrlich sein, sie in den Wäschekorb zu schmuggeln, damit sie dort von dem neuen Mädchen Hepzibah entdeckt würde … Der Gedanke an Kammermädchen und Saubermachen wollte sich in seinem Kopf festsetzen und reizte ihn; irgend etwas verlangte, daß er sich daran erinnerte, aber Simon verdrängte es. »Nein«, sagte er schließlich, »ich würde lieber ein paar Geschichten erzählt bekommen.«

»Geschichten?« Fragend beugte sich Morgenes vor. »Geschichten? Du solltest lieber zum alten Shem Pferdeknecht in die Ställe gehen, wenn du so etwas hören möchtest.«

»Nicht diese Art«, erklärte Simon schnell. Hoffentlich hatte er den Doktor nicht gekränkt; alte Leute waren so empfindlich. »Ich meine Geschichten über wirkliche Dinge. Wie es früher war … Schlachten, Drachen – über das, was sich tatsächlich ereignet hat!«

»Aha.« Morgenes setzte sich auf, und das Lächeln kehrte in sein rosiges Gesicht zurück. »Jetzt verstehe ich. Du meinst Geschichte, nicht Geschichten.« Der Doktor rieb sich die Hände. »Das ist besser – viel besser!« Er sprang auf und begann umherzuwandern, wobei er gewandt über das auf dem Fußboden verstreute Gerümpel stieg. »Nun, wovon möchtest du hören, Junge? Vom Untergang Naarveds? Von der Schlacht von Agh Samrath?«

»Erzählt mir von der Burg«, bat Simon. »Vom Hochhorst. Hat sie der König erbaut? Wie alt ist sie?«

»Die Burg…« Der Doktor hörte mit seinen Wanderungen auf, raffte einen Zipfel seines abgetragenen, speckig-grauen Gewandes und rieb damit geistesabwesend an einem von Simons liebsten Wunderdingen herum, einer Rüstung von exotischem Schnitt, in wild-blumenbunten Blau- und Gelbtönen gefärbt und ganz und gar aus poliertem Holz gefertigt.

»Hmmm … die Burg…« wiederholte Morgenes. »Ja, das ist in der Tat eine Zwei-Frosch-Geschichte, zum allermindesten. Wenn ich sie dir wirklich ganz erzählen sollte, müßtest du wohl den Burggraben trockenlegen und mir deine warzigen Gefangenen fuderweise bringen, um dafür zu bezahlen. Aber für heute, glaube ich, tut es erst einmal das nackte Gerüst der Geschichte, und das kann ich dir jedenfalls geben. Halte einen Augenblick Ruhe, bis ich etwas gefunden habe, um mir die Kehle anzufeuchten.«

Während Simon versuchte, ganz still zu sitzen, ging Morgenes an seinen langen Tisch und griff nach einem Becher mit brauner, schäumender Flüssigkeit. Mißtrauisch schnüffelte er daran, hob dann den Becher an die Lippen und nahm einen kleinen Schluck.

Nach kurzer Überlegung leckte er sich die kahle Oberlippe und zupfte beglückt an seinem Bart.

»Ah, dieses Stanshire-Dunkel. Da gibt es keinen Zweifel, nichts geht über Bier! Also, worüber sprachen wir? Ach ja, die Burg.« Morgenes räumte eine Stelle des Tisches leer und sprang dann, sorgsam seinen Becher festhaltend, mit verblüffender Behendigkeit in die Höhe und ließ sich auf der Tischplatte nieder, wobei seine Füße in ihren Pantoffeln eine halbe Elle über dem Boden baumelten. Wieder nahm er einen Schluck.

»Ich fürchte, diese Geschichte beginnt lange vor unserem König Johan. Fangen wir mit den ersten Männern und Frauen an, die nach Osten Ard gelangten – einfachen Leuten, die an den Ufern des Gleniwent lebten. Sie waren größtenteils Hirten und Fischer, vielleicht Vertriebene, die über eine Landbrücke, die heute nicht mehr vorhanden ist, aus dem verlorenen Westen kamen. Sie machten den Herrschern von Osten Ard wenig Schwierigkeiten.«

»Aber ich dachte, Ihr sagtet, sie seien als erste hierher gekommen?« unterbrach Simon, der sich insgeheim freute, den Doktor bei einem Widerspruch ertappt zu haben.

»Nein, ich sagte, sie waren die ersten Menschen. Die Sithi beherrschten dieses Land, lange bevor ein Mensch es betrat.«

»Ihr meint, es gab wirklich ein Kleines Volk?« Simon grinste. »So wie Shem Pferdeknecht erzählt? Pukas und Niskies und so weiter?« Das war aufregend.

Morgenes schüttelte heftig den Kopf und nahm einen weiteren Schluck. »Es gab sie nicht nur, es gibt sie – obwohl das meiner Erzählung vorgreift –, und sie sind ganz und gar kein ›Kleines Volk‹… warte, Junge, laß mich weiterreden.«

Simon duckte sich und gab sich Mühe, geduldig auszusehen. »Ja?«

»Nun, wie gesagt, Menschen und Sithi waren friedliche Nachbarn. Sicher gab es gelegentlich Auseinandersetzungen wegen Weideland oder ähnlichen Dingen, aber da die Menschheit ihnen nicht als wirkliche Bedrohung erschien, war das Schöne Volk großzügig. Im Lauf der Zeit begannen die Menschen dann, Städte zu bauen, manchmal nur den Fußweg eines halben Tages von dem Gebiet der Sithi entfernt.

Noch später entstand auf der felsigen Halbinsel Nabban ein großes Königreich, und die Sterblichen von Osten Ard begannen sich seiner Führung unterzuordnen. Kannst du mir noch folgen, Junge?«

Simon nickte.

»Gut.« Ein langer Zug aus dem Becher. »Nun, das Land schien groß genug für alle, bis schwarzes Eisen über das Wasser kam.«

»Was? Schwarzes Eisen?« Der scharfe Blick des Doktors ließ Simon sofort wieder verstummen.

»Die Schiffer aus dem fast vergessenen Westen, die Rimmersmänner«, fuhr Morgenes fort. »Sie landeten im Norden, bewaffnete Männer, wild wie Bären. In ihren langen Schlangenbooten fuhren sie.«

»Die Rimmersmänner?« fragte Simon erstaunt. »Wie Herzog Isgrimnur am Hof? In Booten?«

»Sie waren große Seefahrer, ehe sie hier seßhaft wurden, die Ahnen des Herzogs«, bestätigte Morgenes. »Aber als sie landeten, waren sie zunächst nicht auf der Suche nach Weide- oder Ackerland, sondern auf Raub aus. Doch das Wichtigste war, daß sie das Eisen mitbrachten, oder zumindest das Geheimnis seiner Bearbeitung. Sie schmiedeten eiserne Schwerter und Speere, Waffen, die nicht zerbrachen wie die Bronze von Osten Ard; Waffen, die selbst das Hexenholz der Sithi bezwingen konnten.«

Morgenes sprang auf den Boden und füllte seinen Becher aus einem zugedeckten Eimer, der auf einem Dom von Büchern an der Wand stand. Statt an den Tisch zurückzugehen, blieb er stehen und strich über die glänzenden Schulterstücke der Rüstung.

»Niemand leistete ihnen lange Widerstand – der kalte, harte Geist des Eisens schien die Schiffer selbst ebenso zu erfüllen wie ihre Klingen. Viele Leute flohen nach Süden, in den Schutz der nahen nabbanischen Grenzstationen. Die Nabbani-Legionen, gut organisierte Garnisonsstreitkräfte, leisteten eine Zeitlang erfolgreich Widerstand. Aber endlich mußten sie doch den Rimmersmännern die Frostmark überlassen. Es … gab große Gemetzel.«

Simon rutschte begeistert hin und her. »Und die Sithi? Ihr habt gesagt, sie hatten kein Eisen?«

»Es war tödlich für sie.« Der Doktor leckte sich den Finger und rieb einen Fleck vom polierten Holz der Brustplatte.

»Auch sie konnten die Rimmersmänner nicht in offener Feldschlacht besiegen, aber«, er wies mit dem staubigen Finger auf Simon, als betreffe die Tatsache den Jungen persönlich, »aber die Sithi kannten ihr Land. Sie waren mit ihm verbunden, waren in gewisser Weise ein Teil davon, wie es die Eindringlinge niemals sein konnten. So behaupteten sie sich lange Zeit, indem sie sich langsam an Orte zurückzogen, an denen sie mächtig waren. Und der wichtigste davon – und der Grund dafür, daß ich dir das alles erzähle – war Asu'a, der Hochhorst.«

»Unsere Burg? Die Sithi haben auf dem Hochhorst gewohnt?« Simon konnte den Zweifel in seiner Stimme nicht unterdrücken. »Wann ist die Burg denn erbaut worden?«

»Simon, Simon…« Der Doktor kratzte sich am Ohr und hockte sich wieder auf den Tisch. Aus den Fenstern war der Sonnenuntergang inzwischen gänzlich verschwunden, und das Fackellicht teilte Morgenes' Gesicht in zwei Teile wie eine Maske beim Mummenschanz, halb beleuchtet, halb im Dunkeln. »Vielleicht – nach allem, was ich und alle anderen Sterblichen überhaupt wissen können – stand hier schon eine Burg, bevor noch die Sithi selbst ins Land kamen … damals, als Osten Ard so neu und rein war wie ein Bach aus geschmolzenem Schnee. Gewiß aber lebte das Volk der Sithi hier schon ungezählte Jahre, ehe der Mensch erschien. Dies ist der erste Ort in Osten Ard, der das Werk gestaltender Hände erfuhr. Es ist die mächtigste Stelle des Landes, der Ort, der die Wasserwege beherrscht und über das beste Ackerland gebietet. Der Hochhorst und seine Vorgänger, die noch älteren Festungen, die unter uns begraben liegen, haben hier gestanden, lange bevor sich die Menschen zu erinnern begannen. Als die Rimmersmänner kamen, war diese Stätte alt, uralt.«

Als die Ungeheuerlichkeit dieser Erklärung des alten Mannes in Simons Kopf einzudringen begann, wurde ihm schwindlig. Die alte Burg schien ihm plötzlich bedrückend, ihre Felsenmauern kamen ihm wie ein Käfig vor. Er schauderte und blickte sich hastig um, als griffe jetzt, in dieser Sekunde, etwas Uraltes, Eifersüchtiges mit staubigen Händen nach ihm.

Morgenes lachte fröhlich – ein sehr junges Lachen für einen so alten Mann – und hüpfte vom Tisch herunter. Die Fackeln schienen ein wenig heller zu glühen. »Fürchte dich nicht, Simon. Ich denke – und wer, wenn nicht ich, sollte es wissen –, daß du den Zauber der Sithi nicht zu fürchten brauchst. Heutzutage nicht mehr. Die Burg ist vielfach verändert, Stein wurde auf Stein gesetzt und jede Elle von hundert Priestern kräftig gesegnet. Gewiß, Judith und ihre Küchenhelfer drehen sich vielleicht manchmal um und stellen fest, daß ein Teller mit Kuchen fehlt, aber ich glaube, das kann man mit einiger Logik eher gewissen jungen Männern zuschreiben als Kobolden…«

Eine kurze Folge von Klopftönen an der Zimmertür unterbrach den Doktor. »Wer ist da?« rief er.

»Ich bin's«, erwiderte eine kummervolle Stimme. Es folgte eine lange Pause. »Ich, Inch«, beendete die Stimme ihre Erklärung.

»Bei Anaxos' Gebeinen«, fluchte der Doktor, der exotische Ausdrücke bevorzugte. »Dann mach die Tür auf … ich bin zu alt, um herumzurennen und Narren zu bedienen!«

Die Tür schwang nach innen. Der vom Glühen des inneren Korridors eingerahmte Mann war wahrscheinlich groß, ließ aber den Kopf derart hängen und den Körper vornüberkippen, daß man es nicht mit Sicherheit angeben konnte. Unmittelbar über seinem Brustbein schwebte ein rundes, leeres Gesicht wie ein Mond mit einem Strohdach aus stachligem, schwarzem Haar, das man mit einem stumpfen und ungeschickten Messer geschnitten hatte.

»Tut mir leid, wenn ich … Euch gestört habe, Doktor, aber … aber Ihr habt gesagt, ›komm früh‹, sagtet Ihr nicht so?« Die Stimme war dick und zähflüssig wie triefender Speck.

Morgenes stieß einen ärgerlichen Pfiff aus und zupfte an einer Strähne seines weißen Haares. »Ja, das habe ich, aber ich sagte, früh nach der Essenszeit, die noch gar nicht gekommen ist. Nun, es hat keinen Sinn, dich jetzt wieder wegzuschicken. Simon, kennst du Inch, meinen Gehilfen?«

Simon nickte höflich. Er hatte den Mann ein paarmal gesehen; Morgenes ließ ihn manchmal abends kommen, wenn er Hilfe brauchte, wohl beim Heben schwerer Gegenstände. Anderes kam kaum in Frage, denn Inch machte nicht den Eindruck, als könne man sich darauf verlassen, daß er vor dem Schlafengehen das Feuer auspinkelte.

»Also dann, junger Mann, ich fürchte, das setzt meiner Geschwätzigkeit für heute ein Ende«, bemerkte der Doktor. »Da Inch nun einmal hier ist, muß ich auch Gebrauch von ihm machen. Komm bald wieder, dann erzähle ich dir mehr – wenn du willst.«

»Bestimmt.« Simon nickte Inch noch einmal zu, der die Augen nach ihm rollte wie eine Kuh, und war schon an der Tür, als ihm flammend eine jähe Vision durch den Kopf schoß: ein klares Bild von Rachels Besen, der da lag, wo er ihn fallen gelassen hatte, im Gras am Burggraben, wie der Leichnam eines seltsamen Wasservogels.

Mondkalb!

Er würde gar nichts sagen. Er würde auf dem Rückweg den Besen mitnehmen und dem Drachen sagen, es sei alles erledigt. Sie hatte so viel um die Ohren und redete auch nur selten mit dem Doktor, obwohl sie und er zu den ältesten Bewohnern der Burg gehörten. Ja, das war offensichtlich der beste Plan.

Ohne zu verstehen, warum, drehte Simon sich um. Der kleine Mann untersuchte gerade, über den Tisch gebeugt, eine gewundene Schriftrolle, während Inch hinter ihm stand und nur in die Luft stierte.

»Doktor Morgenes…«

Beim Klang seines Namens sah der alte Mann auf und blinzelte. Er schien erstaunt, daß Simon sich noch im Zimmer befand, und dieser war selber erstaunt darüber.

»Doktor, ich bin ein Dummkopf.« Morgenes wölbte die Brauen und wartete.

»Ich sollte Euer Zimmer ausfegen. Rachel hat mich damit beauftragt. Jetzt ist der ganze Nachmittag vorbei.«

»Oh. Ah!« Morgenes' Nase kräuselte sich, als jucke sie ihn. Dann zog ein breites Lächeln über sein Gesicht. »Mein Zimmer ausfegen, was? Gut, Junge, komm morgen wieder und mach das. Sag Rachel, ich hätte noch mehr Arbeit für dich, falls sie dich freundlicherweise entbehren könnte.« Er wandte sich wieder seinem Buch zu, sah dann erneut auf, kniff die Augen zusammen und biß sich auf die Lippen. Während er so in stillem Nachdenken dasaß, verwandelte sich Simons Hochgefühl plötzlich in Unruhe.

Warum starrt er mich so an?

»Wenn ich mir die Sache recht überlege, Junge«, sagte der Mann endlich, »wird es hier demnächst eine ganze Menge Arbeit geben, bei der du mir helfen könntest – und irgendwann werde ich auch einen Lehrling brauchen. Komm morgen wieder, wie ich gesagt habe. Über das andere will ich mit der obersten der Kammerfrauen reden.« Er lächelte kurz und beugte sich dann wieder über seine Schriftrolle. Simon merkte plötzlich, daß Inch ihn über den Rücken des Doktors anstarrte; unter der ruhigen Oberfläche seines käsigen Gesichts regte sich etwas Undeutbares. Simon machte kehrt und rannte aus der Tür. Voller Begeisterung sprang er den blau erleuchteten Gang hinunter und tauchte unter dem dunklen, wolkenverschmierten Himmel ins Freie. Lehrling! Beim Doktor!

Als er das Torhaus erreichte, machte er halt und kletterte zum Burggraben hinunter, um seinen Besen zu suchen. Die Heimchen waren schon mitten in ihrem Abendchoral. Als Simon den Besen endlich gefunden hatte, hockte er sich einen Augenblick an die Ufermauer und hörte ihnen zu.

Während ringsum der rhythmische Gesang aufstieg, ließ Simon die Finger über die Steine neben sich gleiten. Er strich über die Oberfläche eines Blocks, der so glattgescheuert war wie handpoliertes Zedernholz. Seltsame Gedanken gingen ihm durch den Kopf: Vielleicht steht dieser Stein schon seit … seit vor der Geburt unseres Herrn Usires an diesem Ort. Vielleicht hat hier in dieser Stille einmal ein Sithijunge gesessen und der Nacht gelauscht …

Woher kommt dieser leichte Wind?

Eine Stimme schien zu flüstern, die Worte zu leise zum Hören. Vielleicht ist er mit der Hand über genau diesen Stein gefahren … Und erneut dieses Flüstern im Wind: Wir holen es uns wieder, Menschenkind. Wir holen uns alles wieder.

Simon raffte seinen Mantelkragen eng gegen die unerwartete Kälte zusammen, stand auf und kletterte den grasigen Hang wieder hinauf. Er hatte plötzlich Sehnsucht nach vertrauten Stimmen und Licht.

III Vögel in der Kapelle

»Beim gesegneten Ädon…«

Klatsch!

»… und Elysia, seiner Mutter…«

Klatsch!

»… und allen Heiligen, die da wachen über…«

Klatsch!

»… wachen über … autsch!« Ein Zischen ohnmächtiger Wut. »Verfluchtes Spinnenpack!« Das Klatschen begann von neuem, vermischt mit Verwünschungen und Beschwörungen. Rachel säuberte die Decke des Speisesaales von Spinnweben.

Zwei Mädchen krank, ein weiteres mit verstauchtem Knöchel – das war einer von den Tagen, an denen die Achataugen von Rachel dem Drachen so gefährlich glitzerten. Schlimm genug, daß Sarrah und Jael an der Ruhr darniederlagen – Rachel war eine harte Zuchtmeisterin, aber sie wußte, daß jeder Tag, den man ein krankes Mädchen weiterarbeiten ließ, drei Tage bedeuten konnte, die es am Ende dann doch länger ausfiel –, ja, schlimm genug auch, daß Rachel selber die Lücken stopfen mußte, die dadurch entstanden. Als ob sie nicht ohnehin schon für zwei arbeitete! Und nun erklärte der Seneschall, der König wolle heute abend in der Großen Halle speisen! Zudem war Elias, der Prinzregent, aus Meremund eingetroffen, und nun gab es noch mehr Arbeit!

Und Simon, vor einer Stunde losgeschickt, um ein paar Bündel Binsen zu holen, war immer noch nicht zurück.

Da stand sie nun mit ihren müden, alten Knochen auf einem wackligen Hocker und versuchte mit einem Besen die Spinnweben aus den hohen Deckenwinkeln zu entfernen. Dieser Junge! Dieser, dieser …

»Heiliger Ädon, gib mir Kraft…«

Klatsch! Klatsch! Klatsch!

Dieser verflixte Bursche!


Es war ja nicht nur, überlegte Rachel später, als sie mit rotem Gesicht und verschwitzt auf den Hocker gesunken war, daß der Junge faul und schwierig war. All die Jahre hatte sie ihr Bestes getan, die Aufsässigkeit aus ihm herauszuklopfen; ganz bestimmt, das wußte sie, war er dadurch ein besserer Mensch geworden. Nein, bei der Guten Mutter Gottes, viel schlimmer war, daß kein anderer Mensch sich um ihn zu kümmern schien! Simon war so groß wie ein Mann und alt genug, um bald wie ein Mann arbeiten zu können – aber nein! Er versteckte sich und entzog sich und träumte vor sich hin. Die Küchenhelfer lachten über ihn; die Kammermädchen verwöhnten ihn und verschafften ihm heimlich Essen, wenn Rachel ihn vom Tisch verbannt hatte. Und Morgenes? Barmherzige Elysia, der Mann ermunterte den Jungen noch!

Jetzt hatte er Rachel sogar gefragt, ob Simon nicht kommen und täglich für ihn arbeiten könne – ausfegen, helfen, die Sachen sauberzuhalten – haha! –, und dem alten Mann ein bißchen von seiner Arbeit abnehmen. Als ob sie es nicht besser wüßte! Die beiden würden nur herumsitzen, während der alte Süffel Bier kippte und dem Jungen Gott-weiß-was für Teufelsgeschichten erzählte.

Trotzdem konnte sie nicht umhin, sein Angebot ernsthaft zu prüfen. Es war das erste Mal, daß überhaupt jemand nach dem Jungen gefragt hatte oder ihn gar haben wollte – er lief allen bisher eben immer nur so zwischen den Füßen herum! Und Morgenes schien wirklich zu glauben, er tue dem Jungen damit etwas Gutes…

Rachel sah zu den breiten Deckenbalken hinauf, ließ den Blick in die Schatten schweifen und blies sich eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht.

Sie dachte an damals, an jene Regennacht, mit der alles angefangen hatte – wann war es, vor vierzehn, fast fünfzehn Jahren? Sie kam sich so alt vor, wenn sie daran zurückdachte. Dabei schien alles nur einen Augenblick her zu sein…

Tag und Nacht war der Regen heruntergeprasselt. Als Rachel vorsichtig über den schlammigen Hof ging, wobei sie mit der einen Hand den Mantel über dem Kopf, mit der anderen eine Laterne festhielt, trat sie in eine breite Wagenspur und fühlte, wie ihr das Wasser die Waden hinaufspritzte. Mit einem saugenden Laut kam ihr Fuß frei, aber ohne Schuh. Sie fluchte und hastete weiter. Sie würde sich den Tod holen, wenn sie in solch einer Nacht mit einem nackten Fuß herumlief, doch jetzt war keine Zeit, in Pfützen herumzustochern.

In Morgenes' Studierstube brannte Licht, aber es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sich Schritte näherten. Als er die Tür öffnete, sah sie, daß er schon im Bett gewesen war: Er trug ein langes, dringend ausbesserungswürdiges Nachthemd und rieb sich im hellen Lampenlicht benommen die Augen. Die zerwühlten Decken seines Bettes, das, umgeben von einer sich bedrohlich nach innen neigenden Palisade aus Büchern, am äußersten Ende des Zimmers stand, ließ Rachel an das Nest irgendeines scheußlichen Untiers denken.

»Doktor, kommt schnell!« rief sie. »Ihr müßt Euch beeilen!«

Morgenes starrte sie an und trat einen Schritt zurück. »Tretet ein, Rachel. Ich habe zwar keine Ahnung, welches nächtliche Herzklopfen Euch hergeführt hat, aber wenn Ihr schon einmal da seid…«

»Nein, nein, törichter Mann, es ist Susanna! Ihre Zeit ist gekommen, aber sie ist sehr schwach. Ich habe Angst um sie.«

»Wer? Was? Also gut. Nur einen Augenblick, ich suche meine Sachen zusammen. Was für eine furchtbare Nacht! Geht nur vor, ich hole Euch schon ein.«

»Aber, Doktor Morgenes, ich habe die Laterne für Euch mitge…«

Zu spät. Die Tür war zu, und Rachel stand allein auf den Stufen. Von ihrer langen Nase tropfte der Regen. Fluchend lief sie zurück in die Mägdekammern.

Es dauerte nicht lange, bis Morgenes die Treppen hinaufstampfte und sich das Wasser vom Mantel schüttelte. Von der Tür aus überschaute er das Bild mit einem einzigen Blick: auf dem Bett eine Frau mit abgewendetem Gesicht, hochschwanger, stöhnend. Dunkles Haar breitete sich über ihre Züge, und sie preßte mit schweißnasser Faust die Hand einer anderen jungen Frau, die neben ihr kniete. Am Fuß des Bettes stand Rachel mit einer älteren Frau.

Diese trat auf Morgenes zu, während er seine umfangreichen Überkleider abwarf.

»Nun, Elispeth«, sagte er ruhig. »Wie sieht es aus?«

»Nicht gut, fürchte ich, Herr. Ihr wißt, daß ich sonst allein damit fertiggeworden wäre. Sie müht sich seit Stunden, und sie blutet. Ihr Herz ist sehr schwach.« Bei diesen Worten trat auch Rachel näher.

»Hm, hm.« Morgenes bückte sich und wühlte in dem mitgebrachten Sack. »Bitte gebt ihr etwas hiervon«, sagte er zu Rachel und reichte ihr eine verkorkte Phiole. »Nur einen Schluck, aber achtet darauf, daß sie ihn auch zu sich nimmt.« Während er weiter in seiner Tasche suchte, zwang Rachel sanft die zusammengebissenen, zitternden Kiefer der Frau auf dem Bett auseinander und goß ihr ein wenig von der Flüssigkeit in den Mund. Mit dem Geruch von Schweiß und Blut, der den Raum erfüllte, mischte sich sofort ein stechendwürziger Duft.

»Doktor«, meinte Elispeth, als Rachel zurückkam, »ich glaube nicht, daß wir Mutter und Kind retten können – wenn wir überhaupt einen von beiden durchkriegen.«

»Ihr müßt das Leben des Kindes retten«, unterbrach Rachel. »Das ist die Pflicht aller Gottesfürchtigen. Der Priester sagt es. Rettet das Kind!«

Morgenes warf ihr einen gereizten Blick zu. »Ich werde Gott auf meine Weise fürchten, gute Frau, wenn es Euch nichts ausmacht. Wenn ich sie rette – und ich will nicht so tun, als könnte ich es –, kann sie immer noch ein zweites Kind bekommen.«

»Nein, das kann sie nicht«, knurrte Rachel wütend, »ihr Mann ist tot.« Und wenn einer das wissen mußte, dachte sie, dann Morgenes. Susannas Mann, der Fischer, hatte den Doktor oft besucht, bevor er ertrank – obwohl Rachel sich nicht vorstellen konnte, was die beiden miteinander zu bereden gehabt hatten.

»Ach was«, bemerkte Morgenes zerstreut, »sie kann ja durchaus noch einen anderen – wer war ihr Mann? Der Fischer?« Ein erschreckter Ausdruck trat auf sein Gesicht, und er eilte an das Bett. Erst jetzt schien er wirklich zu begreifen, wer da lag und auf dem groben Laken sein Leben ausblutete.

»Susanna?« fragte er leise und drehte das angstvolle, schmerzverzerrte Gesicht der Frau zu sich hin. Eine Sekunde lang öffnete sie weit die Augen, als sie ihn sah, dann ließ eine neue Welle von Todesqual ihre Lider wieder zufallen. »Was ist hier geschehen?« seufzte Morgenes. Susanna konnte nur stöhnen, und der Doktor sah mit zornigem Gesicht zu Rachel und Elispeth auf. »Warum hat mir niemand gesagt, daß dieses arme Mädchen so kurz vor der Geburt stand?«

»Sie wäre erst in zwei Monaten soweit gewesen«, antwortete Elispeth sanft. »Das wißt Ihr. Wir sind genauso überrascht wie Ihr.«

»Und warum sollte es Euch kümmern, wenn eine Fischerswitwe ein Kind bekommt?« fragte Rachel scharf. Auch sie konnte zornig sein.

»Und warum streitet Ihr Euch jetzt deswegen?«

Morgenes starrte sie einen Moment an und blinzelte zweimal.

»Ihr habt vollständig recht«, erwiderte er und wandte sich wieder dem Bett zu. »Ich werde das Kind retten, Susanna«, erklärte er der zitternden Frau.

Sie nickte einmal mit dem Kopf und schrie dann laut auf.


Es war ein dünnes, klagendes Jammern, aber es war das Geschrei eines lebendigen Säuglings. Morgenes reichte Elispeth das winzige, rotverschmierte Geschöpf.

»Ein Junge«, erklärte er und widmete seine Aufmerksamkeit wieder der Mutter. Sie war jetzt ruhig und atmete langsamer, aber ihre Haut war weiß wie Harcha-Marmor.

»Ich habe ihn gerettet, Susanna. Ich mußte es tun«, flüsterte er. Die Mundwinkel der Frau zuckten – es hätte ein Lächeln sein können.

»Ich … weiß…«, hauchte sie, und die Stimme aus ihrer wunden Kehle klang ganz, ganz leise. »Wenn nur … mein Eahlferend … nicht…« Die Anstrengung war zu groß, und sie verstummte.

Elispeth beugte sich hinunter, um ihr das Kind zu zeigen, in Decken gewickelt, noch am blutigen Nabel hängend.

»Er ist klein«, lächelte die Alte, »aber das liegt daran, daß er so früh gekommen ist. Wie ist sein Name?«

»Nennt … ihn … Seoman…«, krächzte Susanna heiser, »das heißt … ›wartend‹ …« Sie drehte sich zu Morgenes um und schien noch etwas sagen zu wollen. Der Doktor neigte sich tiefer, bis sein weißes Haar ihre schneeblasse Wange streifte, aber sie konnte die Worte nicht mehr herausbringen. Gleich darauf keuchte sie einmal, und die dunklen Augen rollten nach hinten, bis man das Weiße sah. Das Mädchen, das ihre Hand hielt, begann zu schluchzen.

Auch Rachel fühlte, daß ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie machte kehrt und tat, als finge sie an aufzuräumen. Elispeth durchtrennte die letzte Verbindung zwischen dem Kind und seiner sterbenden Mutter. Die Bewegung ließ Susannas rechte Hand, die sie fest in die eigenen Haare gekrallt hatte, heruntersinken und schlaff zu Boden fallen. Die Finger öffneten sich und gaben etwas Glänzendes preis, das über die rohen Dielen rollte, bis es neben dem Fuß des Doktors liegenblieb. Aus dem Augenwinkel sah Rachel, wie Morgenes sich bückte und den Gegenstand aufhob. Er war klein und verschwand leicht in der Handfläche des Doktors und von dort in seiner Arzttasche.

Rachel war empört, aber niemand sonst schien den Vorfall bemerkt zu haben. Sie wirbelte herum, um ihn zur Rede zu stellen, die Augen noch voller Tränen. Aber der Ausdruck in seinem Gesicht, der furchtbare Gram, brachten sie zum Verstummen, ehe sie noch ein Wort gesagt hatte.

»Seoman soll er heißen«, erklärte der Doktor mit heiserer Stimme, und als er näherkam, waren seine Augen voll fremdartiger Schatten. »Ihr müßt für ihn sorgen, Rachel. Seine Eltern sind nämlich tot.«


Ein schneller Atemzug. Rachel hatte sich gerade noch gefangen, bevor sie vom Hocker rutschte. Am hellichten Tag einzunicken – sie schämte sich für sich selbst! Aber das zeigte eben nur, wie sträflich sie sich heute abgerackert hatte, nur um einen Ausgleich für das Fehlen der drei Mädchen zu schaffen … und für Simon.

Was sie brauchte, war ein bißchen frische Luft. Auf einem Hocker zu stehen und wie eine Verrückte mit dem Besen herumzufuchteln – kein Wunder, wenn man dabei melancholisch wurde. Sie mußte einfach einen Augenblick hinaus ins Freie; sie hatte weiß Gott ein Recht auf frische Luft. Was war dieser Simon doch für ein Nichtsnutz!

Natürlich hatten sie ihn großgezogen, sie und die Kammerfrauen. Susanna hatte keine Verwandtschaft in der Nähe, und über ihren ertrunkenen Mann, Eahlferend, schien überhaupt niemand so recht etwas zu wissen; also blieb der Junge auf dem Hochhorst. Rachel hatte so getan, als mache sie einen Riesenaufstand deshalb, aber sie hätte ihn ebensowenig fortgelassen, wie sie ihren König verraten oder die Betten nicht gemacht hätte. Rachel war es auch, die ihm den Namen Simon gegeben hatte. Alle, die in königlichen Diensten standen, nahmen einen Namen von Warinsten, der Heimatinsel König Johans, an. ›Simon‹ klang am ehesten wie ›Seoman‹, also blieb es bei diesem Namen.

Rachel stieg langsam die Stufen zum Erdgeschoß hinunter. Sie fühlte sich ein ganz klein wenig wacklig auf den Beinen und wünschte, sie hätte einen Mantel mitgenommen, denn die Luft würde recht beißend sein. Die Tür knarrte – eine schwere Tür, deren Angeln wohl wieder einmal geölt werden mußten –, und Rachel trat in den Eingangshof. Die Morgensonne lugte eben erst über die Zinnen und spähte herein wie ein Kind.

Die Kammerfrau mochte diesen Ort, gerade unter dem steinernen Übergang, der den Speisesaal mit dem Hauptbau der Kapelle verband. Der kleine Hofgarten im Schatten des Überganges war voller Kiefern und Heidekraut, verteilt auf kleine, sanft ansteigende Hügel; der ganze Garten war nicht mehr als einen Steinwurf lang. Wenn sie nach oben schaute, über den steinernen Laufgang hinüber, konnte sie den nadelspitz aufragenden Grünengel-Turm sehen, der weiß in der Sonne glänzte wie ein elfenbeinerner Stoßzahn.

Es hatte eine Zeit gegeben, erinnerte sich Rachel, lange vor Simons Geburt, in der sie selbst ein Mädchen gewesen war und in diesem Garten gespielt hatte. Wie manche von ihren Mägden darüber lachen würden – allein der Gedanke: der Drache als kleines Mädchen! Aber das war sie gewesen, und danach eine junge Dame – und keineswegs unansehnlich, auch das war nichts als die Wahrheit. Damals war der Garten erfüllt gewesen vom Rauschen der Brokate und Seiden, vom Lachen der vornehmen Herren und ihrer Damen, die den Falken auf der Faust und ein heiteres Lied auf den Lippen gehabt hatten.

Simon dagegen, der immer glaubte, er wüßte schon alles – Gott schuf junge Männer eben dumm, und damit hatte es sich. Diese Mädchen hatten ihn fast unrettbar verzogen und hätten es ganz geschafft, wenn Rachel nicht ein Auge auf ihn gehabt hätte. Sie wußte, was sich gehörte, auch wenn diese jungen Dinger anderer Meinung waren.

Früher war alles anders, dachte Rachel … und bei dem Gedanken wollte der Kiefernduft des schattigen Gartens ihr das Herz zusammenschnüren. Ein wunderbarer, aufregender Ort war die Burg gewesen: hochgewachsene Ritter mit Helmbüschen und schimmernden Rüstungen, und schöne Mädchen in prächtigen Kleidern, und die Musik … ach, und erst der Turnierplatz, juwelenbunt von Zelten! Jetzt lag die Burg in tiefem Schlaf und träumte nur. Über die hochragenden Zinnen herrschten Leute wie Rachel: Köche und Köchinnen, Kammerfrauen, Seneschälle und Küchenjungen …

Wirklich, es war etwas kühl. Rachel beugte sich vor, zog ihr Umschlagtuch enger und richtete sich dann jäh auf. Sie starrte auf Simon, der, die Hände auf dem Rücken versteckt, vor ihr stand. Wie in aller Welt war es ihm gelungen, sich ganz unbemerkt anzuschleichen? Und warum hatte er so ein idiotisches Grinsen im Gesicht? Rachel fühlte, wie die Stärke des Gerechten in ihren Körper zurückflutete. Sein Hemd, noch vor einer Stunde sauber, war schwarz von Schmutz und an mehreren Stellen zerrissen, ebenso die Hosen.

»Gesegnete Sankt Rhiap, steh mir bei!« kreischte Rachel. »Was hast du angestellt, Dummkopf?« Rhiappa, eine Ädoniterin aus Nabban, war, von Seepiraten mehrfach geschändet, mit dem Namen des Einen Gottes auf den Lippen gestorben. Sie erfreute sich bei Dienstboten großer Beliebtheit.

»Schau, was ich habe, Rachel!« sagte Simon und zeigte ihr einen zerfetzten, windschiefen Strohkegel: ein Vogelnest, das schwache Pieptöne von sich gab. »Ich habe es unter dem Hjeldin-Turm gefunden. Der Wind muß es heruntergeweht haben. Drei leben noch, und die will ich aufziehen!«

»Bist du denn ganz und gar von Sinnen!« Rachels Besen sauste durch die Lüfte wie die strafenden Blitze des Herrn, die zweifellos Rhiaps Vergewaltiger vernichtet hatten. »Du wirst diese Kreaturen so wenig in meinem Haushalt aufziehen, wie ich vorhabe, nach Perdruin zu schwimmen! Schmutzige Biester, die überall herumflattern und den Leuten in die Haare gehen – und sieh dir deine Kleider an! Weißt du eigentlich, wie lange Sarrah brauchen wird, bis sie das alles wieder geflickt hat?«

Simon schlug die Augen nieder. Natürlich hatte er das Nest nicht auf der Erde gefunden. Es war jenes, das er im Heckengarten entdeckt hatte, halb von seinem Platz auf der Festeiche heruntergerutscht. Er war hinaufgeklettert, um es zu retten, und hatte vor lauter Aufregung bei der Vorstellung von eigenen jungen Vögeln überhaupt nicht an die Arbeit gedacht, die er Sarrah damit machte, dem stillen Mädchen, das die Sachen der Dienstboten ausbesserte. Eine Woge von Schwermut und ohnmächtigem Zorn überschwemmte ihn.

»Aber Rachel, ich habe auch daran gedacht, die Binsen zu pflücken!« Vorsichtig hielt er das Nest im Gleichgewicht und zog unter dem Wams ein mageres, zerzaustes, verklumptes Schilfbündel hervor.

Rachels Miene wurde ein wenig weicher, aber die gerunzelten Brauen blieben. »Du denkst einfach nicht nach, Junge, du denkst nicht nach – du bist wie ein kleines Kind. Wenn etwas kaputtgeht oder zu spät getan wird, muß jemand die Verantwortung dafür übernehmen. So geht es nun einmal zu in der Welt. Ich weiß, daß du es nicht wirklich böse meinst, aber muß du bei-unserer-lieben-Frau so dumm sein?«

Simon sah vorsichtig auf. Obwohl sein Gesicht noch das richtige Maß von Kummer und Reue zeigte, konnte Rachel mit ihrem Basiliskenblick erkennen, daß er das Schlimmste überstanden zu haben glaubte. Ihre Brauen zogen sich von neuem finster zusammen.

»Es tut mir leid, Rachel, wirklich, es tut mir leid«, sagte er.

Sie streckte den Arm aus und stieß ihm den Besenstiel gegen die Schulter. »Komm mir nicht mit deinem ewigen ›Tut-mir-leid‹. Schaff diese Vögel fort und setz sie wieder dahin, wo du sie hergenommen hast. Hier drinnen gibt es keine flatternden, fliegenden Biester.«

»Ach, Rachel! Ich könnte sie doch in einen Käfig tun. Ich werde einen bauen!«

»Nein, nein und nochmals nein. Nimm sie und bring sie deinem nichtsnutzigen Doktor, wenn du willst, aber trag sie nicht hierher, um damit anständige Leute zu ärgern, die ihre Arbeit tun müssen.«

Simon trottete davon, das Nest in den hohlen Händen. Irgendwo hatte er einen Fehler gemacht – Rachel hätte fast nachgegeben, aber sie war eine harte, alte Nuß. Der kleinste Irrtum im Umgang mit ihr bedeutete eine schnelle und schreckliche Niederlage.

»Simon!« rief sie ihm nach. Er wirbelte herum.

»Ich kann sie behalten?«

»Natürlich nicht! Sei kein Mondkalb.« Sie schaute ihn durchdringend an. Eine unbehaglich lange Weile verging; Simon trat von einem Fuß auf den anderen und wartete.

»Du wirst künftig für den Doktor arbeiten, Junge«, sagte sie dann endlich. »Vielleicht kann er dir ein bißchen Verstand eintrichtern. Ich bin es leid.« Sie warf ihm einen finsteren Blick zu. »Denk aber daran, daß du tust, was er dir sagt, und dich bei ihm – und bei dem bißchen Glück, das dir noch übrigbleibt – für diese einzige und letzte Chance bedankst. Verstanden?«

»Ja, gewiß«, antwortete er glücklich.

»So leicht entkommst du mir nicht. Sei zum Abendessen zurück.«

»Ja, Herrin!« Simon drehte sich um und wollte zu Morgenes rennen, blieb aber noch einmal stehen und wandte sich der obersten Kammerfrau zu: »Danke, Rachel.«

Rachel stieß einen angewiderten Laut aus und marschierte zur Speisesaaltreppe zurück. Simon wunderte sich über die vielen Kiefernnadeln, die in ihrem Tuch hingen.


Ein sanfter Schneenebel begann aus den tiefhängenden, zinnfarbenen Wolken herabzuschweben. Das Wetter hatte sich endgültig geändert, das wußte Simon: Jetzt würde es bis Lichtmeß ständig kalt sein. Anstatt die Vogelkinder über den zugigen Hof zu tragen, zog er es vor, durch die Kapelle zu huschen und so zur Westseite des Inneren Zwingers zu gelangen. Die Morgenandacht war schon lange vorüber, und die Kirche mußte eigentlich leer sein. Vielleicht würde Vater Dreosan es nicht sonderlich schätzen, wenn Simon durch sein Reich trampelte, aber der gute Vater saß jetzt ganz bestimmt bei Tisch, widmete sich seinem üblichen, umfangreichen zweiten Frühstück und stieß bedrohliche Summtöne über die Qualität der Butter oder die Zusammensetzung des Honig-und-Brot-Puddings aus.

Simon stieg die zwei Dutzend Stufen zur Seitentür der Kapelle hinauf. Der graue Stein der Türumfassung war mit den nassen Überresten sterbender Schneeflocken besetzt. Die Tür schwang überraschend geräuschlos nach innen.

Um keine verräterischen nassen Fußabdrücke auf den Steinfliesen der Kapelle zu hinterlassen, schob Simon sich durch die Samtvorhänge an der Rückseite des Vorraumes und kletterte die Stiege zur Chor-Empore hinauf.

Die vollgestopfte, stickige Empore, im Hochsommer ein dampfender Folterkasten, war jetzt angenehm warm. Der Fußboden war übersät mit dem Abfall der Mönche, Kleinkram: Nußschalen, ein Apfelrest, Stückchen von Schiefertafeln, auf die – ein läßlicher Verstoß wider das Schweigegelübde – Botschaften gekritzelt waren; es sah mehr nach einem Käfig für Affen oder Tanzbären aus als nach einem Raum, in dem Gottesmänner zusammenkamen, um das Lob des Herrn zu singen. Simon lächelte und suchte sich leise einen Weg durch die zahlreichen anderen merkwürdigen Dinge, die da verstreut umherlagen – Ballen schlichten Tuchs, ein paar kleine, wacklige Holzschemel. Es war nett zu wissen, daß diese mürrisch aussehenden Männer mit ihren kahlrasierten Köpfen so widerspenstig sein konnten wie Bauernjungen.

Aufgeschreckt von den plötzlichen Lauten eines Gesprächs, blieb Simon stehen und drückte sich in den Wandvorhang, der den hinteren Teil der Empore abschloß. In das staubige Tuch gepreßt, hielt er den Atem an, und sein Herz raste. Wenn Vater Dreosan oder der Küster Barnabas dort unten waren, würde er es nie schaffen, unbemerkt wieder herunter- und zur Hintertür hinauszugelangen. Dann mußte er sich dort, wo er hineingekommen war, auch wieder hinausschleichen und doch den Weg über den Hof nehmen – der Meisterspion im feindlichen Lager.

Jeden Laut vermeidend, strengte Simon die Ohren an, um den Standort der Sprecher herauszufinden. Es waren zwei Stimmen, die er zu hören schien. Während er sich konzentrierte, piepten die Vögelchen in seiner Hand ganz leise. Er kauerte sich nieder, ließ das Nest einen Augenblick achtsam in seiner Ellenbogenbeuge ruhen und nahm den Hut ab – um so schlimmer für ihn, wenn ihn Vater Dreosan mit Hut in der Kapelle erwischte! Als er die weiche Krempe von oben über das Nest stülpte, verstummten die Vogelkinder, als sei es Nacht geworden. Mit größter Vorsicht teilte Simon die Vorhangränder und steckte den Kopf hindurch. Die Stimmen kamen aus dem Mittelgang vor dem Altar und klangen unverändert; man hatte ihn nicht gehört.

Nur wenige Fackeln brannten. Das gewaltige Dach der Kapelle lag fast völlig im Schatten, die schimmernden Fenster der Kuppel schienen an einem Nachthimmel zu schweben, Löcher in der Dunkelheit, durch die man die Umrisse des Himmels sehen konnte. Simon, seine Findlinge wohlbehütet unter dem Hut wissend, kroch auf lautlosen Füßen zum Emporengeländer. Dort hockte er sich in die schattendunkle Ecke neben der Treppe, die in die eigentliche Kapelle hinunterführte, und steckte das Gesicht zwischen die geschnitzten Säulen der Balustrade, die eine Wange am Martyrium des heiligen Tunath, während die andere die Geburt der heiligen Pelippa von der Insel streifte.

»… und du mit deinem gottverfluchten Gejammer«, schimpfte eine der Stimmen. »Ich habe es unaussprechlich satt!« Simon konnte das Gesicht des Sprechers nicht sehen; er kehrte der Empore den Rücken zu und trug einen Mantel mit hohem Kragen. Seinen Gefährten jedoch, der ihm gegenüber auf einer Kirchenbank zusammengesunken war, konnte Simon deutlich ausmachen und erkannte ihn sofort.

»Leute, denen man etwas sagt, das sie nicht gern hören, sprechen oft von ›Gejammer‹, Bruder«, sagte der auf der Bank und bewegte müde die schlankfingrige Linke. »Aus Liebe zum Reich warne ich dich vor diesem Priester.« Einen Augenblick Schweigen. »Und im Gedenken an die Zuneigung, die uns einmal verbunden hat.«

»Du kannst alles sagen, alles, was du willst!« bellte der erste Mann, und sein Zorn klang sonderbar nach Schmerz. »Aber der Thron gehört mir, nach dem Gesetz und dem Wunsch unseres Vaters. Nichts, was du denkst, sagst oder tust, kann daran etwas ändern!«

Josua Ohnehand, wie Simon den jüngeren Sohn des Königs oft hatte nennen hören, erhob sich steif von der Bank. Sein perlgraues Wams und die Beinkleider zeigten kunstvolle Muster in Rot und Weiß; er trug das braune Haar kurz ums Gesicht und hoch aus der Stirn gestutzt.

»Ich will den Drachenbeinthron nicht, glaub mir das, Elias«, zischte er. Seine Worte waren höflich, aber sie flogen in Simons Versteck wie Pfeile. »Ich warne dich lediglich vor Pryrates, einem Mann mit … ungesunden Neigungen. Bring ihn nicht hierher, Bruder. Er ist gefährlich – glaub mir, denn ich kenne ihn von früher, aus der Usires-Priesterschule von Nabban. Die Mönche dort mieden ihn wie einen Pestüberträger. Und doch leihst du ihm noch immer dein Ohr, als wäre er vertrauenswürdig wie Herzog Isgrimnur oder der alte Herr Fluiren. Sei kein Narr! Er wird der Untergang unseres Hauses sein.« Josua nahm sich zusammen. »Ich will nur eines: dir einen aufrichtigen Rat geben. Bitte, hör auf mich. Ich habe keinerlei Absichten auf den Thron.«

»Dann verlaß die Burg!« knurrte Elias und drehte seinem Bruder den Rücken zu, die Arme über der Brust verschränkt. »Geh, damit ich mich darauf vorbereiten kann, zu herrschen wie ein Mann – ohne dein Gejammer und deine Ratschläge.«

Der ältere Prinz hatte die gleiche hohe Stirn und Adlernase, war jedoch weit kräftiger gebaut als Josua; er sah aus wie ein Mann, der mit bloßen Händen ein Genick zerbrechen kann. Seine Haare, ebenso wie Reitstiefel und Wams, waren schwarz, Mantel und Beinkleid, vom Reisestaub fleckig, grün.

»Wir sind beide unseres Vaters Söhne, o zukünftiger König…« In Josuas Lächeln lag Spott. »Die Krone ist von Rechts wegen dein. Was wir einander vorwerfen, braucht dich nicht zu kümmern. Deine demnächst königliche Person wird ganz und gar sicher sein – mein Wort darauf. Aber«, seine Stimme wurde eindringlicher, »ich lasse mich nicht, hörst du, nicht aus meines Vaters Haus weisen, und zwar von niemandem. Auch nicht von dir, Elias.«

Sein Bruder fuhr herum und starrte ihn an. Als ihre Blicke einander begegneten, kam es Simon vor, als blitzten Schwerter.

»Was wir einander vorwerfen?« fauchte Elias, und es klang etwas Zerbrochenes und Qualvolles aus seiner Stimme. »Was kannst du mir vorwerfen? Deine Hand?« Er ging ein paar Schritte von Josua fort und blieb mit dem Rücken zu seinem Bruder stehen. Seine Worte kamen stockend vor Bitterkeit. »Den Verlust einer Hand. Ja. Aber deinetwegen stehe ich hier als Witwer, und meine Tochter ist halb verwaist. Sprich mir also nicht von Vorwürfen!«

Josua schien eine Weile den Atem anzuhalten, bevor er erwiderte. »Dein Schmerz … ich kenne deinen Schmerz, Bruder«, meinte er endlich. »Weißt du denn nicht, daß ich nicht nur meine rechte Hand, sondern mein Leben gegeben hätte?«

Elias wirbelte herum, griff sich mit der Hand an den Hals und zerrte etwas Glitzerndes aus seinem Wams. Simon starrte mit aufgerissenem Mund durch das Geländer. Es war kein Messer, sondern etwas Weiches und Nachgiebiges, wie ein Streifen aus schimmerndem Stoff. Einen höhnischen Moment lang hielt Elias es seinem Bruder vor das erschreckte Gesicht, schleuderte es dann zu Boden, machte auf dem Absatz kehrt und stapfte durch den Mittelgang davon. Lange blieb Josua regungslos stehen, bis er sich schließlich bückte wie ein Träumender und den glänzenden Gegenstand aufhob – den silbernen Schal einer Frau. Er schaute ihn an, schützte den Glanz in der hohlen Hand, und eine Grimasse des Schmerzes oder der Wut verzerrte seine Züge. Mehrmals atmete Simon ein und aus, bevor Josua endlich den Schal in seine Hemdbrust steckte und seinem Bruder aus der Kapelle folgte.

Ein längerer Zeitraum verstrich, bevor Simon sich sicher genug fühlte, seinen Lauscherposten zu verlassen und sich zur Haupttür der Kapelle zu schleichen. Ihm war, als hätte er ein seltsames Puppenspiel gesehen, ein Usires-Spiel, für ihn allein aufgeführt. Jäh schien die Welt weniger beständig, weniger zuverlässig zu sein, da die Prinzen von Erkynland, die Erben von ganz Osten Ard, einander anbrüllten und sich streiten konnten wie betrunkene Wachsoldaten.

Als er in die Halle spähte, erschreckte Simon eine plötzliche Bewegung. Eine Gestalt im braunen Wams huschte über den Korridor, eine kleine Gestalt, ein junge, vielleicht so alt wie Simon oder jünger. Der Fremde warf einen Blick nach hinten – ein kurzer Eindruck von verschreckten Augen – und war dann um die Ecke verschwunden. Simon hatte ihn nicht erkannt. Konnte der andere ebenfalls den Prinzen nachspioniert haben? Simon schüttelte den Kopf. Er fühlte sich verwirrt und dumm wie ein Ochse mit Sonnenstich. Er nahm seinen Hut von dem Nest und brachte den Vögeln das Tageslicht und zwitscherndes Leben zurück. Wieder schüttelte er den Kopf. Es war ein beunruhigender Morgen gewesen.

IV Grillenkäfig

Morgenes lief in seiner Werkstatt herum, völlig in die Suche nach einem Buch vertieft. Er winkte Simon die Erlaubnis zu, sich nach einem Käfig für die Jungvögel umzusehen, und setzte dann seine Jagd fort, wobei er Stöße von Manuskripten und Foliobänden umwarf wie ein blinder Riese in einer Stadt voll zerbrechlicher Türme.

Eine Behausung für die Nestlinge zu finden war schwieriger, als Simon erwartet hatte; es gab eine Menge Käfige, aber keiner schien ganz der richtige zu sein. Manche hatten so weit auseinanderstehende Gitterstäbe, daß sie für Schweine oder Bären gemacht zu sein schienen; andere waren schon mit seltsamen Dingen vollgestopft, die überhaupt nicht an Tiere erinnerten. Endlich fand er unter einer Rolle glänzenden Stoffes einen Käfig, der ihm geeignet schien. Er war kniehoch und glockenförmig, aus enggeflochtenen Flußbinsen gefertigt und – bis auf eine Sandschicht am Boden – leer. An der Seite gab es eine kleine, mit einem Stückchen Seil verschlossene Tür. Simon zupfte den Knoten auf und öffnete das Türchen.

»Halt! Hör sofort auf!«

»Was?« Simon sprang zurück. Der Doktor hüpfte an ihm vorbei und stieß mit dem Fuß die Käfigtür zu.

»Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe«, keuchte Morgenes, »aber ich hätte ein bißchen nachdenken sollen, bevor ich dich hier herumgraben und alles durchwühlen ließ. Der da ist für deine Zwecke nicht brauchbar, fürchte ich.«

»Aber warum nicht?« Simon beugte sich vor und kniff die Augen zusammen, konnte jedoch nichts Besonderes entdecken.

»Nun, mein Schmutzfink, bleib ein wenig hier stehen und rühr nichts an, dann will ich es dir zeigen. Töricht von mir, nicht daran gedacht zu haben.« Morgenes schaute sich einen Augenblick suchend um, bis er einen lange nicht mehr beachteten Korb mit Dörrobst fand. Er pustete den Staub von einer Feige und trat an den Käfig.

»Nun paß genau auf.« Er öffnete die Tür und warf die Frucht hinein. Sie landete im Sand des Käfigbodens.

»Ja?« fragte Simon verwirrt.

»Warte«, flüsterte der Doktor. Kaum war das Wort über seine Lippen, als auch schon etwas vorzugehen begann. Zuerst schien es, als schimmere im Käfig die Luft; dann sah man deutlich, daß der Sand selber sich bewegte und rund um die Feige in zartes Strudeln geriet. Plötzlich – so plötzlich, daß Simon mit überraschtem Ächzen zurücksprang – öffnete sich im Sand ein großer, zahniger Mund und verschluckte die Feige so schnell, wie ein Karpfen den Spiegel eines Teiches durchbricht, um eine Mücke zu schnappen. Ein kurzes Kräuseln im Sand, dann war es im Käfig wieder still, und alles schien so unschuldig wie zuvor.

»Was ist unter dem Sand?« keuchte Simon. Morgenes lachte.

»Das ist es!« Er schien hochzufrieden. »Das ist das Tierchen selber. Es gibt gar keinen Sand, er ist nur eine Art Maskerade. Alles dort auf dem Käfigboden ist ein einziges, schlaues Tier. Entzückend, nicht wahr?«

»Ich glaube schon«, antwortete Simon ohne große Überzeugung. »Woher kommt es?«

»Nascadu, draußen in den Wüstenländern. Du verstehst jetzt, warum ich nicht wollte, daß du darin herumstocherst – ich nehme auch nicht an, daß deine gefiederten Waisen damit sehr glücklich geworden wären.«

Morgenes schloß die kleine Tür wieder, band sie mit einem Lederriemen fest zu und stellte den Käfig hoch oben ins Regal. Dazu war er auf den Tisch gestiegen und wanderte dann über dessen ganze Länge weiter, wobei er geschickt über allen Müll hinwegkletterte, bis er gefunden hatte, was er suchte, und herunterhüpfte. Dieser Behälter, aus dünnen Holzlatten gebaut, enthielt keinen verdächtigen Sand.

»Grillenkäfig«, erklärte der Doktor und half dem Jungen, die Vögel in ihr neues Heim zu setzen. Ein kleiner Wassernapf wurde hineingestellt, und aus irgendeinem anderen Winkel förderte Morgenes sogar noch ein winziges Säckchen mit Sämereien zutage, die er auf den Käfigboden streute.

»Sind sie denn alt genug dafür?« fragte Simon erstaunt.

Der Doktor wedelte sorglos mit der Hand. »Keine Sorge«, erläuterte er. »Gut für ihre Zähne.«

Simon versprach seinen Vögeln, bald mit etwas Geeigneterem wiederzukommen, und folgte dem Doktor durch die Werkstatt.

»Nun, junger Mann, der du die Finken und die Schwalben bezauberst«, lächelte Morgenes, »was kann ich an diesem kalten Vormittag für dich tun? Mir scheint, daß wir neulich dein gerechtes und ehrenwertes Froschgeschäft noch nicht ganz abgewickelt hatten.«

»Ja, und ich hatte gehofft…«

»Und ich glaube, da war noch etwas anderes?«

»Was?« Simon dachte scharf nach.

»Eine Kleinigkeit von einem Fußboden, der ausgefegt werden sollte. Ein Besen, einsam und verlassen, mit einem Reisigherzen voll schmerzlicher Sehnsucht nach Benutzung…«

Simon nickte düster. Er hatte gehofft, seine Lehre würde mit verheißungsvolleren Dingen beginnen.

»Oho. Eine gewisse Abneigung gegen niedere Dienste?« Der Doktor hob eine Braue. »Verständlich, jedoch fehl am Platz. Man sollte diese alltäglichen Aufgaben, die den Körper in Anspruch nehmen, Geist und Herz aber ungefesselt lassen, hochschätzen. Nun, wir wollen uns bemühen, dir über deinen ersten Diensttag hinwegzuhelfen. Ich habe mir eine großartige Methode ausgedacht.« Er machte einen komischen kleinen Tanzschritt. »Ich rede, du arbeitest. Gut, wie?«

Simon zuckte die Achseln. »Habt Ihr einen Besen? Ich habe meinen vergessen.«

Morgenes stocherte hinter der Tür herum und brachte endlich etwas zum Vorschein, das so abgewetzt und voller Spinnweben war, daß man es kaum noch als Kehrwerkzeug erkennen konnte.

»Nun denn«, sagte der Doktor und präsentierte es Simon mit so viel Würde, als wäre es das persönliche Banner des Königs, »wovon soll ich dir erzählen?«

»Von den Seeräubern und ihrem schwarzen Eisen und den Sithi … und natürlich von unserer Burg. Und von König Johan.«

»Aha. Ja.« Er nickte nachdenklich. »Eine ziemlich lange Liste, aber wenn uns dieser hohlköpfige Faulpelz Inch nicht wieder unterbricht, könnte ich sie vielleicht ein bißchen verkürzen. Fang an, Junge, fang an – laß den Staub fliegen! Übrigens, wo war ich eigentlich in meiner Geschichte stehengeblieben?«

»Oh, die Rimmersmänner waren gekommen, und die Sithi zogen sich zurück, und die Rimmersmänner hatten eiserne Schwerter und hackten die Leute in Stücke und brachten sie alle um und töteten die Sithi mit schwarzem Eisen…«

»Soso«, meinte Morgenes trocken, »jetzt fällt es mir wieder ein. Hmmm. Nun, um die Wahrheit zu sagen, die Nordräuber brachten nicht alle um; auch ihr Vordringen und ihre Angriffe waren vielleicht nicht ganz so gnadenlos, wie ich das dargestellt habe. Viele Jahre lebten sie im Norden, bevor sie überhaupt die Frostmark durchquerten – und selbst dann stießen sie noch auf ein erhebliches Hindernis: die Männer von Hernystir.«

»Ja, aber das Sithi-Volk!« Simon war ungeduldig. Er wußte alles über die Hernystiri – er hatte schon viele Leute aus diesem heidnischen Land im Westen gesehen. »Ihr sagtet, die kleinen Leute hätten vor den eisernen Schwertern fliehen müssen!«

»Keine ›kleinen Leute‹, Simon. Ich … o je!« Der Doktor ließ sich auf einen Haufen in Leder gebundene Bücher sinken und zupfte sich am spärlichen Kinnbart. »Ich sehe schon, daß ich dir die Geschichte ausführlicher erzählen muß. Erwartet man dich zum Mittagessen?«

»Nein«, log Simon, ohne zu zögern. Eine durch nichts unterbrochene Geschichte des Doktors schien ihm ein guter Gegenwert für eine von Rachels berühmten Trachten Prügel zu sein.

»Gut. Dann wollen wir uns ein Stück Brot und ein paar Zwiebeln suchen … und vielleicht ein Krüglein mit irgendeinem Getränk – Reden macht durstig –, und dann werde ich versuchen, Schlacke in das reinste Metall, das Metall an sich, zu verwandeln; kurz gesagt: dir etwas beizubringen.«

Als sie sich verproviantiert hatten, nahm der Doktor wieder Platz.

»Nun gut und nochmals gut, Simon – oh, und genier dich nicht, beim Essen den Besen zu schwingen. Die Jugend ist ja so beweglich! –, berichtige mich also bitte, wenn ich etwas Falsches sage. Heute haben wir Drorstag, den fünfzehnten – sechzehnten? – nein, den fünfzehnten Novander. Und das Jahr 1164, nicht wahr?«

»Ich glaube ja.«

»Hervorragend. Leg das da drüben auf den Schemel, ja? Also das elfhundertvierundsechzigste Jahr seit wann? Weißt du das?« Morgenes beugte sich vor.

Simon zog ein saures Gesicht. Der Doktor wußte, daß er ein Mondkalb war, und neckte ihn nur. Wie sollte ein Küchenjunge etwas von solchen Dingen wissen? Er fegte schweigend weiter.

Wenig später sah er auf. Der Doktor kaute und blickte ihn über einen knusprigen Kanten dunklen Brotes gespannt an.

Was für scharfe, blaue Augen der alte Mann hatte!

Simon drehte sich wieder um.

»Nun?« fragte der Doktor mit vollem Mund. »Seit wann?«

»Ich weiß es nicht«, murmelte Simon und haßte den Klang seiner eigenen vorwurfsvollen Stimme.

»So sei es. Du weißt es nicht – oder wenigstens glaubst du das. Hörst du den Bekanntmachungen zu, wenn der Ausrufer sie verliest?«

»Manchmal. Wenn ich auf dem Markt bin. Sonst erzählt mir Rachel, was sie sagen.«

»Und was kommt zum Schluß? Zum Schluß lesen sie das Datum, erinnerst du dich nicht? Und paß auf die Kristallvase auf, Junge, du fegst wie ein Mann, der seinen schlimmsten Feind rasiert. Wie heißt es am Ende?«

Simon, beschämt und gereizt, wollte gerade den Besen hinwerfen und fortrennen, als plötzlich ein Satz aus den Tiefen seiner Erinnerung aufstieg, begleitet von den Geräuschen des Marktes – dem Knallen von Fähnchen und Dachplanen im Wind – und dem sauberen Duft des unter die Füße gestreuten Frühlingsgrases.

»Seit der Gründung.« Er war sicher. Er hörte es, als stünde er gerade auf der Mittelgasse.

»Ausgezeichnet!« Der Doktor hob wie zum Ehrengruß den Krug und nahm einen großen Schluck. »Und nun – was für eine ›Gründung‹? Mach dir keine Sorgen«, fuhr er fort, als Simon wieder den Kopf schütteln wollte. »Ich werde es dir erzählen. Ich erwarte nicht, daß junge Männer von heute – die man mit unverbürgten Geschichten von fahrenden Rittern und deren Heldentaten aufwachsen läßt – viel über den wirklichen Hergang der Ereignisse wissen.« Mit geheuchelter Trauer schüttelte der Doktor seinerseits das Haupt. »Es war das Nabbanai-Imperium, das vor elfhundertsoundsoviel Jahren gegründet wurde, von Tiyagaris, dem ersten Imperator. Damals herrschten die Legionen von Nabban über alle Länder der Menschen im Norden und Süden, zu beiden Seiten des Gleniwentflusses.«

»Aber – aber Nabban ist klein!« Simon war erstaunt. »Es ist ja nur ein kleiner Teil von König Johans Reich!«

»Das, junger Mann«, versetzte Morgenes, »ist genau das, was wir ›Geschichte‹ nennen. Kaiserreiche haben einen Hang zum Niedergang und Königreiche zum Untergang. Im Lauf von ungefähr tausend Jahren kann alles mögliche passieren – und Nabbans Blütezeit war sogar von weit kürzerer Dauer. Worauf ich aber hinauswollte, ist, daß Nabban einst über die Menschen herrschte, und diese Menschen lebten Seite an Seite mit den Sithi. Deren König regierte hier in Asu'a – dem Hochhorst, wie wir es nennen. Der Erlkönig – ›Erl‹ ist ein altes Wort für Sitha – verweigerte den Menschen das Recht, das Gebiet seines Volkes zu betreten, sofern man es ihnen nicht ausdrücklich erlaubte; und die Menschen, die die Sithi nicht wenig fürchteten, gehorchten.«

»Aber was sind Sithi? Ihr habt gesagt, sie seien kein ›Kleines Volk‹.«

Morgenes lächelte. »Ich weiß dein Interesse zu schätzen, Junge – vor allem, wo ich heute noch kein Wort vom Töten und Verstümmeln erzählt habe! Aber ich würde es noch mehr würdigen, wenn du nicht so schüchtern mit dem Besen umgingst. Tanz mit ihm, Junge, tanz mit ihm! Hier, feg das weg, sei so gut.«

Morgenes trottete zur Wand hinüber und deutete auf einen Rußfleck von mehreren Ellen Umfang, der große Ähnlichkeit mit einem riesigen Fußabdruck hatte. Simon beschloß, keine Fragen zu stellen, und machte sich statt dessen daran, den Fleck von dem weißverputzten Stein zu kehren.

»Aaaah! Vielen herzlichen Dank. Das wollte ich schon seit Monaten hier weghaben – seit Allerheiligen letztes Jahr, genau gesagt. Also, wo im Namen der Niederen Vistrils war ich? Oh, deine Frage. Die Sithi? Ja, die waren als erste hier und werden vielleicht noch hier sein, wenn es uns nicht mehr gibt. Wenn es uns alle nicht mehr gibt.

Sie sind so verschieden von uns wie der Mensch vom Tier – aber trotzdem ähnlich…« Der Doktor unterbrach sich und überlegte.

»Um gerecht zu sein, Mensch und Tier in Osten Ard haben nur eine verhältnismäßig kurze Lebensspanne, und das trifft auf die Sithi nicht zu. Wenn das Schöne Volk auch nicht wirklich unsterblich ist, so doch weit langlebiger als alle Menschen, selbst unser König mit seinen über neunzig Jahren. Es kann sein, daß sie überhaupt nicht sterben, wenn es nicht aus freiem Willen oder durch Gewalt geschieht – vielleicht ist Gewalt sogar etwas Freiwilliges, wenn man ein Sitha ist…«

Morgenes verstummte. Simon starrte ihn mit offenem Mund an.

»Mach die Klappe zu, Junge, du siehst aus wie Inch. Es ist mein gutes Recht, mich ein bißchen in meinen Gedanken zu verlieren. Oder möchtest du lieber wieder zur obersten der Kammerfrauen gehen und ihr zuhören?«

Simons Mund schloß sich, und er machte sich erneut daran, den Ruß von der Wand zu kehren. Er hatte jetzt den ursprünglichen Fußabdruck so verändert, daß die Gestalt eher einem Schaf ähnelte. Von Zeit zu Zeit hielt er inne, um seine Arbeit zu betrachten. Irgendwo im Nacken juckte ihn die Langeweile: Er hatte den Doktor wirklich gern und war lieber hier als an jedem anderen Ort – aber der alte Mann hörte ja gar nicht wieder auf! Vielleicht, wenn er oben noch ein bißchen wegfegte – würde es dann aussehen wie ein Hund? Sein Magen knurrte gedämpft.

Morgenes fuhr fort – mit, wie Simon fand, vielleicht nicht unbedingt notwendigen Einzelheiten über das Zeitalter des Friedens zwischen den Untertanen des alterslosen Erlkönigs und denen der Emporkömmlinge, der menschlichen Imperatoren.

»… und so gelangten Sithi und Menschen zu einer Art Gleichgewicht«, erklärte der alte Mann. »Sie trieben sogar ein wenig Handel miteinander…«

Simons Magen grollte jetzt laut. Der Doktor lächelte ein winziges Lächeln und legte die letzte Zwiebel zurück, die er gerade vom Tisch genommen hatte.

»Die Menschen brachten Gewürze und Farben von den Südlichen Inseln oder Edelsteine aus den Grianspog-Bergen in Hernystir; dafür erhielten sie köstliche Dinge aus den Schatztruhen des Erlkönigs, kunstreich und geheimnisvoll gefertigte Gegenstände.«

Simons Geduld war zu Ende. »Aber was war mit den Schiffern, den Rimmersmännern? Was geschah mit den eisernen Schwertern?« Er sah sich nach etwas Eßbarem um. Die letzte Zwiebel vielleicht? Vorsichtig schlich er näher. Morgenes stand mit dem Gesicht zum Fenster. Während er in den grauen Vormittag hinausblickte, steckte Simon das papierähnliche braune Ding ein und eilte zu dem Fleck an der Wand zurück. Die inzwischen wesentlich kleiner gewordene Stelle erinnerte jetzt an eine Schlange.

Ohne sich vom Fenster abzuwenden, fuhr Morgenes fort: »Ich glaube, in meiner heutigen Geschichte gibt es in der Tat eine ganze Menge friedlicher Zeiten und Leute.« Er wiegte den Kopf und ging an seinen Platz zurück. »Der Frieden wird aber bald aufhören – nur keine Angst.« Wieder schüttelte er den Kopf, und eine dünne Haarlocke legte sich über seine runzlige Stirn. Simon knabberte verstohlen an der Zwiebel.

»Das goldene Zeitalter von Nabban dauerte etwas über vier Jahrhunderte, bis die Rimmersmänner zum ersten Mal nach Osten Ard kamen. Damals hatte das Nabbanai-Imperium schon begonnen, sich selbst zu vernichten. Tiyagaris' Linie war am Ende ausgestorben, und jeder neue Imperator, der an die Macht kam, war ein anderer Wurf aus dem Würfelbecher. Einige waren gute Männer, die das Reich zusammenzuhalten versuchten; andere, wie etwa Crexis der Ziegenbock, waren schlimmer als alle Nordräuber. Und manche, wie Enfortis, waren einfach nur schwach.

Es war in Enfortis' Regierungszeit, als die Eisenschwinger kamen. Der Imperator beschloß, den Norden ganz aufzugeben. Der Rückzug erfolgte so schnell, daß viele der nördlichen Grenzposten sich im Stich gelassen fanden und ihnen nichts übrigblieb, als sich den vorwärtsdrängenden Rimmersmännern anzuschließen oder zu sterben. Hmmm … langweile ich dich vielleicht, Junge?«

Simon, der sich an die Wand gelehnt hatte, schoß in die Höhe und begegnete Morgenes' wissendem Lächeln.

»Nein, Doktor, nein! Ich habe nur die Augen zugemacht, um Euch besser lauschen zu können. Sprecht weiter!«

Aber tatsächlich machten ihn alle diese Namen, Namen, Namen doch ein bißchen schläfrig … und er wünschte sich, der Doktor würde sich beeilen und endlich zu den Stellen mit den Schlachten kommen. Andererseits gefiel es ihm, der einzige in der ganzen Burg zu sein, mit dem Morgenes sich unterhielt. Die Kammermädchen wußten von solchen Dingen gar nichts … Männersachen. Was wußten Mägde oder Dienstmädchen von Heeren, Fahnen und Schwertern?

»Simon?«

»Ja? Sprecht weiter!« Er wirbelte herum, um den letzten Rest des Flecks zu beseitigen, während der Doktor weitererzählte. Die Wand war sauber. Hatte er fertiggefegt, ohne es zu merken?

»Nun, ich werde versuchen, die Geschichte ein wenig kürzer zu fassen, Junge. Wie gesagt, zog Nabban seine Heere aus dem Norden ab und wurde zum ersten Mal ein ausschließlich südliches Kaiserreich. Natürlich war das nur der Anfang vom Ende; im Lauf der Zeit faltete sich das Imperium zusammen wie eine Decke, kleiner und kleiner, bis es heute nicht mehr als ein Herzogtum ist – eine Halbinsel mit ein paar dazugehörigen Inseln. Was, im Namen von Paldirs Pfeil, machst du da eigentlich?«

Simon verrenkte sich wie ein Jagdhund, der sich an einer schwer zugänglichen Stelle kratzen möchte. Ja, das war der letzte Rest des Wandschmutzes: ein schlangenförmiger Dreckstreifen hinten auf seinem Hemd. Er hatte sich dagegen gelehnt. Verlegen drehte er sich zu Morgenes um, aber der Doktor lachte nur und sprach weiter.

»Ohne die Garnisonen des Imperiums, Simon, war der Norden ein Chaos. Die Schiffer hatten den nördlichsten Teil der Frostmark erobert und nannten ihre neue Heimat Rimmersgard. Damit aber keineswegs zufrieden, stießen die Rimmersmänner weiter nach Süden vor und fegten in blutigem Ansturm alles vor sich her. Stapel diese Foliobände an der Wand auf, bitte.

Sie beraubten andere Menschen, zerstörten ihre Heimat und nahmen viele gefangen; die Sithi traf es am härtesten. Sie hielten sie für böse Wesen und jagten das Schöne Volk überall mit Feuer und kaltem Eisen und töteten sie … Vorsicht mit dem da, sei ein guter Junge.«

»Da drüben, Doktor?«

»Ja – aber bei Anaxos' Gebeinen, laß sie nicht fallen! Leg sie hin.

Wenn du wüßtest, welche gräßlichen mitternächtlichen Stunden ich auf einem Friedhof in Utanyeat zugebracht habe, um sie in die Hände zu bekommen! So, schon viel besser.

Nun waren jedoch die Bewohner von Hernystir – ein stolzes, wildes Volk, das kein Nabbanai-Imperator je wirklich unterworfen hatte – ganz und gar nicht bereit, vor Rimmersgard den Nacken zu beugen. Sie waren entsetzt über das, was die Nordleute den Sithi antaten. Von allen Menschen waren die Hernystiri mit dem Schönen Volk am besten vertraut – noch heute findet man die Spuren einer uralten Handelsstraße zwischen dieser Burg und dem Taig von Hernysadharc. Der Herr von Hernystir und der Erlkönig schlossen einen verzweifelten Bund, und für eine Weile geboten sie der Flut aus dem Norden Einhalt.

Aber selbst ihr vereinter Widerstand konnte nicht ewig dauern. Fingil, der König der Rimmersmänner, überrannte die Frostmark und überschritt die Grenzen zum Gebiet des Erlkönigs…« Morgenes lächelte traurig. »Wir kommen jetzt zum Schluß, junger Simon, hab keine Angst, wir kommen ans Ende von allem …

Im Jahre 663 erreichten die beiden gewaltigen Heere die Ebenen von Agh Samrath, dem Sommerfeld, im Norden des Gleniwentflusses. Fünf Tage währte das furchtbare, erbarmungslose Gemetzel, und die vereinten Hernystiri und Sithi hielten der Macht der Rimmersmänner stand. Am sechsten Tage jedoch wurden sie an ihrer ungeschützten Flanke verräterisch von einem Heer von Thrithingsmännern überfallen, die schon seit langem die Reichtümer des Erkynlandes und der Sithi für sich begehrten. Im Schutz der Dunkelheit führten sie einen entsetzlichen Angriff. Die Verteidigung wurde durchbrochen, die Streitmacht der Hernystiri zerschmettert, der Weiße Hirsch des Hauses Hern in den blutigen Staub getrampelt. Man sagt, zehntausend Männer aus Hernystir seien an diesem Tag auf dem Schlachtfeld gefallen. Niemand weiß, wie viele Sithi starben, aber auch ihre Verluste waren schrecklich. Die überlebenden Hernystiri flohen in die Wälder ihrer Heimat zurück. Heute ist Agh Samrath in Hernystir ein Name, der nur Haß und Verlust bedeutet.«

»Zehntausend!« Simon stieß einen Pfiff aus. Seine Augen glänzten, so furchtbar und großartig war das alles.

Morgenes quittierte den Gesichtsausdruck des Jungen mit einer kleinen Grimasse, sagte jedoch nichts dazu.

»Das war der Tag, an dem die Vorherrschaft der Sithi in Osten Ard endete, auch wenn es drei lange Belagerungsjahre dauerte, bis Asu'a den siegreichen Nordmännern in die Hände fiel. Hätte nicht der Sohn des Erlkönigs unheimliche, schreckliche Zauberkünste geübt, würde wahrscheinlich kein einziger Sitha den Fall der Burg überlebt haben. So aber blieben viele am Leben, flohen in die Wälder oder nach Süden oder … an andere Orte.«

Jetzt war Simons Aufmerksamkeit gebannt, als hätte man sie festgenagelt. »Und der Sohn des Erlkönigs? Wie hieß er? Was für einen Zauber hat er benutzt?« Ein plötzlicher Einfall: »Und was ist mit Johan dem Priester? Ich dachte, Ihr wolltet mir auch vom König erzählen!«

»Ein andermal, Simon.« Morgenes fächelte sich mit einem Stoß hauchdünnen Pergaments die Stirn, obwohl es recht kühl im Zimmer war. »Es gibt noch viel zu erzählen über die dunklen Zeiten nach Asu'as Fall, viele Geschichten. Die Rimmersmänner haben hier geherrscht, bis der Drache kam. In späteren Jahren, als der Drache schlief, hielten wieder andere die Burg. Viele Jahre vergingen, und mehrere Könige herrschten auf dem Hochhorst, viele dunkle Jahre und viele Tode, bis Johan kam…« Er verstummte und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als wollte er die Müdigkeit abstreifen.

»Aber was wurde aus dem Sohn des Sithikönigs?« fragte Simon erneut. »Und was war das für ein ›unheimlicher Zauber‹?«

»Über den Sohn des Erlkönigs … spricht man besser nicht.«

»Aber warum?«

»Genug gefragt, Junge!« knurrte Morgenes und wedelte mit den Händen. »Ich bin müde vom Reden!«

Simon war gekränkt. Er hatte ja nur die ganze Geschichte hören wollen; warum regten sich Erwachsene so leicht auf? Aber man durfte schließlich nicht das Huhn schlachten, das die goldenen Eier legte.

»Tut mir leid, Doktor.« Er strengte sich an, ein reuiges Gesicht zu machen, aber der alte Gelehrte mit seinem rosigen, geröteten Affengesicht und den widerspenstig in die Höhe stehenden Haarsträhnen sah einfach zu komisch aus. Simon fühlte, wie ein Lächeln seine Lippen kräuselte. Morgenes sah es, bewahrte jedoch die strenge Miene.

»Wirklich, es tut mir leid.« Unverändert. Was sollte er noch versuchen? »Ich danke Euch, daß Ihr mir diese Geschichten erzählt habt.«

»Keine Geschichten!« brüllte Morgenes. »Geschichte! Und jetzt fort mit dir! Komm morgen früh wieder und stell dich aufs Arbeiten ein, denn du hast ja noch nicht einmal mit der Arbeit von heute richtig angefangen!«

Simon stand auf. Er gab sich Mühe, das Lächeln zu unterdrücken, aber als er sich umdrehte und gehen wollte, riß es sich los und legte sich über sein Gesicht wie eine Bandschlange. Als sich hinter ihm die Tür schloß, hörte er Morgenes fluchen, welche unirdischen Dämonen ihm schon wieder den Porterkrug versteckt hätten.


Die Nachmittagssonne stach durch Risse in den schweren Wolken, als Simon zum Inneren Zwinger zurückging. Äußerlich betrachtet, schien er zu trödeln und Maulaffen feilzuhalten, ein langer, schlaksiger, rothaariger Junge in staubverkrusteter Kleidung. In seinem Inneren aber wimmelte es von sonderbaren Gedanken, ein Bienenstock voller summender, murmelnder Sehnsüchte.

Schau diese Burg an, dachte er – alt und tot, Stein auf leblosen Stein gepreßt, ein Felshaufen, von kleingeistigen Kreaturen bewohnt. Aber das war einmal anders gewesen. Große Dinge hatten sich hier ereignet. Hörner waren erklungen, Schwerter hatten geglitzert, große Heere waren aufeinandergestoßen und wieder zurückgeprallt wie die Wogen des Kynslagh, die an die Seetor-Mauer schlugen. Jahrhunderte waren seitdem vergangen, aber Simon schien es, als geschehe es gerade jetzt und nur für ihn, während das langsame, vernunftlose Volk, das die Burg mit ihm teilte, vorüberkroch, im Kopf nur die nächste Mahlzeit und das Nickerchen unmittelbar danach.

Dummköpfe.

Als er durch das hintere Tor trat, fiel ihm ein Lichtschimmer ins Auge und lenkte seinen Blick auf den Umgang oben auf dem Hjeldin-Turm. Ein Mädchen stand dort, bunt und klein wie ein Schmuckstück; ihr grünes Kleid und goldenes Haar fingen den Sonnenstrahl auf, als wäre er wie ein Pfeil vom Himmel allein auf sie gezielt gewesen. Simon konnte ihr Gesicht nicht erkennen, aber irgendwie wußte er genau, daß sie schön war – schön und großmütig wie das Bildnis der Unbefleckten Elysia, das in der Kapelle stand.

Sekundenlang entflammte ihn der grüngoldene Blitz wie ein Funke, der in trockenes Holz fällt. Er spürte, wie aller Ärger und Groll, die er mit sich herumgeschleppt hatte, verschwanden, in einer hastigen Sekunde zu Asche verbrannt. Er fühlte sich leicht und voller Auftrieb wie Schwanenflaum, die Beute jedes kleinen Windes, der ihn fort blies, ihn vielleicht emportrug zu jenem goldenen Glanz.

Dann löste er den Blick von dem wunderbaren, gesichtslosen Mädchen und sah hinunter auf die eigenen, zerrissenen Kleider. Rachel wartete, und sein Essen war kalt geworden. Eine vertraute, unbestimmte Last kletterte zurück auf ihren angestammten Sitz, beugte seinen Nacken und ließ die Schultern herabfallen, als er zu den Dienstbotenquartieren hinüberstapfte.

V Das Turmfenster

Der Novander versprühte in Wind und zartem Schnee; geduldig wartete der Decander, das Jahresende am Mantelsaum.

Nachdem König Johan Presbyter seine beiden Söhne zum Hochhorst zurückberufen hatte, erkrankte er aufs neue und zog sich wieder in sein abgedunkeltes Zimmer zurück, umschwärmt von Wundärzten, gelehrten Doktoren und scheltenden, besorgten Leibdienern. Von Sankt Sutrin, der großen Kirche von Erchester, rauschte Bischof Domitis herbei und etablierte sich am Krankenbett, wo er den König zu jeder Tages- und Nachtzeit aus dem Schlaf rüttelte, um Webmuster und Gewicht der königlichen Seele zu inspizieren. Der alte, immer schwächer werdende Mann ertrug Schmerz und Priester mit stoischer Tapferkeit.

In der winzigen Kammer neben dem Gemach des Königs, die seit vierzig Jahren von Strupp bewohnt wurde, lag eingeölt in seiner in feines Leinen gewickelten Scheide das Schwert Hellnagel ganz unten in der Eichentruhe des Narren.


Weit und breit über das breite Antlitz von Osten Ard flog das Wort: Johan der Priester liegt im Sterben. Sofort schickten Hernystir im Westen und das nördliche Rimmersgard Gesandtschaften ans Bett des dahingestreckten Erkynlandes. Der alte Herzog Isgrimnur, Johans Tischgenosse zur Linken an der Großen Tafel, brachte fünfzig Rimmersmänner aus Elvritshalla und Naarved, die ganze Gesellschaft für die Durchquerung der winterlichen Frostmark von Kopf bis Fuß in Pelze und Leder gehüllt. Nur zwanzig Hernystiri begleiteten König Lluths Sohn Gwythinn, aber das helle Gold und Silber, das sie trugen, blitzte wacker und überstrahlte das ärmliche Tuch ihrer Kleidung.

Die Burg begann sich mit der Musik lange Zeit nicht mehr vernommener Sprachen zu beleben, Rimmerspakk und Perdruinesisch und Harcha-Zunge. Die rollende Inselmundart von Naraxi schwebte durch den Torhof, und die Ställe hallten wider von dem auf- und absteigenden Singsang der Thrithing-Männer – die Grasländer fühlten sich immer am wohlsten bei den Pferden. Über diesen und allen anderen Sprachen hing die dröhnende Redeweise Nabbans, die geschäftige Zunge der Mutter Kirche und ihrer ädonitischen Priester, die sich wie immer sofort um das Kommen und Gehen der Menschen und um ihre Seelen kümmerten.

Auf dem hohen Hochhorst und unten in Erchester trafen sich diese kleinen Heere von Fremden und flossen wieder auseinander, meist ohne Zwischenfälle. Obwohl viele der Völker einst Erbfeinde gewesen waren, hatten fast achtzig Jahre unter dem Schutz des Hochkönigs viele Wunden heilen lassen. Es wurden mehr Viertelpinten Bier als harte Worte getauscht.

Eine ärgerliche Ausnahme gab es von dieser Regel der Eintracht, aber eine, die man nur schwer übersehen oder mißverstehen konnte. Wo immer sie einander begegneten, unter den breiten Toren des Hochhorstes oder in den schmalen Gassen von Erchester, gerieten Prinz Elias' grünuniformierte Soldaten und Prinz Josuas Gefolgsmänner in ihren grauen Hemden aneinander, stritten sich und spiegelten öffentlich den privaten Zwist der Königssöhne wider. Johans Erkyngarde mußte mehrfach eingreifen, um unerfreuliche Auseinandersetzungen zu schlichten. Schließlich erhielt ein Anhänger Josuas einen Dolchstich von einem jungen Adligen aus Meremund, der ein enger Freund des Thronerben war. Zum Glück trug Josuas Mann keine ernstliche Verletzung davon – der Stich geschah im Rausch und war schlecht gezielt –, und die Parteigänger mußten sich den tadelnden Worten der älteren Höflinge fügen. Die Truppen der beiden Prinzen kehrten zu kalten Blicken und höhnischen Bemerkungen zurück; offenes Blutvergießen wurde vermieden.

Es waren seltsame Tage in Erkynland und ganz Osten Ard, Tage, von Sorge und Aufregung gleichermaßen belastet. Der König war noch nicht tot, aber es schien, als werde er es sehr bald sein. Die ganze Welt veränderte sich – wie konnte irgend etwas bleiben wie zuvor, wenn Johan der Priester nicht mehr auf dem Drachenbeinthron saß?


»Udunstag: Traum … Drorstag: besser … Fraytag: am best… Satrinstag: Markttag … Sonntag: im Nest!«

Simon nahm die knarrenden Stufen immer zwei auf einmal und sang, so laut er konnte, den alten Reim. Fast hätte er Sophrona, die Wäschebeschließerin, umgerannt, die ein Geschwader mit Decken beladener Mägde durch das Tor zum Kieferngarten führte. Mit einem kleinen Aufkreischen warf sie sich gegen den Torpfosten, als Simon vorübersauste, und drohte dann mit dürrer Faust seinem davoneilenden Rücken nach.

»Ich sag's Rachel!« rief sie. Ihre Schützlinge unterdrückten das Lachen.

Wer scherte sich um Sophrona? Heute war Satrinstag – Markttag –, und die Köchin Judith hatte Simon zwei Pfenninge gegeben, um ein paar Sachen für sie einzukaufen, und dazu ein Fithingstück – wunderbarer Satrinstag! –, das er für sich selbst verwenden durfte. Die Münzen klingelten lieblich und anregend in seinem ledernen Geldbeutel, während er sich wie auf einer Spirale durch die meilenweiten, langen, kreisförmigen Höfe der Burg hinaus ins Freie bewegte, durch das Tor des Inneren Zwingers in den Mittleren Zwinger, der im Augenblick fast leer war, weil seine sonstigen Bewohner, Soldaten und Handwerker, zum größten Teil entweder Dienst hatten oder den Markt besuchten.

Der Burganger im Äußeren Zwinger wimmelte von Vieh, das sich in der Kälte unglücklich aneinanderdrängte und von kaum fröhlicher dreinschauenden Hirten bewacht wurde. Simon trabte an den Reihen niedriger Häuser, Lagerräume und Ställe vorbei, von denen manche so alt und derart von winternacktem Efeu überwuchert waren, daß sie nur warzige Auswüchse der inneren Mauer des Hochhorstes zu sein schienen.

Durch die Wolken glitzerte die Sonne auf den Steinschnitzereien, die das mächtige Chalzedon-Antlitz des Nerulagh-Tores dicht bedeckten. Simon, der jetzt etwas langsamer vorantrottete und den Pfützen auswich, starrte mit offenem Mund auf die verschlungenen Darstellungen von König Johans Sieg über Ardrivis – jener Schlacht, die Nabban endlich unter die Hand des Königs gebracht hatte. Plötzlich drangen der Lärm schneller Hufe und das schrille Quietschen von Wagenrädern an sein Ohr. Als er entsetzt aufblickte, fand er sich den weißen, rollenden Augen eines durch das Nerulagh-Tor heranstürmenden Pferdes gegenüber, unter dessen Hufen der Schlamm aufspritzte. Simon warf sich zur Seite und spürte einen kalten Windstoß im Gesicht, als das Pferd vorbeidonnerte, wobei der Wagen, den es hinter sich herzog, wild schwankte. Er erhaschte einen kurzen Blick auf den Lenker, der in einen dunklen, scharlachgefütterten Kapuzenmantel gekleidet war. Die Augen des Mannes durchbohrten ihn, während der Wagen davonsauste; sie waren schwarz und glänzend wie die grausamen Knopfaugäpfel eines Hais. So flüchtig der Kontakt auch war, Simon kam es vor, als versenge ihn der Blick des Wagenlenkers. Er taumelte zurück, klammerte sich an die steinerne Toreinfassung und sah zu, wie der Wagen in der Fahrspur um den Äußeren Zwinger verschwand. Hinter ihm gackerten und flatterten Hühner, soweit sie nicht zerquetscht und blutig in der ausgefahrenen Radspur lagen. Lehmverschmutzte Federn schwebten zur Erde.

»He, Junge, du bist doch nicht verletzt?« Einer der Torwächter zog Simons zitternde Hand von den Schnitzereien herunter und stellte ihn wieder auf die Beine. »Dann schau, daß du weiterkommst.«

Schnee tanzte in der Luft und haftete schmelzend an seinen Wangen, als Simon sich auf den langen Weg bergab nach Erchester machte. Das Klingeln der Münzen in seiner Tasche folgte jetzt dem langsameren Rhythmus seiner wackligen Knie.

»Dieser Priester ist verrückt wie der Mond«, hörte Simon den Wächter zu seinem Kameraden am Tor sagen. »Wäre er nicht einer von Prinz Elias' Männern…«

Drei kleine Kinder, die mit ihrer mühsam kletternden Mutter den feuchten Bergweg hinaufstiegen, deuteten auf den langbeinigen Simon, als er an ihnen vorbeilief, und lachten über den Ausdruck seines blassen Gesichtes.

Die Mittelgasse war auf ganzer Länge mit zusammengenähten Tierhäuten überdacht, die oberhalb der breiten Durchfahrt von einem Gebäude zum andern reichten. An jeder Wegkreuzung hatte man große, steinerne Feuerstellen errichtet, deren Rauch größtenteils, wenn auch gewiß nicht ganz und gar, durch Löcher im Zeltdach nach oben abzog. Schnee, der durch diese ›Kaminöffnungen‹ fiel, zischte und dampfte in der heißen Luft. Leute aus Erchester und vom Hochhorst wärmten sich an den Flammen oder schlenderten schwatzend umher, wobei sie verstohlen die auf allen Seiten zur Schau gestellten Waren musterten. Unter sie mischten sich Bewohner entfernterer Lehen, und alles drängte auf die breite Mittelgasse, die sich über zwei volle Meilen erstreckte, vom Nerulagh-Tor bis zum Platz der Schlachten am anderen Ende der Stadt. Im Strom dieser Menschenansammlung schöpfte Simon neuen Mut. Was kümmerte ihn ein betrunkener Priester? Schließlich war Markttag!

Heute war das gewöhnliche Heer von Marktleuten, fliegenden Händlern mit schrillen Stimmen, gaffenden Provinzlern, Spielern, Beutelschneidern und Musikanten noch viel größer als sonst, vermehrt durch die Soldaten der verschiedenen Abordnungen an den Hof des sterbenden Königs. Rimmersmann, Hernystiri, Warinstenner oder Perdruinese – ihr Stolzieren und die bunten Trachten reizten Simons Elsterngeschmack. Er folgte einer Gruppe in Blau und Gold gekleideter Nabbanai-Legionäre, bewunderte ihr prahlerisches Auftreten und die zur Schau getragene Überlegenheit und verstand ohne Sprachkenntnisse die lässige Art, in der sie sich gegenseitig Beleidigungen an den Kopf warfen. Gerade wollte er näher herangehen, weil er hoffte, die kurzen Dolchschwerter, die sie in einer Scheide hoch am Gürtel trugen, etwas genauer betrachten zu können, als einer von ihnen, ein helläugiger Mann mit dünnem, schwarzem Schnurrbart, sich umdrehte und ihn bemerkte.

»Heja, Brüder!« sagte er mit einem Grinsen und packte einen anderen am Arm. »Schaut doch! Ein junger Taschendieb, wette ich, der ein Auge auf deinen Geldbeutel hat, Turis!«

Beide Männer machten kehrt und bauten sich vor Simon auf. Der Stämmige, Bärtige namens Turis warf dem Jungen einen grimmigen Blick zu und knurrte: »Wenn mich berührt, dann ich würde töten.«

Er beherrschte die Westerling-Sprache nicht so gut wie der andere; auch schien ihm dessen Humor abzugehen.

Inzwischen waren drei andere Legionäre hinzugekommen; langsam begannen sie Simon einzukreisen, bis er sich vorkam wie ein in die Enge getriebener Fuchs.

»Was gibt es hier, Gelles?« fragte einer der Neuankömmlinge Turis' Begleiter. »Hué fauge? Hat er gestohlen?«

»Nai, nai…«, lachte Gelles, »ich habe nur Turis ein wenig geneckt. Der dürre Bengel hat nichts angestellt.«

»Ich habe meinen eigenen Geldbeutel!« sagte Simon empört. Er knüpfte ihn vom Gürtel und schwang ihn vor den feixenden Gesichtern der Soldaten. »Ich bin kein Dieb! Ich gehöre zum Haushalt des Königs! Eures Königs!« Die Männer lachten.

»Heja, hört ihn euch an!« rief Gelles. »Unser König, sagt er kühn!«

Simon wurde langsam klar, daß der junge Legionär betrunken war. Ein Teil seiner Bewunderung – aber bei weitem nicht alle – verwandelte sich in Abscheu.

»Heja, Burschen!« Gelles wackelte mit den Augenbrauen. »›Mulveiz-nei cenit drenisend‹ heißt es – also hüten wir uns vor diesem Welpen und lassen ihn schlafen!« Ein neuer Heiterkeitsausbruch folgte. Simon, feuerrot im Gesicht, zurrte seinen Geldbeutel wieder fest und wollte sich entfernen.

»Auf Wiedersehen, Burgmaus!« rief ihm einer der Soldaten spöttisch nach. Simon schaute sich nicht um und erwiderte auch nichts, sondern eilte rasch davon.

Schon hatte er einen der Steinöfen passiert und die überdachte Mittelgasse verlassen, als er eine Hand auf der Schulter fühlte. Er fuhr herum, weil er dachte, die Nabbanai-Legionäre seien ihm gefolgt, um ihn noch weiter zu kränken, aber vor ihm stand ein rundlicher Mann mit wettergegerbtem, rosigem Gesicht. Der Fremde trug das graue Gewand und die Tonsur eines Bettelmönches.

»Vergebung, mein junger Bursche«, sagte er im schnalzend-schnarrenden Tonfall der Männer von Hernystir, »ich wollte mich nur vergewissem, daß du wohlbehalten bist und diese goirach Kerle dir nichts angetan haben.« Der Fremde streckte die Hand aus und klopfte Simon ab, als suche er nach Schäden. Seine schwerlidrigen Augen, wenn auch von Falten umgeben, die auf ein häufiges Lächeln schließen ließen, hielten etwas zurück: einen tieferen Schatten, beunruhigend, doch nicht furchteinflößend. Simon merkte, daß er ihn, fast gegen seinen Willen, anstarrte und scheute zurück.

»Nein, danke, Vater«, erwiderte er und benutzte vor Schreck die förmliche Anrede. »Sie haben sich nur über mich lustig gemacht. Es ist nichts passiert.«

»Gut ist das, sehr gut … Oh, verzeih mir, ich habe mich nicht vorgestellt. Ich bin Bruder Cadrach ec-Crannhyr vom Orden der Vilderivaner.« Er setzte ein kleines, demütiges Lächeln auf. Sein Atem roch nach Wein. »Ich kam mit Prinz Gwythinn und seinen Männern. Und wer bist du?«

»Simon. Ich wohne auf dem Hochhorst.« Er machte eine unbestimmte Gebärde zur Burg hinauf.

Der Mönch lächelte erneut, sagte aber nichts und wandte sich dann um, einem vorübergehenden Hyrkamann nachzuschauen, der, in schreiendbunte Farben gekleidet, einen Bären mit Maulkorb an der Kette führte. Als das Paar vorbei war, heftete Cadrach die kleinen, scharfen Augen wieder auf Simon.

»Manche Leute behaupten, die Hyrkas könnten mit Tieren sprechen, wußtest du das? Vor allem mit ihren Pferden. Die Tiere sollen jedes Wort verstehen.« Der Mönch zuckte ironisch die Achseln, um anzudeuten, daß ein Gottesmann solchen Unsinn natürlich nicht glauben konnte.

Simon gab keine Antwort. Selbstverständlich hatte er auch schon solche Geschichten über die wilden Hyrkamänner gehört, und Shem Pferdeknecht schwor, sie wären die reine Wahrheit. Man sah die Hyrkas oft auf dem Markt, wo sie wunderschöne Pferde zu schamlosen Preisen verkauften und die Einwohner mit Tricks und Rätseln verwirrten. Beim Gedanken an sie und besonders ihren alles andere als ehrenhaften Ruf griff Simon nach unten und packte seinen ledernen Geldbeutel, um sich zu vergewissern, daß er die Schätze darin noch fühlen konnte.

»Ich danke Euch für Eure Hilfe, Vater«, meinte er endlich, obwohl er sich nicht recht erinnern konnte, womit der Mann ihm geholfen haben sollte. »Ich muß jetzt gehen und Gewürze einkaufen.«

Cadrach sah ihn einen langen Augenblick an, als versuche er, sich an etwas zu erinnern, einen Hinweis, der vielleicht in Simons Gesicht verborgen war. Dann erklärte er: »Ich würde dich gern um einen Gefallen bitten, junger Mann.«

»Welchen?« erkundigte Simon sich mißtrauisch. »Wie erwähnt, bin ich in deinem Erchester fremd. Vielleicht könntest du so gut sein und mich ein wenig herumführen, nur so zur Orientierung. Dann könntest du deiner Wege gehen und hättest eine gute Tat getan.«

»Oh.« Simon fühlte sich ein wenig erleichtert. Seine erste Regung war gewesen, nein zu sagen – es kam so selten vor, daß er einen Nachmittag auf dem Markt ganz für sich allein hatte. Andererseits – wie oft fand er Gelegenheit, mit einem Ädonitermönch aus dem heidnischen Hernystir zu plaudern? Auch schien dieser Bruder Cadrach nicht zu denen zu gehören, die einem nur Vorträge über Sünde und Verdammnis halten wollten. Er betrachtete den anderen noch einmal von oben bis unten, aber das Gesicht des Mönches blieb undurchschaubar.

»Also gut, ich denke, das kann ich tun – sicher. Kommt mit. Wollt Ihr die Nascadu-Tänzer auf dem Platz der Schlachten sehen?«


Cadrach war ein interessanter Begleiter. Obwohl er viel redete, Simon von der kalten Reise mit Prinz Gwythinn von Hernysadharc nach Erchester erzählte und häufig Scherze über die Vorübergehenden und ihre mehr oder weniger exotischen Kostüme machte, schien er doch immer etwas zurückzuhalten und ständig nach irgend etwas auszuschauen, selbst dann, wenn er über seine eigenen Geschichten lachte. Einen guten Teil des Nachmittags wanderte er mit Simon über den Markt. Sie besahen sich die Tische mit Kuchen und gedörrtem Gemüse, die vor den Ladenfronten der Mittelgasse standen, und rochen die warmen Düfte der Brotbäcker und Kastanienverkäufer. Der Mönch bemerkte Simons sehnsüchtigen Blick und bestand darauf, daß sie haltmachten und ein grobes Strohkörbchen mit gerösteten Nüssen kauften, das er freundlich bezahlte, indem er dem Maronenmann mit dem rissigen Gesicht ein behende aus einer Tasche seiner grauen Kutte zutage gefördertes Halbfithingstück gab. Nachdem sie sich beim Versuch, das Nußfleisch zu essen, Finger und Zungen verbrannt hatten, kapitulierten sie und blieben stehen, um den komischen Streit zwischen einem Weinhändler und einem Gaukler, der den Eingang des Weinladens versperrte, zu verfolgen, während sie darauf warteten, daß ihr Einkauf abkühlte.

Als nächstes sahen sie einem Usires-Spiel zu, das vor einer Meute kreischender Kinder und hingerissener Erwachsener aufgeführt wurde. Die Puppen hüpften auf und ab und machten ihre Verbeugungen; Usires in seinem weißen Gewand wurde vom Imperator Crexis mit Ziegenhörnern und Bart verfolgt, der eine lange Hellebarde mit Widerhaken an der Spitze schwang. Endlich wurde Usires gefangengenommen und am Hinrichtungsbaum aufgehängt. Crexis sprang mit schrillen Rufen um den Baum herum und stach und quälte den an das Holz genagelten Erlöser. Die Kinder, in wilder Aufregung, schrien dem Bocksprünge machenden Imperator Beschimpfungen zu.

Cadrach stieß Simon in die Seite. »Siehst du?« fragte er und zeigte mit einem dicken Finger auf die Vorderseite der Puppenbühne. Der Vorhang, der bis auf den Boden hinunterhing, wogte wie in einem starken Wind. Wieder stieß Cadrach Simon an.

»Würdest du nicht auch sagen, daß das eine großartige Darstellung Unseres Herrn ist?« fragte er, den Blick unverwandt auf das flatternde Tuch gerichtet. Oben tanzte Crexis herum, und Usires litt. »Während der Mensch seine Vorstellung gibt, bleibt der Spielleiter unsichtbar; wir kennen ihn nicht von Angesicht, sondern erkennen ihn nur an der Art, wie seine Puppen sich bewegen. Und manchmal bewegt sich ganz leicht der Vorhang, der ihn vor seinem getreuen Publikum verbirgt. Ach, und wie dankbar sind wir schon für die bloße Bewegung hinter dem Vorhang – dankbar!«

Simon glotzte. Endlich löste Cadrach den Blick vom Puppentheater und sah Simon in die Augen. Ein seltsames, trauriges Lächeln kräuselte den Mundwinkel des Mönchs und paßte ausnahmsweise zum Ausdruck seiner Augen.

»Ach, Junge«, erklärte er, »was solltest du auch schon von Fragen der Religion verstehen?«

Noch eine Weile schlenderten sie auf und ab, bis Bruder Cadrach sich endlich mit vielem Dank für die Gastfreundschaft von dem jungen Mann verabschiedete. Als der Mönch gegangen war, streunte Simon noch lange ziellos umher, und frühe Dunkelheit bedeckte bereits die Stücke Himmel, die durch das Zeltdach sichtbar waren, als ihm endlich sein Auftrag wieder einfiel und er zur Bude des Gewürzkrämers eilte. Dort entdeckte er, daß sein Geldbeutel verschwunden war.

Simons Herz schlug mit dreifacher Geschwindigkeit, als er voller Panik zurückdachte. Er wußte, daß er den Beutel noch am Gürtel gespürt hatte, als Cadrach und er stehengeblieben und Maronen gekauft hatten; aber er konnte sich nicht erinnern, ob er ihn im weiteren Verlauf des Nachmittags noch gehabt hatte. Wann immer er aber auch weggekommen war, jetzt war er jedenfalls nicht mehr da – und mit ihm nicht nur sein eigenes Fithingstück, sondern auch die beiden Pfenninge, die Judith ihm anvertraut hatte!

Vergeblich suchte er den Markt ab, bis die Himmelslöcher so schwarz geworden waren wie ein alter Kessel. Der Schnee, den er vorher kaum wahrgenommen hatte, schien ihm sehr kalt und sehr naß, als er mit leeren Händen auf die Burg zurückkehrte.


Schlimmer als eine Tracht Prügel war, wie Simon herausfand, als er ohne Gewürze und Geld sein Heim erreichte, der enttäuschte Blick der guten, dicken, mehlbestäubten Judith. Auch Rachel bediente sich dieses unfairsten aller Schachzüge, indem sie ihm keine schmerzhaftere Strafe auferlegte als ihren angewiderten Gesichtsausdruck, voller Abscheu über sein kindisches Benehmen, und ihm versprach, daß er sich »die Finger bis auf die Knochen abarbeiten« würde, um das Geld wieder zu verdienen. Selbst Morgenes, zu dem Simon in halber Hoffnung auf Mitgefühl lief, schien über die Unachtsamkeit des Jungen ein wenig überrascht zu sein. Insgesamt hatte Simon, auch wenn ihm die Prügel erspart geblieben waren, sich noch nie so elend gefühlt und sich selbst derartig bedauert.


Sonntag kam und ging, ein dunkler, matschiger Tag, an dem sich der größte Teil der Dienerschaft auf dem Hochhorst in der Kapelle aufzuhalten und ein Gebet für König Johan zu sprechen schien. Simon hatte genau dieses juckende, gereizte Gefühl, bei dem man am liebsten gegen irgend etwas treten möchte, das er normalerweise durch einen Besuch bei Morgenes oder einen Streifzug ins Freie besänftigen konnte. Aber der Doktor war beschäftigt – er hatte sich mit Inch eingeschlossen und arbeitete an etwas, das nach seinen eigenen Worten umfangreich, gefährlich und leicht in Brand zu setzen war; Simon wurde dabei nicht gebraucht. Und das Wetter draußen war so kalt und unfreundlich, daß er sich bei aller Unruhe nicht aufraffen konnte, irgendwo umherzustreifen. So verbrachte er den endlosen Nachmittag mit Jeremias, dem dicken Lehrling des Wachsziehers. Die beiden warfen Steine von einem der Türmchen der Inneren Zwingermauer und stritten sich eher gelangweilt, ob die Fische im Burggraben im Winter erfroren oder, falls nicht, wohin sie gingen, bis es wieder Frühling wurde.


Die Kälte draußen, und mit ihr die andere Art Kälte in den Dienstbotenquartieren, hielt auch am Mondtag an, als Simon aufstand. Er fühlte sich kümmerlich und unbehaglich. Auch Morgenes schien bedrückter und ungeselliger Stimmung zu sein, so daß Simon, sobald er seine Arbeit in der Wohnung des Doktors erledigt hatte, etwas Brot und Käse aus dem Speiseschrank der Anrichte stibitzte und sich fortschlich, um allein zu sein.

Eine Weile drückte er sich am Archivsaal im Mittleren Zwinger herum und lauschte den trockenen, insektenhaften Geräuschen der Schreibpriester. Nach einer Stunde jedoch kam es ihm langsam so vor, als sei es seine eigene Haut, auf der die Federn der Schreiber herumkratzten und kratzten und kratzten…

Er beschloß, sein Essen mitzunehmen und die Treppe zum Grünengel-Turm hinaufzuklettern, etwas, das er nicht mehr getan hatte, seitdem das Wetter umgeschlagen war. Weil der Küster Barnabas ihn aber mit demselben Vergnügen von dort verjagen würde, mit dem er sich mühte, in den Himmel zu kommen, entschied sich Simon, die Strecke über die Kapelle zum Turm gänzlich zu vermeiden und lieber seinen privaten Geheimpfad zu den oberen Stockwerken einzuschlagen. Er knüpfte seine Mahlzeit fest ins Taschentuch und machte sich auf den Weg.

Während er durch die scheinbar endlosen Hallen der Kanzlei lief und dabei immer wieder von überdachtem Gang in offenen Hof und von neuem unter Dach kam – dieser Teil der Burg wimmelte von kleinen, rings ummauerten Höfen –, vermied er es abergläubisch, zum Turm hinaufzusehen. Außergewöhnlich schlank und bleich beherrschte dieser die Südwestecke des Hochhorstes wie eine Birke einen Steingarten, so unfaßbar hoch und schmal, daß es von unten fast aussah, als stehe er auf irgendeinem fernen Berghang, viele Meilen jenseits der Burgmauer. Simon an seinem Fuß konnte den Turm im Wind beben hören wie eine Lautensaite, straff über einen himmlischen Wirbel gespannt.

Die ersten vier Stockwerke des Grünengel-Turms sahen nicht anders aus als die der sonstigen Gebäude auf der Burg. Frühere Gebieter des Hochhorstes hatten seinen schmalen Sockel in Vormauern und Zinnen aus Granit gehüllt, ob aus dem berechtigten Wunsch nach mehr Sicherheit oder deshalb, weil die Fremdartigkeit des Turms sie beunruhigte, konnte niemand mehr wissen. Über der Höhe der den Turm umschließenden Zwingermauer endete diese Panzerung; nackt strebte der Turm nach oben, ein schönes Albinowesen, das aus seiner unscheinbaren Verpuppung schlüpfte. Balkone und Fenster mit fremdartigen, abstrakten Mustern waren unmittelbar in die glänzende Oberfläche des Steins gemeißelt, ähnlich den geschnitzten Walzähnen, die Simon schon oft auf dem Markt gesehen hatte. Von der Turmspitze schimmerte ein fernes Feuer aus Kupfergold und Grün: ein weiblicher Engel, den einen Arm wie abschiednehmend ausgestreckt, mit dem anderen die Augen beschattend, mit denen er nach Osten in die Ferne blickte.


Die riesige, lärmende Staatskanzlei war heute noch verwirrender als sonst. Vater Helfcenes in Kutten gehüllte Gehilfen eilten hin und her und von einem Raum zum andern oder drängten sich zu zitternd geführten Debatten in der kalten, schneeflockigen Luft der Höfe zusammen. Einige von ihnen, die gerollte Papiere in der Hand und eine zerstreute Miene im Gesicht trugen, versuchten Simon für Gänge zum Archivsaal einzuspannen, aber er schwindelte sich durch und behauptete, er sei für Doktor Morgenes unterwegs.

Im Vorzimmer des Thronsaales blieb er stehen und tat, als bewundere er die gewaltigen Mosaiken, während er darauf wartete, daß der letzte Kanzleipriester vorbeigeeilt und auf der anderen Seite in der Kapelle verschwunden sein würde. Als dieser Augenblick gekommen war, hebelte er die Tür auf und schlüpfte in den Thronsaal.

Die riesigen Angeln knarrten, dann war es still. Simons Schritt hallte von allen Wänden, verstummte dann und verschmolz endlich mit dem tiefen, atmenden Schweigen. Sooft er auch durch den Thronsaal schlich – und er war, soweit er wußte, mehrere Jahre der einzige Bewohner der Burg gewesen, der ihn noch zu betreten gewagt hatte –, nie schien er ihm anders als ehrfurchteinflößend.

Erst letzten Monat, nach König Johans unerwartetem Aufstehen vom Krankenbett, hatten Rachel und ihr Geschwader endlich wieder die verbotene Schwelle überschritten. Sie hatten sich einen zwei Wochen dauernden Angriff auf Jahre voller Staub und Schmutz gegönnt, auf zerbrochenes Glas, Vogelnester und die Netze von Spinnen, die längst zu ihren achtbeinigen Ahnen versammelt waren. Doch trotz solchen unbarmherzigen und unversöhnlichen Reinemachens strahlte der Thronsaal selbst in gründlich gereinigtem Zustand, mit gescheuerten Bodenplatten und abgewaschenen Wänden und manchen von ihrer Rüstung aus Staub befreiten Bannern (es waren bei weitem nicht alle), etwas von Alter und Stille aus. Hier schien die Zeit nur an den gemessenen Schritt des Altertums gebunden.


Das Podest stand am äußersten Ende des großen Saals in einem Teich aus Licht, das sich aus einem Ornamentfenster des Deckengewölbes ergoß. Darauf erhob sich der Drachenbeinthron wie ein fremdartiger Altar – leer, von leuchtenden, tanzenden Staubkörnern umschwebt und flankiert von den Standbildern der sechs Hochkönige des Hochhorstes.

Die Knochen des Thrones waren mächtig, dicker als Simons Beine, und so geglättet, daß sie stumpf glänzten wie polierter Stein. Mit wenigen Ausnahmen hatte man sie so zerteilt und wieder zusammengesetzt, daß man, so deutlich auch ihre Größe zu erkennen war, nur schwer erkennen konnte, in welchem Teil des gewaltigen Feuerlindwurmkörpers sie einst verborgen gewesen waren. Nur die Rückenlehne des Thrones, ein riesenhafter, sieben Ellen hoher Fächer aus gebogenen, gelben Rippen hinter den Samtpolstern des Königs, der weit über Simons Kopf hinausragte, war sofort als das auszumachen, was sie war. Gleiches galt für den Schädel. Über der Rückenlehne des großen Thrones ragte er so weit hervor, daß er als Sonnendach dienen konnte, falls jemals mehr als ein dünner Streifen Sonnenlicht in den düsteren Saal eindringen sollte. Es waren Hirnschädel und Kiefer des Drachen Shurakai. Die Augenhöhlen erschienen Simon wie zerbrochene schwarze Fenster, die Zähne wie braune Spieße, so lang wie seine Hand. Der Drachenschädel hatte die Farbe alten Pergamentes und war von einem Netz winziger Risse überzogen, und doch lebte etwas an ihm, war schrecklich-wundervoll lebendig.

Überhaupt besaß der ganze Raum etwas Erstaunliches, Heiliges, das weit über Simons Verstand hinausreichte. Der Thron aus schweren, vergilbten Gebeinen, die massiven schwarzen Figuren, die in dem hohen, verlassenen Saal einen leeren Sitz bewachten, das alles schien von einer furchtbaren Macht erfüllt zu sein. Es war, als hielten alle acht Personen im Raum, der Küchenjunge, die Statuen, der ungeheure, augenlose Schädel, den Atem an.

Diese gestohlenen Momente versetzten Simon in stille, fast angstvolle Verzückung. Vielleicht harrten die Malachitkönige nur mit schwarzer, steinerner Geduld darauf, daß der Junge mit lästerlicher Plebejerhand den Drachenbeinthron berührte … harrten … harrten … und würden plötzlich mit einem grauenvollen, knarrenden Geräusch zum Leben erwachen! Simon bebte vor nervösem Vergnügen über seine eigenen Vorstellungen, machte einen vorsichtigen Schritt nach vorn und musterte die dunklen Gesichter. Ihre Namen waren ihm einst so vertraut gewesen, ganz unsinnig aneinandergereiht in einem Kinderreim, einem Reim, den Rachel – Rachel? Er konnte sich nicht genau erinnern – ihm beigebracht hatte, als er noch ein kichernder Affe von vielleicht vier Jahren gewesen war. Wenn schon für ihn die eigene Kindheit so lange zurückzuliegen schien, fragte er sich plötzlich, wie mußte es dann bei Johan dem Priester sein, der so viele Jahrzehnte auf den Schultern trug? Unbarmherzig klar, so wie Simon sich an vergangene Demütigungen erinnerte, oder sanft und unbestimmt, wie Geschichten aus glorreicher Vergangenheit? Verdrängten die Erinnerungen die anderen Gedanken, wenn man alt war? Oder verlor man sie – die Kindheit, die verhaßten Feinde, die Freunde?

Wie ging der alte Reim noch? Sechs Könige…

Sechs Könige einst herrschten in Hochhorst-Hallen weit,

sechs Herrscher einstmals schritten auf seinen Mauern breit,

sechs Gräber auf den Klippen, hoch über Kynslaghs Gruft,

sechs Könige dort schlafen, bis jüngster Tag sie ruft.

Das war es!

Und Fingil war der erste, Blutkönig, so hieß er,

auf rotem Kriegsflügel flog er von Norden her.

Sein Sohn war König Hjeldin, ein irrer, böser Mann,

der sprang vom Geisterturme, als Toter kam er an.

Ikferdig der Verbrannte, der hielt getreue Wacht,

er traf den Feuerdrachen in finstrer Mitternacht.

Drei Könige von Norden, jetzt alle tot und kalt,

der Norden herrscht nicht länger im Hochhorst stolz und alt.

Das waren die drei Rimmersgardkönige zur Linken des Thrones. War es nicht Fingil, von dem Morgenes gesprochen hatte, der Anführer des Schreckensheeres? Der die Sithi getötet hatte? Dann mußten zur Rechten der vergilbten Gebeine die anderen stehen.

Der Reiherkönig Sulis, genannt der Renegat,

floh Nabban, doch im Hochhorst, da sühnt er seine Tat.

Mit Stechpalmkönig Tethtain von Hernystir war's aus,

er kam wohl durch die Pforte, doch niemals mehr heraus.

Zuletzt der Fischerkönig Eahlstan, der weise Mann,

der weckte auf den Drachen, im Hochhorst starb er dann…

Ha! Simon starrte in das traurig verzogene Gesicht des Reiherkönigs und weidete sich an dem Anblick. Mein Gedächtnis ist besser, als die meisten Leute hier glauben – besser als das der meisten Mondkälber! Natürlich gab es jetzt endlich einen siebten König im Hochhorst – den alten Priester Johan. Simon überlegte, ob wohl jemand irgendwann dem Lied einen Vers über Johan Presbyter hinzufügen würde.

Die sechste Statue, der rechten Armlehne des Thrones am nächsten, mochte Simon am liebsten. Sie stellte den einzigen gebürtigen Erkynländer dar, der je auf dem großen Thron des Hochhorstes gesessen hatte. Er trat näher, um in die tief eingemeißelten Augen des heiligen Eahlstan zu blicken, den man Eahlstan Fiskerne nannte, weil er vom Fischervolk des Gleniwent abstammte, oder auch den Märtyrer, weil auch ihn der Feuerdrache Shurakai tötete, das Untier, das dann endlich von Johan dem Priester vernichtet wurde.

Anders als bei Ikferdig dem Verbrannten auf der anderen Seite des Thrones war das Gesicht des Fischerkönigs nicht von Furcht und Zweifel verzerrt dargestellt. Vielmehr hatte der Bildhauer strahlenden Glauben in das steinerne Antlitz gelegt und den undurchsichtigen Augen den Anschein gegeben, als schauten sie ferne Dinge. Der längstverstorbene Meister hatte Eahlstan demütig und ehrfürchtig, zugleich aber auch kühn gestaltet. In seinen geheimen Gedanken stellte sich Simon oft vor, sein eigener Vater, der Fischer, hätte so ausgesehen.

Während er noch so starrte, spürte Simon plötzliche Kälte an seiner Hand, die an die knöcherne Armlehne des Thrones gekommen war. Ein Küchenjunge, der den Thron berührte! Er riß seine Finger los, wobei er sich verwundert fragte, wie die toten Überreste eines so feurigen Tiers sich derart kalt anfühlen konnten, und stolperte einen Schritt zurück.

Einen Augenblick blieb ihm fast das Herz stehen, denn es war, als neigten sich ihm die Statuen langsam zu, als dehnten sich Schatten auf den Wandbehängen. Hastig zog sich Simon zurück. Als nichts mehr folgte, das nach wirklicher Bewegung aussah, richtete er sich mit aller ihm zu Gebot stehenden Würde auf, verneigte sich vor König und Thron und entfernte sich rückwärtsgehend über den Steinboden. Er tastete mit der Hand – ruhig, ruhig, ermahnte er sich, sei kein Angsthase –, bis er endlich die Tür zum Stehraum fand, seinem eigentlichen Ziel. Er sah noch einmal zurück auf das beruhigend unbewegte Bild, dann schlüpfte er hinaus.

Hinter den schweren Wandbehängen des Stehraums mit ihrem dicken, roten, mit Festszenen bestickten Samt führte eine Treppe in der Mauer zu einem Abtritt ganz oben auf der südlichen Galerie des Thronsaales. Simon schimpfte mit sich selber, weil er sich gerade so aufgeregt hatte, und kletterte die Stufen hinauf. Oben angelangt, war es ein leichtes, sich durch den hohen Fensterschlitz des Abtritts zu zwängen und auf die darunterliegende Mauer zu steigen. Allerdings war das Kunststück jetzt ein bißchen mühsamer als im Septander, als er zuletzt hier gewesen war: Die Steine waren glatt vom Schnee, und es wehte ein energischer Wind. Zum Glück war die Mauerkrone breit; Simon bewegte sich vorsichtig fort.

Jetzt kam das Stück, das er am liebsten hatte. Die Ecke der Mauer endete nur fünf oder sechs Fuß vor dem breiten Windschatten des Türmchens im vierten Stock des Grünengel-Turms. Simon blieb stehen und konnte beinahe das Schmettern der Trompeten und das Aneinanderklirren der Ritter hören, die auf den Decks unter ihm fochten, während er sich bereitmachte, durch den brausenden Wind von einem brennenden Mast zum anderen zu springen …

Ob sein Fuß beim Absprung leicht ausgerutscht oder seine Aufmerksamkeit von dem imaginären Seegefecht unter ihm abgelenkt gewesen war – jedenfalls landete Simon unsanft auf der Kante des Türmchens. Er schlug mit dem Knie heftig auf den Stein und wäre um ein Haar zurück- und hinuntergefallen, wobei er zwei lange Faden tief auf die niedrige Mauer am Fuß des Turmes oder in den Burggraben gestürzt wäre. Als ihm jäh bewußt wurde, in welcher Gefahr er geschwebt hatte, begann sein Herz erschreckt zu galoppieren. Aber er schaffte es, sich in den Raum zwischen den hochstehenden Zinnen des Türmchens gleiten zu lassen, um dann auf dem aus langen Dielen bestehenden Fußboden weiterzukriechen.

Leichter Schnee senkte sich auf ihn herunter, als er so dasaß und sich unendlich töricht vorkam. Er umschlang sein schmerzendes Knie, das brannte wie Sünde, Betrug und Verrat; hätte er nicht genau gewußt, wie kindisch er so schon aussehen mußte, hätte er geheult.

Endlich richtete er sich auf und hinkte ins Innere des Turmes. Wenigstens in einem Punkt war das Glück ihm treu geblieben: Niemand hatte seine schmerzhafte Landung gehört. Nur er allein wußte von seiner Schmach. Er untersuchte seine Tasche – Brot und Käse waren unerfreulich plattgedrückt, aber noch eßbar. Auch das war ein kleiner Trost.


Mit dem verletzten Knie Treppen zu steigen war mühsam, aber schließlich hatte es keinen Sinn, in den Grünengel-Turm einzudringen – das höchste Bauwerk im Erkynland, wahrscheinlich sogar in ganz Osten Ard –, und dann nicht über die Höhe der Hauptmauern des Hochhorstes hinauszukommen.

Die Turmtreppe war niedrig und eng, die Stufen aus einem glatten, sauberen weißen Stein gehauen, der keinem anderen in der Burg glich. Er fühlte sich schlüpfrig an, war aber unter den Füßen sicher. Das Burgvolk erzählte sich, der Turm sei der einzige unverändert gebliebene Teil der ursprünglichen Sithifeste. Doktor Morgenes hatte Simon einmal gesagt, daß dies nicht stimmte. Ob er damit aber gemeint hatte, der Turm sei doch verändert worden, oder nur, daß es noch andere unberührte Reste des alten Asu'a gab, hatte der Doktor in seiner eigenwilligen Art nicht erklären wollen.

Nachdem er einige Minuten geklettert war, konnte Simon von den Fenstern aus sehen, daß er schon über dem Hjeldin-Turm war. Die ein wenig unheimliche Kuppelsäule, in der einst der Wahnsinnige König den Tod gefunden hatte, blickte über die weite Fläche des Thronsaaldaches zum Grünengel auf, wie etwa ein eifersüchtiger Zwerg seinen Fürsten anstarrt, wenn niemand ihn beachtet.

Die steinerne Einfassung im Innern des Treppenhauses war hier anders: eine sanfte Rehfarbe, über und über bedeckt mit winzigen, rätselhaften Mustern in Himmelblau. Simon verharrte einen Augenblick an einer Stelle, an der das Licht aus einem hoch oben angebrachten Fenster auf die Wand fiel. Als er aber versuchte, den Windungen eines der zarten blauen Schnörkel mit den Augen zu folgen, wurde ihm schwindlig im Kopf, und er gab es auf.

Endlich, als es ihm schon vorkam, als sei er unter Schmerzen stundenlang bergauf gestiegen, erweiterte sich die Treppe zum blendendweißen Fußboden des Glockenturmes, der ebenfalls aus dem ungewöhnlichen Stein der Treppen bestand. Obwohl der Turm noch fast hundert Ellen höher war und sich dabei bis hinauf zu der Engelsgestalt immer mehr verjüngte, endete die Treppe hier, wo von den gewölbten Dachbalken die großen Bronzeglocken in langen Reihen wie feierliche grüne Früchte hingen. Die Glockenstube selbst stand der kalten Luft nach allen Seiten offen, damit das ganze Land es hören konnte, wenn das Geläut des Grünengels aus den hohen Fensterbögen ertönte.

Simon hatte sich mit dem Rücken an einen der sechs Pfeiler aus dunkelglattem, felshartem Holz gelehnt, die vom Boden zur Decke reichten. Er kaute an seinem Brotkanten und genoß die Aussicht nach Westen, wo die Wasser des Kynslaghs unaufhörlich gegen die massive Seemauer des Hochhorstes rollten. Obwohl es ein trüber Tag war und Schneeflocken wie verrückt vor seinen Augen tanzten, bemerkte Simon mit Staunen, wie klar die Welt dort unten sich seinem Blick entgegenhob. Viele kleine Boote schwammen auf den Wogen des Kynslaghs, Männer vom See in schwarzen Mänteln beugten sich gelassen über die Ruder. Weiter hinten glaubte er undeutlich die Stelle zu erkennen, an der der Gleniwent-Fluß den See verließ und seine lange Reise zum Meer antrat, ein vielfach gewundener Lauf von einem halben Hundert Meilen, vorbei an Dock-Städten und Bauernhöfen. Draußen vor dem Gleniwent, in den Armen des Meeres, bewachte die Insel Warinsten die Flußmündung; hinter Warinsten in westlicher Richtung gab es nichts mehr, nur unzählige, unerforschte Meilen Ozean.

Simon prüfte das schmerzende Knie und entschied sich vorläufig gegen ein Hinsetzen, weil man ja irgendwann einmal wieder aufstehen mußte. Er zog sich den Hut über die Ohren, die vom Wind gerötet waren und brannten, und nahm ein Stück bröckelnden Käse in Angriff. Zu seiner Rechten, allerdings weit außerhalb seines Gesichtsfeldes, lagen die Wiesen und steilen Hügel von Agh Samrath, äußerste Marken des Königreichs Hernystir und Ort der furchtbaren Schlacht, von der Morgenes ihm erzählt hatte. Zur Linken, jenseits des weiten Kynslaghs, wogten die Thrithinge – scheinbar unendliches Grasland. Natürlich hatten sie schließlich doch ein Ende; dahinter lagen Nabban, die Bucht von Firannos mit ihren Inseln und das Marschland von Wran … alles Gegenden, die Simon nie gesehen hatte und höchstwahrscheinlich auch nie zu sehen bekommen würde.

Endlich wurden ihm der ewiggleiche Kynslagh und seine eigenen Vorstellungen von einem Süden, den er nicht sehen konnte, langweilig, und er hinkte zur anderen Seite der Glockenstube hinüber. Vom Mittelpunkt des Raumes aus betrachtet, schien das wirbelnde, gestaltlose Wolkendunkel ein graues Loch zu sein, das ins Nirgendwo führte, und der Turm so etwas wie ein Geisterschiff auf nebligem, ödem Meer. Der Wind heulte und sang um die offenen Fensterhöhlungen, und die Glocken gaben ein schwaches Summen von sich, als habe ihnen der Sturm kleine, verängstigte Geister unter die Bronzehaut gejagt.

Simon trat an den niedrigen Fenstersims und beugte sich vor, um das wirre Durcheinander der Dächer des Hochhorstes zu überschauen. Zuerst zerrte der Wind an ihm, als wollte er ihn packen und in die Höhe schleudern, so wie ein Kätzchen mit einem welken Blatt spielt. Aber Simon hielt sich fester am feuchten Stein, und bald ließ der Wind nach. Der junge Mann lächelte: Von seiner Warte sah das prachtvolle Dachgewirr des Hochhorstes – ein jedes von unterschiedlicher Höhe und Bauart, mit einem Wald von Schornsteinen, Firstbalken und Kuppeln – aus wie ein Hof voller seltsamer, viereckiger Tiere, von denen eines halb über dem Rücken des anderen hing und die um den Platz kämpften wie Schweine am Trog.

Nur von den beiden Türmen überragt, beherrschte die Kuppel der Burgkapelle den Inneren Zwinger. Graupelschnee bedeckte die farbenprächtigen Fenster. Die weiteren Gebäude der Burg, Wohnquartiere, Speisehalle, Thronsaal und Staatskanzlei, waren samt und sonders von Anbauten überwuchert, stummen Zeugen der unterschiedlichen Besitzer der Burg. Genauso vollgestopft waren die äußeren Zwinger und die massive Zwischenmauer, die sich in konzentrischen Kreisen, einer tiefer als der andere, über den Berg zogen. Der Hochhorst selbst war niemals über seine Außenmauer hinausgewachsen; die hereindrängenden Menschen bauten in die Höhe oder teilten das Vorhandene in kleinere und immer kleinere Einheiten.

Unterhalb der Festung erstreckte sich die Stadt Erchester, Straße an Straße mit niedrigen Häusern, in einen Mantel aus weißen Schneewehen gehüllt; nur der Dom erhob sich aus ihrer Mitte, seinerseits überragt vom Hochhorst und von Simon in seinem Himmelsturm. Hier und da schwebte ein federleichter Rauchfaden nach oben, den der Wind zerfetzte.

Hinter den Stadtmauern konnte Simon die unbestimmten, vom Schnee geglätteten Umrisse der Begräbnisstätte ausmachen – des alten Heidenfriedhofes, eines übel beleumundeten Ortes. Die niedrigen Grashügel in seinem Rücken reichten fast bis zum Waldrand; über ihrer demütigen Gemeinde erhob sich der steile Berg Thisterborg so stolz wie der Dom über die niedrigen Dächer von Erchester. Simon konnte sie nicht sehen, wußte aber, daß ein Ring aus Steinsäulen, glattpoliert vom Wind, seinen Gipfel krönte; die Dorfbewohner nannten sie ›die Zornsteine‹.

Und jenseits von Erchester, noch hinter Begräbnisstätte, Grashügeln und steinbekränztem Thisterborg, lag der Wald. Aldheorte hieß er, Altherz, und dehnte sich aus wie das Meer, unendlich, dunkel und undurchschaubar. Menschen lebten an seinem Saum und hatten sogar ein paar Straßen entlang seiner Ränder angelegt; aber nur sehr wenige wagten sich weiter in sein Inneres. Er bildete ein eigenes, großes, schattenreiches Land mitten in Osten Ard, das keine Gesandten schickte und nur selten Besucher empfing. Im Vergleich zu seiner Erhabenheit schien selbst der riesige Circoille, der Kammwald von Hernystir im Westen, nichts als ein Wäldchen. Es gab nur einen Wald.

Das Meer im Westen; der Wald im Osten; der Norden und seine Männer aus Eisen; das Land der zerschmetterten Reiche im Süden – weit blickte Simon hinaus über das Antlitz von Osten Ard und vergaß für eine Weile sein Knie. Ja, eine Zeitlang war Simon selbst König der ganzen bekannten Welt.


Als die verhangene Wintersonne den Scheitel des Himmels verlassen hatte, rüstete Simon sich endlich zum Aufbruch. Beim Versuch, das Bein auszustrecken, keuchte er vor Schmerz; in der langen Stunde am Fenstersims war das Knie steif geworden. Es war völlig klar, daß er den anstrengenden Geheimweg für den Abstieg vom Glockenturm nicht benutzen konnte. Er mußte sein Glück mit Barnabas und Vater Dreosan versuchen.

Die lange Treppe war eine einzige Qual, aber die Aussicht vom Turm hatte alle Wehleidigkeit verdrängt; er bedauerte sich selbst nicht halb so sehr, wie er es ohne dieses Erlebnis getan hätte. Wie ein niedrig gehaltenes Feuer glühte in ihm der Wunsch, mehr von der Welt zu sehen, und wärmte ihn bis in die Fingerspitzen. Er würde Morgenes bitten, ihm weiteres über Nabban und die Südlichen Inseln zu erzählen, und auch über die Sechs Könige.

Im vierten Stock, dort, wo er ursprünglich hereingekommen war, hörte er ein Geräusch: Unter ihm rannte jemand die Treppe hinab. Sekundenlang verharrte Simon regungslos und überlegte, ob er entdeckt worden war. Es war nicht verboten, den Turm zu betreten, aber er hatte keinen triftigen Grund dafür, und der Küster würde vermuten, daß er irgend etwas ausgefressen hätte. Trotzdem war es sonderbar, daß die Schritte sich entfernten. Ganz bestimmt wäre Barnabas oder jeder andere ohne Zögern zu ihm hinaufgestiegen, um ihn am vielgeplagten Schlafittchen nach unten zu zerren. Simon kletterte weiter die Wendeltreppe hinunter, zuerst ganz vorsichtig, dann trotz des schmerzenden Knies immer schneller, denn die Neugier hatte ihn gepackt.

Die Treppe endete in der großen Eingangshalle des Turmes, die schwach erleuchtet war; die Wände und verblaßten Wandbehänge lagen in Schatten gehüllt. Keine Schritte – und auch sonst nichts. So geräuschlos wie möglich lief Simon über den Steinfußboden. Jedes versehentliche Kratzen seiner Stiefel stieg zischend bis zu den Eichenrippen der Decke empor. Die Haupttür der Halle war geschlossen; das einzige Licht fiel durch die Fenster über dem Türsturz.

Wie konnte jemand, der eben noch auf der Treppe gewesen war, unbemerkt die riesige Tür geöffnet und wieder geschlossen haben? Simon hatte die leichten Schritte sofort gehört und sich selber Sorgen über das Quietschen gemacht, das die großen Angeln verursachen würden. Noch einmal blickte er sich prüfend in der Eingangshalle um.

Da! Unter der Fransenborte des fleckigen Silbergobelins neben der Treppe lugten zwei kleine, abgerundete Gebilde hervor – Schuhe. Bei genauerer Betrachtung erkannte er auch, wie sich dort, wo sich jemand versteckt hielt, die Falten des alten Wandbehanges bauschten.

Auf einem Fuß balancierend wie ein Reiher, zog er leise erst den einen, dann den anderen Stiefel aus. Wer konnte es sein? Vielleicht der dicke Jeremias, der ihm nachgeschlichen war, um ihm einen Streich zu spielen? Nun, wenn das der Fall war, würde Simon es ihm schon zeigen.

Mit nackten Füßen, und damit auf den Steinen fast ohne einen Laut, schlich er durch die Halle, bis er unmittelbar vor der verdächtigen Ausbuchtung stand. Als er die Hand nach dem Wandbehang ausstreckte, fiel ihm plötzlich der seltsame Satz ein, den Bruder Cadrach, als sie dem Puppenspiel zugeschaut hatten, über Vorhänge gesagt hatte. Simon zögerte, schämte sich dann aber seiner Ängstlichkeit und riß den Wandbehang zur Seite.

Anstatt aufzufliegen und den Spion zu enthüllen, riß der schwere Gobelin jedoch aus seinen Halterungen und fiel wie eine schwere, brettsteife Decke nach unten. Simon erhaschte nur einen schnellen Blick auf ein kleines, erschrecktes Gesicht, bevor das Gewicht des Wandteppichs ihn niederstreckte. Während er noch fluchend und strampelnd, völlig in den Stoff verwickelt, dalag, schoß eine braungekleidete Gestalt an ihm vorbei.

Simon konnte hören, wie der andere, wer immer es auch sein mochte, sich mit der schweren Tür abplagte, während er mit dem staubigen Tuch rang, das ihn bedeckte. Endlich kam er frei, rollte auf die Füße und machte einen Satz quer durch den ganzen Raum, um die kleine Gestalt zu packen, bevor sie noch durch die bereits einen Spalt geöffnete Tür davonhuschen konnte. Es gelang ihm, mit festem Griff das grobe Wams zu erwischen. Zwischen Tür und Angel war der Spion gefangen.

Inzwischen war Simon ernstlich zornig, hauptsächlich aus Ärger über sein eigenes Ungeschick. »Wer bist du?« fauchte er. »Du Leutebespitzler!« Der Gefangene antwortete nicht, sondern zerrte nur noch stärker. Aber wer immer er war, seine Kraft reichte nicht aus, um sich aus Simons Griff loszureißen.

Noch während er sich anstrengte, den Widerstrebenden durch die Tür zurückzuziehen – alles andere als eine leichte Aufgabe –, erkannte Simon verblüfft den sandfarbenen Brokat zwischen seinen Händen. Das mußte derselbe Junge sein, der an der Kapellentür gelauscht hatte! Simon zog mit aller Macht und riß endlich Kopf und Schultern des Fremden durch den Türrahmen, so daß er ihn ansehen konnte.

Der Gefangene war klein, mit feinen, fast scharfen Zügen. Nase und Kinn hatten etwas leicht Füchsisches, das jedoch nicht unangenehm wirkte. Die Haare waren schwarz wie Krähenflügel. Einen Moment lang dachte Simon, es könne ein Sitha sein – wegen seiner geringen Größe –, und versuchte, sich an Shems Geschichten zu erinnern, daß man den Fuß eines Pukas nicht loslassen dürfte, damit man einen Kessel Gold von ihm gewann, aber bevor er noch etwas von diesem geträumten Schatz ausgeben konnte, sah er den Angstschweiß und die geröteten Wangen und fand, daß dies hier kein übernatürliches Wesen war.

»Wie heißt du eigentlich?« fragte er. Der gefangene Junge versuchte von neuem, sich loszureißen, war jedoch offensichtlich allzu erschöpft. Gleich darauf hörte er ganz auf, sich zu wehren.

»Dein Name?« beharrte Simon, diesmal in milderem Ton.

»Malachias.« Keuchend wandte der Junge sich ab.

»Also gut, Malachias, warum verfolgst du mich?« Er rüttelte den anderen leicht an der Schulter, nur um ihn zu erinnern, wer hier wen gefangenhielt.

Der Junge fuhr herum und starrte ihn finster an. Seine Augen waren ganz dunkel.

»Ich habe dir nicht nachspioniert!« entgegnete er heftig.

Wieder wandte er das Gesicht ab, aber Simon hatte plötzlich das Gefühl, etwas Vertrautes im Gesicht dieses Malachias entdeckt zu haben, etwas, das er eigentlich erkennen müßte.

»Und wer bist du, Bürschchen?« fragte Simon und streckte die Hand aus, um das Kinn des Jungen zu sich zu drehen. »Arbeitest du in den Ställen – arbeitest du überhaupt hier auf dem Hochhorst?«

Bevor er aber das Gesicht umdrehen und noch einmal anschauen konnte, stemmte ihm Malachias plötzlich beide Hände gegen die Brust und versetzte ihm einen unerwartet harten Stoß. Das Wams des Jungen wurde Simon aus der Hand gerissen, er taumelte zurück und landete auf dem Hosenboden. Bevor er auch nur den Versuch machen konnte, wieder aufzustehen, war Malachias durch die Tür entwischt und hatte sie mit lautem, hallendem Kreischen der bronzenen Angeln hinter sich zugeschlagen.

Simon saß immer noch auf dem Steinboden – schmerzendes Knie, schmerzendes Hinterteil und tödlich verletzte Würde schrien nach Beachtung –, als Barnabas der Küster aus dem Gang zur Staatskanzlei herbeigeeilt kam, um die Ursache des Lärms zu untersuchen. Wie vom Donner gerührt, blieb er in der Tür stehen und blickte vom stiefellos auf den Fliesen hockenden Simon auf den heruntergerissenen und zerwühlten Wandbehang neben dem Treppenhaus und von dort wieder auf Simon. Barnabas sagte kein Wort, aber ganz oben in seinen Schläfen begannen Adern zu pochen, und seine Brauen zogen sich zusammen und senkten sich nach unten, bis die Augen nur noch winzige Schlitze waren.

Simon, überrumpelt und hilflos, konnte nur noch sitzenbleiben und den Kopf schütteln wie ein Trunkenbold, der über den eigenen Krug gestolpert und auf der Katze des Bürgermeisters gelandet ist.

VI Das Steinmal auf den Klippen

Zur Strafe für diese letzte Untat wurde Simon seines neuen Amtes als Lehrling entsetzt und zu Arrest in den Dienstbotenquartieren verurteilt. Tagelang wanderte er durch die Grenzen seines Gefängnisses, von der Spülküche zu den Wäschekammern und wieder zurück, rastlos wie ein Falke unter der Haube.

Das habe ich mir selbst zuzuschreiben, dachte er manchmal. Ich bin wirklich so dumm, wie der Drache sagt.

Und zu anderen Zeiten schäumte er: Warum machen sie mir alle soviel Ärger? Man könnte glauben, ich sei ein wildes Tier, dem man nicht trauen könne.

Rachel, die ein gewisses Mitleid hegte, fand eine Reihe kleinerer Aufgaben, um ihn zu beschäftigen, so daß die Tage nicht ganz so öde verstrichen, wie es hätte sein können; aber das diente Simon nur als weiterer Beweis dafür, daß er auf ewig ein Karrengaul bleiben sollte. Er würde bringen und holen, bis er zu alt war, um überhaupt noch zu arbeiten, und dann würde man ihn hinaus hinter die Burg führen und ihm mit Shems abgesplittertem Holzhammer den Schädel einschlagen.

So schlichen die letzten Novandertage vorüber, und schon kroch der Decander zur Tür herein wie ein heimlicher Dieb.


Am Ende der zweiten Woche des neuen Monats bekam Simon seine Freiheit wieder – wenn man es so nennen konnte. Der Grünengel-Turm und bestimmte andere Lieblingsplätze wurden ihm verboten; seinen Dienst beim Doktor durfte er zwar wieder aufnehmen, jedoch ergänzt durch zusätzliche Aufgaben, die es erforderlich machten, daß er sich zur Essenszeit stets wieder in den Dienstbotenquartieren einfand. Aber selbst diese nur kurzen Besuche beim Doktor bedeuteten eine erhebliche Verbesserung. Tatsächlich sah es so aus, als verlasse sich Morgenes immer mehr auf Simon. Er lehrte ihn eine Menge Dinge über den Gebrauch und die Pflege der phantastischen Vielfalt von Merkwürdigkeiten, von denen seine Werkstatt überquoll. Außerdem lernte Simon – unter Schmerzen – lesen. Es war unendlich viel mühsamer, als Böden zu fegen oder staubige Destillierkolben und Becher auszuwaschen, aber Morgenes trieb ihn mit entschlossener Hand an und erklärte, ohne Alphabet könne aus Simon niemals ein brauchbarer Lehrling werden.


An Sankt-Tunath, dem einundzwanzigsten Decander, herrschte auf dem Hochhorst geschäftiges Treiben. Der Tag dieses Heiligen war der letzte hohe Feiertag vor Ädonmeß, und man bereitete ein großes Festmahl vor. Dienstmägde umkränzten Dutzende schlanker, weißer Bienenwachskerzen, die alle bei Sonnenuntergang angezündet werden sollten, mit Mistel- und Stechpalmenzweigen. Aus jedem Fenster würde der Schein ihrer Flammen strömen und den umherwandernden Sankt Tunath aus der Mittwinterdunkelheit hereinholen, damit er die Burg und ihre Bewohner segnete. Andere Bediente stapelten pechfeuchte, frischgespaltene Holzscheite in den Kaminen auf oder streuten neue Binsen auf die Fußböden.

Simon, der den ganzen Nachmittag sein Bestes getan hatte, um nicht aufzufallen, wurde trotzdem entdeckt und zu Doktor Morgenes geschickt, wo er herausfinden sollte, ob dieser irgendein für Polierzwecke geeignetes Öl besäße – Rachels Truppen hatten sämtliche Vorräte aufgebraucht, um der Großen Tafel blendenden Glanz zu verleihen, und die Arbeit in der Haupthalle war noch lange nicht beendet. Simon, der schon den ganzen Morgen in der Wohnung des Doktors damit zugebracht hatte, laut – ein zögerndes Wort nach dem anderen – in einem Buch mit dem Titel »Die unfelbarn Heylmittel der Wranna-Heyler« zu lesen, zog dennoch alles, was Morgenes von ihm verlangen mochte, dem Grauen von Rachels stählernem Blick vor. Geschwind wie ein Vogel entflog er der Haupthalle, vorbei an der langen Kanzleihalle und hinaus auf den Inneren Anger unterhalb des Grünengels. Sekunden später hatte er wie ein flüchtiger Sperber die Zugbrücke überquert, und es waren nur Augenblicke vergangen, bis er zum zweiten Mal an diesem Tag vor der Tür des Doktors stand.

Eine ganze Weile reagierte Morgenes nicht auf sein Klopfen, obwohl Simon von innen Stimmen vernahm. Er wartete so geduldig er konnte, kratzte inzwischen lange Splitter aus dem verwitterten Türrahmen, und endlich öffnete der alte Mann. Der Doktor hatte Simon zwar erst vor kurzer Zeit entlassen, machte jedoch keine Bemerkung über seine Rückkehr. Ohne ein Wort ließ er den jungen Mann eintreten; Simon, der seine seltsame Stimmung spürte, folgte ihm schweigend durch den von Lampen erhellten Korridor.

Schwere Vorhänge verdeckten die Fenster. Als seine Augen sich an die Dunkelheit im Zimmer gewöhnten, konnte Simon zunächst kein Anzeichen eines Besuchers feststellen. Dann aber erkannte er eine undeutliche Gestalt, die auf einer großen Seekiste in der Ecke saß. Der Mann im grauen Mantel blickte zu Boden. Sein Gesicht war verhüllt, aber der Junge erkannte ihn trotzdem.

»Verzeiht, mein Prinz«, sagte Morgenes, »das ist Simon, mein neuer Lehrling.«

Josua Ohnehand schaute auf. Seine blassen Augen – waren sie blau … oder grau? – streiften Simon mit uninteressiertem Ausdruck, so wie ein Hyrkahändler ein Pferd betrachten würde, das er nicht zu kaufen beabsichtigt. Nach kurzer Musterung wandte der Prinz seine Aufmerksamkeit wieder Morgenes zu, so vollständig, als sei Simon gar nicht mehr vorhanden. Der Doktor forderte den Jungen mit einer Handbewegung auf, in der entgegengesetzten Ecke des Raumes zu warten.

»Hoheit«, fuhr er dann fort, »ich fürchte, daß ich hier nichts mehr tun kann. Meine Kunst als Arzt und Apotheker ist am Ende.« Nervös rieb sich der alte Mann die Hände. »Vergebt mir. Ihr wißt, daß ich den König liebe und es mir furchtbar ist, ihn leiden zu sehen, aber … aber es gibt Dinge, in die sich Menschen wie ich nicht einmischen sollten – zu viele Möglichkeiten, zu viele unvorhersehbare Folgen. Zu diesen Dingen gehört auch die Weitergabe eines Königreiches.«

Morgenes, den Simon noch nie in solcher Stimmung erlebt hatte, zog einen Gegenstand an goldener Kette aus dem Gewand und fingerte erregt daran herum. Soweit Simon wußte, hatte der Doktor, der nur allzugern über Prahlerei und Zurschaustellung schimpfte, niemals irgendwelchen Schmuck getragen.

»Aber, bei Gottes Fluch, ich bitte Euch doch nicht, in die Thronfolge einzugreifen!« Josuas ruhige Stimme war gespannt wie eine Bogensehne. Simon fühlte sich überaus unwohl, Zeuge eines derartigen Gespräches zu sein, aber er konnte nirgendwo hingehen, ohne noch mehr aufzufallen.

»Ich habe Euch nicht gebeten, Euch in irgend etwas ›einzumischen‹, Morgenes«, sprach Josua weiter, »nur gebt mir etwas, das dem alten Mann die letzten Augenblicke leichter macht. Ob er nun morgen stirbt oder erst nächstes Jahr, Elias wird Hochkönig, und ich bin immer noch Lehnsherr von Naglimund und von nichts anderem.« Der Prinz schüttelte den Kopf. »Denkt doch an den uralten Bund zwischen Euch und meinem Vater – Euch, der Ihr sein Heiler gewesen seid und seit Dutzenden von Jahren sein Leben studiert und aufgezeichnet habt!« Josua fuhr mit der Hand an seinem Körper vorbei und deutete auf einen Stapel loser Buchblätter, die auf dem wurmstichigen Schreibtisch des Doktors aufgeschichtet lagen.

Über das Leben des Königs geschrieben? dachte Simon verwundert. Das war das erste, was er davon hörte. Morgenes schien heute voller Geheimnisse zu stecken.

Josua gab noch nicht auf. »Habt Ihr denn kein Mitleid? Er ist wie ein in die Enge getriebener alter Löwe, ein großes Tier, niedergestreckt von Schakalen! Süßer Usires, es ist so ungerecht…«

»Aber, Hoheit«, setzte der Doktor gerade an, als allen dreien im Raum plötzlich das Geräusch hastiger Schritte und Stimmen draußen im Hof bewußt wurde. Josua, bleich und mit fiebrigem Blick, war sofort aufgesprungen und hatte das Schwert so schnell gezogen, daß es aussah, als sei es von selbst in seine Hand geflogen. Ein lautes Hämmern erschütterte die Tür. Morgenes wollte öffnen, doch ein Zischen des Prinzen hielt ihn zurück. Simon fühlte sein Herz rasen. Josuas sichtliche Furcht steckte ihn an.

»Prinz Josua! Prinz Josua!« rief jemand, und das Pochen begann von neuem. Mit schneller Bewegung schob Josua das Schwert in die Scheide zurück, trat an Morgenes vorbei in den Gang der Werkstatt und riß die Tür auf. Vier Gestalten standen unter dem Vordach zum Hof; drei von ihnen gehörten zu seinen eigenen, grau uniformierten Soldaten, der letzte, der jetzt vor dem Prinzen das Knie beugte, war mit einem glänzendweißen Gewand und Sandalen bekleidet. Wie im Traum erkannte Simon ihn als Sankt Tunath, längst verstorbenes Motiv zahlloser frommer Gemälde. Was mochte das bedeuten?

»Ach, Hoheit…«, begann der kniende Heilige und hielt inne, um Atem zu holen. Simons Mund, der sich schon zum Grinsen verziehen wollte, als er begriff, daß der Mann auch nur ein Soldat und lediglich verkleidet war, um bei den Festlichkeiten des heutigen Abends die Rolle des Heiligen zu spielen, erstarrte, als er die verstörte Miene des jungen Mannes sah.

»Eure Hoheit … Prinz Josua…« wiederholte der Kniende.

»Was ist, Deornoth?« fragte der Prinz. Seine Stimme kam mühsam.

Deornoth, das dunkle, grobgestutzte Soldatenhaar umrahmt vom weißen Glanz der Kapuze, blickte auf. In dieser Sekunde hatte er wirklich die Augen eines Märtyrers, ausgebrannt und wissend.

»Der König, Herr, Euer Vater, der König … Bischof Domitis hat gesagt … er sei tot.«

Ohne einen Laut schob Josua sich an dem Knienden vorbei und verschwand im Hof, hinter ihm seine Soldaten. Gleich darauf erhob sich auch Deornoth und folgte ihnen, die Hände nach Mönchsart vorn gefaltet, als habe der Atem der Tragödie die Täuschung in Wirklichkeit verwandelt. Lautlos schwang die Tür im kalten Wind hin und her.

Als Simon sich zu Morgenes umdrehte, starrte der Doktor den Männern nach, und seine alten Augen glänzten und standen voller Tränen.


So geschah es, daß König Johan Presbyter endlich starb, am Tage des heiligen Tunath und in ungewöhnlich vorgerücktem Alter: geliebt, verehrt und so ganz und gar ein Teil des Lebens seines Volkes wie das Land selber. Und obwohl man längst damit gerechnet hatte, war die Trauer über sein Dahinscheiden groß und ergriff alle Länder der Menschen. Ein paar von den Allerältesten erinnerten sich, daß es im Jahr 1083 seit Gründung – vor genau achtzig Jahren – auch am Tunathstag gewesen war, daß Johan der Priester den Teufelswurm Shurakai erschlagen und im Triumph durch die Tore von Erchester Einzug gehalten hatte. Als diese Geschichte wieder erzählt wurde, nicht ohne einige Ausschmückungen, nickten weise Häupter. Von Gott – wie durch jene große Tat offenbart – zum König gesalbt, meinten sie, war er nun am Jahrestag wieder in den Schoß des Erlösers aufgenommen worden. Man hätte es voraussehen müssen, hieß es.

Es war traurig zu Mittwinter und zu Ädonzeit, auch wenn aus allen Ländern von Osten Ard die Menschen nach Erchester und der Hohen Burg geströmt kamen. Tatsächlich begannen viele der Ortsansässigen über die Besucher zu murren, die nicht nur in der Kirche die besten Bänke beanspruchten, sondern auch in den Wirtshäusern. Es herrschte auch mehr als nur ein wenig Verärgerung darüber, daß die Fremdländer solch einen Aufwand mit ihrem König trieben; denn obwohl er Gebieter über alle gewesen war, hatten ihn die Bewohner von Erchester immer mehr wie einen schlichten Lehnsherrn betrachtet. In jüngeren, gesünderen Tagen war er nur allzugern unter die Leute gegangen; zu Pferd und in glänzender Rüstung hatte er einfach wunderbar ausgesehen. Die Bürger der Stadt, zumindest in den ärmeren Vierteln, redeten oft mit vertraulichem Besitzerstolz von »unserm alten Mann da oben vom Hochhorst«.

Nun war er fort, befand sich zumindest außerhalb der Reichweite dieser schlichten Gemüter. Jetzt gehörte er den Geschichtsschreibern, den Dichtern und den Priestern.


In den vorgeschriebenen vierzig Tagen, die zwischen Tod und Bestattung eines Königs liegen mußten, wurde Johans Leichnam in die Halle der Vorbereitung von Erchester gebracht, wo die Priester ihn in seltenen Ölen badeten, mit stechend riechenden Kräuterharzen von den Südlichen Inseln einrieben und dann von Kopf bis Fuß in weißes Leinen wickelten, wobei sie ohne Unterlaß Gebete von überwältigender Frömmigkeit sprachen. Danach bekleideten sie König Johan mit einem schlichten Gewand, wie es junge Ritter beim ersten Gelübde trugen, und betteten ihn sanft auf eine Bahre im Thronsaal, rings umgeben von schmalen, schwarzen, brennenden Kerzen.

Sobald Johans Körper feierlich aufgebahrt war, befahl Vater Helfcene, der Kanzler des Königs, über der Felsfeste von Wentmund das Hayefur anzuzünden, etwas, das nur in Kriegszeiten oder bei großen Ereignissen geschah. Wenige unter den Lebenden konnten sich noch an das letzte Mal erinnern, als man den gewaltigen Fackelturm in Brand gesetzt hatte.

Helfcene gebot außerdem, auf dem Swertclif, oben auf dem östlich von Erchester gelegenen Vorgebirge, das weit über den Kynslagh hinausblickte, eine gewaltige Grube auszuheben. Auf diesem windigen Gipfel erhoben sich bereits die sechs schneebedeckten Hügel der Könige, die vor Johan Presbyter auf dem Hochhorst geherrscht hatten. Es war elendes Wetter zum Graben, der Boden vom Winter gefroren, aber die Arbeiter auf dem Swertclif waren stolz und ertrugen die beißende Luft, die Frostbeulen und die aufgesprungene Haut um der Ehre des Auftrags willen. Der größte Teil des kalten Johanever-Monats verging, bevor man mit dem Ausschachten fertig war und die Grube mit einem riesigen Zelt aus rotweißem Segeltuch überdeckt hatte.

Die Vorbereitungen auf dem Hochhorst nahmen einen weniger gemächlichen Verlauf. Die vier Küchen der Burg glühten und qualmten wie geschäftige Eisenwerke, während eine Horde schwitzender Küchenjungen den Leichenschmaus vorbereitete, Fleisch und Brot und Festwaffeln. Der Seneschall Peter Goldschüssel, ein kleiner, verbissener, gelbhaariger Mann, war wie ein Racheengel überall gleichzeitig. Mit derselben Geschicklichkeit kostete er die in gewaltigen Fässern wogende Brühe, untersuchte die Risse der Großen Tafel auf Staub – mit wenig Aussicht, denn hier war Rachel zuständig – und überhäufte die hin und her eilende Dienerschar mit Verwünschungen. Es war, darüber waren sich alle einig, seine größte Stunde.


Auf dem Hochhorst versammelte sich die Trauergemeinde aus allen Völkern Osten Ards. Skali Scharfnase von Kaldskryke, Herzog Isgrimnurs ungeliebter Vetter, erschien mit zehn verdächtig ausschauenden vollbärtigen Verwandten. Von den drei Stämmen, die über die wilden, grasigen Thrithinge herrschten, kamen die Markthane der regierenden Familien. Zur allgemeinen Verblüffung stellten die Stammeskrieger ausnahmsweise die Feindseligkeiten untereinander zurück und trafen gemeinsam ein – ein Zeichen ihrer Achtung für König Johan. Ja, es hieß sogar, als die Nachricht von Johans Tod die Thrithinge erreichte, hätten die Randwarte der drei Stämme sich an den Grenzen, die sie so eifersüchtig gegeneinander hüteten, getroffen und gemeinsam geweint und die ganze Nacht auf des Königs Geist getrunken.

Aus der Sancellanischen Mahistrevis, dem Herzogpalast in Nabban, schickte Herzog Leobardis seinen Sohn Benigaris mit einer Kolonne von Legionären und gepanzerten Rittern, an die hundert Köpfe stark. Als sie aus ihren Kriegsschiffen stiegen, die alle drei Nabbans goldenen Eisvogel auf dem Segel trugen, ging ein bewunderndes Raunen durch die Menge am Anlegeplatz. Sogar für Benigaris gab es ein paar respektvolle Hochrufe, als er auf einem hohen, grauen Zelter vorbeiritt; viele jedoch flüsterten, wenn das der Neffe von Camaris, dem größten Ritter im Zeitalter König Johans, sei, so müsse dieser Apfel vom Stamm seines Vaters und nicht dem seines Onkels gefallen sein. Camaris war ein hünenhafter, alle anderen überragender Mann gewesen, jedenfalls sagten das jene, die alt genug waren, sich noch an ihn zu erinnern; Benigaris dagegen sah, um die Wahrheit zu sagen, ein bißchen verfettet aus. Aber es war ja auch schon fast vierzig Jahre her, daß Camaris-sá-Vinitta auf dem Meer verschollen war; viele von den Jüngeren hatten den Verdacht, daß sich seine Statur in der Erinnerung der Großväter und Klatschbasen ein wenig vergrößert hatte.

Noch eine weitere bedeutende Abordnung kam aus Nabban, kaum weniger kriegerisch als Benigaris' Leute: der Lektor Ranessin selbst segelte auf einem wunderbaren Schiff über den Kynslagh, und auf dem Azursegel strahlten der weiße Baum und die goldene Säule der Mutter Kirche. Die Menge am Kai, die Benigaris und die Nabbanai-Soldaten so milde begrüßt hatte – als erinnere sie sich noch undeutlich der Tage, in denen Nabban mit Erkynland um die Vormacht gerungen hatte –, empfing den Lektor mit lautem Willkommensruf. Die an der Schiffslände Versammelten drängten vorwärts, und es erforderte die vereinten Kräfte der Wachen von König und Lektor, sie zurückzuhalten. Trotzdem wurden einige unsanft nach vorn gestoßen, so daß sie in den eiskalten See fielen und nur schnelle Rettung sie vor dem Erfrieren bewahrte.

»Das ist nicht das, was ich mir gewünscht hätte«, flüsterte der Lektor seinem jungen Adlatus Vater Dinivan zu. »Ich meine – sieh dir nur dieses aufgeputzte Ding da an, das sie mir geschickt haben.« Er deutete auf die Sänfte, ein prunkvolles Gebilde aus geschnitztem Kirschholz mit blauer und weißer Seide. Vater Dinivan, in schlichtes Schwarz gewandet, grinste.

Ranessin, ein schlanker, gutaussehender Mann von fast siebzig Jahren, sah mit ärgerlichem Stirnrunzeln auf die wartende Sänfte und winkte dann mit milder Gebärde einen aufgeregten Offizier der Erkyngarde heran.

»Bitte entfernt das«, sagte er. »Wir wissen Kanzler Helfcenes Fürsorglichkeit zu würdigen, aber wir ziehen es vor, mit dem Volk zu gehen.«

Das anstoßerregende Transportmittel wurde eiligst fortgeschafft, und der Lektor schritt auf die überfüllte Kynslagh-Treppe zu. Als er das Zeichen des Baumes machte – Daumen und kleiner Finger wie ineinandergehakte Zweige, dazu ein senkrechter Strich mit den Mittelfingern –, öffnete die unruhige Menge langsam einen Durchgang, der über die ganze Länge der großen Treppe reichte.

»Lauft bitte nicht so schnell, Meister«, sagte Dinivan und schob sich an ausgestreckten, winkenden Armen vorbei. »Ihr überholt sonst noch Eure Wachen.«

»Und woher weißt du« – Ranessin ließ, so schnell, daß niemand außer Dinivan es sah, ein neckendes Lächeln über sein Gesicht huschen –, »daß es nicht genau das ist, was ich vorhabe?«

Dinivan fluchte ganz leise und bereute sofort diese Schwäche. Der Lektor war bereits einen Schritt voraus, und die Menge drängte nach. Zum Glück frischte jetzt der Wind von den Docks auf, und Ranessin war gezwungen, langsamer zu steigen. Mit der freien Hand umklammerte er seinen Hut, der fast so dünn, hoch und bleich aussah wie Seine Heiligkeit selbst. Als Vater Dinivan merkte, daß der Lektor leicht schräg im Wind zu liegen begann, schob er sich eilig weiter. Er holte den Älteren ein und packte ihn energisch am Ellbogen.

»Vergebt mir, Meister, aber Escritor Velligis würde es nie verzeihen, wenn ich Euch in den See fallen ließe.«

»Natürlich, mein Sohn«, nickte Ranessin und formte, während die beiden weiter die lange, breite Treppe hinaufstiegen, immer wieder nach beiden Seiten das Zeichen des Baumes in der Luft. »Ich habe nicht genügend nachgedacht. Du weißt ja, wie sehr ich diesen unnötigen Pomp verachte.«

»Aber Lektor«, wandte Dinivan milde ein und hob mit dem Ausdruck geheuchelter Überraschung die buschigen Augenbrauen, »Ihr seid Usires Ädons weltliche Stimme. Es schickt sich nicht, daß Ihr hier die Stufen hinaufrennt wie ein Seminarschüler.«

Dinivan war enttäuscht, daß diese Worte nur ein leichtes Lächeln auf das Gesicht Seiner Heiligkeit brachten. So kletterten sie in wortlosem Gleichschritt bergan, und der jüngere Mann hielt weiter den Arm des älteren in schützendem Griff.

Armer Dinivan, dachte Ranessin. Er gibt sich solche Mühe und ist so achtsam. Nicht, daß er mich – immerhin den Lektor der Mutter Kirche – nicht mit einer gewissen Respektlosigkeit behandelte. Natürlich tut er das, weil ich es ihm erlaubt habe – zu meinem eigenen Besten. Aber heute bin ich nicht in heiterer Stimmung, und er sollte das wissen.

Selbstverständlich war Johans Tod der Grund – aber es war nicht nur der Verlust eines guten Freundes und hervorragenden Königs; es war die damit verbundene Veränderung, und die Kirche in Gestalt von Lektor Ranessin konnte es sich nicht erlauben, Veränderungen allzuleicht Vertrauen zu schenken. Natürlich bedeutete es auch den Abschied – nur in dieser Welt, erinnerte der Lektor sich selber energisch – von einem Mann, der ein gutes Herz und gute Absichten gehabt hatte, auch wenn er bei der Ausführung dieser Absichten bestimmt manchmal allzu direkt vorgegangen war. Ranessin schuldete Johan viel, und nicht das Geringste davon war, daß der Einfluß des Königs bei der Erhebung des einstigen Oswin von Stanshire in die Höhen der Kirche und schließlich sogar zum Amt des Lektors, das fünf Jahrhunderte von keinem Erkynländer mehr bekleidet worden war, eine große Rolle gespielt hatte. Man würde den König sehr vermissen.

Allerdings setzte Ranessin Hoffnungen auf Elias. Der Prinz war unzweifelhaft mutig, entschlußkräftig, kühn – sämtlich Eigenschaften, die Söhne großer Männer nur selten besitzen; freilich war er auch jähzornig und ein wenig unbedacht, aber das – Duos wulstei – waren Fehler, die durch das Tragen von Verantwortung und durch guten Rat oft geheilt oder doch zumindest gemildert wurden.

Als er die Höhe der Kynslagh-Treppe erreicht und mit seinem hinterherkeuchenden Gefolge den Königsweg betreten hatte, der um die Mauern von Erchester herumführte, nahm der Lektor sich vor, dem neuen König einen zuverlässigen Ratgeber als Helfer zu senden, der freilich auch mit wachsamem Auge auf das Wohl der Kirche achten sollte, jemanden wie Velligis oder den jungen Dinivan – nein, von Dinivan würde er sich nicht trennen. Auf jeden Fall wollte Ranessin einen Mann finden, der ein Gegengewicht zu Elias' blutdürstigen jungen Edelleuten bildete – und zu diesem aufgeblasenen Schwachkopf Bischof Domitis.


Der erste Feyever, der Tag vor Elysiameß – Liebfrauentag –, dämmerte hell, kalt und klar. Die Sonne hatte kaum die spitztürmigen Gipfel des fernen Gebirges erklommen, als auch schon eine langsame, feierliche Menge in die Kapelle des Hochhorstes zu strömen begann. Der Leichnam des Königs lag auf einer mit Goldstoff und schwarzen Seidenbändern verkleideten Bahre vor dem Altar.

Simon betrachtete die Edelleute in ihren reichen, düsteren Gewändern mit grollender Faszination. Er war, geradewegs aus der Küche kommend, auf die unbenutzte Chor-Empore gestiegen und trug sogar noch sein soßenfleckiges Hemd; selbst hier, zusammengekauert im Schatten versteckt, schämte er sich seiner armseligen Kleidung.

Und ich als einziger Bedienter hier, dachte er. Der einzige von allen, der mit unserem König in der Burg gewohnt hat. Woher kommen bloß diese aufgeputzten Herren und Damen? Er erkannte nur wenige wieder – Herzog Isgrimnur, die beiden Prinzen und ein paar andere.

Irgend etwas stimmte daran nicht, daß die dort unten in der Kapelle Sitzenden in ihren Trauerseiden so prächtig aussahen, während auf ihm der Gestank der Spülküche lag wie eine Decke – aber was war es, was hier falsch war? Sollte man den Küchenhelfer der Burg im Kreis der Edlen willkommen heißen? Oder lag die Schuld bei ihm, weil er es gewagt hatte, sich hier einzudrängen?

Und was ist, wenn König Johan alles beobachtet? Bei dem Gedanken überlief es Simon kalt. Wenn er von irgendwoher zusieht? Wird er Gott erzählen, daß ich mich mit meinem dreckigen Hemd hier eingeschlichen habe?

Als letzter trat Lektor Ranessin ein, angetan mit dem vollen Ornat seiner heiligen Amtsgewänder in Schwarz, Silber und Gold. Auf dem Kopf trug er einen Kranz aus geweihten Ciyanblättern, in der Hand Weihrauchfäßchen und Stab aus schwarzem Onyx. Mit einer Gebärde forderte er die Menge zum Niederknien auf und begann mit dem Eingangsgebet der Mansa-sea-Cuelossan, der Totenmesse. Als er in volltönendem Nabbanai, immer noch mit einem winzigen Akzent, den Text sprach, war es Simon, als scheine ein Licht auf Priester Johans Gesicht und als könne er den König einen Augenblick lang so sehen, wie er damals anzuschauen gewesen war, als er zum ersten Mal mit leuchtenden Augen, schmutzig vom Kampf, aus den Toren des gerade erst eroberten Hochhorstes geritten war. Wie sehr wünschte Simon sich, ihn damals erblickt zu haben!

Als die zahlreichen Gebete beendet waren, erhob sich der versammelte Adel, um das Cansim Falis zu singen; Simon begnügte sich damit, die Worte lautlos mitzusprechen. Nachdem die Trauernden wieder Platz genommen hatten, begann Ranessin seine Rede, zur Überraschung aller nicht in Nabbanai, sondern in der ländlichschlichten Sprache der Westerlinge, die Johan zur gemeinsamen Sprache seines Reiches gemacht hatte.

»Erinnern wir uns«, intonierte Ranessin, »daß, als der letzte Nagel in den Hinrichtungsbaum geschlagen worden war und man unseren Herrn Usires dort in furchtbaren Qualen zu Tode marterte, eine edle Frau aus Nabban namens Pelippa, Tochter eines mächtigen Ritters, ihn hängen sah und ihr Herz von Mitleid für sein Leiden erfüllt wurde. Als nun in dieser Ersten Nacht, in der Usires sterbend und einsam am Baume hing – denn man hatte seine Jünger mit Geißeln aus dem Hof des Tempels gejagt –, die Dunkelheit hereinbrach, da kam sie zu ihm und brachte ihm Wasser, und sie gab es ihm mit ihrem kostbaren Tuch, das sie in eine goldene Schale tauchte und an seine ausgedörrten Lippen führte.

Und als sie ihn tränkte, weinte Pelippa über die Pein des Erlösers und sprach zu ihm: ›Armer Mensch, was hat man dir getan?‹ Usires antwortete ihr: ›Nichts, wofür der arme Mensch nicht geboren wäre.‹

Da weinte Pelippa wiederum und sprach: ›Aber es ist schrecklich genug, daß sie dich um deiner Worte willen töten, ohne daß sie dich auch noch mit dem Kopf nach unten aufhängen, um dich zu demütigen.‹ Und Usires der Bekehrer sagte: ›Tochter, es ist nicht von Bedeutung, wie ich hänge, denn ich sehe trotzdem Gott, meinem Vater, mitten ins Angesicht.‹

Und das…«, der Lektor senkte seinen Blick auf die Versammlung, »… was unser Herr Usires hier gesagt hat, das können auch wir von unserem geliebten König sagen. Das einfache Volk unten in der Stadt erzählt, Johan Presbyter sei nicht von uns gegangen, sondern bleibe bei uns, um über sein Volk und sein Osten Ard zu wachen. Das Buch Ädon verheißt, daß er schon jetzt in unseren herrlichen Himmel voller Licht und Musik und blauer Berge emporgestiegen ist. Andere, wie unsere Brüder in Hernystir, werden sagen, er sei zu den übrigen Helden gegangen, die in den Sternen wohnen. Aber darauf kommt es nicht an. Denn wo immer er jetzt auch weilen mag, er, der einst der junge König Johan war, ob er in leuchtenden Bergen oder den Gefilden der Sterne thront, dieses eine wissen wir: daß er voller Seligkeit in Gottes Angesicht schaut…«

Als der Lektor seine Rede beendet hatte, standen selbst seine eigenen Augen voller Tränen. Die letzten Gebete wurden gesprochen, und die Trauergemeinde verließ die Kapelle.

Simon sah in ehrfürchtigem Schweigen zu, wie König Johans schwarzgekleidete Leibdiener ihm die letzte Ehre erwiesen, ihn umschwärmten wie Käfer eine abgestürzte Libelle und ihn mit seinem königlichen Gewand und seiner Kriegsausrüstung bekleideten. Er wußte, daß er sich hätte entfernen müssen – das hier ging weit über Einschleichen und Lauschen hinaus und grenzte an Gotteslästerung –, aber er konnte sich nicht vom Fleck rühren. Furcht und Trauer waren einem seltsamen Gefühl der Unwirklichkeit gewichen. Alles kam ihm wie ein Festspiel, ein Mummenschanz vor, bei dem die Figuren sich in ihren Rollen so steif bewegten, als seien ihre Glieder zu Eis gefroren, aufgetaut und wiederum eingefroren.

Die Diener des toten Königs hüllten ihn in seine eisweiße Rüstung und schoben ihm die gefalteten Handschuhe in das Wehrgehenk, ließen jedoch die Füße bloß. Über den Brustharnisch zogen sie ein langes, himmelblaues Wams und legten dem Toten einen glänzend scharlachroten Mantel um die Schultern, und bei all dem bewegten sie sich so langsam, als litten sie an einem Fieber. Haar und Bart wurden zu Kriegszöpfen geflochten, und der eiserne Reif, das Zeichen der Herrschaft über den Hochhorst, wurde auf seine Stirn gesetzt. Zum Schluß zog Noah, der alte Knappe des Königs, Fingils eisernen Ring hervor, den er bis dahin zurückgehalten hatte; die plötzlichen Laute seines Kummers zerbrachen die lastende Stille. Noah schluchzte so bitterlich, daß Simon sich fragte, wie er vor lauter Tränen überhaupt genug sehen konnte, um dem König den Ring an den weißen Finger zu stecken.

Endlich hoben die schwarzgekleideten Käfer den Leichnam wieder auf die Bahre. Bedeckt von seinem Überwurf aus Goldstoff, wurde er zum letzten Mal aus seiner Burg getragen, drei Männer auf jeder Seite. Dahinter folgte Noah mit dem drachengekrönten Kriegshelm des Königs. Oben im Schatten der Empore tat Simon einen tiefen Atemzug – ihm war, als hätte er eine Stunde lang die Luft angehalten. Der König war fort.


Als Herzog Isgrimnur sah, wie Johan der Priester durch das Nerulagh-Tor getragen wurde und die Prozession des Adels sich hinter ihm zu ordnen begann, überkam ihn ein sonderbares, unsicheres Gefühl wie ein Traum vom Ertrinken.

Sei kein Esel, Alter, sagte er zu sich selber. Niemand lebt ewig – auch wenn Johan ein großes Stück davon geschafft hat.

Das Merkwürdige daran war, daß Isgrimnur immer gewußt hatte, selbst als sie Seite an Seite in der tobenden Hölle der Schlacht gestanden hatten und die schwarzgefiederten Thrithing-Pfeile an ihnen vorübergezischt waren wie Uduns – verdammt: wie Gottes Blitze, daß Johan Presbyter im Bett sterben würde. Diesen Mann im Krieg zu sehen hieß einen vom Himmel Gesalbten sehen, unberührbar und gebieterisch, einen Mann, der lachte, als Blutnebel den Himmel verdunkelte. Wäre Johan ein Rimmersmann gewesen – Isgrimnur lächelte innerlich –, hätte er ganz gewiß zu den Berserkern gehört.

Aber nun ist er tot, und das ist schwer zu begreifen. Seht sie doch an, diese Ritter und Herren … sie haben auch geglaubt, er würde ewig leben. Jetzt haben die meisten Angst.

Elias und der Lektor hatten gleich hinter der Bahre des Königs Aufstellung genommen. Isgrimnur, Prinz Josua und die blondhaarige Prinzessin Miriamel, Elias' einziges Kind, folgten dichtauf. Auch die anderen hochgestellten Familien standen auf ihren Plätzen, ohne das sonst übliche Gedrängel um die günstigsten Positionen. Als der Leichnam dann über den Königsweg nach dem Vorgebirge getragen wurde, schloß sich hinten auch das einfache Volk an, eine riesige Menge, von der Prozession eingeschüchtert und zum Verstummen gebracht.

Auf einem Bett aus langen Pfählen lag am Fuße des Königsweges die Seepfeil, das Boot des Königs. In ihr, so hieß es, sollte Johan einst von den Inseln der Westerlinge nach Erkynland gekommen sein. Es war nur ein kleines Fahrzeug, kaum mehr als fünf Ellen lang; Isgrimnur bemerkte erfreut, daß man das Holz frisch lackiert hatte, damit es in der trüben Feyeversonne schimmerte.

Götter, wie hat er dieses Boot geliebt! erinnerte sich der Herzog. Sein Amt als König hatte Johan wenig Zeit für das Meer gelassen, aber Isgrimnur entsann sich einer wilden Nacht vor dreißig Jahren oder noch mehr, als der König in einer solchen Stimmung gewesen war, daß es nur noch eines für ihn gab: Er und Isgrimnur, damals noch ein junger Mann, mußten die Seepfeil auftakeln und auf den windgepeitschten Kynslagh hinausfahren. Die Luft war so kalt gewesen, daß sie biß. Johan, fast siebzig Jahre alt, hatte gejohlt und gelacht, als die Seepfeil in der hohen Dünung bockte, während Isgrimnur, dessen Ahnen sich lange vor seiner Zeit für das Festland entschieden hatten, das Schanzkleid umklammert und zu seinen zahlreichen alten Göttern und dem einen neuen Gott gebetet hatte.

Jetzt legten die Diener und Soldaten des Königs den Leichnam ganz sanft in das Boot, wobei sie ihn auf ein Gestell hinunterließen, das man für die Bahre vorbereitet hatte. Vierzig Krieger der königlichen Erkyngarde ergriffen sodann die langen Pfähle und legten sie auf ihre Schultern. Sie hoben das Boot auf und trugen es fort.

Der König und die Seepfeil führten die gewaltige Menschenmenge eine halbe Meile um das Vorgebirge über der Bucht herum, bis sie endlich Swertclif und das Grab erreichten. Man hatte das darüber errichtete Zelt entfernt, und das Loch neben den sechs feierlichen runden Grabhügeln der früheren Gebieter des Hochhorstes glich einer offenen Wunde.

Auf der einen Seite der Grube erhob sich ein massiver Stapel ausgeschnittener Grassoden, daneben ein Hügel aus Steinen und unbehauenem Holz. Auf der anderen Seite, wo man die Erde im flachen Winkel aufgegraben hatte, wurde die Seepfeil niedergesetzt. Sobald das Boot stand, traten der Reihe nach die adligen Familien Erkynlands und die Dienerschaft des Hochhorstes heran, um kleine Dinge als Zeichen ihrer Liebe in das Boot oder das Grab zu legen. Außerdem war aus jedem Land, das unter dem Hohen Schutz des Königs gestanden hatte, ein besonders bedeutendes Kunstwerk geschickt worden, das Johan der Priester mit in den Himmel nehmen sollte – ein Gewand aus kostbarer Seide von der Insel Risa etwa kam aus Perdruin, ein weißer Porphyr-Baum aus Nabban. Isgrimnurs Leute hatten aus Elvritshalla in Rimmersgard eine silberne Axt mitgebracht, Dwerningswerk, bergblaue Juwelen am Heft. Lluth, König der Hernystiri, hatte aus dem Taig von Hernysadharc einen langen Eschenholzspeer gesandt, überall mit rotem Gold eingelegt und mit goldener Spitze.

Die Mittagssonne schien viel zu hoch am Himmel zu stehen. So dachte zumindest Herzog Isgrimnur, als auch er endlich vortrat. Obwohl sie ungehindert über das graublaue Himmelsgewölbe wanderte, schien sie ihre Wärme zurückzuhalten. Der Wind wehte schärfer und tanzte wirbelnd über das Kliff. Isgrimnur trug Johans abgeschabte Kriegsstiefel in der Hand. Er brachte es nicht über sich, zu den weißen Gesichtern hinaufzusehen, die glitzernd wie Schneeflecken im tiefen Wald aus der Menge spähten.

Als er sich der Seepfeil näherte, warf er einen letzten Blick auf seinen König. Bleicher als die Brust einer Taube sah Johan doch so streng und großartig und voll von schlafendem Leben aus, daß Isgrimnur sich dabei ertappte, daß er sich Sorgen um seinen alten Freund machte, der ohne Decke draußen im Wind lag. Sekundenlang hätte er fast gelächelt.

Johan hat immer gesagt, ich hätte das Herz eines Bären und den Verstand eines Ochsen, schalt Isgrimnur sich selber. Und wenn es hier oben schon kalt ist, wie kalt wird er es erst in der gefrorenen Erde haben …

Vorsichtig, aber sicher schritt Isgrimnur über die steile Rampe aus Erde; wenn nötig, stützte er sich mit der Hand ab. Obwohl ihm dabei der Rücken fürchterlich schmerzte, wußte er, daß niemand so etwas von ihm denken würde, und er war noch nicht so alt, daß er nicht ein bißchen stolz darauf gewesen wäre.

Nacheinander nahm er Johan Presbyters blaugeäderte Füße in die Hand und zog ihnen die Stiefel über. Innerlich lobte er die geschickten Hände im Haus der Vorbereitung für die Leichtigkeit, mit der er diese Aufgabe erfüllen konnte. Ohne seinem Freund noch einmal ins Gesicht zu sehen, nahm er schnell die Hand des Königs und küßte sie. Dann schritt er davon, und es war ihm noch viel seltsamer ums Herz als zuvor. Plötzlich kam es ihm vor, als sei es nicht die leblose Hülle seines Königs, die man da der Erde anvertraute, während die Seele frei davonflatterte wie ein frisch entfalteter Schmetterling. Die Geschmeidigkeit der Glieder, das so vertraute, ruhevolle Gesicht – wie Isgrimnur es unzählige Male erblickt hatte, wenn der König in einer Schlachtpause ein paar Stunden Schlaf ergattert hatte –, das alles gab Isgrimnur ein Gefühl, als lasse er einen lebendigen Freund im Stich. Auch wenn er wußte, daß Johan Presbyter tot war, weil er die Hand des Königs gehalten hatte, als dieser die letzten Atemzüge tat, fühlte er sich trotzdem wie ein Verräter.

So besessen war er von seinen Gedanken, daß er beinahe mit Prinz Josua zusammengestoßen wäre, der ihm auf seinem Weg zum Grabhügel geschickt auswich. Isgrimnur erkannte entsetzt, daß Josua auf einem grauen Tuch Johans Schwert Hellnagel vor sich hertrug.

Was geht hier vor? fragte sich Isgrimnur. Was will er mit dem Schwert?

Als der Herzog die vorderste Reihe der Menge erreichte und sich wieder umdrehte, um zuzuschauen, wurde sein Unbehagen noch größer. Josua hatte dem König Hellnagel auf die Brust gelegt und verschränkte jetzt Johans Hände über dem Griff.

Aber das kann er nicht tun! dachte der Herzog. Das Schwert gehört dem Thronerben – ich weiß, daß Johan es Elias geben wollte. Und wenn Elias es wirklich lieber mit seinem Vater beisetzen möchte, warum legt er es ihm dann nicht selber ins Grab? Wahnsinn! Wundert sich denn sonst niemand darüber?

Isgrimnur schaute nach allen Seiten, fand auf den Gesichtern ringsum aber nichts als Trauer.

Jetzt kam Elias. Langsam schritt er an seinem Bruder vorbei, als nehme er teil an einem feierlichen Tanz – und so ähnlich war es ja auch. Der Thronerbe beugte sich über das Schanzkleid des Bootes. Was er seinem Vater mitgab, konnte niemand sehen, aber alle bemerkten, daß auf Elias' Wange, als er sich abwandte, eine Träne glitzerte, während Josuas Augen trockengeblieben waren.

Die Trauergemeinde sprach noch ein letztes Gebet. Ranessin, mit in der Seebrise wogenden Gewändern, besprenkelte die Seepfeil mit geweihten Ölen. Dann wurde das Boot langsam über die Schräge der Grube hinabgelassen. Schweigend arbeiteten die Soldaten mit ihren schweren Pfählen, bis es endlich einen Faden tief in der Erde lag. Dann wölbte man einen hohen Berg aus Holzbohlen darüber, den die Arbeiter mit Grassoden bedeckten, einen über den anderen geschichtet. Endlich häufte man Steine darauf, um das Felsmal für Johan den Priester zu vollenden, und die Trauergesellschaft machte sich auf den Weg und wanderte langsam über die Klippen am Rande des Kynslaghs nach Hause zurück.


Der abendliche Leichenschmaus in der großen Halle der Burg war keine feierlich strenge Zusammenkunft, sondern eher ein Fest voll Mut und Heiterkeit. Gewiß, Johan war tot, aber er hatte ein langes Leben gehabt, weit länger als die meisten anderen Menschen, und ein Königreich hinterlassen, in dem Wohlstand und Frieden herrschten, mit einem starken Sohn als Thronfolger.

In den Kaminen stapelten sich die Scheite; die tanzenden Flammen warfen seltsam hüpfende Schatten an die Wand. Schwitzende Dienerinnen und Diener eilten hin und her. Die Feiernden gestikulierten und riefen den Königen Trinksprüche zu, dem alten, der von ihnen gegangen war, und dem neuen, der am nächsten Morgen gekrönt werden sollte. Die Burghunde, große und kleine, bellten, balgten sich um heruntergefallene Brocken und wühlten im Stroh, das den Boden bedeckte. Simon, dienstverpflichtet, mußte eine schwere Weinkanne von Tisch zu Tisch schleppen und hatte, von grölenden Angeheiterten angebrüllt und bespritzt, das Gefühl, in einer von den lärmenden Höllen aus Vater Dreosans Predigten seine Arbeit zu tun; die auf den Tischen verstreuten und unter den Füßen knirschenden Knochen konnten die Überreste von Sündern sein, die diese lachenden Dämonen erst gequält und dann fortgeschleudert hatten.

Elias sah schon jetzt wie ein echter Kriegerkönig aus. Er saß an der Haupttafel, umgeben von seinen jungen adligen Günstlingen: Guthwulf von Utanyeat, Fengbald, dem Grafen von Falshire, Breyugar vom Westfold und anderen. Alle trugen sie ein Streifchen von Elias' Grün am Trauerschwarz, und alle wetteiferten sie miteinander um den lautesten Trinkspruch, den härtesten Scherz. Der zukünftige König führte bei diesen Anstrengungen den Vorsitz und belohnte seine Favoriten mit lautem Gelächter. Von Zeit zu Zeit beugte er sich vor und sagte etwas zu Skali von Kaldskryke, Isgrimnurs Verwandtem, der als besonders geladener Gast an Elias' Tafel saß. Obwohl er ein großer Mann war, falkengesichtig und blondbärtig, wirkte Skali von der Ehre, zur Seite des Thronfolgers zu sitzen, etwas überwältigt – vor allem, weil Herzog Isgrimnur keine vergleichbare Ehre zuteil geworden war. Aber etwas, das Elias soeben bemerkte, schien ins Schwarze zu treffen; Simon sah den Rimmersmann zuerst lächeln, hörte ihn dann schallend loslachen und mit seinem Metallpokal krachend mit dem Prinzen anstoßen. Elias drehte sich mit wölfischem Grinsen um und sagte etwas zu Fengbald, der in die allgemeine Erheiterung einstimmte.

Verglichen damit, ging es an dem Tisch, an dem Isgrimnur mit Prinz Josua und einigen anderen saß, weit gedämpfter zu; die Stimmung schien zum grauen Gewand des Prinzen zu passen. Obwohl die anderen Edelleute sich Mühe gaben, eine Unterhaltung in Gang zu halten, konnte Simon im Vorbeigehen feststellen, daß die beiden Hauptpersonen sich nicht daran beteiligten. Josua starrte in die Ferne, als fesselten die Wandbehänge seinen Blick. Genausowenig wie er reagierte Herzog Isgrimnur auf das Tischgespräch, aber seine Gründe dafür waren kein Geheimnis. Selbst Simon konnte erkennen, wie finster der alte Herzog zu Skali Scharfnase hinüberstarrte und mit den riesigen, knorrigen Händen gedankenverloren am Saum seines Bärenfellwamses herumzupfte. Die verächtliche Art, in der Elias einen von Johans getreuesten Rittern behandelte, war an anderen Tischen nicht unbeachtet geblieben. Einige der jüngeren Edelleute, wenngleich höflich genug, es nicht deutlich zu zeigen, schienen das Unbehagen des Herzogs belustigend zu finden. Hinter vorgehaltener Hand tuschelten sie mit hochgezogenen Brauen, um die Größe des Skandals anzudeuten. Während Simon dastand und vor sich hinschwankte, verwirrt von dem Lärm, dem Rauch und seinen eigenen konfusen Beobachtungen, ertönte von einem der hinteren Tische eine laute Stimme, die ihn verwünschte und nach mehr Wein brüllte. Hastig setzte er sich wieder in Bewegung.

Später am Abend, als Simon endlich Gelegenheit fand, sich in einer Nische hinter einem der gewaltigen Wandbehänge einen Augenblick auszuruhen, bemerkte er, daß ein neuer Gast am Ehrentisch Platz genommen und sich auf einen hohen Hocker zwischen Elias und Guthwulf gezwängt hatte. Der Neuankömmling war in für eine Trauergesellschaft höchst unpassendes Scharlachrot gekleidet; schwarzgoldene Tressen faßten die Säume seiner überweiten Ärmel ein. Als er sich vorbeugte, um Elias etwas ins Ohr zu flüstern, betrachtete ihn Simon mit hilfloser Faszination. Der Mann war völlig haarlos, sogar ohne Augenbrauen und Wimpern, aber die Züge gehörten einem noch jungen Mann. Die eng über den Schädel gespannte Haut schien selbst im grell orangefarbenen Binsenlicht auffallend blaß; die Augen lagen tief in den Höhlen und waren so dunkel, daß sie nur wie glänzend schwarze Flecken unter den nackten Brauen wirkten. Simon kannte diese Augen – sie hatten ihn unter dem Kapuzenmantel des Wagenlenkers angeblickt, dessen Fahrzeug ihn am Nerulagh-Tor um ein Haar überrollt hätte. Er schauderte und riß die Augen auf. Es war etwas Widerwärtiges und zugleich Fesselndes an dem Mann, ähnlich wie bei einer sich wiegenden Schlange.

»Sieht gräßlich aus, nicht wahr?« sagte eine Stimme an seinem Ohr. Simon machte einen Satz. Ein junger Mann, dunkelhaarig und lächelnd, stand hinter ihm in der Nische, eine Laute aus Eschenholz liebevoll an das taubengraue Wams gedrückt.

»Ich … es tut mir leid«, stotterte Simon. »Ihr habt mich erschreckt.«

»Das wollte ich nicht«, lachte der andere. »Ich kam nur vorbei, um zu sehen, ob du mir aushelfen könntest.« Er zog die andere Hand hinter dem Rücken vor und zeigte Simon einen leeren Weinbecher.

»Oh …«, begann Simon. »Es tut mir wirklich leid … ich ruhte mich gerade ein bißchen aus, Herr … verzeiht mir …«

»Friede, Freund, Friede! Ich will dir keinen Ärger machen, aber wenn du nicht aufhörst, dich zu entschuldigen, werde ich doch noch zornig. Wie heißt du?«

»Simon, Herr.« Hastig hob er die Kanne und füllte das Gefäß des jungen Mannes. Der Fremde stellte den Becher in einer Vertiefung der Wand ab, faßte die Laute fester und griff in sein Wams, aus dem er einen zweiten Becher zutage förderte. Mit einer Verbeugung hielt er ihn Simon hin.

»Hier«, meinte er. »Den wollte ich eigentlich stehlen, Meister Simon, aaber ich finde, wir sollten statt dessen gegenseitig auf unsere Gesundheit und das Andenken des alten Königs trinken – und bitte nenn mich nicht ›Herr‹, denn ich bin keiner.« Er klopfte mit dem Becher an die Kanne, bis Simon ihm nochmals eingoß. »Na also!« erklärte der Fremde. »Und nun nenn mich Sangfugol – oder, wie der alte Isgrimnur es verstümmelt, ›Zongvogol‹.«

Der Fremde ahmte den Rimmersgard-Akzent so hervorragend nach, daß Simon ein winziges Lächeln zustande brachte. Nachdem er sich verstohlen nach Rachel umgeschaut hatte, setzte er die Kanne hin und führte den Becher, den Sangfugol ihm gegeben hatte, an den Mund. Der rote Wein, stark und sauer, floß wie Frühlingsregen durch seine ausgedörrte Kehle; als er den Becher senkte, war sein Lächeln wesentlich breiter geworden.

»Gehört Ihr zu Herzog Isgrimnurs … Gefolge?« fragte Simon und wischte sich mit dem Ärmel die Lippen.

Sangfugol lachte. Er schien schnell belustigt.

»Gefolge! Was für ein Wort für einen Jungen, der Getränke bringt! Nein, ich bin Josuas Harfner. Ich wohne auf seiner Burg Naglimund, im Norden.«

»Liebt der Prinz denn die Musik?« Aus irgendeinem Grund überraschte Simon dieser Gedanke. Er goß sich noch einen Becher ein.

»Er sieht immer so ernst aus.«

»Er ist auch ernst … aber das heißt doch nicht, daß er die Harfe oder das Lautenspiel geringschätzen muß. Es stimmt zwar, daß er meist meine melancholischen Lieder vorzieht, aber es gibt auch Zeiten, in denen er die ›Ballade vom Dreibeinigen Tom‹ oder anderes in dieser Art hören will.«

Bevor Simon weiterfragen konnte, gab es an der Haupttafel großes Gejohle und Heiterkeit. Simon drehte sich um und sah, daß Fengbald einem anderen Mann einen Humpen Wein in den Schoß geschüttet hatte. Der andere, der betrunken war, wrang sein Hemd aus, während Elias und Guthwulf und der Rest der Edelleute spotteten und grölten. Nur der kahle Fremde im Scharlachgewand beteiligte sich nicht daran. Seine Augen blieben kalt, und ein schmales Lächeln entblößte die Zähne.

»Wer ist das?« wandte sich Simon wieder Sangfugol zu, der seinen Becher ausgetrunken hatte und jetzt die Laute ans Ohr hielt, an den Saiten zupfte und ganz leicht an den Wirbeln drehte. »Ich meine den Mann in Rot.«

»Ja«, erwiderte der Harfner, »ich habe gesehen, wie du ihn anstarrtest, als ich kam. Entsetzlicher Kerl, wie? Das ist Pryrates, ein Nabbanai-Priester und einer von Elias' Ratgebern. Die Leute sagen, er wäre ein hervorragender Alchimist, obwohl er dafür noch recht jung aussieht, findest du nicht? Ganz abgesehen davon, daß die Alchimie eigentlich keine passende Beschäftigung für einen Priester ist. Wenn man zudem etwas genauer hinhört, wird sogar geflüstert, daß er ein Zauberer sein soll, ein schwarzer Magier. Und wenn man noch schärfer aufpaßt…« An dieser Stelle wurde, als wollte Sangfugol zeigen, wie scharf man aufpassen müßte, seine Stimme hauchleise, und Simon mußte sich vorbeugen, um sie überhaupt zu hören; er schwankte leicht und merkte, daß er gerade einen dritten Weinbecher ausgetrunken hatte. »Wenn du ganz, ganz sorgfältig hinhörst…«, fuhr der Harfner fort, »wirst du von den Leuten erfahren, daß Pryrates' Mutter eine Hexe war und sein Vater … ein Dämon!« Sangfugol zupfte scharf an einer Lautensaite, und Simon sprang verblüfft zurück. »Aber, Simon, du darfst nicht alles glauben, was du hörst – schon gar nicht von betrunkenen Sängern!« Sangfugol beendete seine Worte mit einem Lachen und streckte die Hand aus. Simon starrte sie ratlos an.

»Für einen Händedruck, mein Freund«, grinste der Harfner. »Es hat mir Freude gemacht, mich mit dir zu unterhalten, aber ich fürchte, daß ich jetzt wieder an meinen Tisch muß, wo mich andere mit Ungeduld erwarten. Leb wohl!«

»Leb wohl.« Simon ergriff Sangfugols Hand und sah dann zu, wie sich der Harfner mit der Gewandtheit des erfahrenen Trunkenboldes durch den Saal schlängelte.

Als Sangfugol wieder Platz genommen hatte, fiel Simons Blick auf zwei Mägde, die gegenüber an der Korridorwand lehnten, sich mit den Schürzen Luft zufächelten und schwatzten. Eine davon war Hepzibah, die Neue, die andere Rebah, eines der Küchenmädchen.

In Simons Blut machte sich eine gewisse Wärme bemerkbar. Es mußte ganz einfach sein, jetzt durch den Saal zu gehen und die beiden anzusprechen. Hepzibah hatte so etwas, eine gewisse Keckheit um Augen und Mund, wenn sie lachte … Mit einem mehr als nur leichten Schwindelgefühl trat Simon in den Saal zurück. Das Stimmengewirr umbrandete ihn wie eine Flut.

Augenblick, Augenblick, dachte er, und plötzlich wurde ihm heiß und ängstlich, wie kann ich einfach zu ihnen hingehen und sie ansprechen – merken sie dann nicht, daß ich sie beobachtet habe! Werden sie nicht …

»Heda, fauler Bauerntölpel! Bring uns noch etwas von diesem Wein!«

Simon fuhr herum und erblickte Graf Fengbald, rot im Gesicht, der ihm vom Tisch des Königs mit dem Pokal zuwinkte. Die Mägde im Korridor schlenderten davon. Simon rannte nach der Nische zurück, um seine Kanne zu holen, und mußte sie aus einem Gewirr von Hunden befreien, die sich um ein Kotelett stritten. Ein Welpe, jung und mager, einen weißen Fleck im braunen Gesicht, winselte am Rand der Meute; mit den größeren Hunden konnte er es nicht aufnehmen. Simon fand auf einem verlassenen Stuhl einen Fetzen fettiger Kruste und warf ihn dem Hündchen zu, das mit dem Stummelschwanz wedelte und den Leckerbissen sofort verschlang. Dann heftete es sich an Simons Fersen, der die Kanne durch den Saal trug.

Fengbald und Guthwulf, der großmäulige Graf von Utanyeat, führten eine Art Wettkampf im Armdrücken durch. Sie hatten die Dolche gezogen und neben ihren Armen in die Tischplatte gerammt. Simon lief, so behende er konnte, um den Tisch herum, goß Wein in die Becher der johlenden Zuschauer und bemühte sich, nicht über den Hund zu stolpern, der ihm ständig zwischen den Füßen herumsprang. Der Kronprinz sah dem Wettkampf amüsiert zu, hatte jedoch seinen eigenen Pagen hinter sich, so daß Simon ihm nicht den Pokal füllte. Zuletzt schenkte er Pryrates ein und wich dabei dem Blick des Priesters aus. Doch konnte er nicht umhin, den seltsamen Geruch des Mannes zu bemerken, eine rätselhafte Mischung aus Metall und allzu süßen Gewürzen. Als er zurücktrat, sah er das Hündchen neben Pryrates im Stroh herumwühlen, irgendeinem heruntergefallenen Schatz auf der Spur.

»Komm her!« zischte Simon und klopfte auf sein Knie. Aber der Hund achtete nicht auf ihn. Er begann mit beiden Pfoten zu scharren und stieß mit dem Rücken an die rot umhüllte Wade des Priesters. »Komm doch!« flüsterte Simon wieder.

Pryrates wandte den Kopf, um nach unten zu blicken. Langsam drehte sich der glänzende Schädel auf dem langen Hals. Er hob den Fuß und ließ seinen schweren Stiefel auf das Rückgrat des Hundes niedersausen – eine geschwinde, knappe Bewegung, die nur einen Herzschlag dauerte. Knochen splitterten, ein ersticktes Aufjaulen: Der kleine Hund wand sich hilflos im Stroh, bis Pryrates ein zweites Mal den Absatz hob und ihm den Schädel zerschmetterte.

Der Priester schaute einen Augenblick teilnahmslos auf den Leichnam und hob dann den Blick. Seine Augen hefteten sich auf Simons entsetztes Gesicht. Das schwarze Starren – ohne Reue, ohne Betroffenheit – packte den Jungen und hielt ihn fest. Pryrates' flache, tote Augen flackerten noch einmal hinab zu dem Hündchen und wandten sich dann wieder Simon zu. Langsam breitete sich ein Grinsen über das Gesicht des Priesters.

Was kannst du dagegen tun, Junge? sagte das Lächeln. Und wen kümmert es schon?

Die Aufmerksamkeit des Priesters wurde wieder auf die Tafel gelenkt. Simon, befreit, ließ die Kanne fallen und stolperte hinaus, auf der Suche nach einem Ort, an dem er sich übergeben konnte.


Es war kurz vor Mitternacht. Gut und gern die Hälfte der Feiernden war zu Bett getaumelt oder dorthin getragen worden. Es schien äußerst fraglich, ob viele von ihnen morgen bei der Krönung überhaupt anwesend sein würden. Simon goß gerade den stark gewässerten Wein, den Peter Goldschüssel um diese Zeit ausschließlich noch kredenzen ließ, in den Becher eines betrunkenen Gastes, als Graf Fengbald, der als einziger von der Gesellschaft des zukünftigen Königs übriggeblieben war, vom Anger draußen in die Halle stolperte. Der junge Edelmann war zerzaust und seine Hosen standen halb offen, aber sein Gesicht zeigte ein seliges Lächeln.

»Kommt alle nach draußen!« rief er. »Kommt sofort hinaus! Kommt und seht!« Er schwankte wieder zur Tür. Wer noch dazu fähig war, stand auf und folgte ihm. Die Männer rempelten einander an und machten Witze. Manche sangen betrunken vor sich hin.

Fengbald stand auf dem Anger, den Kopf in den Nacken geworfen. Das schwarze Haar hing ihm aufgelöst über den Rücken seines befleckten Wamses, und er starrte zum Himmel hinauf. Er deutete nach oben; eines nach dem anderen hoben sich die Gesichter der anderen und folgten seinem Blick.

Quer über den Himmel war ein seltsames Bild gemalt. Es sah aus wie eine tiefe Wunde, die das Nachtschwarz mit Blut bespritzte – ein riesenhafter roter Komet, der sich von Norden nach Süden über den Himmel erstreckte.

»Ein Bartstern!« rief jemand. »Ein Omen!«

»Der alte König ist tot, tot, tot!« schrie Fengbald und fuchtelte mit dem Dolch in der Luft herum, als wollte er die Sterne herausfordern, herabzusteigen und mit ihm zu kämpfen. »Lang lebe der neue König!« rief er. »Ein neues Zeitalter hat begonnen!«

Jubelrufe erschallten, und einige der Anwesenden stampften mit den Füßen auf und jubelten. Andere begannen einen schwindligen, lachenden Tanz, bei dem sich Männer und Frauen an den Händen hielten und im Kreis herumwirbelten. Über ihnen glomm der rote Stern wie glühende Kohle.

Simon, der den Angeheiterten ins Freie nachgelaufen war, um den Grund für den Tumult zu erfahren, wollte gerade wieder in die Halle zurückgehen, da sah er Doktor Morgenes im Schatten der Zwingermauer stehen. Der alte Mann, gegen die kalte Luft in ein dickes Gewand gehüllt, bemerkte seinen Lehrling nicht – auch er starrte zu dem Bartstern hinauf, dem scharlachroten Schwerthieb quer über das Himmelsgewölbe. Aber im Gegensatz zu den anderen zeigte sein Gesicht weder Trunkenheit noch Freude. Es wirkte verängstigt und kalt und klein.

Er sieht aus, dachte Simon, wie ein Mann, der ganz allein in der Wildnis dem Hungerlied der Wölfe lauscht.

VII Der Erobererstern

Frühling und Sommer im ersten Jahr der Regentschaft König Elias' waren zauberhaft, sonnenhell von Pomp und Schaugepränge. Ganz Osten Ard schien neugeboren. Die jungen Adligen waren zurückgekehrt und füllten wieder die so lange schweigenden Hallen des Hochhorstes, und der Unterschied war so groß, daß es schien, als hätten sie Farbe und Tageslicht an einen Ort gebracht, der vorher dunkel gewesen war. Wie in Johans Jugendtagen war die Burg voller Lachen und Trinken, voll von der Prahlerei glänzender Schlachtschwerter und Rüstungen. Nachts hörte man wieder Musik in den von Hecken umfriedeten Gärten, und die wunderschönen Damen des Hofes huschten in der warmen Dunkelheit zum Stelldichein (oder flohen davor) wie anmutig dahinschwebende Geister. Neues Leben erfüllte auch den Turnierplatz, der bunte Zelte trieb wie ein Blumenbeet Blüten. Für das einfache Volk sah es aus, als wäre jeder Tag Feiertag, denn das Feiern nahm kein Ende. König Elias und seine Freunde tobten sich aus wie Kinder, die bald ins Bett müssen und dies wissen. Ganz Erkynland schien zu lärmen und herumzutollen wie ein vom Sommer berauschter Hund.

Manche Dorfbewohner murmelten düster vor sich hin – es war schwer, die Frühjahrsaussaat zu bewältigen, wenn soviel Leichtfertigkeit in der Luft lag. Viele der älteren, sauertöpfischen Priester murrten über die Zunahme von Zuchtlosigkeit und Völlerei. Aber die meisten Menschen lachten über diese Unheilverkünder. Noch war Elias' Königtum frisch, und das Erkynland – und wie es schien, ganz Osten Ard – war nach einem langen Winter des Alters zu einer Jahreszeit unbekümmerter Jugend übergegangen. Was konnte daran unnatürlich sein?


Simon merkte, wie sich seine Finger verkrampften, während er mühsam die Buchstaben auf das graue Pergament kratzte. Morgenes stand am Fenster und hielt ein langes, gerilltes Glasrohrstück gegen das Licht, um es auf Schmutzspuren zu untersuchen.

Wenn er auch nur ein Wort darüber sagt, daß es nicht ordentlich saubergemacht wäre, verschwinde ich, dachte Simon. Der einzige Sonnenschein, den ich noch zu Gesicht bekomme, ist der, der sich in den Bechern spiegelt, die ich poliere.

Morgenes trat vom Fenster zurück und brachte das Stück Glasrohr zu dem Tisch hinüber, an dem Simon über seiner Schreibarbeit hockte. Als der alte Mann näherkam, bereitete sich Simon innerlich auf eine Strafpredigt vor und spürte, wie irgendwo zwischen seinen Schulterblättern eine Stelle vor Groll anzuschwellen begann.

»Vorzüglich gemacht, Simon!« sagte Morgenes statt dessen und legte die Pipette neben das Pergament. »Du pflegst die Sachen hier viel besser, als ich das selbst je könnte.« Der Doktor klopfte ihm leicht auf den Arm und beugte sich vor. »Und wie kommst du damit weiter?«

»Gräßlich«, hörte Simon sich sagen. Obwohl der Grollknoten noch da war, verabscheute er sich doch selbst wegen des kleinlichen Untertons in seiner Stimme. »Ich meine, ich werde das nie richtig lernen. Ich kann die Buchstaben einfach nicht sauber hinschreiben, ohne daß die Tinte kleckst, und außerdem kann ich das, was ich da schreibe, sowieso nicht lesen!« Als er das herausgebracht hatte, war ihm ein bißchen leichter, aber er kam sich immer noch dumm vor.

»Du machst dir Sorgen um nichts, Simon«, antwortete der Doktor und richtete sich auf. Er schien zerstreut; beim Sprechen huschten seine Augen im Zimmer hin und her. »Erstens machen alle Leute zu Anfang Kleckse, und einige tun es sogar ihr Leben lang – was noch lange nicht heißt, daß sie nichts Wichtiges zu sagen hätten. Und zweitens ist es ganz natürlich, daß du nicht lesen kannst, was du da schreibst, denn das Buch ist auf Nabbanai geschrieben, und du kannst kein Nabbanai.«

»Aber wieso muß ich Worte abschreiben, die ich nicht verstehe?« knurrte Simon. »Das ist doch albern.«

Morgenes warf Simon einen scharfen Blick zu. »Und weil ich es dir aufgetragen habe, bin ich wohl auch albern?«

»Nein, so habe ich das nicht gemeint … es ist nur, daß…«

»Gib dir keine Mühe mit Erklärungen.« Der Doktor zog sich einen Schemel heran und setzte sich neben Simon. Seine langen, gekrümmten Finger kratzten ziellos in dem Gerümpel auf der Tischplatte herum. »Ich lasse dich diese Worte abschreiben, weil man sich leichter auf Form und Gestalt der Buchstaben konzentrieren kann, wenn einen der Inhalt nicht ablenkt.«

»Hmmmpf.« Simon war nur teilweise befriedigt. »Könnt Ihr mir nicht wenigstens verraten, was das für ein Buch ist? Immer wieder schaue ich mir die Bilder an und kann es trotzdem nicht herausfinden.« Er blätterte zurück bis zu einer Illustration, die er in den letzten drei Tagen viele Male eingehend betrachtet hatte, dem grotesken Holzschnitt eines Mannes, der ein Geweih trug und große, starre Augen und schwarze Hände hatte. Zu seinen Füßen duckten sich scheu zurückweichende Gestalten; über dem Kopf des Gehörnten hing am tintenschwarzen Himmel eine flammende Sonne.

»Hier zum Beispiel.« Simon deutete auf das seltsame Bild. »Hier unten steht Sa Asdridan Condiquilles – was bedeutet das?«

»Es heißt«, entgegnete Morgenes, klappte den Deckel zu und nahm das Buch an sich, »›Der Stern des Eroberers‹ und gehört nicht zu den Dingen, über die du etwas zu wissen brauchst.« Er legte das Buch auf einen gefährlich schwankenden Stoß an der Wand.

»Aber ich bin Euer Lehrling!« protestierte Simon. »Wann werdet Ihr mich etwas lehren?«

»Törichter Knabe! Was, glaubst du, tue ich die ganze Zeit? Ich versuche dir Lesen und Schreiben beizubringen, denn das ist das Wichtigste. Was willst du denn eigentlich lernen?«

»Magie!« erwiderte Simon, ohne zu zögern. Morgenes starrte ihn an.

»Und wie steht es mit Lesen?« erkundigte sich der Doktor mit unheilschwangerer Stimme.

Simon war verärgert. Wie gewöhnlich schien sich alles gegen ihn verschworen zu haben. »Ich weiß nicht«, meinte er. »Was ist denn so wichtig am Lesen und an den Buchstaben? Bücher sind nur Geschichten über irgend etwas. Warum sollte ich Bücher lesen wollen?«

Morgenes grinste, ein altes Wiesel, das ein Loch im Zaun zum Hühnerhof findet. »Ach, Junge, wie könnte ich dir böse sein … was für ein wundervoller, hinreißender, vollkommener Blödsinn!« Der Doktor gluckste anerkennend, tief in der Kehle.

»Was meint Ihr damit?« Simons Augenbrauen zogen sich zusammen; er runzelte die Stirn. »Warum ist es wundervoller Blödsinn?«

»Wundervoll, weil ich so eine wundervolle Antwort darauf habe«, lachte Morgenes. »Blödsinn, weil … nun, weil junge Menschen vermutlich blödsinnig auf die Welt kommen – so wie Schildkröten mit Panzern und Wespen mit Stacheln – es ist ihr Schutz gegen die Widrigkeiten des Lebens.«

»Wie bitte?« Simon war nun völlig ratlos.

»Bücher«, erläuterte Morgenes mit großer Geste und lehnte sich auf seinem wackligen Schemel zurück. »Bücher sind Magie. Das ist die ganz einfache Antwort. Und Bücher sind auch Fallen.«

»Magie?! Fallen?«

»Ja, Bücher sind eine Art Magie« – der Doktor nahm den Band zurück, den er gerade auf den Stapel gelegt hatte –, »weil sie Zeit und Raum sicherer umspannen als alle Zaubersprüche und Wundermittel. Was hat der-undder vor zweihundert Jahren über das-und-das gedacht? Kannst du durch die Zeiten zurückfliegen und ihn fragen? Nein – oder doch wahrscheinlich nicht.

Aber ah! Wenn er seine Gedanken aufgeschrieben hat, wenn es irgendwo eine Schriftrolle oder ein Buch mit seinen Abhandlungen zur Logik gibt … dann spricht er zu dir, über Jahrhunderte hinweg! Und wenn du ins ferne Nascadu oder ins verschollene Khandia reisen willst, brauchst du auch nur ein Buch aufzuschlagen…«

»Ja, ja, ich glaube, das verstehe ich alles.« Simon versuchte gar nicht erst, seine Enttäuschung zu verhehlen. Das war nicht das, was er mit dem Wort Magie gemeint hatte. »Und was ist mit den Fallen? Wieso Fallen?«

Morgenes beugte sich vor und wedelte mit dem ledergebundenen Folianten vor Simons Nase herum. »Alles Geschriebene ist eine Falle«, meinte er vergnügt, »und zwar von der besten Sorte. Siehst du, ein Buch ist die einzige Fallenart, die ihren Gefangenen, nämlich das Wissen, für immer lebendig hält. Je mehr Bücher man hat«, der Doktor machte eine weitausgreifende Geste quer durch das ganze Zimmer, »je mehr Fallen hat man, und desto größer ist die Chance, ein ganz besonderes, scheues, glänzendes Tier zu fangen, das sonst vielleicht stirbt, ohne daß jemand es zu Gesicht bekommen hat.« Morgenes schloß mit großem Nachdruck, indem er das Buch mit lautem Knall wieder auf den Stapel warf. Eine winzige Staubwolke stieg auf, deren Körnchen in den Lichtbändern herumwirbelten, die durch die Fenstergitter in den Raum fielen.

Einen Augenblick starrte Simon auf den schimmernden Staub und konzentrierte sich. Den Worten des Doktors zu folgen, glich dem Versuch, mit Fausthandschuhen Mäuse zu fangen.

»Aber wie steht es mit der wirklichen Magie?« fragte er endlich, und zwischen seinen Brauen stand eine hartnäckige Falte. »Magie – wie das, was Pryrates angeblich oben im Turm treibt?«

Sekundenlang verzerrte ein zorniger – oder war es ein ängstlicher? – Ausdruck die Züge des Doktors.

»Nein, Simon«, sagte er dann ruhig. »Komm mir nicht mit Pryrates. Das ist ein gefährlicher Mann und ein törichter dazu.«

Trotz seiner eigenen schrecklichen Erinnerungen an den roten Priester fand Simon die Eindringlichkeit im Blick des Doktors seltsam und ein wenig furchterregend. Er nahm allen Mut zusammen und fragte weiter: »Auch Ihr betreibt doch Magie, oder nicht? Warum ist dann Pryrates gefährlich?«

Morgenes stand plötzlich auf, und einen wilden Moment lang fürchtete Simon, der Alte werde ihn schlagen oder anschreien. Statt dessen ging Morgenes steif zum Fenster und starrte eine kleine Weile hinaus. Von Simons Platz aus sahen die dünnen Haare des Doktors aus wie ein stachliger Heiligenschein über seinen schmalen Schultern.

Morgenes drehte sich um und kam zurück. Sein Gesicht war ernst, schien von Zweifeln gequält. »Simon«, begann er, »wahrscheinlich wird es nichts nützen, wenn ich dir das sage, aber ich möchte, daß du dich von Pryrates fernhältst. Geh nicht zu ihm hin und rede nicht über ihn … außer mit mir natürlich.«

»Aber warum?« Im Gegensatz zu dem, was der Doktor vielleicht glaubte, hatte Simon für sich schon beschlossen, einen großen Bogen um den Alchimisten zu machen. Aber Morgenes war sonst nicht so gesprächig, und Simon wollte die Gelegenheit nicht ungenutzt lassen. »Was ist so schlecht an ihm?«

»Ist dir aufgefallen, daß die Menschen sich vor Pryrates fürchten? Daß sie sich beeilen, ihm aus dem Weg zu gehen, wenn er von seiner neuen Wohnung im Hjeldins-Turm herunterkommt? Es gibt einen Grund dafür. Man fürchtet ihn, weil ihm selbst die richtige Art von Furcht fehlt. Es steht in seinen Augen.«

Simon steckte den Federkiel in den Mund und fing an, nachdenklich darauf herumzukauen. Er nahm ihn wieder heraus, um zu fragen: »Die richtige Art von Furcht? Was heißt das?«

»Es gibt niemanden, der furchtlos ist, Simon, es sei denn, er wäre verrückt. Leute, die man furchtlos nennt, verbergen ihre Furcht meist nur geschickt, und das ist etwas ganz anderes. Der alte König Johan wußte, was Furcht ist, und ganz bestimmt wissen es seine beiden Söhne. Auch ich weiß es. Aber Pryrates … nun, die Leute sehen, daß er das, was wir fürchten oder respektieren, nicht achtet. Oft ist es diese Eigenschaft, die wir meinen, wenn wir jemanden als verrückt bezeichnen.«

Simon fand das alles faszinierend. Er wußte nicht genau, ob er wirklich glauben konnte, daß Johan der Priester oder Elias sich je gefürchtet hatten, aber das Thema Pryrates allein war schon fesselnd genug.

»Ist er denn verrückt, Doktor? Wie könnte das sein? Er ist ein Priester und einer der Ratgeber des Königs.« Aber Simon dachte an die Augen und das zahnige Lächeln und wußte, daß Morgenes recht hatte.

»Ich will es anders formulieren.« Morgenes wickelte eine Locke seines schneeweißen Bartes um den Finger. »Ich habe dir von Fallen erzählt, von der Suche nach Wissen, die wie die Jagd nach einem scheuen Tier ist. Nun, während ich und andere Wissenssucher hinaus zu unseren Fallen gehen, um nachzusehen, was für ein buntes Geschöpf wir zu fangen das Glück gehabt haben, reißt Pryrates nachts weit seine Tür auf und wartet, was hereinkommt.« Morgenes nahm Simon die Schreibfeder weg und hob dann den Ärmel seines Gewandes, um etwas von der Tinte abzutupfen, die Simons Wange zierte. »Das Problem bei Pryrates' Methode ist«, fuhr er fort, »daß man das Tier, das zu Besuch kommt, vielleicht nicht haben will – und daß es dann schwer ist – sehr, sehr schwer –, die Tür wieder zuzumachen.«

»Ha!« knurrte Isgrimnur. »Berührt, Mann, berührt! Gebt es zu!«

»Nur der Hauch eines Flüsterns über meiner Weste«, erklärte Josua und hob mit geheucheltem Erstaunen eine Braue. »Ich sehe mit Bedauern, daß Euch die Hinfälligkeit zu solchen Verzweiflungstaten treibt…« Mitten im Satz, ohne den Tonfall zu ändern, stieß er zu. Isgrimnur parierte klappernd die hölzerne Klinge mit dem eigenen Schwertgriff und lenkte den Stoß seitlich ab.

»Hinfälligkeit?« zischte der Ältere durch gefletschte Zähne. »Ich werde Euch Hinfälligkeit geben, daß Ihr heulend zu Eurer Amme zurückrennt!«

Trotz seiner Jahre und seines Umfangs immer noch flink, drängte der Herzog von Elvritshalla vorwärts. Er schwang das Holzschwert in großen Bögen, wobei ihm sein beidhändiger Griff gute Dienste leistete. Josua sprang zurück und parierte. Das dünne Haar hing ihm in schweißfeuchten Spitzen in die Stirn. Endlich erspähte er eine Öffnung. Als Isgrimnur das Übungsschwert erneut in pfeifendem Schwung auf ihn zusausen ließ, duckte sich der Prinz, leitete mit Hilfe der eigenen Klinge den Hieb des Herzogs von seinem Kopf ab, hakte dann einen Fuß hinter Isgrimnurs Absatz und zog. Der Herzog krachte rückwärts zu Boden wie ein gefällter Baum. Gleich darauf ließ sich auch Josua neben ihn ins Gras sinken; mit seiner einen Hand nestelte er geschickt die dicke, gepolsterte Weste auf und rollte sich auf den Rücken.

Isgrimnur, prustend wie ein Blasebalg, sagte mehrere lange Augenblicke gar nichts. Er hatte die Augen geschlossen; Schweißperlen in seinem Bart glänzten im grellen Sonnenlicht. Josua beugte sich über ihn und starrte ihn an. Dann machte er ein besorgtes Gesicht und griff nach Isgrimnurs Weste, um sie zu öffnen. Als er die Finger unter den Knoten schob, schoß die große, rosige Hand des Herzogs nach oben und versetzte ihm einen Schläfenhieb, der ihn wieder auf den Rücken schleuderte. Der Prinz hob die Hand ans Ohr und zuckte zusammen.

»Ha!« schnaufte Isgrimnur. »Das wird Euch lehren … junger Welpe!«

Wieder eine Weile Schweigen. Keuchend lagen die beiden Männer da und starrten in den wolkenlosen Himmel hinauf.

»Ihr betrügt, Kleiner«, bemerkte Isgrimnur endlich und setzte sich auf. »Wenn es Euch das nächste Mal hier auf den Hochhorst verschlägt, werde ich mich rächen. Außerdem – wenn es nicht so götterverdammt heiß und ich nicht so verflucht fett wäre, hätte ich Euch schon vor einer Stunde die Rippen eingeschlagen.«

Josua richtete sich ebenfalls auf und beschattete mit der Hand seine Augen. Über das gelbe Gras des Turnierplatzes näherten sich zwei Gestalten. Die eine war in ein langes Gewand gehüllt.

»Es ist wirklich heiß«, bemerkte Josua.

»Und das im Novander!« ächzte Isgrimnur und zog die Fechtweste aus. »Die Tage des Hundes liegen längst hinter uns, und immer noch diese Hitze! Wo bleibt der Regen?«

»Vielleicht hat man ihn verscheucht.« Josua sah mit schmalen Augen auf die beiden Herankommenden.

»Ho, kleiner Bruder!« rief einer von ihnen. »Und der alte Onkel Isgrimnur! Sieht aus, als wärt ihr beide vom Spielen erschöpft!«

»Josua und die Hitze haben mich um ein verdammtes Haar umgebracht, Majestät«, rief Isgrimnur dem König zu, der jetzt zu ihnen trat. Elias war mit einem kostbaren seegrünen Wams bekleidet. An seiner Seite schritt in flatternder Robe der dunkeläugige Pryrates, eine kameradschaftliche Scharlachfledermaus.

Josua erhob sich und streckte Isgrimnur die Hand entgegen, um dem Älteren beim Aufstehen zu helfen. »Herzog Isgrimnur übertreibt wie gewöhnlich«, bemerkte der Prinz sanft. »Ich war gezwungen, ihn zu Boden zu schmettern und mich auf ihn zu setzen, um mein eigenes Leben zu retten.«

»Ja, ja, wir haben eurer Rauferei vom Hjeldin-Turm zugeschaut«, erwiderte Elias und machte eine achtlose Handbewegung dorthin, wo die Steinmasse des Turms die Außenmauer des Hochhorstes überragte, »nicht wahr, Pryrates?«

»Jawohl, mein König.« Pryrates' Lächeln war fadendünn, seine Stimme ein trockenes Rasseln. »Euer Bruder und der Herzog sind in der Tat gewaltige Männer.«

»Darf ich Euch«, begann Isgrimnur, »etwas fragen, Majestät? So ungern ich Euch jetzt auch mit Staatsangelegenheiten belästige?«

Elias, der mit starren Augen über den Platz geblickt hatte, drehte sich mit dem Ausdruck milder Verärgerung nach dem alten Herzog um. »Zufällig bin ich gerade damit beschäftigt, mit Pryrates einige wichtige Dinge zu erörtern. Warum kommst du nicht zu mir, wenn ich bei Hof über solche Fragen spreche?« Wieder kehrte er Isgrimnur den Rücken zu. Auf der anderen Seite des Turnierplatzes jagten Guthwulf und Graf Eolair vom Nad Mullagh – ein Verwandter des Hernystir-Königs Lluth – einem widerspenstigen Hengst nach, der seine Stränge zerrissen hatte. Elias lachte über den Anblick und stieß Pryrates mit dem Ellbogen in die Seite. Der Priester schenkte ihm ein weiteres flüchtiges Lächeln.

»Vergebung, Majestät«, setzte Isgrimnur von neuem an, »aber ich versuche seit vierzehn Tagen, Euch in dieser Angelegenheit zu sprechen. Immer wieder erklärt mir Euer Kanzler Helfcene, Ihr wäret zu beschäftigt –«

»Im Hjeldin-Turm«, fügte Josua knapp hinzu. Sekundenlang prallten die Blicke der Brüder aufeinander, dann wandte sich Elias dem Herzog zu.

»Also gut. Um was geht es?«

»Um die königliche Garnison in Vestvennby. Die Leute wurden vor mehr als einem Monat abgezogen und bis heute nicht ersetzt. Die Frostmark ist immer noch eine wilde Gegend, und ohne die Garnison in Vestvennby habe ich nicht genügend Männer, um die nördliche Wjeldhelm-Straße zu sichern. Wann wollt Ihr endlich neue Truppen entsenden?«

Elias hatte den Blick wieder auf Guthwulf und Eolair gerichtet, zwei winzige Gestalten, die in der Hitze schimmerten, während sie den immer kleiner werdenden Hengst jagten. Ohne sich umzudrehen, antwortete er: »Skali von Kaldskryke sagt, du hättest mehr Männer als nötig, mein alter Onkel. Er meint, du hortest deine Soldaten in Elvritshalla und Naarved. Warum tust du das?« Seine Stimme war von trügerischer Unbekümmertheit.

Bevor der verblüffte Herzog etwas erwidern konnte, bemerkte Josua: »Wenn er das behauptet, ist Skali Scharfnase ein Lügner. Nur ein Narr kann ihm glauben.«

Elias wirbelte herum, die Lippen zornig zusammengepreßt. »Ist das wahr, Bruder Josua? Skali ein Lügner? Und das auf dein Wort hin, das Wort eines Mannes, der nie versucht hat zu verbergen, daß er mich haßt?«

»Nun, nun«, unterbrach Isgrimnur bestürzt und nicht ohne Furcht, »Elias … Majestät … Ihr kennt meine Treue. Ich war der beständigste Freund, den Euer Vater je hatte.«

»O ja – mein Vater!« schnaubte Elias.

»Und laßt bitte nicht Josua Euren Unmut über diese skandalösen Gerüchte – denn um mehr handelt es sich nicht – entgelten! Er haßt Euch nicht! Er ist Euch so treu, wie ich es bin!«

»Daran«, erwiderte der König, »zweifle ich nicht. Ich werde Vestvennby eine neue Garnisonsbesatzung schicken, wenn ich es für richtig halte, und keinen Augenblick früher.« Er starrte die beiden sekundenlang mit weitaufgerissenen Augen an. Pryrates, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, hob die weiße Hand und zupfte Elias am Ärmel.

»Ich bitte Euch, Herr«, sagte er, »hier ist nicht Zeit noch Ort für solche Dinge…«, – er warf Josua unter schweren Lidern einen unverschämten Blick zu –, »… wenn ich das in aller Demut erwähnen darf.«

Der König sah seinen Günstling starr an und nickte dann einmal. »Ihr habt recht. Ich habe mich sinnlos aufgeregt.« Und zu Isgrimnur gewendet, meinte er: »Vergib mir, Onkel, denn wie du selber sagtest, ist es ein heißer Tag. Verzeih meine Unbeherrschtheit.« Er lächelte.

Isgrimnur neigte den Kopf. »Natürlich, mein König. Man läßt sich bei drückendem Wetter nur allzu leicht von schlechten Stimmungen beeinflussen. Es ist auch seltsam, so spät im Jahr, findet Ihr nicht auch?«

»In der Tat.« Elias wandte sich dem Priester im roten Mantel zu und grinste ihn breit an. »Sogar Pryrates hier, so heilig auch seine Stellung in der Kirche ist, scheint Gott nicht davon überzeugen zu können, daß er uns den Regen gibt, um den wir beten – oder könnt Ihr es, mein Ratgeber?«

Pryrates sah den König seltsam an und duckte dann den Kopf in den Kragen seines Gewandes wie eine Albinoschildkröte. »Bitte, Herr«, meinte er, »laßt uns unser Gespräch wieder aufnehmen und diese Herren ihr Schwertgefecht fortsetzen.«

»Ja.« Der König nickte. »Fahren wir fort.« Aber als das Paar wenige Schritte getan hatte, blieb Elias stehen, machte langsam kehrt und sah zu Josua hinüber, der gerade die hölzernen Übungsschwerter vom trockenen Gras aufhob.

»Weißt du, Bruder«, begann der König, »es ist lange her, daß wir beide die Stäbe gekreuzt haben. Was hältst du davon, wenn wir ein paar Gänge machen, da wir gerade alle hier zusammen sind?«

Ein Augenblick Schweigen. »Wie du wünschst, Elias«, antwortete Josua dann und warf dem König eine der hölzernen Klingen zu. Elias fing den Griff geschickt mit der Rechten auf.

»Tatsächlich«, meinte Elias, und ein halbes Lächeln umspielte seine Lippen, »glaube ich nicht, daß wir noch einmal miteinander gefochten haben, seitdem du deinen … Unfall hattest.« Er machte eine feierliche Miene. »Zum Glück war es nicht die Schwerthand, die du dabei verlorst.«

»Wirklich ein Glück.« Josua maß anderthalb Schritte ab und stellte sich Elias gegenüber.

»Jedenfalls gibt es allerhand –«, fuhr Elias fort, – »oh, das Wort war nicht gut gewählt, wie? Ich bitte um Verzeihung. Es gibt allerlei, das dagegen spricht, mit diesen armseligen Holzrudern herumzufuchteln.« Er schwenkte das Übungsschwert hin und her. »Ich sehe so gern zu, wie du – wie nennst du diese dünne Klinge, die du so schätzt – ach ja, Naidel, also wie du Naidel führst. Schade, daß du sie nicht hier hast.« Ohne Warnung sprang Elias nach vorn und schwang eine harte Rückhand nach Josuas Kopf. Der Prinz fing den Hieb ab, ließ ihn vorbeigleiten und stieß dann selber vor. Elias parierte den Ausfall und lenkte ihn geschickt zur Seite ab. Die beiden Brüder lösten sich, traten zurück, umkreisten einander.

»Ja.« Josua hielt sein Schwert gerade vor sich, das schmale Gesicht schweißglatt. »Zu schade, daß ich Naidel nicht bei mir habe. Genauso schade ist es, daß du Hellnagel nicht hast.« Der Prinz führte einen schnellen Hieb nach unten und ging dann zu einem neuen Drehstoß über. Schnell wich der König nach rückwärts aus, um dann seinerseits anzugreifen.

»Hellnagel?« fragte Elias und atmete ein wenig schwer. »Was willst du damit sagen? Du weißt, daß es mit unserem Vater im Grabe liegt.« Er duckte sich, schlug einen Rückhandbogen und drängte Josua nach hinten.

»Oh, das weiß ich«, antwortete Josua und parierte, »aber vom Schwert eines Königs – so wie von seinem Reich – sollte man weise« – ein Stoß – »und stolz« – ein Gegenstoß –, »weise und vorsichtig Gebrauch machen … wenn man der Erbe ist.«

Mit dem Geräusch einer Axt, die Balken spaltet, trafen die beiden Holzklingen aufeinander. Der Druck setzte sich nach unten fort, bis die Griffe aneinanderstießen und Elias' und Josuas Gesichter nur noch wenige Zoll voneinander entfernt waren. Unter den Hemden der Brüder spannten sich die Muskeln; einen Augenblick standen sie fast reglos da, die einzige Bewegung ein leichtes Zittern, als sie sich gegeneinander stemmten. Endlich fühlte Josua, der, anders als der König, den Griff nicht mit beiden Händen halten konnte, wie seine Klinge abzugleiten begann. Mit einer geschmeidigen Drehung löste er sich und sprang zurück, das Schwert wieder vor sich nach unten gerichtet.

Als sie einander über dem Rasenstück ins Gesicht blickten und nach Luft rangen, klang ein lautes, tiefes Geläut über den Turnierplatz. Die Glocken des Grünengel-Turms verkündeten die Mittagsstunde.

»Da habt Ihr es, edle Herren!« rief Isgrimnur, in dessen Gesicht ein verzerrtes Lächeln stand. Der nackte Haß aufeinander, den die beiden Brüder ausströmten, war unverkennbar gewesen. »Da sind die Glocken, und das bedeutet Essenszeit. Wollen wir von einem Unentschieden ausgehen? Wenn ich nicht bald aus der Sonne herauskomme und einen Humpen Wein finde, werde ich Ädonmeß dieses Jahr nicht mehr erleben. Meine alten Nordknochen sind für solch grausame Hitze nicht geschaffen.«

»Der Herzog hat recht, Herr«, schnarrte Pryrates und legte die Finger auf Elias' Hand, die immer noch das Schwert in die Höhe hielt. Ein Reptilienlächeln machte die Lippen des Priesters schmal. »Wir können unsere Geschäfte auf dem Rückweg erledigen.«

»Nun gut«, knurrte Elias und warf das Schwert über die Schulter. Es schlug auf dem Boden auf, wirbelte einmal um seine Achse und fiel dann hin. »Sei bedankt für die Übung, Bruder.« Er drehte sich um und bot Pryrates den Arm. Scharlach und Grün entfernten sich.

»Was meint Ihr, Josua?« fragte Isgrimnur und nahm dem Prinzen das Holzschwert aus der Hand. »Wollen wir einen Becher Wein zu uns nehmen?«

»Ja, ich denke schon«, erwiderte Josua und bückte sich, um die Westen aufzuheben, während Isgrimnur das Schwert holte, das der König weggeschleudert hatte. Der Prinz richtete sich auf und starrte in die Weite. »Stehen denn immer die Toten zwischen den Lebenden, Onkel?« fragte er leise und strich sich mit der Hand über das Gesicht. »Aber laß nur. Komm, wir suchen uns einen kühlen Ort.«


»Wirklich, Judith, es ist ganz in Ordnung. Rachel hätte nichts dagegen…«

Nur wenige Zoll von der Rührschüssel entfernt wurde Simons suchende Hand gepackt. Judith, so rund und rosig sie auch aussah, war ungemein kräftig.

»Hände weg! ›Rachel hätte nichts dagegen‹, ha! Sonst noch etwas? Jeden Knochen in meinem alten schwachen Körper würde sie mir brechen!« Judith schob Simons Hand auf seinen Schoß zurück, pustete sich eine Haarsträhne aus den Augen und wischte sich die Finger an der fleckigen Schürze ab. »Ich hätte wissen müssen, daß der leiseste Hauch von Ädonbrotbacken dich anziehen würde wie einen Troßköter aus Inniscrich.«

Simon malte traurige Muster auf die mehlbestreute Tischplatte. »Aber Judith, du hast doch ganze Berge von Teig – warum kann ich keine Kostprobe aus der Schüssel bekommen?«

Judith wuchtete sich vom Hocker und segelte anmutig, wie eine Barke auf gemächlichem Fluß, zu einem der Hunderte von Küchenborden. Vor ihr stoben zwei kleine Küchenjungen auseinander wie verschreckte Möwen. »Also, wo…«, bemerkte sie sinnend, »ist jetzt dieser Krug mit der süßen Butter?« Während sie so, den Finger im Mund, in nachdenklicher Haltung dastand, rutschte Simon näher an die Rührschüssel heran.

»Wag es nicht, Bürschchen!« Judith warf die Worte über die Schulter, ohne sich auch nur nach ihm umzudrehen. Hatte sie auf allen Seiten Augen? »Es liegt nicht daran, Simon, daß wir keinen Teig übrighätten; aber Rachel will nicht, daß du dir den Appetit für das Abendessen verdirbst.« Sie setzte ihre Inspektion der Borde fort, auf denen eine Fülle von Lebensmitteln aufgestapelt war, während sich Simon zornig brütend wieder hinsetzte.

Trotz solcher gelegentlichen Mißerfolge war die Küche ein wundervoller Ort. Länger noch als Morgenes' ganze Wohnung, wirkte sie trotzdem klein und gemütlich, erfüllt von der pulsierenden Wärme der Öfen und Herde und den Düften guter Dinge. Schmorlamm brodelte in eisernen Töpfen, im Ofen gingen die Ädonbrote auf, und im beschlagenen Fenster hingen wie Glocken papierschalige braune Zwiebeln. Die Luft war schwer vom Geruch der Gewürze, von scharfem Ingwer und Zimt, Safran, Nelken und kratzigem Pfeffer. Küchenjungen rollten Fässer mit Mehl oder sauer eingelegtem Fisch durch die Tür oder holten mit flachen Holzpaddeln Brotlaibe aus den Backöfen. Einer der Oberlehrlinge kochte auf dem Feuer in einem Topf Mandelmilch-Reisbrei, eine weiße Süßspeise für den Nachtisch des Königs. Und Judith selbst, eine mächtige, sanfte Frau, die die riesige Küche so anheimelnd erscheinen ließ wie eine Bauernkate, leitete das alles, ohne auch nur einmal die Stimme zu heben, eine freundliche, aber scharfäugige Beherrscherin ihres Reiches aus Töpfen und Feuerschein.

Sie kam mit dem fehlenden Krug wieder und ergriff unter Simons mißbilligendem Blick einen langstieligen Pinsel, um die geflochtenen Laibe Ädonbrot mit der Butter zu bestreichen. »Judith«, fragte Simon nach einer Weile, »wenn jetzt schon bald Ädonmeß ist, warum haben wir keinen Schnee? Morgenes sagt, er hätte noch nie erlebt, daß er so lange auf sich warten ließ.«

»Das weiß ich ganz bestimmt nicht«, erwiderte Judith munter. »Wir hatten ja auch im Novander keinen Regen. Ich nehme an, es ist eben ein trockenes Jahr.« Sie runzelte die Stirn und pinselte noch einmal über den letzten Brotlaib.

»Sie haben die Schafe und Kühe aus der Stadt auf dem Hochhorst im Burggraben getränkt«, fuhr Simon fort.

»Haben sie das?«

»Ja. Man kann am Rand die braunen Ringe sehen, die anzeigen, wie der Wasserspiegel gesunken ist. Es gibt Stellen, an denen man stehen kann und wo einem das Wasser nicht einmal bis zu den Knien geht!«

»Und die hast du zweifellos alle entdeckt.«

»Ich glaube schon«, erwiderte Simon stolz. »Und letztes Jahr um diese Zeit war alles gefroren. Stell dir doch vor!«

Judith sah vom Glasieren der Brote auf und betrachtete Simon mit ihren freundlichen blaßblauen Augen. »Ich weiß, daß es aufregend ist, wenn so etwas geschieht«, meinte sie, »aber vergiß nicht, Bürschchen, daß wir das Wasser brauchen. Wenn wir weder Regen noch Schnee bekommen, gibt es auch keine schönen Mahlzeiten mehr. Du weißt ja, daß man aus dem Kynslagh nicht trinken kann.« Der Kynslagh und auch der Gleniwent, der ihn speiste, waren salzig wie das Meer.

»Natürlich weiß ich das«, erwiderte Simon. »Sicher wird es auch bald schneien – oder regnen, weil es so warm ist. Es wird nur einen sehr merkwürdigen Mittwinter geben.«

Judith wollte gerade noch etwas bemerken, hielt jedoch inne und blickte über Simons Schulter nach der Tür.

»Ja, Mädchen, was gibt's?« fragte sie. Simon drehte sich um und sah wenige Fuß hinter sich ein wohlbekanntes, lockenhaariges Gesicht – Hepzibah.

»Rachel hat mich geschickt, um Simon zu holen, Frau Judith«, erklärte sie und machte einen nachlässigen halben Knicks. »Sie braucht ihn, weil er etwas von einem hohen Regal herunterholen soll.«

»Nun, Herzchen, da brauchst du nicht zu fragen. Er sitzt hier nur herum und betet mein Backwerk an; nicht, daß er helfen würde oder sonst etwas täte.« Sie scheuchte Simon mit einer Handbewegung hinaus, die er nicht sah, weil er gerade Hepzibahs enggeschnürte Schürze und ihr welliges Haar bewunderte, das ihr Häubchen weder bändigen noch bedecken konnte. »Lysia erbarm sich, Junge; mach, daß du wegkommst!« Judith lehnte sich über den Tisch und stupste Simon mit dem Pinselstiel.

Hepzibah hatte bereits kehrtgemacht und war schon fast zur Tür hinaus. Als Simon hastig von seinem Schemel sprang, um ihr nachzulaufen, legte ihm die Küchenmeisterin eine warme Hand auf den Arm.

»Hier«, sagte sie, »das hier scheine ich verdorben zu haben – schau nur, es ist ganz schief.« Sie reichte ihm einen krummen Brotlaib, gedreht wie ein Stück Seil und nach Zucker duftend.

»Danke!« erwiderte Simon, nahm den Laib, riß ein Stück ab und stopfte es sich in den Mund, während er hastig zur Tür rannte. »Es ist gut!«

»Natürlich ist es das!« rief Judith ihm nach. »Und wenn du es Rachel erzählst, ziehe ich dir das Fell über die Ohren!« Aber die letzten Worte trafen nur noch einen leeren Türrahmen.


Simon brauchte nur wenige Schritte, um Hepzibah einzuholen, die sich nicht sonderlich schnell bewegte.

Hat sie auf mich gewartet? überlegte er und fühlte sich eigenartig atemlos, kam dann aber zu dem Entschluß, daß jeder, den ein Auftrag aus Rachels Klauen befreite, höchstwahrscheinlich trödeln würde, so gut er könnte.

»Möchtest du … möchtest du etwas davon haben?« fragte er und schnappte leicht nach Luft. Die kleine Magd nahm ein Stück von dem süßen Brot und schnupperte daran, bevor sie es in den Mund steckte.

»Oh, das schmeckt gut, wirklich«, erklärte sie dann und schenkte Simon ein strahlendes Lächeln, das ihre Augenwinkel mit Lachfältchen umrahmte. »Gib mir noch ein Stück, ja?« Er tat es.

Sie verließen die Halle und traten in den Hof. Hepzibah kreuzte die Arme, als wollte sie sich selbst umarmen. »Uh, ist das kalt«, sagte sie. Eigentlich war es ziemlich warm – wenn man berücksichtigte, daß man sich im Monat Decander befand, geradezu glühend heiß –, aber nun, wo Hepzibah es erwähnte, war Simon überzeugt, er spüre eine kalte Brise.

»Ja, wirklich kalt, in der Tat«, bemerkte er und verstummte dann aufs neue.

Als sie um die Ecke der Inneren Burg bogen, in der die königlichen Wohnungen lagen, deutete Hepzibah auf ein kleines Fenster gerade unterhalb des oberen Türmchens. »Siehst du das?« fragte sie. »Da habe ich neulich erst die Prinzessin stehen sehen. Sie hat sich das Haar gekämmt … meine Güte, hat sie nicht hübsches Haar?«

Eine vage Erinnerung an Gold, in dem sich die Nachmittagssonne fing, stieg in Simon auf, aber er ließ sich nicht ablenken.

»Ach, ich finde, du hast viel schöneres Haar«, erklärte er und wandte sich dann ab, um einen der Wachttürme in der Mauer des Mittleren Zwingers zu betrachten. Ein verräterisches Erröten stahl sich in seine Wangen.

»Meinst du wirklich?« lachte Hepzibah. »Ich finde, es ist ein fürchterliches Gestrüpp. Prinzessin Miriamel hat Damen, die es ihr bürsten. Sarrah – du weißt, das blonde Mädchen – kennt eine davon. Sarrah sagt, die Dame hätte ihr erzählt, die Prinzessin wäre manchmal ganz traurig, und sie wollte zurück nach Meremund, wo sie aufgewachsen ist.«

Simon schaute mit großem Interesse auf Hepzibahs Nacken, der mit lockigen braunen Haarzweiglein bekränzt war, die unter ihrer Haube hervorlugten. »Hmmm«, antwortete er.

»Soll ich dir noch etwas sagen?« fragte Hepzibah und wandte sich vom Turm ab. »Warum starrst du denn so?« schalt sie, aber ihre Augen waren fröhlich. »Hör auf damit, ich habe dir doch gesagt, daß mein Haar ganz durcheinander ist. Soll ich dir noch etwas über die Prinzessin erzählen?«

»Was?«

»Ihr Vater will, daß sie Graf Fengbald heiratet, aber sie mag nicht. Der König ist sehr böse auf sie, und Graf Fengbald droht, den Hof zu verlassen und wieder nach Falshire zu gehen, obwohl man sich nicht vorstellen kann, warum. Lofsunu sagt, er würde nie gehen, weil in seiner Grafschaft niemand genug Geld hat, um seine Pferde und Kleider und alles andere richtig zu würdigen.«

»Wer ist Lofsunu?« wollte Simon wissen.

»Oh.« Hepzibah machte ein gelangweiltes Gesicht. »Das ist ein Soldat, den ich kenne. Er gehört zu Graf Breyugars Gefolgschaft. Sieht sehr gut aus.«

Der letzte Rest des Ädonbrotes verwandelte sich in Simons Mund in feuchte Asche. »Ein Soldat?« fragte er leise. »Ist er … ein Verwandter von dir?«

Hepzibah kicherte, ein Geräusch, das Simon langsam ein wenig auf die Nerven zu gehen begann. »Ein Verwandter! Barmherzige Rhiap, nein, das ganz bestimmt nicht! So wie er mir die ganze Zeit nachläuft!« Sie kicherte wieder; es gefiel Simon noch viel weniger. »Vielleicht hast du ihn schon gesehen«, fuhr sie fort, »er steht Wache in der Ostkaserne. Breite Schultern und Bart.« Sie zeichnete einen Mann in die Luft, in dessen Schatten Simon an einem Sommertag bequem hätte sitzen können.

Simons Gefühle kämpften mit seiner vernünftigeren Natur. Die Gefühle siegten. »Soldaten sind dumm«, knurrte er.

»Sind sie nicht!« versetzte Hepzibah. »Nimm das zurück! Lofsunu ist ein feiner Mann. Eines Tages wird er mich heiraten!«

»Ein feines Paar werdet ihr abgeben«, fauchte Simon. Dann tat es ihm leid. »Ich hoffe, ihr werdet glücklich«, schloß er und wünschte sich nur, die Gründe für seinen Groll wären nicht so kristallklar.

»Das werden wir bestimmt«, meinte die besänftigte Hepzibah. Sie betrachtete eindringlich ein Paar Burgwächter, die über ihnen die Zinnen entlangwanderten, lange Hellebarden auf den Schultern. »Irgendwann wird Lofsunu Unteroffizier, dann werden wir in Erchester ein eigenes Haus haben. Wir werden so glücklich sein wie … wie man nur sein kann. Jedenfalls glücklicher als die arme Prinzessin.«

Simon zog eine Grimasse, hob einen runden Stein auf und ließ ihn die Zwingermauer hinunterklappern.


Doktor Morgenes, der auf den Zinnen auf und ab lief, schaute hinunter und erblickte Simon, der mit einer der jungen Dienstmägde unten vorbeiging. Eine trockene Brise wehte ihm die Kapuze vom Kopf. Der alte Mann lächelte und wünschte Simon innerlich viel Glück – der Junge schien es nötig zu haben. Seine ungeschickte Haltung und die Anfälle von Trotz ließen ihn mehr wie ein Kind als wie einen jungen Mann erscheinen, aber er hatte bereits die Höhe eines Mannes und ließ erkennen, daß er sie eines Tages auch ausfüllen würde. Simon stand an einer Grenze, ein Bein auf jeder Seite, und sogar der Doktor, dessen Alter sich jetzt niemand im Schloß mehr vorstellen konnte, erinnerte sich, was das für ein Zustand war.

Plötzlich schwirrten hinter ihm Flügel in der Luft. Morgenes drehte sich um, jedoch langsam, so als wäre er nicht weiter überrascht. Jeder Beobachter hätte einen flatternden grauen Schatten gesehen, der wenige Herzschläge lang vor ihm in der Luft hing und dann in den weiten Falten seiner grauen Ärmel verschwand.

Die Hände des Doktors, eben noch leer, hielten eine kleine Rolle feinen Pergaments, das mit einem schmalen, blauen Bändchen verschnürt war. Er barg sie in der Handfläche und rollte sie dann mit sanftem Finger auf. Die Botschaft war in der südlichen Sprache Nabbans und der Kirche abgefaßt, aber die Buchstaben waren die starren Runen von Rimmersgard.

Morgen – die Feuer von Sturmspitze sind entfacht. Neun Tage lang habe ich von Tungoldyr aus ihren Rauch gesehen und acht Nächte ihre Flammen. Die Weißfüchse sind wieder erwacht und suchen die Kinder in der Dunkelheit heim. Auch an unseren kleinsten Freund habe ich geflügelte Worte gesandt, aber ich glaube nicht, daß sie ihn ahnungslos finden werden. Jemand hat an gefährliche Türen geklopft.

Jarnauga

Neben die Unterschrift hatte der Verfasser unbeholfen eine von einem Kreis umgebene Feder gezeichnet.

»Merkwürdiges Wetter, nicht?« bemerkte eine trockene Stimme. »Und doch so angenehm für einen Spaziergang auf den Zinnen.«

Der Doktor fuhr herum und zerknüllte das Pergament in der Hand. Neben ihm stand lächelnd Pryrates.

»Die Luft ist heute voller Vögel«, fuhr der Priester fort. »Seid Ihr ein Vogelliebhaber, Doktor? Kennt Ihr Euch in ihren Gewohnheiten aus?«

»Ich weiß ein wenig über sie – nicht viel«, antwortete Morgenes ruhig. Seine blauen Augen waren schmal geworden.

»Ich habe auch schon daran gedacht, sie zu studieren«, nickte Pryrates. »Man fängt sie leicht, wißt Ihr … und sie haben so viele Geheimnisse, die einem wißbegierigen Gemüt wertvoll erscheinen könnten.« Er seufzte und rieb sich das glatte Kinn. »Nun ja, lediglich ein weiterer Punkt, über den man nachdenken müßte – meine Zeit ist jetzt schon so ausgefüllt. Guten Tag, Doktor. Genießt die Luft.« Er entfernte sich und stieg von den Zinnen. Seine Stiefel klickten auf dem Stein.

Noch lange, nachdem der Priester gegangen war, stand Morgenes still da und starrte in den graublauen nördlichen Himmel.

VIII Bittere Luft und Süße

Der Jonever neigte sich dem Ende zu. Noch immer war kein Regen gefallen. Als die Sonne langsam hinter den Westmauern versank und im hohen dürren Gras Insekten zu schwatzen begannen, saßen Simon und Jeremias, der Wachszieherjunge, Rücken an Rücken da und schnauften.

»Na, komm.« Simon zwang sich aufzustehen. »Noch eine Runde.« Jeremias, nunmehr ohne Rückhalt, kippte nach hinten, bis er im schütteren Gras ausgestreckt dalag wie eine umgedrehte Schildkröte.

»Mach du allein weiter«, hechelte er, »ich werde nie ein Soldat.«

»Natürlich wirst du das«, widersprach Simon, den solche Reden ärgerten. »Alle beide werden wir Soldaten. Das letzte Mal warst du viel besser. Los, steh auf.«

Mit schmerzlichem Stöhnen ließ Jeremias sich hochziehen. Unwillig nahm er den Faßstock entgegen, den Simon ihm reichte.

»Wir wollen lieber zurückgehen, Simon. Mir tut alles weh.«

»Du grübelst zu viel«, entgegnete Simon und hob seinen eigenen Stock. »Angriff!«

Stab krachte gegen Stab.

»Autsch!« jaulte Simon.

»Ho, ho« jubelte Jeremias schon weit zuversichtlicher. »Ein tödlicher Hieb!« Das Klicken und Klappern begann von neuem.


Es war nicht allein das erfolglose Getändel mit Hepzibah, das in Simon die alte Vorliebe für den Ruhm des Soldatenlebens wieder neu erwachen ließ. Bevor Elias den Thron bestiegen hatte, war Simon überzeugt gewesen, es sei sein Herzenswunsch – für den er alles in der Welt gegeben hätte –, Morgenes' Lehrling zu werden und alle Geheimnisse der unordentlichen, magischen Welt des Doktors kennenzulernen. Aber nachdem er das erreicht und den mühsam strebenden Inch als Helfer des Doktors abgelöst hatte, begann die Herrlichkeit zu verblassen. Es gab einfach viel zu viel Arbeit, und Morgenes nahm es mit allem so verdammt genau. Und hatte Simon auch nur den kleinsten Zauber gelernt? Nichts hatte er. Verglichen mit den langen Stunden des Lesens und Schreibens und Fegens und Putzens im dunklen Zimmer des Doktors schienen ihm große Taten auf dem Schlachtfeld und die bewundernden Blicke junger Frauen ganz und gar nicht verachtenswert.

Tief unten im nach Talg riechenden Bau Jakobs des Wachsziehers hatte der kriegerische Glanz des ersten Königsjahres auch den dicken Jeremias erfaßt. Während der einwöchigen Festveranstaltungen, die Elias fast allmonatlich abzuhalten schien, sammelte sich auf den Turnierlisten alles, was Farben trug im Reich. Wie glänzende Schmetterlinge aus Seide und blinkendem Stahl waren die Ritter und übertrafen alle sterblichen Wesen an Schönheit. Der mit Ruhm gewürzte Wind, der über den Turnierplatz wehte, weckte tiefe Sehnsucht in der Brust junger Männer.

Wie in ihren Kindertagen gingen Simon und Jeremias zum Böttcher und holten sich lange Latten, um sich daraus Schwerter zu basteln. Stundenlang droschen sie nach der Arbeit aufeinander ein. Zuerst hielten sie ihre Scheingefechte in den Ställen ab, bis sie Shem Pferdeknecht hinauswarf, um seinen Schützlingen Frieden zu verschaffen; daraufhin zogen sie auf das ungemähte Gras unmittelbar südlich des Turnierplatzes um. Nacht für Nacht hinkte Simon in die Dienstbotenquartiere zurück, die Hosen kaputt und das Hemd zerrissen, und Rachel der Drache schlug die Augen zum Himmel auf und betete mit lauter Stimme zur heiligen Rhiap, sie vor der Tölpelhaftigkeit von Jungen zu bewahren, um dann die Ärmel aufzukrempeln und den blauen Flecken, die Simon sich bereits von Jeremias eingehandelt hatte, noch ein paar hinzuzufügen.

»Ich glaube…«, prustete Simon, »das … reicht für heute.«

Jeremias, rot im Gesicht und zusammengekrümmt, konnte nur noch zustimmend nicken.

Als sie im schwindenden Licht zur Burg zurückmarschierten, schwitzend und keuchend wie Pflugochsen, stellte Simon beifällig fest, daß Jeremias einiges von seiner Schwerfälligkeit zu verlieren begann. Noch ein oder zwei Monate, und er würde langsam wie ein Soldat aussehen. Vor ihren regelmäßigen Zweikämpfen hatte er eher an eine jener Massen erinnert, in die sein Meister einen Docht hineinstecken würde.

»Das war gut heute, wie?« fragte Simon. Jeremias rieb sich den Kopf unter dem kurzgeschorenen Haar und bedachte Simon mit einem angewiderten Blick.

»Ich begreife selbst nicht, wie du mich dazu überreden konntest«, murrte er. »Leute wie uns lassen sie nie etwas anderes werden als Troßjungen.«

»Aber auf dem Schlachtfeld ist alles möglich!« rief Simon. »Vielleicht rettest du das Leben des Königs vor Thrithingsmännern oder Räubern aus Naraxi – und wirst dafür auf der Stelle zum Ritter geschlagen!«

»Hmmm.« Jeremias war nicht beeindruckt. »Und wie bringen wir sie dazu, daß sie uns überhaupt annehmen, ohne Familie, ohne Pferde, sogar ohne Schwerter?« Er wedelte mit seinem Stab.

»Nun«, sagte Simon, »nun ja … ich werde mir etwas ausdenken.«

»Hmmm«, stimmte Jeremias zu und wischte sich das gerötete Gesicht mit dem Saum seines Wamses.

Als sie sich den Burgmauern näherten, flackerte an einem Dutzend Stellen vor ihnen Fackelschein auf. Was einst offenes, weites Grasland im Schatten der Hochhorst-Außenmauer gewesen war, glich jetzt einer Wucherung aus elenden Hütten und Zelten, zusammengedrängt und ineinanderwachsend wie die Schuppen einer alten, kranken Echse. Das Gras war längst verschwunden; Schafe und Ziegen hatten es bis auf die nackte Erde abgeweidet. Während die zerlumpten Bewohner zwischen ihren armseligen Behausungen herumwimmelten, Lagerfeuer für die Nacht errichteten und die Kinder vor der Dunkelheit hereinriefen, wurde der Staub von ihren Füßen zu körnigen Schwaden aufgewirbelt, die kurz umherschwebten und sich dann niederließen, um Kleidung und Zeltmaterial in ein gleichmäßig stumpfes Graubraun zu färben.

»Wenn es nicht bald regnet«, sagte Jeremias und musterte stirnrunzelnd eine Meute kreischender Kinder, die an den farblosen Kleidern einer ebenso farblos aussehenden Frau herumzerrten, »muß die Erkyngarde sie von hier vertreiben. Wir haben auf die Dauer nicht genug Wasser für sie. Sie sollen fortgehen und sich selber ihre Brunnen graben.«

»Aber wo…«, wollte Simon fragen, brach aber jäh ab und riß weit die Augen auf. Weit hinten auf einem der Trampelpfade durch die Behelfsstadt hatte er ein Gesicht entdeckt, das ihm bekannt vorkam. Nur sekundenlang war es aus der Menge aufgetaucht und sofort wieder verschwunden, aber er war sicher, daß es dem Jungen gehörte, den er beim Spionieren erwischt und der ihn dem Zorn des Küsters Barnabas ausgeliefert hatte.

»Da ist der, von dem ich dir erzählt habe!« zischte er aufgeregt. Jeremias blickte ihn verständnislos an. »Du weißt doch, Mal – Malachias! Dem schulde ich noch etwas!« Simon näherte sich dem Menschenknäuel, in dem er, davon war er überzeugt, das Gesicht des Spitzels mit den scharfen Zügen erblickt hatte. Es waren zumeist Frauen und kleine Kinder, aber auch ein paar ältere Männer standen dazwischen, krumm und verwittert wie alte Bäume. Sie umringten eine junge Frau, die vor der Öffnung eines halbverfallenen Schuppens, der hinten unmittelbar an den Stein der großen Außenmauer stieß, am Boden kauerte. Auf dem Schoß hielt sie den blassen Körper eines winzigen Kindes und wiegte ihn weinend hin und her. Malachias war nirgends zu sehen.

Simon betrachtete die gleichgültigen, ausgemergelten Gesichter der Umstehenden und sah dann auf die weinende Frau.

»Ist das Kind krank?« fragte er den Mann neben sich. »Ich bin Doktor Morgenes' Lehrling. Soll ich ihn holen gehen?«

Eine alte Frau hob das Gesicht. Ihre Augen, die in einem sich vielfach kreuzenden Netz schmutziger Runzeln saßen, waren hart und dunkel wie die eines Vogels.

»Laß uns zufrieden, Burgmann«, sagte sie und spuckte in den Staub. »Königsmann. Laß uns nur zufrieden!«

»Aber ich möchte euch helfen…«, begann Simon. Eine kräftige Hand packte ihn am Ellenbogen.

»Tu, was sie sagt, Junge.« Es war ein sehniger alter Mann mit verfilztern Bart. Seine Miene war nicht unfreundlich, als er Simon aus dem Kreis zog. »Du kannst hier nicht helfen, und die Leute sind mächtig wütend. Das Kind ist tot. Mach, daß du fortkommst.« Er gab Simon einen sanften, aber festen Stoß.

Als Simon wiederkam, stand Jeremias noch am selben Fleck. Die Lagerfeuer, die sie auf allen Seiten umgaben, zeigten in ihrem flackernden Licht seine sorgenvolle Miene.

»Mach nicht so was, Simon«, jammerte er. »Es gefällt mir nicht hier draußen, und schon gar nicht nach Sonnenuntergang.«

»Sie haben mich angesehen, als haßten sie mich«, murmelte Simon verwirrt, aber Jeremias eilte bereits voran.


Keine einzige Fackel brannte, und doch herrschte in der Halle ein seltsames, rauchiges Licht. Nirgends auf dem Hochhorst konnte er eine lebende Seele entdecken, aber durch alle Gänge hallte das Geräusch von Stimmen, die sangen und lachten.

Simon ging von einem Zimmer ins andere, zog Vorhänge beiseite, öffnete die Türen von Anrichteräumen, konnte aber niemanden finden. Fast war es, als verhöhnten ihn die Stimmen bei seiner Suche – erst schwollen sie an, dann wurden sie wieder leiser, in hundert verschiedenen Sprachen, von denen er keine einzige kannte, psalmodierend und singend.

Endlich blieb er vor der Tür des Thronsaales stehen. Die Stimmen waren lauter denn je und schienen allesamt aus dem großen Raum zu rufen. Er griff mit der Hand nach unten; die Tür war nicht verschlossen. Als er sie aufstieß, verstummten die Stimmen, als hätte das Knarren der Angeln sie vor Schreck zum Schweigen gebracht. Das dunstige Licht quoll heraus und an ihm vorbei wie schimmernder Rauch. Er trat ein.

Mitten im Raum stand der vergilbte Thron, der Thron aus Drachenbein. Um ihn herum tanzte ein Kreis von Gestalten, die sich an den Händen hielten. Sie bewegten sich so langsam, als wateten sie durch tiefes Wasser. Mehrere erkannte er: Judith, Rachel, Jakob den Wachszieher und andere Burgleute; die Gesichter in wilder Fröhlichkeit verzerrt, verbeugten sie sich voreinander und machten Bocksprünge. Zwischen ihnen drehten sich vornehmere Tänzer: König Elias, Guthwulf von Utanyeat, Gwythinn von Hernystir; wie die Burgleute kreisten auch sie so langsam und bedächtig wie altersloses Eis, das Gebirge zu Staub zermahlt. Hier und da ragten hohe Gestalten aus dem schweigenden Ring, schwarzglänzend wie Käfer – die Malachitkönige waren von ihren Sockeln gestiegen, um dem Fest beizuwohnen. Und in der Mitte erhob sich die Masse des ungeheuren Thrones, ein schädelgekrönter Berg aus stumpfem Elfenbein, der voll von Lebenskraft zu sein schien, aufgeladen mit uralter Energie, die den Kreis der Tänzer an straffen, unsichtbaren Zügeln hielt.

Im Thronsaal war es still, bis auf den dünnen Faden einer in der Luft zitternden Melodie: das Cansim Falis, die Hymne an die Freude. Die Töne kamen langgezogen und erweckten Unbehagen, so als seien die unsichtbaren Hände, die sie zupften, nicht für irdische Instrumente geschaffen.

Simon fühlte sich in den grausigen Tanz hineingezogen wie in einen Strudel; ohne die Füße zu heben, bewegte er sich doch unausweichlich weiter nach innen. Mit einer langsamen Drehbewegung, als lösten sich ineinandergeschlungene Grashalme, wandten sich die Köpfe der Tänzer ihm zu.

Inmitten des Ringes, auf dem Drachenthron selbst, gerann eine Dunkelheit eine Dunkelheit aus vielen rastlosen kleinen Teilchen wie ein Fliegenschwarm –, und oben an der Spitze dieser schwärmenden, wogenden Dunkelheit begannen zwei glühende Scharlachfunken aufzuleuchten, als habe ein plötzlicher Windstoß sie angefacht.

Die Tänzer starrten ihn jetzt an, wenn sie vorüberschwammen, bildeten mit den Lippen wortlos seinen Namen: Simon, Simon, Simon … Auf der anderen Seite des Ringes, hinter der sich windenden Finsternis auf dem Thron, tat sich eine Lücke auf: Zwei verschränkte Hände lösten sich voneinander, als zerrisse ein morscher Lappen.

Als sich die Öffnung auf ihn zudrehte, streckte sich eine der Hände in fischiger Wellenbewegung nach ihm aus. Sie gehörte Rachel, und als er näher kam, winkte sie ihn zu sich. Statt des üblichen mißtrauischen Gesichtsausdruckes stand verzweifelte Fröhlichkeit in Rachels starren Zügen. Sie griff nach ihm; auf der anderen Seite hielt der dicke Jeremias die Lücke offen, ein stumpfes Lächeln im blassen Gesicht. »Komm her, Junge«, sagte Rachel, oder wenigstens waren es ihre Lippen, die sich bewegten; die Stimme, sanft und heiser, gehörte einem Mann. »Komm, kannst du den Platz nicht fühlen, den wir für dich freigelassen haben? Einen ganz besonderen Platz?«

Die tastende Hand packte ihn am Kragen und begann ihn in den Kreis des Tanzes zu ziehen. Er wehrte sich, schlug nach den feuchtkalten Fingern, aber seine Arme hatten keine Kraft. Rachels und Jeremias' Lippen öffneten sich in breitem Grinsen. Die Stimme wurde noch tiefer.

»Junge! Hörst du mich nicht? Komm schon, Junge!«

»Nein!« Endlich war der Aufschrei heraus, dem Gefängnis von Simons zusammengeschnürter Kehle entsprungen. »Nein! Ich will nicht. Nein!«

»Oh, bei Frayas Strumpfbändern, Junge, wach auf! Du weckst ja alle anderen.« Wieder schüttelte ihn die Hand grob, und plötzlich schimmerte Licht. Simon richtete sich auf, wollte schreien und fiel mit einem Hustenanfall wieder zurück. Über ihm lehnte eine dunkle Gestalt, von einer Öllampe scharf umrissen.

Eigentlich hat der Junge ja niemanden aufgeweckt, dachte Isgrimnur. Die anderen haben sich auch nur hin- und hergewälzt und gestöhnt, als ich hereinkam – als hätten sie alle den gleichen Alptraum. Was für eine götterverfluchte seltsame Nacht!

Der Herzog sah zu, wie die ruhelosen Gestalten ringsum langsam wieder still wurden und wandte seine Aufmerksamkeit dann erneut dem Jungen zu.

Sieh an – der kleine Welpe hustet ja fürchterlich. Um die Wahrheit zu sagen, so klein ist er gar nicht mehr, nur dünn wie ein verhungerndes Fohlen.

Isgrimnur stellte die Laterne in eine Nische und zog das vor den Alkoven gespannte Laken aus hausgesponnenem Tuch zur Seite, damit er die Schultern des Jungen besser anfassen konnte. Er richtete ihn im Bett auf und gab ihm einen derben Klaps auf den Rücken. Der Junge hustete noch einmal und hörte dann auf. Isgrimnur klopfte ihn noch ein paarmal mit der breiten, haarigen Hand und sagte dann: »Tut mir leid, Bursche, tut mir leid. Nur schön langsam.«

Während der Junge wieder zu Atem kam, sah sich der Herzog in dem durch den Vorhang abgetrennten Alkoven um, in dem das Lattenbett stand. Hinter dem herabhängenden Tuch hörte man die murmelnden Nachtgeräusche von etwa einem Dutzend in der Nähe schlafenden Küchenjungen.

Isgrimnur nahm die Laterne wieder in die Hand und spähte nach den sonderbaren Dingen, die an der im Schatten liegenden Wand des Alkovens hingen: ein auseinanderfallendes Vogelnest, ein seidenes Band – in dem schwachen Lampenlicht sah es grün aus –, das wahrscheinlich von der Festkleidung irgendeines Ritters stammte. Daneben, ebenfalls an in Mauerspalten getriebenen Nägeln hängend, fanden sich eine Falkenfeder, ein grobgeschnitzter hölzerner Ädonbaum und ein Bild, dessen unregelmäßiger Rand erkennen ließ, daß es aus einem Buch herausgerissen worden war. Isgrimnur kniff die Augen zusammen und schien einen starr blickenden Mann zu sehen, dem die Haare wild vom Kopf abstanden – oder war es ein Geweih?

Als er wieder nach unten schaute und über das unheilige Gerumpel junger Leute vor sich hinlächelte, war der Junge zu Atem gekommen. Mit großen, unruhigen Augen sah er zu dem Herzog auf.

Mit dieser Nase und dem – was ist es, rot? – Haarschopf sieht der Junge aus wie ein verdammter Marschvogel, dachte Isgrimnur.

»Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe«, erklärte der alte Herzog, »aber du warst der nächste an der Tür. Ich muß mit Strupp sprechen – dem Narren. Kennst du ihn?« Der Junge nickte und sah ihm gespannt ins Gesicht. Gut, dachte der Rimmersmann, wenigstens ist er nicht einfältig. »Man hat mir gesagt, daß er heute nacht hier schläft, aber ich sehe ihn nicht. Wo ist er?«

»Ihr … Ihr seid…« Der Junge hatte Mühe, es herauszubringen. »Ja, ich bin der Herzog von Elvritshalla – und jetzt fang nicht an, dich zu verbeugen und mich mit Titeln zu belästigen. Sag mir nur, wo der Narr ist, und ich lasse dich weiterschlafen.«

Ohne ein weiteres Wort rutschte der Junge vom Strohsack, stand auf, zog die Decke herunter und warf sie sich um die Schultern. Darunter schaute der Saum seines Hemdes vor und schlotterte um die nackten Beine, als er über die ringsum schlummernden Männer hinwegstieg, von denen einige, in ihre Mäntel gehüllt, mitten auf dem Boden lagen, als hätten sie es nicht mehr ganz ins Bett geschafft. Isgrimnur ging mit der Lampe hinterher und stapfte vorsichtig über die dunklen Gestalten, als folgte er einer von Uduns Geisterjungfrauen durch ein Schlachtfeld voller Erschlagener.

Auf diese Art durchquerten sie zwei weitere Räume, der große Geist und der kleine, der größere trotz all seinen Umfangs genauso lautlos. Im letzten Zimmer funkelten noch ein paar trübe Kohlen im Kamin.

Auf den Ziegeln vor dem Rost, zusammengerollt in einem Nest aus Mänteln, einen Weinschlauch aus Schafleder noch fest in der hornigen alten Faust, lag schnarchend und vor sich hinmurmelnd Strupp der Narr.

»Aha«, knurrte Isgrimnur. »Nun, dann vielen Dank, Junge. Geh mit meinen Entschuldigungen zurück ins Bett – auch wenn ich glaube, daß du etwas geträumt hast, aus dem man nur allzugern aufwacht. Also los.«

Simon drehte sich um und bewegte sich an Isgrimnur vorbei zur Tür. Als er neben ihm war, stellte der Herzog mit leichtem Erstaunen fest, daß der Jüngling beinahe genauso groß war wie er – und Isgrimnur war kein kleiner Mann. Es waren die Schlankheit des Jungen und sein vorgebeugter Gang, die seine Größe nicht auffallen ließen.

Schade, daß ihm niemand beigebracht hat, sich gerade zu halten, dachte er. Und wahrscheinlich wird er es in der Küche, oder wo er sonst steckt, auch nie lernen.

Als der Junge verschwunden war, bückte sich Isgrimnur und schüttelte Strupp – zuerst sanft, dann immer kräftiger, da ihm klar wurde, daß der kleine Mann sturzbetrunken war; doch selbst das stärkste Rütteln erbrachte weiter nichts als schwache Protestlaute. Endlich verlor Isgrimnur die Geduld. Er griff nach unten, packte mit jeder Hand einen Knöchel des Älteren und hielt sie in die Luft, bis Strupp kopfüber baumelte und nur der Scheitel seines kahlen Kopfes noch den Boden berührte. Strupps Brummen verwandelte sich in ein gequältes Gurgeln und schließlich in gute, verständliche Westerlingworte.

»Was …? … Runter … laß mich … runter! Ädon verdamm dich…«

»Wenn du nicht bald aufwachst, alter Säufer, werde ich deinen Kopf auf den Fußboden hämmern, bis du in alle Ewigkeiten glaubst, daß Wein Gift ist!« Isgrimnur ließ dem Wort die Tat folgen, indem er die Knöchel des Narren noch ein paar Handbreit höher hob und dann den Kopf des Alten nicht allzu sanft auf den kalten Stein zurücksinken ließ.

»Laß ab! Dämon … ich ergebe mich! Dreh mich um, Mann, dreh mich um – ich bin doch nicht Usires, daß ich hier mit dem Kopf nach unten hänge … zur Belehrung der … Massen!«

Isgrimnur ließ ihn vorsichtig hinunter, bis Strupp der Länge nach auf dem Rücken lag.

»Besoffensein reicht, du brauchst nicht auch noch zu lästern, alter Narr«, grollte Isgrimnur und schaute zu, wie Strupp sich mühsam auf den Bauch rollte. Dabei übersah er einen schlanken Schatten, der sich hinter ihm gegen die Türöffnung preßte.

»O gnadenreicher Ädon«, stöhnte Strupp und richtete sich zu sitzender Stellung auf. »Mußtet Ihr meinen Kopf als Grabstock benutzen? Falls es ein Brunnen ist, den Ihr aufscharren wolltet, so hätte ich Euch sagen können, daß der Boden hier in den Dienstbotenquartieren zu steinig ist.«

»Genug, Strupp. Ich habe dich nicht zwei Stunden vor Sonnenuntergang aufgeweckt, um Witze auszutauschen. Josua ist fort.«

Strupp rieb sich den Scheitel und tastete mit der anderen Hand blind nach seinem Weinschlauch. »Fort wohin, Isgrimnur? Um Himmels willen, Mann, habt Ihr mir den Schädel gebrochen, weil Josua Euch irgendwo treffen wollte und nicht aufgetaucht ist? Ich hatte nichts damit zu tun, das verspreche ich Euch.« Er nahm einen langen Schluck aus dem Schlauch und schüttelte sich.

»Idiot«, sagte Isgrimnur, aber es klang nicht grob. »Ich meine, daß der Prinz fort ist. Nicht mehr auf dem Hochhorst.«

»Unmöglich«, versetzte Strupp energisch. Mit dem zweiten zittrigen Schluck Malvasier hatte er einen Teil seiner Selbstbeherrschung zurückgewonnen. »Er reist nicht vor nächster Woche ab, das hat er selbst erzählt. Er hat mir gesagt, ich könnte mitkommen, wenn ich wollte, und sein Hofnarr in Naglimund sein.« Strupp legte den Kopf schief und spuckte aus. »Ich habe ihm erklärt, daß ich ihm morgen – das heißt, inzwischen wohl heute – meine Antwort geben würde, denn Elias scheint es gleichgültig zu sein, ob ich bleibe oder gehe.« Er schüttelte den Kopf. »Und dabei war ich doch seines Vaters liebster Gefährte…«

Auch Isgrimnur schüttelte – voller Ungeduld – den Kopf, und sein graumelierter Bart bebte. »Nein, er ist fort. Muß kurz nach Mitternacht aufgebrochen sein, soweit ich das feststellen konnte – jedenfalls hat das der Kerl von der Erkyngarde gesagt, den ich in seinem leeren Zimmer fand, als ich zu unserer Verabredung kam. Josua hatte mich gebeten, so spät zu kommen, obwohl ich mich lieber schlafen gelegt hätte, aber er sagte, es gäbe etwas, das nicht warten könnte. Klingt das nach einem Mann, der abreisen würde, ohne mir auch nur eine Nachricht zu hinterlassen?«

»Wer weiß?« meinte Strupp, das runzlige Gesicht bedrückt und nachdenklich. »Vielleicht war das der Grund, weshalb er Euch sprechen wollte – weil er heimlich fortwollte.«

»Warum hat er dann nicht gewartet, bis ich da war? Die Sache gefällt mir nicht.« Isgrimnur hockte sich nieder und stocherte mit einem herumliegenden Stock in den Kohlen. »In den Gängen dieses Hauses weht heute nacht eine seltsame Luft.«

»Josua handelt oft merkwürdig«, erklärte Strupp ruhig. »Er ist launenhaft – bei Gott, was hat er für Launen! Wahrscheinlich ist er unterwegs, um im Mondschein Eulen zu jagen, oder huldigt sonst einem vertrackten Zeitvertreib. Habt keine Sorge.«

Nach einem Augenblick des Schweigens stieß Isgrimnur lang den Atem aus. »Ach, bestimmt hast du recht«, meinte er, und sein Ton klang beinahe überzeugend. »Selbst wenn Elias und er einander offen den Krieg erklärt hätten, könnte hier im Haus seines Vaters, vor Gott und dem Hof, doch nichts geschehen.«

»Nichts, als daß Ihr mir mitten in der Nacht den Kopf einschlagen wollt. Gott scheint heute abend etwas unachtsam zu sein.« Strupp grinste sein Runzelgrinsen.

Während die beiden Männer ihre Unterhaltung mit gedämpfter Stimme vor den matten Kohlen fortsetzten, stahl Simon sich leise zurück ins Bett. Er lag noch lange wach und starrte, in seine Decke gewickelt, ins Dunkel; als aber der Hahn unten im Hof endlich das erste aufsteigende Sonnenglühen bemerkte, war Simon längst wieder eingeschlafen.


»Und nun Vergeßt nur nicht«, warnte Morgenes und wischte sich mit einem leuchtendblauen Tuch den Schweiß von der Stirn, »daß ihr nichts eßt, bevor ihr es zu mir gebracht und mich danach gefragt habt. Vor allem nichts mit roten Flecken. Verstanden? Viele von den Sachen, die ihr mir zusammensuchen solltet, sind reinstes Gift. Vermeidet also jede Dummheit, sofern das überhaupt möglich ist. Simon, du bist der Anführer! Ich mache dich für die Sicherheit der anderen verantwortlich.«

Die anderen, das waren Jeremias der Wachszieherjunge und Isaak, ein junger Page aus den Gemächern des oberen Stockwerks. Der Doktor hatte sich diesen heißen Feyevernachmittag ausgewählt, um eine Pilz- und Kräuter-Suchaktion im Kynswald zu veranstalten, einem Wäldchen von weniger als einem halben Quadratkilometer Ausdehnung, das sich unter der Westmauer des Hochhorstes an das Steilufer des Kynslaghs duckte. Durch die Dürre waren Morgenes' Vorräte an wichtigen Grundstoffen besorgniserregend zusammengeschrumpft, und der Kynswald, der so nah am großen See lag, schien ein geeigneter Ort zu sein, um die feuchtigkeitsliebenden Schätze des Doktors aufzuspüren.

Während sie durch den Wald ausschwärmten, blieb Jeremias zurück und wartete, bis das knirschende Geräusch von Morgenes' Schritten sich im Knistern des braunen Unterholzes verloren hatte.

»Hast du ihn schon gefragt?« Jeremias' Kleidung war bereits schweißnaß, so daß sie an ihm klebte.

»Nein.« Simon hatte sich niedergebückt, um einer Preßpatrouille von Ameisen zuzusehen, die im Gänsemarsch den Stamm einer Vestivegg-Kiefer hinaufeilten. »Ich werde es heute tun.«

»Und wenn er nein sagt?« Jeremias beäugte die Prozession mit einigem Widerwillen. »Was machen wir dann?«

»Er wird nicht nein sagen!« Simon stand auf. »Und wenn … nun, dann lasse ich mir eben etwas einfallen.«

»Was flüstert ihr denn da?« Der kleine Isaak war auf die Lichtung zurückgekehrt. »Es gehört sich nicht, Geheimnisse zu haben.« Obwohl er drei oder vier Jahre jünger war als Simon und Jeremias, hatte der junge Page sich bereits eine ›vornehme‹ Redeweise angewöhnt. Simon warf ihm einen finsteren Blick zu.

»Das geht dich gar nichts an.«

»Wir haben uns den Baum hier angeschaut«, erläuterte Jeremias, der sich sofort schuldig fühlte.

»Ich hätte gedacht«, bemerkte Isaak listig, »daß es hier genügend Bäume gibt, die man ansehen kann, ohne heimlich zurückzubleiben und sich Geheimnisse zu erzählen.«

»Oh, aber dieser hier«, begann Jeremias, »dieser hier ist –«

»Vergiß den blöden Baum«, unterbrach ihn Simon angewidert. »Gehen wir! Morgenes ist weit voraus und wird uns einiges erzählen, wenn er mehr sammelt als wir.« Er duckte sich unter einem Ast und watete in das knöchelhohe Gestrüpp des Waldbodens hinein.

Es war harte Arbeit. Als sie nach gut anderthalb Stunden eine Pause machten, um einen Schluck Wasser zu trinken und im Schatten auszuruhen, waren die drei Jungen bis zu den Ellenbogen und Knien mit feinem, rotem Staub bedeckt. Jeder trug ein Bündel mit seinen in ein Tuch gewickelten Funden: Simons war am größten, die Bündel von Isaak und Jeremias waren von bescheidenerem Umfang. Sie fanden eine große Föhre, die ihnen als gemeinschaftliche Rückenlehne diente. Die staubigen Beine hatten sie ringsum ausgestreckt wie die Speichen eines Rades. Simon warf einen Stein über die Lichtung. Er fiel in einen Haufen abgebrochener Äste und ließ die welken Blätter zittern.

»Warum ist es bloß so heiß?« stöhnte Jeremias und wischte sich die Stirn. »Und warum ist mein Tuch so voll von albernen Pilzen, daß ich mir den Schweiß mit den Händen abstreifen muß?« Er hielt die schlüpfrigen, feuchten Handflächen hoch.

»Es ist heiß, weil es heiß ist«, knurrte Simon. »Weil kein Regen fällt. Mehr nicht.«

Eine längere Weile verging ohne Worte. Selbst die Insekten und Vögel schienen verschwunden zu sein, sich an dunkle Orte zurückgezogen zu haben, um dort schweigend den trockenen, stillen Nachmittag zu verschlafen.

»Eigentlich müßten wir noch froh sein, daß wir nicht in Meremund sind«, bemerkte schließlich Jeremias. »Sie sagen, dort wären tausend Menschen an der Pest gestorben.«

»Tausend?« sagte Isaak verächtlich. Die Hitze hatte sein schmales, blasses Gesicht stark gerötet. »Viele Tausende! Die ganze Residenz spricht von nichts anderem. Mein Herr läuft mit einem in Weihwasser getauchten Tuch vor dem Gesicht auf dem Hochhorst herum, und dabei ist die Pest nicht einmal auf hundert Meilen an uns herangekommen.«

»Weiß dein Herr, was in Meremund vorgeht?« fragte Simon interessiert – Isaak war doch zu etwas nütze. »Spricht er denn mit dir darüber?«

»Andauernd.« Der kleine Page genoß die Aufmerksamkeit des Älteren. »Der Bruder seiner Frau ist der Bürgermeister. Sie waren unter den ersten, die vor der Pest geflohen sind. Er hat viel Neues von ihnen erfahren.«

»Elias hat Guthwulf von Utanyeat zur Königlichen Hand ernannt«, meinte Simon. Jeremias stöhnte und rutschte am Baumstamm herunter, um sich der Länge nach auf dem fichtennadelbedeckten Boden auszustrecken.

»Das stimmt«, erwiderte Isaak und kratzte mit einem langen Zweig im Staub. »Und er hat die Pest dort festgehalten. Sie hat sich nicht ausgebreitet.«

»Woher kommt sie, diese Seuche?« erkundigte sich Simon. »Gibt es Leute in der Residenz, die das wissen?« Er kam sich töricht vor, einem Kind, das soviel jünger war als er selbst, Fragen zu stellen, aber Isaak horchte auf den Klatsch im oberen Stockwerk und war nicht abgeneigt, ihn anderen weiterzuerzählen.

»Niemand weiß es genau. Manche Leute sagen, neidische Hernystir-Kaufleute aus Abaingeat jenseits des Flusses hätten die Brunnen vergiftet. Aber in Abaingeat sind auch viele Leute gestorben.« Isaak sagte es mit einem gewissen Ausdruck der Befriedigung – schließlich waren die Hernystiri keine Ädoniter, sondern Heiden, ganz gleich, was für ein hochrangiger Verbündeter Lluths Haus unter dem Schutz des Hochkönigs auch gewesen sein mochte. »Andere behaupten, die Dürre hätte vor lauter Trockenheit die Erde aufplatzen lassen, und es seien giftige Dünste aus dem Boden gedrungen. Aber was es auch sein mag, mein Herr sagt, daß es keinen verschont, weder reiche Leute noch Priester oder Bauern. Zuerst fühlt man sich heiß und fiebrig«, – hier ächzte der flach auf dem Rücken liegende Jeremias und betupfte sich die Stirn –, »dann bekommt man überall Blasen, als hätte man auf heißen Kohlen gelegen. Schließlich fangen die Blasen an zu nässen…« Er unterstrich das letzte Wort mit einer kindischen Grimasse. Feines blondes Haar hing ihm ins gerötete Gesicht. »Und danach stirbt man. Unter starken Schmerzen.«

Der Wald ringsum atmete Hitze. Stumm saßen sie da.

»Jakob, mein Meister«, nahm Jeremias endlich den Faden wieder auf, »fürchtet, daß die Pest auch zum Hochhorst kommt, weil so viele schmutzige Bauern unter den Mauern hausen.« Der Kynswald tat einen weiteren, langsamen Atemzug. »Ruben der Bär hat meinem Meister erzählt, er habe von einem Bettelmönch erfahren, daß Guthwulf in Meremund äußerst hart vorgegangen sei.«

»Äußerst hart?« fragte Simon mit geschlossenen Augen. »Was soll das heißen?«

»Der Mönch hat dem Schmied gesagt, daß Guthwulf, als er als Königliche Hand in Meremund ankam, die Erkyngarde mitnahm und zu den Häusern der Kranken ging. Sie brachten Hämmer, Nägel und Bretter mit und versiegelten die Häuser.«

»Mit den Menschen darin?« erkundigte sich Simon, zugleich entsetzt und fasziniert.

»Natürlich. Damit sich die Pest nicht ausbreitet. Sie nagelten die Häuser zu, damit die Angehörigen der Kranken nicht weglaufen und die Seuche auf andere übertragen konnten.« Jeremias hob den Ärmel und wischte wieder.

»Aber ich dachte, die Pest käme von den üblen Dünsten aus der Erde?«

»Trotzdem kann man sich anstecken. Darum sind ja auch so viele Priester und Mönche und Wundärzte gestorben. Der Mönch hat erzählt, die Straßen von Meremund wären nachts, viele Wochen lang, gewesen wie … wie … was hat er noch gesagt? ›Wie die Hallen der Hölle.‹ Man konnte die Leute in den zugenagelten Häusern heulen hören wie Hunde. Endlich, als alles still war, haben Guthwulf und die Erkyngarde die Häuser niedergebrannt. Ungeöffnet.«

Während sich Simon noch über diese letzte Einzelheit wunderte, vernahm man das Geräusch brechender Äste.

»Heda, ihr Faulpelze!« Aus einem Baumdickicht erschien Morgenes, die Gewänder mit Girlanden aus Zweigen und Blättern verziert, um die breite Hutkrempe einen Moosrand. »Ich hätte mir denken können, daß ich euch flach auf dem Rücken finde.«

Simon kam mühsam auf die Füße. »Wir sitzen erst ganz kurz hier, Doktor«, erklärte er. »Wir haben lange gesammelt.«

»Vergiß nicht, ihn zu fragen!« zischte Jeremias und richtete sich auf.

»Hm«, sagte Morgenes und betrachtete kritisch ihre Bündel. »Scheint so, als hättet ihr es unter den gegebenen Umständen ganz ordentlich gemacht. Laßt sehen, was ihr gefunden habt.« Er hockte sich nieder wie ein Bauer, der Unkraut aus einer Baumhecke zupft, und fing an, die Sammlungen der Jungen zu durchsieben. »Ah! Teufelsohr«, schrie er und hielt einen muschelförmigen Pilz in das einfallende Sonnenlicht. »Hervorragend!«

»Doktor«, setzte Simon an, »ich wollte Euch um eine kleine Gefälligkeit bitten.«

»Hmmm?« Morgenes stocherte in Pilzstücken herum, wobei er ein ausgebreitetes Taschentuch als Tisch benutzte.

»Nun, Jeremias möchte gern in die Garde eintreten – oder wenigstens den Versuch machen. Das Problem ist, daß Graf Breyugar uns Burgleute kaum kennt und Jeremias keine Verbindung zu solchen Kreisen hat.«

»Das«, versetzte Morgenes trocken, »ist kein Wunder.« Er leerte das nächste Bündel aus.

»Meint Ihr, daß Ihr ihm einen Empfehlungsbrief schreiben könntet? Ihr seid überall wohlbekannt.« Simon versuchte, gelassen zu klingen. Isaak betrachtete den schwitzenden Jeremias mit einer Mischung aus Respekt und Erheiterung.

»Hmmm.« Der Tonfall des Doktors verriet nichts. »Ich habe den Verdacht, daß ich bei Breyugar und seinen Freunden nur allzubekannt bin.« Er schaute auf und fixierte Jeremias mit scharfem Blick.

»Weiß Jakob davon?«

»Er … er kennt meine Gefühle«, stotterte Jeremias.

Morgenes stopfte alles Gesammelte in einen Sack und gab den Jungen ihre Tücher zurück. Anschließend stand er auf und klopfte sich die Blätter und Baumnadeln aus dem Gewand.

»Ich denke, das könnte ich«, sagte er dann, als sie sich auf den Rückweg zum Hochhorst machten. »Ich glaube zwar nicht, daß ich das gutheiße – und noch weniger glaube ich, daß eine Botschaft von mir sie alle respektvoll Haltung annehmen lassen wird –, aber wenn Jakob Bescheid weiß, wird es ja wohl in Ordnung sein.« Sie wateten im Gänsemarsch durch das stachlige Dickicht.

»Danke, Doktor«, sagte Jeremias atemlos.

»Ich bezweifle, daß sie dich haben wollen.« Isaak hörte sich ein bißchen neidisch an. Je mehr sie sich der Burg näherten, desto stärker schien auch seine Hochnäsigkeit wiederzukehren.

»Doktor Morgenes«, bemerkte Simon und bemühte sich nach besten Kräften um einen Ton wohlwollender Uninteressiertheit, »vielleicht sollte ich den Brief schreiben, und Ihr könntet ihn nachsehen und unterzeichnen? Wäre das nicht eine gute Übung für mich?«

»Wirklich, Simon«, erwiderte der Doktor und stieg über einen umgestürzten Baumstamm, »das ist eine glänzende Idee. Ich freue mich, daß du dich von selbst darum bemühst. Vielleicht mache ich doch noch einen richtigen Lehrling aus dir!«

Diese vergnügte Erklärung des Doktors, der Stolz in seiner Stimme, legten sich auf Simon wie ein Umhang aus Blei. Er hatte noch gar nichts getan, ganz zu schweigen von etwas Bösem, aber er kam sich bereits vor wie ein Mörder oder Schlimmeres. Gerade wollte er noch etwas sagen, als ein Aufschrei die erstickende Waldluft zerriß.

Simon fuhr herum und sah Jeremias, weiß im Gesicht wie Weizenbrei, auf etwas im Dickicht neben dem umgefallenen Baum zeigen. Neben ihm stand schreckerstarrt Isaak. Simon rannte zurück, Morgenes nur einen Schritt hinter ihm.

Es war eine Leiche, die im Fallen halb in das Dickicht gestürzt war. Obwohl das Gesicht überwiegend von Gebüsch verdeckt war, zeigte der fast fleischlose Zustand der sichtbaren Körperteile, daß der Tod schon vor längerer Zeit eingetreten war.

»Ohohoh«, hechelte Jeremias, »er ist tot! Gibt es denn hier Gesetzlose? Was sollen wir tun?«

»Sei still«, fuhr Morgenes ihn an, »das ist nämlich das Erste! Laß mich sehen.« Der Doktor raffte den Saum seines Gewandes und watete in das Dickicht hinein, wo er stehenblieb und vorsichtig die Äste anhob, die den größten Teil des Körpers verbargen.

Nach den Bartsträhnen, die noch immer an dem von Vögeln und Insekten zerfressenen Gesicht hingen, schien es ein Nordländer gewesen zu sein – vielleicht ein Rimmersmann. Er trug unauffällige Reisekleidung, einen leichten Wollmantel und gegerbte Lederstiefel, die inzwischen verfault waren, so daß an einigen Stellen das Pelzfutter zu sehen war.

»Wie ist er gestorben?« fragte Simon. Die leeren Augenhöhlen, dunkel und geheimnisvoll, beunruhigten ihn. Der zahnige Mund, von dem das Fleisch geschrumpft und zurückgewichen war, schien zu grinsen, als liege der Kadaver hier seit Wochen, voller Freude über irgendeinen tristen Scherz.

Mit einem Stock schob Morgenes das Wams zur Seite. Ein paar Fliegen erhoben sich träge und umkreisten ihn. »Seht«, sagte er.

Aus einem kreisrunden Loch im ausgedörrten Leib des Toten ragte der Stumpf eines Pfeils, knapp eine Handbreit über den Rippen abgebrochen.

»Der Schütze hatte es wohl eilig – und wollte nicht, daß man seinen Pfeil erkennt.«

Sie mußten einen Augenblick auf Isaak warten, der sich geräuschvoll erbrach, bevor sie zurück zur Burg eilen konnten.

IX Rauch im Wind

»Hast du's bekommen? Hat er was gemerkt?« Trotz der vielen Stunden in der Sonne immer noch blaß, hüpfte Jeremias neben Simon her wie die Schafsschwimmblase eines Fischernetzes.

»Ich hab's«, knurrte Simon. Jeremias' Aufregung irritierte ihn; sie schien nicht recht zu dem männlichen Ernst ihres Vorhabens zu passen. »Du denkst zuviel.«

Jeremias war nicht beleidigt. »Wenn du es nur hast«, meinte er überglücklich.

Die Mittelgasse, zum harten Mittagshimmel offen, das Zeltdach zurückgerollt, war so gut wie ausgestorben. Hier und da lungerten die Männer der Stadtwache, in gelben Uniformen, um ihre unmittelbare Zugehörigkeit zu Graf Breyugar zu bekunden, aber mit Schärpen im Grün des Königs, in den Hausgängen herum oder würfelten an den Mauern geschlossener Läden miteinander. Obwohl der Morgenmarkt längst vorbei war, kam es Simon trotzdem so vor, als sei viel weniger Volk auf der Straße als gewöhnlich. Hauptsächlich sah man die Heimatlosen, die in den vergangenen Wintermonaten nach Erchester geströmt waren, aus ihren Wohnorten vertrieben von ausgetrockneten Bächen und versiegenden Brunnen. Sie standen oder saßen im Schatten von Steinmauern und Gebäuden, teilnahmslose Klumpen mit langsamen, ziellosen Bewegungen. Die Wachen drängten sich an ihnen vorbei oder stiegen über sie hinweg wie über Straßenköter.

Die beiden Jungen bogen von der Mittelgasse nach rechts in den Tavernenweg ein, die größte der Fahrstraßen, die die Mittelgasse kreuzten. Hier gab es mehr Leben, obwohl auch jetzt die meisten Menschen Soldaten waren. Die Hitze hatte sie größtenteils in die Häuser getrieben; sie lehnten sich, Humpen in der Hand, aus den niedrigen Fenstern und betrachteten Simon und Jeremias und das vielleicht halbe Dutzend weiterer Vorübergehender mit bierseliger Gleichgültigkeit.

Ein Bauernmädchen im hausgesponnenen Rock, wahrscheinlich die Tochter irgendeines Stallknechts, dem Krug nach zu schließen, den sie auf der Schulter balancierte, kam eilig die Straße herauf. Ein paar Soldaten pfiffen und riefen ihr nach, aber das Mädchen blickte nicht auf, sondern trottete zielstrebig weiter, das Kinn auf der Brust. Ihre Hast, verbunden mit dem schweren Krug, machte ihre Schritte kurz. Wohlgefällig beobachtete Simon ihren geschmeidigen Hüftschwung und drehte sich sogar einmal um sich selbst, um sie im Auge zu behalten, bis sie plötzlich in ein kleines Gäßchen einschwenkte und verschwand.

»Simon, jetzt komm!« rief Jeremias. »Da drüben ist es!«

In der Mitte des Gebäudekomplexes stand, aus dem Tavernenweg aufragend wie ein Felsblock auf ausgefahrener Straße, der Dom des heiligen Sutrin. Im Stein seines gewaltigen Antlitzes spiegelte sich stumpf die geduldige Sonne. Die hohen Bögen und gewölbten Strebepfeiler warfen schmale Schatten über die Nester von Wasserspeiern, deren muntere Grimassengesichter vergnügt gackernd und scherzend über die Schultern humorloser Heiliger hinabspähten. Von der Fahnenstange über den hohen Doppeltüren hingen drei schlaffe Wimpel: Elias' grüner Drache, Säule und Baum der Kirche, und ganz unten der goldene Kronreif im weißen Feld der Stadt Erchester. Zwei Stadtwachen lehnten an den geöffneten Türen, und ihre Hellebarden standen mit den Spitzen nach unten im breiten steinernen Türrahmen.

»Also los«, bemerkte Simon grimmig und stieg, Jeremias dicht auf den Fersen, die zwei Dutzend Marmorstufen hinauf. Oben hob eine der Wachen nachlässig die Hellebarde und versperrte den Eingang. Der Mann hatte die Kapuze seines Kettenhemdes zurückgeschlagen, so daß sie ihm um die Schultern hing wie ein Schleier.

»Was wollt ihr hier?« fragte er mit zusammengekniffenen Augen. »Eine Botschaft für Breyugar.« Simon stellte beschämt fest, daß seine Stimme brach. »Für Graf Breyugar, von Doktor Morgenes vom Hochhorst.« Ein wenig trotzig streckte er das zusammengerollte Pergament vor. Der Wachmann, der gesprochen hatte, nahm es und warf einen flüchtigen Blick auf das Siegel. Der andere starrte eindringlich nach oben zum gemeißelten Türsturz, als hoffe er, dort seine Dienstbefreiung für den Tag geschrieben zu finden.

Die erste Wache reichte Simon achselzuckend das Pergament zurück. »Hier durch und dann links. Treibt euch aber nicht herum.«

Empört richtete sich Simon zu voller Höhe auf. Wenn er erst Wachmann war, würde er sich um ein Vielfaches würdiger benehmen als diese gelangweilten, unrasierten Trottel. Wußten sie nicht, welche Ehre es war, das königliche Grün zu tragen? Er trat mit Jeremias an ihnen vorbei und ins kühle Innere von Sankt Sutrin.

Nichts regte sich im Vorraum, nicht einmal die Luft, aber Simon konnte sehen, wie das Licht auf Gestalten spielte, die sich hinter der Türöffnung auf der anderen Seite bewegten. Anstatt sofort nach der Tür links zu gehen, blickte er sich um, ob die Wächter ihn beobachteten – was sie natürlich nicht taten –, und marschierte dann weiter, um in das große Hauptschiff des Domes hineinzusehen.

»Simon!« zischte Jeremias unruhig. »Was tust du da! Da drüben, haben sie gesagt.« Er deutete auf die Tür ganz links. Aber Simon achtete nicht auf seinen Begleiter und steckte den Kopf durch die Tür. Nervös vor sich hinmurmelnd, kam Jeremias hinterher.

Es ist wie auf einem von diesen frommen Bildern, dachte Simon, ganz hinten sieht man Usires und den Baum, und ganz vorn die Gesichter von Nabbanai-Bauern und solchen Leuten.

Tatsächlich war das Kirchenschiff so groß und hoch, daß es ihm wie eine ganze Welt vorkam. Von den obersten Deckenbögen strömte, von den bunten Fenstern wie durch Wolken gedämpft, Sonnenlicht herein. Weißgekleidete Priester bevölkerten den Altar, putzend und polierend wie kahlgeschorene Dienstmägde. Simon vermutete, daß sie den Gottesdienst zu Elysiameß vorbereiteten, der in wenigen Wochen stattfinden würde.

Näher an der Tür, ebenso geschäftig, sonst aber in jeder Beziehung anders, drängten sich Breyugars Stadtwachen in ihren gelben Wämsern, hier und da untermischt mit der grünen Tracht der Erkyngarde vom Hochhorst oder der graubraunen oder schwarzen Kleidung eines angesehenen Bürgers von Erchester. Die beiden Gruppen schienen voneinander völlig getrennt; es dauerte einen Augenblick, bis Simon die Schranke aus Brettern und Schemeln bemerkte, die man zwischen dem vorderen und dem hinteren Teil des Domes errichtet hatte. In plötzlichem Erkennen begriff Simon, daß diese Abgrenzung nicht dazu diente, die hin und her eilenden Priester im Inneren der Kirche zu halten, wie man zunächst hätte glauben können – nein, ihr Zweck war vielmehr, die Soldaten auszusperren. Es schien, als hätten Bischof Domitis und die Priester noch immer nicht die Hoffnung aufgegeben, daß die Besetzung ihrer Kathedrale durch den Befehlshaber der königlichen Wachen kein Dauerzustand bliebe.

Als Simon und Jeremias die Treppe weiter hinaufstiegen, mußten sie nacheinander noch drei anderen Wachtposten ihr Pergament zeigen, wobei diese wesentlich wacher waren als die beiden an der schweren Eingangstür – entweder weil sie hier drinnen keine Sonne ertragen mußten, oder weil die Nähe zum Gegenstand ihres Schutzes zunehmend größer wurde.

Endlich standen die Jungen in einem überfüllten Wachraum vor einem narbengesichtigen, zahnlückigen Veteran, dessen Miene vielgeplagter Gleichgültigkeit zusammen mit dem Gürtel voller Schlüssel Autorität anzeigte.

»Ja, der edle Graf Breyugar ist heute anwesend. Gebt mir den Brief, ich werde ihn weiterleiten.« Der Unteroffizier kratzte sich ungerührt am Kinn.

»Nein, Herr, wir müssen ihn selbst überreichen. Er ist von Doktor Morgenes.« Simon bemühte sich, energisch zu klingen. Jeremias schlug die Augen nieder.

»Tatsächlich? Was ihr nicht sagt.« Der Mann spuckte auf den mit Sägemehl bestreuten Fußboden. Hier und da schimmerten Marmorfliesen durch. »Ädon soll mich beißen, was für ein Tag! Nun, dann wartet hier.«


»Aha. Was haben wir hier?« Graf Breyugar saß am Tisch vor den Knochenresten einer Mahlzeit, die aus kleinen Vögeln bestanden hatte. Er hob eine Augenbraue. Seine feingeschnittenen Züge waren im Fleisch der Hängebacken fast verschwunden. Er hatte die Hände eines Musikers, langfingrig und schmal.

»Einen Brief, edler Herr.« Simon, auf ein Knie gesunken, streckte ihm die Pergamentrolle entgegen.

»Dann gib ihn doch her, Junge.« Die Stimme des Grafen war hoch und weibisch, aber Simon hatte gehört, daß Breyugar ein furchteinflößender Schwertkämpfer war – diese schlanken Hände hatten schon viele Männer getötet.

Während der Graf die Botschaft las, wobei er die fettglänzenden Lippen bewegte, bemühte sich Simon, die Schultern gerade und den Rücken steif wie einen Hellebardenstock zu halten. Aus dem Augenwinkel glaubte er zu sehen, daß der grauhaarige Unteroffizier ihn ansah, darum zog er das Kinn ein, starrte geradeaus und dachte darüber nach, wie vorteilhaft er doch von den schlaffen Dummköpfen abstechen mußte, die an den Domtüren Wache standen.

»Bitte laßt Euch … die Überbringer … für den Dienst unter der Führung Eurer gräflichen Gnaden … empfohlen sein…«, las Breyugar laut. Seine Betonung ließ Simon sekundenlang in Panik geraten – hatte er gesehen, daß Simon aus dem »den« ein »die« gemacht hatte? Er hatte ein bißchen undeutlich geschrieben, damit es nicht auffiel.

Graf Breyugar, den Blick auf Simon geheftet, gab seinem Stabsunteroffizier den Brief. Der las ihn, noch langsamer als Breyugar, während der Edelmann den Jungen von oben bis unten musterte und dann auch dem noch immer knienden Jeremias einen kurzen Blick zuwarf. Als der Unteroffizier den Brief zurückreichte, stand ihm ein Grinsen im Gesicht, das zwei fehlende Zähne und eine rosa Zunge, die im dunklen Abgrund herumbohrte, enthüllte.

»So.« Breyugar flötete den Ton wie einen kummervollen Atemzug. »Morgenes, der alte Apotheker, möchte, daß ich ein Paar Burgmäuse aufnehme und Männer aus ihnen mache.« Er nahm eine winzige Keule vom Teller und knabberte an dem Knochen. »Unmöglich.«

Simon fühlte seine Knie nachgeben und den Magen bis zum Hals hochsteigen. »Aber … aber warum?« stammelte er.

»Weil ich euch nicht brauche. Ich habe Kämpfer genug. Euch kann ich mir nicht leisten. Niemand kann etwas pflanzen, wenn es nicht regnet, und es stehen schon genügend Männer bei mir nach einer Arbeit an, die sie ernährt. Aber das Wichtigste ist, daß ich euch nicht will – ein paar talgweiche Burgjungen, denen im Leben noch nichts Schmerzhaftes zugestoßen ist als ein Klaps auf ihre rosa Ärsche, weil sie Kirschen geklaut haben. Macht, daß ihr verschwindet. Wenn es Krieg gibt, weil diese lästerlichen Heiden in Hernystir sich weiter dem Willen des Königs widersetzen oder der Verräter Josua wieder auftaucht, könnt ihr eine Mistgabel oder Sense führen wie die anderen Bauern – oder vielleicht sogar dem Heer folgen und die Pferde tränken, falls wirklich nicht genug Männer da sein sollten. Aber Soldaten, das werdet ihr nie! Der König hat mich nicht zum Befehlshaber seiner Wachen ernannt, damit ich Gründlinge hüte. Unteroffizier, zeig diesen Burgmäusen ein Loch zum Wegrennen.«

Auf dem ganzen langen Weg zurück zum Hochhorst sprachen weder Simon noch Jeremias ein einziges Wort. Als Simon in seinem Alkoven hinter dem Vorhang allein war, zerbrach er sein Faßstockschwert über dem Knie. Er weinte nicht. Er würde nicht weinen.


Es liegt etwas Merkwürdiges im Nordwind heute, dachte Isgrimnur. Etwas, das wie ein Tier riecht oder ein Sturm, der gleich losbrechen wird, oder beides … irgend etwas Kratziges, das mir die Nackenhaare aufstellt.

Er rieb sich die Hände, als sei die Luft kalt, was nicht der Fall war, und schob die Ärmel seines leichten Sommerwamses – in diesem seltsamsten aller Jahre um Monate zu früh angezogen – über den von dicken Adern durchzogenen alten Unterarmen zurück. Wieder ging er an die Tür und schaute hinaus, peinlich berührt, daß ein alter Soldat wie er solche Halbwüchsigenspiele spielte.

Wo steckt bloß dieser verdammte Hernystirmann?

Er machte kehrt, um sein Hin- und Herwandern wieder aufzunehmen, wäre fast über einen Stapel Urkundenkästen gestolpert und blieb statt dessen mit einer Stiefelschnalle an der untersten Rolle einer kleinen Pyramide aus Pergamenten hängen, die seinen ohnehin beschränkten Bewegungsspielraum einengten. Vollmundig fluchend, bückte er sich gerade noch rechtzeitig, um den Aufbau am Einstürzen zu hindern. Gewiß war der verlassene Raum im Staatsarchiv – leergeräumt, damit die Schreibpriester dort ihre Elysiameß-Rituale durchführen konnten – der beste Ort, den man in der Eile für eine heimliche Zusammenkunft hatte finden können … aber warum konnten die Kerle zwischen ihren verdammten Klecksereien nicht wenigstens soviel Platz lassen, daß ein erwachsener Mann sich noch bewegen konnte?

Der Türriegel klapperte. Herzog Isgrimnur, erleichtert, daß das Warten vorüber war, sprang vorwärts. Statt vorsichtig hinauszuspähen, riß er die Tür weit auf, fand jedoch nicht, wie erwartet, zwei Männer vor, sondern nur einen.

»Gelobt sei Ädon, daß Ihr endlich kommt, Eolair!« bellte er. »Wo ist der Escritor?«

»Psst!« Der Graf von Nad Mullagh hielt zwei Finger an die Lippen, trat ein und zog die Tür hinter sich zu. »Mehr Ruhe! Der Erzbischof schwatzt gleich nebenan in der Halle herum.«

»Und was geht mich das an?« rief der Herzog, jedoch nicht so laut wie vorher. »Sind wir Kinder, daß wir uns vor diesem ledrigen alten Eunuchen verstecken müssen?«

»Wenn Ihr ein Treffen wolltet, von dem alle wissen«, erwiderte Eolair und setzte sich auf einen Hocker, »warum verbergen wir uns dann in einem Schrank?«

»Es ist kein Schrank«, brummte der Rimmersmann, »und Ihr wißt ganz genau, warum ich Euch hierher bestellt habe und weshalb in der Inneren Feste kein Geheimnis sicher ist. Wo ist Escritor Velligis?«

»Er fand, ein Schrank sei nicht der rechte Platz für die rechte Hand des Lektors«, lachte Eolair. Isgrimnur schwieg still. Wegen seines geröteten Gesichts hielt er den Hernystirmann für betrunken oder zumindest für angeheitert. Am liebsten wäre er das auch gewesen.

»Ich hielt es für wichtig, uns an einem Ort zu treffen, an dem man offen reden kann«, erklärte Isgrimnur schließlich. »Man hat uns in letzter Zeit allzu oft miteinander ins Gespräch vertieft gesehen.«

»Nein, Isgrimnur, Ihr seid es, der recht hat.« Eolair machte eine beruhigende Handbewegung. Er war für die Feiern zum Liebfrauentag gekleidet, bei denen er die Rolle des respektvollen Außenseiters spielte – eine Rolle, die den heidnischen Hernystiri gut stand. Sein Festtagswams aus weißem Stoff war dreifach gegürtet, jeder Gürtel mit Gold oder emailliertem Metall verziert, und seine lange schwarze Haarmähne am Hinterkopf mit einem goldenen Band zusammengebunden. »Ich habe nur einen Scherz gemacht, und es ist ein trauriger Scherz«, fuhr er fort, »wenn König Johans ergebenste Untertanen im Geheimen zusammenkommen müssen, um über Dinge zu sprechen, die kein Treuebruch sind.«

Isgrimnur schritt langsam zur Tür und bewegte den Riegel, um sicherzustellen, daß er eingeschnappt war. Dann machte er kehrt, lehnte den breiten Rücken gegen das Holz und kreuzte die Arme über der mächtigen Brust. Auch er war festlich gekleidet, mit feinem, leichtem, blauem Wams und blauen Beinlingen. Aber die Flechten seines Bartes waren vom nervösen Herumzupfen bereits gelockert und die Beinlinge am Knie ausgebeult. Der Herzog haßte es, sich feinzumachen.

»Nun«, brummte er endlich und warf trotzig den Kopf in den Nacken, »soll ich zuerst reden, oder wollt Ihr es tun?«

»Wir brauchen uns nicht darum zu sorgen, wer als erster spricht«, erwiderte der Graf.

Für eine flüchtige Sekunde erinnerte die Röte in Eolairs Gesicht, die Farbe auf seinen hohen, schmalen Wangenknochen, den Älteren an etwas, das er vor vielen Jahren einmal gesehen hatte: eine gespenstische Gestalt, auf die er über fünfzig Meter Rimmersgard-Schnee einen kurzen Blick erhascht hatte.

Einen von den ›Weißfüchsen‹ hat mein Vater ihn genannt.

Isgrimnur fragte sich, ob die alten Geschichten vielleicht doch stimmten – sollte es wirklich Sithiblut in den adligen Familien von Hernystir geben?

Eolair strich sich im Weiterreden mit der Hand über die Stirn, wischte die winzigen Schweißtropfen ab, und die vorübergehende Ähnlichkeit war verschwunden. »Wir haben oft genug darüber gesprochen, um zu wissen, daß die ganze Sache entsetzlich schiefgegangen ist. Worüber wir jetzt reden müssen – und zwar ungestört und unbelauscht –«, er deutete mit der Hand auf den vollgestopften Archivraum, ein dunkles Nest aus Papier und Pergament, dem ein hohes, dreieckiges Fenster Helligkeit gab, »ist, was wir dagegen tun können. Wenn wir etwas tun können. Und genau das ist das Problem: Was kann man unternehmen?«

Isgrimnur war noch nicht bereit, so kühn über Dinge zu sprechen, die, was immer Eolair auch sagen mochte, schon jetzt den schwachen, Übelkeit erregenden Geruch von Verrat an sich trugen. »Es ist folgendermaßen«, begann er. »Ich wäre der letzte, der Elias die Schuld an diesem verdammten Wetter geben würde. Ich sollte es schließlich besser wissen, denn während es hier heiß wie Teufelsatem und knochentrocken ist, haben wir bei uns im Norden einen furchtbaren Winter; Schnee und Eis sind schlimmer denn je seit Menschengedenken. Also kann man dem König nicht das hiesige Wetter vorwerfen, genauso wenig wie es meine Schuld ist, daß in Rimmersgard die Dächer unter der weißen Last einstürzen und in den Stallungen das Vieh erfriert.« Er zupfte heftig, und eine weitere Flechte seines Bartes löste sich auf. Aus dem grauen Gestrüpp hing das Band schlaff herunter.

»Was man Elias allerdings vorwerfen muß, ist, daß er mich hier festhält, aber das ist eine andere Schnur und ein anderer Haken … Nein, das Schlimme ist, daß der Mann sich gar nichts aus allem zu machen scheint! Die Brunnen versiegen, die Höfe liegen brach, in den Feldern schlafen Verhungernde, und die Städte ersticken an der Pest – und Elias scheint das alles gar nicht zu kümmern. Steuern und Abgaben steigen, und den ganzen Tag sind diese verfluchten Arschlecker von Adelswelpen, die er seine Freunde nennt, um ihn herum, trinken, singen und raufen und … und…« Isgrimnur grunzte angewidert.

»Und die Turniere! Bei Uduns rotem Speer, in meiner Jugend war ich genauso wild auf ein Turnier wie alle anderen, aber unter dem Thron seines Vaters zerbröckelt das Erkynland zu Staub; die Länder unter dem Königsfrieden sind unruhig wie erschreckte Fohlen, und trotzdem nimmt das Turnieren kein Ende! Und dann diese Bootsfahrten auf dem Kynslagh! Und die Gaukler und die Akrobaten und die Bärenhatzen! Es ist so arg, wie es damals in den ärgsten Zeiten von Crexis dem Ziegenbock gewesen sein soll!« Jetzt selbst rot im Gesicht, ballte Isgrimnur die Fäuste und stierte zu Boden.

»In Hernystir« – Eolairs Stimme klang nach dem heiseren Ausbruch des Rimmersmanns sanft und melodisch –, »sagen wir: ›Ein Hirte, kein Schlächter‹, und wir meinen damit, daß ein König Land und Volk wie eine Herde hüten und ihnen nur das nehmen soll, was er unbedingt braucht, daß er sie aber nicht so ausbeuten darf, daß ihm zum Schluß nichts anderes übrigbleibt als sie aufzuessen.« Eolair sah hinauf zu dem kleinen Fenster und den Pergamentstaubkörnchen, die im schwachen Licht tanzten. »Das ist es nämlich, was Elias tut: Er ißt sein Land auf, einen Bissen nach dem anderen, so sicher wie einst der Riese Croich-ma-Feareg den Berg bei Crannhyr verschlang.«

»Und doch war Elias einmal ein guter Mann«, sagte Isgrimnur grübelnd, »viel umgänglicher als sein Bruder. Gewiß sind nicht alle Prinzen zum König geboren, aber mir scheint, daß hier mehr nicht stimmt, als daß nur einem Mann seine Macht nicht bekommt. Irgend etwas liegt verdammt im argen – und es sind nicht nur Fengbald und Breyugar und ihresgleichen, die ihn in den Abgrund führen.« Der Herzog war wieder zu Atem gekommen. »Wir wissen doch, daß es dieser bösartige Bastard Pryrates ist, der ihm die seltsamen Raupen in den Kopf setzt und ihn nachts mit Lichtern und unheiligem Lärm da oben im Turm wachhält, so daß man manchmal den Eindruck hat, daß der König nach Sonnenaufgang überhaupt nicht weiß, wo er ist. Was kann Elias von einem Kerl wie diesem Hurensohn von Priester nur wollen? Er ist der König der bekannten Welt – was könnte ihm Pryrates darüber hinaus bieten?«

Eolair, den Blick noch immer auf das Oberlicht geheftet, stand da und wischte sich mit dem Ärmel die Stirn. »Ich wünschte, ich wüßte es«, sagte er endlich. »Nun denn. Was also können wir tun?«

Isgrimnur kniff die alten, wilden Augen zusammen. »Was hat Escritor Velligis gesagt? Schließlich ist es ein Dom der Mutter Kirche, den man mit Sankt Sutrin beschlagnahmt hat. Es sind Herzog Leobardis' Nabbanai-Schiffe – neben denen Eures eigenen Königs Lluth –, die Guthwulf unter dem Vorwand der ›Pestgefahr‹ aus dem Reichshafen von Abaingeat gestohlen hat. Leobardis und Lektor Ranessin sind gute Freunde; sie herrschen über Nabban wie ein Monarch mit zwei Köpfen. Velligis muß doch irgend etwas zum Besten seines Gebieters vorbringen können.«

»Er hat viel vorzubringen, aber mit wenig Inhalt«, meinte Eolair und ließ sich wieder auf seinen Schemel fallen. Der helle Streifen Sonnenlicht war kleiner geworden, weil die sinkende Sonne den Durchlaß teilweise versperrte, und der kleine Raum lag in noch tieferem Schatten. »Velligis behauptet, er wisse nicht, was Herzog Leobardis von diesem Piratenstück – drei Kornschiffe, ganz unverhohlen aus einem Hernystirhafen geraubt – hält. Was seinen Meister angeht, ist er vage wie stets. Ich glaube, Seine Heiligkeit beabsichtigt, den Friedensstifter zwischen Elias und Herzog Leobardis zu spielen und dadurch zugleich die Stellung Eurer ädonitischen Kirche hier am Hof zu stärken. König Lluth, mein Herr, hat mich beauftragt, als nächstes nach Nabban zu reisen, und vielleicht werde ich dort die Wahrheit herausfinden. Ich fürchte aber, falls das wirklich sein Plan ist, irrt sich der Lektor: Denn wenn die Mißachtung, mit der der König und seine Ohrenbläser Velligis behandelt haben, überhaupt auf etwas hindeutet, dann darauf, daß der König sich unter dem breiten Schatten der Mutter Kirche noch unbehaglicher fühlt als sein Vater.«

»So viele Pläne!« stöhnte Isgrimnur. »So viele Intrigen … Mir wird ganz schwindlig. Ich bin kein Mann für so etwas. Gebt mir ein Schwert oder eine Axt und laßt mich Schläge austeilen!«

»Ist das der Grund dafür, daß Ihr Euch in Schränke zurückzieht?« lächelte Eolair und zauberte aus seinem Mantel einen Schlauch mit Sauerhonigmet. »Es sieht nicht so aus, als gäbe es hier jemanden zum Draufhauen. Ich finde, Ihr nehmt Euch auch in Eurem fortgerückten Alter als Intrigant recht gut aus, ehrwürdiger Herzog.«

Isgrimnur runzelte die Stirn und nahm den angebotenen Schlauch. Er ist selber ein geborener Intrigant, unser Eolair, dachte er. Ich sollte zumindest dankbar sein, daß ich jemanden habe, mit dem ich reden kann. Trotz seines ganzen Hernystiri-Geschwätzes über Dichtkunst, mit dem er die Ohren der Damen verstopft, ist er im Kern hart wie Schildstahl – ein guter Verbündeter in Zeiten des Verrats.

»Da ist noch etwas.« Isgrimnur gab Eolair den Schlauch zurück und wischte sich den Mund ab. Der Graf nahm einen tiefen Zug und nickte dann mit dem Kopf.

»Heraus damit. Ich bin ganz Ohr – wie ein Circoille-Hase.«

»Der Tote, den der alte Morgenes im Kynswald fand«, erklärte Isgrimnur, »von einem Pfeil erschossen« – Eolair nickte wieder –, »war einer von meinen Männern: Bindesekk, aber als sie ihn endlich entdeckten, hätte ich ihn nicht wiedererkannt, wenn er nicht einen Knochenbruch im Gesicht gehabt hätte, den er sich vor langer Zeit in meinem Dienst zugezogen hatte. Natürlich habe ich nichts gesagt.«

»Einer von Euren Männern?« Eolair hob eine Braue. »Und was wollte er? Wißt Ihr es?«

Isgrimnur lachte, ein kurzer, bellender Laut. »Allerdings. Darum habe ich auch geschwiegen. Ich hatte ihn losgeschickt, als Skali von Kaldskryke seine Verwandten mitnahm und nach Norden aufbrach. Scharfnase hat an Elias' Hof für meinen Geschmack zu viele neue Freunde gefunden, darum sandte ich Bindesekk mit einer Botschaft zu meinem Sohn Isorn. Solange Elias mich mit seinen lächerlichen Aufträgen hier festhält, diesen Theatervorstellungen vorgetäuschter Diplomatie, die angeblich so wichtig sein sollen – wenn sie das wirklich wären, warum vertraut man sie dann einem ungeschliffenen alten Kriegshund wie mir an? –, so lange wollte ich, daß Isorn ganz besonders auf der Hut ist. Ich traue Skali nicht mehr als einem verhungernden Wolf, und mein Sohn hat nach allem, was ich höre, schon genug Ärger zu Hause. Alle Nachrichten, die über die Frostmark hierher durchsickern, sind schlecht – tobende Stürme im Norden, unsichere Straßen, Dorfbewohner, die sich in den großen Hallen zusammendrängen müssen. Wir leben in unruhigen Zeiten, und Skali weiß das.«

»Glaubt Ihr denn, daß es Skali war, der Euren Mann umbrachte?« Eolair beugte sich vor und reichte Isgrimnur abermals den Schlauch.

»Ich weiß es nicht, soviel steht fest.« Der Herzog legte den Kopf in den Nacken und tat erneut einen langen Zug. Die Muskeln in seinem dicken Hals pochten; ein dünner Metfaden troff auf das blaue Wams. »Was ich damit meine: Es sieht zwar sehr danach aus, aber ich habe dennoch Zweifel.« Er rieb einen Augenblick gedankenverloren über den Fleck. Denn selbst wenn er Bindesekk gestellt hätte, wäre es Hochverrat gewesen, ihn zu töten. »So sehr er mich auch verachten mag, ist Skali doch mein Lehnsmann, und ich bin sein Lehnsherr.«

»Aber der Leichnam wurde versteckt.«

»Nicht sehr gut versteckt. Warum so nahe bei der Burg? Warum nicht abwarten, bis Bindesekk die Wjeldhelmberge erreichte – oder die Frostmarkstraße, sofern sie überhaupt passierbar war – und ihn dann erledigen, wo man ihn nie finden würde? Außerdem sieht mir der Pfeil nicht nach Skali aus. Ich könnte mir vorstellen, daß er Bindesekk vor lauter Wut mit seiner großen Axt in Stücke hackt, aber ihn zu erschießen und dann in den Kynswald zu werfen? Irgendwie paßt das nicht zu ihm.«

»Wer dann?«

Isgrimnur schüttelte den Kopf und spürte endlich seinen Met. »Das ist es, was mir Sorgen macht, Hernystirmann«, antwortete er nach einer Weile. »Ich weiß es einfach nicht. Es gehen eigenartige Dinge vor. Geschichten von Reisenden, Gerüchte in der Burg…«

Eolair trat zur Tür, entriegelte sie und schob sie auf, um frische Luft in den kleinen Raum zu lassen. »Wirklich, es sind seltsame Zeiten, Herzog«, sagte er und holte tief Atem. »Doch nun die vielleicht wichtigste Frage von allen: Wo in all dieser sonderbaren Welt steckt Prinz Josua?«


Simon nahm ein kleines Stückchen Feuerstein und schickte es mit einer Drehbewegung hinaus in die Weite. Es beschrieb einen anmutigen Bogen durch die Morgenluft und landete dann mit gedämpftem Aufprall in einem entlaubten, in Tierform gestutzten Busch unten im Garten. Simon kroch an den Rand des Kapellendachs und nahm die Einschlagstelle wie ein erfahrener Katapultschütze zur Kenntnis, wobei er besonders auf das Beben der Hinterläufe des Hecken-Eichhörnchens achtete. Dann rollte er von der Dachrinne zurück und in den Schatten eines Schornsteins. Er genoß die kühle Festigkeit der Steine unter seinem Rückgrat. Von oben starrte das grelle Auge der Marris-Sonne herunter, die sich ihrem mittäglichen Scheitelpunkt näherte.

Es war ein Tag, an dem man am liebsten aller Verantwortung aus dem Weg ging und sich vor Rachels Aufträgen gleichermaßen drückte wie vor Morgenes' Erläuterungen. Der Doktor hatte Simons mißglückten Vorstoß auf das Gebiet der Kriegskunst bisher nicht entdeckt – oder jedenfalls nicht erwähnt –, und Simon wollte es gern dabei belassen.

Vor ihm dehnte sich das große Kapellendach, ein Feld aus buckligen, unregelmäßigen Schieferplatten, in deren Ritzen dicht geringelte Knäuel aus braunem und fahlgrünem Moos sproßten. Auf wundersame Weise hatte es die Dürre überlebt und klammerte sich jetzt genauso zäh ans Leben, wie es sich an den zerbrochenen Platten festgesetzt hatte. Die Ebene aus Schiefer marschierte vom Dachrinnenrand bergauf bis zur Kuppel der Kapelle, die durch das Dach brach, wie die Schale einer Meeresschildkröte die seichten Wellen einer stillen Bucht durchbricht. Von hier aus gesehen wirkten die farbenprächtigen Glasfenster der Kuppel, die im Inneren der Kapelle in magischen Bildern aus dem Leben der Heiligen leuchteten, dunkel und flach, eine Parade roh gemalter Figuren vor einer eintönig grauen Welt. Am höchsten Punkt der Kuppel hielt ein eiserner Knauf einen goldenen Ädonbaum in die Höhe, aber von Simons Warte aus sah man, daß er lediglich vergoldet war – und das Blattgold schälte sich in schmalen Streifen ab und enthüllte den darunter versteckten Zerfall.

Jenseits der Burgkapelle dehnte sich das Dächermeer in alle Richtungen: die Große Halle, der Thronsaal, die Archive und Dienstbotenunterkünfte, alles schief und krumm, immer wieder ausgebessert oder ersetzt. Die darüberhingehenden Jahreszeiten leckten an grauem Stein und bleierner Schindel und nagten sie schließlich ab. Zu Simons Linker ragte der schlanke, weiße Hochmut des Grünengel-Turms auf. Weiter hinten schaute hinter dem Bogen der Kapellenkuppel die graue, vierschrötige Masse des Hjeldin-Turms hervor wie ein Hund, der dasitzt und Männchen macht.

Als Simon so die Weite der Dächerwelt überblickte, gewahrte er erneut am Rande seines Gesichtsfeldes eine kurze Bewegung. Er fuhr herum und sah, wie in einem Loch am Dachrand das Hinterteil einer kleinen, rußfarbenen Katze verschwand. Er kroch über die Schieferplatten, um nachzuschauen. Als er nahe genug war, um das Loch beobachten zu können, legte er sich wieder auf den Bauch und stützte das Kinn auf die Handrücken. Nichts regte sich mehr.

Eine Katze auf dem Dach, überlegte er. Nun, hier kann außer Fliegen und Tauben ganz gut noch jemand wohnen – wahrscheinlich frißt sie diese herumkratzenden ›Dachratten‹.

Simon, obwohl er bisher nur Schwanz und Hinterbeine des Tieres zu Gesicht bekommen hatte, empfand eine plötzliche Zuneigung zu dieser Dachkatze. So wie er kannte sie die geheimen Gänge, die Ecken und Winkel, und ging überall hin, ohne um Erlaubnis zu fragen. Wie er folgte diese graue Jägerin ihrem Weg ohne Anteilnahme und Wohltätigkeit anderer…

Obwohl Simon wußte, daß dies eine schreckliche Übertreibung seiner Situation war, gefiel ihm der Vergleich recht gut. War er nicht beispielsweise vor vier Tagen, dem Tag nach Elysiameß, unbemerkt auf eben dieses Dach geklettert, um das Antreten der Erkyngarde zu beobachten? Rachel der Drache, ärgerlich darüber, daß er in alles vernarrt war außer in seine Pflichten im Haushalt, den sie als sein wahres – von ihm vernachlässigtes – Reich ansah, hatte ihm vorher verboten, hinunterzugehen und sich unter die Menge am Haupttor zu mischen.

Ruben der Bär, der Burgschmiedemeister, ein Mann mit höckrigen Schultern und gewaltigen Muskeln, hatte Simon erzählt, die Erkyngarde breche nach Falshire auf, zum Ymstrecca-Fluß, östlich von Erchester. Es gebe dort Ärger mit der Wollhändlergilde, hatte Ruben dem Jungen erläutert und ein rotglühendes Hufeisen in einen Wassereimer geworfen. Dann hatte er den aufzischenden Dampf beiseitegewedelt und versucht, die verzwickte Lage zu beschreiben: Anscheinend hatte die Dürre einen derartigen Schaden angerichtet, daß die Schafe der Bauern von Falshire, ihr hauptsächlicher Lebensunterhalt, jetzt von der Krone beschlagnahmt werden mußten, um die verhungernden, obdachlosen Massen zu ernähren, die nach Erchester strömten. Die Wollhändler jammerten, daß sie dadurch ruiniert und ebenfalls in den Hungertod getrieben würden, zogen in den Straßen umher und hetzten die Einwohner gegen den unliebsamen Erlaß des Königs auf.

Und so war Simon am letzten Tiastag heimlich auf das Kapellendach geklettert, um die Erkyngarde davonreiten zu sehen, mehrere Hundert wohlbewaffnete Soldaten und ein Dutzend Ritter unter dem Befehl Fengbalds, dessen Lehen Falshire war. Als der Graf an der Spitze der Garde auszog, prachtvoll anzusehen in seinem roten Wams mit silbergesticktem Adler, bemerkten ein paar von den Abgebrühteren in der Zuschauermenge, daß er offenbar deshalb so viele Soldaten mitnehme, weil er fürchte, seine Untertanen in Falshire würden ihn nicht wiedererkennen, so lange sei er nicht mehr dort gewesen. Andere meinten, er habe eher Angst, daß sie ihn erkennen könnten – Fengbald hatte sich nicht gerade unermüdlich für die Interessen seines Erblehens eingesetzt.

Simon erinnerte sich mit Wärme an Fengbalds eindrucksvollen Helm, eine Sturmhaube aus glänzendem Silber mit einem ausgebreiteten Schwingenpaar darauf.

Rachel und die anderen haben recht, schoß es ihm plötzlich durch den Kopf. Da sitze ich und träume schon wieder vor mich hin. Fengbald und seine adligen Freunde werden nie auch nur erfahren, daß ich am Leben bin. Ich muß etwas aus mir machen. Schließlich will ich ja nicht ewig ein Kind bleiben, oder? Er kratzte mit einem Kieselstein auf einer Schieferplatte herum und versuchte einen Adler zu zeichnen. Außerdem würde ich in einer Rüstung bestimmt albern aussehen … oder?

Die Erinnerung an die Soldaten der Erkyngarde, die so stolz zum großen Nerulagh-Tor hinausmarschierten, berührte ihn an einem wunden Punkt, wärmte ihm aber doch zugleich das Herz; träge stieß er die Füße von sich und beobachtete die Katzenhöhle, auf ein Zeichen ihrer Bewohnerin hoffend.


Es war eine Stunde nach Mittag, als vorn im Loch eine mißtrauische Nase auftauchte. Simon ritt gerade auf einem Hengst durch die Tore von Falshire, aus allen Fenstern mit Blumen überschüttet. Von der plötzlichen Bewegung wieder aufs Dach zurückgeholt, hielt er den Atem an, als der Rest des Tieres der Nase folgte: eine kleine, kurzhaarige Graue mit einem weißen Fleck vom rechten Auge bis zum Kinn. Der Junge rührte sich nicht, als die Katze, kaum einen halben Faden von ihm entfernt, jäh über irgend etwas erschrak und einen Buckel und schmale Augen bekam. Simon fürchtete, sie hätte ihn bemerkt, aber als er weiter unbeweglich ausharrte, kam sie plötzlich heraus, sprang aus dem Schatten der aufgebogenen Dachkante in den breiten Gang der Sonnenbahn. Entzückt schaute Simon zu, wie das graue Kätzchen einen losen Kiesel fand und ihn flach über die Dachplatten hüpfen ließ, um ihn dann mit geschickter Pfote einzufangen und das Spiel von neuem zu beginnen.

Eine ganze Weile sah er den Possen der Dachkatze zu, bis ein besonders komischer Sturz auf das Katzenhinterteil – das Kätzchen war mit beiden Pfoten über ein Stück Schiefer gerutscht und zum Stehen gekommen, indem es kopfüber in einen Spalt zwischen den Dachplatten gepurzelt war, wo es nun lag und erbost mit dem Schwanz wackelte – ihn dazu brachte, sich zu verraten. Lang unterdrücktes, prustendes Gelächter brach sich Bahn; das Tierchen machte einen Luftsprung, überschlug sich, landete und stürzte zurück in sein Loch, ohne mehr als einen kurzen Blick in Simons Richtung zu werfen. Dieser hastige Abgang ließ den Jungen in einen neuen Lachkrampf verfallen.

»Mach Platz, Katz!« rief er der Verschwundenen zu. »Platz, du Katz! Ratzenkatz!«

Als er auf den Eingang des Loches zukroch, um der Grauen ein kleines Liedchen über Dächer, Steine und Einsamkeit, die sie miteinander geteilt hatten, vorzusingen (irgendwie war er ganz sicher, daß sie ihm zuhören würde), fiel Simon etwas anderes ins Auge. Er hielt sich mit der Hand an der Dachkante fest und reckte den Kopf, um genauer hinzusehen. Ein aufkommender Wind zeichnete ihm feine Muster ins Haar.

Drüben im Südosten, weit jenseits der Grenzen von Erchester und den Vorgebirgen über dem Kynslagh, zog sich eine schmierig-dunkelgraue Spur über den klaren Marrishimmel, als fahre man mit einem schmutzigen Daumen über eine frischgestrichene Wand. Hoch im Hinschauen zerfetzte der Wind den dunklen Streifen, aber nun stiegen von unten große, dunkle Wolken auf, eine wirbelnde Finsternis, so dicht, daß kein Wind sie auseinandertreiben konnte. Am östlichen Horizont türmte sich eine schwarze Wolke.

Es dauerte einen langen, ratlosen Augenblick, bevor Simon begriff, daß es Rauch war, was er da sah, ein dichtes Rauchgewölk, das den blassen, reinen Himmel beschmutzte.

Falshire brannte.

X König Schierling

Zwei Tage später, am Morgen des letzten Marristages, wollte Simon gerade mit den anderen Küchenjungen zum Frühstück gehen, als ihn eine schwere, schwarze Hand auf seiner Schulter jäh anhalten ließ. Einen unwirklichen, schrecklichen Augenblick lang fand er sich in seinen Thronsaaltraum zurückversetzt, in den schwerfälligen Tanz der Malachitkönige.

Dann aber zeigte sich, daß die Hand einen rissigen, fingerlosen schwarzen Handschuh trug. Auch ihr Besitzer bestand nicht aus dunklem Stein – obwohl es Simon, der verblüfft in das Gesicht von Inch starrte, vorkam, als hätte Gott bei der Erschaffung des Menschen Inch nicht darauf geachtet, genügend Lebensmaterial bereitzuhalten, so daß dieses in letzter Minute durch etwas Lebloses, Unbewegliches hatte ersetzt werden müssen.

Inch beugte sich hinunter, bis sein bärtiges Gesicht ganz nahe vor Simons Nase war; selbst sein Atem schien eher nach Stein zu riechen als nach Wein oder Zwiebeln oder anderen gewöhnlichen Dingen.

»Doktor will dich sehen.« Er rollte die Augen von einer Seite zur ändern. »Sofort, ungefähr.«

Die anderen Küchenjungen warfen neugierige Blicke auf Simon und den massigen Inch, liefen aber ohne Halt weiter. Simon versuchte sich unter der schweren Hand hervorzuwinden und sah verzweifelt zu, wie die anderen verschwanden.

»Also gut. Ich bin gleich da«, antwortete er, wand sich noch einmal und kam frei. »Ich hole mir nur schnell einen Kanten Brot, den ich unterwegs essen kann.« Er trabte den Gang zum Eßraum der Dienstboten hinunter. Als er einen verstohlenen Blick zurückwarf, stand Inch immer noch an derselben Stelle und verfolgte seinen Rückzug mit den ruhigen Augen eines Stiers auf der Wiese.

Als Simon bald darauf mit einem Brotranken und einem keilförmigen Stück leckeren weißen Käses zurückkam, bemerkte er zu seinem Kummer, daß Inch auf ihn gewartet hatte. Unaufgefordert marschierte er auf dem Weg zu Morgenes' Wohnung neben ihm her. Simon bot ihm etwas zu essen an und gab sich Mühe, ihm dabei zuzulächeln, aber Inch glotzte nur gleichgültig und gab keine Antwort.

Als sie über den von ausgetrockneten Wagenspuren durchzogenen offenen Platz des Mittleren Zwingers kamen und sich durch die Herde von Schreibpriestern schlängelten, die sich auf ihrer täglichen Pilgerfahrt zwischen der Staatskanzlei und der Halle der Archive befand, räusperte sich Inch, als wollte er etwas sagen. Simon, der sich in seiner Gegenwart derart unwohl fühlte, daß ihn selbst Schweigen nervös machte, sah erwartungsvoll auf.

»Warum…«, begann Inch endlich, »… warum nimmst du mir meinen Platz weg?« Er wandte seine wächsernen Augen nicht von dem mit Priestern verstopften Pfad vor ihnen ab.

Jetzt war es Simons Herz, das die Eigenschatten von Stein annahm: kalt, schwer und lastend. Dieses Ackertier, das sich für einen Menschen hielt, tat ihm leid, aber er hatte zugleich auch Angst vor ihm.

»Ich … ich habe dir doch deinen Platz nicht weggenommen.« Sogar in seinen eigenen Ohren hatten die abwehrenden Worte einen falschen Klang. »Läßt dich der Doktor nicht weiterhin kommen und sich von dir beim Tragen und Aufbauen von Sachen helfen? Mir bringt er etwas anderes bei, ganz andere Dinge.«

Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Endlich kam Morgenes' Wohnung in Sicht, in den alles überwuchernden Efeu geduckt wie das Nest eines kleinen, aber einfallsreichen Tieres. Als sie vielleicht noch zehn Schritte davon entfernt waren, packte Inchs Hand Simons Schulter ein zweites Mal.

»Bevor du kamst«, sagte Inch, und sein breites, rundes Gesicht bewegte sich zu Simon hinunter wie ein Korb, den man von oben aus dem Fenster läßt, »… bevor du kamst, war ich sein Gehilfe. Ich sollte der nächste sein.« Er zog die Stirn in Falten, schob die Unterlippe vor und runzelte den durchgehenden Balken seiner Augenbrauen zu einem steileren Winkel. Seine Augen waren noch immer mild und traurig. »Doktor Inch, das wäre ich geworden.« Er richtete den Blick auf Simon, der halb und halb fürchtete, das Gewicht der Tatze auf seinem Schlüsselbein werde ihn zusammenbrechen lassen. »Ich mag dich nicht, Küchenjunge.«

Inch ließ ihn los und schlurfte davon. Über der Bergkette seiner gebeugten Schultern war der Hinterkopf fast nicht sichtbar. Simon rieb sich den Nacken. Ihm war ein wenig übel.


Morgenes schob gerade ein Trio junger Priester aus seiner Wohnung. Sie waren auffallend – und nach Simons Ansicht einigermaßen ungehörig – betrunken.

»Sie kamen wegen meines Beitrages zum Allernarrenfest«, erläuterte Morgenes, als er die Tür hinter dem Dreigespann schloß, das bereits in unzusammenhängenden Gesang ausgebrochen war.

»Halt mir die Leiter, Simon.«

Auf der obersten Stufe der Leiter balancierte ein Eimer mit roter Farbe. Als der Doktor ihn erreicht hatte, holte er einen Pinsel heraus, der hineingefallen war, und begann sonderbare Zeichen über den Türrahmen zu malen – eckige Symbole, jedes einzelne ein winziges, rätselhaftes Bild. Für Simons Augen sahen sie ein wenig wie die uralte Schrift in einigen von Morgenes' Büchern aus.

»Wozu dient das?« fragte er. Der wild vor sich hin malende Doktor antwortete nicht. Simon nahm die Hand von der Sprosse, um sich am Knöchel zu kratzen, worauf die Leiter sofort drohend zu schwanken begann. Morgenes mußte sich am Türsturz festhalten, um nicht umzukippen.

»Nein, nein, nein!« bellte er und versuchte mühsam, Ebbe und Flut der Farbe daran zu hindern, über den Eimerrand zu schwappen. »Du solltest es besser wissen, Simon. Die Regel lautet: Alle Fragen nur schriftlich! Aber warte, bis ich wieder unten bin – wenn ich abstürze und sterbe, ist keiner mehr da, der dir Antwort gibt.« Morgenes machte sich wieder ans Malen und murmelte dabei leise vor sich hin.

»Entschuldigung, Doktor«, meinte Simon ein wenig ärgerlich, »ich hatte es nur vergessen.«

Einige Minuten vergingen ohne ein anderes Geräusch als das des schnurrenden Streichens von Morgenes' Pinsel.

»Werde ich meine Fragen immer aufschreiben müssen? Ich werde es nie schaffen, so schnell zu schreiben, wie mir Dinge einfallen, über die ich etwas wissen möchte.«

»Das«, erwiderte Morgenes und schielte auf seinen letzten Pinselstrich, »war die Grundidee für diese Vorschrift. Du, Junge, erfindest Fragen, wie Gott Fliegen und arme Leute erschafft – in Schwärmen. Ich bin ein alter Mann und möchte meine Geschwindigkeit lieber selbst bestimmen.«

»Aber«, in Simons Stimme mischte sich Verzweiflung, »dann schreibe ich ja für den Rest meiner Tage!«

»Ich kann mir manche wesentlich weniger wertvolle Beschäftigung vorstellen, mit der du dein Dasein zubringen könntest«, bemerkte Morgenes und krabbelte die Leiter hinunter. Dann drehte er sich um und studierte den Gesamteindruck – einen Bogen aus seltsamen Buchstaben, der sich über dem gesamten Türrahmen ausdehnte. »Zum Beispiel«, fuhr er fort und warf Simon einen scharfen, wissenden Blick zu, »könntest du einen Brief fälschen, um dich Breyugars Wachsoldaten anzuschließen, und dir dann die Zeit damit vertreiben, daß Männer mit Schwertern kleine Stückchen von dir herunterhacken.«

O nein, dachte Simon, erwischt wie eine Ratte in der Falle.

»Das heißt … Ihr habt davon gehört?« fragte er nach einer Weile. Der Doktor nickte, immer noch das verkniffene, zornige Lächeln im Gesicht.

Usires steh mir bei, was er für Augen hat – wie Nadeln! Simon schauderte. Der Blick des Doktors war schlimmer als Rachels Drachenstimme.

Der Doktor beobachtete ihn immer noch. Simon schlug die Augen nieder und brachte es dann endlich heraus, mit einer mürrischen Stimme, die um Jahre jünger klang, als er es gern gewollt hätte:

»Tut mir leid.«

Der Doktor, als hätte man eine Schnur durchschnitten, die ihn fesselte, begann im Zimmer auf und ab zu gehen. »Wenn ich auch nur die geringste Idee gehabt hätte, wozu du diesen Brief benutzen wolltest…«, wütete er. »Was hast du dir bloß dabei gedacht? Und warum, warum mußtest du mir etwas vorlügen?«

Irgendwo im tiefsten Innern freute sich ein Stück von Simon, daß der Doktor sich so aufregte – ein Teil seines Wesens, der es genoß, daß man ihn beachtete. Ein anderer Teil dagegen schämte sich. Und wieder an einer anderen Stelle seines Innenlebens – wie viele Simons gab es dort eigentlich? – saß ein gelassener, interessierter Beobachter, der abwartete, welcher Teil für alle sprechen würde.

Morgenes' Hin- und Herlaufen machte Simon langsam nervös.

»Außerdem«, rief er dem alten Mann zu, »was kümmert es Euch? Es ist mein Leben, oder nicht? Ein blödes Küchenjungenleben! Und sie wollten mich ohnehin nicht haben…«, schloß er undeutlich.

»Und dafür solltest du dankbar sein!« fuhr Morgenes ihn an. »Dankbar, daß sie dich nicht genommen haben. Was ist es denn für ein Leben? In Friedenszeiten in der Kaserne herumhocken und mit unwissenden Tölpeln Würfel spielen; im Krieg zerhackt, von Pfeilen durchbohrt und von Hengsten zertrampelt werden. Du weißt es nicht, du dummer Junge – ein einfacher Fußsoldat zu sein, wenn alle diese hochfahrenden, bauernschindenden Ritter auf dem Schlachtfeld herumtoben, ist nicht besser als bei den Liebfrauentagsspielen den Federball zu machen.« Er machte jäh kehrt und sah Simon ins Gesicht. »Weißt du, was Fengbald und seine Ritter in Falshire getan haben?«

Der Junge antwortete nicht.

»Den ganzen Wollbezirk angesteckt, das haben sie getan! Frauen und Kinder mit den anderen verbrannt, nur weil sie ihre Schafe nicht hergeben wollten. Fengbald ließ die Schafwaschfässer mit heißem Öl füllen und die Anführer der Wollhändlergilde darin zu Tode sieden. Sechshundert von Graf Fengbalds eigenen Untertanen abgeschlachtet, und er marschierte mit seinen Männern singend zur Burg zurück! Und dieser Gesellschaft willst du dich anschließen…«

Simon war jetzt ernstlich erbost. Er fühlte sein Gesicht heiß werden und hatte schreckliche Angst, in Tränen auszubrechen. Der leidenschaftslose Beobachter-Simon war völlig verschwunden. »Na und?« schrie er. »Und wen interessiert das?« Morgenes' sichtliches Erstaunen über den ungewöhnlichen Ausbruch machte ihn noch elender.

»Was soll denn aus mir werden?« fragte er und schlug in ohnmächtiger Wut gegen die Wand. »Es gibt keinen Ruhm in der Spülküche, keinen Ruhm unter den Mägden und keinen Ruhm hier in einem dunklen Zimmer voller … dummer Bücher!«

Die betroffene Miene des alten Mannes sprengte endlich die allzu sehr beanspruchten Deiche; weinend floh Simon ans entgegengesetzte Ende des Zimmers und kauerte sich dort schluchzend auf der Seekiste zusammen, das Gesicht an die kalte Steinwand gepreßt. Irgendwo draußen sangen die drei jungen Priester in zerstreuter, betrunkener Harmonie ihre Hymnen.

Sogleich war der Doktor an Simons Seite und strich dem jungen Mann mit ungeschickter Hand über die Schulter.

»Nun, nun, Junge, nun, nun«, sagte er verwirrt, »was soll dieses Gerede von Ruhm? Hat dich diese Krankheit auch angesteckt? Ein verfluchter blinder Bettler muß ich gewesen sein – ich hätte es sehen sollen. Selbst in dein einfältiges Herz hat das Fieber sich gefressen, ja, Simon? Es tut mir so leid. Man braucht einen starken Willen oder ein geübtes Auge, um durch den Flitter den faulen Kern zu erkennen.«

Simon hatte keine Ahnung, wovon der Doktor redete, aber der Ton von Morgenes' Stimme wirkte besänftigend. Gegen seinen Willen spürte er, wie sein Zorn schwand – aber das darauf folgende Gefühl, das ihm als Schwäche erschien, veranlaßte ihn, sich aufzusetzen und die Hand des Doktors abzuschütteln. Er wischte sich mit dem rauhen Wamsärmel das feuchte Gesicht ab.

»Ich weiß nicht, warum es Euch leid tut, Doktor«, meinte er und versuchte, seine Stimme nicht zittern zu lassen. »Mir tut es leid … weil ich mich wie ein Kind benommen habe.« Er stand auf, und die Blicke des kleinen Mannes folgten ihm, als er den Raum durchquerte und an den langen Tisch trat. Dort blieb er stehen und fuhr mit dem Finger über das Durcheinander offener Bücher. »Ich habe Euch belogen und mich selbst zum Narren gemacht«, sagte er, sah dabei aber nicht auf. »Bitte vergebt die Torheit eines Küchenjungen, Doktor, eines Küchenjungen, der glaubte, er könnte mehr sein.«

Im Schweigen, das diesen tapferen Worten folgte, hörte Simon, wie Morgenes einen wunderlichen Laut von sich gab – weinte er etwa? Aber gleich darauf zeigte es sich nur zu deutlich: Morgenes gluckste vor sich hin – nein, er lachte und versuchte, es hinter seinem wallenden Ärmel zu ersticken.

Simon schoß mit glühroten Ohren herum. Sekundenlang fing Morgenes seinen Blick auf, dann sah er zur Seite. Seine Schultern zuckten.

»Ach, Junge … ach, Junge«, schnaufte er endlich und streckte dem empörten Simon eine beruhigende Hand entgegen, »lauf nicht weg! Ärgere dich nicht. Du wärst verschwendet auf dem Schlachtfeld! Ein großer Herr solltest du sein und deine Siege am Verhandlungstisch erzielen, weil die bei weitem wichtiger sind als Siege auf dem Schlachtfeld; oder ein Escritor der Kirche, der den Reichen und Lasterhaften ihre unsterblichen Seelen abschmeichelt.« Wieder kicherte Morgenes und kaute dann auf seinem Bart herum, bis der Anfall vorüber war.

Simon stand da wie aus Stein, mit finsterem Gesicht, und wußte nicht, ob man ihm ein Kompliment machte oder ihn beleidigte. Nach und nach gewann der Doktor die Beherrschung zurück, sprang auf und trat zum Bierfaß. Ein tiefer Zug beschloß den Vorgang der Beruhigung, dann wandte sich Morgenes wieder dem Jungen zu und lächelte.

»Ach, Simon, Gott segne dich! Laß dich vom Scheppern und Prahlen von König Elias' Kumpanen und Banditen nicht so beeindrucken. Du hast einen scharfen Verstand – nun ja, wenigstens manchmal – und Gaben, von denen du selbst noch nichts weißt. Lern von mir, was du kannst, junger Falke, von mir und von den anderen, die du findest, die dich auch etwas lehren können. Wer weiß, wie dein Schicksal noch aussehen wird? Es gibt viele Arten von Ruhm.« Er kippte das Faß und nahm einen weiteren schaumigen Schluck.

Simon musterte Morgenes sekundenlang sorgfältig, um sicherzugehen, daß diese letzten Worte nicht schon wieder eine Neckerei darstellten, und gestattete sich dann endlich ein schüchternes Grinsen. Er hörte es gern, wenn man ihn »junger Falke« nannte.

»Also gut. Und es tut mir wirklich leid, daß ich Euch belogen habe. Aber wenn ich einen scharfen Verstand habe, warum zeigt Ihr mir dann nie etwas Wichtiges?«

»Zum Beispiel?« erkundigte sich Morgenes, und sein Lächeln schwand.

»Ach, ich weiß nicht. Magie oder so etwas.«

»Magie!« zischte Morgenes. »Ist das alles, was du im Kopf hast, Junge? Hältst du mich für irgendeinen Wanderzauberer, einen billigen Hofbeschwörer, der dir irgendwelche Tricks vorführt?« Simon sagte nichts. »Ich bin immer noch wütend auf dich, weil du mich angeschwindelt hast«, ergänzte der Doktor. »Wieso sollte ich dich belohnen?«

»Ich verrichte jede Arbeit, die Ihr wünscht, zu jeder Stunde«, erklärte Simon. »Ich wasche sogar die Decke ab.«

»Komm, komm«, versetzte Morgenes, »ich lasse mich nicht erpressen. Und ich sage dir noch etwas, Junge: Gib diese schreckliche Vernarrtheit in die Magie auf, und ich werde dir einen ganzen Monat lang alle anderen Fragen beantworten, ohne daß du eine einzige aufschreiben mußt! Was hältst du davon, he?«

Simon machte schmale Augen, sagte aber nichts.

»Das reicht nicht?! Nun gut, ich erlaube dir, mein Manuskript über das Leben von Johan dem Priester zu lesen«, bot der Doktor an. »Ich erinnere mich, daß du mich ein paarmal danach gefragt hast.«

Simon kniff die Augen noch enger zusammen. »Wenn Ihr mich Magie lehrt«, machte er sein Gegenangebot, »bringe ich euch jede Woche eine von Judiths Pasteten und ein Faß Stanshire-Dunkelbier aus der Vorratskammer.«

»Aha!« bellte Morgenes triumphierend. »Siehst du! Siehst du, Junge? Du glaubst so fest daran, daß dir magische Kunststücke Macht und Glück bringen könnten, daß du sogar bereit bist zu stehlen, nur um mich zu bestechen, damit ich dich unterrichte! Nein, Simon, in dieser Sache gibt es kein Handeln.«

Simon war schon wieder zornig, aber er holte tief Luft und zwickte sich in den Arm.

»Warum seid Ihr so strikt dagegen, Doktor?« fragte er schließlich, als er sich etwas beruhigt hatte. »Weil ich ein Küchenjunge bin?«

Morgenes lächelte. »Auch wenn du noch in der Spülküche arbeitest, Simon, bist du trotzdem kein Küchenjunge mehr. Du bist mein Lehrling. Nein, es fehlt dir an nichts – außer an Alter und Reife. Du begreifst einfach noch nicht, worum du bittest.«

Simon ließ sich auf einen Schemel fallen. »Ich verstehe es nicht«, murmelte er.

»Genau.« Morgenes kippte einen weiteren Schluck Bier. »Was du ›Magie‹ nennst, ist in Wirklichkeit nur das Zusammenwirken natürlicher Gegebenheiten, elementarer Kräfte, ganz ähnlich wie Feuer und Wind. Sie gehorchen Naturgesetzen – aber diese Gesetze sind sehr schwer zu lernen und zu begreifen. Manche wird man vielleicht nie verstehen.«

»Aber warum lehrt Ihr mich diese Gesetze nicht?«

»Weil ich auch einem Kleinkind, das auf einem Strohhaufen sitzt, keine brennende Fackel in die Hand geben würde. Das Kleinkind, und das soll keine Kränkung sein, Simon, ist auf diese Verantwortung nicht vorbereitet. Nur wer viele Jahre andere Dinge und Wissensgebiete studiert hat, kann anfangen, die Kunst zu meistern, die einen solchen Reiz auf dich ausübt. Aber selbst dann ist man nicht unbedingt dafür geeignet, mit ihrer Macht umzugehen.« Wieder trank der Alte, wischte sich den Mund ab und lächelte. »Die meisten von uns sind erst dann imstande, von der Kunst Gebrauch zu machen, wenn sie alt genug sind, es besser zu wissen. Für die Jungen ist es zu gefährlich, Simon.«

»Aber…«

»Wenn du jetzt sagst, ›aber Pryrates‹, gebe ich dir einen Tritt«, erklärte Morgenes. »Ich habe dir schon einmal gesagt, daß er ein Wahnsinniger ist – oder doch beinahe. Er sieht nur die Macht, die man mit Hilfe der Kunst gewinnen kann, und achtet nicht auf die Folgen. Frag mich nach den Folgen, Simon.«

Stumpfsinnig erkundigte sich Simon: »Und was ist mit den Fol–«

»Man kann keine Kraft in Gang setzen, ohne dafür zu bezahlen, Simon. Wenn du eine Pastete stiehlst, geht jemand anderes leer aus. Wenn du ein Pferd zu schnell reitest, stirbt das Tier. Wenn du die Kunst dazu verwendest, Türen zu öffnen, hast du in der Auswahl deiner Hausgäste wenig Freiheit.«

Enttäuscht sah Simon sich in dem staubigen Zimmer um. »Warum habt Ihr diese Zeichen über Eure Tür gemalt, Doktor?« fragte er nach einer Weile.

»Damit die Hausgäste eines anderen nicht zu mir kommen.« Morgenes bückte sich, um den Humpen abzustellen. Dabei glitt etwas Goldenes und Glänzendes aus dem Kragen seines grauen Gewandes und fiel nach unten, wo es – an einer Kette pendelnd – baumelte. Der Doktor schien es nicht zu bemerken. »Ich sollte dich jetzt zurückschicken. Aber erinnere dich an diese Lektion, Simon, eine Lektion für Könige … oder ihre Söhne. Nichts ist umsonst! Jede Macht hat ihren Preis, und nicht immer erkennt man ihn sofort. Versprich mir, daß du das nicht vergißt.«

»Ich verspreche es, Doktor.« Simon, der die Wirkung des Weinens und Geschreis von vorhin zu fühlen begann, war es schwindlig wie nach einem Wettlauf. »Was ist das?« fragte er und beugte sich vor, um den goldenen, hin- und herpendelnden Gegenstand zu betrachten. Morgenes legte ihn auf seine Handfläche und ließ Simon einen kurzen Blick darauf tun.

»Es ist eine Feder«, erklärte er knapp. Als er das glänzende Ding wieder in sein Gewand versenkte, sah Simon, daß das Kielende der Goldfeder an einer Schriftrolle aus perlweißem Stein befestigt war. »Eine Feder zum Schreiben«, sagte er verwundert, »ein Federkiel, nicht wahr?«

»Also gut, eine Schreibfeder«, knurrte Morgenes. »Wenn du nichts Besseres zu tun hast, als mich über meinen Schmuck auszufragen, dann troll dich! Und vergiß dein Versprechen nicht. Denk daran!«


Als Simon durch die heckengesäumten Hofgärten nach den Dienstbotenquartieren zurückwanderte, grübelte er über die Ereignisse dieses seltsamen Vormittags nach. Der Doktor hatte die Sache mit dem Brief herausgefunden, ihn aber weder bestraft noch endgültig hinausgeworfen. Zugleich hatte er es aber abgelehnt, Simon etwas über Magie beizubringen. Und warum hatte seine Bemerkung über den Federkielanhänger den alten Mann so gereizt?

Nachdenklich zupfte Simon an den dürren, knospenlosen Rosenbüschen und stach sich an einem versteckten Dorn in den Finger. Fluchend hielt er die Hand in die Höhe. Das helle Blut an seiner Fingerspitze war wie eine rote Kugel, eine einzige scharlachrote Perle. Er steckte den Finger in den Mund und schmeckte Salz.


In der dunkelsten Stunde der Nacht, am äußersten Horn des Allernarrentages, hallte ein furchtbarer Donnerschlag durch den Hochhorst. Er schüttelte die Schläfer in den Betten wach und erzeugte in den dunklen Glockentrauben des Grünengel-Turms einen langen, mitfühlenden Ton.

Ein paar junge Priester, die in dieser einzigen Nacht des Jahres, in der sie Freiheit genossen, das Mitternachtsgebet fröhlich beiseite gelassen hatten, warf es von den Schemeln, auf denen sie gesessen, Wein in sich hineingeschüttet und Bischof Domitis verunglimpft hatten. Die Kraft des Schlages war so gewaltig, daß selbst die Betrunkenen die Woge des Grauens fühlten, die sie überschwemmte, als hätten sie an einer versunkenen Stelle ihres tiefsten Inneren schon immer gewußt, daß Gott eines Tages seinen Unwillen kundtun würde.

Aber als die zerzauste, erschreckte Truppe sich im Hof zusammendrängte, um zu sehen, was sich ereignet hatte, geschorene Meßdienerköpfe im seidigen Mondlicht wie bleiche Pilze, da fanden sie keine Zeichen des Weltunterganges, mit dem sie alle gerechnet hatten. Abgesehen von ein paar Gesichtern, die anderen, durch den Schlag aufgeschreckten Burgbewohnern gehörten, die neugierig aus den Fenstern spähten, war die Nacht ungetrübt und klar.


In seinem schmalen Bett hinter dem Vorhang, seinem Nest inmitten der so sorgsam gehorteten Schätze, träumte Simon. Im Traum kletterte er auf eine Säule aus schwarzem Eis, jeder mühevolle Zollbreit aufwärts zunichte gemacht von einem fast gleich weiten Hinunterrutschen. Mit den Zähnen hielt er ein Pergament fest, irgendeine Botschaft. Ganz oben in der kalt brennenden Säule befand sich eine Tür, und im Türrahmen kauerte etwas Dunkles, das auf ihn wartete … auf die Botschaft wartete.

Als er endlich die Schwelle erreicht hatte, schoß schlangenartig eine Hand hervor und riß das Pergament mit tintiger, dunstiger Faust an sich. Simon versuchte zurückzugleiten, sich nach hinten fallen zu lassen, aber aus der Tür schoß eine zweite Klaue und packte sein Handgelenk. Er wurde hochgezerrt, auf ein Paar Augen zu, die rotglühend waren wie zwei purpurgrelle Löcher im Bauch eines schwarzen Höllenofens…

Nach Atem ringend, erwachte er vom Schlaf und vernahm die mürrischen Stimmen der Glocken, die stöhnend ihrem Mißvergnügen Ausdruck gaben und dann wieder in kalten, brütenden Schlummer sanken.

Nur ein Mensch in der ganzen großen Burg behauptete, etwas gesehen zu haben: Caleb der Pferdejunge, Shems Gehilfe, der ein wenig langsam von Verstand war. Er war schrecklich aufgeregt gewesen und hatte die ganze Nacht nicht schlafen können. Am nächsten Morgen sollte er zum Narrenkönig gekrönt und auf den Schultern der jungen Priester getragen werden, die mit ihm durch die Burg marschieren, unzüchtige Lieder singen und mit Hafer und Blütenblättern werfen würden. Danach sollten sie ihn in den Speisesaal bringen, wo er von seinem falschen Thron aus dem Schilf des Gleniwentflusses dem Allernarrenbankett Vorsitzen würde.

Der Pferdebursche erzählte jedem, der ihm zuhören wollte, er hätte nicht nur das große Brüllen vernommen, sondern auch Worte gehört, eine dröhnende Stimme, in einer Sprache, von der Caleb nur sagen konnte, daß sie »böse« war. Er schien sich auch einzubilden, daß er gesehen hätte, wie eine riesige feurige Schlange aus dem Fenster des Hjeldin-Turms herausgesprungen war und sich in flammenden Windungen um den Turm gelegt hatte, um dann schließlich in einem Funkenregen zu vergehen.

Niemand achtete weiter auf Calebs Geschichte – nicht ohne Grund hatte man den einfältigen Jungen zum Narrenkönig gewählt. Außerdem brachte die Morgendämmerung dem Hochhorst etwas, das jeden nächtlichen Donner und sogar die schönen Aussichten des Narrentages in den Hintergrund treten ließ. Das Tageslicht machte eine Wolkenbank sichtbar, die sich am nördlichen Horizont duckte wie eine Herde fetter, grauer Schafe – Regenwolken.


»Bei Drors blutrotem Hammer, Uduns schrecklichem Einauge und … und … und bei unserm Herrn Usires! Es muß etwas geschehen!«

Herzog Isgrimnur, der vor Zorn schier seine ganze ädonitische Frömmigkeit vergaß, schlug mit der narbigen, pelzknochligen Pranke so hart auf die Große Tafel, daß noch sechs Fuß weiter unten das Geschirr einen Satz machte. Sein breiter Körper schwankte wie ein überladenes Schiff im Sturm, als er vom einen Ende der Tafel zum anderen blickte und dann die Faust noch einmal niedersausen ließ. Ein Pokal schwankte kurz hin und her und ergab sich dann der Schwerkraft.

»Es müssen Maßnahmen ergriffen werden, Majestät!« brüllte Isgrimnur und zupfte wütend an seinem gürtellangen Bart. »Die Frostmark ist in einem Zustand verdammter Anarchie! Während ich mit meinen Männern hier herumhocke wie Astknorren an einem Stamm, ist die Frostmarkstraße zum Schleichweg für Räuber geworden. Und ich habe seit über zwei Monaten keine Nachricht aus Elvritshalla!« Der Herzog stieß einen so gewaltigen Atemzug aus, daß sein Schnurrbart flatterte. »Mein Sohn ist in furchtbarer Bedrängnis, und ich kann nichts tun! Wo bleiben Schutz und Sicherheit des Hochkönigs, Herr?«

Rot wie eine Rübe ließ sich der Rimmersmann in seinen Stuhl zurückfallen. Elias hob lässig eine Braue und warf einen Blick auf die anderen Ritter, die rund um den Tisch verstreut saßen und an Zahl von den leeren Stühlen zwischen ihnen weit übertroffen wurden. Die Fackeln in den Halterungen warfen lange, flackernde Schatten auf die hohen Wandteppiche.

»Nun – nachdem unser bejahrter, doch ehrenwerter Herzog seine Meinung kundgetan hat – möchte sich noch jemand seinem Vorbringen anschließen?« Elias spielte mit seinem Goldpokal, den er über die halbmondförmigen Narben im Eichenholz scharren ließ. »Ist noch jemand hier, der das Gefühl hat, der Hochkönig von Osten Ard lasse seine Untertanen im Stich?« Guthwulf, zur Rechten des Königs, grinste hämisch.

Isgrimnur, zutiefst erbost, wollte erneut aufstehen, aber Eolair legte dem alten Herzog beschwichtigend die Hand auf den Arm.

»Majestät«, begann Eolair, »weder Isgrimnur noch einer der anderen, die hier gesprochen haben, klagen Euch in irgendeiner Weise an.« Der Hernystir-Mann legte die Handflächen flach auf den Tisch. »Was wir sagen wollen, ist lediglich, daß wir Euch bitten – Euch anflehen, Herr –, Euch stärker mit den Schwierigkeiten derjenigen Eurer Untertanen zu beschäftigen, die außerhalb Eures Gesichtskreises hier auf dem Hochhorst leben.« Eolair, dem seine eigenen Worte zu hart erscheinen mochten, zauberte ein Lächeln auf seine beweglichen Züge. »Es gibt diese Schwierigkeiten nun einmal«, fuhr er fort. »Überall im Norden und Westen herrscht Gesetzlosigkeit. Hungerleidende Männer schrecken vor fast nichts zurück, und die eben erst zu Ende gegangene Dürre hat die Menschen von ihrer schlimmsten Seite gezeigt … alle Menschen.«

Elias starrte Eolair, als dieser ausgeredet hatte, wortlos an. Isgrimnur konnte nicht umhin zu bemerken, wie blaß der König aussah. Es erinnerte ihn an die Zeit auf den Südlichen Inseln, als er Elias' Vater Johan während eines Fieberanfalls gepflegt hatte.

Dieses helle Auge, dachte er, diese Raubvogelnase. Seltsam, wie diese kleinen Dinge, dieser kurze Gesichtsausdruck, diese Erinnerungen sich von Generation zu Generation vererben, lange nachdem der einzelne Mensch und sein Werk vergangen sind.

Isgrimnur dachte an Miriamel, Elias' hübsches, melancholisches Kind. Er fragte sich, welche Erblast von ihrem Vater sie wohl mit sich schleppte und welche so ganz anderen Abbilder ihrer schönen, vom Unglück verfolgten Mutter, die nun schon zehn Jahre tot war – oder waren es zwölf?

Gegenüber am Tisch schüttelte Elias langsam den Kopf, als erwache er aus einem Traum oder versuche, die Weindünste aus seinem Hirn zu vertreiben. Isgrimnur sah, wie Pryrates, der links neben dem König saß, schnell seine Hand aus Elias' Ärmel zurückzog. Es war etwas Widerwärtiges an dem Priester, dachte Isgrimnur nicht zum ersten Mal, etwas, das viel tiefer reichte als nur seine Haarlosigkeit und die schnarrende Stimme.

»Nun, Graf Eolair«, erklärte der König, und ein flüchtiges Lächeln kräuselte sekundenlang seine Lippen, »wenn wir schon von ›Verpflichtungen‹ und solchen Dingen reden, was hat Euer Verwandter König Lluth zu der Botschaft zu sagen, die ich ihm sandte?« Er lehnte sich mit augenscheinlichem Interesse nach vorn, die kraftvollen Hände auf dem Tisch gefaltet.

Eolair, der seine Worte sorgsam wählte, antwortete in gemessenem Ton: »Wie stets, Herr, sendet er dem edlen Erkynland seinen Respekt und seine Grüße. Er meint jedoch, daß er, was die Steuern anbetrifft…«

»Den Tribut!« schnaubte Guthwulf, der sich mit einem schmalen Dolch die Fingernägel reinigte.

»… was die Steuern anbetrifft, im Augenblick außerstande ist, größere Zahlungen zu leisten«, schloß Eolair, ohne die Unterbrechung zu beachten.

»In der Tat?« fragte Elias und lächelte wieder.

»Eigentlich, Herr«, Eolair deutete das Lächeln absichtlich falsch, »hat er mich zu Euch geschickt, um Eure königliche Hilfe zu erbitten. Ihr wißt, welche Schäden die Dürre verursacht hat, dazu die Pest. Die Erkyngarde sollte mit uns zusammenarbeiten, um die Handelswege offenzuhalten.«

»So, soll sie das?« König Elias' Augen glitzerten, und unter den starken Sehnen seines Halses fing ein winziger Puls zu klopfen an. »Jetzt heißt es schon ›sollen‹, wie?« Er beugte sich noch weiter vor und schüttelte Pryrates' Hand ab, die ihn schlangengeschwind daran hindern wollte. »Und wer seid Ihr«, grollte er, »der kaum entwöhnte Stiefvetter eines Schafhirtenkönigs, der überhaupt nur ein König ist, weil mein Vater so willensschwach und nachgiebig war – wer seid Ihr, daß Ihr zu mir von ›sollen‹ sprecht?«

»Herr!« rief der alte Fluiren von Nabban entsetzt und rang die altersfleckigen Hände – mächtige Pranken einst, jetzt krumm und knotig wie Falkenklauen. »Herr!« keuchte er, »Euer Zorn ist königlich, aber Hernystir ist ein verläßlicher Verbündeter unter dem Königsfrieden Eures Vaters – ganz zu schweigen davon, daß das Land die Geburtsstätte Eurer eigenen frommen Mutter war, möge ihre Seele in Frieden ruhen! Bitte, Majestät, sprecht nicht so von Lluth!«

Elias richtete seine Smaragdaugen auf Fluiren und schien im Begriff, seinen Zorn auf diesen altersschwach gewordenen Helden zu lenken, als Pryrates erneut am dunklen Ärmel des Königs zupfte und sich nah an ihn heranneigte, um ihm einige Worte ins Ohr zu flüstern. Die Miene des Königs wurde sanfter, aber die Linie seines Kinns behielt die Spannung einer Bogensehne. Sogar die Luft über der Tafel schien sich zusammenzuziehen, ein knirschendes Netz aus schrecklichen Möglichkeiten.

»Verzeiht mir das Unverzeihliche, Graf Eolair«, sagte Elias endlich, und ein sonderbar törichtes Grinsen zog seine Mundwinkel auseinander. »Vergebt mir meine harten, grundlosen Worte. Es ist weniger als einen Monat her, daß der Regen begann, und der Zwölfmond davor war für uns alle schwierig.«

Eolair nickte, Unbehagen in den klugen Augen. »Natürlich, Hoheit. Ich verzeihe gern. Bitte schenkt auch Ihr mir Eure Vergebung, wenn ich Euch herausgefordert haben sollte.« Auf der anderen Seite der ovalen Tafel faltete Fluiren mit befriedigtem Nicken die fleckigen Hände.

Jetzt erhob sich auch Isgrimnur, schwerfällig wie ein brauner Bär, der auf eine Eisscholle klettert. »Auch ich, Majestät, will versuchen, in sanftem Ton zu reden, obgleich Ihr alle wißt, daß das ganz und gar gegen meine Soldatennatur geht.«

Elias behielt die vergnügte Grimasse bei. »Vorzüglich, Onkel Bärenhaut – wir wollen uns alle miteinander in Vornehmheit üben. Was wollt Ihr von Eurem König?«

Der Herzog von Elvritshalla holte tief Atem und zerwühlte sich mit unruhigen Fingern den Bart. »Mein und Eolairs Volk sind in großer Not, Herr. Zum ersten Mal seit den frühesten Tagen der Herrschaft von Johan Presbyter ist die Frostmarkstraße wieder unpassierbar geworden – Schneestürme im Norden, Straßenräuber weiter südlich. Mit der königlichen Nordstraße am Wjeldhelm vorbei steht es nicht viel besser. Wir brauchen diese Straßen, und sie müssen offen sein und offengehalten werden.« Isgrimnur wandte sich ab und spuckte auf den Boden. Fluiren zuckte zusammen. »Wie mein Sohn Isorn in seinem letzten Brief schreibt, leiden viele Stammesdörfer unter Nahrungsmangel. Wir können keinen Handel mit unseren Waren treiben und die Verbindung zu entfernter wohnenden Stämmen nicht aufrechterhalten.«

Guthwulf, der an der Tischkante herumschnitzte, gähnte auffällig. Heahferth und Godwig, zwei jüngere Edelleute, die ihre grünen Schärpen betont zur Schau stellten, kicherten leise.

»Gewiß, Herzog«, näselte Guthwulf und schmiegte sich an seine Stuhllehne wie eine sonnenwarme Katze, »macht Ihr das alles nicht uns zum Vorwurf. Verfügt denn unser Herr, der König, über die Kräfte des allmächtigen Gottes, daß er den Schnee und die Stürme mit einer Handbewegung zum Stillstand bringen kann?«

»Ich habe ihn nicht dazu aufgefordert!« knurrte Isgrimnur.

»Vielleicht«, bemerkte Pryrates vom oberen Ende der Tafel, und sein breites Lächeln wirkte merkwürdig anstößig, »lastet Ihr dem König auch das Verschwinden seines Bruders an, wie wir gerüchtweise vernommen haben?«

»Niemals!« Isgrimnur war aufrichtig empört. Die Augen des neben ihm sitzenden Eolair wurden schmal, als habe er etwas Unerwartetes gesehen, »Niemals!« wiederholte der Herzog und sah Elias hilflos an.

»Nun, Männer, ich weiß, daß Isgrimnur so etwas nie denken würde«, erklärte der König mit müder Gebärde. »Der alte Onkel Bärenhaut hat uns beide auf den Knien geschaukelt, Josua und mich. Ich hoffe natürlich, daß meinem Bruder nichts Übles zugestoßen ist – die Tatsache, daß er Naglimund nach so langer Zeit immer noch nicht erreicht hat, scheint besorgniserregend –, aber wenn daran irgend etwas Unrechtes sein sollte, dann ist es nicht mein Gewissen, das besänftigt werden muß.« Doch als er zu sprechen aufhörte, wirkte Elias einen Augenblick unruhig und starrte ins Leere, als streife ihn eine verwirrende Erinnerung.

»Laßt mich wieder zur Sache kommen, Herr«, setzte Isgrimnur seine Rede fort. »Die Straßen im Norden sind nicht mehr sicher, und daran ist nicht allein das Wetter schuld. Meine Männer sind zu weit verstreut. Wir brauchen Unterstützung – starke Männer, die der Frostmark wieder Sicherheit geben. Das Markland wimmelt von Räubern und Gesetzlosen und … und noch Schlimmerem, wie es bei manchen heißt.«

Pryrates beugte sich gespannt vor, das Kinn auf die langfingrigen Hände gestützt wie ein Kind, das durchs Fenster dem Regen zuschaut. In seinen tiefliegenden Augen spiegelte sich der Fackelschein. »Was meint Ihr mit ›noch Schlimmerem‹, edler Isgrimnur?«

»Unwichtig. Die Leute … machen sich ihre Gedanken, das ist alles. Ihr wißt, wie die Markbewohner sind…« Der Rimmersmann verstummte und trank verlegen einen Schluck Wein.

Eolair stand auf. »Wenn der Herzog seine eigenen Gedanken und das, was wir auf den Märkten und von den Dienstboten gehört haben, nicht aussprechen will, werde ich es tun. Die Menschen im Norden fürchten sich. Es gehen Dinge vor, die man nicht mit schlechtem Wetter und Mißernten erklären kann. In meiner Heimat haben wir es nicht nötig, von Engeln oder Teufeln zu reden. Wir Hernystiri – wir aus dem Westen – wissen, daß Wesen auf dieser Erde aufrecht gehen, die keine Menschen sind … und wir wissen, ob man sich vor ihnen fürchten muß oder nicht. Wir Hernystiri kannten die Sithi, als sie noch in unseren Feldern wohnten und die hohen Berge und weiten Wiesen von Erkynland ihr Eigentum waren.«

Die Fackeln hatten angefangen zu tropfen, und Eolairs hohe Stirn und seine Wangen schienen in schwachem Scharlachglanz zu schimmern. »Wir haben es nicht vergessen«, fuhr er ruhig fort; seine Stimme erreichte sogar den eingenickten Godwig, der den benebelten Kopf hob wie ein Jagdhund, der in der Ferne Rufe hört. »Wir Hernystiri erinnern uns an die Zeit der Riesen und die Tage des Fluchs des Nordens, der Weißfüchse, darum reden wir jetzt ohne Umschweife: Böses ist erwacht in diesem unheilvollen Winter und Frühling. Es sind nicht nur Räuber, die Reisende überfallen und einsam wohnende Bauern verschwinden lassen. Die Völker des Nordens fürchten sich…«

»Ha, ›wir Hernystiri‹!« Pryrates' höhnische Stimme durchbrach die Stille und durchbohrte den Zauber jenseitiger Welten wie eine tote Ratte. »›Wir Hernystiri‹! Unser edler heidnischer Freund behauptet, ohne Umschweife zu reden!« Pryrates zeichnete einen übertriebenen Baum auf die Brust seines unpriesterlichen roten Gewandes. Elias' Miene nahm einen Ausdruck hinterhältiger Gutgelauntheit an. »Und was tut er? Er setzt uns die umschweifloseste Suppe aus Rätseln und dunklem Geschwätz vor, die mir je auf den Tisch gekommen ist. Riesen und Elfen!« Pryrates machte eine wegwerfende Handbewegung und ließ den Ärmel über die Teller mit dem Abendessen flattern. »Als ob Seine Majestät der König nicht schon genug Sorgen hätte – sein Bruder verschwunden, die Untertanen hungrig und verängstigt –, als ob dem König selbst nicht schon fast das eigene große Herz bräche! Und Ihr, Eolair, kommt ihm mit heidnischen Gespenstergeschichten aus dem Mund alter Weiber!«

»Ein Heide mag er sein, jawohl«, grollte Isgrimnur, »aber es steckt mehr ädonitische Gutwilligkeit in Eolair als in dem Rudel fauler Welpen, das sich hier am Hof herumlümmelt…«, – hier bellte Baron Heahferth, was Godwig in trunkenes Gelächter ausbrechen ließ –, »herumlümmelt, sage ich, während das Volk von magerer Hoffnung und noch magereren Ernten lebt!«

»Schon gut, Isgrimnur«, sagte Eolair müde.

»Edle Herren!« warf Fluiren nervös ein.

»Nein, man soll Euch Eurer Aufrichtigkeit wegen nicht beleidigen!« brummte Isgrimnur Eolair zu. Schon hob er die Faust, um von neuem auf den Tisch zu donnern, überlegte es sich dann jedoch und legte sie statt dessen auf die Brust und um den hölzernen Baum, der dort hing. »Vergebt mir den Ausbruch, mein König. Aber Graf Eolair sagt die Wahrheit. Ob ihre Ängste begründet sind oder nicht, die Menschen fürchten sich.«

»Und wovor fürchten sie sich, lieber alter Onkel Bärenhaut?« fragte der König und hielt Guthwulf seinen Pokal zum Nachfüllen hin.

»Sie fürchten sich vor der Finsternis«, erwiderte der alte Mann, jetzt voller Würde. »Sie fürchten die Finsternis des Winters, und sie haben Angst, daß es in der Welt noch dunkler werden könnte.«

Eolair stellte den leeren Becher umgedreht auf den Tisch. »Auf dem Markt von Erchester füllen die wenigen Händler, die es bis in den Süden geschafft haben, die Ohren der Leute mit Neuigkeiten über eine seltsame Erscheinung. Ich habe diese Erzählung so oft gehört, daß ich fast überzeugt bin, daß sie inzwischen jeder Mensch in der Stadt kennt.« Eolair hielt inne und sah den Rimmersmann an, der ernsthaft mit dem Kopf nickte und sich den grausträhnigen Bart strich.

»Nun?« erkundigte Elias sich ungeduldig.

»In der Öde der Frostmark hat man es gesehen, nachts, ein wundersames Ding: einen Wagen, einen schwarzen Wagen, von weißen Pferden gezogen –«

»Wie ungewöhnlich!« spottete Guthwulf, aber Pryrates und Elias tauschten einen schnellen Blick. Dann hob der König eine Braue und schaute wieder zu dem Mann aus dem Westen hinüber.

»Fahrt fort«, gebot Elias.

»Die Leute, die es gesehen haben, sagen, es sei wenige Tage nach Allernarren zuerst erschienen. Sie erzählen, es liege ein Sarg auf dem Wagen und schwarze Mönche gingen hinterher.«

»Und welchem heidnischen Naturgeist schreiben die Bauern diese Erscheinung zu?« Elias lehnte sich langsam im Stuhl zurück, bis er den Hernystir-Mann über den Nasenrücken ansah.

»Sie sagen, mein König, es sei Eures Vaters Leichenwagen – verzeiht Majestät –, und solange das Land leide, werde er keinen Frieden finden in seinem Hügel.«

Nach einer Pause, in der das Schweigen drückend auf der Runde lag, erklärte der König, und seine Stimme war kaum lauter als das Zischen der Fackeln: »Nun, dann werden wir wohl dafür sorgen müssen, daß mein Vater seine wohlverdiente Ruhe bekommt, nicht wahr?«


Seht sie euch an, dachte der alte Strupp, als er sein verkrümmtes Bein und den müden Körper den Mittelgang des Thronsaals entlangschleppte. Seht sie nur an, wie sie sich da herumlümmeln und grinsen, als wären sie heidnische Thrithingshäuptlinge und keine ädonitischen Ritter von Erkynland.

Elias' Höflinge johlten und riefen ihm alles mögliche zu, als der Narr vorbeihinkte. Sie drehten die Köpfe nach ihm, als wäre er ein Naraxi-Affe an der Kette. Selbst der König und Graf Guthwulf, die Königliche Hand, beteiligten sich an den rohen Späßen. Elias thronte mit einem Bein über der Armlehne des Drachenbeinsitzes wie ein Bauerntölpel auf einem Tor. Nur Miriamel, die junge Königstochter, saß stumm und aufrecht da, das hübsche Gesicht feierlich und starr, die Schultern eingezogen, als erwarte sie jeden Augenblick einen Schlag. Ihr honigfarbenes Haar, das weder vom dunklen Vater noch von der rabenlockigen Mutter stammte, hing zu beiden Seiten des Gesichtes wie ein Vorhang herunter.

Sie sieht aus, als wollte sie sich hinter ihrem Haar verstecken, dachte Strupp. Wie schändlich. Sie nennen sie dickköpfig und vorlaut, das sommersprossige Schätzchen, aber ich sehe nur Furcht in ihren Augen. Ich habe den Verdacht, daß sie etwas Besseres verdient als diese prahlerischen Wölfe, die sich jetzt in unseren Burgen herumtreiben, aber angeblich hat sie ihr Vater schon längst diesem versoffenen Angeber Fengbald versprochen.

Strupp kam nur langsam vorwärts. Hände, die ihn streicheln oder ihm einen leichten Klaps geben wollten, griffen von überall her nach ihm und versperrten ihm den Weg zum Thron. Es galt als glückbringend, den Kopf eines Zwerges zu berühren. Strupp war freilich kein Zwerg, sondern nur alt, uralt und gebeugt, und die Höflinge amüsierten sich damit, ihn wie einen Zwerg zu behandeln.

Endlich stand Strupp vor Elias' Thron. Die Augen des Königs waren rotgerändert, vom allzuvielen Trinken oder allzuwenig Schlafen – höchstwahrscheinlich von beidem. Elias sah mit trübem Blick auf den kleinen Mann hinunter. »Schau an, mein lieber Strupp«, sagte er, »du erweist uns die Ehre deiner Gesellschaft.« Der Narr bemerkte, daß die Knöpfe an der weißen Bluse des Königs offenstanden und die schönen Rehlederhandschuhe, die in seinem Gürtel steckten, einen Soßenfleck zeigten.

»Ja, Herr, ich bin gekommen.« Strupp versuchte eine Verbeugung, was mit dem steifen Bein schwierig war; die Edelleute und ihre Damen brachen in Heiterkeit aus.

»Bevor du uns unterhältst, ältester der Narren«, Elias schwang das Bein von der Armlehne des Thrones herunter und schenkte dem Alten seinen aufrichtigsten Blick, »darf ich vielleicht eine kleine Gunst erbitten? Eine Frage, die ich dir schon lange stellen wollte?«

»Gewiß, mein König.«

»Dann sag mir, lieber Strupp, wie es kam, daß man dir einen Hundenamen gab.« In scheinbarer Ratlosigkeit hob Elias die Brauen und sah zuerst zu dem grinsenden Guthwulf hinüber, dann zu Miriamel, die den Blick abwandte. Die übrigen Höflinge lachten und tuschelten hinter vorgehaltener Hand.

»Niemand gab mir einen Hundenamen, Herr«, antwortete Strupp gelassen. »Ich selbst wählte ihn mir.«

»Was!« rief Elias und schaute wieder den alten Mann an. »Ich habe gewiß nicht recht gehört.«

»Doch, Herr. Ich habe mir selbst den Hundenamen gegeben! Euer edler Vater pflegte mich zu necken, weil ich ihm so treu war, immer mit ihm ging, nie von seiner Seite wich. Zum Scherz nannte er einen seiner Hunde ›Cruinh‹ – das war mein Taufname.« Der Alte drehte sich halb um, damit das Publikum ihn besser sehen konnte. »›Nun gut‹, sagte ich, ›wenn es Johans Wille ist, daß der Hund meinen Namen trägt, so will ich seinen annehmen.‹ Und seit dieser Zeit habe ich nie mehr auf einen anderen Namen als Strupp gehört, und so soll es bleiben.«

Strupp gestattete sich ein winziges Lächeln. »Es mag sein, daß Euer verehrter Vater seinen Scherz danach ein wenig bereut hat.«

Die Antwort schien Elias nicht unbedingt zu gefallen, aber er lachte trotzdem laut auf und schlug sich aufs Knie. »Ein kecker Zwerg, meint Ihr nicht auch?« fragte er und blickte in die Runde. Die anderen, die dort saßen, versuchten sich der Stimmung des Königs anzupassen und lachten höflich mit – alle außer Miriamel, die von ihrem hochlehnigen Stuhl auf Strupp hinunterblickte, einen verwirrenden Ausdruck im Gesicht, den der alte Narr nicht enträtseln konnte.

»Hm«, meinte Elias, »wäre ich nicht der gute König, der ich bin – wäre ich, sagen wir einmal, ein Heidenkönig wie Lluth von Hernystir –, dann würde ich dir vielleicht dein winziges Runzelköpfchen abhacken lassen, weil du so über meinen verstorbenen Vater sprichst. Aber natürlich bin ich kein solcher Tyrann.«

»Natürlich nicht, Majestät«, erwiderte Strupp.

»Nun denn, bist du eigentlich gekommen, um uns etwas vorzusingen oder um Purzelbäume zu schlagen – wobei wir das letztere nicht hoffen wollen, denn du scheinst uns zu gebrechlich für solche Possen … Komm, sag es uns.« Elias lehnte sich behaglich in seinem Thron zurück und klatschte in die Hände nach mehr Wein.

»Zum Singen, Majestät«, erklärte der Narr. Er nahm die Laute von der Schulter und begann die Wirbel zu drehen, um die Saiten zu stimmen. Ein junger Page eilte herbei und füllte den Becher des Königs. Strupp schaute an die Decke, wo vor den vom Regen bespritzten Oberlichtern die Banner der Ritter und Edlen von Osten Ard hingen. Der Staub war entfernt, das Spinnengeflecht zerrissen, aber Strupp schienen die bunten Farben der kleinen Wimpel falsch, zu grell – wie die geschminkte Haut einer Dirne, die ihre eigene Jugendzeit nachzuäffen versucht und damit auch das noch zerstört, was an echter Schönheit übriggeblieben ist. Als der aufgeregte Page auch Guthwulf, Fengbald und den anderen die Pokale neu gefüllt hatte, winkte Elias Strupp zu.

»Herr«, nickte der alte Narr, »ich will Euch von einem anderen guten König vorsingen; freilich war er ein unglücklicher und trauriger Herrscher.«

»Ich mag keine traurigen Lieder«, mischte sich Fengbald ein, der wie üblich stark angetrunken war.

Guthwulf neben ihm grinste höhnisch. »Sch.« Die Königliche Hand ermahnte ihren Kameraden mit dem Ellenbogen zu schweigen.

»Wenn uns das Lied nicht gefällt, können wir den Zwerg hinterher hüpfen lassen.«

Strupp räusperte sich und griff in die Saiten. Mit dünner, wohlklingender Stimme sang er:

Wacholder war ein König einst,

uralt war er und schwach,

schneeweiß sein Bart vom Kinn zum Knie;

er saß im Throngemach.

Wacholder rief von seinem Thron:

›Bringt meine Söhne mir!

Die Zeit ist um, ich scheide bald,

ein andrer herrscht dann hier.‹

Sie holten die zwei Prinzen her,

Hund, Falken, Jägerspieß;

der jüngere Prinz Stechpalm war,

der ältre Schierling hieß.

›Wir folgten, Vater, Eurem Ruf,

verließen unsre Jagd‹,

sprach Schierling, ›was begehrt Ihr, Herr?‹

Der alte König sagt:

›Ich sterbe bald, ihr Söhne mein,

doch wenn im Grab ich lieg,

so will ich, daß ihr euch vertragt,

daß zwischen euch kein Krieg.‹

»Ich glaube nicht, daß mir der Klang dieses Liedes gefällt«, knurrte Guthwulf, »es hat einen höhnischen Ton.«

Elias hieß ihn schweigen. In seinen Augen lag ein düsterer Glanz, als er Strupp zum Weitersingen aufforderte.

›O Vater, was befürchtet Ihr?

Prinz Schierling hat das Recht.

Und würd ich mit ihm streiten drum,

ich wär ein Ritter schlecht.‹

Zufrieden hört' der Vater ihn

und schickt' die Söhne fort

und dankte Ädons Gnade für

Prinz Stechpalms edles Wort.

Jedoch in Schierlings Herzen tief

– und König sollt er sein! –,

da weckten Stechpalms Worte nur

Gedanken bös und klein.

›So süß spricht Prinzenzunge nicht,

die Wahrheit sagen kann.‹

Und Schierling denkt: Arglistig sinnt

mein Bruder üblen Plan.

Er fürchtete das milde Herz,

Stechpalm mißtraute er,

und aus dem Wams er heimlich zog

ein Tränklein gifteschwer.

Die Brüder saßen froh bei Tisch,

da goß er es ins Glas

und hieß Prinz Stechpalm trinken und –

»Genug! Das ist Verrat!« brüllte Guthwulf, sprang auf und kippte seinen Stuhl mitten unter die erschreckten Höflinge. Sein Langschwert zischte aus der Scheide. Wäre Fengbald nicht verwirrt in die Höhe gefahren und ihm dadurch in den Arm gefallen, hätte Guthwulf sich auf den ängstlich zurückweichenden Strupp gestürzt.

Auch Elias war sofort auf den Füßen. »In die Scheide mit der Haarnadel, du Tölpel!« schrie er. »Niemand zieht im Thronsaal des Königs das Schwert!« Von dem wütend knurrenden Grafen von Utanyeat wandte er sich dem Narren zu. Der alte Mann, der sich noch nicht von dem erschreckenden Anblick des rasenden Guthwulfs erholt hatte, rang mühsam um Fassung.

»Glaube nicht, Zwergengeschöpf, daß uns dein Liedchen erheitert hat«, zischte der König, »oder daß die lange Zeit, die du meinem Vater gedient hast, dich unverletzlich macht – aber denk auch nicht, daß du mit solch stumpfen Dornen die Haut des Königs ritzen kannst. Geh mir aus den Augen!«

»Ich will Euch gestehen, Herr, daß dieses Lied ein neu ersonnenes war«, begann der Narr mit unsicherer Stimme. Seine Schellenkappe saß schief. »Aber es war nicht…«

»Scher dich fort!« fauchte Elias, totenbleich im Gesicht, in den Augen den Blick eines Raubtiers. Hastig humpelte Strupp aus dem Thronsaal, schaudernd vor dem letzten wilden Blick des Königs und dem eingesperrten, hoffnungslosen Gesicht der Prinzessin Miriamel.

XI Ein unerwarteter Gast

Am letzten Avreltag, in der Mitte des Nachmittags, war Simon im dunklen Heuboden des Stalls untergetaucht, trieb behaglich in einem kratzigen, gelben Meer dahin, nur den Kopf über den staubigen Wogen. Vor dem breiten Fenster funkelte der Heustaub zur Erde, und Simon lauschte dem eigenen gleichmäßigen Atem.

Er war eben erst von der düsteren Galerie der Kapelle heruntergekommen, in der die Mönche die Mittagsriten gesungen hatten. Die reinen, gemeißelten Töne ihrer feierlichen Gebete hatten ihn ergriffen, wie die Kapelle und die trockenen Verrichtungen in ihren teppichverkleideten Mauern es selten taten; jede einzelne Note sorgsam gehalten und dann liebevoll freigegeben, so wie ein Holzschnitzer zierliche Spielzeugboote in einen Bach setzt. Die singenden Stimmen hatten das geheime Innere seines Herzens in ein süßes, kaltes Netz aus Silber gehüllt; noch immer hielt die zärtliche Hoffnungslosigkeit der Fäden ihn fest. Es war so ein wunderliches Gefühl gewesen – sekundenlang hatte er empfunden, als bestehe er ganz aus Federn und rasendem Herzschlag, ein verängstigter Vogel in Gottes hohler Hand …

Aber plötzlich hatte er sich dieser Fürsorglichkeit und Zartheit unwürdig gefunden und war die Galerietreppe hinuntergerannt – er war zu ungeschickt, zu töricht. Vielleicht würde er mit seinen aufgesprungenen Küchenjungenhänden die schöne Musik zu grob anfassen, wie ein Kind, das ahnungslos einen Schmetterling zerdrückt.

Jetzt, oben auf dem Heuboden, begann sein Herz langsamer zu schlagen. Simon vergrub sich tief im muffigen, flüsternden Stroh und horchte mit geschlossenen Augen auf das sanfte Schnauben der Pferde in ihren Boxen. Er glaubte, die fast unfühlbare Berührung der Staubkörnchen zu spüren, die in der stillen, schläfrigen Dunkelheit auf sein Gesicht herabrieselten.


Vielleicht war er eingeschlummert – er wußte es nicht genau –, aber das nächste, was er bemerkte, war der plötzliche, scharfe Ton von Stimmen unter ihm. Simon rollte sich zur Seite und schwamm durch das kitzelnde Stroh bis zum Rand des Speichers, um nach unten in den Stall zu blicken.

Sie waren zu dritt: Shem Pferdeknecht, Ruben der Bär und ein kleiner Mann, der Strupp der Narr sein konnte – Simon konnte es nicht mit Sicherheit feststellen, weil er kein Narrengewand trug und einen Hut aufhatte, der den größten Teil seines Gesichts verdeckte. Sie waren alle drei durch die Stalltür gekommen wie ein Trio lustiger Hanswurste; der Schmied schwang in der Faust – breit wie die Keule eines Frühjahrslamms – einen Krug. Sie waren betrunken wie die Vögel im Beerenbusch, und Strupp – wenn er es war – sang ein altes Lied:

Hans, nimm eine Maid

zum frohen Berg hinauf

und sing vergnügt hei-ho:

Halbkronentag…

Ruben reichte dem kleinen Mann den Krug. Das Gewicht ließ den anderen mitten im Refrain hintenüberkippen, so daß er einen Schritt zurückstolperte und dann rücklings niederstürzte. Sein Hut flog davon – ja, es war wirklich Strupp. Simon konnte jetzt das runzlige Gesicht mit dem gespitzten Mund sehen, das sich an den Augen zusammenzuziehen begann, als wolle Strupp losplärren wie ein Säugling. Statt dessen fing er an, hilflos zu lachen, an die Wand gelehnt, den Krug zwischen den Knien. Seine beiden Gefährten schwankten unsicher zu ihm hinüber und hockten sich daneben. Alle in einer Reihe, so saßen sie da wie Elstern auf einem Zaun.

Simon überlegte, ob er sich bemerkbar machen sollte; er kannte Strupp nur flüchtig, hatte sich aber mit Shem und Ruben immer gut vertragen. Nach kurzem Nachdenken beschloß er, es nicht zu tun. Es bereitete mehr Spaß, sie heimlich zu beobachten – vielleicht fiel ihm ein Streich ein, den er ihnen spielen konnte. Und so machte er es sich bequem, versteckt und still hoch oben auf dem Speicher.

»Bei Sankt Muirfath und dem Erzengel«, sagte Strupp, als ein paar triefend nasse Augenblicke verstrichen waren, »das habe ich nötig gehabt!« Er strich mit dem Zeigefinger über den Rand des Kruges und steckte dann den Finger in den Mund.

Shem Pferdeknecht griff über den breiten Bauch des Schmiedes zu ihm hinüber und nahm den Krug an sich. Er tat einen Zug und wischte sich mit ledrigem Handrücken die Lippen.

»Und wo willst du nun hin?« fragte er den Narren.

Strupp stieß einen Seufzer aus. Jäh schien alles Leben aus der kleinen Zechrunde gewichen zu sein. Bedrückt starrten die drei zu Boden.

»Ich habe ein paar Verwandte – entfernte Verwandte – in Grenefod an der Flußmündung. Vielleicht gehe ich dorthin, obwohl sie kaum glücklich sein werden, einen weiteren Schnabel füttern zu müssen. Vielleicht reise ich aber auch nordwärts nach Naglimund.«

»Aber Josua ist weg«, meinte Ruben und rülpste.

»Aye, auf und davon«, bekräftigte Shem.

Strupp schloß die Augen und stieß mit dem Hinterkopf gegen das rohe Holz der Pferdestalltür. »Aber noch halten Josuas Leute Naglimund und werden einen Mann, den Elias' rohe Gesellen aus seiner Heimat vertrieben haben, freundlich aufnehmen – und jetzt wohl noch freundlicher, nachdem die Leute sagen, daß Elias seinen Bruder ermorden ließ.«

»Aber manche sagen auch, daß Josua ein Verräter geworden ist«, warf Shem ein und rieb sich schläfrig das Kinn.

»Pah!« Der kleine Narr spuckte aus. Auch Simon oben auf dem Boden empfand die Wärme des Frühlingsnachmittags, sein einschläferndes, lastendes Gewicht. Es verlieh dem Gespräch dort unten etwas Beiläufiges, Fernes – Mord und Verrat hörten sich an wie Namen von Orten, die weit weg lagen.

In der langen Pause, die sich anschloß, fühlte Simon seine Augenlider unerbittlich abwärtsschleichen.

»Vielleicht wär's doch nicht so recht klug, Bruder Strupp…« – das war der alte Shem, hager und ausgedörrt wie etwas, das man in die Räucherkammer gehängt hat –, »… den König herauszufordern. Warum mußtest du auch so ein aufreizendes Lied singen?«

»Ha!« Strupp kratzte sich eifrig an der Nase. »Meine westlichen Ahnen, das waren echte Barden, nicht solche hinkenden alten Purzelbaumschläger wie ich. Die hätten ihm ein Lied vorgesungen, daß sich seine Ohren gesträubt hätten! Der Dichter Eoin-ec-Cluias soll einmal ein Zorneslied verfaßt haben, das war so mächtig, daß alle goldenen Bienen aus dem Grianspog sich auf Häuptling Gormbhata niederließen und ihn zu Tode stachen … das nenne ich ein Lied!« Wieder lehnte der Narr den Kopf an die Stallwand. »Der König? Bei Gottes Zähnen, ich ertrage es nicht, ihm auch nur diesen Namen zu geben. Ich war von klein auf bei seinem seligen Vater – das war ein König, den man mit Recht so nennen konnte! Der hier ist nicht besser als ein Räuber … nicht halb der Mann, der sein … Vater Johan war…«

Strupps Stimme schwankte schläfrig. Shem Pferdeknecht sank langsam der Kopf auf die Brust. Rubens Augen waren offen, aber es schien, als blicke er in die dunkelsten Lücken zwischen den Dachbalken. Neben ihm regte sich Strupp noch einmal.

»Hab ich euch das erzählt?« fragte der Alte unvermittelt, »hab ich euch vom Schwert des Königs erzählt? König Johans Schwert – Hellnagel? Mir hat er es gegeben, wißt ihr, und hat gesagt: ›Nur du, Strupp, kannst es meinem Sohn Elias weiterreichen! Nur du!‹« Auf der gefurchten Wange des Narren glänzte eine Träne. »›Führe meinen Sohn in den Thronsaal und gib ihm Hellnagel‹, sagte er zu mir, und das tat ich auch. Ich brachte es ihm in der Nacht, als sein lieber Vater gestorben war … legte es in seine Hand, so wie sein Vater es mir gesagt hatte … und er ließ es fallen! Ließ es fallen!« Strupps Stimme hob sich zornig. »Das Schwert, das sein Vater in mehr Schlachten getragen hat, als eine Bracke Flöhe hat! Ich konnte es kaum fassen … dieses Ungeschick, diese … Unverfrorenheit! Hört ihr mir zu, Shem – Ruben?« Der Schmied neben ihm grunzte.

»Psst! Ich war natürlich ganz entsetzt. Ich hob es auf und wischte es mit den leinenen Binden ab und reichte es ihm abermals; diesmal ergriff er es mit beiden Händen. ›Es hat sich gedreht‹, sagte er, als ob er einfältig wäre. Und als er es in der Hand hielt, ging ein seltsamer Ausdruck über sein Gesicht, wie…« Der Narr verstummte. Simon fürchtete schon, er wäre eingeschlafen, aber anscheinend dachte der Kleine nur nach, auf langsame, weinwirre Weise.

»Sein Gesichtsausdruck«, fuhr Strupp fort, »war wie bei einem Kind, das man bei etwas ganz, ganz Bösem erwischt – ja, genau so! Er wurde blaß und bekam einen ganz schlaffen Mund. Und dann gab er es mir zurück! ›Begrab das mit meinem Vater‹, hat er gesagt. ›Es ist sein Schwert, er soll es behalten.‹ – ›Aber er wollte es Euch geben, Herr‹, wandte ich ein … aber hat er auf mich hören wollen? Hat er? Nein! ›Ein neues Zeitalter ist angebrochen, Alter‹, erklärte er mir, ›wir brauchen nicht mehr an diesen Überbleibseln der Vergangenheit zu hängen.‹ Könnt ihr euch die gottverdammte Unverschämtheit von so einem Kerl vorstellen?«

Strupp tastete mit den Händen, bis er den Krug fand, und hob ihn zu einem langen Zug. Seine beiden Zechgenossen hatten die Augen geschlossen und stießen rasselnde Atemgeräusche aus, aber der alte Mann, versunken in empörtes Sinnen, achtete nicht darauf.

»Und dann wollte er seinem armen, toten Vater nicht einmal die Höflichkeit erweisen, es ihm selber ins Grab zu legen. Wollte es … wollte es nicht einmal anfassen! Ließ seinen jüngeren Bruder das machen! Ließ Josua…« Strupps kahler Kopf nickte. »Als ob er sich dran verbrannt hätte … so sah es aus, als er es mir wieder hinhielt … so schnell … verfluchter Welpe…« Strupps Kopf fuhr noch einmal in die Höhe, sank dann auf die Brust und hob sich nicht wieder.

Als Simon leise die Heubodenleiter hinabstieg, schnarchten die drei Männer schon wie alte Hunde vor dem Kamin. Auf Zehenspitzen schlich er sich hinaus – war nur so freundlich, im Vorbeigehen den Krug zuzukorken und beiseite zu stellen, damit kein jäh im Schlaf ausgestreckter Arm das Gefäß umkippte. Dann trat er in das schräge Sonnenlicht des Burgangers.

Soviel Seltsames ist geschehen in diesem Jahr, dachte er, setzte sich an den Brunnen in der Mitte des Angers und warf Steinchen hinein. Dürre und Krankheit, der Prinz verschwunden, in Falshire Menschen verbrannt und getötet … Aber irgendwie schien das alles gar nicht so ernst zu sein. Es passiert immer jemand anderem, entschied Simon, halb erfreut, halb bedauernd. Alles passiert fremden Leuten.

Sie hatte sich auf dem Fenstersitz zusammengekauert und starrte durch die zierlich geätzten Scheiben auf irgend etwas hinunter. Als er eintrat, schaute sie nicht auf, obwohl das Scharren seiner Stiefel auf den Steinplatten ihn deutlich ankündigte. Einen Augenblick verharrte er mit über der Brust gekreuzten Armen in der Tür, aber noch immer drehte sie sich nicht um. Er schritt auf sie zu, blieb stehen und blickte über ihre Schulter.

Auf dem Anger war nichts zu sehen als ein Küchenjunge, der auf dem Rand der steinernen Zisterne saß, ein langbeiniger, zerzauster Junge im fleckigen Kittel. Sonst war der Hof leer bis auf ein paar Schafe, schmutzige Wollbündel, die den dunklen Erdboden nach Stellen mit jungem Gras absuchten.

»Was ist?« fragte er und legte ihr die breite Hand auf die Schulter. »Haßt du mich auf einmal, daß du so ohne ein Wort davonschleichst?«

Sie schüttelte den Kopf, und ein schneller Streifen Sonnenlicht verfing sich im Netz ihres Haares. Ihre Hand stahl sich hinauf zu seiner und umschloß sie mit kühlen Fingern.

»Nein«, antwortete sie und starrte noch immer auf den Anger hinab. »Aber ich hasse, was ich um mich herum sehe.« Er beugte sich zu ihr, aber hastig riß sie die Hand los und schlug sie vor ihr Gesicht, als wollte sie es vor der Nachmittagssonne beschirmen.

»Und was soll das sein?« erkundigte er sich, und eine gewisse Gereiztheit schlich sich in seine Stimme. »Möchtest du lieber wieder nach Meremund und in diesem zugigen Gefängnis von Haus leben, das mein Vater mir gab, dort, wo der Fischgestank noch auf dem höchsten Balkon die Luft vergiftet?« Er griff hinunter und faßte sie am Kinn, das er mit fester Sanftheit drehte, bis er ihre zornigen, tränenfeuchten Augen sehen konnte.

»Ja!« entgegnete sie und schob seine Hand fort, wich jedoch seinem Blick nicht länger aus. »Ja, das möchte ich. Man kann dort auch den Wind riechen und das Meer sehen.«

»O Gott, Mädchen, das Meer? Du bist die Herrin der bekannten Welt und weinst, weil du das verdammte Wasser nicht sehen kannst? Schau! Schau dorthin!« Er deutete über die Wälle des Hochhorstes. »Und was ist dann der Kynslagh?«

Verächtlich gab sie den Blick zurück. »Eine Bucht ist er, eine königliche Bucht, die ergeben darauf wartet, daß der König im Boot darauf herumfährt oder schwimmen geht. Kein König besitzt das Meer.«

»Aha.« Er ließ sich auf ein Sitzkissen fallen, die langen Beine nach beiden Seiten ausgestreckt. »Und hinter all dem steckt vermutlich der Gedanke, daß du auch hier eingesperrt bist, wie? Was für ein Unfug! – Ich weiß, warum du dich so aufregst.«

Sie wandte sich nun ganz vom Fenster ab. Ihr Blick war voller Spannung. »Ihr wißt es?« fragte sie, und unter der Verachtung regte sich ein winziger Hauch Hoffnung. »Dann sagt mir, warum, Vater.«

Elias lachte. »Weil du bald heiraten wirst, darum. Es ist ganz und gar nicht überraschend.« Er rückte näher. »Ach, Miri, du brauchst dich nicht zu fürchten. Fengbald ist ein Prahlhans, aber er ist jung und noch töricht. Wenn eine geduldige Frauenhand ihn leitet, wird er sehr bald Manieren annehmen. Und wenn nicht – nun, er wäre wirklich ein Narr, wenn er die Tochter des Königs nicht gut behandelte.«

Miriamels Gesicht verhärtete sich zu einer Miene der Resignation. »Ihr versteht mich nicht.« Ihre Stimme war ausdruckslos wie die eines Steuereinnehmers. »Fengbald bedeutet mir nicht mehr als ein Felsblock oder ein Schuh. Ihr seid es, um den ich mir Sorgen mache – und Ihr seid es auch, der sich fürchten muß. Warum stellt Ihr Euch so zur Schau? Warum verspottet und bedroht Ihr alte Männer?«

»Verspotten und bedrohen?« Sekundenlang verzog sich Elias' breites Gesicht zu einer häßlichen Grimasse der Wut. »Dieser alte Hurensohn singt ein Lied, das mich mehr oder weniger beschuldigt, meinen Bruder beiseite geschafft zu haben, und du sagst, ich verspottete ihn?« Der König sprang unvermittelt auf und versetzte dem Kissen einen wütenden Fußtritt, der es quer durchs Zimmer fliegen ließ. »Was hätte ich denn zu fürchten?« fragte er gleich darauf.

»Wenn Ihr es nicht wißt, Vater, obwohl Ihr doch soviel Zeit mit dieser roten Schlange und seinen Teufelskünsten verbringt – wenn Ihr nicht selbst fühlt, was vor sich geht…«

»Was in Ädons Namen redest du?« fragte der König hart. »Was weißt denn du?« Er schlug sich klatschend mit der Hand auf den Schenkel. »Nichts! Pryrates ist mein tüchtigster Diener – er tut für mich, was kein anderer kann.«

»Ein Ungeheuer ist er, ein Nekromant!« rief die Prinzessin. »Und Ihr seid im Begriff, sein Werkzeug zu werden, Vater! Was ist aus Euch geworden? Wie habt Ihr Euch verändert!« Miriamel stieß einen Laut der Qual aus und versuchte, das Gesicht in ihrem langen, blauen Schleier zu vergraben. Dann sprang sie auf und rannte auf Samtpantoffelfüßen an ihm vorbei in ihren Schlafraum. Einen Augenblick später hatte sie die schwere Tür hinter sich zugeworfen.

»Verdammt sollen alle Kinder sein!« fluchte Elias. »Miri!« rief er und ging an die Tür, »du verstehst nichts! Du weißt nichts von dem, was der König tun muß. Und du hast kein Recht zum Ungehorsam. Ich habe keinen Sohn! Ich habe keinen Erben! Und ich bin umgeben von ehrgeizigen Männern. Deshalb brauche ich Fengbald. Du wirst mich nicht hindern!« Einen langen Augenblick stand er schweigend da, aber es kam keine Antwort. Er schlug mit der Faust gegen die Tür, daß die Bohlen erbebten.

»Miriamel! Mach sofort auf!« Als Erwiderung nur Stille. »Tochter«, sagte er endlich und senkte den Kopf, bis er das unnachgiebige Holz berührte, »schenk mir nur einen Erben, und ich gebe dir Meremund. Ich werde dafür sorgen, daß Fengbald dich in Ruhe läßt. Du kannst den Rest deines Lebens damit zubringen, aufs Meer hinauszustarren.« Er hob die Hand und wischte sich etwas vom Gesicht. »Ich sehe das Meer nicht gern … es erinnert mich an deine Mutter.«

Noch einmal schlug er gegen die Tür. Das Echo blühte auf und verwelkte. »Ich liebe dich, Miri«, sagte der König leise.


Das Türmchen an der Ecke der Westmauer hatte das erste Stück aus der Nachmittagssonne herausgebissen. Ein weiterer Kiesel klapperte in die Zisterne und folgte Hunderten seiner Gefährten in die Vergessenheit. Ich habe Hunger, entschied Simon endlich.

Es wäre kein schlechter Gedanke, überlegte er, jetzt in die Anrichteküche hinüberzuschlendern und von Judith etwas zu essen zu erbetteln. Ihm wurde bewußt, daß er seit dem frühen Morgen nichts zu sich genommen hatte. Abendessen würde es erst in mindestens einer Stunde geben. Das einzige Problem war, daß Rachel und ihr Geschwader gerade dabei waren, den langen Speisesaalkorridor und die darunterliegenden Zimmer sauberzumachen, die letzte Schlacht in Rachels aufreibendem Frühjahrsfeldzug. Auf jeden Fall war es besser, den Drachen soweit möglich zu umgehen und mit ihm alles, was Rachel über das Schnorren von Speisen vor dem Abendbrot zu bemerken haben könnte.

Nachdem er kurz nachgedacht und dabei drei weitere Steine mit Tick-Tack-Tick in den Brunnen hinuntergeschickt hatte, kam Simon zu dem Ergebnis, daß es sicherer wäre, sich unter dem Drachen hindurchzuschleichen, als ihn in großem Bogen zu umgehen. Der Speisesaal erstreckte sich über die ganze Länge des oberen Geschosses entlang der Seemauer des Hauptturmes der Burg; es würde sehr lange dauern, den Weg über die Kanzlei zu nehmen, um dann auf der anderen Seite bei den Küchen herauszukommen. Nein, die einzig mögliche Route führte durch die Vorratskammern.

Er riskierte einen schnellen Satz über den Burghof zum Westportikus des Speisesaales und schaffte es, unbemerkt hindurchzuschlüpfen. Eine Welle von Seifenwassergeruch und das ferne Klatschen der Schrubber beschleunigten seine Schritte, als er in das abgedunkelte Untergeschoß und die Räume mit den Vorratslagern hinabtauchte, die den größten Teil der Fläche unter den Speisesälen einnahmen.

Da der Fußboden hier gute sechs oder sieben Ellen unter der Höhe der Inneren Zwingermauern lag, drang nur ein ganz schwacher Schein reflektierten Lichtes durch die Fenster. Die tiefen Schatten beruhigten Simon. Weil hier soviel Brennbares lagerte, kamen so gut wie nie Fackeln in die Räume; es bestand nur eine äußerst geringe Wahrscheinlichkeit, daß man ihn entdeckte.

In dem großen Mittelraum waren zahllose Fässer und Fäßchen, mit Eisenbändern zusammengeschmiedet, bis zur Decke gestapelt; eine unbestimmte Landschaft aus rundlichen Türmen und schmalen Durchgängen. Die Fässer konnten alles mögliche enthalten: Trockengemüse, Käselaibe, Tuchballen aus längst vergangenen Jahren, selbst Ritterrüstungen, die wie glänzende Fische in mitternachtsdunklem Öl schwammen. Die Versuchung, ein paar von ihnen zu öffnen und nachzusehen, welche heimlichen Schätze darin verborgen lagen, war ungemein groß, aber Simon besaß kein Brecheisen, um die schweren, festgenagelten Faßdeckel aufzustemmen, und wagte auch nicht, besonderen Lärm zu machen, denn unmittelbar über ihm wischten der Drache und seine Legionen Staub und putzten herum wie die Scheuerfrauen der Verdammten.

Auf halbem Weg durch den langen, düsteren Raum, auf seinem schmalen Pfad zwischen den Faßtürmen, die vorkragten wie die Strebepfeiler eines Domes, wäre Simon um ein Haar in ein Loch gefallen, hinunter in die undurchdringliche Finsternis.

Als er überrascht und mit klopfendem Herzen zurücksprang, erkannte er schnell, daß es nicht irgendein Loch war, das da vor ihm im Fußboden gähnte, sondern vielmehr eine geöffnete und zurückgeklappte Falltür. Mit einiger Vorsicht konnte er sie umgehen, obwohl der Weg sehr schmal war. Aber warum stand die Tür offen? Schwere Falltüren sprangen nicht von allein auf, soviel war klar. Wahrscheinlich hatte eine der Haushälterinnen etwas aus einem noch tiefer gelegenen Lagerraum geholt und dann nicht gleichzeitig ihre Last tragen und die Tür wieder schließen können.

Nur einen Augenblick zögerte Simon, dann kletterte er die Leiter hinunter, die aus der Einstiegsöffnung ragte. Was mochten in dem Raum dort unten für seltsame und aufregende Dinge verborgen sein?

Unten war es dunkler als oben, und zuerst konnte er überhaupt nichts erkennen. Sein tastender Fuß trat auf etwas, und als er vorsichtig das Gewicht darauf verlagerte, erwies es sich als ein vertrautes Dielenbrett. Als er aber den anderen Fuß von der Leiter nahm, stieß er auf keinerlei Widerstand, und nur sein fester Griff um die Leitersprosse bewahrte ihn davor, das Gleichgewicht zu verlieren und abzustürzen: Unter der Leiter befand sich eine zweite Luke, die zu einem noch tiefer liegenden Geschoß führte. Er manövrierte mit dem baumelnden Fuß, bis er den Rand der unteren Luke fand, und ließ sich dann auf die Sicherheit des Fußbodens dieses mittleren Raumes hinunter.

Die Lukenöffnung über ihm war ein graues Viereck in der Wand von Dunkelheit. Im schwachen Licht sah er enttäuscht, daß die Kammer, in der er stand, kaum größer war als ein Wandschrank; die Decke schien weit niedriger als im oberen Raum, und die Wände waren von der Stelle, an der er stand, nur wenige Armlängen entfernt. Der kleine Raum war bis an die Deckenbalken mit Fässern und Säcken vollgestopft, und nur ein schmaler Mittelgang, der bis an die hintere Wand reichte, trennte die sich oben schräg aneinanderlehnenden Vorratsbehälter.

Während sich Simon ohne großes Interesse umsah, knackte irgendwo eine Diele, und in der Schwärze unter sich hörte er das Geräusch bedächtiger Schritte.

O mein Gott, wer mag das sein? Was habe ich jetzt wieder angestellt?

Wie dumm von ihm, nicht daran zu denken, daß die Falltür vielleicht deshalb offen stand, weil sich jemand in den darunterliegenden Räumen aufhielt! Schon wieder hatte er sich benommen wie ein Tölpel. Sich innerlich verfluchend, glitt er in den schmalen Gang zwischen den Vorratsbehältern. Die Schritte unten näherten sich der Leiter. Simon zwängte sich rückwärts in eine Lücke zwischen zwei muffigen Stoffsäcken, die rochen und sich anfühlten, als seien sie voll alter Wäsche. Als ihm klar wurde, daß jemand, der nur einen Schritt von der Luke weg in den Durchgang trat, ihn trotzdem bemerken würde, sank er halb in die Hocke und verlagerte sein Gewicht vorsichtig auf eine Truhe aus Eichenbrettern. Die Schritte hatten die Leiter erreicht, und die Sprossen fingen an zu knarren – jemand kletterte nach oben. Simon hielt den Atem an. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, warum er auf einmal solche Angst hatte; wenn man ihn erwischte, würde es ihm lediglich ein paar Strafen mehr und zusätzliche scharfe Blicke von Rachel eintragen – warum fühlte er sich dann wie ein Kaninchen, das die Jagdhunde gewittert haben?

Das Klettergeräusch setzte sich fort, und sekundenlang schien es, als wollte der Heraufkommende direkt in den großen Raum ganz oben weitersteigen … bis das stetige Knarren aufhörte. In Simons Ohren sang die Stille. Ein Geräusch, dann noch eines – mit einem dumpfen Gefühl im Magen erkannte er, daß die unsichtbare Gestalt wieder abwärts stieg und von der Leiter herunter auf den Boden des Wandschranks trat. Dann herrschte erneut Schweigen; jetzt aber schien die Stille selbst zu pochen. In dem schmalen Gang näherte sich der langsame Schritt, bis er unmittelbar vor Simons hastig gewähltem Versteck zum Halten kam. Im trüben Licht erkannte der Junge spitze schwarze Stiefel, fast zum Greifen nah; darüber hing der schwarz eingefaßte Saum eines scharlachroten Gewandes. Es war Pryrates.

Simon duckte sich tiefer in die Vorräte und betete, Ädon möge sein Herz anhalten, das zu schlagen schien wie Donner. Er fühlte, wie sein Blick gegen seinen Willen nach oben gezogen wurde, bis er zwischen den hängenden Schultern der Säcke, die ihn verbargen, hinausstarrte. Durch den schmalen Spalt konnte er das ausdruckslose Gesicht des Alchimisten sehen; einen Augenblick war ihm, als schaute ihm Pryrates direkt in die Augen, und fast hätte er vor Entsetzen aufgejault. Gleich darauf begriff er, daß es nicht so war; die im Schatten liegenden Augen des roten Priesters waren auf die Wand über Simons Kopf gerichtet. Er lauschte.

Komm her.

Pryrates' Lippen hatten sich nicht bewegt, aber Simon hörte die Stimme so deutlich, als hätte sie ihm ins Ohr geflüstert.

Komm her. Sofort!

Die Stimme war fest, aber nicht unvernünftig. Simon merkte, daß er sich über sein Benehmen schämte; es gab nichts zu befürchten; kindische Torheit, sich hier in der Finsternis zusammenzukauern, wenn er doch aufstehen und den kleinen Scherz zugeben konnte, den er sich erlaubt hatte …

Wo bist du? Zeig dich!

Gerade als die ruhige Stimme in seinem Ohr ihn überzeugt hatte, daß es nichts Einfacheres gäbe, als aufzustehen und zu sprechen – er wollte eben nach den Säcken greifen, um sich aufzurichten –, schweiften Pryrates' schwarze Augen sekundenlang über den dunklen Spalt, aus dem Simon hervorspähte, und der Blick, der ihn streifte, tötete jeden Gedanken an ein Sich-Zeigen, wie jäher Frost eine Rosenblüte welken läßt. Pryrates' Blick berührte Simons verborgene Augen, und im Herzen des Jungen öffnete sich eine Tür, auf deren Schwelle der Schatten der Vernichtung stand.

Das hier war der Tod – Simon wußte es. Unter seinen kratzenden Fingern fühlte er das kalte Bröckeln von Grabeserde, das Gewicht dunklen, feuchten Bodens auf Mund und Augen. Auf einmal gab es keine Worte mehr, keine leidenschaftslose Stimme in seinem Kopf, nur ein Ziehen – etwas, das sich nicht greifen ließ, ihn aber zu sich zog, Zollbruchteil um Zollbruchteil. Ein Wurm aus Eis umklammerte sein Herz, während er dagegen ankämpfte – dort wartete der Tod, sein Tod. Wenn er nur einen Laut von sich gab, das winzigste Zittern oder Keuchen, würde er die Sonne nie wiedersehen. Er schloß die Augen so fest, daß ihm die Schläfen wehtaten; er verschloß trotz der quälenden Atemnot Zähne und Zunge. Die Stille zischte und hämmerte. Der Zug wurde stärker. Simon fühlte sich, als sinke er langsam in die erdrückenden Tiefen der See hinab.

Einem plötzlichen Aufjaulen folgte ein erschreckter Fluch von Pryrates. Der ungreifbare Würgegriff war verschwunden; Simons Augen sprangen auf, und er sah gerade noch ein schlankes, graues Wesen vorüberhuschen, über Pryrates' Stiefel springen und mit einem Satz die Luke hinab- und in die Dunkelheit hüpfen. Das verblüffte Lachen des Priesters schnarrte durch den vollgestopften Raum und hallte dumpf von den Wänden wider.

»Eine Katze!«

Nach einer Pause von einem halben Dutzend Herzschlägen machten die schwarzen Stiefel kehrt und bewegten sich wieder den Gang entlang. Wenig später hörte Simon die Leitersprossen knarren. Er blieb – noch immer erstarrt – sitzen, sein Atem ging flach, alle Sinne waren in höchster Alarmbereitschaft. Kalter Schweiß rann ihm in die Augen, aber er hob keine Hand, um ihn abzuwischen.

Endlich, nachdem viele Minuten vergangen und die Leitergeräusche verstummt waren, wagte sich Simon zwischen den schützenden Säcken hervor, schwankend, auf schwachen, zitternden Beinen. Preis Usires und Segen über die kleine Ratzenkatze! Aber was nun? Er hatte gehört, wie sich der Deckel der oberen Falltür schloß und über ihm Schritte ertönten, aber das hieß nicht, daß Pryrates wirklich fortgegangen war. Es bedeutete ein Risiko, die schwere Tür anzuheben und sich umzusehen; wenn sich der Priester noch im Lagerraum befand, würde er es höchstwahrscheinlich hören. Wie sollte Simon hinauskommen?

Er wußte, daß er am besten blieb, wo er war und in der Dunkelheit abwartete. Selbst wenn sich der Alchimist noch im oberen Raum aufhielt, mußte er doch irgendwann mit seiner Tätigkeit dort fertig sein und fortgehen. Es schien das bei weitem Vernünftigste, aber etwas in Simon sträubte sich dagegen. Es war eine Sache, Angst zu haben – und Pryrates hatte ihm eine derartige Angst eingejagt, daß er fast den Verstand verloren hätte –, und es war eine andere Sache, den ganzen Abend eingesperrt in einer dunklen Kammer zu verbringen und die darauf stehenden Strafen zu erleiden, wo doch der Priester so gut wie mit Gewißheit auf dem Weg zu seinem Horst im Hjeldin-Turm war.

Außerdem glaube ich nicht, daß er mich wirklich zum Herauskommen gebracht hätte … oder doch? Wahrscheinlich hatte ich einfach nur so eine wahnsinnige Angst…

Ihm fiel der Hund mit dem gebrochenen Rückgrat ein. Simon würgte und brachte lange Minuten damit zu, tiefe Atemzüge zu tun.

Und was war mit der Katze, die ihn vor dem Erwischtwerden gerettet hatte – vor dem Gefangenwerden; das Bild von Pryrates' abgrundschwarzen Augen ließ ihn nicht los: Das war keine Angstphantasie! Wohin war die Katze gelaufen? Wenn sie nach unten in das tiefere Stockwerk gesprungen war, konnte sie bestimmt nicht wieder nach draußen und würde ohne Simons Hilfe elendig umkommen. Eine Ehrenschuld.

Als er sich leise fortbewegte, bemerkte er ein unbestimmtes Glühen, das aus der Bodenluke drang. Brannte dort unten eine Fackel? Oder gab es vielleicht doch noch einen anderen Weg hinaus, eine Tür, die auf einen der unteren Zwinger hinausführte?

Simon horchte eine Weile lautlos an der offenen Luke, um sicherzugehen, daß ihn diesmal niemand überraschte. Dann trat er vorsichtig auf die Leiter und stieg nach unten. Ein kalter Luftzug blähte sein Wams und überzog seine Arme mit Gänsehaut; er biß sich auf die Lippen und zögerte. Schließlich kletterte er weiter.

Statt wie beim ersten Mal von einem weiteren Absatz unterbrochen zu werden, dauerte Simons vorsichtiger Abstieg dieses Mal länger. Zuerst kam das einzige Licht von direkt unter ihm, als klettere er in einen Flaschenhals hinein, dann wurde es insgesamt heller, und bald stieß sein nach unten tastendes Erkunden auf Widerstand: An einer Seite der Leiter berührten seine Zehen Holz – er hatte den Boden erreicht.

Als Simon von der Leiter trat, sah er, daß keine weitere Luke nach unten führte und die unterste Leitersprosse auf dem Boden ruhte. Die einzige Lichtquelle des Raumes und, nachdem jetzt die oberste Falltür verschlossen war, die einzige Beleuchtung überhaupt, war ein seltsames, glühendes Rechteck, das ihm gegenüber an der Wand schimmerte, eine verschwommene Tür, die in gelblichem Flackerlicht auf die Mauer gemalt zu sein schien.

Abergläubisch machte Simon das Zeichen des Baumes und schaute sich um. Der Raum war im übrigen leer bis auf einen zerbrochenen Turnier-Schwenkbalken und ein paar andere Stücke ausrangierten Turnierzubehörs. Die verlängerten Schatten des Raumes ließen viele Ecken dunkel. Simon konnte nichts entdecken, das für einen Mann wie Pryrates von Interesse hätte sein können. Er trat näher an das schimmernde Muster auf der Wand heran und hielt dabei die Hände ausgestreckt, fünffingrige, bernsteinumrahmte Silhouetten. Jäh flammte das glühende Rechteck auf, um dann schnell zu verblassen. Ein Leichentuch völliger Schwärze senkte sich über alles.

Simon war allein in der Finsternis, kein Laut außer dem Dröhnen seines Blutes in den Ohren, das klang wie ein ferner Ozean. Er machte einen vorsichtigen Schritt nach vorn, und das Geräusch seines am Boden scharrenden Schuhs füllte sekundenlang die Leere. Ein zweiter Schritt und noch einer – seine ausgestreckten Finger fühlten kalten Stein … und noch etwas: merkwürdige, schwache Wärmelinien. Er sank vor der Mauer in die Knie.

Jetzt weiß ich, wie man sich ganz unten in einem Brunnen fühlt. Hoffentlich wirft wenigstens niemand Steine auf mich herunter.

Während er noch so dasaß und überlegte, was er als nächstes anfangen sollte, vernahm er ein schwaches Wispern. Gleich darauf stieß ihn etwas gegen die Brust, und ihm entfuhr ein Ruf der Überraschung. Bei seinem Aufschrei verschwand die Berührung, war jedoch sogleich wieder da. Etwas stupste sanft an sein Wams und schnurrte.

»Katze!« flüsterte er.

Du hast mich gerettet, weißt du. Simon streichelte das unsichtbare Wesen. Komm, schon langsam. Man kann ja kaum ein Ende vom anderen unterscheiden, wenn du dich so windest. Jawohl, du hast mich gerettet, und ich werde dich aus diesem Loch herausholen, in das du geraten bist.

»Natürlich stecke ich im selben Loch«, sagte Simon laut. Er hob das pelzige Geschöpf auf und verstaute es in seinem Wams. Das Schnurren der Katze wurde tiefer im Ton, und sie machte es sich auf seinem warmen Bauch bequem. »Ich weiß, was das glühende Ding war«, sagte er ganz leise. »Eine Tür. Eine magische Tür.«

Allerdings gehörte diese magische Tür Pryrates, und Morgenes würde ihm das Fell über die Ohren ziehen, weil er auch nur in ihre Nähe gekommen war. Aber Simon empfand eine gewisse verstockte Entrüstung: Schließlich war das hier auch seine Burg, und die Vorratskammern gehörten keinem Emporkömmling von Priester, so furchteinflößend er auch sein mochte. Auf jeden Fall, wenn er die Leiter hinaufkletterte und Pryrates noch dort war … selbst Simons wieder erwachender Stolz ließ nicht zu, daß er sich Illusionen über das machte, was dann geschehen würde. Also hieß es, entweder den ganzen Abend am Boden eines pechschwarzen Lochs hockenzubleiben, oder …

Er preßte die flache Handfläche an die Wand und ließ sie über die kühlen Steine gleiten, bis er die Wärmestreifen wiederfand. Er folgte ihnen mit den Fingern und erkannte, daß sie in etwa dem rechteckigen Umriß entsprachen, den er zuerst gesehen hatte. Er legte beide Hände flach auf die Mitte und drückte, begegnete jedoch nur dem ungerührten Widerstand mörtellosen Steins. Wieder drückte er, so fest er konnte; auch jetzt geschah nichts. Als er sich keuchend an die Mauer lehnte, fühlte er, wie selbst die warmen Stellen unter seinen Händen erkalteten. Eine plötzliche Vision von Pryrates – der Priester, oben in der Dunkelheit lauernd wie eine Spinne, ein breites Grinsen im knochigen Gesicht – ließ Simons Herz hämmern.

»O Elysia, Mutter Gottes, mach auf!« murmelte er ohne Hoffnung, die Handflächen vor Angstschweiß glitschig. »Mach doch auf!«

Der Stein wurde plötzlich warm, dann so heiß, daß Simon loslassen mußte. Auf der Wand bildete sich eine dünne goldene Linie, die wie ein Bach aus geschmolzenem Metall waagerecht dahinfloß, dann an zwei Enden nach unten rann und sich unten wieder vereinigte. Die Tür war da und schimmerte, und Simon brauchte nur die Hand zu heben und sie mit dem Finger zu berühren, und schon leuchteten die Linien heller; ja, es zeigten sich Spalten parallel zum Umriß der Tür. Vorsichtig griff er mit den Fingern nach einer Ecke und zog. Lautlos schwang eine Steintür auf und erfüllte den Raum mit Licht.

Es dauerte einen Moment, bis seine Augen sich an die gleißende Flut gewöhnt hatten. Hinter der Tür führte ein steinerner Gang abwärts und verschwand um eine Ecke. Er war unmittelbar in den rauhen Fels der Burg gehauen. Gleich hinter der Tür brannte in einem Wandhalter hell eine Fackel. Es war ihr Licht, das ihn so geblendet hatte. Simon stand auf, die Katze in seinem Hemd eine angenehme Last.

Hätte Pryrates eine Fackel brennen lassen, wenn er nicht vorhatte, wiederzukommen? Und was war das für ein seltsamer Gang? Der junge Mann erinnerte sich, daß Morgenes etwas von alten Sithi-Ruinen unter der Burg erzählt hatte. Dieses Mauerwerk hier war ganz bestimmt alt, aber grob und roh, ganz anders als die verfeinerte Eleganz des Grünengel-Turms. Simon beschloß, sich schnell einmal umzusehen. Wenn der Gang nicht weiterführte, würde er wohl doch die Leiter hinaufklettern müssen.

Die rauhen Steinwände des Tunnels waren feucht. Als Simon den Gang hinuntertrottete, konnte er selbst durch den Fels ein dumpfes, dröhnendes Geräusch hören.

Ich muß mich unterhalb des Kynslaghspiegels befinden. Kein Wunder, daß die Steine und sogar die Luft so feucht sind. Er fühlte, wie Wasser, als wollte es seine Gedanken noch unterstreichen, in die Nähte seiner Schuhe drang.

Wieder machte der Gang eine Biegung. Er führte immer noch abwärts. Das schwächer werdende Licht der Fackel am Eingang wurde durch eine neue Lichtquelle ersetzt. Als Simon um die nächste Ecke bog, wurde der Boden ebener und erweiterte sich, bis er nach etwa zehn Schritten vor einer Mauer aus unbehauenem Granit endete. Hier flackerte eine weitere Fackel in ihrem Ring.

Links in der Wand gähnten zwei dunkle Löcher; am Ende, gerade hinter ihnen, schien es noch eine Tür zu geben, die fast unmittelbar neben dem Ende des Ganges lag. Wasser spritzte um Simons Schuhspitzen, als er weiterging.

Die beiden Löcher schienen einmal Zimmer gewesen zu sein – höchstwahrscheinlich Zellen –, nun aber hingen zersplitterte Türen träge in den Angeln; das sprühende Fackellicht enthüllte im Inneren nichts als Schatten. Ein feuchter Verwesungsgeruch drang aus diesen unbewohnten Räumen; Simon beeilte sich, an ihnen vorbeizukommen. Vor der Tür ganz hinten blieb er stehen. Die Katze in seinem Wams piekte ihn mit zarten Krallen, als er im unsicheren Licht nach den schweren Bohlen spähte. Was mochte dahinter liegen? Noch eine modrige Kammer, oder ein Gang, der noch weiter in den vom See zerfressenen Stein führte? Oder vielleicht Pryrates' geheime Schatzkammer, vor allen Späherblicken sicher … oder doch vor fast allen?

In der oberen Mitte der Tür war eine Metallplatte befestigt. Simon konnte nicht erkennen, ob es sich dabei um ein Schloß oder die Abdeckung eines Gucklochs handelte. Als er es zu öffnen versuchte, wollte das Metall sich nicht bewegen und hinterließ Rostflecke auf seinen Fingern. Er blickte sich um und sah neben der offenen Tür zu seiner Linken ein abgebrochenes Stück Türangel liegen. Er hob es auf und stemmte es unter das Metall, bis sich die Platte unter widerwilligem Quietschen an einem von Rost und Salz starrgewordenen Scharnier nach oben hob. Noch einen schnellen Blick zurück und einen Moment schweigenden Lauschens auf Schritte, dann beugte Simon sich vor und legte das Auge an das Loch in der Tür.

Zu seiner großen Überraschung brannte in einer Wandhalterung des dahinterliegenden Raumes eine Handvoll Binsen. Aber jeder berauschende und schreckenerregende Gedanke daran, Pryrates' geheimen Hort gefunden zu haben, verging sofort beim Anblick des feuchten, mit Stroh bedeckten Bodens und der kahlen Wände. Aber da war etwas … hinten im Raum … ein dunkles Schattenbündel.

Ein klirrender Laut ließ Simon überrascht herumfahren. Überwältigt von Furcht blickte er sich verzweifelt um und erwartete jeden Augenblick das Stampfen schwerer Stiefel im Gang zu vernehmen. Nochmals ertönte das Geräusch, und Simon begriff erstaunt, daß es aus dem Raum hinter der Tür kam. Wieder legte er das Auge vorsichtig an das Loch und starrte ins Dunkel. Hinten an der Wand bewegte sich das Schattenbündel; und als es langsam zur Seite schwankte, hallte von neuem das harte, metallische Rasseln in dem kleinen Raum wider. Die Schattengestalt hob den Kopf.

Simon würgte und sprang mit einem Satz von dem Guckloch zurück, als hätte man ihn mitten ins Gesicht geschlagen. In einem schwindligen Moment fühlte er den festen Boden unter seinen Füßen wanken. Ihm war, als hätte er etwas Vertrautes umgedreht und madenwimmelnde Fäulnis darunter entdeckt.

Das angekettete Etwas, das ihn da von innen angestarrt hatte … das Etwas mit den gespenstischen Augen … war Prinz Josua.

XII Sechs silberne Sperlinge

Simon taumelte über den Angerhof. In seinem Kopf schrien die Gedanken wie eine gewaltige Menschenmenge. Er wollte sich verstecken. Er wollte davonlaufen. Er wollte die entsetzliche Wahrheit herausbrüllen und dann lachen, damit die Burgbewohner stolpernd und sich überschlagend aus den Türen gestürzt kamen. Wie sicher sie doch immer waren, ihrer Sache so sicher, wie sie Vermutungen anstellten und klatschten – und nichts wußten! Nichts! Simon wollte laut losheulen und Gegenstände umwerfen, aber er konnte sein Herz nicht vom Bann der Furcht befreien, den Pryrates' Aasvogelaugen über ihn geworfen hatten. Was sollte er tun? Wer würde ihm helfen, die Welt wieder ins Lot zu bringen?

Morgenes.

Noch während Simon mit schlotternden Gliedern über die dämmrigen Burghöfe rannte, erschien vor seinem geistigen Auge das ruhige, fragende Gesicht des Doktors und verdrängte die tödlichen Züge des Priesters und den angeketteten Schatten dort unten im Verlies. Ohne es recht wahrzunehmen, floh er an dem ebenfalls angeketteten, schwarzgestrichenen Tor des Hjeldin-Turms vorbei und die Stufen zur Staatskanzlei hinauf. In wenigen Sekunden hatte er die langen Korridore durchquert und die Tür zum verbotenen Grünengel-Turm aufgerissen. So heftig trieb es ihn nach der Wohnung des Doktors, daß er dem Küster Barnabas, falls dieser auf ihn gewartet hätte, um ihn zu fangen, unter den Händen zerronnen wäre wie Quecksilber. Ein brausender Wind durchfuhr ihn, erfüllte ihn mit wilder Hast, jagte ihn weiter. Noch bevor die Seitentür des Turms hinter ihm ins Schloß fiel, war er schon an der Zugbrücke; Sekunden später hämmerte er an Morgenes' Tür. Ein paar Wachen der Erkyngarde sahen gleichgültig auf und widmeten sich dann wieder ihrem Würfelspiel.

»Doktor! Doktor!« schrie Simon und donnerte auf die Tür ein wie ein wahnsinnig gewordener Küfer. Gleich darauf erschien der alte Mann, mit nackten Füßen, Alarm in den Augen.

»Bei den Hörnern des schnaubenden Cryunnos, Junge! Bist du verrückt? Hast du Hummeln gefressen?«

Ohne ein Wort der Erklärung drängte Simon sich an Morgenes vorbei und rannte den Gang entlang. Vor der inneren Tür blieb er keuchend stehen. Der kleine Mann folgte ihm. Nachdem er ihn einen Augenblick scharf und prüfend gemustert hatte, ließ er Simon eintreten.

Kaum hatte sich die Tür hinter den beiden geschlossen, als Simon die Geschichte seiner Expedition und ihrer Ergebnisse hervorzusprudeln begann. Der Doktor schürte umständlich ein kleines Feuer und goß einen Krug Würzwein zum Wärmen in einen Topf. Während er sich so betätigte, hörte er Simons Bericht zu und stocherte ab und zu mit einer Frage im Redefluß des Jungen wie ein Mann, der einen Stock in einen Bärenkäfig hält. Mit grimmigem Kopfschütteln reichte er Simon einen Becher mit dem Glühwein und setzte sich dann mit seinem eigenen Becher in einen zerkratzten, hochlehnigen Sessel. Er hatte Pantoffel über die dünnen, weißen Füße gezogen und hockte nun mit übereinandergeschlägenen Beinen auf dem Stuhlkissen. Das graue Gewand war ihm über die knochigen Schienbeine hinaufgerutscht.

»… und ich weiß, daß ich keine magischen Türen anfassen soll, Doktor, ich weiß es, aber ich habe es eben getan, und es war Josua! Es tut mir leid, ich bringe alles durcheinander, doch ich weiß ganz genau, daß ich ihn gesehen habe! Er hatte einen Bart, glaube ich, und sah fürchterlich aus … aber er war es!«

Morgenes nippte an seinem Wein und betupfte sich mit dem langen Ärmel den Kinnbart. »Ich glaube dir, Junge«, antwortete er. »Das Gegenteil wäre mir lieber, aber auf eine ganz üble Art ergibt das alles einen Sinn. Es bestätigt eine seltsame Nachricht, die ich erhalten habe.«

»Aber was machen wir jetzt?« Simon brüllte beinahe. »Er stirbt! Hat ihm Elias das angetan? Weiß der König davon?«

»Das kann ich wirklich nicht sagen – jedenfalls steht fest, daß Pryrates es weiß.« Der Doktor stellte den Weinbecher hin und erhob sich. Hinter seinem Kopf rötete der letzte Schein der Abendsonne die schmalen Fenster. »Aber was wir jetzt machen, kann ich dir sagen: Für dich heißt es jetzt, zum Abendessen zu gehen.«

»Abendessen?« Simon verschluckte sich und kleckerte Würzwein auf sein Wams. »Wo Prinz Josua…«

»Jawohl, mein Junge, genau das. Im Augenblick können wir gar nichts unternehmen, und ich muß nachdenken. Wenn du das Abendessen versäumst, wird es lediglich einen Aufstand geben – wenn auch nur einen ganz kleinen –, und das würde genau zu dem beitragen, was wir nicht wollen, nämlich die Aufmerksamkeit auf uns lenken. Nein, geh jetzt und iß zu Abend … und halt den Mund zwischen den einzelnen Bissen, ja?«


Die Mahlzeit schien so langsam vorüberzugehen wie die Schneeschmelze im Frühjahr. Eingekeilt zwischen geräuschvoll kauenden Küchenjungen, mit einem Herzen, das doppelt so schnell schlug wie sonst, widerstand Simon dem wilden Drang, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen und Becher und Geschirr auf den binsenbestreuten Fußboden zu schmettern und tanzen zu lassen. Die Belanglosigkeit der Unterhaltung reizte ihn unerträglich, und der Kartoffelauflauf mit Fleisch, den Judith extra zum Belthainn-Abend gebacken hatte, lag ihm ohne jeden Geschmack und unzerkaubar wie Holz im Mund.

Rachel sah von ihrem Platz am Kopfende des Tisches mißbilligend zu, wie er unruhig hin und her rutschte. Als Simon so lange stillgesessen hatte, wie es ihm überhaupt möglich war, und dann aufsprang, um sich zu entschuldigen, folgte sie ihm zur Tür.

»Entschuldige bitte, Rachel, aber ich habe es furchtbar eilig!« sagte er und hoffte so, die Lektion, die sie ihm offensichtlich gleich erteilen wollte, abzuwenden. »Doktor Morgenes hat etwas sehr Wichtiges, bei dem ich ihm helfen soll. Bitte!«

Einen Augenblick sah der Drache aus, als wolle sie ihn mit jenem gräßlichen Griff am Ohr packen und gewaltsam an den Tisch zurückbefördern, aber irgend etwas in seinem Gesicht oder seinem Tonfall berührte sie; fast hätte sie gelächelt.

»Na gut, ausnahmsweise – aber du bedankst dich zuvor bei Judith für das schöne Stück Auflauf, bevor du gehst. Sie hat den ganzen Nachmittag daran gearbeitet.«

Simon rannte zu Judith hinüber, die sich an ihrem eigenen Tisch aufgebaut hatte wie ein gewaltiges Zelt. Als er ihre Mühen pries, erröteten ihre runden Wangen lieblich. Bei seinem eiligen Rückzug zur Tür beugte Rachel sich vor und schnappte ihn am Ärmel. Er hielt an und drehte sich um, den Mund bereits zu einer Beschwerde geöffnet, aber Rachel erklärte nur: »Nun beruhige dich erst einmal und paß auf dich auf, du Mondkalbjunge. Es gibt nichts, das so wichtig ist, daß man sich umbringt, um es zu erreichen.« Sie gab ihm einen Klaps auf den Arm und ließ ihn frei; noch während sie ihm nachsah, war er zur Tür hinaus und fort.


Bis Simon am Brunnen ankam, hatte er Jacke und Mantel angezogen. Morgenes war noch nicht da, und so marschierte der Junge ungeduldig im tiefen Schatten des Speisesaalgebäudes auf und ab, bis eine leise Stimme an seiner Seite ihn überrascht zusammenfahren ließ.

»Tut mir leid, daß du warten mußtest, Junge. Inch kam vorbei, und es war verteufelt schwer, ihn davon zu überzeugen, daß ich ihn nun doch nicht brauchte.« Der Doktor zog die Kapuze herunter und verbarg sein Gesicht.

»Wie seid Ihr denn so geräuschlos erschienen?« fragte Simon und imitierte das Flüstern des Doktors.

»Ich bin immer noch einigermaßen beweglich«, erwiderte der Doktor in gekränktem Ton. »Zwar bin ich alt, aber noch kein Moribundus.«

Simon wußte nicht, was ›Moribundus‹ bedeutete, verstand jedoch, was der Doktor sagen wollte. »Entschuldigung«, wisperte er.

Schweigend stiegen die beiden die Speisesaaltreppe und in den ersten Lagerraum hinunter. Dort zog Morgenes eine Kristallkugel von der Größe eines grünen Apfels hervor. Als er daran rieb, flackerte in der Mitte ein kleiner Funke auf, der ganz langsam heller wurde, bis er die Fässer und Ballen ringsum in weiches, honigfarbenes Licht tauchte. Morgenes verhüllte die untere Hälfte der Kugel mit dem Ärmel und hielt sie vor sich, während Simon und er sich vorsichtig einen Weg durch die aufgestapelten Vorräte suchten.

Die Falltür war geschlossen; Simon konnte sich nicht erinnern, ob er sie zugeworfen hatte, als er wie ein Wahnsinniger hinausgestürzt war. Sie stiegen vorsichtig, Simon voran, die Leiter hinunter; Morgenes, über ihm, hielt die glänzende Kugel nach allen Seiten. Simon zeigte ihm die kleine Kammer, in der Pryrates ihn um ein Haar entdeckt hätte; dann kletterten sie weiter bis ganz nach unten.

Der Raum dort war so unbewohnt wie zuvor, aber die Tür zum steinernen Gang wieder geschlossen. Simon war fast sicher, daß er sie nicht angerührt hatte, und erklärte das auch Morgenes. Aber der kleine Mann machte nur eine Handbewegung und trat an die Wand, wo er mit Hilfe von Simons Hinweisen die Stelle fand, an der sich der Spalt gezeigt hatte. Der Doktor rieb mit kreisenden Fingerbewegungen über die Mauer und murmelte dabei leise vor sich hin, aber keine Ritze wollte sich sehen lassen.

Nachdem Morgenes eine Weile vor der Mauer gehockt und mit sich selbst gesprochen hatte, bekam Simon es satt, von einem Fuß auf den ändern zu hüpfen, und kauerte sich neben ihn.

»Könnt Ihr nicht einfach irgendeinen Zauber sprechen, damit sie aufgeht?«

»Nein!« zischte Morgenes. »Kein vernünftiger Mensch, ich wiederhole, keiner, benutzt die Kunst, wenn es nicht unbedingt nötig ist – schon gar nicht, wenn er es mit einem anderen Adepten zu tun hat, wie wir hier mit unserem Vater Pryrates. Ebensogut könnten wir meinen Namen auf die Wand malen.«

Während Simon sich auf seine Fersen zurücklehnte und eine finstere Miene machte, legte der Doktor die linke Handfläche auf die Mitte der Stelle, an der die Tür gewesen war. Nachdem er die Oberfläche einen Moment lang vorsichtig abgeklopft hatte, versetzte er ihr mit der rechten Hand einen kräftigen Stoß – die Tür sprang auf, und Fackellicht ergoß sich in den Raum. Der Doktor spähte hinein. Dann ließ er den Lampenkristall in den Saum seines umfangreichen Ärmels gleiten und holte einen zusammengenähten Lederbeutel hervor.

»Ach, Simon, Junge«, kicherte er leise, »was für ein Dieb doch aus mir geworden wäre! Das war keine magische Tür – sie war nur mit Hilfe der Kunst versteckt. Jetzt komm mit.« Sie traten in den feuchten Steingang.

Ein sirupartiges Echo folgte ihren Schritten, als sie den feuchten Gang zu der verschlossenen Tür hinunterrutschten und -stapften. Morgenes beugte sich über das Guckloch und warf einen Blick ins Innere.

»Ich glaube, du hast recht, Junge«, zischte er. »Bei Nuannis Schienbein! Ich wünschte, es wäre anders.« Er wandte sich dem Schloß zu und untersuchte es genau. »Lauf ans Ende des Ganges und spitz die Ohren, ja?«

Während Simon Wache stand, wühlte Morgenes in seinem Lederbeutel und zog endlich eine lange, nadeldünne Klinge hervor, die in einem hölzernen Griff steckte. Damit winkte er Simon vergnügt zu.

»Naraxi-Schweinestecher. Wußte, daß ich den mal gut gebrauchen könnte!«

Er versuchte die Klinge am Schlüsselloch; sie glitt bequem in die Öffnung. Dann nahm er sie wieder heraus und schüttelte aus seinem Beutel ein winziges Krüglein, das er mit den Zähnen entkorkte. Simon sah gebannt zu. Morgenes kippte den Krug und ließ eine dunkle, klebrige Substanz auf die Nadelklinge fließen, um dann sofort die Spitze wieder in das Schlüsselloch zu stecken. Als sie in das Schloß eindrang, hinterließ sie glänzende Spuren. Morgenes wackelte kurz mit dem Schweinestecher hin und her, trat dann einen Schritt zurück und zählte an den Fingern ab. Als er beide Hände jeweils dreimal abgezählt hatte, packte er den schlanken Griff und drehte. Er verzog das Gesicht und ließ los.

»Komm her, Simon. Wir brauchen deine starken Arme.« Auf Anweisung des Doktors ergriff Simon das seltsame Werkzeug am unteren Ende und begann zu drehen. Zunächst glitten seine verschwitzten Handflächen von dem polierten Holz ab, dann aber packte er fester zu und fühlte nach kurzer Zeit, wie im Schloß etwas einrastete. Gleich darauf hörte er den Riegel zurückgleiten. Morgenes nickte mit dem Kopf, und Simon stieß mit der Schulter die Tür auf.

Die schwelenden Binsen in der Wandhalterung verbreiteten nur schwaches Licht. Als Simon und der Doktor eintraten, sahen sie, wie die angekettete Gestalt im Hintergrund der Zelle aufblickte und ihre Augen sich langsam weiteten, als erkenne sie die beiden wieder. Der Mund arbeitete, aber nur ein rauher Atemzug kam heraus. Der Gestank nach nassem, beschmutztem Stroh war überwältigend.

»Ach … ach … mein armer Prinz…«, brachte Morgenes hervor.

Während der Doktor eilig Josuas Handschellen untersuchte, konnte Simon nur zusehen und stand dem reißenden Strom der Ereignisse so hilflos gegenüber, als träume er. Der Prinz war qualvoll dünn und so bärtig wie ein wandernder Prophet des Unheils; die Hautpartien, die trotz des elenden Sacks, in dem er steckte, zu erkennen waren, bedeckten rote Schwären.

Morgenes flüsterte etwas in Josua Ohnehands Ohr. Er hatte seinen Beutel wieder hervorgeholt und hielt in der Hand einen flachen Tiegel von der Sorte, in der Damen ihre Lippenschminke aufbewahren. Energisch rieb der kleine Doktor etwas von dem Inhalt erst auf seine eine, dann auf die andere Handfläche und sah sich noch einmal genau Josuas Fesseln an. Beide Arme waren an einen massiven, in der Mauer befestigten Eisenring gekettet; der eine mit einer Handschelle, der handlose mit einer Art Manschette um den dünnen Oberarm des Prinzen.

Als Morgenes mit dem Einschmieren seiner Hände fertig war, reichte er Simon Tiegel und Beutel. »Jetzt sei ein braver Junge«, sagte er, »und halt die Hand vor die Augen. Ich habe einen in Seide gebundenen Band von Plesinnen Myrmenis – den einzigen nördlich von Perdruin – für diesen Schlamm eingetauscht. Ich hoffe nur – Simon, bitte halt dir die Augen zu…«

Der Junge hob die Hände und sah noch, wie Morgenes nach dem Ring griff, der die Kette des Prinzen im Stein festhielt. Gleich darauf blitzte ein rosenroter Lichtstrahl durch Simons verschränkte Finger, gefolgt von einem Knall, als schlüge ein Hammer auf Schiefer. Als er wieder hinsah, lag Prinz Josua inmitten seiner Ketten auf dem Boden; Morgenes kniete mit qualmenden Handflächen daneben. Der Mauerring war geschwärzt und verdreht wie ein verbrannter Haferkuchen.

»Puh!« Der Doktor schnappte nach Luft. »Ich hoffe nur … ich hoffe … daß ich das nie wieder machen muß. Kannst du den Prinzen aufheben, Simon? Ich bin sehr schwach.«

Josua rollte steif zur Seite und sah sich um. »Ich glaube … ich … kann … gehen. Pryrates … hat mir etwas … gegeben.«

»Unfug.« Morgenes holte tief Atem und kam schwankend auf die Füße. »Simon ist ein kräftiger Bursche – los, komm, Junge, halt keine Maulaffen feil! Heb ihn auf!«

Nach einigem Hin und Her gelang es Simon, die herunterhängenden Stücke von Josuas Ketten, die noch immer an Handgelenk und Arm befestigt waren, um die Mitte des Prinzen zu schlingen. Dann nahm er Josua mit Morgenes' Hilfe auf den Rücken wie ein Kind, das man huckepack trägt. Er stand auf und holte tief Luft. Zuerst fürchtete er, er würde es nicht schaffen, aber dann schob er sich den Prinzen mit einem ungeschickten Hüftschwung höher auf den Rücken und stellte fest, daß es selbst mit dem zusätzlichen Gewicht der Ketten nicht unmöglich war.

»Wisch dir das alberne Grinsen vom Gesicht, Simon«, ermahnte ihn der Doktor. »Wir müssen ihn noch die Leiter hinaufbekommen.«


Irgendwie gelang es ihnen – Simon, der vor lauter Anstrengung ächzte und beinahe geweint hätte, Josua, der sich mit seinen schwachen Kräften an den Leitersprossen hochzog, und Morgenes, der von hinten schob und ihnen aufmunternde Worte zuflüsterte. Es war ein langer, alptraumhafter Anstieg, aber endlich erreichten sie den Hauptlagerraum. Morgenes huschte voraus, während Simon sich zum Ausruhen an einen Ballen lehnte, den Prinzen immer noch auf dem Rücken.

»Irgendwo, irgendwo…« murmelte Morgenes und drängte sich durch die enggestapelten Vorräte. Als er die Südwand des Raumes gefunden hatte, leuchtete er mit seinem Kristall vor sich und begann ernsthaft nach etwas zu suchen.

»Was …?« wollte Simon fragen, aber der Doktor gebot ihm mit einer Geste zu schweigen. Während Morgenes hinter Faßbergen auftauchte und wieder verschwand, spürte Simon eine ganz zarte Berührung auf seinem Haar. Der Prinz strich ihm sanft über den Kopf.

»Wirklich! Wirklich!« hauchte Josua. Simon fühlte, wie ihm etwas Warmes in den Nacken rann.

»Gefunden!« kam Morgenes' unterdrückter, aber triumphierender Ausruf. »Kommt her!« Simon erhob sich leicht schwankend und trug den Prinzen mit sich. Der Doktor stand an der kahlen Steinwand und deutete auf eine Pyramide aus großen Fässern. Der Lampenkristall verlieh ihm den Schatten eines turmhohen Riesen.

»Was gefunden?« Simon rückte den Prinzen zurecht und starrte um sich. »Fässer?«

»Allerdings«, kicherte der Doktor. Mit schwungvoller Gebärde gab er dem runden Rand des obersten Fasses eine halbe Drehung, dessen ganze Seite sogleich aufschwang wie eine Tür und ein höhlenartiges Dunkel enthüllte.

Mißtrauisch schaute Simon in die Finsternis. »Was ist das?«

»Ein Gang, du törichter Knabe.« Morgenes nahm ihn am Ellenbogen und führte ihn auf das Faß mit der offenen Seitenwand zu, das kaum mehr als Brusthöhe erreichte. »Die Burg ist voll von solchen geheimen Pfaden.«

Stirnrunzelnd bückte sich Simon und spähte in die schwarzen Tiefen.

»Dort hinein?«

Morgenes nickte. Josuas Retter begriff, daß er nicht aufrecht durch die Öffnung kam, und ließ sich auf die Knie nieder, um ins Innere zu kriechen, auf dem Rücken den Prinzen, der ihn ritt wie ein Fest-Pony.

»Ich wußte gar nicht, daß es in den Lagerräumen solche Gänge gibt«, meinte Simon, und seine Stimme erzeugte ein Echo im Faß. Morgenes beugte sich vor, um Josuas Kopf unter dem niedrigen Eingang durchzuschieben.

»Junge, es gibt mehr Dinge, die du nicht weißt, als Dinge, die ich weiß. Das Ungleichgewicht bringt mich noch zur Verzweiflung. Jetzt halt den Mund, wir haben es eilig.«

Auf der anderen Seite konnte man wieder stehen. Morgenes' Kristall zeigte ihnen einen langen, gewundenen Gang ohne weitere Besonderheiten, abgesehen von den geradezu märchenhaften Ablagerungen von Staub.

»Ach, Simon«, bemerkte Morgenes, während sie sich hastig fortbewegten, »ich wünschte nur, ich hätte die Zeit, dir ein paar von den Räumen zu zeigen, an denen dieser Gang vorbeiführt … einige davon waren die Wohnung einer sehr großen, sehr schönen Dame. Sie benutzte diesen Gang für ihre geheimen Stelldicheins.« Der Doktor sah zu Josua auf, dessen Gesicht an Simons Hals lag. »Jetzt schläft er«, murmelte Morgenes. »Alles schläft.«

Der Gang stieg an und senkte sich wieder, wand sich in die eine und die andere Richtung. Sie kamen an vielen Türen vorbei; an manchen waren die Schlösser eingerostet, andere hatten Klinken, die so glänzend waren wie ein neues Fithingstück. Einmal passierten sie eine Reihe schmaler Fenster; bei einem kurzen Blick hinaus sah Simon verblüfft die Posten auf der Westmauer, deren Umrisse sich gegen den Himmel abzeichneten. Dort, wo die Sonne untergegangen war, hatten die Wolken eine zartrosa Tönung.

Wir müssen über dem Speisesaal sein, dachte Simon verwundert. Wann haben wir nur die ganze Kletterei hinter uns gebracht?

Sie stolperten vor Erschöpfung, als Morgenes endlich haltmachte. In diesem Teil des gewundenen Ganges gab es keine Fenster, nur Wandbehänge. Einen davon hob der Doktor hoch; nichts als grauer Stein wurde sichtbar.

»Das war der falsche«, pustete Morgenes und lupfte den nächsten, worauf sich eine Tür aus rohem Holz zeigte. Er legte das Ohr daran, lauschte einen Augenblick und zog die Tür auf. »Staatsarchiv.« Er wies auf den von Fackeln beleuchteten, breiten Korridor gegenüber. »Nur ein paar … hundert Schritte von meiner Wohnung.« Sobald Simon und sein Traggast hinausgetreten waren, ließ er die Tür zurückschwingen; mit einem gebieterischen Krachen fiel sie ins Schloß. Als er sich umsah, konnte Simon sie vom Rest der Täfelung, die die Wände des Ganges bedeckten, nicht mehr unterscheiden.

Nur einmal noch mußten sie eine ungeschützte Stelle überqueren, ein ziemlich hastiges Rennen von der Osttür der Archivräume quer über den offenen Anger. Während sie über das düstere Gras schwankten, wobei sie sich so dicht wie möglich an die Mauer hielten, ohne sich im Efeu zu verfangen, kam es Simon vor, als sähe er im Schatten der Mauer auf der anderen Seite des Hofes eine Bewegung; etwas Großes, das unmerklich seine Stellung änderte, als wollte es beobachten, wohin sie gingen; eine bekannte Gestalt mit gebeugten Schultern. Aber das Licht nahm jetzt schnell ab, und er war sich nicht sicher – es konnte auch nur ein weiterer schwarzer Fleck sein, der vor seinen Augen tanzte.

Er hatte Seitenstechen, als hätte jemand seine Rippen zwischen Rubens Schmiedezange geklemmt. Morgenes, der vorausgehumpelt war, hielt die Tür auf. Simon torkelte hinein, setzte seine Last sorgsam ab und brach dann der Länge lang auf den kühlen Steinplatten zusammen, verschwitzt und atemlos. Um ihn drehte sich die Welt in schwindelndem Tanz.

»Hier, Hoheit, trinkt das, hier, nehmt«, hörte er Morgenes sagen. Etwas später schlug Simon die Augen wieder auf und stützte sich auf einen Ellenbogen. Josua saß an die Wand gelehnt da; vor ihm hockte Morgenes mit einem braunen Tonkrug.

»Besser?« erkundigte sich der Doktor.

Der Prinz nickte schwach. »Schon kräftiger. Dieser Trank schmeckt wie das, was Pryrates mir gab … nur nicht so bitter. Er meinte, ich würde zu schnell schwächer … sie brauchten mich heute nacht.«

»Brauchten Euch? Das hört sich nicht gut an … gar nicht gut.« Morgenes reichte Simon den Krug. Das Getränk war blasig und sauer, aber es wärmte. Der Doktor spähte zur Tür hinaus und schob dann den Riegel ins Schloß.

»Morgen ist Belthainnstag, der erste Maia«, sagte er. »Heute nacht ist … heute nacht ist eine besonders gefährliche Nacht, mein Prinz. Steinigungsnacht nennt man sie.«

Simon fühlte, wie der Trank des Doktors auf dem Weg in seinen Magen angenehm brannte. Der Schmerz in seinen Gelenken ließ nach, als habe man einen festgezwirbelten Stoffstreifen ein oder zwei Umdrehungen gelockert. Er setzte sich auf; ihm war immer noch schwindlig.

»Es scheint mir bedenklich, daß sie Euch ausgerechnet in solch einer Nacht ›brauchen‹«, wiederholte Morgenes. »Ich fürchte, es geht hier um weit Schlimmeres als nur die Gefangenschaft des königlichen Bruders.«

»Diese Gefangenschaft war mir schlimm genug.« Ein schiefes Grinsen verzerrte Josuas abgemagerte Züge und verschwand dann, um tiefen Sorgenfalten Platz zu machen. »Morgenes«, fuhr er gleich darauf mit unsicherer Stimme fort, »diese … diese Bastarde von Hurensöhnen haben meine Männer umgebracht. Es war ein Hinterhalt.«

Der Doktor hob die Hand, als wollte er den Prinzen an der Schulter packen, ließ sie dann aber ungeschickt wieder sinken. »Gewiß, Herr, gewiß. Seid Ihr sicher, daß Euer Bruder dafür verantwortlich ist? Oder könnte Pryrates auf eigene Faust gehandelt haben?«

Josua schüttelte müde den Kopf. »Ich weiß nicht. Die Männer, die uns überfielen, trugen keine Abzeichen, und nachdem man mich in dieses Loch gebracht hatte, sah ich nur noch den Priester, sonst niemanden … aber es kommt mir seltsam vor, daß Pryrates etwas Derartiges ohne Elias unternommen haben sollte.«

»Das ist wahr.«

»Aber wieso? Verdammt sollen sie sein, wieso? Ich trage kein Verlangen nach der Macht – eher das Gegenteil! Ihr wißt es, Morgenes. Warum also sollte er so etwas tun?«

»Ich fürchte, mein Prinz, daß ich das im Augenblick auch nicht beantworten kann; aber ich muß gestehen, daß die ganze Angelegenheit meinen Verdacht in bezug auf … andere Dinge … sehr stark bekräftigt. Andere … nördliche Dinge. Erinnert Ihr Euch, jemals von den Weißfüchsen gehört zu haben?« Morgenes' Ton war bedeutungsschwer, aber der Prinz hob nur eine Braue und sagte nichts. »Ihr habt recht, wir haben jetzt keine Muße, uns über meine Befürchtungen zu unterhalten. Unsere Zeit ist knapp, es gibt Dringenderes zu tun.«

Morgenes half Simon, vom Boden aufzustehen, und begann dann herumzustöbern und nach etwas zu suchen. Der Junge stand da und betrachtete Prinz Josua, der mit geschlossenen Augen an der Wand lehnte, mit scheuen Blicken. Der Doktor kam mit einem Hammer, dessen Kopf vom vielen Gebrauch rund geworden war, und einem Meißel zurück.

»Schlag Josua die Ketten herunter, Junge, ja? Ich muß noch ein paar Sachen erledigen.« Eilig trottete er wieder fort.

»Hoheit?« sagte Simon ruhig und trat zu dem Prinzen. Josua schlug die trüben Augen auf und starrte zuerst auf den Jungen, dann auf die Werkzeuge in seiner Hand. Er nickte.

Simon kniete neben dem Prinzen nieder und zerbrach mit ein paar scharfen Hieben das Schloß des Bandes, das Josuas rechten Arm umspannte. Als er auf die linke Seite des Prinzen hinüberwechselte, öffnete Josua erneut die Augen und legte Simon abwehrend die Hand auf den Arm.

»Nimm mir an dieser Seite nur die Kette ab, Junge.« Ein gespenstisches Lächeln flackerte über sein Gesicht. »Die Handschelle laß mir zur Erinnerung an meinen Bruder.« Er streckte den verdorrten Stumpf des rechten Handgelenks aus. »Wir haben eine Art Kerbholz, weißt du.«

Simon überlief es plötzlich kalt, und er zitterte, als er Josuas linken Unterarm gegen die Steinplatten drückte. Mit einem einzigen Hieb durchtrennte er die Kette und ließ die Manschette aus geschwärztem Eisen oberhalb der fehlenden Hand an ihrem Platz.

Morgenes erschien mit einem Bündel schwarzer Kleider. »Kommt, Josua. Wir müssen uns beeilen. Es ist schon fast eine Stunde nach Einbruch der Dunkelheit, und wer weiß, wann sie anfangen werden, nach Euch zu suchen. Ich habe meinen Dietrich abgebrochen im Schloß stecken lassen, aber das wird sie nicht lange daran hindern, Euer Verschwinden zu entdecken.«

»Was wollen wir tun?« fragte der Prinz, der unsicher auf den Füßen stand und sich von Simon in die muffig riechenden Bauernkleider helfen ließ. »Wem in der Burg können wir vertrauen?«

»Im Augenblick niemandem – nicht so ohne Vorwarnung. Darum müßt Ihr sofort nach Naglimund aufbrechen. Nur dort seid Ihr in Sicherheit.«

»Naglimund…« Josua machte einen verwirrten Eindruck. »In all diesen grauenvollen Monaten habe ich so oft von meiner Heimat geträumt … doch nein! Ich kann nicht fort; ich muß dem Volk die Falschheit meines Bruders zeigen. Ich werde starke Arme finden, die mich unterstützen.«

»Nicht hier … und nicht jetzt.« Morgenes sprach mit fester Stimme, die hellen Augen gebieterisch. »Ihr würdet wieder im Verlies landen, und dieses Mal würde man Euch sehr schnell und in aller Heimlichkeit enthaupten. Begreift Ihr nicht? Ihr müßt an einen befestigten Ort gehen, wo Ihr vor Verrat sicher seid, bevor Ihr Ansprüche durchsetzen könnt. Wie viele Könige haben schon ihre Verwandten gefangengesetzt und getötet – und die meisten blieben ungestraft. Es braucht mehr als Familienstreitigkeiten, um die Bevölkerung zum Aufstand zu bringen.«

»Nun gut«, antwortete Josua unwillig, »selbst wenn Ihr recht hättet, wie sollte ich entkommen?« Ein Hustenanfall schüttelte ihn. »Die Burgtore sind … sind ohne Zweifel für die Nacht geschlossen. Soll ich als fahrender Sänger verkleidet zum Inneren Tor schlendern und versuchen, mir den Durchlaß zu ersingen?«

Morgenes lächelte. Simon war beeindruckt vom Mut des grimmigen Prinzen, der noch vor einer Stunde ohne Hoffnung auf Rettung in einer feuchten Zelle in Ketten gelegen hatte.

»Wie der Zufall es will, habt Ihr mich mit dieser Frage nicht unvorbereitet getroffen«, erklärte der Doktor. »Bitte schaut her.«

Er ging zur Hinterwand des langen Zimmers, in die Ecke, in der Simon einst an der rauhen Steinmauer geweint hatte. Dort zeigte er auf die Sternkarte, deren miteinander verbundene Konstellationen einen großen, vierfach geflügelten Vogel formten. Mit einer kleinen Verbeugung zog Morgenes die Karte beiseite. Dahinter lag eine große, viereckige, in den Felsen gehauene Öffnung mit einer Holztür.

»Wie bereits vorgeführt, ist Pryrates nicht der einzige hier, der um verborgene Türen und Geheimgänge weiß.« Der Doktor lachte vergnügt. »Vater Rotmantel ist neu am Ort und muß noch viel über diese Burg lernen, die länger, als ihr beide es euch vorstellen könnt, mein Zuhause gewesen ist.«

Simon war so aufgeregt, daß er kaum stillstehen konnte, während Josua ein bedenkliches Gesicht machte. »Wohin führt das, Morgenes?« fragte er. »Es wird mir wenig nützen, wenn ich Elias' Verlies und Folterbank entkomme, nur um mich dann im Burggraben des Hochhorstes wiederzufinden.«

»Habt keine Sorge. Diese Burg ist auf einem Kaninchenbau von Höhlen und Tunneln erbaut, ganz zu schweigen von den Ruinen der noch älteren Burg unter uns. Das ganze Labyrinth ist so riesig, daß nicht einmal ich es auch nur zur Hälfte kenne – aber ich weiß genug davon, um Euch einen sicheren Ausgang zu verschaffen. Schaut her!«

Morgenes führte den auf Simons Arm gestützten Prinzen an den großen, das ganze Zimmer einnehmenden Tisch. Dort breitete er ein zusammengerolltes Pergament aus, dessen Ränder vor Alter grau und ausgefranst waren.

»Ihr seht«, begann Morgenes, »daß ich nicht müßig war, während mein junger Freund sein Abendessen einnahm. Dies ist ein Plan der Katakomben – zwangsläufig nur eines Teilbereiches, aber Eure Route ist darauf gekennzeichnet. Wenn Ihr Euch sorgfältig daran haltet, werdet Ihr zum Schluß auf dem Begräbnisplatz, jenseits der Mauern von Erchester, wieder an die Oberfläche kommen. Von dort aus findet Ihr sicherlich den Weg zu einem Unterschlupf für die Nacht.«

Nachdem sie die Karte studiert hatten, nahm Morgenes Josua beiseite, und die beiden sprachen im Flüsterton miteinander. Simon, der sich mehr als nur ein wenig davon ausgeschlossen fühlte, stand da und betrachtete den Plan des Doktors. Morgenes hatte den Weg mit roter Tinte eingezeichnet. Von den vielen Drehungen und Windungen schwirrte Simon schon jetzt der Kopf.

Als die beiden Männer ihre Diskussion beendet hatten, nahm Josua die Karte an sich. »Nun denn, alter Freund«, sagte er ruhig, »wenn ich gehen muß, dann am besten gleich. Es wäre unklug, fände mich die nächste Stunde noch hier im Hochhorst. Über die anderen Dinge, die Ihr mir mitgeteilt habt, werde ich sorgfältig nachdenken.« Sein Blick schweifte über den vollgestopften Raum. »Ich fürchte nur das Schicksal, das Eure tapferen Taten über Euch bringen könnten.«

»Daran könnt Ihr nichts ändern, Josua«, erwiderte Morgenes. »Auch bin ich nicht völlig ohne Verteidigung; es gibt ein paar Finten und Tricks, von denen ich Gebrauch machen kann. Sobald mir Simon von Eurer Entdeckung berichtete, habe ich mit gewissen Vorbereitungen begonnen. Ich fürchtete schon seit langem, daß ich zum Handeln gezwungen werden könnte; durch das heutige Ereignis ist nur eine geringfügige Beschleunigung eingetreten. Hier, nehmt diese Fackel.«

Mit diesen Worten nahm der kleine Doktor eine Kienfackel von der Wand und reichte sie dem Prinzen, dazu einen Sack, der daneben am Haken gehangen hatte.

»Ich habe Euch etwas zu essen und noch ein wenig von dem Heiltrank eingepackt. Es ist nicht viel, aber Ihr müßt mit leichtem Gepäck reisen. Bitte beeilt Euch jetzt.« Er hob die Sternkarte hoch und hielt sie von der Türöffnung zurück. »Sendet mir Botschaft, sobald Ihr sicher in Naglimund angekommen seid, und ich werde Euch noch andere Dinge berichten.«

Der Prinz nickte und hinkte langsam in die Öffnung des Ganges hinein. Die Fackelflamme schob seinen Schatten tief in den Schacht hinunter, als er sich noch einmal umdrehte.

»Ich werde Euch das nie vergessen, Morgenes«, erklärte er. »Und du, junger Mann … du hast heute eine tapfere Tat getan. Ich hoffe, daß du eines Tages deine Zukunft darauf aufbauen kannst.«

Simon kniete nieder; seine Gefühle machten ihn verlegen. Der Prinz sah so abgehärmt und grimmig aus. Der Junge empfand Stolz und Trauer und Furcht, die alle zugleich auf ihn einstürmten und seine Gedanken aufrührten und trübe machten.

»Lebt wohl, Josua«, sagte Morgenes und legte Simon die Hand auf die Schulter. Zusammen beobachteten sie, wie die Fackel des Prinzen sich im dunklen Gang verlor, bis die Schwärze sie verschlang. Der Doktor zog die Tür zu und ließ den Vorhang darüber fallen.

»Komm, Simon«, meinte er dann, »wir haben noch viel Arbeit. Pryrates wird seinen Gast für die heutige Steinigungsnacht vermissen, und ich kann mir nicht vorstellen, daß ihn das freut.«


Einige Zeit verging in Schweigen. Simon hockte auf der Tischplatte und ließ die Beine baumeln. Er hatte Angst, genoß aber dennoch die Erregung, die den Raum erfüllte – eine Spannung, die inzwischen über der ganzen, sonst so gesetzten alten Burg hing. Morgenes huschte nach allen Richtungen an ihm vorüber und eilte von einer unverständlichen Tätigkeit zur nächsten.

»Das meiste davon habe ich erledigt, als du beim Essen warst, weißt du, aber ein paar Sachen sind noch übrig, ein paar lose Enden.«

Die Erklärung des kleinen Mannes machte Simon kein bißchen schlauer, aber es war in so kurzer Zeit so vieles geschehen, daß selbst seine ungeduldige Natur fürs erste zufriedengestellt war. Er nickte und baumelte weiter mit den Beinen.

»So, ich glaube, das ist alles, was ich heute abend tun kann«, erklärte Morgenes endlich. »Du solltest lieber zurück und ins Bett gehen. Komm morgen früh wieder her, vielleicht gleich, nachdem du mit deinen Arbeiten drüben fertig bist.«

»Arbeiten?« Simon schnappte nach Luft. »Arbeiten? Morgen?«

»Aber natürlich«, knurrte der Doktor bissig. »Du glaubst doch nicht, daß ein Wunder geschieht, oder? Meinst du denn, der König würde sich hinstellen und verkünden: ›Ach, übrigens ist gestern mein Bruder aus dem Verlies entkommen, darum nehmen wir uns heute alle einen Tag frei und schauen nach, wo er geblieben ist‹ – das glaubst du doch wohl selber nicht, hm?«

»Nein, ich…«

»Und du würdest doch ganz bestimmt nicht sagen: ›Rachel, ich kann meine Arbeit nicht machen, weil Morgenes und ich auf Hochverrat sinnen‹ – oder hast du das vor?«

»Ganz bestimmt nicht!«

»Gut. Dann wirst du deine Aufgaben erfüllen und so schnell wie möglich wieder herkommen, und dann werden wir die Lage prüfen. Es ist alles viel gefährlicher, als du begreifst, Simon, aber ich fürchte, du steckst jetzt mittendrin, im Guten wie im Bösen. Und ich hatte gehofft, dich aus allem heraushalten zu können…«

»Woraus? Mittendrin in was, Doktor?«

»Laß gut sein, Junge. Hast du denn immer noch nicht genug? Ich werde morgen versuchen, dir alles zu erklären, was du ohne Schaden wissen darfst, aber die Steinigungsnacht ist nicht die beste Gelegenheit, von Dingen zu reden wie –«

Ein lautes Hämmern an der Außentür schnitt Morgenes das Wort ab. Sekundenlang starrten Simon und der Doktor einander an. Nach einer Pause klopfte es von neuem.

»Wer ist da?« rief Morgenes mit so ruhiger Stimme, daß Simon ihn noch einmal anschauen mußte, um die Furcht im Gesicht des kleinen Mannes zu bemerken.

»Inch«, kam die Antwort. Morgenes entspannte sich sichtlich.

»Geh fort«, erwiderte er. »Ich habe dir doch gesagt, daß ich dich heute abend nicht brauche.«

Kurzes Schweigen. »Doktor«, flüsterte Simon, »ich glaube, ich habe Inch vorhin gesehen…«

Wieder die monotone Stimme. »Ich denke, daß ich etwas vergessen habe … in Eurem Zimmer vergessen, Doktor.«

»Komm ein andermal wieder und hol es dir«, rief Morgenes, und diesmal war seine Verärgerung echt. »Ich habe jetzt viel zu viel zu tun, als daß ich mich stören lassen könnte.«

Simon versuchte es noch einmal. »Ich glaube, ich habe ihn gesehen, als ich den-«

»Öffnet sofort die Tür – im Namen des Königs!«

Simon fühlte kalte Verzweiflung nach seinem Magen greifen: Die neue Stimme gehörte nicht Inch.

»Beim Niederen Krokodil!« schwor Morgenes in leiser Verwunderung. »Der kuhäugige Dummkopf hat uns verraten. Ich hätte nicht gedacht, daß er den Verstand dazu besitzt. Ich will jetzt nicht gestört werden!« brüllte er plötzlich, sprang zu dem langen Tisch hinüber und strengte sich an, ihn vor die verriegelte Innentür zu schieben. »Ich bin ein alter Mann und brauche meine Ruhe!« Simon war mit einem Satz neben ihm und half. In ihm mischte sich Entsetzen mit einer unerklärlich aufflackernden, fast freudigen Erregung.

Draußen aus dem Gang rief eine dritte Stimme, eine grausame, heisere Stimme: »Allerdings wird deine Ruhe lange dauern, alter Mann.« Simon stolperte und wäre fast gestürzt, als seine Knie unter ihm nachgaben. Pryrates!

Ein schreckliches, knirschendes Geräusch hallte durch den inneren Gang, während Simon und der Doktor es endlich schafften, den schweren Tisch vor die Tür zu rücken. »Äxte«, sagte Morgenes und sprang auf der Suche nach irgend etwas um den Tisch herum.

»Doktor!« zischte Simon und hüpfte vor Angst auf und nieder. Von draußen hörte man das Echo splitternden Holzes. »Was können wir tun?« Er wirbelte herum und sah sich einem aberwitzigen Schauspiel gegenüber.

Morgenes kniete geduckt auf der Tischplatte, neben sich einen Gegenstand, den Simon gleich darauf als Vogelkäfig erkannte. Der Doktor hatte das Gesicht eng an die Gitterstäbe gedrückt. Er gurrte und murmelte den Tieren zu, während Simon schon hörte, wie die äußere Tür zusammenbrach.

»Was tut Ihr?« keuchte Simon. Morgenes hopste vom Tisch, den Käfig im Arm, und trabte quer durch den Raum zum Fenster. Bei Simons Aufjaulen drehte er sich um, betrachtete gelassen den verstörten Jungen, lächelte dann traurig und schüttelte den Kopf.

»Ja, natürlich, Junge«, sagte er, »ich muß mich auch um dich kümmern, weil ich es deinem Vater versprochen habe. Wie wenig Zeit uns doch vergönnt war!« Er setzte den Käfig ab, rannte wieder zum Tisch und wühlte in dem Durcheinander herum. Die Zimmertür begann unter der Wucht schwerer Schläge zu erbeben. Man hörte rauhe Stimmen und das Klirren gepanzerter Männer. Morgenes fand, was er suchte, ein Holzkästchen, und kippte es um, wobei etwas golden Glänzendes in seine Hand fiel. Er wollte wieder zum Fenster, blieb dann aber stehen und fischte noch einen Stapel dünner Pergamente aus dem Chaos auf dem Tisch.

»Nimm das mit, bitte«, sagte er und reichte Simon das Bündel, worauf er wieder ans Fenster eilte. »Es ist mein ›Leben König Johan Presbyters‹, und ich gönne Pryrates das Vergnügen nicht, Kritik daran zu üben.« Entgeistert nahm Simon die Papiere und stopfte sie unter dem Hemd ins Gürtelband. Der Doktor griff in den Käfig und holte einen der kleinen Bewohner heraus, den er in der hohlen Hand barg. Es war ein winziger, silbergrauer Sperling. Simon sah in sprachloser Verwunderung zu, wie der Doktor mit einem Stückchen Bindfaden ruhig das glänzende Schmuckstück – einen Ring? – an das Sperlingsbein schnürte. Am anderen Bein war bereits ein ganz schmaler Pergamentstreifen befestigt. »Sei stark mit deiner schweren Bürde«, sagte Morgenes leise und schien mit dem Vogel zu sprechen.

Genau über dem Riegel brach eine Axtschneide durch die schwere Tür. Morgenes bückte sich, hob einen langen Stock vom Boden auf und zerschlug das Oberlicht. Dann setzte er den Sperling aufs Fensterbrett und ließ ihn los. Der Vogel hüpfte einen Augenblick am Rahmen entlang, schwang sich dann in die Lüfte und verschwand im Abendhimmel. Auf die gleiche Art befreite der Doktor noch fünf weitere Sperlinge, bis der Käfig leer war.

Aus dem Mittelstück der Tür hatten die Äxte ein großes Stück herausgebissen. Dahinter konnte Simon die zornigen Gesichter und das grelle Fackellicht sehen.

Der Doktor winkte ihm. »Der Tunnel, Junge, schnell jetzt!« Hinter ihnen riß ein weiteres zerfetztes Holzstück ab und polterte krachend zu Boden. Die beiden rannten durch das Zimmer. Der Doktor drückte Simon etwas Kleines und Rundes in die Hand.

»Reib das, dann hast du Licht!« sagte er, »es ist besser als eine Fackel!« Er riß den Vorhang zur Seite und zerrte die Tür auf. »Nun los und beeil dich! Such die Tan'ja-Treppe, dort geht es nach oben!« Als Simon in die Mündung des Ganges hineinsprang, sackte die große Tür in den Angeln und brach zusammen. Morgenes wandte sich um.

»Aber Doktor!« schrie Simon. »Kommt mit! Wir können zusammen entkommen!« Der Doktor sah ihn an und schüttelte lächelnd den Kopf. Mit dem lauten Klirren zerbrechenden Glases kippte der vor die Tür geschobene Tisch um, und ein Trupp Bewaffneter in Grün und Gelb drängte sich in den Raum. Inmitten der Erkyngarde stand geduckt wie eine Kröte in einem Garten aus Schwertern und Äxten Breyugar, der oberste der Wachen. Im von Splittern übersäten Gang war Inchs massige Gestalt zu erkennen; hinter ihm blitzte scharlachrot Pryrates' Mantel.

»Halt!« donnerte eine Stimme durch den Raum – bei aller Furcht und Verwirrung brachte Simon es noch fertig, sich zu wundern, daß ein solcher Ton aus Morgenes' gebrechlichem Körper kommen konnte. Jetzt stand der Doktor vor der Erkyngarde, die Finger in seltsamer Gebärde gespreizt. Zwischen ihm und den verblüfften Soldaten begann die Luft sich zu biegen und zu schimmern. Die Substanz des Nichts schien sich unter Morgenes' Händen, die in wunderlichen Mustern tanzten, zu verfestigen. Sekundenlang beleuchteten die Fackeln die Szene vor Simons Augen, als wäre das Bild auf einem uralten Wandteppich erstarrt.

»Gott segne dich, Junge«, zischte Morgenes, »aber jetzt weg mit dir! Sofort!« Simon machte einen weiteren Schritt in den Gang hinein.

Pryrates drängte sich an der benommenen Wache vorbei, ein verschwommener roter Schatten hinter der Mauer aus Luft. Eine seiner Hände stieß vor wie ein Dolch; ein brodelndes, funkelndes Netz blauer Funken zeigte an, wo sie die dichter werdende Luft berührte. Morgenes taumelte zurück, und seine Barriere begann zu schmelzen wie eine Eisscholle. Der Doktor bückte sich und riß aus einem Gestell am Boden zwei Glaspokale.

»Haltet den Jungen!« schrie Pryrates, und plötzlich konnte Simon über dem Scharlachmantel seine Augen sehen … kalte schwarze Augen, die ihn festzuhalten schienen … ihn durchbohrten …

Die schimmernde Luftscheibe zerfloß. »Ergreift sie!« donnerte Graf Breyugar, und die Soldaten stürmten vorwärts. Simon beobachtete das Ganze mit krankhafter Faszination. Er wollte davonlaufen, konnte aber nicht, und zwischen ihm und den Schwertern der Erkyngarde stand nichts als … Morgenes.

»ENKI ANNUKHAI SHI'IGAO!« Die Stimme des Doktors dröhnte und läutete wie eine steinerne Glocke. Ein Windstoß kreischte durch das Zimmer, drückte die Fackeln nach unten und löschte sie aus. Mitten im Strudel stand Morgenes, in beiden ausgestreckten Händen einen Pokal. Im kurzen Augenblick der Verfinsterung gab es einen Knall, gefolgt von weißglühendem Auflodern, als die Glaspokale in Flammen aufgingen. Einen Herzschlag darauf rannen Feuerströme über Morgenes' Mantelärmel, und ein Heiligenschein aus knisternden Feuerzungen umgab seinen Kopf. Eine Welle furchtbarer Hitze trieb Simon zurück, als sich der Doktor noch einmal nach ihm umdrehte; schon schien sein Gesicht hinter dem Flammennebel, der es einhüllte, zu zerfließen und sich zu verwandeln.

»Geh, mein Junge«, hauchte er, und seine Stimme war wie eine Flamme. »Es ist zu spät für mich. Geh zu Josua!«

Simon, von Grauen gepackt, taumelte zurück. Die zerbrechliche Gestalt des Doktors zuckte in brennender, strahlender Helle. Morgenes fuhr herum. Er machte ein paar zögernde Schritte und warf sich dann mit ausgebreiteten Armen auf die schreienden Wachen, die einander in ihrer verzweifelten Hast, durch die zerbrochene Tür zurückzuweichen, gegenseitig über den Haufen rannten. Höllenflammen schossen aufwärts und schwärzten die ächzenden Dachbalken. Die Wände selbst begannen zu schaudern. Einen kurzen Augenblick hörte Simon die rauhe, halberstickte Stimme von Pryrates, die sich mit den Lauten von Morgenes' Todeskampf vermengte … dann gab es einen furchtbaren Lichtblitz und ein ohrenbetäubendes Brüllen. Eine Peitsche aus heißer Luft schleuderte Simon den Gang hinunter und schlug mit einem Krachen wie vom Hammer des Jüngsten Gerichts die Tür hinter ihm zu. Ganz benommen vernahm er nicht das mahlende, splitternde Aufschreien des zusammenstürzenden Balkendachs. Die Tür, mit vielen Tausendlasten Steinen und versengter Eiche verkeilt, erschauerte in ihren Grundfesten.


Lange Zeit lag er da, vom Schluchzen geschüttelt, die Tränen in seinen Augen von der Hitze getrocknet. Schließlich erhob er sich mühsam. Mit den Händen ertastete er die warme Steinwand und stolperte in die Dunkelheit hinein.

XIII Zwischenwelten

Stimmen, viele Stimmen – Simon konnte nicht sagen, ob sein Kopf sie hervorgebracht hatte oder die trostlose Finsternis ringsum – Stimmen waren in dieser ersten entsetzlichen Stunde seine einzigen Gefährten.

Simon Mondkalb! Schon wieder in der Patsche, Simon Mondkalb!

Sein Freund ist tot, sein einziger Freund, seid nett zu ihm, seid nett!

Wo sind wir?

In Finsternis, auf ewig in Finsternis, fledermausflatternd durch die endlosen Tunnel wie eine verlorene, schreiende Seele …

Simon Pilgrim ist er jetzt, verurteilt zum Wandern, zum Wundern

Nein, schauderte Simon und versuchte die schreienden Stimmen zu bändigen, ich will mich erinnern. Ich will mich an die rote Linie auf der alten Karte erinnern und die Tan'ja'Treppe suchen, was immer sie auch sein mag. Ich will mich an die schwarzen Augen des Mörders Pryrates erinnern … und an meinen Freund … meinen Doktor Morgenes.

Er sank auf dem sandigen Tunnelboden zusammen und weinte vor hilflosem, ohnmächtigem Zorn, ein kaum noch klopfendes Lebensherz in einem Universum aus schwarzem Stein. Die Schwärze legte sich wie etwas Erstickendes auf ihn, das den Atem aus ihm herausquetschte.

Warum hat er es getan? Warum ist er nicht geflohen?

Er starb, um dich zu retten – dich und Josua. Wäre er geflohen, hätte man ihn verfolgt – Pryrates' Zauber war stärker. Man hätte euch gefangengenommen, und sie hätten ungehindert dem Prinzen nachjagen, ihn hetzen und in seine Zelle zurückschleppen können. Deshalb ist Morgenes gestorben.

Simon haßte die Laute seines eigenen Weinens, dieses abgehackte, schnüffelnde Geräusch, dessen Echo nicht enden wollte. Er preßte alles aus sich heraus, schluchzte, bis seine Stimme nur noch ein trockenes Rasseln war – ein Ton, mit dem er leben konnte, nicht das weinerliche Blöken eines verirrten Mondkalbs im Dunkeln.

Ihm war schwindlig und übel. Er wischte sich mit dem Hemdsärmel das Gesicht ab und fühlte plötzlich das Gewicht von Morgenes' Kristallkugel in seiner Hand. Der Doktor hatte ihn mit Licht versorgt! Das und die Papiere, unbequem ins Gürtelband von Simons Hosen gestopft, waren sein letztes Geschenk.

Nein, flüsterte eine Stimme, das vorletzte, Simon Pilgrim.

Simon schüttelte den Kopf, um die leckende, murmelnde Angst zu verscheuchen. Was hatte Morgenes gesagt, als er das glitzernde Schmuckstück ans dünne Sperlingsbein band? Sei stark mit deiner schweren Bürde? Warum saß er hier in der Pechfinsternis, winselnd und sabbernd – war er nicht schließlich Morgenes' Lehrling?

Benommen und zitternd kam er auf die Füße. Unter seinen streichelnden Fingern spürte er die Glasoberfläche des Kristalls warm werden. Er starrte ins Dunkle, dorthin, wo seine Hände sein mußten, und dachte an den Doktor. Wie hatte der alte Mann so häufig lachen können, wo doch die Welt so voll verborgenen Verrates war, voll schöner Dinge, aber innerlich verfault? Es gab so viele Schatten, so wenig …

Vor ihm blitzte ein Nadelstich aus Licht auf – ein Nadelloch im Vorhang der Nacht, der wie ein Leichentuch die Sonne verhüllte. Er rieb fester und riß die Augen auf. Das Licht blühte auf und schlug die Schatten zurück; auf beiden Seiten sprangen die Wände des Ganges hervor, mit glühendem Bernstein überpinselt. Luft schien in seine Lungen zu schießen. Er konnte sehen!

Der momentane Auftrieb verging, als er sich umdrehte, um den Gang in beide Richtungen zu überschauen. Kopfschmerz ließ die Wände vor seinen Augen verschwimmen. Der Tunnel war fast ohne jedes Merkmal, ein einsames Loch, das sich tief in die Unterseite der Burg grub, bekränzt mit bleichen Spinnweb-Girlanden. Weiter oben im Gang bemerkte er eine Kreuzung, die er schon passiert hatte, einen in der Wand gähnenden Schlund. Er ging zurück. Ein schnelles Hineinleuchten mit dem Kristall zeigte hinter der Öffnung nur Mauerstücke und Geröll, eine schräge Abfallhalde, die aus der Reichweite des dünnen Kugellichtes hinausführte. Wieviel weitere Kreuzwege hatte er schon verpaßt? Und woher sollte er wissen, welche die richtigen waren? Eine neue Welle würgender Hoffnungslosigkeit überflutete Simon. Er war hoffnungslos allein, hoffnungslos verirrt. Nie würde er sich in die Welt des Lichtes zurückfinden.

Simon Pilgrim, Simon Mondkalb … Familie tot, Freund tot … seht ihn wandern und wandern … auf ewig…

»Ruhe!« knurrte er laut und hörte erschreckt, wie das Wort vor ihm den Weg hinunterrollte, ein Bote mit einer Bekanntmachung des Königs-unterder-Erde: »Ruhe … Ruhe … Ru…«

König Simon von den Tunneln begann seinen stolpernden Vormarsch.


Der Gang wand sich abwärts ins steinerne Herz des Hochhorstes, ein erstickender, krummer, spinnwebbedeckter Pfad, nur erhellt vom Glanz der Kristallkugel, die Morgenes gehört hatte. Dort, wo Simon vorübergegangen war, führten zerrissene Spinnennetze einen langsamen, gespenstischen Tanz auf; wenn er sich umsah, schienen die Fäden ihm nachzuwinken wie die klammernden, knochenlosen Finger von Ertrunkenen. Strähnen von Seidenfäden hingen ihm im Haar und legten sich klebrig über sein Gesicht, so daß er beim Gehen die Hand vor die Augen halten mußte. Oft fühlte er, wie etwas Kleines, Vielbeiniges durch seine Finger davonhuschte, wenn er durch ein Netz brach. Dann mußte er einen Augenblick mit gesenktem Kopf innehalten, bis das Zittern des Ekels nachließ, das ihn überfiel.

Nach und nach wurde es kälter, und die Gangwände schienen Feuchtigkeit auszuatmen. Ein Teil des Tunnels war eingestürzt; an manchen Stellen lagen heruntergefallene Erde und Steine so hoch in der Mitte des Pfades aufgehäuft, daß er sich, den Rücken an die feuchten Wände gepreßt, mühsam daran vorbeischieben mußte.

Genau das tat er – sich an einem Hindernis vorbeizwängen, die lichtspendende Hand über dem Kopf gehalten, mit der anderen vor sich nach dem Weg tastend –, als er einen stechenden Schmerz fühlte. Wie mit tausend Nadelstichen schoß es ihm die suchende Hand und den Arm hinauf. Ein Aufblitzen des Kristalls zeigte Simon eine Vision des Grauens: Hunderte, nein, Tausende winziger weißer Spinnen, die über seine Hand schwärmten, in seinen Hemdsärmel quollen und bissen wie tausend brennende Feuer. Simon kreischte auf und schlug den Arm gegen die Tunnelwand. Ein Regen aus Erdklumpen ergoß sich in seinen Mund und die Augen. Seine Schreckensschreie hallten im Gang wider und verstummten schnell. Auf dem feuchten Boden sank er in die Knie und klatschte den stechenden Arm immer wieder auf die Erde, bis der brennende Schmerz allmählich nachließ. Dann kroch er auf Händen und Knien vorwärts, fort von dem scheußlichen Nest oder Brutplatz, dessen Ruhe er gestört hatte. Während er sich duckte und mit loser Erde wie wahnsinnig den Arm abrieb, kamen ihm von neuem die Tränen und schüttelten ihn, als würde er ausgepeitscht.

Als er es über sich brachte, einen Blick auf seinen Arm zu werfen, zeigte das Licht des Kristalls unter dem Schmutz nur Rötungen und Schwellungen statt der blutigen Wunden, die er mit Bestimmtheit erwartet hatte. Der Arm pochte, und Simon fragte sich benommen, ob die Spinnen wohl giftig gewesen waren – und das Schlimmste noch kommen würde. Als er merkte, daß ihm von neuem das Schluchzen in die Brust stieg und ihm den Atem rauben wollte, zwang er sich zum Aufstehen. Er mußte weiter. Er mußte.

Tausend weiße Spinnen.

Er mußte weiter.

Im trüben Licht der Kugel ging es stetig nach unten. Es glänzte auf von Feuchtigkeit schlüpfrigen Steinen und von Erde erstickten Quergängen, durch die sich bleiche Wurzeln schlängelten. Bestimmt mußte er sich inzwischen tief unter der Burg befinden – tief unten in der schwarzen Erde. Nichts deutete darauf hin, daß Josua oder sonst jemand hier vorbeigekommen waren. Simon war bis zur Übelkeit klar, daß er in der Dunkelheit und in seiner Verwirrung irgendeine Abzweigung verpaßt haben mußte und sich nun wie auf einer Wendeltreppe in einen Abgrund hinabbewegte, aus dem es kein Entkommen gab.


Er war schon so lange weitergestapft, so vielen Kehren und Windungen gefolgt, daß der Gedanke an die schmale rote Linie auf Morgenes' altem Pergament längst seinen Sinn verloren hatte. In diesen engen Wurmlöchern, die einem die Luft abschnürten, gab es nichts, das auch nur entfernte Ähnlichkeit mit einer Treppe besaß. Selbst der glühende Kristall begann langsam zu flackern. Erneut verlor Simon die Kontrolle über die Stimmen, die ihn in den irren Schatten umzingelten wie eine grölende Menge.

Dunkel, und es wird immer dunkler. Dunkel, und es wird immer, immer dunkler.

Legen wir uns doch ein bißchen hin. Wir wollen schlafen, nur eine kleine Weile, schlafen…

Der König hat ein Tier in sich, und Pryrates ist sein Wärter …

»Gott segne dich, Junge«, hat Morgenes zu dir gesagt. Er kannte deinen Vater. Er bewahrte Geheimnisse.

Josua geht nach Naglimund. Dort scheint Tag und Nacht die Sonne. In Naglimund essen sie süßen Rahm und trinken klares, leuchtendes Wasser.

Die Sonne ist hell. Hell und heiß. Es ist heiß. Warum?

Der feuchte Tunnel war plötzlich sehr warm. Simon stolperte weiter, hoffnungslos überzeugt davon, daß es das erste Fieber des Spinnengiftes war, das er jetzt spürte. Er würde in der Dunkelheit sterben, der schrecklichen Dunkelheit. Nie wieder würde er die Sonne sehen, nie wieder ihr…

Die Wärme schien sich in seine Lungen zu drängen. Es wurde tatsächlich heißer!

Stickige Luft umfloß ihn, klebte ihm das Hemd an die Brust und die Haare an die Stirn. Einen Augenblick durchzuckte ihn noch stärkere Panik.

Bin ich im Kreis gelaufen? Bin ich stundenlang weitergelaufen, nur um wieder vor den Ruinen von Morgenes' Zimmer zu stehen, vor den verbrannten, schwarzverkohlten Resten seines Daseins?

Aber das war nicht möglich. Er war ständig abwärts gegangen und nie weiter nach oben gestiegen, als für einen Augenblick ebenen Gehens erforderlich. Warum war es dann so heiß?

In ihm stieg unwiderstehlich die Erinnerung an eine von Shem Pferdeknechts Geschichten auf, eine Erzählung vom jungen Priester Johan, der durch die Finsternis auf eine ungeheure, brütende Hitze zuwanderte – auf den Drachen Shurakai in seiner Höhle unter der Burg … dieser Burg.

Aber der Drache ist tot! Ich habe seine Knochen berührt, einen gelben Sessel im Thronsaal. Es gibt keinen Drachen mehr – kein schlafloses, tiefatmendes rotes Ungetüm von der Größe des Turnierplatzes, das mit Klauen wie Schwertern und einer Seele, so alt wie die Steine von Osten Ard, in der Dunkelheit lauert – der Drache ist tot.

Aber hatten Drachen denn keine Brüder? Und was war das für ein Geräusch? Dieses dumpfe, grollende Brüllen?

Die Hitze war drückend, die Luft dick von beißendem Rauch. Simons Herz lag wie ein stumpfer Bleiklumpen in seiner Brust. Der Kristall begann zu verblassen, als breite Streifen rötlichen Lichts das schwächere Strahlen der Kugel auslöschten. Der Tunnel wurde flach, krümmte sich jetzt weder nach rechts noch nach links, sondern führte über eine lange, verwitterte Galerie zu einem gewölbten Türbogen hinunter, in dem ein flackernder, orangeroter Schein tanzte. Obwohl ihm der Schweiß das Gesicht hinunterlief, fing Simon an zu zittern. Die Tür zog ihn magisch an.

Dreh dich um und lauf, Mondkalb!

Er konnte nicht. Jeder Schritt kostete Mühe, aber er kam näher. Endlich hatte er den Bogen erreicht und steckte ängstlich den Kopf durch den Rahmen des Portals.

Es war eine riesige Höhle, in zuckendes Licht getaucht. Die Felswände schienen geschmolzen zu sein und sich dann abgesetzt zu haben wie Wachs am Fuß einer Kerze, der Stein in langen, senkrechten Tropfrinnen geglättet. Sekundenlang weiteten sich Simons vom Licht geblendeten Augen vor Staunen: am anderen Ende der Höhle kniete über ein Dutzend schwarzer Gestalten vor der Gestalt … eines ungeheuren feuerspeienden Drachen!

Gleich darauf erkannte er seinen Irrtum. Die Riesengestalt, die sich an die Steinwand duckte, war ein gewaltiger Ofen. Die schwarzgekleideten Figuren fütterten seinen flammenden Schlund mit Holzscheiten. Die Gießerei. Die Schmelzhütte der Burg!

Überall in der Höhle waren dick vermummte und mit Tüchern maskierte Männer damit beschäftigt, Kriegsgerät zu schmieden. Schwere Eimer mit glühendem Flüssigeisen wurden an langen Stangen aus den Flammen gezogen. Geschmolzenes Metall sprang zischend in die Höhe, während es in die Gußformen rann, und über der stöhnenden Stimme des Hochofens hallte das Klingen der Hämmer auf den Ambossen.

Simon schrak von der Tür zurück. Einen Herzschlag lang hatte er sich nach vorn springen und auf die Männer zustürzen sehen. Denn es waren Menschen, trotz ihrer sonderbaren Kleidung. In diesem kurzen Augenblick war es ihm vorgekommen, als gäbe es nichts Schlimmeres als den dunklen Tunnel und die Stimmen – aber Simon wußte es besser. Glaubte er denn wirklich, die Männer aus der Gießerei würden ihn entkommen lassen? Bestimmt kannten sie nur einen Weg aus der flammenden Höhle: nach oben, zurück in Pryrates' Klauen – sofern er die Hölle in Morgenes' Wohnung überlebt hatte –, oder zu Elias' brutaler Rechtspflege.

Simon hockte sich hin, um seine Gedanken zu ordnen. Der Lärm des Ofens und sein eigener schmerzender Kopf machten es ihm schwer. Er konnte sich nicht erinnern, auf dem letzten Wegstück an Quertunneln vorbeigekommen zu sein. An der gegenüberliegenden Wand der Gießereihöhle war etwas zu erkennen, das wie eine Reihe von Löchern aussah; vielleicht lagen dort nur Lagerräume …

Oder Verliese.

… aber es erschien ebenso wahrscheinlich, daß noch andere Wege in diese Kammer hinein- und hinausführten. Jetzt wieder in den Tunnel zurückzukehren, kam ihm töricht vor.

Feigling! Küchenjunge!

Wie betäubt schwankte er unentschieden auf schmalem Grat. Zurückgehen und durch dieselben dunklen, von Spinnen verpesteten Tunnel laufen, jetzt, da sein einziges Licht dem Verlöschen entgegenflackerte … oder sich einen Weg durch die brüllende Hölle der Gießereiebene suchen – und von dort – wer konnte das wissen? Wofür sollte er sich entscheiden?

König-unter-der-Erde wird er sein, Herr der weinenden Schatten!

Nein, sein Volk ist fort, laßt ihn in Ruhe!

Er schlug sich kräftig auf den Schädel, um die schrecklichen Stimmen zu verscheuchen.

Wenn ich schon sterben muß, beschloß Simon endlich und riß die Herrschaft über sein jagendes Herz wieder an sich, dann soll es wenigstens im Licht geschehen.

Vorgebeugt, mit pochendem Kopf, starrte er auf den Schimmer der Kristallkugel in seiner hohlen Hand. Noch während er darauf schaute, erstarb das Licht, kehrte dann aber bebend zu unsicherem Leben zurück. Simon ließ die Kugel in die Tasche gleiten.

Die Hochofenflamme und die dunklen Gestalten, die sich davor bewegten, warfen pulsierende Streifen in Rot, Orange und Schwarz an die Wand. Simon sprang aus dem Schutz der Dunkelheit hinaus und duckte sich neben die nach unten führende Rampe. Sein nächstes Versteck sollte ein schäbiges Gebilde aus Ziegeln sein, etwa fünfzehn oder zwanzig Ellen von der Stelle entfernt, an der er kauerte. Es war ein nicht mehr benutzter Brenn- oder Schmelzofen am äußersten Rand der Kammer. Simon holte ein paarmal tief Atem und hastete darauf zu, halb rennend, halb kriechend. Sein Kopf schmerzte von der Bewegung, und als er den massigen Ofen erreicht hatte, mußte er erst einmal das Gesicht zwischen die Knie klemmen, bis die schwarzen Flecken verschwunden waren. Das rauhe Röhren des Hochofens hallte in seinem Kopf wie Donner und brachte mit seinem schmerzhaften Getöse selbst Simons Stimmen zum Verstummen.

Von dunklem Fleck zu dunklem Fleck suchte er sich seinen Weg, kleine Inseln düsterer Sicherheit im Ozean aus Rauch und rotem Lärm. Die Gießereiarbeiter blickten nicht auf und entdeckten den Eindringling nicht; kaum, daß sie untereinander ein Wort wechselten. Der ohrenbetäubende Krach beschränkte ihre Mitteilungen auf ausholende Gebärden, wie bei Gepanzerten im Chaos der Schlacht. Ihre Augen, reflektierende Lichtpunkte über den Tuchmasken, schienen nur auf ein einziges Ding zu starren: das helle, unwiderstehliche Leuchten des glühenden Eisens. Wie die rote Kartenlinie, die sich noch immer durch Simons Erinnerung schlängelte, war das strahlende Metall überall und immer gleich wie das magische Blut eines Drachen. Hier plätscherte es über den Rand eines Fasses, Tropfen wie Edelsteine versprühend; dort wand es sich über den Felsen, um zischend in einen Tümpel brackigen Wassers zu rinnen. Aus Eimern leckten große, weißglühende Zungen und tauchten die dick eingepackten Gießer in dämonisches Scharlachrot. Kriechend, huschend, bewegte sich Simon langsam am Rand der Schmelzhöhle entlang, bis er zu der nächsten Rampe kam, die aus ihr hinausführte. Die drückende, atmende Hitze und sein sinkender Mut drängten ihn, dort hinaufzuklettern; aber die gestampfte Erde der Rampe zeigte ein tiefes, sich immer wieder kreuzendes Gekritzel von Karrenrädern. Diese Tür wurde viel benutzt. Seine Gedanken kamen unklar und träge, doch sagten sie ihm, hier sollte er es lieber nicht versuchen.

Endlich gelangte er an eine Einmündung in der Höhlenwand, die ohne Rampe war. Es kostete ihn Mühe, den glatten – vom Feuer geschmolzenen? vom Drachen geschmolzenen? – Felsen hinaufzuklettern, aber seine versagende Kraft reichte noch aus, ihn über den Rand zu ziehen. Gleich dahinter brach er im schützenden Schatten zusammen und lag der Länge nach am Boden. Die Kugel, die er aus der Tasche genommen hatte, glühte in seiner Hand so schwach wie ein Glühwürmchen in der Falle.


Als er wieder wußte, wer er war, merkte er, daß er kroch.

Wieder auf den Knien, Mondkalb?

Die Schwärze war fast vollständig, und Simon kroch blind in die Tiefe. Der Tunnelboden unter seinen Händen war trocken und sandig. Lange, lange Zeit kroch er so weiter; selbst die Stimmen begannen zu klingen, als bedauerten sie ihn.

Simon verirrt … verirrt … irrt … irrt…

Nur die langsam abnehmende Hitze bestätigte ihm, daß er sich tatsächlich vom Fleck rührte – aber wohin? Worauf zu? Wie ein verwundetes Tier schleppte Simon sich weiter, durch undurchdringlichen Schatten abwärts, immer abwärts. Würde er weiterkriechen bis zum Mittelpunkt der Erde?

Huschende, vielbeinige Wesen unter seinen Fingern erregten ihn nicht mehr. Die Dunkelheit war vollständig, in ihm und um ihn. Er fühlte sich beinahe körperlos, ein Bündel verängstigter Gedanken, das es in die rätselhafte Erde hinunterzog.


Irgendwo, irgendwann später begann die dunkel gewordene Kugel, die er schon so lange umklammert hielt, daß sie ein Teil seines Körpers geworden zu sein schien, wieder zu glühen, dieses Mal in einem sonderbaren Azurlicht. Aus einem Kern von pulsierendem Blau wuchs dieses Licht, bis Simon die Augen zusammenkneifen mußte. Langsam richtete er sich auf und blieb keuchend stehen. Hände und Knie, frei von der Berührung des Sandes, prickelten.

Die Tunnelwände waren mit schwarzfasrigen Gewächsen bedeckt, wirr wie ungekämmte Wolle, aber in den verschlungenen Strähnen glänzten schimmernde Flecke, in denen das neu erblühte Licht sich spiegelte. Simon humpelte näher, um nachzuschauen, und zog mit schwachem, angewidertem Schnauben die Hand zurück, als er das schmierigschwarze Moos berührte. Etwas von seiner Persönlichkeit war mit dem Licht zu ihm zurückgekehrt, und während er schwankend dastand, dachte er an alles, durch das er hindurchgekrochen war, und zitterte.

Die Wand unter dem Moos war mit einer Art Kacheln verkleidet, an vielen Stellen abgesplittert und rissig, an anderen gänzlich verschwunden, so daß die stumpfe Erde zu sehen war. Hinter ihm führte der Tunnel abwärts. Die ausgetretene Spur, in der er gekommen war, endete dort, wo er stand. Vor ihm führte der Weg weiter ins Dunkle. Er würde versuchen, eine Weile aufrecht weiterzugehen.

Bald weitete sich der Gang. Die gewölbten Eingänge zu Dutzenden anderer Korridore mündeten auf den Gang, in dem er sich fortbewegte. Meist waren sie mit Erde und Steinen angefüllt. Bald gab es auch Steinplatten unter seinen unsicheren Füßen, unebene, zerbrochene Steine, in denen sich das Licht der Kugel seltsam schillernd widerspiegelte. Nach und nach hob sich die Decke über ihm aus der Reichweite des blauen Lichtes. Und immer noch führte der Gang tiefer in die Erde hinein. Über ihm in der Leere flatterte etwas, das wie der Flügelschlag ledriger Schwingen klang.

Wo bin ich jetzt? Kann der Hochhorst so tief hinabreichen? Der Doktor hat von Burgen unter Burgen erzählt, bis ganz unten im Gebein der Welt. Burgen unter Burgen … unter Burgen…

Ohne es zu merken, hatte er angehalten und sich einem der Quergänge zugewendet. Irgendwo in seinem Kopf sah er sich selbst und was für ein Bild er abgeben mußte: zerlumpt, mit Erde verschmiert und mit dem Kopf wackelnd wie ein Blödsinniger.

Die Öffnung vor ihm war unversperrt. Ein eigenartiger Duft nach getrockneten Blumen schwebte in dem dunklen Bogen. Simon machte einen Schritt vorwärts und fuhr sich mit dem Arm, der sich wie schweres, nutzloses Fleisch anfühlte, über den Mund. Mit der anderen Hand hielt er die Kristallkugel in die Höhe.

… Wunderbar! Ein wunderbarer Ort!

Es war ein Zimmer, vollkommen im blauen Schein, so vollkommen, als sei es eben erst verlassen worden. Die hochgewölbte Decke zierte ein Gitterwerk feingemalter Linien, ein Muster, das an ein Dornengebüsch erinnerte, an blühende Ranken oder ein Labyrinth aus tausend Wiesenbächen. Die runden Fenster waren unter Geröll begraben; Erde war hereingefallen und auf den Fliesenboden gerieselt. Alles andere jedoch schien unberührt. Ein Bett stand dort – ein Wunder aus kunstvoll geschwungenem Holz – und ein Stuhl, so fein wie Vogelknochen. Mitten im Raum gab es ein Wasserbecken aus poliertem Stein, das aussah, als könnte es sich jeden Augenblick mit plätscherndem Naß füllen.

Ein Heim für mich. Ein Zuhause unter der Erde. Ein Bett zum Schlafen, zum Schlafen und immer noch Schlafen, bis Pryrates und der König und die Soldaten alle nicht mehr da sind…

Ein paar schleppende Schritte, und er stand vor dem Bett, einem Lager so rein und fleckenlos wie die Segel der Gesegneten. Aus einer Nische darüber starrte ein Gesicht auf ihn herunter, das herrliche, kluge Frauengesicht eines Standbildes. Aber irgend etwas stimmte nicht daran: Die Linien waren zu eckig, die Augen zu tiefliegend und weit, die Backenknochen hoch und scharf. Trotzdem war es ein Antlitz von großer Schönheit, eingefangen in durchsichtigem Stein, für immer in traurigem, wissendem Lächeln erstarrt.

Als er die Hand ausstreckte, um ganz sanft die gemeißelte Wange zu berühren, stieß er mit dem Schienbein gegen den Bettrahmen, eine Berührung, so leicht wie ein Spinnenschritt, doch – das Bett zerfiel zu Staub. Gleich darauf, während er es noch voller Grauen anstarrte, löste sich die Büste in der Nische unter seinen Fingerspitzen in feine Asche auf. In einem einzigen Augenblick schmolzen die Züge der Frau. Simon machte einen ungeschickten Schritt zurück, das Licht der Kugel flackerte grell auf und verlosch dann bis auf ein trübes Glänzen. Der Aufprall seines Fußes auf dem Boden ließ den Stuhl und den zierlichen Brunnen zusammenfallen, Sekunden später begann auch die Decke herunterzurieseln, und die verschlungenen Zweige zerbröckelten zu feinem Staub. Die Kugel flackerte, als Simon auf die Tür zutaumelte, und als er mit einem Satz in den Gang hinaussprang, erlöschte das blaue Licht langsam.

Wieder stand er im Dunkeln. Er hörte jemanden weinen. Nach einer langen Minute setzte er sich stolpernd wieder in Bewegung, tiefer hinein in die unendlichen Schatten, und er wunderte sich, wer da noch Tränen übrig haben konnte und sie nun vergoß.


Das Vergehen der Zeit war zu etwas geworden, das nur noch aus plötzlichen Ausbrüchen und erschrecktem Zusammenfahren bestand. Irgendwo hatte Simon die erloschene Kugel fallenlassen, die nun in der ewigen Dunkelheit lag wie eine Perle in den schwärzesten Gräben des geheimen Meeres. In einem letzten gesunden Bereich seiner streunenden Gedanken, die jetzt kein Band aus Licht mehr fesselte, wußte er, daß er immer noch tiefer nach unten stieg.

Nach unten. In den Abgrund. Nach unten.

Wohin? Zu was?

Von Schatten zu Schatten, wie Küchenjungen sich immer fortbewegen.

Totes Mondkalb. Geistermondkalb…

Treiben … dahintreiben … Simon dachte an Morgenes, wie sich sein schütterer Bart in den Flammen gekräuselt hatte, dachte an den glänzenden Kometen, der rot und böse auf den Hochhorst heruntergeblickt hatte … dachte an sich selber, wie er durch die Räume aus schwarzem Nichts nach unten fiel – hinaufstieg? – wie ein kleiner, kalter Stern. Dahintreiben…

Die Leere war vollständig. Die Finsternis, zuerst nur das Fehlen von Licht und Leben, begann eigene Eigenschaften anzunehmen: enges, würgendes Dunkel, wenn die Tunnel schmaler wurden und Simon über Halden von Geröll und ineinander verstrickten Wurzeln klettern mußte; oder die hohe, luftige Dunkelheit unsichtbarer Gemächer, erfüllt vom pergamentenen Rascheln der Fledermausflügel. Während er sich den Weg durch diese riesenhaften unterirdischen Galerien ertastete und auf seine eigenen gedämpften Schritte und das zischende Herunterprasseln von Erde, die sich von den Wänden gelöst hatte, lauschte, verschwand jeder letzte Rest von Ortssinn. Nach allem, was er wußte, hätte er genausogut senkrecht die Wand hinaufgehen oder über die Decken laufen können wie eine Fliege. Es gab weder rechts noch links; wenn seine Finger wieder auf feste Wände und Türen, die in andere Tunnel führten, stießen, tastete er sich sinnlos weiter durch noch mehr beengte Durchlässe und in andere fledermausquiekende, unermeßliche Katakomben.

Geist eines Mondkalbs!

Überall roch es nach Wasser und Stein. Sein Geruchssinn und ebenso sein Gehör schienen in der blinden, schwarzen Nacht schärfer geworden zu sein, und während er sich mühsam immer weiter abwärts tastete, überschwemmten ihn die Gerüche dieser mitternächtlichen Welt – feuchte, lehmige Erde, fast so üppig wie Brotteig, und der milde und doch rauhe Duft der Felsen. Er schwamm in den bebenden, atmenden Gerüchen von Moos und Wurzeln, der geschäftigen, süßen Fäulnis winziger Wesen, die lebten und starben. Und über allem schwebte, alles durchdringend und alles komplizierend, die saure, mineralische Schärfe von Seewasser.

Seewasser? Augenlos horchte er, jagte die dröhnenden Töne des Ozeans. Wie tief war er gekommen? Alles, was er vernahm, waren die Scharrgeräusche winziger Wesen und sein eigenes, stoßweises Atmen. Hatte er sich noch unter den Grund des Kynslagh gebohrt?

Dort! Aus noch größerer Tiefe erklangen schwache, melodische Töne. Tropfendes Wasser. Die Wände waren feucht.


Du bist tot, Simon Mondkalb. Ein Geist, dazu verdammt, in einer Leere zu spuken.

Es gibt kein Licht. Nie hat es etwas Derartiges gegeben. Riechst du die Dunkelheit? Hörst du das Echo des Nichts? So war es stets.

Alles, was er noch hatte, war die Furcht, aber immerhin war das etwas – er fürchtete sich, also lebte er! Da war die Finsternis, aber da war auch Simon! Und die beiden waren nicht dasselbe. Noch nicht. Nicht ganz…

Und da, so langsam, daß er die Veränderung lange Zeit überhaupt nicht bemerkte, kam das Licht wieder. Es war ein so schwaches, trübes Licht, daß es zuerst weniger hell war als die farbigen Punkte, die vor seinen nutzlosen Augen tanzten. Dann sah er etwas Unheimliches vor sich, eine schwarze Gestalt, einen noch schwärzeren Schatten. Ein Klumpen sich windender Würmer? Nein – Finger … eine Hand … seine Hand! Vor ihm zeichneten sich ihre Umrisse ab, in matten Schein gehüllt.

Die eng aneinander geneigten Tunnelwände waren dick mit verschlungenem Moos bewachsen, und dieses Moos war es, das leuchtete – ein bleicher, grünweißer Schimmer, der gerade genug Helligkeit spendete, daß Simon die schwärzere Dunkelheit des Tunnels vor sich und den das Licht verdeckenden Schatten der eigenen Hände und Arme erkennen konnte. Aber es war Licht! Licht! Simon lachte tonlos, und seine nebelhaften Schatten hüpften kreuz und quer durch den Gang.

Der Tunnel mündete in eine weitere offene Galerie. Als Simon aufsah und über das Sternbild aus leuchtenden Moosen staunte, das an der weit entfernten Decke sproß, fühlte er einen kalten Wassertropfen am Hals. Langsam tropfte noch mehr Wasser von oben herunter, und jeder Tropfen prallte mit dem Geräusch eines winzigen Hämmerchens, das gegen Glas klopft, unten auf den Fels. Die gewölbte Kammer war voll von hohen Steinsäulen, dick an beiden Enden, schmal in der Mitte; manche besaßen nur die Breite eines Haares und erinnerten an Honigfäden. Während Simon sich mühsam weiterschleppte, wurde ihm in einem entfernten Winkel seines zermarterten Kopfes klar, daß das meiste hier das Werk von Stein und Tropfwasser war, nicht die Arbeit schaffender Hände. Aber dennoch erschienen Linien im Dämmerlicht, die nicht natürlich wirkten: rechtwinklige Spalten in den moosüberwuchterten Wänden, zerstörte Pfeiler, die sich allzu regelmäßig, um zufällig zu sein, zwischen den Stalagmiten erhoben. Simon war im Begriff, einen Ort zu durchqueren, der einmal etwas anderes gekannt hatte als den unaufhörlichen Rhythmus von Wasser, das in steinerne Tümpel tropft. Einst war das Echo anderer Schritte hier erklungen; aber dieses ›einst‹ hatte nur dann eine Bedeutung, wenn die Zeit noch eine Schranke darstellte. Simon war nun so lange in der Dunkelheit herumgekrochen, daß er vielleicht bis in die neblige Zukunft oder die düstere Vergangenheit vorgestoßen war – oder in unerforschte Reiche des Wahnsinns, wie sollte er das noch wissen?

Simon wollte auftreten und fühlte einen Augenblick erschreckender Leere. Er stürzte in kalte, nasse Schwärze. Im Fallen berührten seine Hände die gegenüberliegende Seite, und das Wasser erwies sich als nur knietief. Er meinte, ein Klauenwesen zu fühlen, das sein Bein umklammerte, als er sich mit einem Ruck wieder in den Gang hinaufzog und vor mehr als nur Kälte zitterte.

Ich will nicht sterben. Ich will die Sonne wiedersehen!

Armer Simon, antworteten seine Stimmen. Verrückt in der Dunkelheit. Verrückt.

Triefend und frierend hinkte er durch die grünlich glimmende Kammer und achtete sorgfältig auf schwarze Leere, die nächstes Mal vielleicht nicht so seicht sein würde. Rosig und weiß schimmernde matte Blitze zuckten in den Löchern hin und her, wenn er darüber hinwegstieg oder sie vorsichtig umging. Fische? Leuchtende Fische in den Tiefen der Erde?

Nun, da eine große Kammer in die nächste und wieder eine andere mündete, wurden die Umrisse von Hand gefertigter Dinge unter dem Mantel aus Moos und Steinsinter immer deutlicher. Im trüben Halblicht zeigten sich wunderliche Silhouetten: zerbröckelte Querstreben, die einst Balkone gewesen sein mochten, bogenförmige Vertiefungen, verfilzt von blassem Moos, die Fenster gewesen sein konnten oder Tore. Als er versuchte, mit schmalen Augen in der fast völligen Dunkelheit Einzelheiten wahrzunehmen, kam es ihm plötzlich so vor, als verschiebe sich sein Sehfeld um ein weniges zur Seite – die überwucherten Formen, schattenerstickt, schienen gleichzeitig in den Umrissen zu flackern, die sie einst getragen hatten. Aus dem Augenwinkel sah er, wie eine der geborstenen Säulen, die die Galerie einfaßten, auf einmal wieder aufrecht stand – ein glänzendweißes Gebilde, in das anmutige Blumengirlanden gemeißelt waren. Als er sich umdrehte, um sie anzustarren, hatte sie sich wieder in einen zerbrochenen Steinhaufen verwandelt, fast völlig bedeckt mit Moos und heruntergefallener Erde. Die tiefe Düsternis der Kammern verzerrte sich an den Rändern seines Blickfeldes auf verrückte Weise, und in seinem Kopf hämmerte es. Das unaufhörliche Geräusch des fallenden Wassers begann sich anzufühlen wie Schläge auf sein schwindliges Hirn. Schnatternd kehrten seine Stimmen zurück wie von wilder Musik erregte Festgäste.

Verrückt! Der Junge ist verrückt!

Habt Mitleid, er ist verirrt, verwirrt, verirrt!

Wir holen es uns wieder, Menschenkind! Wir holen es uns alles wieder!

Verrücktes Mondkalb!

Und als er einen neuen abschüssigen Tunnel hinunterstieg, begann Simon noch andere Stimmen im Kopf zu hören, Stimmen, die vorher noch nicht dagewesen waren, und die in gewisser Weise zugleich wirklicher und weniger wirklich waren als die, die ihn schon so lange und unerwünscht begleiteten. Einige von ihnen riefen in Sprachen, die er nicht kannte – sofern er ihnen nicht vielleicht in den uralten Büchern des Doktors begegnet war.

Ruakha, ruakha Asu'a!

T'si e-isi'ha as-irigu!

Die Bäume brennen! Wo ist der Prinz? Der Hexenwald steht in Flammen, die Gärten brennen!

Um Simon verzerrte sich das Halbdunkel und krümmte sich, als stünde er im Mittelpunkt eines sich drehenden Rades. Er machte kehrt und stolperte blindlings in einen Gang und von dort in einen weiteren hohen Saal, den gequälten Kopf mit beiden Händen festhaltend. Hier herrschte ein anderes Licht: Dünne blaue Strahlen tasteten sich durch Risse in der unsichtbaren Decke, ein Licht, das die Dunkelheit durchdrang, aber dort, wo es einfiel, nichts beleuchtete. Simon roch noch mehr Wasser und fremdartigen Pflanzenwuchs; er hörte Männer umherrennen und schreien, weinende Frauen und das Klirren von Metall auf Metall. In der seltsamen Beinah-Schwärze tobte überall der Lärm einer furchtbaren Schlacht, ohne ihn selbst jedoch mit einzubeziehen. Er schrie auf – oder glaubte es wenigstens –, konnte aber seine eigene Stimme nicht hören, nur das gräßliche Getöse in seinem Kopf.

Dann, wie um seinen längst feststehenden Wahnsinn zu bestätigen, begannen in der von blauen Lanzenstichen durchbohrten Dunkelheit vage Gestalten an ihm vorbeizueilen, bärtige Männer mit Fackeln und Äxten, die andere, schlanker gebaute mit Schwertern und Bogen hetzten. Alle, Verfolger und Verfolgte, waren durchsichtig und vage wie Nebel. Keiner berührte oder bemerkte Simon, obgleich er mitten unter ihnen stand.

Jingizu! Aya'ai! O Jingizu! kam ein klagender Ruf.

Tötet die Sithi-Dämonen! schrien rauhere Stimmen. Legt Feuer an ihr Nest!

Seine Hände, fest über die Ohren gelegt, konnten die Stimmen nicht fernhalten. Simon taumelte weiter und versuchte dabei, den vorüberwirbelnden Gestalten auszuweichen. Er fiel durch eine Türöffnung und landete auf einem flachen Absatz aus glänzendem, weißem Stein.

Unter seinen Händen fühlte er Moospolster, aber seine Augen sahen nichts als polierte Glätte. Er kroch auf dem Bauch weiter, immer noch auf der Flucht vor den entsetzlichen Stimmen, die vor Schmerz oder Wut kreischten. Seine Finger fühlten Risse und Vertiefungen, aber der Stein sah auch jetzt für ihn so fehlerlos aus wie Glas. Er erreichte den Rand und starrte auf ein großes, ebenes Feld aus schwarzer Leere, das nach Zeit und Tod und dem geduldigen Ozean roch. Ein unsichtbarer Kiesel rollte unter seiner Hand fort und fiel dann lange Augenblicke lautlos in die Tiefe, bis es weit unter ihm aufspritzte.

Neben Simon schimmerte etwas Großes, Weißes. Er hob den schweren, schmerzenden Kopf vom Rand des dunklen Teiches und sah auf. Nur ein paar Zoll von der Stelle, an der er lag, sprangen die untersten Stufen einer riesigen Steintreppe vor, einer nach oben schwingenden Spirale, die anstieg, an der Höhlenwand hinaufkletterte, dabei den unterirdischen See umkreiste und endlich oben in der Dunkelheit verschwand. Er rang nach Luft, als eine drängende, bruchstückhafte Erinnerung das Getöse in seinem Kopf durchbrach.

Treppe. Die Tan'ja-Treppe. Der Doktor hat gesagt, such die Treppe.

Er krallte sich fest, zog sich an dem kühlen, polierten Stein hoch und wußte, daß er unrettbar irrsinnig war oder gestorben und in einer furchtbaren Unterwelt gefangen. Er war unter der Erde, wo sie am finstersten war: Dort konnte es keine Stimmen mehr geben, keine gespenstischen Krieger. Und auch kein Licht, das die Stufen vor ihm gleißen ließ wie Alabaster im Mondschein.

Also kletterte er, schob sich mit bebenden, vor Schweiß schlüpfrigen Fingern die nächste hohe Stufe hinauf. Während er weiter nach oben stieg, manchmal stehend, manchmal geduckt, spähte er über den Rand der Stufen. Der schweigende See, ein riesiger Teich aus Schatten, lag am Grund einer gewaltigen kreisförmigen Halle, weit größer als die Gießerei. Die Decke erstreckte sich unermeßlich weit hinauf und verlor sich mit den Spitzen der schlanken, schönen weißen Säulen, die die Höhle säumten, irgendwo in der Schwärze. Ein nebliges, zielloses Licht glitzerte auf den meerblauen und jadegrünen Wänden und fing sich in den Rahmen hochgewölbter Fenster, hinter denen jetzt ein drohendes Scharlachfeuer flackerte. Inmitten der perlblassen Nebel schwebte eine dunkle, unbestimmte Gestalt über dem See. Sie warf einen Schatten aus Wunder und Entsetzen und erfüllte Simon mit unaussprechlichem, mitleidigem Schrecken.

Prinz Ineluki! Sie kommen! Die Nordmänner kommen!

Als dieser letzte leidenschaftliche Aufschrei von den dunklen Wänden in Simons Schädel widerhallte, hob die Gestalt in der Mitte der großen Halle den Kopf. Rotglühende Augen flackerten in ihrem Gesicht und durchschnitten den Nebel wie Fackeln.

Jingizu, hauchte eine Stimme. Jingizu. Soviel Leid.

Das Scharlachlicht loderte auf. Von unten stieg das Geschrei von Tod und Furcht an Simons Ohr wie eine ungeheure Welle. Und mitten darin erhob die dunkle Gestalt einen langen, schlanken Gegenstand, und die wundersame Kammer erbebte, schimmerte wie ein zerbrochenes Spiegelbild und zerfloß im Nichts. Voller Grauen wandte Simon sich ab, als hätte man ein erstickendes Bahrtuch aus Verlust und Verzweiflung über ihn geworfen.

Etwas war darin. Etwas Schönes war unwiederbringlich zerstört worden. Eine Welt war hier gestorben, und Simon fühlte, wie ihr versagender Schrei sich in sein Herz bohrte wie ein graues Schwert. Die furchtbare Trauer, die ihn zerriß, vertrieb selbst die verzehrende Angst und zwang schmerzhafte, schaudernde Tränen aus Brunnen, die längst hätten ausgetrocknet sein sollen. Simon umarmte die Dunkelheit und taumelte weiter die endlose Treppe hinauf, die sich um die ungeheure Kammer schlang. Schatten und Schweigen verschluckten die Traumschlacht und die Traumhalle unter ihm und tauchten ihn in ein schwarzes Leichentuch, um sein fieberndes Hirn zu verhüllen.


Unter seiner blinden Berührung verging eine Million Stufen. Eine Million Jahre glitt an ihm vorbei, und er stapfte durch die Leere und ertrank im Leid.

Dunkelheit um ihn und Dunkelheit in ihm. Das letzte, das er fühlte, waren Metall unter seinen Fingern und frische Luft auf dem Gesicht.

XIV Das Feuer auf dem Berg

Simon erwachte in einem langgestreckten, dunklen Raum, rings umgeben von stillen, schlafenden Gestalten. Natürlich war alles nur ein Traum gewesen! Er lag in seinem Bett, mitten unter den anderen schlummernden Küchenjungen, und das einzige Licht war ein dünner Streifen Mondglanz, der durch eine Türritze hereinglitt. Er schüttelte den noch immer schmerzenden Kopf.

Warum schlafe ich denn auf dem Boden? Diese Steine sind so kalt …

Und warum lagen die anderen so reglos da, phantastische Schattenwesen mit Helm und Schild, in ordentlichen Reihen auf ihren Betten aufgebahrt wie … wie Tote, die auf das Jüngste Gericht warten? Es war doch alles nur ein Traum gewesen … oder?

Mit entsetztem Keuchen kroch Simon von der schwarzen Tunnelmündung fort und auf den blauweißen Spalt in der Tür zu. Die Abbilder der Toten, in starrem Stein auf ihre uralten Grabmäler gebannt, hinderten ihn nicht. Mit der Schulter stieß er die schwere Tür der Krypta auf und fiel vornüber ins hohe, feuchte Gras der Begräbnisstätte.

Nach dem, was ihm dort unten in den dunklen Höhlen wie unzählige Jahre vorgekommen war, erschien ihm der runde, elfenbeinerne Mond, der hoch über ihm in der Dunkelheit seine Bahn zog, wie ein weiteres Loch, ein Loch, das zu einem kühlen, von Lampen erhellten Ort hinter dem Himmel führte, einem Land der schimmernden Flüsse und des Vergessens. Er legte die Wange an die Erde und fühlte, wie sich die feuchten Halme unter seinem Gesicht bogen. Rechts und links von ihm hatten sich Finger aus vom Zahn der Zeit zernagtem Fels durch das Gefängnis des Grases gebohrt oder lagen in lang hingestreckten Bruchstücken da, vom Mond in knochenweißes Licht getaucht, namenlos und ungerührt wie die uralten Toten, deren Gräber sie einst bezeichnet hatten.

In Simons Kopf war die dunkle Spanne der Stunden von den letzten feurigen Augenblicken in der Wohnung des Doktors bis hin zum nachtfeuchten Gras der Gegenwart so unfaßbar wie die beinahe unsichtbaren Wolken, die ihre Fäden über den Himmel zogen.

Die lauten Rufe und die grausamen Flammen, Morgenes' brennendes Gesicht, Pryrates' Augen, die wie kleine Löcher in die äußerste Finsternis führten – sie waren so wirklich wie der Atem, den er gerade ausgestoßen hatte. Der Tunnel war nur ein bereits vergehender, halb vergessener Schmerz, ein Nebel aus Stimmen und leerem Wahnsinn. Er wußte, daß es dort unten unbehauene Wände und Spinnweben und sich endlos gabelnde Tunnel gegeben hatte. Ihm war, als hätte es auch lebhafte Träume von Trauer und dem Tod Schöner Wesen gegeben. Alles in allem fühlte er sich verdorrt wie ein Herbstblatt, zerbrechlich und ohne Kraft. Es kam ihm vor, als sei er zum Schluß auf allen vieren gekrochen – Knie und Arme jedenfalls taten entsprechend weh, und seine Kleider waren zerrissen –, aber seine Erinnerungen schienen in Dunkel gehüllt. Nichts davon war ganz und gar wirklich. Anders als der Begräbnisplatz, auf dem er jetzt lag, jener stille Anger des Mondes.

Hinten im Nacken drängte mit weichen, schweren Händen der Schlaf. Simon kämpfte gegen ihn an, richtete sich mit langsamem Kopfschütteln auf. Hier konnte er kein Nickerchen machen. Zwar hatte ihn, soweit er das sagen konnte, niemand durch die blockierte Tür im Zimmer des Doktors verfolgt, aber das hatte wenig zu bedeuten. Seine Feinde verfügten über Soldaten und Pferde – und die Autorität des Königs.

Furcht und ein nicht geringer Zorn verdrängten die Müdigkeit. Alles andere hatten sie ihm gestohlen: seine Freunde, sein Zuhause – sie sollten ihm nicht auch noch Leben und Freiheit nehmen. Simon blickte sich vorsichtig um. An den schief stehenden Grabsteinen fand er Halt und wischte sich die Tränen der Erschöpfung und der Angst vom Gesicht.

In etwa einer halben Meile Entfernung ragte die Stadtmauer von Erchester auf, ein mondbeschienener Steingürtel, der die schlafenden Bürger von der Begräbnisstätte und der Welt hinter ihr trennte. Vor den äußeren Toren dehnte sich das bleiche Band der Wjeldhelm-Straße, das sich zu Simons Rechter langsam nordwärts in die Berge schlängelte und zu seiner Linken den Ymstrecca durch das Ackerland unter dem Swertclif begleitete, vorbei an Falshire am gegenüberliegenden Ufer und endlich weiter in die Grasländer des Ostens.

Es war anzunehmen, daß die Städte an der großen Straße die ersten Orte waren, an denen die Erkyngarde einen Flüchtling suchen würde. Zudem führte ein großes Stück der Straße durch die Höfe des Hasutals, wo Simon, falls er den Weg verlassen mußte, nur schwer ein Versteck finden würde.

Also kehrte er Erchester und der einzigen Heimat, die er je gekannt hatte, den Rücken und humpelte von der Begräbnisstätte fort und auf die fernen Grashügel zu. Seine ersten Schritte lösten einen schmerzhaften Ruck in seinem Hinterkopf aus, aber er wußte, daß es für ihn am besten war, wenn er die Schmerzen an Geist und Körper noch eine Zeitlang unbeachtet ließ und den Hochhorst lieber so weit wie möglich hinter sich brachte, solange es noch dunkel war; über die Zukunft konnte er sich Sorgen machen, wenn er eine sichere Stelle zum Schlafen gefunden hatte.


Als der Mond über den warmen Himmel der Mitternacht zutrieb, wurden Simons Schritte immer schwerer. Die Begräbnisstätte schien kein Ende zu nehmen – tatsächlich hatte der Boden angefangen, sich über den sanften Buckeln der äußeren Grashügel zu heben und zu senken, während Simon immer noch durch die verwitterten Steinzähne wanderte, von denen manche einsam und aufrecht dastanden, andere sich zueinander lehnten wie alte Männer in greisenhaftem Gespräch. Er schlängelte sich zwischen eingesunkenen Säulen durch und stolperte über den unebenen, mit kleinen Grasbuckeln übersäten Grund. Jeder Schritt wurde Simon zur Anstrengung, als watete er durch tiefes Wasser.

Torkelnd vor Müdigkeit, taumelte er einmal mehr über einen versteckten Stein und stürzte schwer zu Boden. Er wollte aufstehen, aber seine Glieder fühlten sich an wie nasse Sandsäcke. Noch ein kleines Stück kroch er auf allen vieren weiter, dann rollte er sich auf dem schrägen Abhang eines grasigen Grabhügels zusammen. Etwas drückte ihn im Rücken, und er drehte sich ungeschickt zur Seite, was aber kaum weniger unbequem war, weil er nun auf Morgenes' gefaltetem Manuskript lag, das in seinem Gürtel steckte. Die starrenden Augen vor Erschöpfung halb geschlossen, griff er hinter sich und suchte den ursprünglichen Stein des Anstoßes. Es war ein Stück Metall, dick mit Rost bedeckt und durchlöchert wie wurmzernagtes Holz. Er wollte es wegräumen, aber es steckte im Erdboden fest. Vielleicht war der Rest, woraus auch immer er bestehen mochte, tief im Boden des mondbereiften Hügels in der Erde verankert – eine Speerspitze vielleicht? Die Gürtelschnalle oder Beinschiene irgendeiner Kleidung, deren Eigentümer längst das Gras nährte, auf dem er gelegen hatte? Einen trüben Moment dachte Simon an alle die Körper, die hier tief unter der Erde ruhten, an das Fleisch, das einmal voller Leben gewesen war, nun aber in schweigender Finsternis moderte.

Als ihn endlich der Schlaf übermannte, war ihm, als säße er wieder auf dem Kapellendach. Unter ihm dehnte sich die Burg … aber diese Burg bestand aus feuchtem, bröckelndem Erdboden und blinden, weißen Wurzeln. Die Menschen dort schliefen in einem fort und wälzten sich im Traum unruhig hin und her, wenn sie Simon über ihren Köpfen auf dem Dachfirst laufen hörten…

Im Augenblick lief er – oder träumte es zumindest – einen schwarzen Fluß entlang, der lärmend plätscherte, aber nicht das geringste Licht spiegelte, als bestünde er aus flüssigen Schatten. Nebel umwaberte den Jungen, und er konnte von dem Land, durch das er ging, nichts erkennen. In der Finsternis hinter sich vernahm er viele Stimmen; ihr Gemurmel vermischte sich mit der halbverschluckten Stimme des schwarzen Wassers, kam näher, rauschte wie Wind.

Weder Nebel noch Dunst verhüllten die andere Seite des Flusses. Das Gras auf dem tieferliegenden Ufer bot sich weit und offen seinem Blick dar; in der Ferne stieg ein düsterer Erlenhain bis an den Rand der Berge hinauf. Das ganze Land jenseits des Flusses war dunkel und feucht – wie zur Morgen- oder Abenddämmerung; nach kurzer Zeit wurde ihm deutlich, daß es Abend sein mußte, denn in den Hügeln, die sich nahe an den Fluß lehnten, erklang das ferne, einsame Lied der Nachtigall. Alles schien erstarrt und unveränderlich.

Er spähte über das gurgelnde Wasser und sah am anderen Ufer eine Gestalt am Flußrand stehen: eine ganz in Grau gekleidete Frau, deren langes, glattes Haar die Schläfen beschattete; in den Armen hielt sie etwas, das sie eng an sich drückte. Als sie zu ihm aufsah, merkte er, daß sie weinte. Es war ihm, als kenne er sie.

»Wer bist du?« rief er. Kaum waren die Worte heraus, erstarb seine Stimme, verschlungen vom feuchten Zischen des Flusses.

Die Frau starrte ihn mit ihren großen, dunklen Augen an, als wollte sie sich jeden einzelnen seiner Gesichtszüge einprägen. Endlich sprach sie.

»Seoman.« Die Worte kamen wie aus einem langen Gang, matt und hohl. »Warum bist du nicht zu mir gekommen, mein Sohn? Der Wind ist kalt, und ich warte schon so lange.«

»Mutter?« Simon fühlte eine tiefe Traurigkeit. Das sanfte Rauschen des Wassers schien überall zu sein. Die Frau fuhr fort.

»Wir haben uns so lange nicht gesehen, mein einziges Kind. Warum kommst du nicht zu mir? Warum kommst du nicht und trocknest die Tränen deiner Mutter? Der Wind ist kalt, aber der Fluß ist warm und mild. Komm … willst du nicht herüberkommen zu mir?« Sie streckte die Arme aus; der Mund unter den schwarzen Augen öffnete sich zu einem Lächeln. Simon wollte auf sie zugehen, auf seine verlorene Mutter, die nach ihm rief, stieg das weiche Flußufer hinunter zum lachenden schwarzen Fluß. Ihre Arme waren geöffnet, für ihn … für ihren Sohn…

Und dann sah Simon, was sie in den Armen gewiegt hatte und was jetzt von ihrer ausgestreckten Hand baumelte – es war eine Puppe … eine Puppe aus Schilf und Blättern und geflochtenen Grashalmen. Aber die Puppe war schwarz geworden; die verwelkten Blätter rollten sich von den Stielen zurück – und plötzlich begriff Simon, daß nichts Lebendes diesen Fluß in das Land der Dämmerung überqueren konnte. Er blieb am Rand des Wassers stehen und blickte hinab.

Unten im tintenschwarzen Wasser glomm ein schwaches Licht; noch während er es betrachtete, stieg es nach oben und verwandelte sich in drei schlanke, glänzende Gebilde. Das Geräusch des Flusses veränderte sich, wurde zu einer Art prickelnder, unirdischer Musik. Das Wasser hüpfte und brodelte, so daß die wahre Gestalt der drei Dinge nicht zu erkennen war, aber Simon hatte das Gefühl, wenn er es wünschte, könnte er hinabgreifen und sie berühren …

»Seoman!« rief seine Mutter wieder. Er schaute auf und sah, daß sie sich entfernt hatte, schnell kleiner wurde, als sei ihr graues Land ein Sturzbach, der sie von ihm fortriß. Sie hatte ihre Arme weit ausgebreitet, und ihre Stimme war voll bebender Einsamkeit, voller Lust der Kälte für die Wärme und der hoffnungslosen Sehnsucht der Finsternis nach dem Licht.

»Simon … Simon!« Es war ein verzweifelter Klageruf.


Der Junge saß stocksteif im Gras, im Schoß des uralten Steinhügels. Noch immer stand der Mond hoch am Himmel, aber die Nacht war kalt geworden. Nebelschwaden liebkosten die zerbrochenen Steine, und Simon saß da, und sein Herz klopfte wie rasend.

»Simon…« Es war ein flüsternder Ruf aus der Schwärze weiter hinten. Tatsächlich, es war eine graue Gestalt mit der Stimme einer Frau, die von der nebelbedeckten Begräbnisstätte, durch die er gekommen war, leise nach ihm rief – nur eine winzige, sich heftig bewegende graue Gestalt, ein fernes Flackern im Nebel, der dick am Boden hing, dort zwischen den Grabstätten. Aber als Simon sie sah, war ihm, als müßte ihm das Herz in der Brust zerspringen. Er rannte quer über die Grashügel davon, rannte, als hetze ihn der Teufel selbst mit gierigen Händen. Die dunkle Masse des Thisterborgs stand am verhüllten Horizont, auf allen Seiten umgaben ihn die Grashügel, und Simon rannte und rannte und rannte…

Tausend jagende Herzschläge später wurde er endlich langsamer und verfiel in einen unregelmäßigen Gehschritt. Er hätte nicht weiterrennen können, auch wenn er dann wirklich dem Erzdämon zur Beute gefallen wäre; er war erschöpft, humpelte und verspürte einen schrecklichen Hunger. Furcht und Verwirrung hingen an ihm wie ein Mantel aus Ketten; der Traum hatte ihn so verängstigt, daß er sich schwächer fühlte als vor seinem Schlaf.

Mühselig weiterstapfend, die Burg immer im Rücken, fühlte Simon, wie die Erinnerungen an bessere Zeiten sich aufzulösen begannen und nur ein paar ganz dünne Fäden übrigließen, die ihn noch mit der Welt von Sonnenschein, Ordnung und Sicherheit verbanden.

Wie war es damals, wenn ich so auf dem Heuboden lag, in aller Ruhe? Jetzt ist gar nichts mehr in meinem Kopf, nur noch ein Wirrwarr aus Worten. War ich gern in der Burg? Habe ich dort geschlafen, bin ich herumgelaufen, habe ich gegessen und geredet und …?

Nein, ich glaube nicht. Ich bin wohl immer unter dem Mond – diesem weißen Gesicht – durch die Grashügel gewandert wie der armselige, einsame Geist eines Mondkalbs, gewandert und gewandert …

Das plötzliche Aufzucken einer Flamme auf dem Gipfel des Berges unterbrach seine düsteren Phantasien. Schon seit einiger Zeit stieg der Boden ständig an, und Simon war fast am Fuß des finsteren Thisterborgs angekommen. Der Mantel des Berges aus hohen Bäumen stand als massive, undurchdringliche Wand vor der Dunkelheit der eigentlichen Erhebung. Jetzt leuchtete auf dem Kamm des Berges ein Feuer auf, ein Zeichen des Lebens inmitten der Grashügel und der Feuchtigkeit über Jahrhunderten des Todes. Simon setzte sich in einen langsamen Trab, der das Äußerste war, was er in seiner augenblicklichen Verfassung fertigbrachte. Vielleicht war es ein Hirtenfeuer, ein fröhlicher Brand, um die Nacht in ihre Schranken zu weisen.

Vielleicht haben sie ja etwas zu essen! Eine Hammelkeule … einen Kanten Brot…

Er mußte sich vorbeugen. Seine Eingeweide verkrampften sich beim bloßen Gedanken an Essen. Wie lange war es her? Erst seit dem Abendbrot? Erstaunlich, wenn man darüber nachdachte.

Und selbst wenn sie nichts zu essen haben, wie herrlich wird es sein, einfach nur Stimmen zu hören, sich an einem Feuer zu wärmen … einem Feuer…

Jäh sprang eine Erinnerung an hungrige Flammen vor sein geistiges Auge und brachte eine andere Art von hohlem Gefühl mit sich.

Durch Bäume und wirres Gestrüpp kletterte er bergan. Der ganze Fuß des Thisterborgs war von Nebel umwallt, als sei der Berg eine Insel, die sich aus spinnwebgrauem Meer erhob. Simon näherte sich dem Gipfel und erkannte die roh geformten Gestalten der Zornsteine, die die letzte Höhe krönten. Rot war ihr Umriß in den Himmel geätzt.

Mehr Steine. Steine und noch mehr Steine. Wie hat der Doktor sie genannt, diese Nacht – sofern es wirklich noch derselbe Mond war, dieselbe Dunkelheit dieselben matten Sterne wiegte – wie hat Morgenes sie noch gleich genannt?

Steinigungsnacht!

Das klang, als ob die Steine selbst sie feierten. Als ob, während Erchester hinter geschlossenen Fensterläden und verriegelten Türen im Schlummer lag, die Steine ein Fest veranstalteten. In seinen müden Gedanken konnte Simon sie sehen, wie sie gewichtig daherschritten, die feiernden Steine, wie sie sich verbeugten und drehten … sich langsam im Kreis drehten…

Trottel! dachte er. Bist du denn ganz verwirrt im Kopf – was kein Wunder wäre. Du brauchst etwas zu essen und Schlaf, sonst wirst du noch wirklich verrückt – was immer das bedeutete: wirklich verrückt zu werden … war man dann ständig zornig? Ganz ohne Angst? Er hatte einmal auf dem Platz der Schlachten eine Irre gesehen, aber sie hatte nur ein Lumpenbündel umklammert und sich hin und her gewiegt und dabei klagend geschrien wie eine Möwe.

Wahnsinnig unter dem Mond. Ein wahnsinniges Mondkalb!

Simon hatte die letzte, sich rings um den Berggipfel ziehende Baumreihe erreicht. Die Luft war still, als warte sie auf etwas; er spürte, wie seine Haare sich sträubten. Plötzlich kam es ihm vernünftig vor, ganz leise zu gehen und sich diese Hirten in der Nacht erst einmal aus der Distanz anzusehen, anstatt plötzlich aus dem Unterholz hervorzubrechen wie ein wütender Eber. Er duckte sich unter die krummen Glieder einer windzerstörten Eiche und pirschte sich näher an das Licht heran. Unmittelbar über ihm ragten die Zornsteine auf, konzentrische Ringe hoher, vom Sturm gemeißelter Säulen.

Jetzt erkannte er eine Ansammlung menschlicher Gestalten, die inmitten der Steinringe um das tanzende Feuer standen, die Mäntel eng über die Schultern gezogen. Irgend etwas an ihnen wirkte steif und unbehaglich, als warteten sie, daß etwas einträte, mit dem sie zwar rechneten, das sie jedoch nicht unbedingt herbeisehnten. Im Nordwesten, hinter den Steinen, wurde das Plateau des Thisterborgs schmaler. Dort schmiegten sich windgepeitschtes Gras und Heidekraut dicht an den abfallenden Boden, der sich hinter den Steinen erstreckte und endlich am nördlichen Rand des Berges aus der Reichweite des Feuerscheins verschwand.

Simon starrte die regungslosen Figuren am Feuer an und fühlte, wie sich die Last der Furcht von neuem auf ihn niedersenkte. Wieso standen sie so unbeweglich da? Waren es überhaupt lebende Menschen oder unheimliche, aus Holz geschnitzte Bergdämonen?

Eine der Gestalten näherte sich dem Feuer und stocherte mit einem Stock darin herum. Als die Flammen aufloderten, sah Simon, daß zumindest dieser Mann zu den Sterblichen gehörte. Vorsichtig kroch er weiter, bis er unmittelbar vor dem äußeren Steinring lag. Der Feuerschein fing und rötete das sekundenlange Aufblitzen von Metall unter dem Mantel der Simon am nächsten stehenden Gestalt – der Hirte trug ein Panzerhemd.

Der unendliche Nachthimmel schien sich auf ihn zu legen wie eine Decke, unter der er gefangen war. Alle diese etwa zehn Männer waren gepanzert – sie gehörten zur Erkyngarde, das wußte er jetzt genau. Bitter verfluchte er sich selber, weil er direkt auf ihr Feuer zugelaufen war, wie eine Motte sich in die Kerzenflamme stürzt.

Warum bin ich immer so ein verdammter, verdammter Esel?

Ein dünner Nachtwind sprang auf und peitschte die hohen Flammen wie brennende Wimpel. Die in Mantel und Kapuze gehüllten Wachen wandten fast gleichzeitig die Köpfe, langsam und beinahe widerwillig. Sie starrten in die Dunkelheit am Nordrand des Berges.

Dann hörte es Simon auch. Ein schwaches Geräusch übertönte den pfeifenden Wind, der das Gras Wellen schlagen ließ und sanft die Bäume schüttelte. Unmerklich wurde es lauter: das schmerzliche Kreischen hölzerner Wagenräder. Aus der Finsternis löste sich ein massiges Gebilde. Vor ihm wichen die Männer zurück, um sich auf der Simon zugewandten Seite des Feuers zusammenzudrängen. Noch hatte niemand ein Wort gesprochen.

Unbestimmte, bleiche Formen, aus denen sich langsam Pferde bildeten, erschienen am Rande des Feuerscheins; hinter ihnen schälte sich ein großer, schwarzer Wagen aus der Nacht. Zu seinen beiden Seiten gingen mit schwarzen Kapuzen verschleierte Wesen, insgesamt vier, im gleichen würdevollen Leichenzugschritt. Im flackernden Licht wurde oben auf dem Wagen eine fünfte Gestalt sichtbar, die über dem Gespann aus eisweißen Hengsten kauerte. Dieser Fünfte schien auf seltsame Weise größer als die anderen und dunkler, als trüge er einen Mantel aus Finsternis, und gerade seine reglose Ruhe schien von verborgener, brütender Macht zu künden.

Noch immer rührten sich die Wachen nicht, sondern standen starr und abwartend da. Nur das dünne Quietschen der Wagenräder durchschnitt die Stille. Simon, wie angewurzelt, spürte einen kalten Druck in seinem Kopf, eine nagende Umklammerung in den Eingeweiden.

Ein Traum, ein böser Traum … Warum kann ich mich nicht bewegen?

Der schwarze Wagen und seine Begleiter kamen, sobald sie die Grenze des Feuerscheins überschritten hatten, zum Halten. Eine der vier stehenden Gestalten hob den Arm. Der schwarze Ärmel fiel zurück und enthüllte ein Handgelenk samt Hand, beide so dünn und weiß wie Knochen.

Das Wesen sprach mit kalter Stimme, tonlos wie berstendes Eis.

»Wir sind gekommen, den Bund zu halten.«

Unter den Wartenden entstand Bewegung. Ein Mann trat vor.

»Wie wir.«

Simon, der wie gebannt den Fortgang dieser Wahnvorstellung verfolgte, war in keiner Weise überrascht, Pryrates' Stimme zu erkennen. Der Priester streifte die Kapuze zurück. Feuerschein zeichnete die hohe Wölbung seiner Stirn nach und unterstrich die skelettartigen Höhlen seiner Augen. »Wir sind hier … wie es vereinbart ist«, fuhr er fort – war da ein winziges Zittern in seiner Stimme? – »Habt ihr gebracht, was versprochen war?«

Der knochenweiße Arm schwang zurück und deutete auf den hinter ihm aufragenden Wagen.

»Das haben wir. Habt auch ihr das Versprochene?«

Pryrates nickte. Zwei von den Wachen bückten sich und wuchteten etwas Schweres aus dem Gras, wo es gelegen hatte. Sie schleppten es herbei und ließen es dann unsanft vor die gestiefelten Füße des Alchimisten fallen. »Hier liegt es«, erklärte Pryrates. »Zeigt nun die Gabe eures Meisters.«

Zwei der Verhüllten traten zu dem Wagen und hoben vorsichtig einen langen, dunklen Gegenstand herunter. Als sie ihn herantrugen, wobei jeder ein Ende hielt, erhob sich jäh ein beißender Wind, der über den Berggipfel pfiff. Die schwarzen Gewänder wogten, und die Kapuze der vordersten Gestalt flog zurück.

Ein Schneegestöber schimmerndweißen Haares quoll hervor. Das für eine kurze Sekunde sichtbare Antlitz war feingeschnitten wie eine Maske aus dünnstem, reinstem Elfenbein. Gleich darauf wehte die Kapuze wieder zurück.

Was sind das für Wesen? Hexen? Geister? Hinter den schützenden Felsen hob Simon eine zitternde Hand, um das Zeichen des Baumes zu machen.

Die Weißfüchse … Morgenes sprach von ›Weißfüchsen‹…

Pryrates – diese Dämonen, oder was sie sonst waren – es war alles zu viel. Bestimmt lag er immer noch auf dem Begräbnisplatz und träumte. Er betete, daß es so sein möge, und schloß die Augen, um die gottlosen Bilder zu verscheuchen. Aber der Boden unter ihm roch stechend und unverkennbar nach feuchter Erde, und in seinen Ohren prasselte das Feuer. Als Simon die Augen wieder öffnete, fand er den Alptraum unverändert.

Aber was geht hier vor?

Die beiden schattenhaften Gestalten erreichten den Rand des Feuerkreises. Während die Soldaten noch weiter zurückwichen, setzten sie ihre Last ab und traten zurück. Es war ein Sarg, zumindest besaß es die gleiche Form, war aber nur drei Hände hoch. Um seinen Rand schwelte ein geisterhaftes bläuliches Licht.

»Bringt uns nun, was ihr versprochen habt«, sagte der erste Schwarzgewandete. Pryrates machte eine Handbewegung, und zwei Männer schleiften das zu seinen Füßen liegende Bündel nach vorn. Als sie zurückgetreten waren, drehte der Alchimist es mit der Fußspitze um. Es war ein Mann, geknebelt und an den Handgelenken gefesselt. Erst allmählich erkannte Simon das runde, blasse Gesicht Graf Breyugars, des obersten der königlichen Wachen.

Lange musterte die verhüllte Gestalt Breyugars zerschundenes Antlitz. Ihre Miene blieb unter den düsteren Falten der Kapuze verborgen, aber als sie sprach, lag ein zorniger Unterton in der klaren, unirdischen Stimme.

»Das scheint nicht zu sein, was versprochen war.«

Pryrates hielt seinen Körper ein wenig schief, als wollte er dem verhüllten Wesen eine geringere Angriffsfläche bieten.

»Dieser Mann ließ zu, daß der Versprochene entkam«, erklärte er, wobei seine Stimme eine gewisse Besorgnis zu verraten schien. »Er wird die Stelle des Versprochenen einnehmen.«

Zwischen zwei Wachen drängte sich eine Gestalt nach vorn, trat vor und ragte plötzlich neben Pryrates auf. Laut und deutlich erklärte sie: »Versprochen? Was bedeutet das: ›versprochen‹? Wer wurde hier versprochen?«

Der Priester hob beschwichtigend die Hand, aber sein Gesicht hatte einen strengen Ausdruck. »Bitte, mein König; ich glaube, Ihr wißt es. Bitte.«

Elias wandte ruckartig den Kopf und starrte seinen Ratgeber an.

»Weiß ich es wirklich, Priester? Was habt Ihr in meinem Namen versprochen?«

Pryrates beugte sich näher zu seinem König. Ein verletzter Ton trat in die rauhe Stimme. »Herr, Ihr befahlt mir, alles für diese Zusammenkunft Nötige vorzubereiten. Das habe ich getan … oder ich hätte, wenn nicht dieser – cenit«, er stieß mit dem Fuß nach dem gefesselten Breyugar, »in seiner Pflicht Euch gegenüber versagt hätte.« Der Alchimist sah zu dem Schwarzverhüllten hinüber, dessen scheinbare Gleichgültigkeit der Störung gegenüber trotz allem einen Hauch von Ungeduld ahnen ließ. Pryrates runzelte die Stirn. »Bitte, mein König. Der, von dem wir sprechen, ist nicht mehr da; die Frage nach ihm ist daher müßig. Bitte!« Er legte leicht die Hand auf die Schulter von Elias' Mantel. Der König schüttelte sie ab und starrte den Priester aus dem Schatten seiner Kapuze an, sagte jedoch nichts mehr. Pryrates wandte sich wieder dem Schwarzgewandeten zu.

»Er, den wir euch bieten … auch sein Blut ist edel. Er ist von hoher Abkunft.«

»Von hoher Abkunft?« fragte das dunkle Wesen, und seine Schultern zuckten, als lachte es. »O ja, das ist sehr wichtig. Reicht seine Familie viele Generationen der Menschen zurück?« Die dunkle Kapuze drehte sich um und suchte den verhüllten Blick ihrer Gefährten.

»Gewiß«, erwiderte Pryrates scheinbar beunruhigt. »Hunderte von Jahren.«

»Dann wird unser Meister gewiß zufrieden sein.« Und dann lachte das Wesen, ein messerscharfes Trillern der Erheiterung, das Pryrates einen Schritt zurückweichen ließ. »Fahr fort.«

Der Priester warf Elias einen Blick zu, und der König schlug die Kapuze zurück. Simon fühlte, wie sich der drohende Himmel noch tiefer duckte. Das Gesicht des Königs, selbst im rötlichen Feuerschein noch blaß, schien mitten in der Luft zu schweben. Die Nacht wirbelte, und der ausdruckslose Blick des Königs zog Licht an wie ein Spiegel in einem von Fackeln erleuchteten Korridor. Endlich nickte Elias.

Pryrates schritt nach vorn und packte Breyugar beim Kragen. Er zerrte ihn zu der Sargtruhe und ließ ihn dort fallen. Dann öffnete der Priester die Schnalle seines Mantels. Sein rotes Gewand loderte in stumpfer Flamme. Aus den inneren Falten zog er eine lange, sichelförmig gekrümmte Klinge hervor. Er richtete den Blick auf den nördlichsten Punkt der Steinringe, hob die Klinge an die Augen und begann feierlich zu intonieren, während seine Stimme immer lauter und gebieterischer wurde:

An den Dunklen, den Herrn dieser Welt,

der über den nördlichen Himmel schreitet:

VASIR SOMBRIS, FEATA CONCORDIN!

An den Schwarzen Jäger,

Besitzer der eisigen Hand:

VASIR SOMBRIS, FEATA CONCORDIN!

An den Sturmkönig, den Weitausgreifenden,

Bewohner des Steinernen Berges,

den Erfrorenen und Brennenden,

den Schlafenden, der erwacht ist:

VASIR SOMBRA, FEATA CONCORDIN!

Die schwarzgewandeten Gestalten schwankten – außer dem einen auf dem Wagen, der so still war wie die Zornsteine –, und ein Zischen stieg aus ihrer Mitte und vermischte sich mit dem Wind, der sich von neuem erhoben hatte.

Und Pryrates' Stimme tönte erneut:

Höre nun an den, der zu dir fleht,

den Käfer unter deinem schwarzen Absatz;

die Fliege zwischen deinen kalten Fingern;

den wispernden Staub in deinem unendlichen Schatten –

oveiz mei! Höre mich!

Timior cuelos exaltat mei!

SCHATTEN-VATER – LASS DEN HANDEL BESIEGELT SEIN!

Schlangenschnell zuckte die Hand des Alchimisten nach unten und griff nach Breyugars Kopf. Aber der Graf, der eben noch schlaff vor Pryrates' Füßen gelegen hatte, taumelte plötzlich vorwärts und fort von dem verblüfften Priester, dem nur eine blutige Haarsträhne in der Hand blieb.

Hilflos sah Simon zu, wie der glotzäugige Graf direkt auf sein Versteck zutorkelte. Undeutlich vernahm er Pryrates' zorniges Rufen. Die Nacht, die ihn so eng umschloß, zog sich noch mehr zusammen, erstickte seinen Atem und ließ es ihm schwarz vor Augen werden. Ein paar von den Wachen sprangen hinter Breyugar her.

Der Graf war nur noch wenige Schritte entfernt. Mit seinen gebundenen Händen lief er unbeholfen, stolperte und fiel. Er strampelte mit den Beinen, und sein Atem kam geräuschvoll wie eine Säge hinter dem Knebel hervor. Die Wachen fielen über ihn her. Simon hatte sich hinter dem Stein, der ihn verbarg, in eine halb kauernde Stellung erhoben, und sein müdes Herz hämmerte, als wolle es bersten. Verzweifelt strengte er sich an, die schlotternden Beine ruhig zu halten. Die Wachen, zum Greifen nahe, rissen Breyugar mit fürchterlichen Flüchen auf die Füße. Einer der Männer hob das Schwert und versetzte dem Widerspenstigen einen Hieb mit der flachen Klinge. Simon konnte Pryrates sehen, der aus dem Lichtkreis herüberstarrte, das aschfarbene, gebannte Gesicht des Königs neben sich. Als Breyugars schlaffe Gestalt zum Feuer zurückgezerrt wurde, blickte Pryrates noch immer mit schmalen Augen nach der Stelle, an der der Graf gestürzt war.

Wer ist dort?

Die Stimme schien auf dem Rücken des Windes senkrecht in Simons Kopf zu fliegen. Pryrates starrte ihm genau in die Augen! Er mußte ihn sehen!

Komm heraus, wer du auch bist. Ich befehle dir, herauszukommen.

Die Gestalten in den schwarzen Gewändern stimmten ein fremdartiges, drohendes Summen an, und Simon kämpfte gegen den Willen des Alchimisten. Er dachte an das, was ihm um ein Haar in dem Lagerraum widerfahren war und stemmte sich gegen die zwingende Kraft; aber er war geschwächt, ausgelaugt wie ein alter Lappen.

Komm heraus, wiederholte die Stimme, und etwas Suchendes griff nach ihm und wollte seinen Geist berühren, Simon wehrte sich, versuchte die Türen seiner Seele geschlossen zu halten; aber das, was in ihn eindringen wollte, war stärker als er. Es brauchte ihn nur zu finden, ihn zu packen…

»Wenn der Bund nicht mehr eure Billigung findet«, sagte plötzlich eine dünne Stimme, »dann wollen wir jetzt damit ein Ende machen. Es ist gefährlich, das Ritual nur halb auszusprechen – sehr gefährlich

Es war der Verhüllte, der da sprach, und Simon konnte fühlen, wie die suchenden Gedanken des roten Priesters erschüttert wurden.

»W-was?« fragte Pryrates wie ein soeben Erwachter.

»Vielleicht verstehst du nicht, was du hier tust«, zischte das schwarze Wesen. »Vielleicht begreifst du nicht, um wen und um was es hier überhaupt geht.«

»Nein … doch, ich weiß es…«, stammelte der Priester, und Simon konnte seine Unruhe spüren wie einen Geruch. »Schnell«, wandte er sich an die Wachen, »bringt mir diesen Sack von Unrat!« Die Wachen schleppten ihm Breyugar wieder vor die Füße.

»Pryrates…«, begann der König.

»Bitte, Majestät, bitte. Es dauert nur noch einen Augenblick.«

Zu Simons Grausen steckte ein Teil von Pryrates' Gedanken noch immer in seinem Hirn, ein klebriger Rest, den der Priester nicht zurückgezogen hatte. Er konnte die bebende Erwartung des Alchimisten beinahe schmecken, als dieser jetzt Breyugars Kopf nach oben riß; konnte fühlen, wie der Priester auf das leise Murmeln der Verhüllten reagierte. Und nun empfand er etwas noch Tieferes, einen Keil aus eisigem Grauen, der gewaltsam in seinen wunden, empfindlichen Verstand eindrang. Etwas unfaßbar Anderes war dort draußen in der Nacht – etwas entsetzlich Fremdes. Es schwebte über dem Gipfel wie eine erstickende Wolke und brannte wie eine verborgene schwarze Flamme in dem, der da auf dem Wagen hockte; auch in den Körpern der Steine lebte es und erfüllte sie mit seiner gierigen Aufmerksamkeit.

Die Sichel hob sich. Sekundenlang stand die scharlachrot aufblitzende Krümmung der Klinge am Himmel wie ein zweiter Mond, ein alter, roter Halbmond. Pryrates rief in hohen Tönen in einer Sprache, die Simon nicht verstehen konnte:

»Aí Samu'sitech'a! – Aí Nakkiga!«

Die Sichel fiel, und Breyugar sackte nach vorn. Purpurrötliches Blut pumpte aus seiner Kehle und spritzte hinunter auf den Sarg. Sekundenlang zuckte der oberste der Wachen wild unter der Hand des Priesters, um dann zu erschlaffen. Das dunkle Rinnsal tropfte weiter auf den schwarzen Sargdeckel. In die bizarre Verflechtung fremder Gedanken verstrickt wie in ein Netz, erlebte Simon hilflos das panikartige Hochgefühl mit, das Pryrates erfaßte. Dahinter spürte er das Andere – etwas kaltes, dunkles, grauenhaft Ungeheures, dessen uralte Gedanken in widerwärtiger Freude sangen.

Einer der Soldaten erbrach sich. Wäre die matte Betäubung nicht gewesen, die ihn lähmte und verstummen ließ, hätte Simon das gleiche getan.

Pryrates stieß den Leichnam des Grafen beiseite; Breyugar sank in einem plumpen Haufen zusammen, austernblasse Finger gegen den Himmel gekrümmt. Auf der dunklen Truhe rauchte das Blut, und das blaue Licht flackerte heller. Die Linie, mit der es den Rand des Sarges umrahmte, wurde deutlicher. Langsam, entsetzlich langsam, begann sich der Deckel zu heben, als zwinge ihn jemand von innen auf.

Heiliger Usires, der du mich liebst, heiliger Usires, der du mich liebst – Simons Gedanken überstürzten sich, ein vor Furcht sinnloses Gewirr – hilf mir, hilf mir, es ist der Teufel dort in der Truhe, er kommt heraus, hilf mir, rette mich, hilf… wir haben es geschafft, wir haben es geschafft! Andere Gedanken, fremde, nicht aus Simons Kopf. Zu spät zum Umkehren. Zu spät!

Der erste Schritt. Die kältesten, furchtbarsten Gedanken von allen.

Wie sie bezahlen werden, bezahlen, bezahlen…

Als der Deckel schräg stand, brach aus dem Inneren das Licht hervor, pochendes Indigoblau, rauchgrau und düsterpurpur gefleckt, ein schreckliches, verletztes Licht, das pulsierte und blendete. Der Deckel fiel nach hinten, und der Wind dämpfte sein Heulen, als habe er Angst bekommen, als sei ihm übel vom Strahlen der langen, schwarzen Truhe. Endlich wurde ihr Inhalt sichtbar.

Jingizu, flüsterte eine Stimme in Simons Kopf, Jingizu…


Es war ein Schwert. Tödlich wie eine Viper lag es in der Truhe. Vielleicht war es schwarz, aber ein darüber schwebender Glanz machte die Schwärze fleckig, ein kriechendes Grau wie Öl auf dunklem Wasser. Der Wind kreischte.

Es schlägt wie ein Herz – das Herz allen Leides …

In Simons Kopf sang es und rief nach ihm, eine Stimme, grauenvoll und schön zugleich, verführerisch wie Krallen, die sanft über die Haut kratzen.

»Nehmt es, Hoheit!« drängte Pryrates durch das Zischen des Windes. Gebannt und wehrlos, wünschte sich Simon plötzlich, stark genug zu sein, um selber danach zu greifen. Warum nicht? Macht sang zu ihm, sang von den Thronen der Gewaltigen, der Verzückung gestillter Sehnsucht.

Elias machte einen zögernden Schritt vorwärts. Einer nach dem anderen wichen die Soldaten von ihm zurück, machten kehrt und rannten schluchzend oder betend den Berg hinunter, taumelten in die Dunkelheit des Baumgürtels. Nach wenigen Augenblicken waren nur noch Elias, Pryrates und der versteckte Simon mit den Verhüllten und ihrem Schwert auf dem Gipfel. Elias tat einen zweiten Schritt; jetzt stand er vor der Truhe. Seine Augen waren vor Furcht weit aufgerissen, quälender Zweifel schien ihn zu zerreißen, seine Lippen bewegten sich tonlos. Die unsichtbaren Finger des Windes zupften an seinem Mantel, und die Berggräser umschlangen seine Knöchel.

»Ihr müßt es nehmen!« sagte Pryrates wieder, und Elias starrte ihn an, als sehe er den Alchimisten zum ersten Mal.

»Nehmt es!« Pryrates' Worte tanzten wie rasend durch Simons Kopf, Ratten in einem brennenden Haus.

Der König bückte sich und streckte die Hand aus. Vor dem wilden, leeren Nichts im Lied des Schwertes verwandelte sich Simons Lust in jähes Grauen.

Es ist unrecht! Spürt er es denn nicht? Unrecht!

Als Elias' Hand sich dem Schwert näherte, verstummte das Heulen des Windes. Die vier Vermummten standen regungslos vor dem Wagen; der fünfte schien in noch tieferen Schatten zu versinken. Ein fast greifbares Schweigen senkte sich über den Gipfel.

Elias faßte den Griff und hob mit einer einzigen fließenden Bewegung die Klinge aus dem Sarg. Als er sie vor sich hielt, wich unvermittelt die Furcht aus seinem Gesicht, und die Lippen öffneten sich zu einem hilflosen, einfältigen Lächeln. Er reckte das Schwert in die Höhe. Ein blauer Schimmer umspielte die Schneide und zeichnete sie scharf gegen die Schwärze des Himmels ab. Elias' Stimme war fast ein Wimmern des Glücks.

»Ich … nehme die Gabe des Meisters an. Ich werde … unseren Pakt erfüllen.« Langsam, die Klinge vor sich haltend, sank er auf ein Knie.

»Heil Ineluki Sturmkönig!«

Wieder erhob sich kreischend der Wind. Simon fuhr zurück vor dem lodernden, tanzenden Bergfeuer. Die Gestalten in ihren Gewändern hoben die weißen Arme und intonierten: »Ineluki, aí! Ineluki, aí!«

Nein! wirbelten Simons Gedanken, der König … alles verloren! Lauf, Josua!

Leid … Leid über dem ganzen Land!

Oben auf dem Wagen begann die fünfte verhüllte Gestalt sich zu winden wie eine Schlange. Das schwarze Gewand fiel von ihr ab, und ein Wesen aus flammendrotem Licht wurde sichtbar, flatternd wie ein brennendes Segel. Eine gespenstische, herzzerreißende Furcht ging von ihm aus, während es begann, vor Simons vom Grauen gebanntem Blick zu wachsen – körperlos und wogend, größer und größer, bis seine leere, im Wind knatternde Hülle alles überragte, ein Geschöpf aus heulender Luft und glühender Röte.

Der Teufel ist hier! Leid, sein Name ist Leid! Der König hat den Teufel über uns gebracht. Morgenes! Heiliger Usires! Rettet mich rettet mich rettet mich!

Wie von Sinnen rannte Simon durch die schwarze Nacht bergab, fort von dem roten Ding und dem jubelnden Anderen. Das Geräusch seiner Flucht ging im schreienden Wind unter. Äste rissen an seinen Armen und Haaren und schlugen wie Klauen nach seinem Gesicht.

Die eisige Klaue des Nordensdie Ruinen von Asu'a.

Und als er endlich stürzte und sich überschlug und sein Geist vor soviel Grauen in die tiefere Dunkelheit floh, da war es ihm im letzten Augenblick, als könne er die Steine der Erde selbst hören, die unter ihm in ihrem Bett stöhnten.

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