ZWEITER TEIL Simon Pilgrim

XV Eine Begegnung im Gasthof

Das erste, was Simon hörte, war ein Summgeräusch, ein dumpfes Brummen, das hartnäckig an sein Ohr drängte, während er sich mühte, wach zu werden. Er öffnete ein Auge halb – und starrte auf ein Ungeheuer, eine dunkle, unbestimmte Masse sich windender Beine und glitzernder Augen. Mit einem erschreckten Aufjaulen und wild um sich fuchtelnd, fuhr er in die Höhe; die Hummel, die arglos seine Nase erkundet hatte, sauste mit wildem Surren ihrer durchscheinenden Flügel davon, um sich einen weniger leicht erregbaren Sitzplatz zu suchen.

Simon hob die Hand, um seine Augen zu beschatten. Die lebenssprühende Klarheit der Welt ringsum ließ ihn staunen. Das Tageslicht blendete. Die Frühlingssonne hatte, als schritte sie in einer kaiserlichen Prozession einher, nach allen Seiten Gold gestreut, quer über die grasigen Hügel; wohin er auch blickte, überall standen die sanften Hänge üppig voller Löwenzahn und langstieliger Ringelblumen. Bienen eilten zwischen ihnen hin und her, nippten an einer Blüte nach der anderen und entdeckten – wie kleine Ärzte – zu ihrer großen Überraschung, daß ihre Patientinnen alle gleichzeitig wieder gesund wurden.

Simon ließ sich ins Gras zurücksinken und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Er hatte lange geschlafen; die strahlende Sonne stand fast senkrecht über ihm. In ihrem Schein glühten die Haare auf seinen Unterarmen wie geschmolzenes Kupfer; die Spitzen seiner zerrissenen Schuhe schienen so weit entfernt, daß er sie sich fast als Gipfel ferner Berge vorstellen konnte.

Ein jäher, kalter Erinnerungssplitter stach in seine Schläfrigkeit. Wie kam er hierher? Was …?

Ein dunkler Schatten an seiner Schulter brachte ihn hastig auf die Knie; beim Umdrehen sah er hinter sich das Massiv des Thisterborgs, in einen Mantel aus Bäumen gehüllt, keine halbe Meile entfernt. Jede Einzelheit war überwältigend klar, ein scharfkantiges Muster; ohne das quälende Pochen seines Gedächtnisses hätte der Berg angenehm und kühl wirken können, ein freundlicher Hügel, der sich aus den Bäumen erhob, die ihn umringten, mit Schatten und hellgrünem Laub bebändert. Oben auf dem Kamm standen die Zornsteine, mattgraue Punkte im blauen Himmel.

Ein Nebeltraum verdarb auf einmal den munteren Frühlingstag: Was war letzte Nacht geschehen?

Natürlich, er war aus der Burg geflohen – diese Augenblicke, die letzten mit Morgenes, hatten sich ihm tief ins Herz gebrannt; aber danach? Woher kamen diese Alptraumerinnerungen? Endlose Tunnel? Elias? Ein Feuer und weißhaarige Dämonen?

Träume – törichte, böse Träume. Entsetzen und Müdigkeit und noch mehr Entsetzen. Nachts bin ich über den Begräbnisplatz gerannt, schließlich noch hingefallen, eingeschlafen, habe geträumt.

Aber diese Tunnel und … ein schwarzer Sarg? Simon tat immer noch der Kopf weh, aber er hatte gleichzeitig ein merkwürdiges Gefühl von Taubheit, als hätte man Eis auf eine Verletzung gelegt. Der Traum war so wirklich gewesen. Jetzt schien er weit weg, ungreifbar und sinnlos – ein dunkler Anfall von Furcht und Schmerz, der verwehen würde wie Rauch, wenn Simon es zuließ – wenigstens hoffte er das. Er drängte die Erinnerungen in sein Inneres hinab, vergrub sie, so tief er konnte, und schloß seinen Geist über ihnen wie einen Truhendeckel.

Als ob ich nicht schon genug Sorgen hätte…

Die helle Sonne des Belthainn-Tages hatte ein paar von den Knoten in seinen Muskeln geglättet, aber er spürte immer noch den Schmerz … und großen Hunger. Mühsam und steif stand er auf und klopfte sich das an seinen schlammverschmierten, zerfetzten Kleidern haftende Gras ab. Noch einmal sah er verstohlen zum Thisterborg hinüber. Schwelte dort oben zwischen den Steinen wirklich die Asche eines großen Feuers? Oder hatten die furchtbaren Ereignisse des Vortages ihn für eine Weile in den Wahnsinn getrieben?

Der Berg stand ausdruckslos da. Simon wollte gar nicht wissen, welche Geheimnisse unter seinem Baummantel lauerten oder in der steinernen Krone nisteten. Es gab schon zu viele Lücken, die auszufüllen waren.

Also kehrte er dem Thisterborg den Rücken zu und blickte über die Hügel nach der dunklen Vorhut des Forstes. Während er so über die weite Fläche offenen Landes schaute, fühlte er, wie großer Kummer in ihm aufstieg – und heftiges Mitleid mit sich selbst. Er war so allein! Alles hatte man ihm genommen, ihn ohne Heimat oder Freunde im Stich gelassen. Vor Wut klatschte er in die Hände, daß die Handflächen brannten. Später! Später würde er weinen; jetzt mußte er ein Mann sein. Aber es war alles so gräßlich ungerecht!

Er atmete tief ein und aus, dann schaute er wieder auf die fernen Wälder. Irgendwo an dieser dünnen Schattenlinie, das wußte er, verlief die Alte Forststraße. Sie rollte viele Meilen an Aldheortes Südrand entlang, manchmal in einigem Abstand, manchmal auch eng an die alten Bäume geschmiegt wie ein schalkhaftes Kind. An anderen Stellen wagte sie sich sogar unter das Vordach des Waldes und schlängelte sich durch dunkle Lauben und schweigende, von Sonnenpfeilen durchbohrte Lichtungen. Ein paar kleine Dörfer und hier und da ein Rasthaus duckten sich in den Waldesschatten.

Vielleicht kann ich irgendeine Arbeit finden – wenigstens, um mir eine Mahlzeit zu verdienen. Ich fühle mich so hungrig wie ein Bär … und zwar einer, der gerade eben aufgewacht ist. Völlig ausgehungert! Ich habe nichts mehr gegessen seit … bevor … bevor…

Er biß sich hart auf die Lippe. Es gab keine andere Möglichkeit als loszumarschieren.

Die Berührung der Sonne war wie eine Segnung. Sie wärmte den wunden Körper und schien zugleich einen kleinen Einschnitt in das enge, quälende Bahrtuch seiner Gedanken zu tun. In gewisser Hinsicht fühlte er sich neugeboren, wie das Fohlen, das Shem ihm letztes Frühjahr gezeigt hatte – nichts als wacklige Beine und Neugier. Aber diese neue Fremdartigkeit der Welt war nicht gänzlich unschuldig; hinter dem bunten Teppich, der da vor ihm ausgebreitet lag, lauerte etwas Absonderliches und Verborgenes; die Farben waren fast zu leuchtend, die Düfte und Töne allzu süß.

Bald wurde er sich auch mit Unbehagen Morgenes' Manuskript bewußt, das in seinem Gürtelband steckte; aber nachdem er ein paar hundert Schritte weit versucht hatte, das Pergamentbündel in den schwitzenden Händen zu tragen, gab er auf und stopfte es wieder unter den Gürtel. Der alte Mann hatte ihn gebeten, es in Sicherheit zu bringen, und das wollte er tun. Er schob den Hemdzipfel darunter, damit es nicht so scheuerte.

Als er es satt hatte, geduldig nach seichten Stellen zu suchen, an denen er die kleinen Bäche überqueren konnte, die immer wieder die Wiesen durchzogen, streifte er die Schuhe ab. Der Duft des Graslandes und die feuchte Maia-Luft trugen, auch wenn man sich auf ihre Verheißungen nicht verlassen konnte, doch einiges dazu bei, daß Simons Gedanken sich nicht mehr an die schwarzen, schmerzhaften Orte zurückverirrten; auch das Gefühl des Schlammes zwischen den Zehen half.

Nicht lange, so hatte er die Alte Forststraße erreicht. Anstatt jedoch auf der Straße selbst weiterzugehen, die breit und lehmig und mit vom Regen gefüllten Fahrrinnen durchfurcht war, hielt Simon sich westlich und begleitete sie oben auf der hohen Grasböschung. Unter ihm standen weiße Narzissen und blaue Levkojen beschämt und schutzlos zwischen den Radspuren, als hätte man sie in der Mitte eines langsamen Pilgerzuges von einer Böschung zur anderen überrascht. Das Nachmittagsblau des Himmels spiegelte sich in Pfützen, und der bescheidene Schlamm schien mit blinkendem Glas besetzt.

Eine Achtelmeile jenseits der Straße standen die Bäume des Aldheorte in endloser Reihe wie ein im Stehen eingeschlafenes Heer. Zwischen manchen Stämmen gähnte eine so undurchdringliche Finsternis, als wären sie Tore ins Erdinnere. An anderen Stellen gab es Gebilde, die Holzfällerhütten sein mußten, auffällig eckig im Gegensatz zu den anmutigen Linien des Forstes.

Während Simon so weiterging und die unendliche Halle des Waldes betrachtete, stolperte er über einen Beerenstrauch und zerkratzte sich schmerzhaft die Füße. Sobald er jedoch bemerkte, worüber er gestrauchelt war, hörte er mit dem Fluchen auf. Die meisten Beeren waren noch grün, aber es gab schon soviel reife darunter, daß wenige Minuten später, als er zufrieden kauend seinen Weg fortsetzte, Wangen und Kinn voller Beerensaft waren. Auch wenn die Beeren noch nicht die richtige Süße besaßen, schienen sie ihm seit langer Zeit das erste ernsthafte Argument für eine wohlwollende Ordnung der Schöpfung zu sein. Als er aufgegessen hatte, wischte er sich an den Überresten seines Hemdes die Hände ab.

Als die Straße, mit Simon als treuem Gefährten, eine lange Strecke über ansteigendes Gelände zu klettern begann, zeigten sich endlich auch unverkennbare Anzeichen menschlicher Besiedlung. Am südlichen Horizont reckten sich hier und da die rohen Spitzen von Spaltholzzäunen aus dem hohen Gras; hinter diesen verwitterten Grenzwächtern bewegten sich undeutliche Gestalten im langsamen Rhythmus des Pflanzens und legten die Früherbsen. Irgendwo in ihrer Nähe würden andere bedächtig die Reihen abschreiten, Unkraut hacken und ihr Bestes versuchen, die Früchte eines schlimmen Jahres zu retten. Die jüngeren Leute würden auf den Dächern der Häuschen stehen und das Stroh wenden, es mit langen Stöcken festklopfen und das Moos abkratzen, das dort im Aprilregen gewachsen war. Simon fühlte den starken Drang, querfeldein zu laufen, auf diese ruhigen, wohlgeordneten Bauernhöfe zu. Irgend jemand würde ihm sicher Arbeit geben … eine Unterkunft … Essen …

Kann ich überhaupt noch dümmer sein? dachte er. Warum gehe ich nicht gleich zurück in die Burg und stelle mich schreiend auf den Angerhof?

Landleute, das war wohlbekannt, begegneten Fremden grundsätzlich mit Mißtrauen, erst recht in solchen Zeiten, da von Norden her ständig Gerüchte über Raubüberfälle und Schlimmeres zu ihnen drangen. Außerdem war Simon überzeugt, daß die Erkyngarde nach ihm suchte. Die Bewohner dieser einsamen Gehöfte würden sich höchstwahrscheinlich gut an einen rothaarigen jungen Mann erinnern, der kürzlich vorbeigekommen war. Zudem hatte er es gar nicht so eilig, mit Fremden zu sprechen – nicht so nahe beim Hochhorst. Vielleicht würde er in einem der Gasthöfe am Rande des geheimnisvollen Waldes mehr Glück haben – wenn ihn einer davon aufnahm.

Schließlich verstehe ich etwas von Küchenarbeit, oder etwa nicht? Es wird mir schon jemand Arbeit geben…

Er kam über eine Kuppe und sah einen dunkleren Strich, der hier die Straße kreuzte, eine Rinne von Wagenspuren, die aus dem Wald kamen und sich südwärts in die Felder hineinwanden; vielleicht ein Holzweg, ein Pfad vom Ernteort der Holzhauer zum Ackerland im Westen von Erchester. Dort, wo die beiden Wege sich kreuzten, stand etwas Dunkles, eckig und aufrecht. Ein kurzer Anflug von Furcht befiel Simon, bevor ihm bewußt wurde, daß, was immer dort aufragte, zu groß war, um ein Mensch zu sein, der auf ihn wartete. Es mußte eine Vogelscheuche sein, oder ein Straßenheiligtum für Elysia, die Mutter Gottes – Wegkreuzungen waren verrufene, unheimliche Orte, an denen das einfache Volk gern heilige Reliquien errichtete, um Geister fernzuhalten, die dort sonst vielleicht herumlungerten.

Als Simon sich der Kreuzung näherte, stellte er fest, daß seine Vermutung, es handele sich um eine Vogelscheuche, wohl zutraf – der Gegenstand schien an einem Baum oder Pfahl zu hängen und schwankte, von einem leichten Wind bewegt, sacht vor sich hin. Je näher er allerdings kam, desto deutlicher wurde, daß es keine Vogelscheuche war. Bald konnte Simon sich nicht mehr einreden, daß es etwas anderes war als der Leichnam eines Mannes, der an einem rohen Galgen schaukelte.

Jetzt hatte er den Kreuzweg erreicht. Der Wind legte sich. Dünner Straßenstaub umgab den Jungen wie eine braune Wolke. Er hielt an und starrte hilflos nach oben. Der Straßenstaub begann sich zu setzen, um dann von neuem in wirbelnde Bewegung zu geraten.

Die Füße des Gehängten, nackt und schwarz angeschwollen, baumelten in Höhe von Simons Schultern. Der Kopf hing schlaff nach einer Seite wie bei einem Welpen, den man am Nackenfell hochhebt; an Augen und Gesicht hatten die Vögel gepickt. Eine zerbrochene Holzschindel mit den darauf eingekratzten Worten »ND GEWILDERT« schlug leicht gegen seine Brust; unten auf der Straße lag noch ein Stück. Darauf stand in ungelenken Buchstaben: »IN KÖNIGSLA«.

Simon machte einen Schritt zurück. Ein unschuldiger kleiner Wind drehte den hängenden Körper um, so daß der Kopf nach der anderen Seite kippte, um blicklos auf die Felder hinauszustarren. Hastig überquerte Simon den Holzweg und machte das Zeichen des vierspitzigen Baumes auf seiner Brust, als er den Schatten des Gehängten passierte. Normalerweise hätte er einen solchen Anblick zwar furchterregend, aber doch faszinierend gefunden, jetzt aber war alles, was dabei in ihm aufstieg, Ekel und Entsetzen. Er hatte ja auch gestohlen, oder beim Stehlen geholfen – etwas viel Größeres, als dieser armselige Dieb hier sich je hätte träumen lassen: Er hatte den Bruder des Königs aus des Königs eigenem Verlies gestohlen. Wie lange würde es dauern, bis sie ihn fingen, so wie sie dieses von den Krähen zerfressene Geschöpf gefangen hatten? Und was würde seine Strafe sein?

Einmal schaute er zurück. Das zerstörte Gesicht hatte sich erneut gedreht, als wollte es Simons Rückzug beobachten. Er rannte, bis eine Straßensenke die Kreuzung außer Sicht brachte.


Es war später Nachmittag, als er das kleine Dörfchen Flett erreichte. Tatsächlich konnte man es kaum ein Dorf nennen; es gab nur einen Gasthof mit ein paar Häusern, die sich einen Steinwurf weit vom Wald entfernt neben der Straße zusammenduckten. Kein Mensch war zu sehen außer einer dünnen Frau, die in der Tür eines der schmucklosen Häuser stand, und zwei ernsthaften, rundäugigen Kindern, die hinter ihren Beinen hervorspähten. Dafür gab es aber mehrere Pferde, zumeist Bauerngäule, die vor dem Dorfgasthof, der den Namen »Zum Drachen und Fischer« führte, an einen Baum gebunden waren. Als Simon langsam an der offenen Tür vorüberging und sich vorsichtig nach allen Seiten umblickte, grölten laute Männerstimmen aus der biergeschwängerten Dunkelheit und machten ihm angst. Er beschloß zu warten und sein Glück erst später zu versuchen, wenn vielleicht mehr Gäste dasein würden, die hier an der Alten Forststraße übernachten wollten, und seine schmutzige, zerlumpte Erscheinung weniger auffiele.

Er ging weiter die Straße hinauf. Sein Magen knurrte, und er wünschte sich, er hätte ein paar von den Beeren aufbewahrt. Es gab nur noch wenige Häuser, darunter ein kleines, einräumiges Kirchenhäuschen, dann bog die Straße oben unter das Vordach des Waldes ein, und Flett, soweit man überhaupt von ihm sprechen konnte, war zu Ende.

Gleich am Dorfausgang fand er ein Bächlein, das über den schwarzen, von Blättern durchsetzten Boden plätscherte. Er kniete nieder und trank. Dann zog er, wobei er sich um Dornengestrüpp und Feuchtigkeit so wenig wie möglich zu kümmern versuchte, wieder die Schuhe aus, um sie als Kopfkissen zu benutzen, und rollte sich am Fuß einer Lebenseiche zusammen, knapp außer Sichtweite der Straße und des letzten Hauses. Schon bald schlief er unter den Bäumen, ein dankbarer Gast ihrer kühlen Halle.

Simon träumte…

Am Fuß eines hohen weißen Baumes sieht er einen Apfel, einen Apfel, so glänzend und rund und rot, daß er kaum hineinzubeißen wagt. Aber sein Hunger ist groß, und bald führt er die Frucht zum Mund und versenkt seine Zähne darin. Der Geschmack ist köstlich, kernig und voller Süße, aber als er die Stelle anschaut, wo er abgebissen hat, erblickt er unter der hellen Oberfläche zusammengeringelt den dünnen, glitschigen Körper eines Wurms. Er bringt es nicht über sich, den Apfel fortzuwerfen – es ist eine so herrliche Frucht und er so ausgehungert. Er dreht ihn um und beißt in die andere Seite, aber als seine Zähne aufeinandertreffen, löst er seinen Mund und erkennt aufs neue den Schlangenleib des Wurms. Immer wieder beißt er in den Apfel, jedesmal an einer anderen Stelle, aber jedesmal liegt unter der Schale das schlüpfrige Wesen. Es scheint weder Kopf noch Schwanz zu haben, nur endlose Ringe, die sich um das Kernhaus schlingen und durch das kühle weiße Fleisch des Apfels winden…


Simon erwachte unter den Bäumen mit Kopfschmerzen und einem sauren Geschmack im Mund. Er ging an das Bächlein, um zu trinken. Er fühlte sich matt und niedergeschlagen. Wann war je ein Mensch so einsam gewesen? Das schräge Nachmittagslicht fiel nicht auf die tieferliegende Wasseroberfläche; als er niederkniete und in das murmelnde, dunkle Wasser blickte, war ihm, als wäre er schon einmal an einem solchen Ort gewesen. Während er noch darüber nachsann, übertönte lauter werdendes Stimmengewirr das leise Rauschen der Bäume. Schon fürchtete er, wieder zu träumen; aber als er sich umdrehte, sah er eine Schar von Menschen, gut zwanzig Köpfe stark, die Alte Forststraße nach Flett heraufkommen. Mit dem Hemdsärmel trocknete Simon seinen Mund ab und schlich sich im Schatten der Bäume heran, um sie zu beobachten.

Es waren Bauersleute, in das grobe Kätnertuch der Gegend gekleidet, aber festlich aufgeputzt. Die Frauen hatten Bänder ins offene Haar gewunden, blau und gold und grün. Röcke flogen um nackte Knöchel. Ein paar Vorauslaufende trugen Blütenblätter in den Schürzen und ließen sie zu Boden flattern. Die Männer, manche von ihnen jung und leichtfüßig, schleppten einen gefällten Baum auf den Schultern. Seine Zweige waren mit Bändern geschmückt wie die Frauen, und die Männer hielten ihn hoch und schaukelten ihn fröhlich, als sie die Straße heraufkamen.

Simon lächelte schwach. Der Maia-Baum! Natürlich. Heute war Belthainn-Tag, und sie brachten den Maia-Baum. Er hatte oft zugeschaut, wie der Baum in Erchester auf dem Platz der Schlachten aufgestellt wurde. Plötzlich kam ihm sein Lächeln zu breit vor. Ihm war schwindlig. Er duckte sich tiefer in das Gestrüpp, das ihn verbarg.

Jetzt sangen die Frauen, und ihre lieblichen Stimmen vereinten sich zu einem ungleichen Chor, während die ganze Schar tanzte und sich im Kreis drehte.

Komm mit mir zum Breredon,

komm, mein schöner Freier!

Setz die Blumenkrone auf,

tanz an meinem Feuer!

Und die Männer antworteten ihnen mit ihren rauhen und vergnügten Stimmen:

An dem Feuer tanz ich, Kind,

und im Waldesschatten

streun wir uns ein Blütenbett,

bis wir froh ermatten!

Und gemeinsam sangen sie den Kehrreim:

Steht nun vor der Yrmansol,

singt hei-ho, hei-holla

unter diesem Maia-Baum,

heia, Gott will wachsen!

Als die lärmende Schar Simons Versteck passierte, begannen die Frauen einen neuen Vers, der von Stockrosen und Lilienblättern und dem König der Blumen handelte. Einen Moment lang von der guten Laune mitgerissen, den Kopf voll von der ausgelassenen Musik, begann sich der Junge auf sie zu zu bewegen. Plötzlich stolperte auf der sonnenfleckigen Straße, keine zehn Schritte von ihm entfernt, einer der ihm an nächsten laufenden Männer, dem sich ein herunterhängendes Band vor die Augen geschoben hatte. Ein Gefährte half ihm, sich zu befreien, und als er den goldenen Streifen löste, verzog sich sein bärtiges Gesicht zu einem breiten Grinsen. Aus irgendeinem Grund hielt dieses Blitzen lachender Zähne Simon zurück – nur einen Schritt vor dem Heraustreten aus seinem Baumversteck.

Was mache ich denn? schalt er sich. Beim ersten Ton freundlicher Stimmen springe ich schon hervor? Diese Leute hier feiern ein Fest, aber auch ein Hund spielt mit seinem Herrn – und wehe dem Fremden, der unangemeldet zu ihm tritt.

Der Mann, den er beobachtet hatte, rief seinem Begleiter etwas zu, das Simon im Lärm der anderen nicht verstehen konnte, wandte sich dann um, hielt ein Band hoch und schrie einem Dritten etwas entgegen. Der Baum holperte weiter, und als die letzten Nachzügler der Prozession vorbei waren, schlich Simon auf die Straße hinaus und folgte ihnen, eine dünne, in Lumpen gehüllte Gestalt, die aussah wie der klagende Geist des Maia-Baumes, der sehnsüchtig seiner geraubten Wohnstatt hinterherlief.

Die schwankende Parade bewegte sich auf einen kleinen Hügel hinter der Kirche zu. Auf den breiten Feldern verschwand jetzt schnell der letzte Sonnensplitter; der Schatten des Baumes auf dem Dachfirst der Kirche lag wie ein langes Messer mit gebogenem Griff auf der Anhöhe. Simon, der nicht wußte, wie es weitergehen sollte, blieb ein gutes Stück hinter der Gruppe zurück, die den Baum die kleine Steigung hinaufschleppte und dabei immer wieder stolperte oder sich in den frischen Trieben der Dornenhecke verfing. Oben sammelten sich schwitzend und unter lauten Scherzen die Männer und stellten den Stamm aufrecht in ein bereits ausgehobenes Loch. Dann richteten einige den schwankenden Stamm gerade, während andere den Fuß mit Steinen abstützten. Endlich traten sie zurück. Der Maia-Baum wackelte ein bißchen und kippte leicht nach der einen Seite, was die Menge zu erschrecktem Auflachen veranlaßte. Aber er blieb – nur leicht außerhalb der Lotrechten – stehen; großer Jubel erhob sich. Auch Simon im Schatten der Bäume stieß einen kleinen glücklichen Laut aus und mußte sich sogleich wieder verstecken, weil es ihm die Kehle zuschnürte. Er hustete, bis ihm Schwärze vor den Augen tanzte: Es war fast einen ganzen Tag her, daß er ein Wort gesprochen hatte.

Mit tränenden Augen schlich er wieder hervor. Am Fuß der Anhöhe hatte man ein Feuer entzündet. Der Baum, dessen höchste Spitze vom Sonnenuntergang gefärbt war und unter dem die Flammen tanzten, sah aus wie eine an beiden Enden brennende Fackel. Von den Essensdüften unwiderstehlich angezogen, näherte Simon sich den alten Männern und Gevatterinnen, die an der Steinmauer hinter dem Kirchlein Tücher ausbreiteten und Abendessen darauf stellten. Er war überrascht und enttäuscht, wie mager die Vorräte waren – eine geringe Belohnung für den Festtag und, weit schlimmer, eine noch viel geringere Aussicht für ihn, sich unbemerkt mit ein paar Bissen davonzustehlen.

Die jüngeren Männer und Frauen hatten angefangen, um den Maia-Baum herumzutanzen und einen Kreis zu bilden. Aber weil, neben anderen Widrigkeiten, manche betrunken den Hügel hinunterpurzelten, schloß sich der Ring nie ganz; die Zuschauer johlten, wenn die schwindlig vorüberwirbelnden Tänzer vergeblich die Hand ausstreckten, um eine andere Hand zu ergreifen. Einer nach dem anderen taumelten die Feiernden vom Tanz fort, wobei sie torkelten und manche den niedrigen Hügel herunterrollten, um dann unten liegen zu bleiben und unbändig zu lachen. Simon sehnte sich von ganzem Herzen danach, dabeisein zu dürfen.

Bald saßen überall im Gras und an der Mauer kleine Gruppen von Menschen. Die oberste Spitze des Baumes war ein Rubinspeer, in dem sich die letzten Strahlen der Sonne fingen. Einer der Männer am Fuß des Hügels griff zu einer Schienbeinflöte und begann zu spielen. Nach und nach wurde es still, nur manchmal war ein Flüstern oder ein gelegentliches Aufquieken unterdrückten Gelächters zu hören. Schließlich hüllte die atmende blaue Dunkelheit alle ein. Die klagende Stimme der Flöte schwang sich in die Luft wie der Geist eines schwermütigen Vogels. Eine schwarzhaarige junge Frau mit schmalem Gesicht stützte sich auf die Schulter ihres jungen Mannes und stand auf. Sanft schwankend wie eine junge Birke im Weg des Windes fing sie an zu singen. Simon fühlte, wie sich die große Leere in ihm dem Lied öffnete, dem Abend, dem geduldigen, zufriedenen Geruch des Grases und anderer Dinge, die wuchsen. O treuer Freund, o Lindenbaum sang sie.

Mein Schutz und Schirm von Jugend an,

verrate mir, wo ist mein Mann,

du Freund am Waldessaum.

Wo ist er, dem mein Herz gehört,

der all um alles mir versprach?

Ging treulos fort. Mein Herz zerbrach.

Die Liebe ist zerstört.

Wo ging er hin, o Lindenbaum?

In welchem Arm fand er sein Glück?

Wie ruf ich wieder ihn zurück?

Find du ihn mir im Traum!

Frag nicht danach, o Herrin mein,

nur ungern geb ich Antwort dir.

Unmöglich ist die Lüge mir.

Du würdest traurig sein.

Verwehr mir's nicht, o Linde wert,

sag mir, zu wem heut nacht er kam!

Wer ist die Frau, die ihn mir nahm,

daß er mein Wort nicht hört?

Vernimm die Wahrheit, Herrin gut,

dein Mann, du siehst ihn nimmermehr.

Er ging am Fluß heut nacht, am Wehr,

und stürzte in die Flut.

Der Wasserfrau gilt jetzt sein Kuß,

und sie umschlingt ihn voller Glück.

Doch sendet sie ihn dir zurück,

tropfnaß und kalt vom Fluß.

So kehrt er wieder heim zu dir,

tropfnaß und kalt vom Fluß…

Als das schwarzhaarige Mädchen sich wieder setzte, knisterte und sprühte das Feuer, als wollte es sich über ein so nasses, zärtliches Lied lustig machen.

Simon entfernte sich eilig von den Flammen. Seine Augen standen voller Tränen. Die Stimme der Frau hatte ein wildes, hungriges Heimweh in ihm geweckt, nach den scherzenden Stimmen der Küchenjungen, der beiläufigen Freundlichkeit der Kammerfrauen, nach seinem Bett, seinem Burggraben, Morgenes' langgestreckten, sonnengefleckten Zimmern, sogar – die Feststellung bereitete ihm Kummer – der strengen Gegenwart von Rachel, dem Drachen.

Hinter ihm erfüllten Gemurmel und Lachen die Frühlingsdunkelheit wie das Schwirren sanfter Flügel. Vor ihm schlenderten vielleicht zwei Dutzend Leute über die Straße vor der Kirche. Die meisten, in Zweier-, Dreier- und Vierergruppen, schienen durch das herabsinkende Dunkel auf den Gasthof zuzustreben. Aus der offenen Tür drang Feuerschein und tauchte die vor dem Eingang Stehenden in gelbes Licht. Als Simon, der sich immer noch die Augen wischte, näher kam, überschwemmte ihn der Geruch von Fleisch und Braunbier wie die Woge eines Ozeans. Langsam, in mehreren Schritten Entfernung, ging er hinter der letzten Gruppe her und überlegte, ob er sofort nach Arbeit fragen oder erst einmal in der geselligen Wärme abwarten sollte, bis der Wirt vielleicht später einen Augenblick Zeit für ihn haben und sehen würde, daß er ein vertrauenswürdiger Bursche war. Der bloße Gedanke daran, einen fremden Menschen zu bitten, ihn bei sich aufzunehmen, machte ihm angst; aber was blieb ihm übrig? Im Wald zu schlafen wie ein wildes Tier?

Als er sich durch ein Grüppchen angetrunkener Bauern schlängelte, die über die Vorteile einer spät im Jahr vorgenommenen Schafschur stritten, wäre er beinahe über eine dunkle Gestalt gestolpert, die unter dem hin- und herschwingenden Gasthausschild an der Mauer hockte. Ein rundes, rosiges Gesicht mit kleinen dunklen Augen sah zu ihm auf. Simon gab ein paar gemurmelte Laute der Entschuldigung von sich und wollte schon weitergehen, als ihm plötzlich eine Erinnerung kam.

»Ich kenne Euch!« sagte er zu der zusammengekauerten Gestalt, die wie erschreckt die dunklen Augen aufriß. »Ihr seid der Mönch, den ich auf der Mittelgasse kennengelernt habe! Bruder … Bruder Cadrach.«

Cadrach, der einen Moment ausgesehen hatte, als wolle er sich auf Händen und Knien davonmachen, kniff die Augen zusammen und musterte nun seinerseits Simon mit scharfem Blick.

»Erinnert Ihr Euch nicht?« fragte dieser aufgeregt. Der Anblick eines bekannten Gesichtes stieg ihm zu Kopf wie Wein. »Mein Name ist Simon.« Ein paar von den Bauern drehten sich um und schauten mit trüben Augen gleichgültig zu ihnen hinüber. Simon durchzuckte jähe Furcht, als ihm einfiel, daß er auf der Flucht war. »Mein Name ist Simon«, wiederholte er leiser.

Ein Ausdruck des Erkennens, in dem noch etwas anderes lag, trat auf das runde Gesicht des Mönches. »Simon! Aber natürlich, Junge! Und was führt dich aus dem großen Erchester ins elende, kleine Flett?« Mit Hilfe eines langen Stockes, der neben ihm an der Mauer gelehnt hatte, stand Cadrach auf.

»Ach … hm…«, antwortete Simon verdutzt.

Was hast du nun schon wieder angerichtet, du Tölpel – dich mit Leuten, die du kaum kennst, in ein Gespräch eingelassen! Denk nach, Mondkalb! Morgenes hat sich solche Mühe gegeben, dir klarzumachen, daß es hier nicht um ein Spiel geht. »Ich hatte einen Auftrag … für jemanden in der Burg…«

»Und da hast du beschlossen, das bißchen Geld zu nehmen, das dir übrigblieb, und in dem berühmten ›Drachen und Fischer‹ Rast zu machen«, Cadrach verzog das Gesicht, »und eine Kleinigkeit zu dir zu nehmen.« Bevor Simon ihn aufklären oder sich auch nur entscheiden konnte, ob er das wollte, fuhr der Mönch fort: »Was du aber tun solltest, ist, das Abendessen mit mir gemeinsam einzunehmen und mich die Rechnung bezahlen zu lassen – nein, nein, Junge, ich bestehe darauf! Es ist nicht mehr als gerecht, so freundlich, wie du dich einem Fremden gegenüber erwiesen hast.« Simon brachte kein Wort heraus, und schon hatte Bruder Cadrach ihn am Arm gepackt und in den Schankraum gezogen.

Einige Gesichter wandten sich ihnen zu, als sie eintraten, aber niemand ließ den Blick länger auf ihnen ruhen. Der Raum war langgestreckt und niedrig und auf beiden Seiten von Tischen und Bänken gesäumt, die so weinfleckig, altersschwach und zerschnitten waren, daß nur die eingetrocknete Soße und das Fett, mit denen sie überreich bespritzt waren, sie zusammenzuhalten schienen. Ein rußiger, schwitzender Bauernjunge drehte eine Rinderkeule am Spieß und zuckte zurück, als das tropfende Fett die Flammen zum Aufzischen brachte. Für Simon sah dies alles wie im Himmel aus und roch auch so.

Cadrach zog ihn zu einem Platz an der hinteren Wand; die Tischplatte war so rissig und löchrig, daß es Simon weh tat, als er seine zerschundenen Ellenbogen darauf stützte. Der Mönch ließ sich ihm gegenüber nieder, lehnte sich an die Wand und streckte seine Beine über die ganze Länge der Bank aus. Statt der Sandalen, die Simon erwartet hätte, trug der Mönch zerfetzte Stiefel, die vom Wetter und der starken Beanspruchung aufgeplatzt waren.

»Herr Wirt! Wo seid Ihr, würdiger Schenke?« rief Cadrach. Zwei Einheimische mit dicht gerunzelten Brauen und blaurasiertem Kinn, von denen Simon hätte schwören können, sie seien Zwillinge, sahen vom Nebentisch herüber, Mißbilligung in jede Furche ihrer Gesichter geschrieben. Nach kurzem Warten erschien der Eigentümer, ein bärtiger Mann mit faßförmigem Brustkasten und einer tiefen Narbe über Nase und Oberlippe.

»Ah, da seid Ihr ja«, begrüßte ihn Cadrach. »Seid gesegnet, lieber Sohn, und bringt uns jedem einen Krug Eures besten Biers. Außerdem seid so gut und schneidet uns etwas von der Keule dort ab – und dazu zwei dicke Brotscheiben, um den Saft aufzufangen. Vielen Dank, junger Freund.«

Der Eigentümer des Gasthofs zog bei Cadrachs Worten ein finsteres Gesicht, nickte jedoch kurz mit dem Kopf und entfernte sich. Dabei hörte Simon ihn »… Hernystiri-Lump…« murmeln.

Bald kam das Bier, dann das Fleisch, dann weiteres Bier. Zuerst schlang Simon alles hinunter wie ein verhungerter Hund, aber nachdem er den ersten verzweifelten Heißhunger gestillt und sich im Raum umgesehen hatte, um sich zu vergewissern, daß niemand ihnen ungebührliche Aufmerksamkeit widmete, verlangsamte er sein Tempo und fing an, Bruder Cadrachs weitschweifigen Reden zuzuhören.

Der Hernystiri war ein wundervoller Geschichtenerzähler, trotz seines schnarrenden Akzents, der ihn manchmal etwas schwer verständlich machte. Die Geschichte vom Harfner Ithineg und seiner langen, langen Nacht erheiterte Simon ungemein, obwohl er ein wenig schockiert war, sie ausgerechnet von einem Mann im geistlichen Gewand zu hören. Über die Abenteuer des Roten Hathrayhinn und der Sithifrau Finaju mußte er so lachen, daß er sich Bier über das ohnehin bekleckerte Hemd spritzte.


Sie hatten lange gegessen; das Gasthaus war bereits halb geleert, als der bärtige Wirt ihnen zum vierten Mal die Becher füllte. Mit weit ausholenden Gebärden erzählte Cadrach Simon von einem Kampf, dessen Zeuge er einmal in den Docks von Ansis Pelippé in Perdruin gewesen war. Zwei Mönche, erklärte er, hatten einander bei einem Streit, in dem es darum ging, ob unser Herr Usires einen Mann auf der Insel Grenammam auf magische Weise von der Verzauberung in ein Schwein befreit hatte oder nicht, beinahe bewußtlos geprügelt. Gerade an der aufregendsten Stelle – Bruder Cadrach wedelte bei seiner Schilderung derart begeistert mit den Armen, daß Simon fürchtete, er werde von der Bank herunterfallen – knallte der Schankwirt ganz laut einen Bierkrug auf den Tisch. Cadrach, mitten im Ausruf unterbrochen, schaute auf.

»Nun, guter Herr?« erkundigte er sich und hob eine buschige Braue. »Und was können wir für Euch tun?«

Der Wirt stand mit verschränkten Armen da, eine mißtrauische Miene im verkniffenen Gesicht. »Hab Euch bis jetzt Kredit gegeben, weil Ihr ein Mann des Glaubens seid, Vater«, antwortete er, »aber ich muß jetzt bald schließen.«

»Ist das alles, was Euch fehlt?« Über Cadrachs rundliches Gesicht huschte ein schnelles Lächeln. »Wir sind gleich bei Euch und rechnen ab, guter Mann. Wie war noch Euer Name?«

»Freawaru.«

»Nun, dann habt keine Sorge, wackerer Freawaru. Laßt den Jungen und mich noch diese Krüglein austrinken, dann könnt Ihr Euch schlafen legen.« Mehr oder weniger zufriedengestellt, nickte Freawaru in seinen Bart und stapfte davon, um den Burschen anzubrüllen, der den Bratspieß drehte. Mit einem langen, geräuschvollen Schluck leerte Cadrach seinen Becher und wandte dann sein Grinsen Simon zu.

»Komm, trink aus, Junge. Wir wollen den Mann nicht warten lassen. Ich gehöre zum Orden der Granisier, weißt du, und empfinde Mitgefühl mit dem armen Kerl. Der gute Sankt Granis ist unter anderem der Patron der Gastwirte und Trunkenbolde – eine durchaus natürliche Zusammenstellung.«

Simon lachte vergnügt und leerte den Becher, aber als er ihn niedersetzte, zupfte eine Erinnerung an ihm wie ein Finger. Hatte ihm Cadrach damals, als er ihm in Erchester das erste Mal begegnete, nicht erzählt, daß er zu einem anderen Orden gehörte? Irgend etwas mit v? Vilderivaner?

Der Mönch stocherte mit dem Ausdruck tiefer Versunkenheit in den Taschen seiner Kutte herum, so daß Simon die Frage nicht weiter verfolgte. Gleich darauf zog Cadrach einen ledernen Geldbeutel heraus und ließ ihn auf den Tisch fallen; der Beutel blieb stumm – kein Klirren, kein Klimpern. Cadrachs glänzende Stirn legte sich in bestürzte Falten. Er hielt die Börse ans Ohr und schüttelte sie langsam hin und her. Immer noch kein Laut. Simon riß die Augen auf.

»Ach, Jungchen, Jungchen«, begann der Mönch zu klagen, »schau dir das an! Ich bin heute stehengeblieben, um einem armen Bettler zu helfen – zum Wasser hab ich ihn hinuntergetragen und ihm die blutenden Füße gewaschen –, und sieh dir an, wie er mir meine Freundlichkeit gelohnt hat.« Cadrach drehte den Geldbeutel um, so daß Simon das gähnende Loch sehen konnte, das in die Unterseite geschlitzt war. »Wunderst du dich noch, warum ich manchmal Angst um diese Welt habe, junger Simon? Ich habe dem Mann geholfen, und er – ja, in der Tat, er muß mich beraubt haben, noch während ich ihn trug.« Der Mönch stieß einen tiefen Seufzer aus. »Hm, Junge, ich fürchte, ich muß deine Menschenfreundlichkeit und ädonitische Nächstenliebe in Anspruch nehmen und mir von dir das Geld borgen, das wir hier schuldig sind – ich kann es dir bald zurückzahlen, hab deshalb keine Sorge. Tz, tz«, schnalzte er und schwenkte die aufgeschlitzte Börse vor dem glotzenden Simon, »Oh! Die Welt ist krank vor Sünde.«

Simon hörte Cadrachs Worte nur wie aus weiter Ferne, ein Lautgemurmel in seinem bierumnebelten Kopf. Er schaute nicht auf das Loch in der Börse, sondern auf die Möwe, die mit dickem, blauem Garn auf das Leder gestickt war. Die angenehme Trunkenheit von eben hatte sich in etwas Schweres und Saures verwandelt. Dann hob er den Kopf, bis sein Blick dem Bruder Cadrachs begegnete. Das Bier und die Wärme des Schankraums hatten Simons Wangen und Ohren gerötet, jetzt aber fühlte er, wie aus seinem jagenden Herzen eine noch viel heißere Blutwelle aufstieg.

»Das … ist … mein … Geldbeutel!« sagte er, Cadrach blinzelte wie ein ausgehobener Dachs.

»Was, Junge?« fragte er vorsichtig und rutschte langsam von der Wand weg zur Mitte der Bank. »Ich fürchte, ich habe nicht recht gehört.«

»Dieser … Geldbeutel … gehört … mir.« Simon fühlte den ganzen Kummer, all die ohnmächtige Wut über den Verlust wieder in sich aufsteigen – Judiths enttäuschtes Gesicht, Doktor Morgenes' betrübtes Erstaunen –, dazu das Gefühl von Erschrecken und Übelkeit im Magen, weil man sein Vertrauen mißbraucht hatte. Sämtliche roten Nackenhaare standen ihm zu Berge wie Eberborsten. »Dieb!« schrie er plötzlich und wollte sich auf Cadrach stürzen. Aber der hatte das kommen sehen. Schon war der kleine Mönch von der Bank herunter und huschte rückwärts nach der Tür.

»So warte doch, Junge, du irrst dich!« rief er, aber wenn das wirklich seine Meinung war, so mußte er wenig Vertrauen in die eigene Fähigkeit haben, Simon zu überzeugen. Ohne eine Sekunde innezuhalten, raffte er seinen Stock an sich und sprang zur Tür hinaus. Simon wollte mit einem Satz hinter ihm her, hatte aber kaum den Türpfosten passiert, als er sich von einem Paar bärenartiger Tatzen um die Mitte gepackt fühlte. Gleich darauf schwebte er in der Luft, sein Atem wurde aus ihm herausgepreßt, und die Beine baumelten hilflos nach unten.

»Und was glaubst du, was du da machst, he?« brummte ihm Freawaru ins Ohr. Er machte in der Tür kehrt und schleuderte Simon in den vom Feuer rotgemalten Schankraum zurück. Simon landete auf dem nassen Boden und schnappte nach Luft.

»Es ist der Mönch!« stöhnte er endlich. »Er hat meinen Geldbeutel gestohlen! Laßt ihn nicht entwischen!«

Freawaru steckte kurz den Kopf durch die Tür. »Wenn das stimmt, ist er schon über alle Berge, der Kerl – aber woher soll ich wissen, daß das nicht alles zu eurem Plan gehört, he? Woher weiß ich, daß ihr beide diesen Mönch-und-Lustknabe-Trick nicht in jeder Kneipe zwischen hier und Utanyeat abzieht?« Hinter ihm lachten ein paar späte Zecher. »Steh auf, Junge«, sagte er, ergriff Simon beim Arm und riß ihn grob in die Höhe. »Ich will feststellen, ob Deorhelm oder Godstan schon von euch beiden gehört haben.«

Er schob Simon zur Tür hinaus und um die Hausecke herum, wobei er dessen Arm mit festem Griff gepackt hielt. Das Mondlicht schien auf das mit hellem Stroh gedeckte Stalldach und die ersten Vorpostenbäume des nur einen Steinwurf weit entfernten Waldes.

»Ich weiß nicht, warum du nicht einfach nach Arbeit gefragt hast, du Esel«, grollte Freawaru, während er den stolpernden Jungen weiterstieß. »Jetzt, wo mein Heanfax gerade weg ist, hätte ich einen kräftigen jungen Burschen wie dich gut brauchen können. Verdammte Dummheit – und halt jetzt nur deinen Mund!«

Neben dem Stall stand eine kleine Kate, deren Hinterwand mit dem Hauptgebäude der Herberge verbunden war. Freawaru hämmerte mit der Faust gegen die Tür.

»Deorhelm!« rief er. »Bist du noch auf? Komm und sieh dir den Jungen hier an, und sag mir, ob du ihn schon mal irgendwo gesehen hast.« Drinnen vernahm man das Geräusch von Schritten.

»Beim verdammten Baum, bist du das, Freawaru?« knurrte eine Stimme. »Wir müssen beim Hahnenschrei wieder auf der Straße sein.« Die Tür schwang auf. Mehrere Kerzen beleuchteten den dahinterliegenden Raum.

»Du hast Glück gehabt, daß wir beim Würfeln waren und noch nicht im Bett«, meinte der Mann, der die Tür geöffnet hatte. »Was gibt es?«

Simons Augen weiteten sich und sein Herz explodierte in entsetztem Dröhnen. Der Mann dort und der andere, der gerade an einem der Bettlaken sein Schwert polierte, trugen die grüne Uniform von Elias' Erkyngarde!

»Dieser junge Strolch und Dieb von einem…« konnte Freawaru gerade noch herausbringen, als Simon herumfuhr und dem Wirt den Kopf in den Magen rammte. Mit einem erschreckten Ausstoßen der Luft ging der Bärtige zu Boden. Simon sprang über seine strampelnden Beine und floh in den Schutz des Waldes; ein paar große Sätze, und er war verschwunden. Die beiden Soldaten starrten in sprachloser Verwunderung hinterher. Auf der Erde vor der von Kerzen erhellten Tür fluchte Freawaru, der Schankwirt, wälzte sich, trat um sich und fluchte wieder.

XVI Der Weiße Pfeil

»Es ist ungerecht!« schluchzte Simon vielleicht zum hundertsten Mal und schlug mit den Fäusten auf die nasse Erde ein. An seinen geröteten Knöcheln klebten Blätter; er fühlte sich kein bißchen wärmer. »Ungerecht!« murmelte er und rollte sich wieder zur Kugel zusammen. Die Sonne war schon vor einer Stunde aufgegangen, aber das matte Licht brachte keine Wärme. Simon bibberte und weinte.

Und es war wirklich ungerecht. Was hatte er denn getan, daß er hier naß, unglücklich und heimatlos im Forst von Aldheorte kauerte, während andere Leute in warmen Betten schliefen oder gerade aufstanden und Brot und Milch und trockene Kleider vorfanden? Warum wurde er gejagt und gehetzt wie ein schmutziges Tier? Er hatte versucht, das Rechte zu tun und seinem Doktor sowie dem Prinzen zu helfen, und das hatte ihn zu einem verhungernden Ausgestoßenen gemacht.

Aber Morgenes hat es viel schlimmer getroffen, oder nicht? bemerkte ein Teil von ihm verächtlich. Der arme Mann würde wahrscheinlich gern den Platz mit dir tauschen.

Aber auch darauf kam es eigentlich nicht an: Doktor Morgenes hatte zumindest eine gewisse Vorstellung gehabt, worum es ging und was alles passieren konnte. Er, Simon, dagegen war, dachte er angewidert, so unschuldig und einfältig gewesen wie eine Maus, die vor die Tür geht, um mit der Katze Fangen zu spielen.

Warum haßt Gott mich so? fragte Simon sich schniefend. Wie konnte Usires Ädon, der doch, wie der Priester immer sagte, über alle Menschen wachte, ihn so im Stich lassen, daß er hier in der Wildnis leiden und sterben mußte? Von neuem brach er in Tränen aus.

Als er sich einige Zeit später die Augen rieb, fragte er sich, wie lange er wohl so dagelegen und ins Leere gestarrt hatte. Er stand auf und verließ den Schutz des Baumes, um wieder Leben in Hände und Füße zu schütteln. Dann kehrte er noch einmal zu dem Stamm zurück, um seine Blase zu leeren, und stapfte schließlich mürrisch an das kleine Bächlein hinunter, um zu trinken. Der unbarmherzige Schmerz in Knien, Rücken und Hals machte ihm bei jedem Schritt Vorwürfe.

Sie sollen alle in die Hölle verdammt sein. Verdammter Scheißwald. Und Gott auch, kommt gar nicht mehr drauf an.

Ängstlich blickte er von seiner Handvoll eiskalten Wassers auf, aber die wortlose Lästerung blieb ungestraft.

Als er fertiggetrunken hatte, ging er ein kurzes Stück bachaufwärts zu einer Stelle, an der sich der Wasserlauf zum Teich erweiterte und das unruhige Wasser glatt dahinfloß. Dort kauerte er sich nieder und starrte auf sein von Tränen gekräuseltes Spiegelbild, bis er in Höhe seines Gürtels einen Widerstand spürte, der es ihm erschwerte, sich weiter vorzubeugen, ohne sich dabei mit den Händen abzustützen.

Das Manuskript des Doktors! fiel ihm ein.

Er richtete sich halb auf und zog das warme, biegsame Paket zwischen Hose und Hemdbrust hervor. Sein Gürtel hatte eine Längsfalte in das ganze Bündel gepreßt. So lange hatte er die Seiten getragen, daß sie sich der Rundung seines Bauchs anschmiegten wie der Teil einer Rüstung; nun lagen sie gebläht wie ein vom Wind gefülltes Segel in seiner Hand. Das oberste Blatt war mit Erde verschmiert und verkrustet, aber Simon erkannte die kleine, verschnörkelte Schrift des Doktors; er hatte die dünne Rüstung von Morgenes' Worten getragen. Ein plötzlicher, wilder Krampf wie von Hunger überfiel ihn, und er legte die Papiere sanft zur Seite und sah wieder in den Tümpel.

Es dauerte einen kleinen Augenblick, bis er sein Spiegelbild von den Streifen und Flecken der Schatten auf der Wasseroberfläche unterscheiden konnte. Er hatte das Licht im Rücken; sein Abbild bestand im wesentlichen aus dem Umriß einer dunklen Gestalt mit nur angedeuteten Zügen hinter Schläfe, Wange und Kinn, auf die Licht fiel. Er drehte den Kopf, um die Sonne aufzufangen, und sah aus dem Augenwinkel ein gejagtes Tier, das sich im Wasser spiegelte, das Ohr schräg gestellt, als lausche es auf Verfolgung, das Haar eine wirre Hecke einzelner Büschel, der Hals so gebogen, daß er nicht Zivilisation verriet, sondern Wachsamkeit und Furcht. Hastig sammelte er das Manuskript ein und ging das Bachufer hinauf.

Ich bin ganz und gar allein. Nie mehr wird jemand für mich sorgen. Nicht daß es bisher einer getan hätte. Ihm war, als könne er fühlen, wie ihm das Herz in der Brust brach.

Nach ein paar Minuten Suche fand er eine Stelle, die von der Sonne beschienen wurde. Dort ließ er sich nieder, um seine Tränen zu trocknen und sich Gedanken zu machen. Er lauschte den Vögeln, deren Echo den sonst lautlosen Forst durchdrang, und ihm wurde völlig klar, daß er wärmere Kleidung brauchte, wenn er im Freien übernachten mußte – und zwar rasch, bevor er sich noch weiter vom Hochhorst entfernte. Außerdem mußte er sich entscheiden, wohin er eigentlich wollte.

Gedankenverloren blätterte er in Morgenes' Papieren herum, von denen jedes einzelne mit Worten dicht beschrieben war. Worte – wie konnte sich jemand so viele Worte auf einmal ausdenken, geschweige denn, sie niederschreiben? Ihm tat beim bloßen Gedanken daran das Hirn weh. Und was nützten sie einem, sann er, und seine Unterlippe bebte vor Bitterkeit, wenn man fror und Hunger hatte … oder wenn Pryrates vor der Tür stand? Er zog zwei Blätter auseinander. Das untere zerriß, und ihm war, als hätte er versehentlich einen Freund gekränkt. Er starrte es sekundenlang an und malte mit zerkratztem Finger feierlich die vertraute Schönschrift nach. Dann hielt er es hoch, damit Licht darauf fiel, kniff die Augen zusammen und las.

»… darum ist es seltsam, wenn man bedenkt, daß gerade die Verfasser der Lieder und Geschichten, die Johans glänzenden Hof unterhielten, den König mit ihren Bemühungen, ihn in etwas Überlebensgroßes zu verwandeln, eher kleiner machten, als er wirklich war.«

Beim ersten Durchlesen, als er den Text Wort für Wort entzifferte, verstand er überhaupt nichts; aber beim zweiten Mal trat der Tonfall von Morgenes' Redeweise deutlich hervor. Simon hätte fast gelächelt und vergaß für einen Moment seine schreckliche Lage. Er begriff immer noch sehr wenig von dem, was er las, aber er erkannte die Stimme seines Freundes.

»Man betrachte zum Beispiel«, hieß es weiter, »seine Ankunft in Erkynland. Er stammte von der Insel Warinsten. Die Balladensinger behaupten immer, Gott habe ihn gerufen, den Drachen Shurakai zu erschlagen; er sei bei Grenefod gelandet, sein Schwert Hellnagel in der Hand, sein Sinn nur auf die große Aufgabe gerichtet.

Doch obwohl es durchaus möglich ist, daß ein gütiger Gott ihn herrief, das Land von dem schrecklichen Untier zu befreien, so bliebe doch zu klären, wieso Gott es zuließ, daß besagter Drache erst einmal lange Jahre das Land verwüstete, bevor er ihm eine Nemesis erstehen ließ. Und natürlich erinnerten sich die, welche Johan in jenen Tagen kannten, sehr wohl daran, daß er Warinsten als schwertloser Bauernsohn verließ und als ebensolcher unsere Küsten erreichte; und ebensowenig dachte er überhaupt an den Roten Lindwurm, bevor er fast ein Jahr in unserem Erkynland zugebracht hatte…«

Es war ungemein tröstlich, Morgenes' Stimme wieder zu hören, wenn auch nur im Kopf, aber der Inhalt des Absatzes verwirrte Simon trotzdem. Wollte Morgenes damit sagen, daß Johan der Priester den Drachen gar nicht getötet hatte, oder nur, daß Gott ihn nicht dazu auserwählt hatte? Wenn ihn aber unser Herr Usires im Himmel gar nicht auserkoren hatte, wie hatte er es geschafft, das Erzungeheuer zu besiegen? Hieß er beim Volk von Erkynland nicht ›der von Gott gesalbte König‹?

Während er so nachdenklich dasaß, blies ein kalter Wind durch die Bäume herab und überzog Simons Arme mit Gänsehaut.

Bei Ädons Buch, ich muß einen Mantel oder sonst etwas Warmes zum Anziehen haben, überlegte er. Und mir darüber klarwerden, wo ich hin will, anstatt hier herumzusitzen und wie ein Einfältiger über alten Schriften zu brüten.

Offensichtlich war sein Plan vom Vortag, nämlich sich unter einer dünnen Schicht von Anonymität zu verstecken und in irgendeiner Dorfschenke Spießdreher oder Scheuerjunge zu werden, ein Ding der Unmöglichkeit. Ob die beiden Wachen, denen er entkommen war, ihn erkannt hatten oder nicht, war nicht mehr die Frage; hatten sie es nicht getan, würde es bei nächster Gelegenheit ein anderer tun. Simon war überzeugt, daß Elias' Soldaten schon längst die Gegend nach ihm abkämmten. Schließlich war er nicht einfach ein entlaufener Diener, sondern ein Verräter und Schwerverbrecher. Schon mehrere Menschen hatten Josuas Flucht mit dem Leben bezahlt; wenn Simon der Erkyngarde in die Hände fiel, würde es kein Erbarmen geben.

Wie konnte er entkommen? Wo sollte er hin? Wieder fühlte er Panik in sich aufsteigen und versuchte sie zu unterdrücken. Morgenes' letzter Wunsch war es gewesen, daß er Josua nach Naglimund folgen sollte. Jetzt sah es tatsächlich so aus, als wäre das die einzig brauchbare Lösung. Wenn dem Prinzen die Flucht geglückt war, würde er Simon bestimmt gern aufnehmen. Wenn nicht, würden Josuas Lehnsleute ihm als Gegenleistung für Nachricht von ihrem Herrn sicher Zuflucht gewähren. Allerdings war es ein elend weiter Weg nach Naglimund. Simon kannte die Route und die Entfernung nur vom Hörensagen, aber niemand hatte sie je als kurz bezeichnet. Wenn er der Alten Forststraße weiter westwärts folgte, würde sie irgendwann die Weldhelmstraße kreuzen, die am Fuß des Gebirgszuges, nach dem sie benannt war, nach Norden führte. Wenn er den Weg zum Weidhelm fand, würde er zumindest in die richtige Richtung steuern.

Mit einem vom Saum seines Hemdes abgerissenen Streifen schnürte er die Papiere zusammen, rollte sie zu einer Röhre und umwickelte sie mit dem Stoff, den er an den Enden sorgfältig drehte und zuband. Dabei merkte er, daß er ein Blatt vergessen hatte; es lag ein wenig abseits, und als er es aufhob, sah er, daß es von seinem eigenen Schweiß verschmiert war. In den verwischten, unlesbar gewordenen Buchstaben war ein Satz unversehrt geblieben. Simon sprangen die Worte entgegen:

»… Wenn ihn überhaupt ein göttlicher Funke berührt hatte, so zeigte sich das am deutlichsten in seinem Kommen und Gehen, nämlich daran, daß er zur besten Stunde am rechten Platz war und daraus seinen Vorteil zog…«

Es war keine ausgesprochene Vorhersage oder Prophezeiung, aber es ermutigte Simon ein wenig und bestärkte ihn in seinem Entschluß. Nach Norden wollte er gehen – nordwärts nach Naglimund.


Für einen stachligen, schmerzhaften, unseligen Tagesmarsch im Windschatten der Alten Forststraße entschädigte ihn zum Teil eine glückliche Entdeckung. Als er so durch das Unterholz stelzte – gelegentliche Katen, die sich in Rufweite der Straße duckten, umging er –, erhaschte Simon durch eine Lücke im Mantel des Waldes einen Blick auf einen unermeßlichen Schatz: unbeaufsichtigte Wäsche. Das Auge fest auf die schäbige, mit Brombeergestrüpp gedeckte Hütte geheftet, die ein paar Schritte daneben stand, schlich er auf den Baum zu, dessen Äste mit feuchten Kleidern und einer stinkigen, triefendnassen Decke behängt waren. Sein Herz schlug hastig, als er einen wollenen Mantel herunterzog, der vor Feuchtigkeit so schwer war, daß Simon taumelte, als er ihm in die Arme glitt. Aus der Kate kam kein Alarm; tatsächlich sah es so aus, als sei niemand in der Nähe. Das gab Simon, ohne daß er einen Grund dafür wußte, ein noch viel übleres Gefühl wegen seines Diebstahls. Als er mit seiner Last in das Gewirr der Bäume zurückrannte, sah er vor seinem geistigen Auge wieder ein rohes Holzschild, das gegen eine Brust schlug, die nicht mehr atmete.


Die Sache war die, das merkte Simon schon sehr bald, daß das Leben eines Gesetzlosen ganz und gar nicht so aussah wie in den Geschichten von Hans Mundwald dem Räuber, die Shem ihm erzählt hatte. In seiner Phantasie war der Wald von Aldheorte eine Art endloser, hoher Saal mit einem Fußboden aus weichem Rasen und ragenden Baumstammsäulen gewesen, auf denen eine ferne Decke aus Blättern und blauem Himmel ruhte, ein luftiges Zelt, in dem Ritter wie Herr Tallistro von Perdruin oder der gewaltige Camaris auf stolzen Schlachtrossen einherritten und verzauberte Damen von einem entsetzlichen Schicksal erlösten. In unnachsichtiger, geradezu bösartiger Wirklichkeit gestrandet, mußte Simon feststellen, daß die Bäume am Waldrand sich eng aneinanderdrängten und ihre Äste verstrickten wie Schlangen in einem Gleitknoten. Schon das Unterholz war ein Hindernis, ein grenzenloses, buckliges Feld aus Dornranken und umgestürzten Stämmen, die fast unsichtbar unter Moos und faulenden Blättern lagen.

Wenn er sich in diesen ersten Tagen ab und zu auf einer Lichtung wiederfand und ein kurzes Stück ungehindert weitergehen konnte, gab ihm das Geräusch der eigenen Schritte, die auf den locker geschichteten Erdboden trommelten, das Gefühl, nackt zu sein. Er ertappte sich dabei, wie er im schrägen Sonnenlicht eilig über die Senken huschte und um die Sicherheit des Unterholzes flehte. Dieses Versagen seiner Nerven machte ihn so wütend, daß er sich zwang, die Lichtungen langsam zu überqueren. Manchmal sang er sogar tapfere Lieder und lauschte dem Echo, als sei der Ton seiner Stimme, die immer leiser wurde und schließlich in den alles dämpfenden Bäumen erstarb, das Natürlichste auf der Welt; aber kaum, daß er wieder im Unterholz angelangt war, hatte er zumeist vergessen, was er kurz zuvor gesungen hatte.

Obwohl sein Kopf noch voller Erinnerungen an sein Leben auf dem Hochhorst steckte, waren sie zu bloßen Gedächtnisfetzen verkommen, die immer entfernter und unwirklicher schienen und durch einen wachsenden Nebel aus Zorn, Verbitterung und Verzweiflung ersetzt wurden. Heimat und Glück hatte man ihm gestohlen. Das Leben auf dem Hochhorst war etwas Großartiges und Behagliches gewesen: die Menschen freundlich, die Unterbringung wunderbar bequem. Jetzt trampelte er Stunde um müde Stunde durch den verfilzten Wald und schwamm in Kummer und Selbstmitleid. Er fühlte, wie seine frühere Persönlichkeit langsam verschwand und ein immer größerer Teil seiner wachen Gedanken sich nur noch um zwei Dinge drehte: essen und weitergehen.

Zuerst hatte er lange gegrübelt, ob er der Schnelligkeit wegen die offene Straße einschlagen und eine Entdeckung riskieren durfte oder lieber versuchen sollte, im Schutz des Waldes neben der Straße herzugehen. Letzteres war ihm klüger vorgekommen, aber schon bald merkte er, daß Straße und Waldrand an manchen Stellen weit auseinanderklafften und es im dichten Gestrüpp des Altherz oft erschreckend schwer war, die Straße wiederzufinden. Zugleich sah er in peinlicher Verlegenheit ein, daß er nicht die leiseste Ahnung hatte, wie man ein Feuer anzündet, etwas, an das er nie einen Gedanken verschwendet hatte, wenn er Shems Schilderungen vom schnurrigen Hans Mundwald und seinen Räuberbrüdern zuhörte, die an ihrer Waldtafel saßen und sich an gebratenem Wildbret labten. Ohne Fackel, die ihm den Weg beleuchtete, konnte er wohl nur eins tun: nachts, wenn der Mond schien, auf der Straße gehen. Dann würde er am Tag schlafen und die verbleibenden Stunden Sonnenlicht benutzen, um sich weiter durch den Wald zu plagen.

Keine Fackel, das bedeutete auch kein Kochfeuer, und das war in gewisser Weise das Schlimmste. Von Zeit zu Zeit fand er Gelege mit gefleckten Eiern, die Birkhennen in Verstecken aus ineinandergeflochtenem Gras verborgen hatten. Das war Nahrung für ihn, aber es fiel ihm schwer, die klebrigen, kalten Dotter zu schlürfen, ohne dabei an die warmen, duftenden Herrlichkeiten aus Judiths Küche zu denken und sich mit Bitterkeit an die Morgen zu erinnern, an denen er es so ungeheuer eilig gehabt hatte, zu Morgenes oder hinaus auf den Turnierplatz zu kommen, daß er große Klumpen Butter und mit Honig bestrichenes Brot unangerührt auf dem Teller liegengelassen hatte. Jetzt plötzlich war der Gedanke an einen Kanten mit Butter ein Traum vom Überfluß.

Simon, der nicht jagen konnte und wenig oder gar nichts davon verstand, welche Wildpflanzen man ohne schädliche Folgen essen konnte, fristete sein Leben dadurch, daß er die Gärten der in der Gegend lebenden Kätner plünderte. Mit wachsamem Blick auf Hunde oder zornige Bewohner stürzte er aus dem schützenden Wald hervor, um die armselig kargen Gemüsebeete zu fleddern, scharrte Karotten oder Zwiebeln aus der Erde oder pflückte ein paar Äpfel von unteren Zweigen – aber selbst diese mageren Speisen fand er selten und nur in großen Abständen. Oft hatte er beim Gehen solche Hungerkrämpfe, daß er vor Wut aufbrüllte und dem verfilzten Gestrüpp wilde Fußtritte versetzte. Einmal trat er so fest zu und schrie so laut, daß er vornüber in das Unterholz fiel und lange Zeit nicht aufstehen konnte. Er lag da, hörte, wie das Echo seiner Schritte verstummte und dachte, nun würde er sterben.

Nein, das Leben im Wald war nicht ein Zehntel so herrlich, wie er es sich an diesen längstvergangenen Nachmittagen auf dem Hochhorst ausgemalt hatte, als er im Stall gehockt, den Geruch von Heu und Zaumzeugleder eingeatmet und Shems Geschichten gelauscht hatte. Der mächtige Altherz war ein finsterer und geiziger Wirt, der Fremden keine Bequemlichkeit gönnen wollte. Simon versteckte sich in dornigem Gestrüpp, um die Sonnenstunden zu verschlafen, bahnte sich in der Dunkelheit unter dem im Netz der Bäume gefangenen Mond seinen feuchten, bibbernden Weg oder huschte in seinem herumschlotternden, viel zu weiten Mantel verstohlen durch die Gartenbeete – und wußte immer, daß er mehr Hase als Hund war.


Obwohl er die zusammengerollten Aufzeichnungen des Doktors immer mitschleppte und sich an sie klammerte wie an einen Amtsstab oder den gesegneten Baum eines Priesters, las er, während die Tage vergingen, immer seltener darin. Am dünnen Ende des Tages, zwischen einer erbarmungswürdigen Mahlzeit – falls es überhaupt eine gab – und der furchterregenden, ihn immer enger umschließenden Finsternis der Welt dort draußen öffnete er wohl das Bündel und las ein Stück von einer Seite, aber jeden Tag schien der Sinn der Worte ihm schwerer begreiflich. Eine Seite, auf der die Namen Johan, Eahlstan der Fischerkönig und Shurakai der Drache mehrfach vorkamen, erregte seine Eintagsfliegenaufmerksamkeit, aber nachdem er sie mühsam viermal durchgelesen hatte, erkannte er, daß sie nicht mehr Sinn für ihn ergab als die Jahresringe auf einem Stück Baumholz. An seinem fünften Nachmittag im Wald saß er, die Blätter im Schoß, nur noch da und weinte leise vor sich hin. Geistesabwesend streichelte er das glatte Pergament, so wie er vor unzähligen Jahren die Küchenkatze gekrault hatte, in einem warmen, hellen Raum, der nach Zwiebeln und Zimt roch…


Eine Woche und einen Tag nach den Ereignissen im »Drachen und Fischer« passierte er in Rufweite das Dorf Sistan, eine Siedlung kaum größer als Flett. Die Lehm-Zwillingskamine des Gasthauses rauchten, aber die Straße war leer, und die Sonne schien hell. Aus einer Gruppe Silberbirken spähte Simon von einer Anhöhe hinunter, und die Erinnerung an sein letztes warmes Essen versetzte ihm einen fast körperlichen Schmerz, so daß seine Knie schwach wurden und er um ein Haar gestürzt wäre. Jener längst verschollene Abend schien trotz seines unerfreulichen Abschlusses Morgenes' Beschreibung vom heidnischen Paradies der alten Rimmersgarder zu gleichen: ewiges Trinken und Geschichtenerzählen, fröhliches Feiern ohne Ende.

Er schlich den Hügel hinunter und auf das stille Gasthaus zu. Seine Hände zitterten, und er schmiedete wilde Pläne, wie er von einem unbewachten Fenstersims eine Fleischpastete stehlen oder durch eine Hintertür schlüpfen und die Küche plündern würde. Schon hatte er die Bäume hinter sich gelassen und war den halben Abhang hinuntergestiegen, als ihm jäh zu Bewußtsein kam, was er da tat: am schattenlosen Vormittag aus dem Wald herauszukommen wie ein krankes, fieberndes Tier, das den Selbsterhaltungstrieb verloren hat. Trotz seines dornenbesetzten Wollmantels fühlte er sich plötzlich nackt. Wie angewurzelt blieb er stehen, machte kehrt und rannte davon, den Abhang wieder hinauf und zurück zu den schwanenschlanken Birken. Jetzt schienen selbst sie ihm nackt zu sein; fluchend und schluchzend hastete er tiefer in die dichteren Schatten und hüllte sich in Altherz wie in einen Mantel.


Fünf Tage westlich von Sistan fand sich der schmutzstarrende, halbverhungerte Junge auf einem anderen Hang wieder, von dem er geduckt auf eine aus rohen Spaltholzbrettern gebaute Hütte schaute, die in einem engen Waldtal lag. Er wußte genau – jedenfalls so genau, wie es bei seinen so erbärmlich zerfetzten und bruchstückhaften Gedanken überhaupt möglich war –, daß ein weiterer Tag ohne richtiges Essen oder noch eine einsame Nacht in dem kalten, gleichgültigen Wald ihn tatsächlich und endgültig in den Wahnsinn treiben und ganz und gar zu dem Tier machen würden, als das er sich mehr und mehr fühlte. Seine Gedanken waren bereits dabei, abstoßend und viehisch zu werden: Fressen, dunkle Verstecke, müdes Durch-den-Wald-Stapfen, das war alles, was ihn noch interessierte. Immer schwerer fiel es ihm, sich an die Burg zu erinnern – war es dort warm gewesen? Hatte jemand mit ihm gesprochen? Als sich gestern ein Ast durch sein Wams gebohrt und ihm die Haut aufgerissen hatte, war er nur noch imstande gewesen, zu knurren und danach zu schlagen – ein Tier!

Jemand … jemand wohnt hier…

Die Holzhauerhütte hatte einen mit säuberlichen Steinen eingefaßten Weg zur Vordertür. Unter dem Dachvorsprung an der Seitenwand lagerte ein Stapel gespaltener Holzscheite. Bestimmt, überlegte Simon, leise schnüffelnd, bestimmt würde man sich seiner erbarmen, wenn er an die Tür ginge und ganz ruhig um etwas zu essen bäte.

Ich bin so hungrig. Es ist nicht fair! Es ist ungerecht! Jemand muß mir zu essen geben … jemand…

Langsam, auf steifen Beinen, stieg er den Hügel hinunter. Sein Mund öffnete und schloß sich. Eine versagende Erinnerung an zwischenmenschliche Beziehungen warnte ihn, daß er dieses Landvolk, diese mißtrauischen Waldleute in ihrer von Bäumen umringten Kuhle nicht erschrecken durfte. Er hielt beim Gehen die leeren Handflächen ausgestreckt vor sich und spreizte die bleichen Finger als wortloses Zeichen seiner Harmlosigkeit.

Die Kate war entweder leer, oder die Bewohner reagierten einfach nicht, als er mit seinen zerschundenen Knöcheln anpochte. Er ging um das Häuschen herum und ließ die Fingerspitzen über das rohe Holz schleifen. Das einzige Fenster war mit einer breiten Planke versperrt. Wieder klopfte er, härter; nur ein hohles Echo antwortete.

Während er so unter dem verschalten Fenster hockte und sich verzweifelt fragte, ob er es vielleicht mit einem Stück Feuerholz aufbrechen könnte, ließ ihn ein raschelndes, schnappendes Geräusch aus der gegenüberstehenden Baumreihe vor Schreck so plötzlich in die Höhe fahren, daß sein Gesichtsfeld sich für einen Augenblick auf einen von Schwärze umgebenen Lichtkern verengte; er schwankte und fühlte sich übel. Der Baumzaun wölbte sich nach außen, als habe eine gewaltige Hand ihm einen Hieb versetzt, und sprang dann bebend zurück. Gleich darauf wurde die Stille von neuem zerrissen, diesmal durch ein sonderbares, abgehacktes Zischen. Dieses Geräusch verwandelte sich in einen rapiden Wortschwall – in keiner Simon bekannten Sprache, aber es waren dennoch Worte. Nach einem Augenblick der Erschütterung war die Lichtung wieder still.

Simon war wie zu Stein erstarrt; er konnte sich nicht rühren. Was sollte er tun? Vielleicht war der Bewohner der Hütte auf dem Heimweg von einem Tier angefallen worden … Simon konnte ihm helfen … dann würde man ihm etwas zu essen geben müssen. Aber wie konnte er helfen? Er konnte ja kaum gehen. Und was, wenn es ein Tier war, nur ein Tier – wenn er sich die Worte in diesem jähen Ausbruch von Lauten nur eingebildet hatte? Und was, wenn es etwas noch Schlimmeres war? Etwa die Wachen des Königs mit hellen, scharfen Schwertern oder ein zum Verhungern schlankes, weißhaariges Hexenwesen? Vielleicht der Teufel selber in glutroten Gewändern und mit Nachtschattenaugen?

Woher er den Mut und sogar die Kraft nahm, die steifen Knie zu strecken und auf die Bäume zuzugehen, konnte Simon nicht sagen. Hätte er sich nicht so krank und verzweifelt gefühlt, hätte er es gewiß nicht getan … aber er war nun einmal krank und verhungert und so schmutzig und einsam wie ein Nascadu-Schakal. Er zog sich den Mantel eng um die Brust, hielt die Rolle mit Morgenes' Schriften vor sich und humpelte auf das Gehölz zu.

Das Sonnenlicht sickerte ungleichmäßig durch die Bäume wie durch ein Sieb aus Frühlingsblättern und sprenkelte den Waldboden wie ein Schauer von Fithingstücken. Die Luft schien gespannt wie angehaltener Atem. Zuerst sah Simon nur dunkle Baumstämme und Splitter eindringenden Tageslichtes. An einer Stelle tanzten die Strahlen zuckend hin und her; gleich darauf erkannte Simon, daß sie eine sich windende Gestalt beschienen. Als er einen Schritt darauf zu machte, flüsterten die Blätter unter seinem Fuß, und bei diesem Geräusch hörte das Zappeln auf. Das hängende Wesen – es baumelte einen guten Meter über der schwammigen Erde – hob den Kopf und starrte ihn an. Es hatte das Gesicht eines Menschen, aber die unbarmherzigen Topasaugen einer Katze.

Simon sprang zurück, und auch das Herz in seiner Brust tat einen Satz. Er warf die Hände in die Luft und spreizte dabei die Finger so weit auseinander, als wollte er sich die Sicht auf den unheimlichen Galgenvogel dort vorn versperren. Was oder wer er auch sein mochte, er glich keinem Menschen, den Simon je gesehen hatte. Dennoch war etwas schmerzlich Bekanntes an ihm, wie aus einem halbvergessenen Traum – aber so viele von Simons Träumen waren jetzt Alpträume. Was für ein seltsames Bild! In einer grausamen Falle gefangen, um die Mitte und an den Ellenbogen von einer Schlinge aus schlangenartigem schwarzem Seil gefesselt und an einem schaukelnden Ast hängend, ohne die Erde berühren zu können, sah der Gefangene dennoch wild und trotzig aus – ein auf einen Baum gehetzter Fuchs, der mit den Zähnen in einer Jagdhundkehle sterben würde.

Wenn er ein Mensch war, dann ein sehr schlanker. Sein Gesicht mit den hohen Wangen und schmalen Knochen erinnerte Simon einen Augenblick – einen entsetzlichen, eiskalten Augenblick – an die schwarzgewandeten Wesen auf dem Thisterborg; aber sie waren bleich gewesen, weißhäutig wie Blindfische, während dieser hier goldbraun aussah wie polierte Eiche.

Um ihn in dem matten Licht besser betrachten zu können, machte Simon einen Schritt vorwärts; der Gefangene kniff die Augen zusammen, kräuselte die Lippen und fletschte mit katzenhaftem Fauchen die Zähne. Etwas in der Art, wie er das tat, etwas Nicht-Menschliches in seinem durchaus menschlichen Gesicht sagte Simon sofort, daß es kein Mann war, der hier hing wie ein gefangenes Wiesel … es war etwas anderes…

Simon war näher herangekommen, als klug war, denn als er nach oben in die bernsteingefleckten Augen starrte, schnellte sich der Gefangene nach vorn und stieß dem Jungen die beiden in Tuchstiefeln steckenden Füße gegen den Brustkorb. Simon hatte zwar das schnelle Zurückschwingen bemerkt und den Angriff erwartet, wurde aber trotzdem schmerzhaft in die Seite getroffen, so geschwind bewegte sich der Gefangene. Der Junge taumelte zurück und warf dem Angreifer einen wütenden Blick zu, der ebenso finster erwidert wurde.

Als er dem Fremden aus einer Entfernung von etwa Manneslänge ins Auge sah, beobachtete Simon, wie die irgendwie unnatürlichen Muskeln den Mund zur höhnischen Grimasse verzogen und der Sitha – denn als hätte es ihm jemand gesagt, hatte Simon mit einem Schlag begriffen, daß das herunterhängende Wesen genau das war – ihm in Simons Westerlingsprache ein einziges, mühsam hervorgebrachtes Wort zuzischte.

»Feigling!«

Simon war so erbost, daß er sich um ein Haar auf ihn gestürzt hätte, trotz seines verhungerten Zustandes, seiner Angst und seiner schmerzenden Glieder … bis er begriff, daß es genau das war, was der Sitha mit seinem merkwürdig betonten Spott erreichen wollte. Simon verdrängte den Schmerz in seinen getretenen Rippen, kreuzte die Hände über der Brust und starrte auf den gefangenen Sitha; er erlebte die grimmige Befriedigung, etwas zu sehen, das unzweifelhaft ein Sichwinden in ohnmächtiger Wut war.

Der Schöne, wie Rachel die Rasse immer abergläubisch bezeichnet hatte, trug ein fremdartig aussehendes, weiches Gewand und Hosen aus einem aalglatten, braunen Material, das nur einen Ton dunkler war als seine Haut. Gürtel und Schmuck aus schimmerndem grünem Stein bildeten einen wundervollen Gegensatz zu seinem Haar, das lavendelblau war wie Bergheidekraut und mit einem Knochenring eng am Kopf zusammengezogen, so daß es hinter dem einen Ohr als Pferdeschwanz herunterhing. Er schien kaum kleiner, aber erheblich schmaler als Simon zu sein; allerdings hatte der Junge sein Spiegelbild in letzter Zeit nur in trüben Waldtümpeln erblickt – vielleicht sah er inzwischen genauso mager und wild aus. Aber auch dann gab es Unterschiede, Dinge, die nicht völlig einzugrenzen waren: vogelähnliche Kopf- und Halsbewegungen, eine seltsame Flüssigkeit im Drehen der Gelenke, eine Aura von Macht und Beherrschung, die selbst jetzt zu spüren war, als ihr Besitzer wie ein Tier in dieser rohesten aller Fallen hing. Dieser Sitha, dieses Gespenst seiner Träume, war anders als alles, was Simon bisher gesehen hatte. Er war erschreckend und erregend … er war anders.

»Ich will … ich will dir nicht weh tun«, sagte Simon schließlich und merkte, daß er wie mit einem Kind redete. »Ich habe die Falle nicht gestellt.« Der Sitha fuhr fort, ihn mit bösartigen Halbmondaugen anzustarren.

Was für furchtbare Schmerzen er verbergen muß, dachte Simon bewundernd. Seine Arme sind so weit herausgerissen … daß ich laut schreien würde, wenn ich dort hinge!

Über die linke Schulter des Gefangenen schaute ein Köcher, bis auf zwei Pfeile leer. Mehrere andere Pfeile und ein Bogen aus schlankem, dunklem Holz lagen unter seinen baumelnden Füßen auf dem Grasboden verstreut.

»Versprichst du mir, daß du mir nichts tust, wenn ich versuche, dir zu helfen?« fragte Simon, wobei er ganz langsam sprach. »Ich habe nämlich großen Hunger«, fügte er lahm hinzu. Der Sitha antwortete nicht, aber als Simon einen weiteren Schritt machte, zog er die Beine an, um nach ihm zu treten. Der Junge wich zurück.

»Zum Teufel mit dir!« schrie Simon. »Ich will dir doch nur helfen!« Aber warum wollte er das eigentlich? Warum den Wolf aus der Fallgrube lassen? »Du mußt…«, fing er an, aber der Rest seiner Worte blieb ihm in der Kehle stecken, als eine große Gestalt prasselnd und krachend durch die Bäume auf sie zukam.

»Ah! Da ist es ja, da ist es!« sagte eine tiefe Stimme. Ein bärtiger, schmutziger Mann stapfte auf die kleine Lichtung. Seine Kleidung war dick und vielfach geflickt; in der Hand schwang er eine Axt.

»Nun zu dir, du…« Er unterbrach sich beim Anblick des an einen Baum geduckten Simons. »He«, knurrte er. »Wer bist du denn? Was tust du hier?«

Simon sah auf die schartige Axtklinge hinunter. »Ich … ich bin nur ein Wanderer … ich hörte ein Geräusch hier in den Bäumen…« Er machte eine Gebärde nach der seltsamen Szene. »Ich fand ihn hier, in dieser … Falle.«

»In meiner Falle!« grinste der Waldbewohner. »In meiner verdammten Falle, jawohl, da steckt es drin.« Der Mann kehrte Simon den Rücken und musterte den herunterhängenden Sitha mit kühlem Blick. »Hab versprochen, ich würde ein Ende machen mit ihrem Herumschleichen und Bespitzeln und Die-Milch-sauer-Machen, jawohl, das hab ich.« Er streckte die Hand aus und gab der Schulter des Gefangenen einen Stoß, der ihn hilflos in langsamem Bogen hin- und herpendeln ließ. Der Sitha fauchte, aber es war ein ohnmächtiger Laut. Der Holzfäller lachte.

»Beim Baum, Kämpfer sind sie, das muß man ihnen lassen. Richtige Kämpfer.«

»Was … was hast du mit ihm vor?«

»Was glaubst du denn, Junge? Was glaubst du, was Gott von uns will, wenn wir solche Geister und Kobolde und Teufel erwischen? In die Hölle werd ich es zurückschicken mit meinem guten Hackebeil hier, nun weißt du's.«

Langsam hörte der Gefangene auf zu schaukeln und drehte sich am Ende des dunklen Seils träge im Kreis wie eine Fliege im Netz. Seine Augen blickten zu Boden, der Körper war schlaff.

»Ihn umbringen?« Simon, so krank und schwach er war, wurde trotzdem von einem kalten Schauer des Entsetzens gepackt. »Du willst ihn … aber das kannst du doch nicht! Er … er ist ein…«

»Was es nicht ist, das ist ein natürliches Geschöpf, da bin ich ganz sicher! Mach du lieber, daß du hier wegkommst, Fremdling. Du bist hier in meinem Stückchen Garten, sozusagen, und da hast du nichts zu suchen. Ich weiß, was diese Wesen mit uns im Sinn haben.« Der Holzfäller drehte Simon verächtlich den Rücken zu und ging, die Axt erhoben, als wolle er Holz spalten, zu dem Sitha hinüber. Dieses Holz aber bewegte sich plötzlich und wurde zu einer zappelnden, um sich tretenden, knurrenden Bestie, die um ihr Leben kämpfte. Der erste Hieb des Kätners ging daneben, streifte die knochige Wange und grub eine unregelmäßige Furche in den Ärmel des eigenartigen, glänzenden Obergewandes. Ein Rinnsal aus nur allzu menschlich ausehendem Blut tropfte über das schmale Kinn und den Hals. Wieder trat der Mann näher.

Simon fiel auf seine wunden Knie und suchte nach einem Mittel, um diesen gräßlichen Kampf zu beenden, das Grunzen und Fluchen des Mannes und das heisere Fauchen des gequälten Gefangenen zum Schweigen zu bringen. Er tastete umher und fand den Bogen, aber der war noch leichter, als er aussah, so als wäre er über Marsch-Schilf gespannt. Gleich darauf schloß sich seine Hand um einen halb in der Erde steckenden Felsbrocken. Er zerrte daran, und der Stein löste sich vom daran haftenden Boden. Simon hob ihn hoch über den Kopf. »Hör auf!« schrie er. »Laß ihn in Ruhe!« Keiner der beiden Kämpfer schenkte ihm auch nur einen Seitenblick. Der Holzfäller stand jetzt auf Armlänge von ihm entfernt und hackte auf sein herumwirbelndes Ziel ein. Zwar streiften seine Hiebe den anderen nur, aber sie forderten immer wieder Blut. Die schmale Brust des Sitha pumpte wie ein Blasebalg; er wurde schnell schwächer.

Simon konnte das grausame Schauspiel nicht länger ertragen. Er machte endlich dem Geheul Luft, das sich in all den endlosen, schrecklichen Tagen seiner Verbannung in ihm angestaut hatte, überquerte mit einem einzigen Satz die kleine Lichtung und ließ den Felsbrocken auf den Hinterkopf des Kätners sausen. Ein dumpfes Krachen hallte durch die Bäume. Innerhalb einer Sekunde schien der Mann knochenlos zu werden. Er sackte schwer vornüber, erst auf die Knie, dann aufs Gesicht, und aus den verfilzten Haaren sprudelte ein roter Schwall.

Simon starrte auf die blutige Verwüstung und fühlte, wie sich ihm der Magen umdrehte. Er fiel würgend auf die Knie, doch nur ein saurer Speichelfaden kam nach oben. Der Junge preßte den schwindligen Kopf auf die feuchte Erde und merkte, wie der Wald um ihn herum schwankte und sich drehte.


Sobald er dazu imstande war, stand Simon auf und wandte sich dem Sitha zu, der wieder still in der Schlinge hing. Das schlangenglatte Wams war mit blutigen Rinnsalen bedeckt, und die wilden Augen blickten trübe, als sei ein innerer Vorhang niedergegangen, um kein Licht nach außen dringen zu lassen. Zögernd wie ein Schlafwandler hob Simon die heruntergefallene Axt auf und folgte mit den Augen dem straffen Seil nach oben, wo es sich um einen hohen Baumast schlang – einen Ast, zu hoch, als daß er ihn erreichen konnte. Simon, zu betäubt, um noch Angst zu haben, sägte mit der scharfen Schneide der Klinge an dem Knoten auf dem Rücken des Sitha. Der Schöne zuckte, als die Schlinge sich enger zusammenzog, gab jedoch keinen Laut von sich.

Nach einem langen Augenblick des Kratzens und Schabens riß endlich der schlüpfrige Knoten; der Sitha stürzte herunter. Seine Knie gaben nach, und er torkelte auf den reglosen Holzfäller zu. Sofort rollte er sich zur Seite, von der stummen Masse fort, als hätte er sich verbrannt, und machte sich daran, die verstreuten Pfeile aufzuheben. Er hielt sie wie einen Strauß langstieliger Blumen, griff mit der anderen Hand seinen Bogen und hielt dann inne, um Simon anzustarren. Die kalten Augen glitzerten und erstickten diesem das Wort im Munde. Einen Augenblick lang stand der Sitha, der seine Verletzungen vergessen hatte oder ihrer nicht achtete, erstarrt und sprungbereit wie ein erschreckter Hirsch; dann war er fort, ein braungrüner Blitz, in den Bäumen verschwunden. Simon blieb mit offenem Mund verlassen zurück.

Das fleckige Sonnenlicht war auf den Blättern, die der Sitha gestreift hatte, noch nicht zur Ruhe gekommen, als Simon ein Surren wie von einem zornigen Insekt hörte und einen Schatten an seinem Gesicht vorübersausen fühlte. Aus einem Baumstamm neben ihm ragte ein Pfeil, der langsam zur Sichtbarkeit zurückbebte, weniger als eine Armlänge neben seinem Kopf. Der Junge starrte ihn verständnislos an und fragte sich, wann der nächste Pfeil ihn treffen würde. Es war ein weißer Pfeil, Schaft und Federn gleichmäßig schimmernd wie ein Möwenflügel. Er wartete auf den unvermeidlichen Nachfolger. Nichts kam. Das kleine Gehölz blieb still und bewegungslos.

Nach den sonderbarsten und schrecklichsten zwei Wochen seines Lebens und einem ganz besonders seltsamen Tag hätte sich Simon eigentlich nicht wundern dürfen, als ihn eine neue und unbekannte Stimme aus der Dunkelheit hinter den Bäumen ansprach, eine Stimme, die nicht dem Sitha gehörte und ganz gewiß nicht dem Holzhauer, der dalag wie ein gefällter Baum.

»Geh hin und hol ihn dir«, sagte die Stimme. »Nimm den Pfeil. Er gehört dir.«

Simon hätte nicht überrascht sein sollen, aber er war es doch. Er sank hilflos zu Boden und fing an zu weinen – ein hartes, würgendes Schluchzen der Erschöpfung und Verwirrung und völligen Hoffnungslosigkeit.

»Oh, Tochter der Berge«, fuhr die merkwürdige neue Stimme fort. »Das sieht gar nicht gut aus.«

XVII Binabik

Als Simon endlich zu dem Ursprung der neuen Stimme aufsah, wurden seine tränenfeuchten Augen groß vor Erstaunen. Ein Kind kam auf ihn zu.

Nein, kein Kind, aber ein so kleiner Mann, daß sein schwarzhaariger Scheitel Simon wahrscheinlich nicht viel höher als bis zum Nabel reichte. Auch sein Gesicht hatte etwas Kindliches: Die schmalen Augen und der breite Mund dehnten sich beide nach den Backenknochen hin und drückten schlichte gute Laune aus.

»Hier ist kein guter Ort zum Weinen«, sagte der Fremde. Er wandte sich von dem knienden Simon ab und untersuchte kurz den am Boden liegenden Kätner. »Auch ist es mein Empfinden, daß es wenig nützen wird – wenigstens nicht diesem toten Mann.«

Simon wischte sich am Ärmel seines groben Hemdes die Nase und bekam einen Schluckauf. Der Fremde war zu dem bleichen Pfeil getreten, der aus dem Baumstamm neben Simons Kopf herausragte wie ein steifer, gespenstischer Ast.

»Du solltest das an dich nehmen«, wiederholte der kleine Mann; sein Mund verzog sich erneut zu einem breiten Froschgrinsen und enthüllte sekundenlang eine Palisade gelber Zähne.

Er war kein Zwerg wie die Narren und Gaukler, die Simon bei Hof und in der Mittelgasse von Erchester gesehen hatte – trotz seiner breiten Brust schien er im übrigen wohlproportioniert. Seine Kleidung entsprach im wesentlichen der eines Rimmersmannes: Jacke und Hose aus dicker, mit Sehnen zusammengenähter Tierhaut; ein Pelzkragen umrahmte das runde Gesicht. An einem Schulterriemen hing ein großer, ausgebeulter Ledersack, und in der Hand hatte er einen Wanderstab, der aus einem langen, schlanken Knochen geschnitzt zu sein schien.

»Bitte verzeih meine Vorschläge, aber du solltest diesen Pfeil mitnehmen. Es ist ein Weißer Pfeil der Sithi und sehr kostbar, denn er steht für eine Schuld, und die Sithi sind ein gewissenhaftes Volk.«

»Wer … bist du?« fragte Simon und bekam schon wieder Schluckauf. Er fühlte sich ausgewrungen und plattgeklopft wie ein Hemd, das man auf einem Felsen trockengeschlagen hat. Wenn der kleine Mann knurrend und mit geschwungenem Messer aus den Bäumen hervorgestürzt wäre, hätte Simon sich wahrscheinlich auch nicht anders verhalten.

»Ich?« fragte der Fremde und machte eine Pause, als denke er ernsthaft über die Frage nach. »Ein Reisender wie du auch. Ich werde glücklich sein, zu späterer Zeit mehr zu erläutern, aber jetzt sollten wir gehen. Dieser Bursche«, und mit einem Schwung seines Stabes deutete er auf den Holzfäller, »wird zuverlässig nicht lebendiger werden, aber vielleicht verfügt er über Freunde oder eine Familie, die sich erregen könnten, wenn sie ihn hier so ungemein tot vorfinden. Bitte, nimm den Weißen Pfeil, und komm mit mir.«

Mißtrauisch und vorsichtig, wie er war, ertappte Simon sich dabei, daß er trotzdem aufstand. Im Augenblick war es einfach zu anstrengend, nicht zu vertrauen; er hatte nicht mehr die Kraft, wachsam zu bleiben. Ein Teil von ihm hatte nur den einen Wunsch: sich hinzulegen und in Ruhe zu sterben. Er hebelte den Pfeil aus dem Baum. Der kleine Mann war schon vorausmarschiert und im Begriff, den Hügel hinter der Kate hinaufzuklettern. Das kleine Haus hockte so still und ordentlich da, als wäre nichts geschehen.

»Aber…«, keuchte Simon, als er hinter dem Fremden herrannte, der sich erstaunlich schnell bewegte, »… aber was ist mit der Kate? Ich bin … ich bin so hungrig … und es könnte etwas zu essen darin sein…«

Der kleine Mann drehte sich auf dem Kamm des Hügels um und schaute auf den mühsam folgenden Jungen hinunter. »Ich bin aufs äußerste bestürzt!« erklärte er. »Zuerst machst du ihn tot, dann wünschst du seine Vorratskammer zu berauben. Ich fürchte, daß ich mich einem verzweifelten Gesetzlosen angeschlossen habe!« Ohne ein weiteres Wort machte er kehrt und ging wieder auf die eng zusammenstehenden Bäume zu.

Ein langer, sanft abfallender Hang bildete die andere Seite des Kammes. Simons hinkende Schritte brachten ihn endlich neben den Fremden; bald darauf war er wieder zu Atem gekommen.

»Wer bist du? Und wohin gehen wir?«

Der sonderbare kleine Mann blickte nicht hoch, sondern ließ die Augen von Baum zu Baum schweifen, als suchte er in der ununterbrochenen Gleichförmigkeit des tiefen Waldes nach einer Landmarke. Nach zwanzig stummen Schritten schlug er die Augen zu Simon auf und lächelte sein gedehntes Lächeln.

»Mein Name ist Binbiniqegabenik«, erklärte er, »aber am Kochfeuer nennt man mich Binabik. Ich hoffe, du wirst mir die Ehre erweisen, die kürzere Form der Freundschaft anzuwenden.«

»O ja … gewiß. Woher kommst du?« Ein neuer Schluckauf.

»Ich bin vom Trollvolk aus Yiqanuc«, erwiderte Binabik. »Dem hohen Yiqanuc in den Bergen des Nordens, wo es schneit und weht … und wer bist du

Der Junge stierte einen Augenblick mißtrauisch vor sich hin und antwortete dann: »Simon. Simon vom … aus Erchester.«

Es ging alles so schnell, dachte er … wie eine Begegnung auf dem Marktplatz, und dabei steckten sie nach einer höchst ungewöhnlichen Begegnung samt Totschlag mitten im Wald. Heiliger Usires, tat ihm der Kopf weh! Und der Magen erst.

»Wohin … wohin gehen wir?«

»Zu meinem Lager. Aber zuerst muß ich mein Roß finden … oder besser gesagt, sie muß mich finden. Bitte, sei nicht erschreckt.«

Mit diesen Worten steckte Binabik zwei Finger in den breiten Mund und pfiff einen langen, trillernden Ton. Gleich darauf wiederholte er ihn. »Vergiß nicht, sei nicht erschreckt oder verängstigt.«

Ehe er noch über die Worte des Trolls nachdenken konnte, ertönte im Unterholz ein Prasseln wie von einem Waldbrand, und ein riesiger Wolf brach sich Bahn auf die Lichtung. An dem entsetzten Simon vorbei schoß er wie ein zottiger Donnerkeil auf den kleinen Binabik los, der unter dem Angreifer kopfüber zu Boden purzelte.

»Qantaqa!« Der Ruf des Trolls kam erstickt, aber es lag Erheiterung in seiner Stimme. Roß und Reiter rauften auf dem Waldboden. Simon fragte sich verblüfft, ob wohl die ganze Welt außerhalb der Burg so aussah – war denn ganz Osten Ard nur ein Spielplatz für Ungeheuer und Verrückte?

Endlich setzte Binabik sich hin, und Qantaqa schmiegte den großen Kopf in seinen Schoß. »Ich habe sie heute den ganzen Tag alleingelassen«, erläuterte er. »Wölfe besitzen viel Zärtlichkeit und fühlen sich leicht einsam.« Qantaqa grinste von Ohr zu Ohr und schnaufte. Ein großer Teil ihres Umfangs bestand zwar aus dickem grauem Pelz, aber auch so war sie enorm.

»Fühl dich wie zu Hause bei ihr«, lachte Binabik. »Kraul sie an der Nase.«

Trotz der wachsenden Unwirklichkeit seiner Situation brachte Simon das doch nicht über sich. Statt dessen fragte er: »Verzeihung … aber sagtest du nicht, du hättest in deinem Lager etwas zu essen, Meister?«

Der Troll sprang lachend auf und griff wieder zu seinem Stab. »Nicht Meister – Binabik! Und was das Essen angeht: ja. Wir werden zusammen speisen – du, ich, sogar Qantaqa. Komm mit! Aus Achtung für deine Gefühle der Schwäche und des Hungers werde ich gehen und nicht reiten.«


Eine ganze Weile waren Simon und der Troll unterwegs. Streckenweise begleitete sie Qantaqa, aber meistens trottete sie voraus und verschwand in wenigen Sprüngen im dichten Unterholz. Einmal kam sie wieder und leckte sich mit der langen, rosa Zunge die Schnauze.

»Aha«, bemerkte Binabik vergnügt, »einer hat schon gegessen!«

Endlich, als es Simon, dem alles wehtat und er sich nur noch mühsam auf den Beinen hielt, schon vorkam, als könne er keinen Schritt weiter gehen, und er bei jedem Satz Binabiks nach ein paar Worten den Faden verlor, erreichten sie eine kleine Mulde, in der keine Bäume wuchsen, die aber oben durch ein Gitterwerk ineinander gewachsener Äste überdacht wurde. Neben einem umgestürzten Stamm lag ein Ring geschwärzter Steine. Qantaqa, die neben ihnen hergelaufen war, sprang voraus, um das kleine Tal ringsum abzuschnüffeln.

»Bhojujik mo qunquc, wie meine Leute sagen.« Binabik machte eine die ganze Lichtung umfassende Gebärde. »›Wenn dich die Bären nicht fressen, bist du zu Hause.‹« Er führte Simon zu einem Baumstamm, wo sich der Junge schweratmend fallenließ. Der Troll betrachtete ihn besorgt von Kopf bis Fuß. »Oh«, sagte er schließlich, »du bist doch nicht im Begriff, wieder zu weinen?«

»Nein.« Simon lächelte schwach. Seine Knochen schienen auf ihm zu lasten wie toter Stein. »Ich glaube wenigstens nicht. Ich bin nur schrecklich hungrig und müde. Ich verspreche, nicht zu weinen.«

»Schau her! Ich werde ein Feuer anzünden und anschließend ein Abendessen bereiten.« Rasch sammelte Binabik einen Haufen Stöcke und Zweige und schichtete sie in der Mitte des Steinringes auf. »Es ist Frühlingsholz und feucht«, erklärte er, »aber glücklicherweise kann man mit dieser Schwierigkeit leicht fertigwerden.«

Der Troll ließ den Ledersack von der Schulter gleiten, legte ihn auf die Erde und begann energisch darin herumzuwühlen. Für Simon in seiner vor Müdigkeit wunderlichen Stimmung sah die kleine, hockende Gestalt mehr denn je nach einem Kind aus: Binabik, mit gespitzten Lippen und vor lauter Konzentration zusammengekniffenen Augen in seinen Rucksack starrend – ein Sechsjähriger, der mit tiefem Ernst einen hinkenden Käfer studiert.

»Ha!« sagte der Troll endlich, »es ist gefunden.« Er zog aus dem Sack ein kleines Säckchen, etwa so lang wie Simons Daumen. Daraus nahm er eine Prise von einer pulverartigen Substanz und streute sie über das grüne Holz, holte zwei Steine aus dem Gürtel und schlug sie aneinander. Der herausspringende Funke sprühte kurz auf, und ein dünner Rauchkringel stieg spiralförmig in die Höhe. Gleich darauf ging das Holz in Flammen auf und verwandelte sich in ein fröhlich knisterndes Feuer. Die pulsierende Wärme lullte Simon ein, so heftig auch die Krämpfe in seinem leeren Magen tobten. Sein Kopf fing an zu nicken, zu nicken … Aber halt – ein jäher Anfall von Furcht – wie konnte er so einfach einschlafen, völlig schutzlos in einem wildfremden Lager? Er mußte … er sollte…

»Setz dich hin und wärm dich, Freund Simon.« Binabik klopfte sich den Staub von den Händen und stand auf. »Ich werde sogleich zurückkehren.«

Obwohl sich in seinem Hinterkopf ein tiefes Unbehagen auszubreiten versuchte – wo ging der Troll hin? Seine Kumpane holen? Räuber und Wegelagerer? –, brachte Simon nicht die Energie auf, dem sich entfernenden Binabik auch nur nachzuschauen. Sein Blick war schon wieder auf die tanzenden Flammen geheftet, mit ihren Zungen wie Blütenblätter einer schimmernden Blume … Feuermohn, der im warmen Sommerwind bebte…


Er erwachte aus einer großen, wolkigen Leere und stellte fest, daß der schwere Kopf der grauen Wölfin quer über seinen Schenkeln lag. Binabik beugte sich eifrig beschäftigt über das Feuer. Simon hatte das vage Gefühl, etwas sei nicht ganz richtig daran, daß er einen Wolf auf dem Schoß hatte, aber er konnte nicht die richtigen Marionettenfäden im Kopf ziehen, um etwas daran zu ändern, und eigentlich kam es ja auch nicht darauf an…


Als er das nächste Mal aufwachte, scheuchte Binabik gerade Qantaqa von seinem Schoß und reichte ihm einen großen Becher mit warmem Inhalt.

»Es ist jetzt zum Trinken kühl genug«, bemerkte der Troll und half Simon, das Gefäß an die Lippen zu setzen. Die Brühe roch kräftig und schmeckte köstlich, würzig wie Herbstlaubduft. Er trank alles aus, und es kam ihm vor, als spüre er, wie sie direkt in seine Adern floß, geschmolzenes Blut des Waldes, das ihn wärmte und mit der geheimen Kraft der Bäume erfüllte. Binabik gab ihm einen zweiten Becher, und auch den trank er leer. Ein dichter, bleischwerer Klumpen aus Sorge zwischen Hals und Schultern löste sich auf, fortgeschwemmt von einer Woge der Behaglichkeit. Neue Leichtigkeit durchdrang ihn und brachte zugleich eine widersinnige Schwere mit sich, eine warme, unbestimmte Schläfrigkeit. Als er allem entglitt, vernahm er seinen eigenen, sanftgewiegten Herzschlag, wenn auch gedämpft durch die kitzelnde Wolle der Erschöpfung.


Simon war so gut wie sicher, daß bis zum Sonnenuntergang noch mindestens eine Stunde gefehlt hatte, als er in Binabiks Lager gekommen war; aber als er wieder die Augen aufschlug, war die Waldlichtung hell wie ein frischgeschmiedeter Morgen. Blinzelnd fühlte er, wie die letzten Traumfäden von ihm abfielen – ein Vogel …?

Ein helläugiger Vogel mit einem goldenen Halsband, in dem sich die Sonne spiegelte … ein alter, starker Vogel, die Augen voll von der Weisheit hoher Warten und weiter Fernsicht … in seiner hornigen Kralle einen schönen, regenbogenschimmernden Fisch…

Simon schauderte und hüllte sich enger in den schweren Mantel. Er starrte in die Bäume hinauf, die sich über ihm zum Gewölbe vereinten. Die Sonne verwandelte ihre knospenden Frühlingsblätter in Smaragdfiligran. Er hörte einen stöhnenden Laut und rollte sich zur Seite, um nachzusehen.

Binabik saß mit untergeschlagenen Beinen neben der Feuerstelle und schwankte leicht hin und her. Vor sich hatte er auf einem flachen Stein verschiedene sonderbare, bleiche Gebilde ausgebreitet: Knochen. Es war der Troll, von dem das merkwürdige Geräusch kam – sang er? Simon starrte ihn einen Augenblick an, konnte aber nicht herausfinden, was der kleine Mann da tat. Was für eine seltsame Welt!

»Guten Morgen!« sagte er schließlich. Binabik fuhr wie ertappt in die Höhe.

»Ah! Es ist Freund Simon!« Der Troll grinste über die Schulter und fegte die Gegenstände eilig in seinen geöffneten Ledersack. Dann stand er auf und kam schnell zu Simon herüber. »Wie geht es dir jetzt?« fragte er und bückte sich, um dem Jungen eine kleine, rauhe Hand auf die Stirn zu legen. »Du mußt einen großen Schlaf nötig gehabt haben.«

»Das stimmt.« Simon rückte näher an das kleine Feuer. »Was ist das … dieser Geruch?«

»Ein Paar Waldtauben, die heute morgen mit uns zu speisen geruhen«, lächelte Binabik und deutete auf zwei in Blätter gewickelte Bündel in der Glut am Rand des Lagerfeuers. »Ein paar frisch gesammelte Beeren und Nüsse leisten ihnen Gesellschaft. Ich hätte dich ohnehin bald geweckt, damit du mir hilfst, mich um alle diese Gäste zu kümmern. Sie sind, denke ich, recht wohlschmeckend. Ach, noch etwas – einen Augenblick bitte.« Binabik ging wieder zu seinem Ledersack und zog zwei schmale Päckchen heraus.

»Hier.« Er reichte sie Simon. »Dein Pfeil und noch etwas anderes.« Es waren Morgenes' Papiere. »Du hattest sie im Gürtel stecken, und ich befürchtete, du könntest sie im Schlaf zerbrechen.«

In Simons Brust zuckte ein Verdacht auf. Die Vorstellung, daß jemand, während er schlief, die Schriften des Doktors in die Hand nahm, machte ihn mißtrauisch. Er riß dem Troll das dargereichte Bündel aus der Hand und stopfte es wieder in seinen Gürtel. Die vergnügte Miene des kleinen Mannes wurde betrübt. Simon schämte sich – obwohl man wirklich nicht vorsichtig genug sein konnte – und nahm den Weißen Pfeil, der in dünnen Stoff gewickelt war, sanfter entgegen.

»Danke«, sagte er steif. Binabiks Ausdruck war noch immer der eines Menschen, dessen Freundlichkeit zurückgestoßen wird. Schuldbewußt und verwirrt packte Simon den Pfeil aus. Obwohl er noch nicht dazu gekommen war, ihn genauer zu untersuchen, ging es ihm im Augenblick vor allem darum, Hände und Augen mit irgend etwas zu beschäftigen.

Der Pfeil war nicht, wie Simon vermutet hatte, bemalt, sondern vielmehr aus einem Holz geschnitzt, das weiß war wie Birkenrinde, und mit schneeweißen Federn besetzt. Nur die aus einem milchig blauen Stein geschnittene Spitze besaß Farbe. Simon wog den Pfeil in der Hand und prüfte die – im Gegensatz zur erstaunlichen Biegsamkeit und Festigkeit überraschende – Leichtigkeit, und jäh stieg die Erinnerung an den vergangenen Tag wieder in ihm auf. Er wußte, daß er die Katzenaugen und beunruhigend schnellen Bewegungen des Sitha nie vergessen würde. Alle Geschichten, die Morgenes erzählt hatte, stimmten.

Überall auf dem Schaft des Pfeils waren schlanke Kringel, Schnörkel und Punkte mit unendlicher Sorgfalt in das Holz geprägt. »Er ist voller Schnitzereien«, überlegte Simon laut.

»Diese Pfeile sind von großer Bedeutung«, bemerkte der Troll und streckte schüchtern die Hand aus. »Bitte, wenn es erlaubt ist?« Simon, in einem neuen Anfall von Schuldgefühlen, reichte ihm hastig den Pfeil. Binabik hielt ihn nach allen Seiten und ließ Sonnen- und Feuerschein auf ganz bestimmte Art und Weise darauf fallen. »Dieser ist einer von den Alten.« Er kniff die schmalen Augen zusammen, bis die dunklen Pupillen völlig verschwanden. »Es gibt ihn schon seit beträchtlich langer Zeit. Du bist jetzt der Besitzer eines höchst ehrenvollen Gegenstandes, Simon: Der Weiße Pfeil wird nicht leicht verliehen. Es scheint, daß dieser hier in Tumet'ai gefiedert wurde, einer Festung der Sithi, die schon vor langer Zeit unter dem blauen Eis im Osten meines Heimatlandes verschwunden ist.«

»Woher weißt du das alles?« fragte Simon. »Kannst du die Buchstaben lesen?«

»Einige. Und es gibt noch andere Dinge, die ein geübtes Auge erkennen kann.«

Simon nahm den Pfeil wieder an sich, behandelte ihn jedoch weit achtsamer als zuvor. »Aber was soll ich damit anfangen? Du sagtest, er ist die Bezahlung einer Schuld?«

»Nein, Freund. Er ist das Zeichen einer Schuld, die noch unbeglichen ist. Was ich damit sagen will, ist, daß du den Pfeil gut aufbewahren solltest. Auch wenn er sonst keinen Zweck erfüllt, ist er doch köstlich anzuschauen.«

Über der Lichtung und dem Waldboden hinter ihr hing noch dünner Nebel. Simon lehnte den Pfeil mit der Spitze nach unten gegen den Baumstamm und rutschte näher ans Feuer. Binabik holte die Tauben aus der Glut, indem er sie mit zwei Stöcken in die Zange nahm, und legte eines der Bündel auf den warmen Stein vor Simons Knien.

»Entferne die gerollten Blätter«, belehrte ihn der Troll, »und warte dann eine kurze Zeitspanne, damit der Vogel ein wenig abkühlt.« Simon fiel es schwer, den letzten Worten zu gehorchen, aber irgendwie schaffte er es doch.

»Woher hast du sie eigentlich?« erkundigte er sich etwas später mit vollem Mund und vor Fett klebrigen Fingern.

»Ich zeige es dir nachher«, antwortete der Troll.

Binabik reinigte sich mit einem gebogenen Rippenknochen die Zähne. Simon lehnte sich am Stamm zurück und rülpste zufrieden.

»Mutter Elysia, das war wundervoll.« Er seufzte und hatte seit langer Zeit zum ersten Mal das Gefühl, die Welt sei doch kein ganz so feindlicher Ort. »Ein bißchen Essen im Bauch macht doch alles anders.«

»Ich freue mich, daß deine Heilung sich so einfach bewirken ließ«, lächelte der Troll rund um den dünnen Knochen.

Simon strich sich die Leibesmitte. »Im Augenblick ist mir alles unwichtig.« Sein Ellenbogen streifte den Pfeil, der umzukippen drohte. Simon hielt ihn fest und richtete ihn wieder auf. Dabei kam ihm ein Einfall. »Ich fühle mich sogar nicht mehr schlecht wegen … wegen des Mannes von gestern.«

Binabik richtete die braunen Augen auf Simon. Obwohl er fortfuhr, in seinen Zähnen herumzustochern, legte sich seine Stirn über dem Nasenrücken in Falten. »Du hast kein schlechtes Gefühl mehr, weil er tot ist, oder du hast keines mehr, weil du ihn tot gemacht hast?«

»Das verstehe ich nicht«, erwiderte Simon. »Was meinst du damit? Worin liegt der Unterschied?«

»Das ist ein so großer Unterschied wie zwischen einem gewaltigen Felsen und einem ganz winzigkleinen Käfer – aber ich werde es dir überlassen, darüber nachzudenken.«

»Aber…« Simon war von neuem verwirrt. »Aber … er war ein böser Mensch.«

»Hmmmm.« Binabik nickte mit dem Kopf, aber die Geste deutete keine Zustimmung an. »Die Welt ist allerdings im Begriff, sich mit bösen Menschen zu füllen, daran kann es keinen Zweifel geben.«

»Er hätte den Sitha getötet!«

»Auch das ist eine Wahrheit.«

Simon starrte mürrisch auf den abgenagten Haufen Vogelknochen, der sich vor ihm auf dem Felsen stapelte. »Ich begreife dich nicht. Was möchtest du denn von mir hören?«

»Wohin du zu gehen beabsichtigst.« Der Troll warf seinen Zahnstocher ins Feuer und stand auf. Er war wirklich klein!

»Was?« Als Simon den Sinn der Worte des kleinen Mannes endlich verstanden hatte, schaute er ihn mißtrauisch an.

»Ich würde zu wissen wünschen, wohin du gehst, damit wir vielleicht ein Stück gemeinsam reisen können.« Binabik sprach langsam und geduldig wie mit einem geliebten, aber dummen alten Hund. »Ich denke, daß die Sonne vielleicht noch zu jung am Himmel ist, als daß man sich mit den anderen Fragen beschweren sollte. Wir Trolle sagen: ›Mach die Philosophie zu deinem Abendgast, aber lade sie nicht zum Übernachten ein.‹ Nun, falls meine Frage nicht von allzu neugieriger Beschaffenheit für dich ist, wohin willst du?«

Simon erhob sich mit Knien, die steif waren wie ungeölte Scharniere. Wieder befielen ihn Zweifel. Konnte die Neugier des kleinen Mannes wirklich so unschuldig sein, wie es den Anschein hatte? Schon mindestens einmal hatte er den Irrtum begangen, jemandem sein Vertrauen zu schenken, der es nicht verdiente – dem verfluchten Mönch. Andererseits, was hatte er für eine Wahl? Er brauchte dem Troll ja nicht alles zu erzählen, und auf jeden Fall war es vorteilhaft, mit einem in den Waldläuferkünsten erfahrenen Begleiter zu reisen. Der kleine Mann schien sich hervorragend auszukennen, und plötzlich sehnte sich Simon danach, wieder jemanden zu haben, auf den er sich stützen konnte.

»Ich will nach Norden«, sagte er und ging dann bewußt ein Risiko ein. »Nach Naglimund.« Er beobachtete den Troll scharf. »Und du?«

Binabik war damit beschäftigt, seine wenigen Gerätschaften in den Rucksack zu packen. »Letzten Endes werde ich wohl in den hohen Norden reisen«, antwortete er, ohne aufzublicken. »Es scheint, als fielen unsere Pfade ein gutes Stück zusammen.« Jetzt hob er die dunklen Augen. »Wie seltsam, daß du gerade nach Naglimund reisen willst, einer Feste, deren Namen ich in den letzten Wochen so häufig gehört habe.« Ein winziges, geheimnisvolles Lächeln kräuselte seine Lippen.

»Wirklich?« Simon hatte den Weißen Pfeil aufgehoben und bemühte sich, gleichgültig auszusehen, so als überlege er nur, wie er den Pfeil befördern solle. »Und wo?«

»Zeit zum Reden wird sein, wenn wir unterwegs sind.« Der Troll grinste, ein breites, freundliches, gelbes Grinsen. »Ich muß Qantaqa rufen, die gewiß damit befaßt ist, Grauen und Verzweiflung unter den Nagetieren der Gegend zu verbreiten. Sei eingeladen, jetzt deine Blase zu leeren, damit wir dann geschwind ausschreiten können.«

Simon hielt den Weißen Pfeil zwischen zusammengebissenen Zähnen fest, während er Binabiks Rat befolgte.

XVIII Ein Netz aus Sternen

Blasen an den wunden Füßen, die Kleider in Fetzen, stellte Simon trotzdem fest, daß die Last der Verzweiflung ein wenig leichter zu werden begann. Das Unglück hatte ihm an Geist und Körper übel mitgespielt, so daß Simon sich einen erschrockenen Blick und ein instinktives Zurückzucken angewöhnt hatte, was dem scharfen Blick seines neuen Gefährten nicht entgangen war. Aber das Grauen, das ihn bedrückte, war ein kleines Stück zurückgedrängt worden; zumindest für den Augenblick hatte es sich in eine weitere schmerzliche Halb-Erinnerung verwandelt. Die unerwartete Gemeinschaft half, den Schmerz um die verlorenen Freunde und die verlorene Heimat zu lindern – wenigstens soweit Simon das zuließ. Einen großen, geheimen Teil seiner Gedanken und Gefühle behielt er auch weiterhin für sich. Er war immer noch voller Mißtrauen und nicht bereit, sich auf Neues einzulassen und dabei vielleicht weitere Enttäuschungen in Kauf zu nehmen.

Während sie durch die kühlen, von Vogelgezwitscher erfüllten Hallen des Morgenwaldes wanderten, erklärte Binabik Simon, daß er von den Höhen seiner Heimat Yiqanuc heruntergestiegen war, wie er das anscheinend jedes Jahr einmal zu tun pflegte, weil er »Geschäfte« zu besorgen hatte – eine Reihe von Erledigungen, die ihn bis ins östliche Hernystir und auch nach Erkynland führten. Simon gewann den Eindruck, daß es dabei um eine Art Handel ging.

»Doch ach! mein junger Freund, welche Wirren finde ich in dieser Frühjahrszeit! Eure Völker sind so unruhig, so voller Angst!« Binabik rang in gespielter Aufregung die Hände. »In den äußeren Provinzen ist der König nicht beliebt, nicht wahr? Und in Hernystir fürchten sie ihn. An anderen Orten gibt es Zorn und Hungersnöte. Die Menschen wagen nicht mehr zu reisen, denn die Straßen sind nicht sicher. Nun gut«, er grinste, »wenn du die Wahrheit hören willst, waren die Straßen nie sicher, zumindest nicht in den einsamen Landstrichen; aber es stimmt wirklich, daß sich im Norden von Osten Ard die Lage verschlechtert hat.«

Simon beobachtete die senkrechten Lichtsäulen, die die Mittagssonne zwischen die Baumstämme gesetzt hatte. »Bist du schon einmal nach Süden gereist?« erkundigte er sich endlich.

»Wenn du mit ›Süden‹ südlich von Erkynland meinst, so antworte ich dir mit ›ja, ein paarmal‹. Aber bitte vergiß nicht, daß für mein Volk fast jedes Verlassen von Yiqanuc eine Reise ›nach Süden‹ bedeutet.«

Simon hörte nicht so genau zu. »Bist du allein gereist? War … war … war Qantaqa bei dir?«

Binabik verzog sein Gesicht zu neuen Lachfalten. »Nein. Das war vor langer Zeit, bevor meine Wolfsfreundin geboren wurde, als…«

»Wie bist du … wie bist du überhaupt zu dem Wolf gekommen?« unterbrach Simon. Binabik stieß ein gereiztes Zischen aus.

»Es ist etwas Schwieriges, Fragen zu beantworten, wenn man ständige Unterbrechungen durch weitere Fragen bekommt!«

Simon gab sich Mühe, reuig dreinzublicken, aber er spürte den Frühling wie ein Vogel den Wind im Gefieder. »Verzeihung«, erwiderte er. »Man hat mir schon früher gesagt … ein Freund meinte … daß ich immer zu viele Fragen stelle.«

»Es sind nicht ›zu viele‹«, entgegnete Binabik und schob mit seinem Stab einen niedrig über ihrem Weg hängenden Ast fort, »es ist, daß du eine auf die andere häufst.« Der Troll bellte ein kurzes Lachen. »Nun – welche soll ich dir nun beantworten?«

»Ach, welche du willst. Entscheide du«, antwortete Simon demütig und machte gleich darauf einen Satz, als ihm der Troll mit dem Wanderstab einen leichten Klaps aufs Handgelenk gab.

»Es würde mir gefallen, wenn du nicht servil wärst. Das ist eine Eigenschaft von Markthändlern, die schlechte Ware verkaufen. Mit Sicherheit ziehe ich endlose dumme Fragen vor.«

»Ser … servil?«

»Servil. Schmierig schmeichelnd. Ich liebe es nicht. In Yiqanuc sagen wir: ›Schick den Mann mit der öligen Zunge die Schneeschuhe ablecken.‹«

»Was bedeutet das?«

»Es bedeutet, daß wir die Schmeichler nicht schätzen. Doch lassen wir das.« Binabik warf den Kopf in den Nacken und lachte. Sein schwarzes Haar umwehte ihn, und die Augen verschwanden fast, als die runden Wangen sich den Brauen näherten. »Lassen wir das! Wir sind so weit gewandert wie die Wanderungen Piqipegs des Verirrten – in unserem Gespräch gewandert, meine ich. Nein, frag mich nichts. Wir wollen hier Rast machen, und ich werde dir nun erzählen, wie ich meine Freundin Qantaqa kennengelernt habe.«

Sie suchten sich einen großen Felsblock, eine Granitformation, die durch den Waldboden gestoßen schien wie eine gefleckte Faust. Die obere Hälfte war in einen breiten Streifen Sonnenlicht getaucht. Der junge Mann und der Troll kletterten hinauf und ließen sich auf der Spitze nieder. Um sie herum schwieg der Wald; langsam setzte sich der Staub, den sie aufgewirbelt hatten. Binabik griff in seinen Rucksack und förderte eine Stange Dörrfleisch und einen Ziegenhautschlauch mit dünnem, saurem Wein zutage. Simon kaute, streifte die Schuhe ab und bewegte in der wärmenden Sonne die wunden Zehen. Binabik musterte die Schuhe mit kritischem Blick.

»Wir werden dir etwas anderes finden müssen.« Er stocherte nach dem zerfetzten, schwarz gewordenen Leder. »Wenn ihm die Füße wehtun, ist die Seele des Menschen in Gefahr.«

Bei dem Gedanken grinste Simon.

Eine Weile verbrachten sie in stiller Betrachtung des Waldes ringsum, des lebendigen Laubwerkes von Altherz. »Nun denn«, begann der Troll schließlich, »das erste, was man begreifen muß, ist, daß mein Volk den Wolf nicht scheut – obwohl wir auch in der Regel keine Freundschaft mit ihm schließen. Trolle und Wölfe haben viele Tausende von Jahren Seite an Seite gelebt, und die meiste Zeit lassen wir einander in Ruhe.

Unsere Nachbarn, wenn man einen so höflichen Ausdruck verwenden kann, die haarigen Männer von Rimmersgard, halten den Wolf für ein gefährliches und ungemein verräterisches Tier. Bist du vertraut mit den Männern von Rimmersgard?«

»O ja.« Simon freute sich, Bescheid zu wissen. »Auf dem Hoch –«, er berichtigte sich sofort, »in Erchester wimmelte es geradezu von ihnen. Ich habe schon mit vielen von ihnen gesprochen. Sie tragen ihre Bärte lang«, fügte er hinzu, um zu beweisen, wie gut er sie kannte.

»Hmmm. Nun, da wir im Hochgebirge leben, wir Qanuc – wir Trolle – und diese Wölfe nicht töten, halten uns die Rimmersgarder für Wolfsdämonen. In ihrem frostverrückten, blutfehdesinnenden Hirn«, Binabik setzte eine Miene komischen Abscheus auf, »steckt der Gedanke, daß das Trollvolk zauberkundig und böse sei. Es hat blutige Kämpfe gegeben, viele, allzuviele, zwischen Rimmersmännern – Crohuk, wie wir sie nennen – und meinem Qanuc-Volk.«

»Das tut mir leid«, sagte Simon und dachte schuldbewußt an die Bewunderung, die er dem alten Herzog Isgrimnur entgegengebracht hatte – der bei näherer Überlegung allerdings auch kein Mensch zu sein schien, der unschuldige Trolle niedermetzeln würde, selbst wenn er sonst als recht reizbar galt.

»Leid? Das sollte es dir nicht tun. Ich nämlich meinerseits finde, daß die Männer – und Frauen – von Rimmersgard ungeschickt und dumm sind und an übermäßiger Körpergröße leiden, aber ich halte sie darum nicht für böse oder glaube, daß man sie totmachen sollte. Ach ja«, seufzte der kleine Mann und schüttelte den Kopf wie ein Priesterphilosoph in einer verrufenen Schenke, »die Rimmersmänner sind mir ein Rätsel.«

»Aber was ist mit den Wölfen?« bohrte Simon und schalt sich sofort innerlich aus, weil er Binabik schon wieder unterbrochen hatte. Diesmal schien es dem Troll nichts auszumachen.

»Mein Volk lebt auf dem zerklüfteten Mintahoq, in dem Gebirge, das die Rimmersgarder Troll-Fjälle nennen. Wir reiten die zottigen Widder mit den behenden Füßen, die wir vom winzigen Lämmchen aufziehen, bis sie genügend Größe besitzen, uns über die Bergpässe zu tragen. Nichts, junger Freund, gibt es auf dieser Welt, das völlig dem Gefühl gleichkommt, ein Widderreiter von Yiqanuc zu sein. Auf deinem Tier zu sitzen und den Pfaden des Daches der Welt zu folgen … mit einem einzigen Sprung über Felsspalten zu setzen, die so sehr tief, so wundersam tief sind, daß ein Stein, den du fallen läßt, einen halben Tag brauchen würde, bis er unten ankommt…«

Binabik lächelte und kniff in seligen Träumen die Augen zusammen. Simon versuchte, sich solche Höhen auszumalen. Dabei wurde ihm auf einmal leicht schwindlig, und er mußte sich mit den Handflächen auf den beruhigenden Stein stützen. Er schaute hinab. Wenigstens lag dieser Gipfel nicht mehr als mannshoch über der Erde.

»Qantaqa war ein Welpe, als ich sie fand«, fuhr Binabik endlich fort. »Ihre Mutter war vermutlich getötet worden oder vor Hunger gestorben. Sie hat mich angeknurrt, als ich sie entdeckte, eine weiße Pelzkugel, im Schnee verraten durch ihre schwarze Nase.« Er lächelte. »Ja, jetzt ist sie grau. Wölfe – wie Menschen – wechseln oft die Farbe, wenn sie wachsen. Ich merkte, daß ich … gerührt war, weil sie sich verteidigen wollte. Ich nahm sie mit nach Hause. Mein Meister…« Binabik hielt inne. Der rauhe Schrei eines Hähers füllte die Unterbrechung. »Mein Meister sagte, wenn ich sie Qinkipa, der Schneejungfrau, aus den Armen risse, übernähme ich damit Elternpflichten. Meine Freunde hielten mich für unvernünftig. ›Aha!‹ entgegnete ich. ›Ich werde diesen Wolf lehren, mich zu tragen wie ein Widder mit Hörnern.‹ Man glaubte mir nicht – es war etwas, das noch nicht vorgekommen war. So viele Dinge sind Dinge, die noch nicht vorgekommen sind…«

»Wer ist dein Meister?« Unter ihnen rollte sich Qantaqa, die in einer Sonnenpfütze ein Nickerchen gemacht hatte, auf den Rücken und strampelte mit den Beinen. Ihr weißes Bauchfell war üppig wie ein Königsmantel.

»Das, Simon-Freund, ist eine andere Geschichte und keine für heute. Doch, um zum Ende zu kommen, will ich sagen, daß ich Qantaqa tatsächlich beibrachte, mich zu tragen. Das Beibringen war eine sehr –«, er verzog die Oberlippe, »amüsante Erfahrung. Aber ich fühle kein Bedauern darüber. Ich reise viel und weiter als meine Stammesgenossen. Ein Widder ist ein wundervolles Tier zum Springen, aber sein Verstand ist sehr klein. Ein Wolf ist schlau-schlau-schlau, und er ist anhänglich wie eine unbezahlte Schuld. Weißt du, daß Wölfe, wenn sie einen Gefährten wählen, das nur einmal und für ihr ganzes Leben tun? Qantaqa ist meine Freundin, und ich ziehe sie jedem Schaf entschieden vor. Ja, Qantaqa? Ja?«

Die Wölfin setzte sich auf und richtete die großen, gelben Augen auf Binabik. Sie neigte den Kopf und stieß ein kurzes Gebell aus.

»Siehst du?« grinste der Troll. »Komm jetzt, Simon. Ich denke, wir sollten uns ans Marschieren machen, solange die Sonne hoch am Himmel steht.« Er rutschte den Felsen hinunter, und der Junge folgte ihm, auf einem Bein hüpfend, während er seine kaputten Schuhe anzog.


Im Laufe des Nachmittages, während sie zwischen den dichtstehenden Bäumen dahinstapften, beantwortete Binabik Fragen über seine Reisen und zeigte eine beneidenswerte Vertrautheit mit Orten, die Simon nur in seinen Tagträumen besucht hatte. Er sprach von der Sommersonne, die die glitzernden Schliffkanten im Inneren des eisigen Mintahoq heraushob wie der kunstreiche Hammer eines Juwelenschmiedes; vom nördlichsten Ende jenes Waldes Aldheorte, einer Welt aus weißen Bäumen und Stille und den Spuren seltsamer Tiere; von den kalten Dörfern am Rand von Rimmersgard, die noch kaum vom Hof Johan Presbyters gehörten hatten und wo wildblickende, bärtige Männer im Schatten hoher Berge am Feuer kauerten und selbst die tapfersten von ihnen die Wesen fürchteten, die über ihnen durch die heulende Finsternis wanderten. Er erzählte Geschichten von den verborgenen Goldminen von Hernystir, geheimen, schlangenartigen Tunneln, die sich zwischen den Gebeinen des Grianspog-Gebirges tief in die schwarze Erde hineinwanden; und er berichtete von den Hernystiri selbst, kunstreichen, verträumten Heiden, deren Götter in den grünen Feldern wohnten und im Himmel und in den Steinen, und die von allen Menschen die Sithi am besten gekannt hatten.

»Und die Sithi gibt es wirklich«, sagte Simon leise, voller Verwunderung und mit mehr als nur ein wenig Furcht, als er sich erinnerte. »Der Doktor hatte recht.«

Binabik hob eine Augenbraue. »Natürlich gibt es Sithi. Glaubst du denn, sie säßen hier im Wald herum und fragten sich, ob es wirklich Menschen gibt? Was für ein Unfug! Menschen sind im Vergleich zu ihnen nur etwas von Gerade-Eben – wenn auch etwas von Gerade-Eben, das ihnen furchtbaren Schaden zugefügt hat.«

»Es ist ja nur, weil ich vorher noch nie einen gesehen hatte!«

»Auch mich und mein Volk hattest du vorher nie gesehen«, versetzte Binabik. »Du hast auch Perdruin oder Nabban oder das Wiesen-Thrithing noch nie gesehen … bedeutet das etwa, daß sie auch nicht existieren? Welch einen Hort von abergläubischer Torheit besitzt ihr Erkynländer! Ein Mann, der wahre Weisheit sein eigen nennt, sitzt nicht da und wartet, daß die Welt stückweise zu ihm kommt, um ihr Vorhandensein zu beweisen!« Mit gerunzelten Brauen starrte der Troll vor sich hin, so daß Simon fürchtete, ihn beleidigt zu haben.

»Und was tut ein weiser Mann?« fragte er ein wenig trotzig.

»Der weise Mann wartet nicht, daß ihm die Welt ihre Wirklichkeit beweist. Wie kann jemand eine Person von Glaubwürdigkeit sein, bevor er diese Wirklichkeit selber erlebt hat? Mein Meister lehrte mich – und es scheint mir chash, das heißt zutreffend –, daß man sich gegen das Eindringen von Wissen nicht verteidigen darf.«

»Es tut mir leid, Binabik.« Simon trat gegen eine Eichelkapsel, daß sie sich überschlug. »Ich bin nur ein Küchenjunge … nichts weiter. Deine Worte ergeben keinen Sinn für mich.«

»Aha!« Schnell wie eine Schlange fuhr Binabik herum und klopfte Simon mit dem Stock auf den Knöchel. »Genau das ist ein Beispiel! Aha!« Der Troll schüttelte die kleine Faust. Qantaqa, im Glauben, er rufe sie, kam herbeigaloppiert und hüpfte im Kreis um die beiden herum, bis sie stehenbleiben mußten, um nicht über den fröhlich springenden Wolf zu fallen.

»Hinik, Qantaqa!« zischte Binabik. Sie trollte sich schwanzwedelnd, ganz wie ein zahmer Burghund. »Nun, Freund Simon«, sagte der Troll, »bitte vergib mir, daß ich so gequiekt habe, aber du hast meine Ansicht bestätigt.« Er hob die Hand, um Simons Fragen Einhalt zu gebieten. Der Junge fühlte, wie der Anblick des kleinen, ernsthaften Trolls ein Lächeln auf seine Lippen zauberte. »Erstens«, fuhr Binabik fort, »werden Küchenjungen nicht in Fischeiern gelaicht oder aus Hühnereiern ausgebrütet. Sie können denken wie die weisesten Weisen, solange sie sich gegen das Eindringen von Wissen nicht wehren; solange sie nicht sagen ›ich kann nicht‹ oder ›ich will nicht‹. Nun, und dazu wollte ich jetzt ein paar Erklärungen abgeben – sofern es dir recht ist?«

Simon fühlte sich erheitert. Nicht einmal der Schlag auf den Knöchel machte ihm etwas aus – es hatte ohnehin kaum wehgetan. »Bitte, erklär es mir.«

»Dann wollen wir das Wissen ansehen wie einen Fluß voller Wasser. Wenn du nun ein Stück Stoff bist, wie findest du mehr über dieses Wasser heraus – indem dich jemand mit einer Ecke hineintaucht und dann wieder herauszieht, oder indem du dich ohne Widerstand hineinwerfen läßt, so daß das Wasser ganz durch dich hindurch und um dich herum fließt und du durch und durch naß wirst? Also?«

Der Gedanke, in einen kalten Fluß geworfen zu werden, ließ Simon ein wenig erschauern. Das Sonnenlicht stand schon ein wenig schräger, der Nachmittag neigte sich dem Ende zu. »Ich nehme an … ich nehme an, wenn man triefend naß ist, lernt man mehr vom Wasser.«

»Mit Genauigkeit!« Binabik war erfreut. »Mit Genauigkeit! Nun siehst du, worauf es in meinem Unterricht ankommt.« Der Troll setzte sich wieder in Marsch.

In Wahrheit hatte Simon seine ursprüngliche Frage inzwischen vergessen, aber das störte ihn wenig. Es war etwas ungemein Bezauberndes an diesem kleinen Mann, eine Ernsthaftigkeit unter der Fröhlichkeit. Simon fühlte sich in zwar kleinen, aber guten Händen.


Es war schwer zu übersehen, daß sie sich jetzt in westlicher Richtung bewegten. Während sie so dahinstapften, fielen ihnen die schrägen Sonnenstrahlen fast genau in die Augen. Manchmal fand ein blendender Blitz den Weg durch eine Lücke in den Bäumen, so daß Simon eine Sekunde stolperte, weil die Waldluft plötzlich von glitzernden Nadelstichen aus Licht wimmelte. Er fragte Binabik, weshalb sie nach Westen abgebogen waren.

»Ach ja«, erwiderte der Troll, »wir begeben uns nach dem Knoch. Allerdings kommen wir heute nicht mehr bis dort. Bald werden wir anhalten, um ein kleines Lager aufzuschlagen und zu essen.«

Simon freute sich, das zu hören, konnte es sich jedoch nicht verkneifen, trotzdem noch eine weitere Frage zu stellen. Schließlich war es ja auch sein Abenteuer. »Was ist der ›Knoch‹?«

»Oh, nichts Gefährliches, Simon. Es ist der Punkt, an dem die südlichen Vorberge des Weldhelm abfallen wie ein Sattel und man bequem den dichten und nicht unbedingt sicheren Wald verlassen und die Weldhelm-Straße auf der anderen Seite erreichen kann. Aber wie ich schon sagte, werden wir heute nicht mehr dorthin gelangen. Sehen wir uns lieber nach einem Lagerplatz um.«

Wenige Achtelmeilen weiter fanden sie ein Gelände, das ihnen verheißungsvoll erschien: eine Ansammlung großer Felsen am sanft ansteigenden Ufer eines Waldbaches. Das Wasser plätscherte friedlich über ein Bett runder, taubengrauer Kiesel und strudelte dann geräuschvoll um die ineinander verschlungenen Äste, die in den Bach gefallen waren; schließlich verschwand es ein paar Meter weiter unten im Dickicht. Eine Gruppe von Espen mit grünen Münzen als Blättern raschelte leise im ersten Hauch einer Abendbrise.

Die beiden errichteten rasch einen Feuerkreis aus trockenen Steinen, die sie am Rand des Wasserlaufes gefunden hatten. Qantaqa schien von diesem Plan fasziniert und sprang alle paar Minuten herbei, um zu knurren und ein bißchen nach den Steinen zu schnappen, die sie mühsam zusammentrugen. Wenig später hatte der Troll ein Feuer entfacht, das in den letzten kräftigen Strahlen der schwindenden Nachmittagssonne blaß und geisterhaft flackerte.

»Jetzt, Simon«, bemerkte er und schubste die widerwillige Qantaqa mit dem Ellbogen in eine sitzende Stellung, »stellen wir fest, daß es Zeit zum Jagen ist. Wir wollen uns einen passenden Abendbrot-Vogel suchen, und ich werde dir schlaue Listigkeiten beibringen.« Er rieb sich die Hände.

»Aber wie fangen wir die Vögel?« Simon warf einen Blick auf den Weißen Pfeil, den seine verschwitzte Hand immer noch fest umklammerte. »Müssen wir damit nach ihnen werfen?«

Binabik lachte und klatschte sich auf das in Leder gehüllte Knie. »Für einen Küchenjungen hast du einiges an Lustigkeit! Nein, nein, ich sagte doch, ich würde dir schlaue Listigkeiten zeigen. Siehst du, wo ich wohne, gibt es nur eine kurze Jagdzeit für Vögel. Im kalten Winter sind gar keine da, außer den wolkenhoch fliegenden Schneegänsen, die auf ihrer Route zu den Nordöstlichen Einöden unsere Bergheimat überqueren. Aber in einigen der Südländer, die ich bereist habe, jagen und essen die Leute nur Vögel. Dort habe ich eine gewisse Schlauheit gelernt. Ich werde es dir vorführen!«

Binabik ergriff seinen Wanderstab und winkte Simon, ihm zu folgen. Qantaqa sprang auf, aber der Troll wehrte ab.

»Hinik aia, alte Freundin«, befahl er ihr freundlich. Sie zuckte mit den Ohren, und die graue Stirn furchte sich. »Wir erledigen einen heimlichen Auftrag, und deine großen Pfoten werden uns keine Hilfe sein.« Die Wölfin machte kehrt und trollte sich zum Feuer zurück, wo sie sich ausstreckte. »Nicht, daß sie nicht von tödlicher Lautlosigkeit sein könnte«, erklärte der Troll Simon, »aber das tut sie nur, wenn sie es will.«

Sie überschritten den Bach und wateten in das Unterholz hinein. Schon bald befanden sie sich wieder im dichten Wald, und das Geräusch des Wassers hinter ihnen war zu einem leisen Murmeln herabgesunken. Binabik hockte sich hin und lud Simon ein, sich neben ihm niederzulassen.

»Nun gehen wir an die Arbeit«, meinte der Troll. Er gab seinem Wanderstab eine kurze Drehung; zu Simons Überraschung teilte sich der Stab in zwei Stücke. Das kurze Ende war, wie sich jetzt zeigte, der Griff eines Messers, dessen Klinge in dem ausgehöhlten Teil des längeren Stücks versteckt gewesen war. Der Troll kehrte dieses längere Ende um und schüttelte es. Ein Lederbeutel glitt heraus und fiel auf den Boden. Nun entfernte Binabik ein kleines Stück vom anderen Ende, so daß der längere Teil des Stabes eine hohle Röhre bildete. Simon lachte vor reinem Entzücken.

»Das ist ja wundervoll!« rief er. »Wie ein Zauberkunststück.« Binabik nickte weise. »Überraschungen in kleinen Häppchen – das ist das Glaubensbekenntnis der Qanuc, jawohl!« Er nahm das Messer bei seinem runden Knochengriff und stocherte kurz damit in der Röhre herum. Ein zweites Knochenrohr glitt ein Stück heraus, und er half mit den Fingern nach, bis er es ganz draußen hatte. Als er es Simon zur Begutachtung hinhielt, konnte der Junge sehen, daß dieses Rohr auf einer Seite eine Reihe von Löchern aufwies.

»Eine … Flöte?«

»Eine Flöte, in der Tat. Was nützt ein Abendessen, auf das keine Musik folgt?« Binabik legte das Instrument beiseite und weitete mit der Messerspitze die Öffnung des Lederbeutels. Auseinandergefaltet gab er einen zusammengepreßten Klumpen gekämmter Wolle und noch ein weiteres, schmales Röhrchen, nicht länger als ein Finger, preis.

»Kleiner werden wir und kleiner, hm?« Der Troll drehte das Röhrchen auf, um Simon den Inhalt zu zeigen: winzige, eng aneinandergerückte Nadeln aus Knochen oder Elfenbein. Simon streckte die Hand aus, um einen der zierlichen Splitter zu berühren, aber Binabik zog den Behälter hastig zurück.

»Bitte, nein«, warnte er. »Beobachte nur!« Mit Daumen und gebogenem Zeigefinger holte er eine der Nadeln heraus und hielt sie ins Licht der sterbenden Nachmittagssonne. Die scharfe Spitze des Dorns war mit einer schwarzen, klebrigen Masse beschmiert.

»Gift?« hauchte Simon. Binabik nickte ernst, aber seine Augen verrieten eine gewisse Erregung.

»Natürlich«, antwortete er. »Sie sind nicht alle so vergiftet – es ist keine Notwendigkeit, um kleine Vögel zu töten, und hat auch die unangenehme Neigung, das Fleisch zu verderben –, aber man kann einen Bären oder andere große, zornige Geschöpfe allein mit solch einem winzigen Dorn zum Halten bringen.« Er ließ die vergiftete Nadel zu den anderen gleiten und suchte sich einen unbefleckten Dorn.

»Damit hast du einen Bären getötet?« fragte Simon äußerst beeindruckt.

»Ja, das habe ich – aber ein weiser Troll hält sich dann nicht in der Nähe auf und wartet, ob der Bär auch wirklich verschieden ist. Das Gift tut seine Arbeit nicht sofort, weißt du. Und sehr groß sind Bären.«

Beim Reden hatte Binabik ein Flöckchen von der groben Wolle abgerissen und mit dem Messer die Fasern auseinandergezupft. Seine Finger arbeiteten so schnell und geschickt wie die von Sarrah dem Stubenmädchen beim Nähen. Bevor sich aber zu dieser anheimelnden Erinnerung weitere gesellen konnten, wurde Simons Aufmerksamkeit von neuem gefesselt, als Binabik anfing, die Fäden mit großer Geschwindigkeit um die Unterseite des Dorns zu wickeln und so ineinander zu weben, bis aus dem hinteren Ende des Dorns ein weicher Wollball geworden war. Als er damit fertig war, schob er alles zusammen, Nadel und Pfropf, in das eine Ende des hohlen Wanderstabes. Die anderen Nadeln packte er in ihren Beutel zurück, schob ihn in den Gürtel und reichte Simon die übrigen Stücke des zerlegten Stabes.

»Bitte, trag das«, bat er. »Ich sehe hier nicht viele Vögel, obwohl sie sehr oft gerade um diese Zeit herauskommen, um Kerbtiere zu fressen. Vielleicht werden wir uns aber auch mit einem Eichhörnchen begnügen müssen – nicht, daß sie nicht gut schmeckten«, fügte er eilig hinzu, als sie über einen umgestürzten Baum kletterten, »aber in der Jagd auf kleine Vögel liegt ein gewisser zarterer Hauch, ein köstlicheres Erlebnis. Falls der Dorn trifft, wirst du verstehen. Ich glaube, es ist ihr Flug, der mich so ergreift, und wie schnell die kleinen Herzchen klopfen.«


Später, im Blattgeflüster des Frühlingsabends, als Simon und der kleine Troll träge am Feuer lagen und ihre Mahlzeit verdauten – zwei Tauben und ein fettes Eichhörnchen –, dachte Simon über Binabiks Worte nach. Es war seltsam zu erkennen, wie wenig man jemanden verstand, den man eigentlich gern mochte. Wie konnte der Troll solche Zuneigung zu etwas fühlen, das er töten würde?

Jedenfalls empfinde ich nichts dergleichen für diesen verdammten Holzfäller, dachte er. Wahrscheinlich hätte er mich genauso schnell umgebracht, wie er den Sitha töten wollte.

Aber hätte er das wirklich? Wäre er mit der Axt auf Simon losgegangen? Vielleicht nicht. Den Sitha hatte er für einen Dämon gehalten, Simon dagegen den Rücken zugekehrt. Das hätte er gewiß nicht getan, wenn er Angst vor ihm gehabt hätte.

Ob er wohl eine Frau hatte? fiel Simon auf einmal ein. Und Kinder? Aber er war doch ein böser Mensch! Trotzdem, schlechte Menschen können auch Kinder haben – König Elias hat eine Tochter. Wäre sie traurig, wenn ihr Vater stürbe? Ich wäre es bestimmt nicht. Und ich bin auch nicht traurig, daß der Holzhauer tot ist – aber ich fände es traurig, wenn seine Familie ihn so tot im Wald fände. Hoffentlich hatte er keine Familie, war allein, lebte ganz allein im Wald … allein im Wald…

Erschreckt und angstvoll fuhr Simon in die Höhe. Fast wäre er eingeschlafen, ganz allein und hilflos … aber nein. Da war ja Binabik, der an der Uferböschung hockte und vor sich hinsummte. Simon empfand es plötzlich als großes Glück, daß der kleine Mann bei ihm war.

»Vielen Dank … für das Abendessen, Binabik.«

Der Troll drehte sich um und sah ihn an. Ein nachlässiges Lächeln spielte um seine Mundwinkel. »Es ist freudig gegeben. Und nachdem du nun gesehen hast, was die südlichen Blasdorne ausrichten können, möchtest du vielleicht auch lernen, wie man mit ihnen umgeht?«

»Ganz bestimmt!«

»Vorzüglich. Dann werde ich es dir morgen zeigen – und vielleicht kannst du dann unser Abendessen jagen, hmmm?«

»Wie lange…« Simon fand einen Zweig und rührte damit in der Glut herum, »… wie lange werden wir zusammen reisen?«

Der Troll schloß die Augen und lehnte sich zurück. Durch das dichte, schwarze Haar kratzte er sich am Kopf. »Oh, zumindest noch eine Weile, denke ich. Du willst nach Naglimund, nicht wahr? Nun, ich bin voller Sicherheit, daß auch ich wenigstens den größeren Teil des Weges dorthin zurücklegen werde. Ist dir das recht?«

»Ja! Äh … ja.« Simon ging es schon viel besser. Er lehnte sich ebenfalls zurück und bewegte seine unbeschuhten Füße vor der Kohlenglut.

»Jedoch«, sagte Binabik neben ihm, »ich verstehe noch immer nicht, warum du dorthin zu gehen wünschst. Ich hörte Berichte, daß man die Festung Naglimund für einen Krieg bemannt. Ich hörte Gerüchte, daß Josua der Prinz – dessen Verschwinden sich selbst an den entlegenen Orten, die ich bereiste, herumgesprochen hat – sich vielleicht dort versteckt, um gegen seinen Bruder, den König, Krieg zu führen. Weißt du nichts von diesen Reden? Warum, wenn ich mir die Frage erlauben darf, möchtest du dorthin?«

Simons unbekümmerte Stimmung verflog. Er ist nur klein, schalt er sich selbst, aber keineswegs dumm! Er zwang sich, mehrere Male tief Luft zu holen, bevor er antwortete: »Ich weiß nicht viel von diesen Dingen, Binabik. Meine Eltern sind tot, und ich habe einen Freund in Naglimund … einen Harfner.« Alles mehr oder weniger wahr – aber auch überzeugend?

»Hmmmm.« Binabik hatte die Augen nicht geöffnet. »Vielleicht gibt es bessere Reiseziele als eine Festung, die sich für eine Belagerung rüstet. Immerhin zeigst du viel Tapferkeit, daß du dich so allein auf den Weg machst, auch wenn, wie wir sagen, ›Tapfer und Töricht oft in derselben Höhle wohnen‹. Wenn dir dein Ziel nicht gefällt, könntest du vielleicht mit mir kommen und bei uns Qanuc leben. So ein großer, überragender Troll würdest du werden!« Binabik lachte, ein hohes, albernes Kichern wie ein schimpfendes Eichhörnchen. Und obwohl Simons Nerven noch immer einigermaßen wund waren, konnte er nicht anders, er mußte mitlachen.


Das Feuer war zu einem matten Glühen heruntergebrannt und der Wald ringsum ein unbestimmter, formloser Block aus Schwärze. Simon hatte sich eng in seinen Mantel gewickelt. Binabik strich gedankenverloren mit den Fingern über die Löcher der Flöte und starrte hinauf in den samtigen Fleck Himmel, der durch eine Lücke in den Bäumen sichtbar war.

»Schau!« sagte er und streckte sein Instrument aus, um in die Nacht hinaufzudeuten. »Siehst du?«

Simon hielt den Kopf schief und kam näher. Oben war außer einer dünnen Sternenschleppe nichts zu erkennen. »Nein, ich sehe nichts.«

»Siehst du nicht das Netz?«

»Welches Netz?«

Binabik warf ihm einen sonderbaren Blick zu. »Lehren sie dich denn nichts in deiner verschachtelten Burg? Mezumiirus Netz!«

»Wer ist das?«

»Aha.« Binabik ließ den Kopf wieder sinken. »Die Sterne. Der Sternhaufen, den du dort über dir siehst, das ist Mezumiirus Netz. Es heißt, daß sie es auswirft, um ihren Gatten Isiki einzufangen, der ihr fortgelaufen ist. Wir Qanuc nennen sie Sedda, die Dunkle Mutter.« Simon starrte zu den trüben Punkten hinauf; es sah aus, als wäre das dichte, schwarze Tuch, das Osten Ard von irgendeiner Welt des Lichtes trennte, an dieser Stelle fadenscheinig geworden. Wenn er die Augen zukniff, konnte er eine gewisse Fächerform der Ansammlung erkennen.

»Sie sind sehr matt.«

»Der Himmel ist nicht klar, da hast du recht. Man sagt, daß es Mezumiiru so lieber ist, weil sonst die hellen Lichter, die Juwelen ihres Netzes, Isiki verscheuchen. Aber es gibt viele bewölkte Nächte, und sie hat ihn immer noch nicht gefangen…«

Simon machte schmale Augen. »Mezza … Mezo…«

»Mezumiiru. Mezumiiru die Mondfrau.«

»Aber du hast gesagt, dein Volk nennt sie … Sedda?«

»So ist es. Sie ist die Allmutter, glauben die Qanuc.«

Simon dachte einen Augenblick nach. »Warum nennt ihr das« – er zeigte nach oben – »dann Mezumiirus und nicht Seddas Netz

Binabik hob lächelnd die Brauen. »Eine gute Frage. Mein Volk nennt es tatsächlich so – oder genauer gesagt, wir nennen es Seddas Decke. Aber ich komme viel herum und lerne andere Namen, und schließlich und letztlich sind es ja die Sithi, die als erste hier waren. Sie waren es, die vor langer Zeit allen Sternen Namen gaben.«

Der Troll saß eine Zeitlang da und starrte mit Simon zum schwarzen Dach der Welt empor. »Ich weiß etwas«, sagte er plötzlich. »Ich werde dir das Lied von Sedda vorsingen – oder einen kleinen Teil davon, vielleicht. Schließlich ist es ein Lied von großer Länge. Sollte ich diesen Gesang versuchen?«

»Ja!« Simon kuschelte sich noch tiefer in seinen Mantel. »Bitte sing!«

Qantaqa, die sanft auf den Beinen des Trolls geschlafen hatte, erwachte, hob den Kopf und sicherte nach allen Seiten, wobei sie ein leises Grollen ausstieß. Auch Binabik schaute sich um und versuchte mit schmalen Augen die Finsternis um das Lagerfeuer zu durchdringen. Aber schon bald schubste Qantaqa, anscheinend befriedigt, alles in Ordnung zu finden, Binabik in eine ihrem großen Kopf angenehmere Stellung, legte sich wieder hin und schloß die Augen. Binabik streichelte sie, griff zu seiner Flöte und blies ein paar einleitende Töne.

»Verstehen muß du«, meinte er, »daß dies nur der Kern des ganzen Liedes sein kann. Ich werde alles erklären. Seddas Gemahl, den die Sithi Isiki nannten, heißt bei meinem Volk Kikkasut. Er ist der Beherrscher aller Vögel.«

Feierlich begann der Troll mit hoher Stimme zu singen. Es klang seltsam melodisch, wie Wind auf einem hohen Gipfel. Nach jeder Zeile hielt er inne, um seiner Flöte trillernde Töne zu entlocken.

Wasser will fließen

bei Tohuqs Höhle,

Glanzhimmelshöhle.

Sedda will spinnen,

dunkle Himmelsherr-Tochter,

bleiche, schwarzhaarige Sedda.

Vogelkönig im Fluge

auf Pfaden der Sterne,

glanzhellen Pfaden,

sieht sie nun, Sedda,

Kikkasut sieht sie,

schwört, daß sie sein wird.

›Gib deine Tochter

mir, spinnende Tochter,

Feinfaden spinnt sie.‹

Kikkasut ruft ihn.

›Ich will sie kleiden

in leuchtende Federn!‹

Tohuq, er lauscht ihm,

hört schöne Worte,

reichen Vogelkönigs Worte.

Denkt an die Ehre,

gibt ihm nun Sedda,

alter, gieriger Tohuq.

»Und so«, erklärte Binabik in seiner Sprechstimme, »verkauft der alte Himmelsherr Tohuq seine Tochter an Kikkasut, für einen herrlichen Federumhang, aus dem er die Wolken formen will. Und Sedda zieht mit ihrem neuen Gatten in sein Land hinter den Bergen und wird dort Königin der Vögel. Aber es gibt nicht viel Glück in dieser Ehe. Bald fängt Kikkasut an, sie nicht mehr zu beachten, kommt nur noch nach Hause, um zu essen und Sedda zu beschimpfen.« Der Troll lachte leise und wischte das Ende der Flöte an seinem Pelzkragen ab.

»Ach, Simon, das ist immer so eine lange Geschichte … jedenfalls geht Sedda zu einer weisen Frau, die ihr sagt, sie könnte Kikkasuts wanderndes Herz zurückgewinnen, wenn sie ihm Kinder schenken würde.

Mit einem Zauber aus Knochen und Trugblatt und schwarzem Schnee, den ihr die weise Frau gibt, kann Sedda dann auch empfangen, und sie gebiert neun Kinder. Kikkasut hört es und schickt ihr eine Botschaft, daß er kommen und sie ihr wegnehmen will, damit sie als Vögel aufwachsen, wie es sich gehört, und nicht von Sedda als nutzlose Mondkinder großgezogen werden.

Als sie das erfährt, nimmt Sedda die beiden jüngsten und versteckt sie. Kikkasut kommt und will wissen, was mit den beiden fehlenden geschehen ist. Sedda erzählt ihm, sie seien krank geworden und gestorben. Er verläßt sie, und sie verflucht ihn.«

Wieder sang der Troll:

Fort flog nun Kikkasut.

Sedda sitzt weinend,

weint um Verlornes.

Fort ihre Kinder,

übrig nur blieben

Lingit und Yana.

Himmelsherrn-Enkel,

Mondfrauen-Zwillinge,

heimlich und bleich:

Yana und Lingit,

versteckt vor dem Vater.

Macht sie unsterblich.

Sedda sitzt trauernd;

einsam, verraten

sinnt sie auf Rache.

Nimmt die Kleinode,

Kikkasuts Gaben,

webt sie zur Decke.

Berggipfelhöhen

Sedda erklettert.

Breitet die Decke

zur Falle am Himmel

für ihren Gatten,

Dieb ihrer Kinder…

»Denn siehst du«, schloß der Troll, »Sedda wollte nicht, daß ihre Kinder Sterblichkeit besaßen und den Tod finden würden wie die Vögel und die Tiere der Felder. Sie waren ihr ein und alles…«

Binabik trillerte eine Melodie vor sich hin und wiegte dabei langsam den Kopf hin und her. Endlich legte er die Flöte zur Seite. »Es ist ein Lied von anstrengender Länge, aber es erzählt von hochwichtigen Dingen. Es berichtet weiter von den Kindern Lingit und Yana und ihrer Entscheidung zwischen dem Tod des Mondes und dem Tod der Vögel. Denn siehst du, der Mond stirbt zwar, aber er kehrt in seiner eigenen Person zurück. Die Vögel sterben und lassen ihre Jungen in den Eiern zurück, damit sie sie überleben. Yana, so glauben wir Trolle, wählte den Weg des Mondtodes und wurde die Matriarchin – ein Wort, das Groß-Mutter bedeutet –, die Matriarchin der Sithi. Die Sterblichen aber, ich und du, Simon-Freund, stammen von Lingit ab. Aber es ist ein langes, ein sehr langes Lied … möchtest du ein andermal mehr davon vernehmen?«

Simon gab keine Antwort. Das Lied vom Mond und die sanfte Berührung mit den Federschwingen der Nacht hatten ihn schnell in Schlaf sinken lassen.

XIX Das Blut von Sankt Hoderund

Simon kam es vor, als würde sich sein Mund jedesmal, wenn er ihn öffnete, um zu sprechen oder auch nur tief Luft zu holen, mit Blättern füllen. So oft er sich auch bückte und duckte, er schaffte es nicht, den Zweigen auszuweichen, die nach seinem Gesicht zu greifen schienen wie gierige Kinderhände.

»Binabik!« jammerte er. »Warum können wir nicht wieder auf die Straße gehen? Ich werde in Stücke gerissen!«

»Beklage dich doch nicht so. Wir werden schon bald zur Straße zurücckehren.«

Es war aufreizend, dem kleinen Troll zuzuschauen, wie er sich behend durch das Gewirr von Zweigen und Ästen wand. Für ihn war es leicht zu sagen, »beklage dich doch nicht so«! Je dichter der Wald wurde, desto aalglatter schien Binabik zu werden. Anmutig schlüpfte er durch das dicke, alles umklammernde Unterholz, während Simon hinter ihm herprasselte. Sogar Qantaqa hüpfte leichtfüßig mit und hinterließ im Laubwerk hinter sich kaum ein Zittern. Simon fühlte sich, als klebe der halbe Altherz in Form von abgebrochenen Zweigen und kratzenden Dornen an seinem Leib.

»Aber warum tun wir das? Es dauert doch bestimmt nicht länger, am Waldrand der Straße zu folgen, als ich hier brauche, um mich zollweise durchzuwühlen?«

Binabik pfiff der Wölfin, die einen Augenblick außer Sicht geraten war. Sogleich trottete sie wieder herbei, und während der Troll wartete, bis Simon ihn eingeholt hatte, kraulte er den dicken Pelzkragen um ihren Hals.

»Du hast ungemein recht, Simon«, meinte er, als der Junge sich herangeschleppt hatte. »Wir könnten auf dem längeren Weg außen herum genauso schnell vorwärtskommen. Aber«, er hob einen kurzen, mahnenden Finger, »es gibt noch andere Dinge zu berücksichtigen.«

Simon wußte, daß er jetzt fragen sollte. Er tat es nicht, sondern blieb schnaufend neben dem kleinen Mann stehen und untersuchte seine neuerworbenen Hautrisse. Als der Troll merkte, daß Simon den Köder nicht schlucken wollte, lächelte er.

»›Warum?‹ fragst du neugierig. ›Was gibt es zu berücksichtigen?‹ Die Antwort liegt überall um dich herum, auf jedem Baum und unter allen Felsen. Fühle! Rieche!«

Simon schaute unglücklich nach allen Richtungen. Alles, was er sehen konnte, waren Bäume und Dornensträucher. Und noch mehr Bäume. Er stöhnte.

»Nein, nein! Hast du denn gar keinen Verstand mehr übrig?« rief Binabik. »Was hat man dir nur beigebracht in deinem klumpigen Ameisenhaufen aus Stein, in dieser … Burg.«

Simon sah auf. »Ich habe nie gesagt, ich hätte in einer Burg gelebt.«

»Es findet sich große Offensichtlichkeit in allen deinen Handlungen.« Binabik drehte sich hastig um und betrachtete den kaum wahrnehmbaren Hirschpfad, dem sie folgten. »Schau«, verkündete er mit dramatischer Stimme, »das Land ist wie ein Buch, das du lesen solltest. Jedes kleine Ding« – ein keckes Grinsen – »hat eine Geschichte zu erzählen. Bäume, Blätter, Moose und Steine – auf ihnen stehen Dinge von wundersamer Bedeutung…«

»O Elysia, nein«, ächzte Simon, sank zu Boden und ließ den Kopf auf die Knie fallen. »Bitte lies mir nicht ausgerechnet jetzt das Buch des Waldes vor, Binabik. Meine Füße schmerzen, und mein Kopf tut weh.«

Binabik beugte sich vor, bis sein rundes Gesicht nur wenige Zoll von Simons Stirn entfernt war. Nachdem er einen Augenblick das dornverfilzte Haar des Jungen gemustert hatte, richtete der Troll sich wieder auf.

»Ich vermute, daß wir hier in Ruhe rasten können«, sagte er und versuchte seine Enttäuschung zu verbergen. »Ich werde dir zu einem späteren Zeitpunkt von diesen Dingen berichten.«

»Danke«, murmelte Simon in seine Knie hinein.


Der Aufgabe, das Abendessen zu jagen, entzog sich Simon an diesem Tag durch ein einfaches Mittel: sowie sie das Lager aufschlugen, war er auch schon eingeschlafen. Binabik zuckte nur die Achseln, nahm einen langen Zug aus dem Wassersack und einen ähnlich langen aus dem Weinschlauch und machte dann einen kurzen Rundgang durch die Umgebung, an seiner Seite Qantaqa als schnüffelnden Posten. Nach einer reizlosen, aber sättigenden Mahlzeit aus getrocknetem Fleisch warf er, Simons tiefes Atmen im Hintergrund, die Knöchel. Beim ersten Durchgang deckte er Flügelloser Vogel, Fisch-Speer und Pfad im Schatten auf. Beunruhigt schloß er die Augen und summte eine Weile tonlos vor sich hin, während das Geräusch der nächtlichen Insekten ringsum langsam zunahm. Als er zum zweiten Mal warf, hatten sich die beiden ersten Zeichen in Fackel am Höhleneingang und Scheuender Widder verwandelt, aber der Pfad im Schatten tauchte erneut auf, und die Knochen waren aneinandergeschichtet wie die Überreste der Mahlzeit irgendeines reinlichen Fleischfressers. Binabik, der nicht zu den Leuten gehörte, die aufgrund der Knochen übereilte Entschlüsse fassen – dazu hatte sein Meister ihn zu gut ausgebildet –, schlief trotzdem, als er endlich Ruhe fand, mit Stab und Rucksack in unmittelbarer Reichweite.


Als Simon erwachte, präsentierte ihm der Troll ein recht zufriedenstellendes Mahl aus gebratenen Eiern – Wachtel, erklärte er –, ein paar Beeren und sogar den blaß-orangeroten Knospen eines blühenden Baumes, die sich als durchaus eßbar und auf ganz eigenartige Weise süß und gut zu kauen erwiesen. Auch das Gehen fiel ihm an diesem Morgen erheblich leichter als am Vortag, denn das Land wurde nach und nach offener, und die Abstände zwischen den Bäumen vergrößerten sich.

Der Troll war den ganzen Morgen recht wortkarg gewesen. Simon war überzeugt, daß dies an seinem mangelnden Interesse an Binabiks Waldläuferkünsten lag. Als sie einen langen, sanften Abhang hinunterstiegen, über ihnen, hoch auf ihrer Morgenbahn himmelaufwärts, die Sonne, hatte er den Eindruck, etwas sagen zu müssen.

»Binabik, möchtest du mir heute etwas über das Buch des Waldes erzählen?«

Sein Gefährte lächelte, aber es war ein schmaleres, sparsameres Lächeln, als Simon an ihm gewöhnt war. »Natürlich, Freund Simon, aber ich fürchte, ich habe dir einen falschen Gedanken eingeflößt. Weißt du, wenn ich von dem Land als von einem Buch spreche, will ich damit nicht sagen, daß du es lesen sollst, um dein geistliches Wohlbefinden zu fördern, wie einen frommen Folianten – obwohl man sicher auch aus diesem Grund auf seine Umgebung achten kann. Nein, ich spreche eher davon wie von einem Buch der Heilkunde, von etwas, das man der Gesundheit wegen studiert.«

Es ist wirklich verblüffend, dachte Simon, wie leicht es ihm fällt, mich durcheinanderzubringen. Und dies, ohne daß er es überhaupt versucht!

Laut antwortete er: »Gesundheit? Buch der Heilkunde?«

Binabiks Gesicht wurde unvermittelt ernst. »Es geht um dein Leben und Sterben, Simon. Du bist jetzt nicht mehr in deiner Heimat. Du bist auch nicht in meiner Heimat, obwohl ich es als Gast hier zweifellos leichter habe als du. Selbst die Sithi, so viele Zeitalter sie auch der Sonne zugesehen haben, wie sie durch die Himmel rollte, Jahr um Jahr, sogar sie erheben auf Aldheorte keinen Anspruch.« Binabik hielt inne, legte die Finger auf Simons Handgelenk und drückte es. »Dieser Ort, an dem wir stehen, dieser riesige Wald, ist der älteste aller Orte. Darum nennt man ihn mit den Worten deines Volkes ›Aldheorte‹: Er bleibt für immer das alte Herz von Osten Ard. Selbst diese jüngeren Bäume hier«, er stocherte mit dem Stab nach allen Seiten, »hielten bereits Überschwemmungen, Wind und Feuer stand, bevor euer großer König Johan auf der Insel Warinsten als Säugling seinen ersten Atemzug tat.«

Simon schaute sich um und blinzelte.

»Andere«, fuhr Binabik fort, »andere Bäume gibt es, von denen ich einige gesehen habe, deren Wurzeln bis in den Fels der Zeit selbst hinunterreichen; älter sind sie als alle Königreiche von Menschen und Sithi, die glanzvoll emporstiegen und wieder in bröckelnde Vergessenheit zurücksanken.«

Erneut preßte Binabik sein Handgelenk, und Simon, der den Abhang hinunter in die gewaltige Senke voller Bäume sah, fühlte sich plötzlich klein, unendlich winzig wie ein Insekt, das die Steilwand eines wolkendurchbohrenden Berges hinaufkrabbelt.

»Warum … warum erzählst du mir das alles?« fragte er endlich, holte tief Luft und kämpfte gegen etwas, das sich anfühlte wie Tränen.

»Weil«, erwiderte Binabik, griff nach oben und klopfte ihn auf den Arm, »weil du nicht denken sollst, der Wald, die weite Welt, hätten auch nur das geringste mit den Gassen und Winkeln von Erchester gemein. Du mußt auf der Hut sein, und du mußt nachdenken … immer nachdenken

Gleich darauf war der Troll weitergegangen. Simon stolperte hinterdrein. Wie war das alles nur gekommen? Jetzt erschienen ihm die Scharen der Bäume wie eine feindselige, flüsternde Menge. Ihm war zumute, als hätte man ihn geohrfeigt.

»Warte!« rief er. »Worüber soll ich nachdenken?« Aber Binabik ging nicht langsamer und drehte sich nicht um.

»Komm jetzt!« rief er statt dessen über die Schulter. Seine Stimme war gelassen, aber kurzangebunden. »Wir müssen uns beeilen. Wenn wir Glück haben, erreichen wir den Knoch, bevor es dunkel wird.« Er pfiff Qantaqa. »Bitte, Simon«, setzte er hinzu.

Und das waren an diesem Morgen seine letzten Worte.


»Dort!« Endlich brach Binabik sein Schweigen. Die beiden standen auf einem Bergkamm, die Baumwipfel unter ihnen eine unebene grüne Decke. »Der Knoch.«

Unter ihnen lagen treppenartig zwei weitere Baumreihen. Dahinter erstreckte sich ein abfallendes Grasmeer bis hinüber zu den Bergen, die sich klar in der Nachmittagssonne abzeichneten. »Das ist der Weidhelm, oder wenigstens sein Vorgebirge.« Der Troll deutete mit seinem Stab. Die im Schatten liegenden, scharf umrissenen Hügel, rundlich wie die Rücken schlafender Tiere, schienen über die grüne Weite nur einen Steinwurf entfernt.

»Wie weit sind sie weg … die Berge?« fragte Simon. »Und wie sind wir so weit nach oben gekommen? Ich erinnere mich gar nicht ans Klettern.«

»Geklettert sind wir auch nicht, Simon. Der Knoch ist eine Mulde, tief eingesunken, als hätte ihn jemand nach unten gedrückt. Wenn du zurückschauen könntest«, er machte eine Handbewegung nach dem Kamm hinauf, »würdest du erkennen, daß unser jetziger Standort ein wenig tiefer liegt als die Ebene von Erchester. Und um auch deine zweite Frage nicht ohne Antwort zu lassen: Die Berge sind durchaus noch ein Stück entfernt, aber deine Augen täuschen dich und lassen sie dir nah scheinen. Wahrhaftig, wir sollten uns jetzt lieber an den Abstieg machen, wenn wir meinen Rastplatz noch mit der Sonne über uns erreichen wollen.«

Der Troll wanderte ein paar Schritte den Kamm entlang. »Simon«, begann er, und als er sich umdrehte, konnte der Junge sehen, daß Kinn und Mund etwas von ihrer Verbissenheit verloren hatten, »ich muß dir sagen, daß diese Weldhelm-Berge zwar nur Säuglinge sind, wenn man sie mit meinem Mintahoq vergleicht – aber dennoch, nur allein in der Nähe solcher Höhen zu sein, berauscht mich … wie Wein.«

Plötzlich ist er wieder wie ein Kind, dachte Simon und sah Binabiks kurzen Beinchen nach, die ihn geschwind durch die Bäume und den Hang hinuntertrugen. Nein, dachte er dann, nicht wie ein Kind, das ist nur seine Größe, aber jung, sehr jung. – Wie alt ist er eigentlich?

Tatsächlich wurde der Troll, während Simon ihm hinterher sah, immer kleiner und kleiner. Der Junge fluchte milde vor sich hin und rannte ihm nach.


Sie stiegen erstaunlich schnell die breiten, dicht bewaldeten Kämme hinunter, auch wenn es Stellen gab, an denen sie wirklich klettern mußten. Simon war von der Geschicklichkeit, die Binabik an den Tag legen konnte, keineswegs überrascht – der Troll sprang so leicht wie eine Feder, wirbelte weniger Staub auf als ein Eichhörnchen und zeigte sich so sicher auf den Füßen, daß, davon war Simon überzeugt, selbst die Widder der Qanuc sich dessen nicht geschämt hätten. Aber wenn auch Binabiks Behendigkeit ihn nicht wunderte, so doch seine eigene. Anscheinend hatte er sich etwas erholt, und ein paar ordentliche Mahlzeiten hatten ihren Teil dazu beigetragen, den Simon wiederherzustellen, den man auf dem Hochhorst einst den »Geisterknaben« genannt hatte – den furchtlosen Turmbesteiger und Mauerspringer.

Auch wenn er sich mit seinem im Gebirge geborenen Begleiter nicht vergleichen konnte, fand er doch, daß er sich wacker schlug. Wer einige Schwierigkeiten hatte, war Qantaqa, nicht, weil sie nicht trittsicher gewesen wäre, sondern wegen einzelner steiler Abstiege – ein Kinderspiel, wenn man sich mit den Händen festhalten konnte –, die zum Herunterspringen zu hoch waren. Wenn sie sich in solch einer Lage befand, knurrte sie ein wenig, was jedoch eher ärgerlich als ängstlich klang, und trottete davon, um einen längeren Weg bergab zu suchen, bis sie dann, in der Regel schon nach kurzer Zeit, wieder zu ihnen stieß.

Als sie endlich einen vielfach gewundenen Hirschpfad entdeckten, der den letzten kleinen Hügel hinabführte, war die Nachmittagssonne schon unter die Himmelsmitte gesunken und stand ihnen warm im Nacken und hell im Gesicht. Eine lauwarme Brise fächelte die Blätter, war aber zu schwach, den Schweiß auf ihren Stirnen zu trocknen. Der Mantel, den Simon sich um die Mitte geknotet hatte, machte ihn so bauchlastig, als hätte er ein umfangreiches Mahl zu sich genommen.

Zu seiner Überraschung entschied sich Binabik, als sie endlich die oberen Wiesenhänge, den Anfang des Knochs, erreicht hatten, den Weg in nordöstlicher Richtung fortzusetzen, am Waldrand entlang, anstatt quer durch das flüsternde, sanft wogende Grasmeer zu gehen.

»Aber die Weldhelm-Straße liegt auf der anderen Seite der Berge!« wandte Simon ein. »Es ginge doch viel schneller, wenn wir…«

Binabik hob eine stämmige, kleine Pfote, und Simon verfiel in mürrisches Schweigen. »Es gibt ›schneller‹, Simon-Freund, und es gibt auch schneller«, erklärte er, und das fröhliche Wissen in seiner Stimme reizte Simon beinahe – aber doch nicht ganz – dazu, etwas Höhnisches und Kindisches, aber vorübergehend Befriedigendes, anzumerken. Als er den bereits geöffneten Mund sorgsam wieder zugemacht hatte, fuhr Binabik fort.

»Siehst du, ich habe gedacht, es wäre schön – eine Schönheit? eine Schönigkeit? –, heute abend an einem Ort ein wenig Rast zu halten, an dem du in einem Bett schlafen und an einem Tisch essen könntest. Wie findest du das, hmmm?«

Simons ganzer Groll verpuffte wie Dampf, der unter einem hochgehobenen Topfdeckel hervorquillt. »Ein Bett? Wollen wir in eine Herberge?« Shems Geschichte vom Puka und den drei Wünschen fiel ihm ein, und er begriff, wie es jemandem zumute war, dessen erster Wunsch in Erfüllung ging – bis er sich jäh an die Erkyngarde erinnerte und an den gehängten Dieb.

»Keine Herberge.« Binabik lachte über Simons Eifer. »Aber genauso gut ist es – nein, besser. Es ist ein Ort, wo man dir Essen gibt und dich ruhen läßt und niemand fragt, wer du bist oder woher du kommst.« Er deutete über den Knoch dorthin, wo die andere Seite des Waldes zurückwich, bis sein Außenrand schließlich am Fuß der Weldhelm-Vorberge endete. »Da drüben ist es, auch wenn man es von hier aus nicht sehen kann. Komm!«

Aber warum können wir nicht einfach den Knoch überqueren? grübelte Simon. Es sieht aus, als ob Binabik nicht so durch offenes Gelände laufen will … nicht so schutzlos.

Tatsächlich hatte der Troll einen nordöstlichen Pfad eingeschlagen und umging die große Wiese, um sich im Windschatten des Aldheorte zu halten.

Und was meinte er mit dem Ort, an dem niemand Fragen stellt … was immer das alles bedeuten mochte …? Versteckt er sich denn auch?

»Langsamer, Binabik!« rief er. Ab und zu flog Qantaqas weißes Hinterteil aus dem Gras auf wie eine Möwe über dem bewegten Kynslagh. »Langsamer!« wiederholte er und beschleunigte seine Schritte. Der Wind trug seine Worte sanft davon, den wellenförmigen Hang hinter ihm hinauf.

Als Simon den Troll endlich eingeholt hatte, stand die Sonne hoch auf ihren Rücken, und Binabik hob die Hand und klopfte ihm auf den Ellbogen.

»Vorhin war ich sehr scharf, sehr knapp mit dir. Es stand mir nicht zu, so zu reden. Meine Entschuldigungen.« Er schielte zu dem Jungen hinauf und schaute dann geradeaus, wo Qantaqas Schweif über dem schwankenden Gras wehte, bald hier, bald dort, das Banner eines kleinen, aber schnell marschierenden Heeres.

»Es gibt nichts zu…« fing Simon an, aber Binabik unterbrach ihn. »Bitte, bitte, Freund Simon«, erklärte er mit einem deutlichen Unterton von Verlegenheit in der Stimme, »es stand mir nicht zu. Sprich nicht mehr davon.« Er hob beide Hände an die Ohren und bewegte sie in einer wunderlichen Gebärde. »Laß mich dir lieber erzählen, wohin wir gehen – zu Sankt Hoderund am Knoch.«

»Wohin?«

»Zu dem Ort, an dem wir bleiben werden. Viele Male bin ich schon dort gewesen. Es ist ein Platz, an den man sich zurückzieht – ein Kloster, wie ihr Ädoniten sagt. Sie sind dort sehr freundlich zu Reisenden.«

Das war genug für Simon. Sofort schwirrte sein Kopf von Visionen langer, hoher Säle, gebratenen Fleisches und sauberer Strohsäcke – ein Delirium von Bequemlichkeiten. Er begann schneller zu laufen und beinahe in Trab zu verfallen.

»Rennen ist nicht vonnöten«, ermahnte ihn Binabik. »Es wird auch so auf uns warten.« Er blickte sich nach der Sonne um, die immer noch mehrere Stunden vom westlichen Horizont stand. »Soll ich dir von Sankt Hoderund erzählen? Oder weißt du schon alles?«

»Erzähl es mir«, bat Simon. »Ich weiß, daß es solche Orte gibt. Ich kenne jemanden, der schon einmal in der Abtei von Stanshire war.«

»Nun, dies hier ist eine Abtei von Besonderheit. Sie hat eine Geschichte.«

Simon hob die Brauen, bereit zum Zuhören.

»Ein Lied gibt es da«, erläuterte Binabik, »den Sang von Sankt Hoderund. Im Süden ist er viel bekannter als im Norden – mit dem Norden meine ich Rimmersgard und nicht meine Heimat –, und es ist offensichtlich, weshalb. Weißt du etwas über die Schlacht von Agh Samrath?«

»Das war, als die Nordleute, die Rimmersmänner, die Männer von Hernystir und die Sithi geschlagen haben.«

»Oho? Dann hast du also doch eine gewisse Erziehung genossen? Ja, Simon-Freund, es war Agh Samrath, das gesehen hat, wie Fingil Rothand die Heere der Sithi und Hernystiri vom Schlachtfeld trieb. Aber es gab noch andere, frühere Schlachten, und eine von ihnen hat hier stattgefunden.« Er machte eine Handbewegung über das wogende Feld neben ihnen. »Damals hatte dieses Land einen anderen Namen. Die Sithi, die es vermutlich am besten kannten, nannten es Ereb Irigú – Westliches Tor.«

»Und wer gab ihm den Namen ›der Knoch‹? Das klingt doch sehr komisch.«

»Ich weiß es nicht mit Gewißheit. Ich selbst glaube, daß der Name auf die Bezeichnung zurückgeht, welche die Rimmersmänner der Schlacht gaben. Sie nannten diesen Ort Du Knokkegard – den Knochengarten.«

Simon blickte zurück über das raschelnde Gras und beobachtete, wie sich Reihe um Reihe vor den Schritten des Windes neigte. »Knochengarten?« fragte er, und der kalte Finger einer Vorahnung berührte ihn.

Der Wind ist hier ständig in Bewegung, dachte er. Rastlos … als ob er etwas Verlorenes sucht…

»Knochengarten, ja. Auf beiden Seiten wurde diese Schlacht vorher vielfach unterschätzt. Die Grashalme hier wachsen auf den Gräbern von vielen tausend Männern.«

Tausende, wie auf dem Begräbnisplatz in Erchester. Noch eine Totenstadt unter den Füßen der Lebenden. Ob sie es wissen? fragte er sich plötzlich. Hören sie uns und hassen sie uns, weil wir … in der Sonne sind? Oder sind sie glücklicher, weil sie alles hinter sich haben?

Ich weiß noch, wie Shem und Ruben den alten Rim töten mußten, den Akkergaul. Gerade bevor Rubens Hammer niedergesaust war, hatte Rim zu Simon aufgeschaut. Mit milden, aber wissenden Augen, hatte Simon gedacht. Wissend und doch gleichmütig.

Hat König Johan sich zum Schluß so gefühlt, reich an Jahren wie er war? Bereit zum Schlafengehen wie der alte Rim?

»Und es ist ein Lied, das jeder Harfner südlich der Frostmark dir vorsingt«, sagte Binabik. Simon schüttelte den Kopf und versuchte sich zu konzentrieren, aber das Seufzen des Grases, das langgezogene Wispern des Windes klangen laut in seinen Ohren. »Ich, und vielleicht wirst du mir dafür Dank wissen, werde kein Lied singen«, fügte Binabik hinzu, »aber von Sankt Hoderund sollte ich dir doch erzählen, denn wir gehen ja sozusagen in sein Haus.«

Junge, Troll und Wölfin waren am östlichsten Teil des Knochs angekommen und änderten jetzt wieder die Richtung, so daß sie der Sonne die linke Seite zukehrten. Als sie durch das hohe Gras wateten, zog Binabik seine Lederjacke aus und knotete sich die Ärmel um die Mitte. Das Hemd, das er darunter trug, war aus weißer Wolle, locker gewebt und sackartig geschnitten.

»Hoderund«, begann er, »war ein Rimmersmann, der sich nach mancherlei Abenteuern zum ädonitischen Glauben bekehrte. Schließlich wurde er von der Kirche zum Priester eingesetzt. Es heißt, ein einzelner Stich ist erst dann von Bedeutung, wenn der Mantel auseinandergeht. Wir würden uns nicht darum kümmern, was Hoderund getan hat, davon bin ich überzeugt, wenn nicht König Fingil Rothand und seine Rimmersmänner den Grünwate-Fluß überschritten und damit zum ersten Mal den Boden der Sithi betreten hätten.

All das ist, wie die meisten Geschichten von Wichtigkeit, zu lang, um es in einer Stunde des Wanderns zu erzählen. Ich will darum derartige Erläuterungen vermeiden und nur dies sagen: Die Nordmänner hatten alles vor sich hergetrieben und auf ihrem Zug nach Süden mehrere Schlachten gewonnen. Die Hernystiri unter ihrem Prinzen Sinnach entschlossen sich, den Rimmersmännern hier an dieser Stelle entgegenzutreten«, wieder machte Binabik eine umfassende Handbewegung über die ganze Weite des sonnenspitzigen Graslandes, »um ihrem Ansturm ein für alle Mal Einhalt zu gebieten.

Die Menschen und Sithi flohen vom Knoch, weil sie fürchteten, zwischen den beiden Heeren zerrieben zu werden – alle flohen sie, außer Hoderund. Schlachten, dünkt mich, ziehen Priester an wie Fliegen, und so geschah es auch mit Hoderund. Er suchte Fingil Rothand in dessen Zelt auf und flehte den König an, sich zurückzuziehen und damit die Tausende von Leben zu schonen, die andernfalls verloren wären. In seiner – wenn ich es so sagen darf – Dummheit und zugleich Tapferkeit predigte er zu Fingil und erzählte ihm von Usires Ädons Worten, daß man seinen Feind in die Arme schließen und zum Bruder machen müsse.

Fingil, was nicht weiter erstaunlich ist, hielt ihn für einen Verrückten und war überaus angewidert, von einem anderen Rimmersmann solche Worte zu hören … Oho, ist das Rauch

Mit dem jähen Wechsel seines Erzählgegenstandes überraschte der Troll Simon, den Binabiks Geschichte in eine Art wandelnden Sonnenstichtraum gelullt hatte. Der Troll deutete zur anderen Seite des Knochs hinauf. Tatsächlich, hinter einer Reihe sanfter Hügel, deren entferntester anscheinend Zeichen von Urbarmachung trug, kräuselte sich ein dünner Rauchfaden. »Abendessen, denke ich«, grinste Binabik. Simon sperrte in ahnungsvoller Sehnsucht den Mund auf. Jetzt beschleunigte auch der Troll seine Schritte. Der dunkle Waldrand machte eine Biegung, und die beiden drehten sich erneut der Sonne zu.

»Wie gesagt«, nahm der Troll seine Erzählung wieder auf, »fand Fingil Hoderunds neue ädonitische Ideen äußerst abstoßend. Er befahl, den Priester hinzurichten, aber ein barmherziger Soldat ließ ihn entkommen.

Ans Weglaufen dachte Hoderund jedoch nicht. Als die beiden Heere endlich aufeinanderprallten, eilte er auf das Schlachtfeld, mitten zwischen Hernystiri und Rimmersgarder, schwang seinen Baum und rief den Frieden des Usires-Gottes auf sie alle hernieder. Eingeklemmt zwischen zwei wütenden heidnischen Heeren wurde er schnell ganz und gar totgeschlagen. So.«

Binabik schwenkte seinen Stab und schlug auf einen hohen Grasbuckel ein. »Eine Geschichte, deren Philosophie schwierig ist, hmmm? Wenigstens für uns Qanuc, die es vorziehen, das zu sein, was du heidnisch nennst, und zugleich das, was ich als lebendig bezeichne. Aber der Lektor in Nabban nannte Hoderund einen Märtyrer und gab in der Frühzeit von Erkynland diesem Ort den Namen einer Kirche und Abtei des Hoderund-Ordens.«

»War es eine furchtbare Schlacht?« wollte Simon wissen. »Die Rimmersgarder nannten den Ort ›Knochengarten‹. Die spätere Schlacht bei Agh Samrath war vielleicht blutiger, aber dort spielte auch Verrat mit. Hier auf dem Knoch galt es Mann gegen Mann, Schwert gegen Schwert, und das Blut strömte wie die Bäche der ersten Schneeschmelze.«

Die Sonne, tief über den Himmel heruntergerutscht, brannte ihnen mitten ins Gesicht. Die Nachmittagsbrise, die sich jetzt ernsthaft bemerkbar machte, bog das hohe Gras und warf die darüber schwebenden Insekten hoch in die Luft, in der sie tanzten wie winzige goldene Lichtblitze. Qantaqa kam querfeldein zurückgelaufen, und ihre Annäherung übertönte die sägende, zischende Musik der sich aneinander reibenden Halme. Der Junge und der Troll begannen eine lange Steigung hinaufzustapfen, umkreist von der Wölfin, die den dicken Kopf in der Luft schwenkte und erregt jappte. Simon beschattete seine Augen, konnte aber hinter der Erhebung nichts ausmachen als die Baumwipfel des Waldrandes. Er drehte sich um und wollte Binabik fragen, ob sie bald da wären, aber der Troll starrte im Gehen mit gerunzelten Brauen auf den Boden und konzentrierte sich auf irgend etwas, ohne Simon oder der wild umherspringenden Wölfin überhaupt Beachtung zu schenken.

Nachdem eine Weile schweigend vergangen war, unterbrochen nur vom Rauschen ihrer Schritte im schweren Gras und einem gelegentlichen aufgeregten Bellen Qantaqas, ermutigte Simons leerer Magen ihn dazu, noch einmal zu fragen. Kaum aber hatte er den Mund geöffnet, als Binabik zu seiner Überraschung in ein hohes, klagendes Lied ausbrach:

Ai-Ereb Irigú.

Ka'ai shikisi aruya'a

Shishei, shishei burusa'eya

Pikuuru n'dai-tu.

Während sie auf den lichtgetränkten, windgewellten Berg hinaufstiegen, klangen Simon die Worte und die eigenartige Melodie in den Ohren wie ein Klagelied von Vögeln, wie ein verzweifelter Ruf aus den hohen, einsamen, niemals verzeihenden Räumen der Luft.

»Ein Sithi-Lied.« Binabik warf Simon einen wunderlich scheuen Blick zu. »Ich singe es nicht gut. Es spricht von diesem Ort, an dem die ersten Sithi von Menschenhand starben, an dem zum ersten Mal von Menschen, die auf Sithi-Boden kämpften, Blut vergossen wurde.« Während er zu Ende sprach, versetzte er Qantaqa, die ihn mit der breiten Schnauze ans Bein stieß, einen Klaps. »Hinik aia!« befahl er. »Sie riecht jetzt Leute und gekochtes Essen«, murmelte er entschuldigend.

»Was bedeutet das Lied?« fragte Simon. »Die Worte, meine ich.« Immer noch überlief ihn die Fremdartigkeit kalt, erinnerte ihn aber zugleich daran, wie groß die Welt wirklich war und wie wenig er selbst auf dem betriebsamen Hochhorst davon mitbekommem hatte. Klein, klein, klein fühlte er sich, kleiner als der kleine Troll, der da neben ihm herkletterte.

»Ich bezweifle, Simon, daß man die Worte der Sithi in den Sprachen der Sterblichen sangbar machen kann – so daß ihre Gedanken richtig weitergegeben werden. Noch schlimmer, es ist ja auch nicht die Sprache meines Geburtsortes, die wir miteinander sprechen, du und ich … aber ich kann es versuchen.«

Sie gingen ein Stück weiter. Qantaqa war es endlich langweilig geworden oder sie hatte es sich anders überlegt; sie hatte jedenfalls keine Lust mehr, ihre wölfische Begeisterung mit ihren begriffsstutzigen Begleitern zu teilen und war hinter dem Kamm der Anhöhe verschwunden.

»Das hier, glaube ich, kommt dem Sinn nahe«, meinte Binabik endlich und intonierte dann eher, als daß er sang:

Am Tor des Westens

zwischen dem Auge der Sonne und den Herzen

der Ahnen

fällt eine Träne…

Lichtspur, Spur zur Erde fallenden Lichtes,

trifft auf Eisen

und wird zu Rauch…

Binabik lachte verlegen. »Siehst du, in den Waldläuferhänden eines Trolls wird das Lied aus Luft zu Worten aus Steinklumpen.«

»Nein«, entgegnete Simon, »zwar verstehe ich es nicht genau … aber ich empfinde etwas dabei.«

»Dann ist es gut«, lächelte Binabik, »aber kein Wort von mir kann sich mit den Liedern der Sithi vergleichen, vor allem nicht mit diesem. Ich habe gehört, daß es eines der längsten ist – und eines der traurigsten. Es heißt auch, Erlkönig Iyu'unigato habe es selber geschrieben, in seinen letzten Stunden, bevor er getötet wurde … getötet von … von … Aah! Schau, wir sind oben!«

Simon sah auf. Wahrhaftig, sie hatten das Ende der langen Steigung beinahe erreicht. Unter ihnen erstreckte sich das endlose Meer der dichtgedrängten Baumwipfel des Aldheorte.

Aber ich glaube nicht, daß er deshalb nicht weitergeredet hat, dachte Simon. Ich glaube, er wollte gerade etwas sagen, das er eigentlich nicht aussprechen sollte.

»Woher hast du gelernt, Sithi-Lieder zu singen, Binabik?« fragte er, als sie die letzten Schritte nach oben geklettert waren und nun auf dem breiten Rücken des Berges standen.

»Wir werden darüber reden, Simon«, antwortete der Troll und blickte um sich. »Aber jetzt sieh! Dort geht es hinunter nach Sankt Hoderund!«

Sie begannen, nur knapp einen langen Steinwurf weit unter ihnen, an den Berghang geklammert wie Moos, das auf einem uralten Baum wächst: ineinander verschlungene Reihen und Reihen in regelmäßigen Abständen gepflanzter, sorgfältig gepflegter Weinstöcke. Waagerecht in den Berg gehauene Terrassen, deren Kanten so abgerundet waren, als sei der Boden schon vor langer Zeit so geformt worden, trennten sie voneinander. Zwischen den Weinstöcken liefen Pfade, die sich genauso verschlungen den Hang hinunterzogen wie die Pflanzen selbst. Unten im Tal war, auf der einen Seite von diesem ersten kleinen Vetter der Weldhelm-Berge geschützt, auf der anderen von der dunklen Begrenzung des Waldes, ein ganzes Korbgeflechtmuster von Ackerland zu sehen, angeordnet mit der säuberlichen Symmetrie eines illuminierten Manuskriptes. In einigem Abstand, gerade noch hinter dem Vorsprung des Berges zu erkennen, lagen die kleinen Außengebäude der Abtei, eine rohgezimmerte, aber gut gepflegte Ansammlung hölzerner Schuppen sowie ein eingezäuntes Feld, im Augenblick leer von Schafen oder Kühen. Ein Tor, der einzige kleine Gegenstand in diesem mächtigen Teppich, der sich bewegte, schwang langsam hin und her.

»Folge den Pfaden, Simon, und bald werden wir essen und vielleicht auch einen kleinen Schoppen der Klosterlese zu uns nehmen.« Mit schnellen Schritten machte sich Binabik an den Abstieg. Gleich darauf bahnten er und Simon sich ihren Weg durch die Reihen, während Qantaqa die langsame Durchquerung des Weinberges durch ihre Gefährten verächtlich betrachtete, um dann einfach den Hang hinunterzuspringen und dabei über die gekräuselten Reben zu setzen, ohne einen einzigen Pfahl zu berühren oder eine Traube unter den großen Pfoten zu zerquetschen.

Simon eilte den steilen Pfad hinunter und achtete dabei auf seine Füße, denn er fühlte bei jedem langen Schritt, daß ihm die Fersen ein Stückchen wegrutschten. Auf einmal spürte er mehr, als er es sah, daß vor ihm irgend etwas war. Weil er dachte, der Troll sei stehengeblieben, um auf ihn zu warten, sah er mit sauerer Miene auf und wollte gerade bemerken, daß man Leuten, die nicht auf einem Berg großgeworden seien, ein wenig Erbarmen zeigen sollte, als sein Blick auf eine Alptraumgestalt fiel. Er stieß einen Angstschrei aus, verlor den Halt, stürzte rücklings auf sein Hinterteil und rutschte zwei Armlängen den Pfad hinunter.

Binabik hörte ihn, fuhr herum und rannte den Berg hinauf, wo er Simon unter einer großen, zerlumpten Vogelscheuche auf der Erde sitzend vorfand. Der kleine Mann betrachtete die Vogelscheuche, die schief von einem dicken Pfahl herunterhing, das rohe, angemalte Gesicht von Wind und Regen fast verwischt, und sah dann auf Simon, der dasaß und an seinen zerschundenen Handflächen sog. Binabik verbiß sich das Lachen, bis er dem Jungen aufgeholfen hatte. Mit seinen kleinen, starken Händen packte er Simons Ellenbogen und stemmte ihn auf die Füße. Dann aber konnte er sich nicht länger beherrschen. Er drehte sich um und setzte den Weg nach unten fort, hinter sich Simon, der erbost die Stirn runzelte, als die erstickten Laute der Erheiterung des kleinen Mannes zu ihm heraufdrangen.

Verbittert klopfte sich Simon den ärgsten Staub von der Hose und sah nach den beiden Päckchen in seinem Gürtel, Pfeil und Manuskript, um sich zu vergewissern, daß keines beschädigt war. Natürlich konnte Binabik nichts von dem am Kreuzweg aufgeknüpften Dieb wissen, aber er war immerhin dabeigewesen, als der Sithi in der Falle des Holzfällers hing. Warum war es dann so lächerlich, daß Simon einen Schreck bekommen hatte?

Simon kam sich sehr töricht vor, aber als er wieder auf die Vogelscheuche blickte, fühlte er trotzdem eine zitternde Vorahnung. Er griff nach oben, packte den leeren Sack, der den Kopf bildete – rauh und kühl fühlte er sich an –, faltete ihn zusammen und steckte den oberen Teil in den formlosen, zerlumpten Mantel, der die Schultern umschlotterte, so daß die trüben, blicklosen Augen versteckt waren. Sollte der Troll doch lachen.

Binabik, der sich wieder gefaßt hatte, wartete weiter unten. Er entschuldigte sich nicht, lächelte aber und gab Simon einen kleinen Klaps auf die Hand. Simon erwiderte das Lächeln, seines war jedoch schmaler als Binabiks.

»Als ich vor drei Monaten hier war«, sagte der Troll, »auf meinem Weg nach Süden, gab es das wundervollste Wild! Den Brüdern ist es erlaubt, einige wenige Hirsche aus dem königlichen Forst zu nehmen, um Wanderer zu erquicken – und sich selber, das braucht nicht weiter erwähnt zu werden. Ah, da ist es … und es steigt Rauch auf!«


Sie hatten die letzte Biegung des Berges umrundet; das klagende Geräusch des quietschenden Tores kam von direkt unter ihnen. Geradeaus am Fuß des Abhanges lagen die dichtgedrängten Strohdächer der Abtei. Und wirklich stieg Rauch auf, ein dünnes Wölkchen, das nach oben schwebte, sich im Gipfelwind drehte und auflöste. Aber es kam weder aus einem Schornstein noch aus einem Rauchfang.

»Binabik…«, sagte Simon, dessen Überraschung sich noch nicht in Alarm verwandelt hatte.

»Niedergebrannt«, flüsterte Binabik. »Oder noch brennend. Oh, Tochter der Berge!« Das Tor krachte zu und sprang sofort wieder auf. »Ein schrecklicher Gast ist in Sankt Hoderunds Haus gekommen.«

Auf Simon, der die Abtei noch nicht gesehen hatte, wirkte die rauchende Verwüstung dort unten wie Binabiks Geschichte vom Knochengarten selbst, die plötzlich lebendig geworden war. Wie in den schrecklichen, wahnsinnigen Stunden unter der Burg spürte er, wie sich die eifersüchtigen Klauen der Vergangenheit hervordrängten, um die Gegenwart an einen dunklen Ort der Reue und Furcht hinabzuzerren.

Von der Kapelle, dem Haupthaus des Klosters und dem größten Teil der Nebengebäude waren nur schwelende Ruinen übriggeblieben. Die verkohlten Dachbalken, deren Last aus Fachwerk und Stroh das Feuer verzehrt hatte, lagen entblößt unter dem spöttischen Frühlingshimmel wie die geschwärzten Rippen des Festmahls eines hungrigen Gottes. Ringsum verstreut lagen, wie von demselben Gott ausgewürfelt, die Leichen von mindestens zwanzig Männern, so lumpenpuppig und leblos wie die Vogelscheuche oben auf dem Berg.

»Bei Chukkus Eiern…«, hauchte Binabik mit noch immer weit aufgerissenen Augen und schlug sich sacht mit dem Daumenballen auf die Brust. Er machte einen Schritt nach vorn, zog den Rucksack von den Schultern und rannte den Berg hinab. Qantaqa bellte und machte Freudensprünge.

»Warte«, sagte Simon, und es war kaum ein Flüstern. »Warte!« schrie er und schwankte hinterher. »Was tust du? Sie werden dich umbringen!«

»Stunden ist das alt!« rief Binabik, ohne sich umzudrehen. Simon sah den Troll kurz innehalten und sich über den ersten Leichnam beugen, auf den er stieß. Gleich darauf trabte er weiter. Keuchend, mit trotz der offensichtlich zutreffenden Worte des kleinen Mannes vor Furcht jagendem Herzen, warf Simon im Vorbeilaufen einen Blick auf die Leiche. Es war ein Mann in schwarzem Gewand, dem Äußeren nach ein Mönch – sein Gesicht war ins Gras gedrückt und nicht zu sehen. Eine Pfeilspitze hatte sich gewaltsam den Weg durch seinen Nacken gebahnt. Fliegen liefen zierlich über das getrocknete Blut.

Ein paar Schritte weiter strauchelte Simon und stürzte. Mit den Handflächen fing er sich schmerzhaft auf dem Kiesweg ab. Als er sah, worüber er gestolpert war und die Fliegen bemerkte, die sich wieder auf den nach oben verdrehten Augen niederließen, mußte er sich heftig und qualvoll übergeben.


Als Binabik ihn fand, hatte Simon sich im Schatten eines Kastanienbaumes verkrochen. Der Kopf des Jungen nickte wie knochenlos, als Binabik ihm wie eine liebevolle, aber energische Mutter mit einem Grasbüschel die Galle vom Kinn wischte. Der Aasgestank war überall.

»Schlimm ist es. Schlimm.« Binabik berührte sanft Simons Schulter, wie um sicherzugehen, daß der Junge wirklich vorhanden war, hockte sich dann hin und kniff vor den letzten roten Strahlen des Sonnenlichtes die Augen zusammen. »Ich kann keinen Lebenden mehr finden. Meistens sind es Mönche, die Toten, in Klostergewänder gekleidet, aber es gibt auch andere.«

»Andere …?« Es war ein Gurgeln.

»Männer in Reisekleidung … Frostmarkmänner, die hier vielleicht eine Nacht rasten wollten, obwohl es recht viele zu sein scheinen. Manche tragen Bärte und machen mir den Anschein von Rimmersmännern. Es ist eine Rätselhaftigkeit…«

»Wo ist Qantaqa?« fragte Simon schwach. Er stellte fest, daß er sich merkwürdigerweise Sorgen um die Wölfin machte, die doch wahrscheinlich von ihnen dreien am wenigsten in Gefahr war.

»Rennen. Riechen. Sie ist sehr aufgeregt.« Simon stellte fest, daß Binabik seinen Stab auseinandergezogen und das Stück mit dem Messer in den Gürtel gesteckt hatte. »Ich frage mich«, meinte der Troll und starrte, während Simon sich endlich aufsetzte, in den emporsteigenden Rauch, »was die Ursache für all das ist. Räuber? Eine Art Schlacht aus Gründen der Religion – ich habe gehört, daß das bei euch Ädoniten nicht ungewöhnlich ist –, oder was sonst? Höchst sonderbar.«

»Binabik.« Simon räusperte sich und spuckte aus. Er hatte einen Geschmack im Mund wie die Stiefel eines Schweinehirten. »Ich habe Angst.« Irgendwo in der Ferne bellte Qantaqa, ein überraschend hoher Laut.

»Angst.« Binabiks Lächeln war fadendünn. »Angst solltest du auch haben.« Obwohl sein Gesicht klar und sorglos zu sein schien, lag eine Art betäubter Wehrlosigkeit hinter den Augen des Trolls. Das jagte Simon mehr Furcht ein als alles andere. Und da war noch etwas: eine Andeutung von Entmutigung, als ob das Schreckliche nicht völlig unerwartet gekommen wäre.

»Ich denke…«, begann Binabik, als Qantaqas Jappen sich plötzlich zu einem knurrenden Crescendo steigerte. Der Troll sprang auf. »Sie hat etwas entdeckt«, sagte er und zog den verblüfften Jungen mit einem kräftigen Ruck am Handgelenk in die Höhe. »Oder etwas anderes ist dabei, sie zu entdecken…«

Binabik rannte den Geräuschen nach, und Simon, in dessen Schädel Impulse von Flucht und Furcht durcheinanderzirpten wie Fledermäuse, stolperte hinterher. Im Laufen griff der Troll mit dem Finger in sein Blasrohr und steckte etwas hinein. Simon wußte – eine schwerwiegende, bedrohliche Erkenntnis –, daß es ein Dorn mit schwarzer Spitze war.

Sie rannten quer durch das Klostergelände, fort von der Verwüstung und durch den Obstgarten, immer auf die Laute von Qantaqas Mißvergnügen zu. Ein Schneesturm von Apfelblüten fiel um sie herum zu Boden, und der Wind stocherte und schob sich am Waldrand entlang.

Weniger als zehn Laufschritte in den Wald hinein fanden sie die Wölfin, das Nackenfell gesträubt und ihr Knurren so tief, daß Simon es bis in den Magen fühlen konnte. Sie hatte einen Mönch gestellt und gegen den Stamm einer Pappel gedrängt. Der Mann hielt seinen Brust-Baum hoch, als wollte er den Blitz des Himmels auf das widerspenstige Untier herunterrufen. Aber trotz seiner heroischen Haltung zeigten die krankhafte Blässe des Gesichtes und der zitternde Arm, daß er mit dem Erscheinen des Blitzes nicht wirklich rechnete. Seine vor Furcht noch weiter hervortretenden Augen waren auf Qantaqa geheftet; die beiden Neuankömmlinge hatte er überhaupt noch nicht bemerkt.

»… Aedonis Fiyellis extulanin mei…« Der breite Mund bewegte sich krampfhaft. Die Schatten der Blätter malten Flecken auf seinen rosa Schädel.

»Qantaqa!« rief Binabik. »Sosa!« Qantaqa grollte, aber ihre Ohren zuckten. »Sosa aia!« Der Troll schlug sich mit dem hohlen Stab auf den Schenkel, daß es knallte. Mit einem letzten zähnefletschenden Knurren ließ Qantaqa den Kopf sinken und trottete zurück zu Binabik. Der Mönch stierte Simon und den Troll an, als wären sie ebenso furchterregend wie das erregte Tier. Dann schwankte er ein wenig und stürzte rückwärts zu Boden. Er landete sitzend auf der Erde und zeigte den verwirrten Ausdruck eines Kindes, das sich verletzt und noch nicht begriffen hat, daß es weinen möchte.

»Usires der Barmherzige«, stammelte er endlich, als die beiden auf ihn zueilten. »Usires der Barmherzige, der Barmherzige…« Ein wilder Blick trat in seine Quellaugen. »Laßt mich in Ruhe, ihr heidnischen Ungeheuer!« schrie er und versuchte mühsam aufzustehen. »Mörderbande, heidnische Bastarde!« Seine Fersen rutschten ihm weg, und er setzte sich wieder hin und murmelte: »Ein Troll, ein mörderischer Troll…« Langsam sah er wieder rosig aus, die Farbe kehrte zurück. Er holte tief und krampfhaft Atem und machte dann ein Gesicht, als ob er nun wirklich losheulen wollte.

Binabik blieb stehen. Er packte Qantaqa am Hals und winkte Simon, weiterzugehen, wobei er sagte: »Hilf ihm.«

Simon näherte sich langsam und versuchte mit einiger Mühe, seine Gesichtszüge so zu ordnen, wie es sich für einen hilfreichen Freund gehört – und das, obwohl sein eigenes Herz ihm gegen den Brustkorb hämmerte wie ein Specht. »Es ist ja alles gut«, erklärte er. »Jetzt ist alles gut.«

Der Mönch hatte die Augen mit dem Ärmel bedeckt. »Alle habt ihr umgebracht, nun wollt ihr uns auch noch töten!« rief er, und in seiner Stimme, so erstickt sie sich auch anhörte, lag eher Selbstmitleid als Furcht.

»Ein Rimmersmann ist er«, bemerkte Binabik, »als ob man sich das nicht schon denken könnte, so wie er Qanuc verleumdet. Pfah.« Der Troll stieß einen angewiderten Laut aus. »Hilf ihm auf, Simon, wir wollen ihn ans Licht führen.«

Simon ergriff den knochigen, schwarzverhüllten Ellenbogen des Mannes und brachte ihn mühsam auf die Füße. Aber als er ihn zu Binabik leiten wollte, riß der Mann sich los.

»Was tust du da?« schrie er und tastete nach dem Baum auf seiner Brust. »Soll ich die anderen im Stich lassen? Nein, hebe dich von mir!«

»Die anderen?« Simon schaute fragend auf Binabik. Der Troll zuckte die Achseln und kraulte die Ohren der Wölfin. Qantaqa schien zu grinsen, als erheitere sie das Schauspiel.

»Leben noch andere?« fragte der Junge sanft. »Wir wollen dir helfen und ihnen auch, sofern wir können. Ich heiße Simon, und das ist mein Freund Binabik.« Der Mönch glotzte ihn mißtrauisch an. »Und Qantaqa hast du ja schon kennengelernt, denke ich«, fügte Simon hinzu und bedauerte sofort den schlechten Scherz. »Sag uns, wer du bist. Und wo sind diese anderen?«

Der Mönch, dessen Fassung zurückzukehren begann, musterte ihn mit einem langen, argwöhnischen Blick, um danach auch Troll und Wolf kurz zu beäugen. Als er sich wieder Simon zuwandte, war sein Gesicht etwas entspannter.

»Wenn du wirklich … ein guter Ädoniter bist und aus Wohltätigkeit handelst, so bitte ich dich um Vergebung.« Der Ton des Mönches war steif wie bei einem Menschen, der nicht gewöhnt ist, sich zu entschuldigen. »Ich bin Bruder Hengfisk. Ist dieser Wolf…«, er wandte den Blick ab, »… euer Gefährte?«

»Allerdings«, entgegnete Binabik streng, bevor Simon etwas antworten konnte. »Zu bedauern ist es, daß sie dich erschreckt hat, Rimmersmann, aber du wirst selber erkennen, daß sie dir nichts Übles getan hat.«

Hengfisk würdigte Binabik keiner Antwort. »Ich habe meine beiden Pfleglinge schon zu lange alleingelassen«, erklärte er, zu Simon gewandt, »ich muß wieder zu ihnen.«

»Wir begleiten dich«, erwiderte der Junge. »Vielleicht kann Binabik helfen. Er kennt sich mit Kräutern und anderen Dingen vorzüglich aus.«

Der Rimmersmann hob kurz die Brauen, wodurch seine Augen noch weiter hervorzutreten schienen. Sein Lächeln war bitter.

»Das ist ein freundlicher Gedanke, Junge, doch ich fürchte, irgendwelche … Waldkräuterumschläge können Bruder Langrian und Bruder Dochais nicht mehr helfen.« Er machte auf dem Absatz kehrt und ging aufrecht unsicheren Beinen tiefer in den Wald hinein.

»So warte doch!« rief Simon ihm nach. »Was ist denn überhaupt in der Abtei geschehen?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Hengfisk, ohne sich umzudrehen. »Ich war nicht dabei.«

Simon sah sich hilfesuchend nach Binabik um, aber der Troll machte keine Anstalten mitzukommen. Statt dessen rief er hinter dem humpelnden Mönch her: »Ach – Bruder Hängfisch?«

Wutschnaubend schoß der Mönch herum. »Mein Name ist Hengfisk, Troll!« Simon fiel auf, wie schnell ihm die Farbe ins Gesicht stieg.

»Ich habe nur Übersetzungsdienste für meinen Freund geleistet«, grinste Binabik sein gelbes Grinsen, »der nicht die Sprache von Rimmersgard spricht. Du sagst, du weißt nicht, was geschehen ist. Wo warst du denn, als man deine Brüder so furchtbar abschlachtete?«

Der Mönch schien schon im Begriff, etwas zurückzufauchen, griff dann aber nach seinem Baum und umklammerte ihn. Gleich darauf sagte er mit ruhigerer Stimme: »So komm mit und sieh. Ich habe keine Geheimnisse vor dir, Troll, oder vor meinem Gott.« Er stapfte davon.

»Warum hast du ihn wütend gemacht, Binabik?« flüsterte Simon. »Ist hier nicht schon genug Schlimmes geschehen?«

Binabiks Augen waren Schlitze, aber er hatte sein Grinsen nicht verloren. »Vielleicht bin ich unfreundlich, Simon, aber du hörtest seine Rede; du sahst seinen Blick. Laß dich nicht dadurch täuschen, daß er ein Heiligengewand trägt. Zu oft sind wir Qanuc in der Nacht aufgewacht und haben Augen wie Hengfisks auf uns herunterblicken sehen, und Fackeln und Äxte gleich daneben. Dein Usires Ädon hat diesen Haß nicht erfolgreich aus seinem nördlichen Herzen herausgebrannt.« Der Troll schnalzte Qantaqa zu, ihm zu folgen, und ging dem steifrückigen Priester nach.

»Aber hör dir doch selber zu!« sagte Simon und hielt Binabiks Blick fest. »Du bist ja auch voller Haß.«

»Ah.« Der Troll hob einen Finger vor sein jetzt ausdrucksloses Gesicht. »Aber ich behaupte auch nicht, daß ich an deinen – verzeih den Ausdruck – Kopfüber-Gott der Barmherzigkeit glaube.«

Simon holte Luft, um etwas zu sagen, überlegte es sich dann aber.


Bruder Hengfisk drehte sich nur einmal um und nahm schweigend ihre Anwesenheit zur Kenntnis. Eine ganze Weile sagte er nichts. Das Licht, das durch das Laub sickerte, nahm schnell ab; schon bald war Hengfisks eckige, schwarzgewandete Gestalt kaum mehr als ein Schatten, der sich vor ihnen herbewegte. Simon war verblüfft, als er sich endlich umwandte und sagte: »Hier.« Der Mönch führte sie um das Ende eines großen umgestürzten Baumes herum, dessen freiliegende Wurzeln mehr als allem anderen einem gewaltigen Besen ähnelten – einem Besen, der die Einbildungskraft von Rachel dem Drachen zu heroischen, legendären Heldentaten angefeuert hätte.

Simons beiläufiger Gedanke an Rachel, dazu die Erlebnisse dieses Tages, brachten ihm einen so heftigen Anfall von Heimweh ein, daß er strauchelte und sich mit der Hand an der schuppigen Borke des gefallenen Baumes abstützte. Hengfisk kniete nieder und warf Äste auf ein kleines Feuer, das in einer flachen Grube glühte. Am Feuer lagen, jeder auf einer Seite von der umgestürzten Länge des Baumes geschützt, zwei Männer.

»Das ist Langrian«, erläuterte Bruder Hengfisk und deutete auf den rechten, dessen Gesicht weitgehend mit einem aus Säcken hergestellten, blutigen Verband bedeckt war. »Ihn fand ich als einzigen Überlebenden in der Abtei, als ich zurückkam. Ich glaube, Ädon wird ihn bald wieder zu sich nehmen.« Selbst in dem schwächer werdenden Licht konnte Simon feststellen, daß Bruder Langrians Haut, soweit sie noch sichtbar war, fahl und wächsern wirkte. Hengfisk warf noch einen Stock aufs Feuer. Binabik, ohne dem Rimmersmann ein einziges Mal in die Augen zu sehen, kniete neben dem Verwundeten nieder und begann ihn mit behutsamen Fingern zu untersuchen.

»Der dort ist Dochais.« Hengfisk zeigte auf den anderen Mann, der ebenso kraftlos wie Langrian dalag, jedoch keine äußeren Verletzungen zeigte. »Er war es, den ich suchen gegangen war, als er von seiner Vigilie nicht zurückkehrte. Als ich ihn nach Hause brachte – ihn trug –«, bitterer Stolz lag in Hengfisks Stimme, »fand ich bei meiner Heimkehr alle … alle tot.« Er schlug das Zeichen des Baumes über seiner Brust. »Alle außer Langrian.«

Simon setzte sich zu Bruder Dochais, einem dünnen, jungen Mann mit langer Nase und den blauen Kinnstoppeln der Hernystiri. »Was ist ihm geschehen? Was fehlt ihm?«

»Ich weiß es nicht, Junge«, antwortete Hengfisk. »Er ist wahnsinnig. Er hat sich irgendein Gehirnfieber zugezogen.« Der Mönch machte sich wieder auf die Suche nach Feuerholz.

Simon beobachtete Dochais eine Weile, bemerkte das mühsame Atmen und das leichte Beben der Augenlider. Als er sich umdrehte, um nach Binabik zu sehen, der gerade vorsichtig den Verband von Langrians Kopf abwickelte, schoß wie eine Schlange aus dem schwarzen Gewand vor ihm eine Hand hervor und packte ihn mit erschreckend kraftvollem Griff vorn am Hemd.

Dochais, noch immer mit geschlossenen Augen, hatte sich ganz steif gemacht und den Rücken derart gekrümmt, daß seine Mitte sich vom Boden hob. Sein Kopf war zurückgeworfen und wackelte ruckartig hin und her.

»Binabik!« schrie Simon, außer sich vor Entsetzen. »Er … er ist…«

»Aaah!« Die Stimme, die sich Dochais' gepreßter Kehle entrang, war rauh vor Qual. »Der schwarze Wagen! Seht, er kommt mich holen!«

Wieder schlug er um sich wie ein Fisch an Land, und bei seinen Worten fühlte Simon einen Schauder neu erwachenden Grauens.

Der Berggipfel … ich erinnere mich … und das Knarren schwarzer Räder … o Morgenes, was tue ich hier?

Eine Sekunde später, während Binabik und Hengfisk noch verwirrt von der anderen Seite der Feuergrube herüberstarrten, hatte Dochais Simon zu sich herangezogen, bis das Gesicht des Jungen die vor Furcht verzerrten Züge des Hernystiri fast berührte.

»Sie holen mich zurück!« zischte der Mönch, »zurück an … zurück an … diesen furchtbaren Ort!« Erschreckt öffneten sich seine Augen und starrten blind in Simons nur eine Handbreit entfernte eigene. Der Junge schaffte es nicht, sich aus dem Griff des Mönches loszureißen, obwohl jetzt Binabik neben ihm stand und zu helfen versuchte.

»Du weißt es!« schrie Dochais, »du weißt, wer es ist! Du bist gezeichnet, gezeichnet wie ich! Ich sah sie vorüberkommen, die Weißfüchse! Sie gingen durch meinen Traum. Weißfüchse! Der Meister hat sie geschickt, um unsere Herzen mit Eis zu überziehen und unsere Seelen mitzunehmen … auf ihrem schwarzen, schwarzen Wagen!«

Und dann war Simon frei, keuchend und schluchzend. Binabik und Hengfisk hielten den zuckenden Mönch, bis er endlich aufhörte, um sich zu schlagen. Die Stille des dunklen Waldes kehrte zurück und umgab das kleine Lagerfeuer, so wie die Abgründe der Nacht einen sterbenden Stern umarmen.

XX Der Schatten des Rades

Er stand auf der offenen Ebene im Mittelpunkt einer ungeheuren, flachen Grassenke, ein Fleckchen bleichen, aufrechten Lebens inmitten eines endlosen grünen Tumultes. Nie hatte sich Simon so entblößt, so nackt unter dem Himmel gefühlt. Ringsum stiegen die Felder an und entfernten sich von ihm; die Horizonte an allen Seiten siegelten Gras und steingrauen Himmel fest zusammen.

Nach einer Weile, die in dieser unpersönlichen, festgeschriebenen Zeitlosigkeit Augenblicke oder Jahre gedauert haben konnte, brach der Horizont auf.

Mit dem gewichtigen Ächzen eines Kriegsschiffes bei starkem Wind erschien über dem Rand, der die äußerste Grenze von Simons Gesichtsfeld bildete, etwas Dunkles. Immer weiter stieg es empor, unfaßlich groß, bis sein Schatten über Simon fiel, tief unten im Tal – das Fallen des Schattens war so jäh, daß er fast ein Echo zu erzeugen schien, als er aufschlug – ein tiefes, hallendes Summen, das Simon erschütterte.

Die gewaltige Masse des Dinges zeichnete sich klar vor dem Himmel ab, als es einen langen Augenblick am Rand des Tales verharrte. Es war ein Rad, ein ungeheures, schwarzes Rad, hoch wie ein Turm. Im Dämmerlicht des Schattens, den es warf, konnte Simon nur mit weit aufgerissenen Augen Zusehen, wie es sich mit quälender Zielsicherheit zu drehen und langsam den langen, grünen Hang hinunterzurollen begann; abgerissene, geschundene Erdsoden spritzten hinter ihm auf. Simon stand wie erstarrt mitten in seinem gräßlichen Weg, auf dem es mahlend weiterrollte, unerbittlich wie die Mühlsteine der Hölle.

Nun war es über ihm, den Rand voran, ein schwarzer Rumpf, der bis ans Firmament reichte, nach allen Richtungen Erde regnend. Unter Simons Füßen senkte sich der Boden, als das Gewicht des Rades die Grundfesten der Erde zum Einstürzen brachte. Er stolperte, und noch während er um sein Gleichgewicht kämpfte, ragte der schwarze Rand vor ihm auf. Stumm und entsetzt starrte er ihn an, als ein grauer Schatten an seinem Blick vorüberhuschte, ein grauer Schatten mit blitzendem Kern … ein Sperling, der wie ein Verrückter vorbeiflog, etwas Glänzendes fest im gebogenen Griff. Der Junge blinzelte, um ihm nachzusehen, und als hätte ihm der Vogel beim schnellen Vorüberfliegen ans Herz gegriffen, warf Simon sich hinter ihm her, außer Reichweite des Rades, das auf ihn einstürzte …

Doch noch während er sprang und der mauerbreite Rand herunterdonnerte, verfing sich Simons Hosenbein in einem brennendkalten Nagel, der am äußeren Rand des riesigen Rades hervorstand. Der Sperling, nur ein paar Zoll vor ihm, flog frei davon und kreiste wirbelnd, grau in grau, vor dem Schieferhimmel nach oben wie ein Schmetterling. Seine glitzernde Bürde verschwand mit ihm in der Dämmerung.

Eine gewaltige Stimme sprach: Du bist gezeichnet.

Das Rad faßte Simon und wirbelte ihn herum, schüttelte ihn wie ein Hund, der einer Ratte das Genick bricht. Dann rollte es weiter und riß ihn hoch hinauf in die Luft. Baumelnd wurde er in den Himmel gezerrt, und unter seinem Kopf schaukelte die Erde wie ein wogendes, grünes Meer. Der Fahrtwind des Rades umwehte ihn auf allen Seiten, als er nach oben stieg und dem Scheitelpunkt zukreiste. In seinen Ohren sang das Blut.

Simon wühlte mit der Hand in dem Gras und dem Lehm, die den breiten Rand verkrusteten, und richtete sich mühsam auf; er ritt auf dem Rad wie auf dem Rücken eines wolkenhohen Tieres. Immer näher kam er dem gewölbten Himmel.

Dann war er ganz oben und saß einen Augenblick auf dem höchsten Punkt der Welt. Hinter dem Rand des Tales waren alle die weithin verstreuten Felder von Osten Ard zu sehen. Das Sonnenlicht durchbohrte den Himmel und fiel auf die Zinnen einer Burg und eine wunderschöne schimmernde Turmspitze, das einzige auf der Welt, das so hoch zu sein schien wie das schwarze Rad. Er blinzelte, erkannte etwas Vertrautes im aufstrebenden Umriß, aber gerade, als es deutlicher zu werden begann, rollte das Rad weiter, stieß ihn vom Gipfel herunter und zog ihn rasch wieder auf den tief unter ihm liegenden Boden hinunter.

Er kämpfte mit dem Nagel, zerrte an seinem Hosenbein, um sich zu befreien. Aber irgendwie waren er und der Nagel eins, er konnte sich nicht losreißen. Der Boden sprang ihm entgegen. Die beiden, Simon und die jungfräuliche Erde, rasten mit einem Getöse wie die Posaunen des Jüngsten Tages, die durch das Tal dröhnten, aufeinander zu. Er schlug auf – die beiden prallten zusammen –, und Wind und Licht und Musik erloschen wie eine Kerzenflamme.

Plötzlich:

Simon befand sich im Dunkeln, tief in der Erde, die sich vor ihm teilte wie Wasser. Ringsum ertönten Stimmen, langsame, zögernde Stimmen aus Mündern voll erstickenden Staubes.

Wer tritt in unser Haus?

Wer kommt, unseren Schlaf, unseren langen Schlaf zu stören?

Sie wollen uns bestehlen!

Die Diebe wollen uns unsere stillen, dunklen Betten nehmen.

Sie wollen uns wieder nach oben schleppen, durch das Helle Tor…

Als die klagenden Stimmen so riefen, fühlte Simon Hände, die ihn umklammerten, Hände, kalt und trocken wie Gebein oder naß und weich wie Wurzeln, die sich in die Tiefe senken, ausgestreckte, verschlungene Finger, die nach ihm griffen, um ihn an leere Brüste zu drücken … doch sie konnten ihn nicht aufhalten. Das Rad rollte und rollte, mahlte ihn nach unten, immer weiter, bis die Stimmen hinter ihm erstarben und er durch eiskalte, schweigende Finsternis glitt.

Finsternis…

Wo bist du, Junge? Träumst du? Ich kann dich fast berühren.

Es war Pryrates' Stimme, die da plötzlich sprach, und er spürte das bösartige Gewicht der Gedanken des Alchimisten dahinter. Ich weiß jetzt, wer du bist – Morgenes' Schüler, ein Küchenjunge, der sich in alles einmischt. Du hast Dinge gesehen, die nicht für dich bestimmt waren, Küchenjunge – du hast mit Dingen gespielt, die über dich hinausgehen. Du weißt viel zu viel. Ich werde dich suchen.

Wo bist du?

Und dann die tiefere Dunkelheit, ein Schatten unter dem Schatten des Rades, und tief in diesem Schatten zwei rotglühende Feuer, Augen, die aus einem Schädel starren mußten, der ein Grauen und voller Flammen war.

Nein, Sterblicher, sagte eine Stimme, und in Simons Kopf klang sie wie Asche und Erde und das stumme, unausgesprochene Ende aller Dinge. Nein, dieser ist nicht für dich. Die Augen loderten auf, voller Neugier und Vergnügen. Wir werden ihn nehmen, Priester.

Simon fühlte, wie Pryrates' Griff sich lockerte und die Macht des Alchimisten vor dem dunklen Wesen zusammenschrumpfte.

Willkommen, sagte es. Hier ist das Haus des Sturmkönigs, jenseits des Dunkelsten Tores. – Wie … ist … dein … Name?

Und die Augen sanken ein wie zerfallende Glut, und die Leere hinter ihnen brannte kälter als Eis, heißer als jedes Feuer … und dunkler als alle Schatten…


»Nein!« Simon dachte, er schrie es, aber auch sein Mund war voller Erde. »Ich sage ihn nicht!«

Vielleicht werden wir dir einen Namen geben … du mußt einen Namen haben, kleine Fliege, kleines Staubkorn … damit wir dich erkennen, wenn wir dir begegnen … wir müssen dich zeichnen …

»Nein!« Er versuchte sich loszureißen, aber das Gewicht von tausend Jahren Erde und Stein lastete auf ihm. »Ich will keinen Namen! Ich will keinen Namen! Ich will keinen…«

»… Namen von dir!« Noch während sein letzter Aufschrei durch die Bäume gellte, war Binabik bei ihm, aufrichtige Bestürzung im Gesicht. Das schwache Licht der Morgensonne, ohne Ursprung und Richtung, erfüllte die Lichtung.

»Einen Verrückten und einen dem Tode Nahen habe ich schon zu pflegen«, bemerkte Binabik, als Simon sich aufsetzte, »und nun mußt du auch noch anfangen, im Schlaf zu schreien?« Der Troll hatte einen Scherz machen wollen, aber der Morgen war zu kalt und dünn für den Versuch. Simon zitterte am ganzen Leib.

»Ach, Binabik, ich…« Er fühlte, wie ein bebendes, unsicheres Lächeln auf sein Gesicht trat, erzwungen von der einfachen Tatsache, daß er sich im Licht befand, über der Erde. »Ich hatte einen ganz, ganz schrecklichen Traum.«

»Das überrascht mich nicht weiter«, erwiderte der Troll und quetschte Simons Schulter. »Ein schrecklicher Tag wie gestern führt nicht zufällig zu einem weniger als ruhigen Schlaf.«

Der kleine Mann richtete sich auf. »Wenn du willst, sei willkommen, dir in meinem Rucksack etwas zu essen zu suchen. Ich bin mit dem Pflegen der beiden Mönche beschäftigt.« Er wies auf die dunklen Gestalten auf der anderen Seite des Lagerfeuers. Der ihm näher Liegende, den Simon für Langrian hielt, war in einen dunkelgrünen Mantel gewickelt.

»Wo ist…«, nach ein paar Sekunden erinnerte Simon sich an den Namen, »… Hengfisk?« Sein Kopf dröhnte, und seine Kiefer schmerzten, als hätte er mit den Zähnen Nüsse geknackt.

»Der unangenehme Rimmersmann – der, man muß es der Gerechtigkeit wegen erwähnen, immerhin seinen Mantel gegeben hat, um Langrian zu wärmen – ist fortgegangen, um in seinem verwüsteten Heim nach Nahrung und Ähnlichem zu suchen. Ich muß nun wieder zu meinen Pfleglingen, Simon – sofern du dich besser fühlst?«

»Ja, natürlich. Wie geht es ihnen?«

»Langrian, kann ich mit Vergnügen erwähnen, geht es wesentlich besser.« Binabik zeigte ein kleines befriedigtes Nicken. »Er hat eine recht lange Zeit friedlich geschlafen – etwas, das du von dir nicht behaupten kannst, hmmm?« Der Troll lächelte. »Bruder Dochais ist bedauerlicherweise meiner Hilfe nicht zugänglich, aber er ist außer in seinen schrecklichen Gedanken nicht krank. Auch ihm habe ich etwas gegeben, das ihm schlafen hilft. Nun aber vergib mir, denn ich muß nach Bruder Langrians Verband sehen.«

Binabik stand auf und stampfte um die Feuergrube herum, wobei er über Qantaqa hinwegstieg, die schlafend neben den warmen Steinen lag. Simon hatte ihren Rücken zunächst auch für einen großen Stein gehalten.

Der Wind fächelte mit leichten Fingern die Blätter des Eichbaumes über seinem Kopf, als Simon Binabiks Rucksack durchsuchte. Er holte ein kleines Säckchen heraus, das sich anfühlte, als könne Frühstück darin sein; aber noch bevor er es öffnete, verriet ihm ein klapperndes Geräusch, daß es die seltsamen Knochen enthielt, die er schon gesehen hatte. Weitere Forschungen förderten geräuchertes Dörrfleisch zutage, das in ein grobes Tuch gewickelt war. Kaum aber hatte Simon das Päckchen geöffnet, als ihm klar wurde, daß irgendeine Art Essen in seinen rebellierenden Magen zu stopfen das letzte war, was dieser jetzt wollte.

»Gibt es noch irgendwo Wasser, Binabik? Wo ist dein Schlauch?«

»Besser, Simon!« rief ihm der über Bruder Langrian gebeugte Troll zu. »Es ist ein Bach da, nur ein kurzes Stück dort hinunter.« Er deutete, griff dann nach unten und warf Simon den Schlauch zu. »Diesen zu füllen wird mir hilfreich sein.«

Als Simon den Schlauch aufhob, sah er daneben seine beiden Bündel liegen. Spontan griff er nach dem in Lumpen gewickelten Manuskript und nahm es mit, als er sich auf den Weg zum Bach machte.

Der kleine Bach floß träge, und seine Strudel waren mit Zweigen und Blättern verstopft. Simon mußte erst eine Stelle davon befreien, bevor er sich bücken und mit den Händen Wasser schöpfen konnte, um es sich ins Gesicht zu spritzen. Er schrubbte sich kräftig mit den Fingern – es kam ihm vor, als seien Rauch und Blut der verwüsteten Abtei in alle Poren und Falten eingedrungen. Danach trank er ein paar tiefe Züge und füllte Binabiks Schlauch.

Er setzte sich ans Ufer und dachte über den Traum nach, der, seitdem er aufgestanden war, wie ein feuchter Nebel über seinen Gedanken hing. Wie Bruder Dochais' wirre Worte am Abend zuvor hatte der Traum Schatten des Grauens in Simons Herz wachgerufen, aber das Tageslicht war bereits im Begriff, sie zu verscheuchen wie ruhelose Geister, und nur ein Rest von Furcht blieb zurück. Das einzige, woran er sich erinnerte, war das große, schwere Rad, das auf ihn heruntergerollt war. Alles andere war verschwunden und hatte in seinem Gehirn schwarze, leere Flecken hinterlassen, Türen der Vergeßlichkeit, die er nicht öffnen konnte.

Dennoch wußte er, daß er in etwas hineingeraten war, das mehr war als nur das Ringen königlicher Brüder – mehr sogar als der Tod jenes guten alten Doktors Morgenes oder die Abschlachtung von zwanzig heiligen Männern. Sie alle waren nur Strudel in einer größeren, tieferen Strömung – oder besser gesagt, Kleinigkeiten, zerquetscht von der achtlosen Umdrehung eines mächtigen Rades. Simons Verstand reichte nicht aus, die Bedeutung all dieser Dinge zu fassen, und je mehr er darüber nachdachte, desto flüchtiger wurden die Vorstellungen. Er verstand nur eines, nämlich daß er unter den breiten Schatten des Rades gefallen war und daß er sich, wenn er überleben wollte, gegen seine furchtbaren Umdrehungen verhärten mußte.


Lässig am Ufer hingelagert, wo das dünne Summen der über dem Bach schwirrenden Insekten die Luft erfüllte, wickelte Simon die Seiten von Morgenes' Leben und Regierung König Johan Presbyters aus und begann darin zu blättern. Er hatte schon eine ganze Weile keinen Blick mehr hineingeworfen, wegen der langen Märsche und des frühen Zubettgehens, sobald das Lager aufgeschlagen war. Er löste ein paar Seiten an den Stellen, wo sie zusammenklebten, voneinander, las hier einen Satz, dort eine Handvoll Worte, und achtete weniger auf das, was da geschrieben stand, als daß er sich der tröstlichen Erinnerung an seinen Freund und Lehrmeister hingab. Er betrachtete die Schrift und dachte an die schlanken, blaugeäderten Hände des alten Mannes, die so behende und geschickt gewesen waren wie Vögel beim Nestbau.

Ein Absatz fiel ihm ins Auge. Er stand auf der Seite nach einer groben, handgezeichneten Karte, unter die der Doktor geschrieben hatte: Das Schlachtfeld von Nerulagh. Die Skizze selbst war von geringem Interesse, weil sich der alte Mann aus irgendeinem Grund nicht damit aufgehalten hatte, die Heere oder Landmarken zu bezeichnen oder eine erklärende Überschrift hinzuzufügen. Dafür erregte der darauffolgende Text Simons Aufmerksamkeit, weil er darin eine gewisse Antwort auf Gedanken fand, die ihn seit der schrecklichen Entdeckung des gestrigen Tages plagten.


»Weder Krieg noch gewaltsamer Tod«, hatte Morgenes geschrieben, »haben irgend etwas Erhebendes, und doch sind sie die Kerze, in welche die Menschheit immer wieder hineinfliegt, so ungerührt wie die niedere Motte. Wer je auf einem Schlachtfeld gewesen ist und sich von allgemein verbreiteten Vorstellungen nicht blenden läßt, wird bestätigen, daß die Menschheit auf solchem Boden eine Hölle auf Erden geschaffen hat, und zwar allein aus Ungeduld, anstatt auf die echte Hölle zu warten, wo, wenn denn die Priester recht haben, die meisten von uns am Ende ohnehin landen werden.

Und dennoch ist es das Feld des Krieges, das die Dinge festlegt, die Gott vergessen hat – ob zufällig oder nicht, welcher Sterbliche kann das wissen? –, zu ordnen und in die richtige Reihenfolge zu bringen. Darum ist es oft Schiedsrichter des Göttlichen Willens, und der gewaltsame Tod ist sein Gesetzesschreiber.«

Simon lächelte und trank noch etwas Wasser. Er erinnerte sich sehr gut an Morgenes' Angewohnheit, Dinge mit anderen Dingen zu vergleichen, so wie Menschen mit Käfern und den Tod mit einem runzligen, alten Archivpriester. Normalerweise hatte Simon diese Vergleiche nicht verstehen können, manchmal jedoch, wenn er sich anstrengte, den Drehungen und Windungen der Gedanken des alten Mannes zu folgen, war ihm plötzlich ein Sinn aufgegangen, als hätte man den Vorhang vor einem sonnigen Fenster fortgezogen.

»Johan Presbyter«, hatte der Doktor an anderer Stelle geschrieben, »war unzweifelhaft einer der größten Krieger seiner Zeit und wäre ohne diese Begabung nie zu seiner Endstellung als König aufgestiegen. Aber es waren nicht seine Schlachten, die ihn zu einem großen König machten, sondern der Gebrauch, den er von den Werkzeugen des Königtums machte, das ihm seine Kriegführung in die Hand legte, seine Staatskunst und das Beispiel, das er dem einfachen Volk gab.

Tatsächlich war das, was im Feld seine größte Stärke darstellte, als Hochkönig seine größte Schwäche. Im Getümmel der Schlacht war er ein furchtloser, lachender Totschläger, ein Mann, der das Leben aller, die sich gegen ihn stellten, mit der heiteren Freude eines Heckenbarons aus Utanyeat vernichtete, der mit seinem gefiederten Pfeil einen Hirsch erlegt.

Als König neigte er manchmal zu vorschnellem Handeln und Sorglosigkeit, und daran lag es auch, daß er die Schlacht im Elvritshalla-Tal um ein Haar verloren hätte und den guten Willen der besiegten Rimmersmänner wirklich verlor.«

Simon runzelte die Stirn, als er diesen Absatz mit dem Finger nachzog. Er konnte fühlen, wie Sonnenlicht durch die Bäume glitt und ihm den Nacken wärmte. Er wußte, daß er eigentlich den Wasserschlauch zu Binabik zurückbringen sollte … aber es war so lange her, daß er in Ruhe irgendwo allein gesessen hatte, und er war höchst neugierig und verwundert darüber, daß Morgenes anscheinend schlecht über den goldenen, unwiderstehlichen Priester Johan sprach, einen Mann, der in so vielen Liedern und Geschichten vorkam, daß einzig Usires Ädons Name auf der Welt noch bekannter war, und das keineswegs mit großem Vorsprung.

»Im Gegensatz dazu«, hieß es in dem Absatz weiter, »war der einzige Mann, der Johan im Felde gleichkam, sein gänzliches Widerspiel. Camaris-sá-Vinitta, letzter Prinz des königlichen Hauses von Nabban und Bruder des damaligen Herzogs, war ein Mensch, für den der Krieg nur eine von vielen Zerstreuungen des Fleisches bedeutete. Auf seinem Roß Atarin, das gewaltige Schwert Dorn in der Hand, war er wohl der tödlichste Mann unserer Welt – und doch fand er kein Vergnügen in der Schlacht, und seine große Gewandtheit bedeutete ihm nichts als eine Last, weil sein machtvoller Ruf viele gegen ihn führte, die eigentlich keinen Grund dazu gehabt hätten, so daß er töten mußte, wo er es gar nicht wollte.

Im Buch Ädon heißt es, daß, als die Priester von Yuvenis kamen, um den Heiligen Usires zu verhaften, er willig mit ihnen ging; aber als sie auch seine Jünger Sutrines und Granis mit sich nehmen wollten, duldete Usires Ädon es nicht und erschlug die Priester mit der Berührung seiner Hand. Er weinte, weil er sie getötet hatte und segnete ihre Leichname.

Genauso verhielt es sich, wenn ein so gotteslästerlicher Vergleich erlaubt ist, mit Camaris. Wenn irgendein Mensch an die furchtbare Macht und allumfassende Liebe heranreicht, die Mutter Kirche Usires zuschreibt, dann Camaris, ein Krieger, der tötete, ohne seine Feinde zu hassen, und dennoch der schrecklichste Kämpfer seiner Zeit war oder wahrscheinlich aller Zeiten…«

»Simon! Willst du bitte schnell kommen! Ich brauche Wasser, und zwar sofort!«

Der Ton in Binabiks Stimme, rauh vor Dringlichkeit, ließ Simon schuldbewußt aufspringen. Er rannte die Uferböschung hinauf nach dem Lager.

Aber Camaris war doch ein großer Kämpfer! Alle Lieder stellten ihn so dar, wie er herzlich lachte, als er den wilden Männern der Thrithinge die Köpfe abhieb. Shem hatte immer so etwas gesungen, wie ging es noch?

Nach rechts und nach links

setzt sein Schwert sie in Marsch,

er rief und er sang, und

sie zeigten den Arsch.

Camaris kam lachend,

Camaris kam kämpfend,

Camaris kam reitend

durch die Thrithinge-Schlacht…

Als er aus dem Gebüsch auftauchte, sah Simon im hellen Sonnenschein – wieso stand die Sonne nur so hoch am Himmel? –, daß Hengfisk wieder da war und sich mit Binabik über die liegende Gestalt von Bruder Langrian beugte.

»Hier, Binabik.« Simon reichte dem knienden Troll den Lederschlauch.

»Es war eine ganz schön lange Zeit, die du…«, begann Binabik, brach ab und schüttelte den Schlauch. »Halbvoll?« fragte er, und der Ausdruck seines Gesichts ließ Simon vor Scham erröten.

»Ich hatte gerade etwas getrunken, als du riefst«, versuchte er zu erklären. Hengfisk musterte ihn mit Reptilaugen und machte eine finstere Miene.

»Nun gut«, bemerkte Binabik und wandte sich wieder Langrian zu, der weit rosiger aussah, als Simon ihn im Gedächtnis hatte. »›Geklettert ist geklettert, abgestürzt ist abgestürzt.‹ Ich glaube, mit unserem Freund hier steht es besser.« Er hob den Schlauch und spritzte Langrian einige Tropfen Wasser in den Mund. Der bewußtlose Mönch hustete und spuckte einen Moment, dann bewegte sich seine Kehle krampfhaft, und er schluckte.

»Siehst du?« meinte Binabik stolz. »Es ist die Wunde auf dem Kopf, von der ich denke, daß ich…«

Noch ehe Binabik jedoch seine Erläuterung beenden konnte, flatterten Langrians Augen auf. Simon hörte, wie Hengfisk scharf den Atem einzog. Langrians Blick wanderte verschwommen über die über ihn geneigten Gesichter, dann fielen ihm die Lider von neuem zu.

»Mehr Wasser, Troll«, zischte Hengfisk.

»Was ich hier tue, ist das, was ich verstehe, Rimmersmann«, entgegnete Binabik mit eisiger Würde. »Du hast bereits deine Pflicht getan, als du ihn aus den Ruinen zogst. Jetzt tue ich die meine und brauche keine Ratschläge.« Während er sprach, tröpfelte der kleine Mann Wasser zwischen Langrians aufgesprungene Lippen. Bald schob sich die durstgeschwollene Zunge des Mönches aus seinem Mund wie ein Bär nach dem Winterschlaf. Binabik feuchtete sie aus dem Schlauch an, machte dann ein Tuch naß und legte es Langrian auf die Stirn, die mit bereits heilenden Schnittwunden übersät war.

Endlich schlug Langrian wieder die Augen auf und schien den Blick auf Hengfisk zu richten. Der Rimmersmann nahm Langrians Hand.

»He … Heng…«, krächzte Langrian. Hengfisk drückte ihm das feuchte Tuch auf die Haut.

»Sprich nicht, Langrian. Ruh dich aus!«

Langrians Augen wanderten langsam von Hengfisk zu Binabik und Simon, dann wieder zurück zu dem Mönch. »Andere …?« brachte er mühsam hervor.

»Ruh dich jetzt aus. Du mußt ruhen!«

»Endlich sind dieser Mann und ich uns in etwas einig.« Binabik lächelte seinen Patienten an. »Du solltest Schlaf haben.«

Langrian schien noch etwas sagen zu wollen, aber bevor er dazu kam, sanken seine Augenlider herunter, als folgten sie dem Rat, und er schlief ein.


Zwei Dinge geschahen an diesem Nachmittag. Das erste ereignete sich, während Simon, der Mönch und der Troll ein karges Mahl einnahmen. Weil Binabik Langrian nicht verlassen wollte, gab es kein frisches Wild; die drei begnügten sich mit getrocknetem Fleisch und dem Ertrag aus Simons und Hengfisks Sammelgängen, Beeren und ein paar grünlichen Nüssen.

Als sie so dasaßen, still vor sich hin kauend und jeder in seine eigenen, höchst unterschiedlichen Gedanken vertieft – Simons eine Mischung aus dem grausigen Traumrad und den triumphierenden Helden des Schlachtfeldes, Johan und Camaris –, starb plötzlich Bruder Dochais.

Eben noch hatte er still dagesessen, wach, wenn auch nicht essend – die Beeren, die ihm von Simon angeboten worden waren, hatte er verweigert und ihn statt dessen wie ein mißtrauisches Tier angestarrt –, und eine Sekunde später rollte er sich zur Seite, das Gesicht nach unten, zuerst unter Zittern, dann in heftigen Zuckungen. Als es den anderen gelang, ihn umzudrehen, hatte er die Augen verdreht, die gespenstisch weiß in seinem staubverschmierten Gesicht standen, und gleich darauf aufgehört zu atmen, obwohl sein Körper steif blieb wie ein Holzstock. So sehr ihn dieser Vorfall auch erschütterte, Simon war sicher, daß er unmittelbar vor dem letzten Aufbäumen gehört hatte, wie Dochais Sturmkönig flüsterte. Das Wort brannte ihm in den Ohren und quälte sein Herz, obwohl er nicht wußte, wieso – falls er das Wort nicht im Traum gehört hatte. Weder Binabik noch der Mönch sagten etwas dazu, aber Simon war sicher, daß sie es auch vernommen hatten.

Zu Simons Erstaunen weinte Hengfisk bitterlich über dem Leichnam; er selbst fühlte sich auf seltsame Weise fast erleichtert, ein sonderbares Gefühl, das er weder verstehen noch unterdrücken konnte. Binabik war undurchschaubar wie Stein.


Das zweite geschah ein paar Stunden später, als Binabik und Hengfisk sich zankten.

»… Und ich stimme dir zu, daß wir helfen werden, aber du sitzt auf der falschen Felskante, wenn du glaubst, mir Befehle erteilen zu können.« Binabik hielt seinen Zorn streng unter Kontrolle, aber seine Augen hatten sich zu schwarzen Schlitzen verengt.

»Aber du willst nur helfen, Dochais zu beerdigen! Willst du die anderen liegenlassen, den Wölfen zum Fraß?« Hengfisk hatte seinen Zorn ganz und gar nicht im Zaum, und seine Augen traten hervor und standen weitaufgerissen und stier in seinem rot angelaufenen Gesicht.

»Ich habe versucht, Dochais zu helfen«, erwiderte der Troll. »Es ist mir nicht gelungen. Wir werden ihn begraben, wenn das dein Wunsch ist. Aber es ist nicht meine Absicht, drei Tage damit zuzubringen, alle deine Brüder zu bestatten. Und es gibt Schlimmeres, zu dem sie dienen könnten, als ›Wolfsfraß‹ – und vielleicht haben sie es getan, als sie noch lebten, einige von ihnen!«

Hengfisk brauchte eine Weile, bis er aus Binabiks verschlungener Rede klug wurde, dann aber wurde seine Farbe, wenn das überhaupt möglich war, noch röter.

»Du … heidnisches Ungeheuer! Wie kannst du Übles über unbegrabene Tote sagen, du … Giftzwerg!«

Binabik lächelte, ein flaches, tödliches Lächeln. »Wenn dein Gott sie so liebt, dann hat er ihre … Seelen, ja? … in den Himmel hinaufgenommen, und das Herumliegen hier wird nur ihren sterblichen Hüllen schaden.«

Bevor ein weiteres Wort fallen konnte, wurden die beiden Kampfhähne durch ein tiefes Grollen Qantaqas aus ihrem Disput aufgeschreckt. Die Wölfin hatte auf der anderen Seite der Feuergrube neben Langrian ein Schläfchen gehalten. Was die Graue erschreckt hatte, zeigte sich gleich darauf.

Es war Langrian, der sprach.

»Jemand … jemand muß den Abt … warnen … Verrat!« Die Stimme des Mönches war ein heiseres Flüstern.

»Bruder!« rief Hengfisk und hinkte eilig zu ihm hinüber. »Spar deine Kraft!«

»Laß ihn reden«, widersprach Binabik. »Vielleicht rettet es uns das Leben, Rimmersmann.«

Bevor Hengfisk etwas erwidern konnte, schlug Langrian die Augen auf. Er starrte zuerst auf Hengfisk, dann auf seine Umgebung und schauderte schließlich, als fröstele ihn, obwohl er in einen dicken Mantel gehüllt war.

»Hengfisk…«, fragte er heiser, »die anderen … sind sie …?«

»Alle tot«, antwortete Binabik ohne Umschweife.

Der Rimmersmann warf ihm einen haßerfüllten Blick zu. »Usires hat sie wieder zu sich geholt, Langrian«, sagte er. »Nur du bist verschont worden.«

»Ich … habe es befürchtet…«

»Kannst du uns sagen, was geschehen ist?« Der Troll beugte sich vor und legte dem Mönch ein frisches feuchtes Tuch auf die Stirn. Simon erkannte zum ersten Mal, daß unter all dem Blut, den Narben und der Krankheit Bruder Langrian noch ganz jung war, kaum zwanzig Jahre alt. »Ermüde dich nicht zu sehr«, fügte Binabik hinzu, »aber sag uns, was du weißt.«

Langrian schloß die Augen, als schliefe er wieder ein, aber er sammelte nur seine Kräfte. »Es war … ungefähr ein Dutzend Männer … die zu uns kamen … eine Unterkunft wollten … von der Straße.« Er leckte sich die Lippen. Binabik brachte den Wasserschlauch. »Wir hatten viele … große Gesellschaften von Reisenden … in diesen Tagen. Wir gaben ihnen zu essen … und Bruder Scenesefa Quartier … in der Halle für Reisende.«

Während er trank und sprach, schien der Mönch langsam kräftiger zu werden. »Sonderbare Leute waren das … kamen abends nicht in die Große Halle … nur ihr Anführer … ein Mann mit fahlen Augen … Er trug einen unheimlichen Helm … und eine dunkle Rüstung … und er fragte … er fragte, ob wir von einer Gruppe von Rimmersmännern gehört hätten … , die auf dem Weg nach Norden wären … von Erchester…«

»Rimmersmänner?« fragte Hengfisk und runzelte die Stirn.

Erchester? dachte Simon und zermarterte sich das Hirn. Wer konnte das sein?

»Abt Quincines erklärte dem Mann, wir wüßten von keiner solchen Gruppe … , und er schien … zufrieden. Der Abt sah beunruhigt aus … aber natürlich teilte er seine Sorgen nicht … mit uns jüngeren Brüdern…

Am nächsten Morgen kam einer der Brüder von den Bergfeldern herunter … er meldete einen Reitertrupp von Süden … Die Fremden schienen sehr interessiert … sagten, es wäre der Rest … ihrer ursprünglichen Reisegesellschaft … der ihnen entgegenkäme. Ihr Anführer … der mit den blassen Augen … führte seine Männer in den großen Hof, um die Neuankömmlinge zu begrüßen – wenigstens dachten wir das…

Gerade als der neue Trupp oben auf dem Rebenhügel angekommen war … und man sie von der Abtei aus sehen konnte … es schien, als zählten sie … nur ein paar Köpfe weniger als unsere schon eingetroffenen Gäste…«

An dieser Stelle mußte Langrian sich einen Augenblick ausruhen. Er keuchte ein wenig. Binabik wollte ihm ein Schlafmittel geben, aber der verletzte Mönch winkte ab.

»Nein … laß … es ist … nicht viel … mehr zu erzählen. Einer der anderen Brüder … sah einen der Gäste … verspätet … aus der Halle für Reisende herausrennen. Er hatte seinen Mantel … noch nicht richtig geschlossen … Sie trugen alle Mäntel, obwohl es ein warmer Morgen war, und darunter blitzte eine Schwertklinge. Der Bruder rannte zum Abt, der etwas Derartiges schon befürchtet hatte. Quincines ging hin und stellte den Anführer zur Rede. Inzwischen konnten wir die Männer den Hügel herunterreiten sehen … es waren alles Rimmersmänner, mit Bärten und Zöpfen. Der Abt sagte dem Anführer, er und seine Männer sollten sich zurückhalten … Sankt Hoderund sei kein Ort für einen Kampf zwischen Räuberbanden. Der Anführer zog sein Schwert … und setzte es Quincines an den Hals.«

»Barmherziger Ädon«, hauchte Hengfisk.

»Gleich darauf hörten wir Hufschlag. Auf einmal rannte Bruder Scenesefa ans Hoftor und rief den herankommenden Fremden eine Warnung zu. Einer der … ›Gäste‹… schoß ihm einen Pfeil in den Rücken, und der Anführer … schnitt unserem Abt die Kehle durch.«

Hengfisk erstickte ein Schluchzen und schlug das Zeichen des Baumes über seinem Herzen, aber Langrians Gesicht war feierlich und verriet keine Empfindungen. Ohne innezuhalten, fuhr er in seiner Erzählung fort.

»Dann gab es ein Gemetzel. Die Fremden stürzten mit Messern und Schwertern auf die Brüder los oder zogen aus Verstecken Bogen und Pfeile hervor. Als die Neuankömmlinge durch das Tor ritten, hatten auch sie die Schwerter gezückt … sie hatten wohl Scenesefas Warnung gehört und gesehen, wie er im Torbogen niedergeschossen wurde.

Ich weiß nicht, was dann geschah … der Wahnsinn herrschte. Einer warf eine Fackel auf das Kapellendach, und es fing Feuer. Ich rannte nach Wasser … die Menschen schrien, und die Pferde schrien und … etwas traf mich am Kopf. Das ist alles.«

»Also weißt du nicht, wer zu diesen beiden kämpfenden Gruppen gehörte?« wollte Binabik wissen. »Kämpften sie gegeneinander, oder waren sie Verbündete?«

Langrian nickte ernst. »Gegeneinander. Die im Hinterhalt hatten weit größere Schwierigkeiten mit ihnen als mit uns unbewaffneten Mönchen. Das ist alles, was ich sagen kann – alles, was ich weiß.«

»Verbrennen sollen sie!« zischte Bruder Hengfisk.

»Das werden sie.« Bruder Langrian seufzte. »Ich glaube, ich muß jetzt wieder schlafen.« Er schloß die Augen, aber sein Atem veränderte sich nicht.

Binabik richtete sich auf. »Ich denke, ich werde ein kleines Stück zu Fuß gehen«, erklärte er. Simon nickte. »Ninit, Qantaqa«, rief er, und die Wölfin sprang auf, streckte sich und folgte ihm. Gleich darauf war er im Wald verschwunden und ließ Simon mit den drei Mönchen zurück, von denen zwei lebten und einer tot war.


Die Trauerfeier für Dochais war kurz und knapp. Hengfisk hatte in den Ruinen der Abtei ein Leichentuch gefunden. Sie wickelten es um Dochais' mageren Körper und ließen ihn in ein Loch hinunter, das die drei Gesunden auf dem Friedhof des Klosters gegraben hatten, während Langrian, von Qantaqa bewacht, im Wald schlief. Das Graben war harte Arbeit gewesen, denn das Feuer in der großen Scheune hatte die Holzgriffe der Schaufeln verzehrt und nur die Metallteile übriggelassen, die man nun mit der Hand führen mußte – eine mühsame, schweißtreibende Beschäftigung. Als Bruder Hengfisk seine leidenschaftlichen Gebete, gepaart mit Verheißungen göttlicher Gerechtigkeit, beendet hatte – wobei er in seinem heiligen Eifer anscheinend vergaß, daß Dochais zu der Zeit, als die Mörder ihr Werk verrichteten, weit von der Abtei entfernt gewesen war –, hatte sich die Sonne bis auf einen hellen Streifen über dem Kamm des Rebenhügels, verabschiedet, und das Gras des Kirchhofs war dunkel und kühl. Binabik und Simon ließen Hengfisk zurück, der, die Glotzaugen im Gebet fest zugekniffen, am Grab kauerte, und machten sich daran, das Abteigelände auf Brauchbares zu untersuchen und zu erkunden.

Obwohl der Troll sorgfältig darauf achtete, den Schauplatz der Tragödie so weit wie möglich zu umgehen, waren die Zeugen doch so verstreut, daß Simon schon bald zu wünschen begann, er wäre ins Lager zurückgekehrt, um dort mit Langrian und Qantaqa zu warten. Ein zweiter heißer Tag hatte nicht dazu beigetragen, den Zustand der Leichen zu mildern: In ihrer aufgeblähten, geschwollenen Rosigkeit stellte Simon eine unangenehme Ähnlichkeit mit dem gebratenen Schwein fest, das zu Hause am Liebfrauentag die Tafel gekrönt hatte. Ein Teil von ihm verachtete diese Schwäche – hatte er nicht in wenigen kurzen Wochen schon gewaltsamen Tod genug gesehen, ein ganzes Schlachtfeld voll? Aber während er weiterging und dabei versuchte, die Augen geradeaus zu richten und den Anblick anderer Augen, glasig und rissig von der Sonne, zu vermeiden, begriff er, daß zumindest für ihn niemals ein Tod dem anderen gleichen würde, auch wenn er ein noch so erfahrener Beobachter werden sollte. Jeder einzelne dieser zerstörten Säcke aus Knochen und Bries war einmal ein Leben gewesen, ein klopfendes Herz, eine Stimme, die klagte oder lachte oder sang.

Eines Tages wird es mir auch so gehen, dachte er, als sie sich einen Weg um die Seite der Kapelle herum suchten, und wer wird sich dann an mich erinnern? Simon konnte keine schnelle Antwort darauf finden, und der Anblick des kleinen Feldes von Grabzeichen, deren Säuberlichkeit die überall umherliegenden Leiber erschlagener Mönche so grausam verhöhnten, bot ihm wenig Trost.

Binabik hatte die verkohlten Überreste der Seitentür der Kapelle gefunden. Stücke unversehrten Holzes schimmerten durch die kohlschwarze Oberfläche wie Streifen frischgeputzten Messings auf einer alten Lampe. Der Troll stocherte an der Tür herum und klopfte verbrannte Bruchstücke herunter, aber der Bau selbst hielt. Er stieß kräftiger mit dem Stock dagegen, aber die Tür blieb geschlossen – ein Posten, der auf seiner Wache gestorben war.

»Gut«, meinte Binabik. »Das deutet darauf hin, daß wir uns hineinwagen können, ohne daß uns der ganze Bau über dem Kopf einstürzt.« Er nahm seinen Stab und steckte ihn in einen Spalt zwischen Tür und Rahmen. Dann benutzte er ihn als Brecheisen, bis mit etwas Nachhilfe von Simon die Tür in einem schwarzen Staubregen aufsprang.

Nachdem sie sich so abgemüht hatten, um Einlaß zu erlangen, kam es ihnen in der Tat komisch vor, als sie eintraten und sahen, daß das Dach verschwunden war und die Kapelle der Luft so offenstand wie eine Truhe ohne Deckel. Simon schaute auf und sah über sich eingerahmt den Himmel, der sich mit dem hereinbrechenden Abend unten rot und oben grau färbte. In der Wand waren die Fenster in ihren Rahmen oben schwarz geworden, und das Bleigitterwerk hatte sich herausgedreht, so daß es sein rußiges Glas verschüttete, als habe eine Riesenhand das Dach abgerissen, durch die Balken nach unten gegriffen und dann mit ungeheuren Fingern jedes Fenster einzeln durchstoßen.

Ein schneller Überblick ergab nichts Nützliches. Die Kapelle war, vielleicht wegen ihrer reichen Vorhänge und Wandteppiche, bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Zerfallene Aschenskulpturen von Bänken, Treppen und Altar standen noch an Ort und Stelle, und die steinernen Altarstufen trugen den Geist eines Blumenkranzes, eine vollkommene, unfaßlich zarte Krone aus papierdünnen Blättern und durchscheinenden, grauen Aschenblumen.

Als nächstes überquerten Simon und Binabik den Klosteranger hinüber nach dem Wohnhaus, einem langen, niedrigen Saal mit winzigen Zellen. Hier hielt sich der Schaden in Grenzen – das eine Ende hatte Feuer gefangen, war aber aus irgendeinem Grunde ausgebrannt, bevor sich die Flammen weiter ausbreiten konnten.

»Blick dich vor allem nach Stiefeln um«, sagte Binabik. »Zwar trugen diese Klostermänner meist Sandalen, aber vielleicht mußten einige von ihnen gelegentlich bei kaltem Wetter reiten oder reisen. Am besten sind solche, die passen, aber im Notfall entscheide dich lieber für zu große als für zu kleine.«

Sie begannen an entgegengesetzten Enden der langen Halle. Die Türen waren sämtlich unverschlossen, aber die kleinen Räume betrüblich kahl, in vielen als einziger Schmuck ein Baum an der Wand. Ein Mönch hatte einen blühenden Ebereschenzweig über seinem harten Lager befestigt; seine Fröhlichkeit in solch karger Umgebung heiterte Simon auf, bis ihm das Schicksal des Bewohners dieser Zelle wieder einfiel.

Im sechsten oder siebten Raum erschrak Simon, denn als er die Zellentür aufzog, ertönte ein zischendes Geräusch, und ein Schatten sauste an seinem Knöchel vorbei. Zuerst dachte er, jemand hätte einen Pfeil auf ihn abgeschossen, aber ein Blick in die winzige leere Zelle bewies die Unmöglichkeit dieses Gedankens. Gleich darauf begriff er, was es gewesen war, und verzog den Mund zu einem halben Lächeln. Einer der Mönche hatte, zweifellos ganz und gar in Widerspruch zu den Klosterregeln, ein Haustier gehalten – eine Katze, so wie die kleine Ratzenkatze, mit der Simon sich auf dem Hochhorst angefreundet hatte. Nach zwei Tagen, die sie, eingesperrt in der Zelle, auf ihren Herrn gewartet hatte, der nie wiederkommen würde, war sie hungrig, erbost und verängstigt gewesen. Simon ging die Halle hinunter, um sie zu suchen, aber das Tier war verschwunden.

Binabik hörte ihn herumpoltern. »Ist alles in Ordnung, Simon?« rief er unsichtbar aus einer der anderen Zellen.

»Ja!« schrie Simon zurück. Das Licht in den winzigen Fenstern über seinem Kopf war bereits ganz grau. Er überlegte, ob er zur Tür gehen und Binabik unterwegs mitnehmen oder zurücklaufen und weitersuchen sollte. Wenigstens wollte er die Zelle des Mönches mit der eingeschmuggelten Katze noch untersuchen. Wenige Augenblicke später wurde Simon an die Schwierigkeiten erinnert, die entstehen, wenn man Tiere zu lange einsperrt. Er mußte sich die Nase zuhalten, während er sich hastig in der Zelle umschaute. Da sah er ein Buch. Es war klein, aber hübsch in Leder gebunden. Auf Zehenspitzen bewegte er sich über den verdächtigen Fußboden, nahm es von einem Haken über dem niedrigen Bett und stelzte wieder hinaus.

Gerade hatte er sich in die nächste Zelle gesetzt, um seine Beute anzuschauen, als Binabik in der Tür erschien.

»Ich hatte wenig Glück. Und du?« fragte der Troll.

»Keine Stiefel.«

»Nun, es wird schnell Abend. Ich glaube, ich sollte mich noch einmal in der Halle für Reisende umsehen, wo die mörderischen Fremden geschlafen haben. Vielleicht findet sich dort ein Gegenstand, der uns etwas erzählt. Warte hier auf mich, hmmm?«

Simon nickte, und Binabik ging.

Das Buch war, wie Simon vermutet hatte, ein Buch Ädon, wenngleich es für einen armen Mönch sehr kostbar und fein gearbeitet war; Simon hielt es für das Geschenk eines wohlhabenden Verwandten. Der Band selbst enthielt nichts Besonderes – obwohl die Illuminationen ungewöhnlich hübsch waren, soweit Simon das im schwindenden Licht erkennen konnte –, mit einer Ausnahme, die seine Aufmerksamkeit erregte. Auf der ersten Seite, auf die viele Leute ihren Namen oder, falls das Buch als Geschenk gedacht war, ein Grußwort zu setzen pflegten, stand ein Satz, sorgfältig, aber mit zittriger Hand geschrieben:

Ein güldener Dolch durchbohrt mein Herz;

das ist Gott.

Gottes Herz durchbohrt eine güldene Nadel;

das bin ich.

Simon saß da und betrachtete diese Worte, und seine gerade erst neu gewonnene Entschlußkraft wurde auf eine harte Probe gestellt. Er fühlte eine Woge, die ihn fortschwemmte, eine alles niederreißende Flutwelle von Reue und Furcht und ein Gefühl von Dingen, die er nicht sah und die ihm doch davonglitten und ihm dabei das Herz brachen. Mitten in seinem mit weit offenen Augen geträumten Traum steckte Binabik den Kopf durch die Tür und warf ihm mit dumpfem Aufprall ein paar Stiefel vor die Füße. Simon schaute nicht auf.

»Viele interessante Dinge finden sich dort in der Halle für Reisende, nicht das geringste davon deine neuen Stiefel. Aber das Dunkel kommt, und ich kann nur noch einen Augenblick verweilen. Triff mich vor dieser Halle hier, bald.« Und fort war er wieder.

Lange, schweigende Minuten vergingen, nachdem der Troll sich entfernt hatte. Simon legte das Buch hin – er hatte es eigentlich mitnehmen wollen, aber seine Meinung wieder geändert – und versuchte die Stiefel anzuziehen. Bei anderer Gelegenheit hätte er sich gefreut, wie gut sie paßten, jetzt aber ließ er lediglich seine zerfetzten Schuhe auf dem Boden liegen und ging die Halle hinunter zur Vordertür.

Das gedämpfte Licht des Abends hatte sich niedergesenkt. Auf der anderen Seite des Angers stand die Halle für Reisende, der Zwilling des Gebäudes, das er gerade verlassen hatte. Aus irgendeinem Grunde erfüllte ihn der Anblick der gegenüberliegenden Tür, die träge hin- und herschwang, mit unbestimmter Furcht. Wo war der Troll?

Gerade als ihm das schwingende Tor zur Koppel einfiel, das das erste Anzeichen dafür gewesen war, daß in der Abtei nicht alles zum Besten stand, packte ihn zu seinem Entsetzen eine grobe Hand an der Schulter und zerrte ihn rückwärts.

»Binabik!« konnte er eben noch rufen, dann legte sich eine dicke Handfläche auf seinen Mund, und er wurde an einen felsharten Körper gepreßt.

»Vawer es do kunde?« grollte eine Stimme an seinem Ohr in den steinernen Lauten von Rimmersgard.

»Im todsten-grukker!« höhnte eine andere.

In blinder Panik öffnete Simon hinter der verdeckenden Hand die Lippen und biß zu. Ein schmerzliches Grunzen, und eine Sekunde lang war sein Mund frei.

»Hilfe! Binabik!« kreischte er, dann legte sich die Hand, diesmal mit schmerzhaftem Druck, wieder auf ihn, und gleich danach spürte er einen schwarzen Schlag hinter dem Ohr.

Er konnte das Echo seines Aufschreis noch verhallen hören, als die Welt vor seinen Augen zu Wasser wurde. Die Tür der Halle für Reisende schwang im Wind hin und her, und Binabik kam nicht.

XXI Schwacher Trost

Herzog Isgrimnur von Elvritshalla hatte ein wenig zu stark auf die Klinge gedrückt. Das Messer sprang vom Holz ab und traf ihn in den Daumen. Gerade unter dem Knöchel lief ein plötzlicher Streifen Blut. Isgrimnur stieß einen wilden Fluch aus, ließ das Stück Herzholz zu Boden fallen und steckte den Daumen in den Mund.

Frekke hat recht, dachte er, zum Teufel mit ihm. Ich lerne das nie. Ich weiß noch nicht einmal, warum ich es versuche.

Er wußte es natürlich doch; er hatte den alten Frekke überredet, ihm die Anfangsgründe des Schnitzens beizubringen, solange er auf dem Hochhorst so gut wie gefangen saß. Alles, so hatte er sich überlegt, war besser, als durch die Gänge und über die Zinnen der Burg zu schleichen wie ein in Ketten gelegter Bär.

Der alte Soldat, schon unter Isbeorn, dem Vater des Herzogs, im Dienst, hatte Isgrimnur geduldig gezeigt, wie man das Holz aussuchte, den natürlichen Geist ausspähte, der darin saß, und wie man ihn, Span um Span, aus der Maserung befreite, die ihn gefangenhielt. Wenn Isgrimnur Frekke bei seiner Beschäftigung zusah – die Augen fast geschlossen, die narbigen Lippen zu einem unbewußten Lächeln verzogen –, dann waren ihm die Dämonen und Fische und munteren Tiere, die unter Frekkes Messer lebendig wurden, als unvermeidliche Antworten auf die Fragen der Welt erschienen, wahllose, wirre Fragen in Gestalt eines Baumastes, eines Felsens oder der Willkürlichkeit von Regenwolken.

An seinem verletzten Daumen lutschend, spielte der Herzog unordentlich mit solchen Gedanken herum, denn trotz aller Behauptungen Frekkes fand es Isgrimnur verdammt hart, beim Schnitzen überhaupt an etwas anderes zu denken: Messer und Welt schienen einander feindlich gegenüberzustehen, in einem Schlachtgetümmel, das jeden Augenblick seiner Wachsamkeit entgleiten und zur Tragödie werden konnte.

So wie jetzt, dachte er, sog und schmeckte Blut.

Isgrimnur schob das Messer in die Scheide und stand auf. Ringsum waren seine Männer fleißig bei der Arbeit, nahmen ein paar Kaninchen aus, versorgten das Feuer, bereiteten das Lager für den Abend. Er ging auf das lodernde Feuer zu, drehte sich um und blieb so stehen, die breite Kehrseite den Flammen zugewendet. Seine früheren Gedanken an Gewitterregen kamen ihm wieder in den Sinn, als er zu dem rasch grauer werdenden Himmel aufblickte.

Da haben wir nun Maia-Monat, und wir hocken hier, keine zwanzig Meilen nördlich von Erchester … und woher ist vorhin dieser Wolkenbruch gekommen?

Um diese Zeit, vor etwa drei Stunden, waren Isgrimnur und seine Schar den Räubern, die sie in der Abtei überfallen hatten, hart auf den Fersen gewesen. Der Herzog hatte noch immer keine Ahnung, wer die Männer gewesen waren – einige davon Landsleute, aber kein vertrautes Gesicht – oder warum sie so gehandelt hatten. Anführer war ein Mann mit einem Helm in der Form eines knurrenden Hundegesichts gewesen, aber Isgrimnur hatte nie von einem solchen Wappenzeichen gehört. Er wäre vielleicht gar nicht mehr am Leben, um darüber nachzugrübeln, wenn nicht der schwarzgekleidete Mönch von Sankt Hoderunds Tor eine Warnung geschrien hätte, der gleich darauf mit einem Pfeil zwischen den Schulterblättern hingestürzt war. Es hatte einen verbissenen Kampf gegeben, aber der Tod des Mönches – mochte Gott ihm gnädig sein, wer immer er gewesen war – hatte sie aufmerksam gemacht, und die Männer des Herzogs waren auf den Angriff vorbereitet gewesen. Beim ersten Ansturm hatten sie nur den jungen Hove verloren; Einskaldir war verwundet worden, hatte aber dennoch seinen Mann getötet und einen zweiten dazu. Der Feind war nicht auf einen ehrlichen Kampf aus gewesen, dachte Isgrimnur säuerlich; angesichts Isgrimnurs und seiner Leibwache, alles Kämpfer, die nach Monaten in der Burg nur zu begierig waren, wieder einmal loszuschlagen, waren die Gegner, die sie aus dem Hinterhalt niedermetzeln wollten, über den Klosteranger zu den Ställen geflohen, wo ihre gesattelten Pferde offenbar schon auf sie warteten.

Nach kurzer Untersuchung, bei der die Rimmersmänner keinen der Mönche mehr am Leben oder fähig, ihnen zu berichten, gefunden hatten, waren sie wieder in den Sattel gestiegen und den anderen gefolgt. Es wäre vielleicht eine bessere Politik gewesen, zu bleiben und Hove und die Hoderundianer zu begraben, aber Isgrimnurs Blut kochte. Er wollte wissen, wer ihnen nach dem Leben trachtete, und er wollte wissen, warum.

Aber es sollte nicht sein. Die Räuber waren den Rimmersmännern gute zehn Minuten voraus und ihre Pferde frisch. Die Männer des Herzogs hatten sie nur einmal zu Gesicht bekommen, einen fließenden Schatten, der sich vom Rebenhügel in die Ebene hinunterzog und durch die flachen Hügel auf die Weldhelm-Straße zubewegte. Der Anblick hatte Isgrimnurs Truppen neu belebt, und sie hatten die Pferde den Hang hinab- und in die Täler der Vorberge des Weldhelms gespornt. Ihre Reittiere schienen von der Erregung angesteckt und griffen auf letzte Kraftreserven zurück; eine kleine Weile hatte es ausgesehen, als könnten sie die Wegelagerer einholen und von hinten über sie kommen wie eine rächende Wolke, die über die Ebene zieht.

Statt dessen hatte sich etwas Seltsames ereignet. Eben noch waren sie bei Sonnenschein dahingaloppiert, als sich auf einmal die Welt merklich verdunkelte. Als sich daran nichts änderte und eine halbe Meile weiter die Hügel ringsum immer noch leblos und grau waren, hatte Isgrimnur nach oben geblickt und über sich am Himmel einen Knoten stahlgrauer, wirbelnder Wolken gesehen, eine Schattenfaust vor der Sonne. Ein unbestimmtes, grollendes Krachen, und plötzlich schüttete der Himmel Regen über sie aus – zuerst plätschernd, dann in Sturzbächen.

»Woher kam das?« hatte Einskaldir zu ihm herübergerufen; zwischen ihnen hatte sich ein Vorhang aus zischendem Nebel gebildet. Isgrimnur wußte es nicht, war jedoch äußerst beunruhigt – noch nie hatte er an einem so verhältnismäßig klaren Himmel derart schnell ein Gewitter heraufziehen sehen. Als einen Augenblick später ein Pferd auf dem nassen, verfilzten Gras ausgerutscht und gestolpert war und seinen Reiter abgeworfen hatte – der, Ädon sei Dank, ohne Schaden zu nehmen gelandet war –, hatte Isgrimnur die Stimme erhoben und seinen Männern zugebrüllt, haltzumachen.

So kam es, daß sie sich entschlossen hatten, ihr Lager an dieser Stelle aufzuschlagen, nur etwa eine Meile von der Weidhelm-Straße entfernt. Der Herzog hatte kurz erwogen, zur Abtei zurückzureiten, aber Menschen und Pferde waren müde, und das Feuer, das bei ihrem Fortreiten aus den Hauptgebäuden gelodert hatte, ließ vermuten, daß nicht mehr viel dasein würde, zu dem man zurückkehren konnte. Nur der verwundete Einskaldir, der – was Isgrimnur freilich besser wußte – manchmal keinerlei Gefühle außer einer allumfassenden Wildheit zu besitzen schien, war noch einmal losgeritten, um Hoves Leichnam zu holen und alles von dort mitzubringen, was einen Hinweis auf die Identität oder die Beweggründe der Angreifer geben konnte. Der Herzog, der Einskaldir und seine Art kannte, hatte rasch eingewilligt und nur verlangt, daß er Sludig mitnehmen müsse, der nicht ganz so ein Feuerkopf war. Sludig war ein ausgezeichneter Kämpfer, schätzte aber trotzdem die eigene Haut hoch genug ein, um ein Gegengewicht zu dem leicht entflammbaren Einskaldir zu bilden.

Und hier stehe ich nun, dachte Isgrimnur müde und angewidert, und röste mir den Arsch am Lagerfeuer, während die jungen Kerle die Arbeit tun. Verflucht sei das Alter, verflucht mein schmerzender Rücken, verflucht Elias, verflucht diese elenden Zeiten! Er sah auf die Erde hinunter, bückte sich und hob das Stück Holz wieder auf, das dort lag und von dem er gehofft hatte, irgendein Wunder würde ihm helfen, es in einem Baum zu verwandeln, den seine Frau Gutrun auf der Brust tragen könnte, wenn er zu ihr zurückkehrte. Und verflucht sei das Schnitzen! Er übergab das Holzstück den Flammen.


Isgrimnur war gerade dabei, Kaninchenknochen ins Feuer zu werfen – er fühlte sich jetzt ein wenig besser, weil er gegessen hatte –, als plötzlich Hufschläge herandonnerten. Der Herzog ließ die Hände sinken, um sich das Fett am Kittel abzuwischen, und seine Lehnsmänner taten das gleiche, denn eine schlüpfrige Hand an der Axt oder am Schwert war gefährlich. Es klang nach einer ganz kleinen Reiterschar, höchstens zwei oder drei, aber trotzdem entspannte sich keiner der Männer, bevor Einskaldir und sein weißes Roß klar aus der Dämmerung hervortraten. Sludig ritt gleich hinterher und führte ein drittes Pferd, über dessen Sattelknopf etwas hing … zwei Körper.

Zwei Körper, aber, wie Einskaldir auf seine knappe Art erklärte, nur eine Leiche.

»Ein Junge«, grunzte Einskaldir, dessen dunkler Bart bereits von Kaninchenfett glänzte. »Fand ihn beim Herumschnüffeln. Dachte, wir sollten ihn mitbringen.«

»Warum?« brummte Isgrimnur. »Sieht nach nichts anderem als einem Leichenfledderer aus.«

Einskaldir zuckte die Achseln. Sein Begleiter, der blondhaarige Sludig, grinste: Seine Idee war es nicht gewesen.

»Keine Häuser in der Nähe. In der Abtei haben wir keinen Jungen gesehen. Woher ist er gekommen?« Einskaldir schnitt sich mit dem Messer ein weiteres Stück ab. »Als wir ihn packten, schrie er nach jemandem. Klang wie ›Bennah‹ oder ›Binnock‹, kann's nicht genau sagen.«

Isgrimnur wandte sich ab, um einen kurzen Blick auf Hoves Leichnam zu werfen, den man auf einen Mantel gebettet hatte. Er war ein Verwandter gewesen, Vetter der Frau seines Sohnes Isorn – kein naher Verwandter, aber nach den Bräuchen des kalten Nordens nahe genug für Isgrimnur, um einen schmerzhaften Stich von Reue zu empfinden, als er auf das schneeblasse Gesicht des jungen Mannes mit dem dünnen gelben Bart starrte.

Dann drehte er sich zu dem Gefangenen um, der noch immer an den Händen gefesselt war. Man hatte ihn vom Pferd gehoben und an einen Felsen gesetzt. Der Junge zählte nur ein paar Jahre weniger als Hove. Er war mager, aber drahtig, und der Anblick seines sommersprossigen Gesichtes und des rötlichen Haarschopfes weckten in Isgrimnur eine schwache Erinnerung. Aber es wollte ihm nichts dazu einfallen. Der Junge war von dem Hieb, den Einskaldir ihm gegeben hatte, noch immer betäubt. Er hatte die Augen geschlossen, der Mund hing schlaff.

Sieht aus wie jeder arme Bauerntölpel, dachte der Herzog, außer den Stiefeln – und ich wette, die hat er in der Abtei gefunden. Warum im Namen von Memurs Quell hat Einskaldir ihn hergeschleppt? Was soll ich mit ihm anfangen? Ihn töten? Ihn behalten? Ihn hierlassen, damit er verhungert?

»Wir wollen Steine suchen gehen«, sagte der Herzog endlich. »Hove wird einen Hügel brauchen – die Gegend sieht mir nach Wölfen aus.«


Es war Nacht geworden; die Felsgruppen, die über die verlassene Ebene am Fuß des Weidhelms verstreut lagen, bildeten nur Klumpen dichteren Schattens. Man hatte das Feuer hoch aufgeschürt, und die Männer lauschten Sludig, der ein unanständiges Lied sang. Isgrimnur wußte nur zu gut, warum Männer, deren Blut geflossen war und die einen der Ihren verloren hatten – Hoves unauffälliger Steinhaufen war einer der Schattenklumpen jenseits des Feuerscheines –, den Drang fühlten, sich auf so törichte Weise zu belustigen. Wie er selbst vor Monaten gesagt hatte, als er König Elias an seiner Tafel gegenüberstand, lagen Gerüchte in der Luft, die den Menschen angst machten. Hier auf der offenen Ebene, mehr erdrückt als beschützt von den düster aufragenden Bergen, ließen sich Dinge, die man sich auf dem Hochhorst oder in Erchester als Geschichten von Reisenden, als Geistermärchen zur Belebung eines langweiligen Abends anhörte, nicht ohne weiteres mit einer lachenden Bemerkung abtun. Darum sangen die Männer, und ihre Stimmen erzeugten einen unmelodischen, aber sehr menschlichen Lärm in der Wildnis der Nacht.

Und einmal ganz abgesehen von irgendwelchen Geistergeschichten, wir sind heute angegriffen worden, dachte Isgrimnur, und ich weiß einfach keinen Grund dafür. Sie haben auf uns gewartet. Was im Namen des süßen Usires hat das zu bedeuten?

Es war möglich, daß die Räuber einfach auf die nächste Gruppe von Reisenden gewartet hatten, die in der Abtei abstieg – aber warum? Wenn sie nur auf Raub und Beute aus waren, wieso plünderten sie dann nicht die Abtei selbst, in der es bestimmt zumindest ein paar schöne Reliquienkästchen gab? Und warum warteten sie ausgerechnet in einem Kloster auf zufällig des Weges Kommende, an einem Ort, an dem es naturgemäß für jede Art von Diebstahl und Raub Zeugen geben mußte?

Nicht daß noch viele Zeugen übrig sind, verdammte Kerle. Einer vielleicht, wenn sich herausstellt, daß dieser Junge etwas gesehen hat.

Es ergab einfach keinen Sinn. Warten und dann eine Schar Reisender zu überfallen, die sich selbst in diesen unsicheren Zeiten durchaus als Wachen des Königs entpuppen konnten – und sich ja wirklich als bewaffnete, kampferprobte Nordmänner erwiesen hatten …

Also mußte man die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß man es tatsächlich auf ihn und seine Männer abgesehen hatte. Aber warum? Und ebenso wichtig: wer? Isgrimnurs Feinde, allen voran Skali von Kaldskryke, waren ihm wohlbekannt, und keiner der Räuber war als einer von Skalis Männern erkannt worden. Außerdem war Skali längst wieder in Kaldskryke; wie hätte er erfahren sollen, daß Isgrimnur das faule Leben so tödlich satt gehabt und um die Sicherheit seines Herzogtums gefürchtet hatte, daß er sich endlich doch aufgerafft hatte, Elias gegenüberzutreten, um nach einem Wortwechsel die – wenn auch widerwillige – königliche Erlaubnis von ihm zu erhalten, seine Männer nach Norden zu führen?

»Wir brauchen dich hier, Onkel«, hat er zu mir gesagt. Er wußte, daß ich das schon längst nicht mehr glaubte. Wollte mich nur im Auge behalten, nehme ich an.

Trotzdem hatte Elias bei weitem nicht so heftigen Widerstand geleistet, wie der Herzog befürchtet hatte; der Wortwechsel war ihm als bloße Formsache erschienen, als hätte der junge König vorher gewußt, daß es zu dieser Auseinandersetzung kommen würde, und sich bereits entschieden nachzugeben.

Zornig über seine Gedanken, die sich ständig im Kreise drehten, wollte Isgrimnur gerade aufstehen und zu seinen Schlafdecken gehen, als Frekke zu ihm trat. Das Feuer im Rücken des alten Soldaten verwandelte ihn in einen hageren, schwankenden Schatten. »Einen Augenblick, herzogliche Gnaden?«

Isgrimnur unterdrückte ein Grinsen. Der alte Bastard mußte betrunken sein. So förmlich drückte er sich nur aus, wenn er einen in der Krone hatte.

»Ja?«

»Es ist der Junge, Gebieter, den Einskaldir mitgebracht hat. Er ist wach. Dachte, vielleicht wollten Euer Gnaden ein wenig mit ihm plaudern.« Er torkelte leicht, machte aber schnell eine Gebärde daraus, als wollte er sich die Hosen hochziehen.

»Na ja, vielleicht sollte ich das.« Der Wind wehte stärker. Isgrimnur zog sein Wams enger um sich und wollte sich eben umdrehen, als er noch einmal innehielt. »Frekke?«

»Herzogliche Gnaden.«

»Hab die verdammte Schnitzerei ins Feuer geworfen.«

»Das hab ich mir gedacht, Gebieter.«

Als Frekke auf dem Absatz kehrt machte, um sich zu seinem Bierkrug zurückzuverfügen, war Isgrimnur sicher, daß der alte Mann ein ganz kleines Lächeln auf den Lippen hatte.

Ach was, verdammt sollte er sein, er und sein Holz.


Der Junge hatte sich aufgesetzt und nagte das Fleisch von einem Knochen. Neben ihm auf einem Felsblock hockte Einskaldir und machte einen täuschend entspannten Eindruck – Isgrimnur hatte noch nie gesehen, daß der Mann sich wirklich entspannte. Der Feuerschein reichte nicht bis zu Einskaldirs tiefliegendem Blick, aber als der Junge aufschaute, war er großäugig wie ein am Waldteich überraschter Hirsch.

Als der Herzog näher kam, hörte der Junge auf zu kauen und musterte Isgrimnur einen Augenblick argwöhnisch mit halbgeöffnetem Mund. Dann aber sah Isgrimnur selbst im schwachen Glühen des Feuers, wie etwas über das Gesicht des Jungen ging … war es Erleichterung? Isgrimnur wurde unruhig. Er hatte trotz Einskaldirs Verdacht – der Mann war vor lauter Mißtrauen stachlig wie ein Igel – erwartet, einen verängstigten Bauernjungen vorzufinden, verschreckt oder zumindest voll dumpfer Furcht. Dieser hier sah zwar wie ein Bauer aus, der in zerlumpte Kleider gehüllte Sohn eines unwissenden Kätners, schmutzig am ganzen Leib, aber es lag eine gewisse Wachheit in seinem Blick, die den Herzog veranlaßte, sich zu fragen, ob Einskaldir nicht doch recht gehabt hatte.

»Also, Junge«, sagte er grob in der Westerlingsprache, »was hattest du vor, als du da in der Abtei herumgestochert hast?«

»Ich glaube, ich werde ihm jetzt den Hals abschneiden«, bemerkte Einskaldir in Rimmerspakk, und sein freundlicher Tonfall stand in schrecklichem Gegensatz zu den Worten. Isgrimnur warf ihm einen finsteren Blick zu und fragte sich, ob der Mann den Verstand verloren hatte, begriff dann aber, als der Junge weiter ohne besondere Furcht zu ihm aufsah, daß Einskaldir nur festzustellen versucht hatte, ob der Junge ihre Sprache verstand.

Wenn er es tut, hat er wohl den kühlsten Kopf, den ich je gesehen habe, dachte Isgrimnur. Nein, das war von der Einbildungskraft zuviel verlangt, sich vorzustellen, daß ein Junge dieses Alters mitten in einem Lager bewaffneter Fremder Einskaldirs eiskalte Worte verstanden haben sollte, ohne darauf irgendeine Reaktion zu zeigen.

»Er versteht nicht«, sagte der Herzog in ihrer Rimmersgard-Sprache zu seinem Lehnsmann. »Aber er ist erstaunlich ruhig, nicht wahr?« Einskaldir grunzte zustimmend und kratzte sich durch den dunklen Bart das Kinn.

»Also, Junge«, begann der Herzog von neuem. »Ich habe dich schon einmal gefragt. Sprich! Was hat dich zu der Abtei geführt?«

Der Junge senkte den Blick und legte den Knochen, an dem er genagt hatte, auf den Boden. Wieder fühlte Isgrimnur, wie etwas an seinem Gedächtnis zupfte, aber immer noch konnte er sich nicht erinnern.

»Ich habe … ich suchte … ein Paar neue Schuhe zum Anziehen.« Der Junge deutete auf seine sauberen, gepflegten Stiefel. Der Herzog erkannte ihn an der Aussprache als Erkynländer und noch etwas anderes … aber was?

»Und wie ich sehe, hast du welche gefunden.« Der Herzog hockte sich nieder, so daß sie Auge in Auge waren. »Weißt du, daß man gehängt werden kann, wenn man die unbegrabenen Toten bestiehlt?«

Endlich eine befriedigende Reaktion! Das Zusammenzucken des Jungen bei dieser Drohung konnte nicht vorgetäuscht sein, davon war Isgrimnur überzeugt. Gut!

»Es tut mir leid … Herr. Ich habe es nicht böse gemeint. Ich war hungrig vom Laufen, und meine Füße taten weh…«

»Vom Laufen woher?« Jetzt hatte er es: Der Junge drückte sich zu gewandt aus für ein Holzfällerbalg. Er mußte ein Priesterschüler oder der Sohn eines Ladenbesitzers oder etwas in dieser Richtung sein.

Einen Moment lang hielt der Junge Isgrimnurs Blick stand; wieder hatte der Herzog das Gefühl, der Junge berechne etwas. War er vielleicht aus einer Priesterschule entlaufen oder aus einem Kloster? Was verbarg er?

»Ich … ich habe meinen Meister verlassen, Herr. Meine Eltern … meine Eltern haben mich als Lehrling zu einem Wachszieher gegeben. Er schlug mich.«

»Was für ein Wachszieher? Wo? Schnell!«

»Mo … Malachias! In Erchester!«

Es klingt vernünftig, großenteils, entschied der Herzog. Bis auf zwei Einzelheiten.

»Und was tust du dann hier? Wie kamst du nach Sankt Hoderund? Und wer«, jetzt stieß Isgrimnur zu, »ist Bennah?«

»Bennah?«

Einskaldir, der mit halbgeschlossenen Augen zugehört hatte, beugte sich vor. »Er weiß es, Herzog«, sagte er in Rimmerspakk, »er hat ›Bennah‹ oder ›Binnock‹ gerufen, das steht fest.«

»Oder Binnock?« Isgrimnur ließ eine breite Hand auf die Schulter des Gefangenen fallen und empfand nur geringes Bedauern, als der Junge zusammenzuckte.

»Binnock? Ach so, Binnock … das ist mein Hund, Herr. Eigentlich gehört er meinem Meister. Er ist auch weggelaufen.« Und der Junge lächelte sogar, ein schiefes Grinsen, das er schnell wieder unterdrückte. Obwohl er ihm noch nicht recht traute, stellte der alte Herzog fest, daß ihm der Junge gefiel.

»Ich will nach Naglimund, Herr«, fuhr dieser rasch fort. »Ich hatte gehört, die Abtei würde Reisenden wie mir zu essen geben. Als ich die … Leichen sah, die toten Männer, bekam ich Angst … aber ich brauchte Stiefel, Herr, ich brauchte wirklich welche. Diese Mönche waren gute Ädoniter, Herr – es hätte ihnen nichts ausgemacht, nicht wahr?«

»Naglimund?« Die Augen des Herzogs wurden schmaler, und er spürte, daß Einskaldir neben dem Jungen noch etwas angespannter wurde, soweit das überhaupt ging. »Wieso Naglimund? Warum nicht Stanshire oder das Hasutal?«

»Ich habe einen Freund dort.« Hinter Isgrimnur wurde Sludigs Stimme lauter und grölte aus vollem Hals einen abschließenden trunkenen Kehrreim. Der Junge machte eine Handbewegung nach dem Feuerkreis hinüber. »Er ist ein Harfner, Herr. Er hat mir gesagt, falls ich einmal von … Malachias weglaufen würde, sollte ich zu ihm kommen, und er würde mir helfen.«

»Ein Harfner? In Naglimund?« Isgrimnur starrte ihn durchbohrend an, aber das Gesicht des Jungen, obzwar im Schatten, war unschuldig wie frische Sahne. Isgrimnur war die ganze Sache plötzlich zuwider. Schaut mich an! Verhöre einen Wachszieherjungen, als ob er ganz allein den Hinterhalt in der Abtei befehligt hätte. Was für ein verdammter Tag heute!

Einskaldir war noch nicht zufrieden. Er näherte sein Gesicht dem Ohr des Jungen und fragte in seinem schweren Akzent: »Wie heißt der Harfner in Naglimund?«

Der Junge drehte sich erschreckt um, wenn auch anscheinend mehr durch Einskaldirs plötzliche Nähe als durch die Frage, denn er antwortete sofort:

»Sangfugol.«

»Bei Frayas Zitzen!« fluchte Isgrimnur und stand schwerfällig auf. »Den kenne ich. Das reicht. Ich glaube dir, Junge.« Einskaldir hatte sich auf seinem Felsensitz umgedreht, um den Männern zuzusehen, die lachend und debattierend am Feuer saßen. »Du kannst bei uns bleiben, wenn du willst, Junge«, sagte der Herzog. »Wir werden in Naglimund haltmachen, und dank diesen Hurensöhnen von Bastarden haben wir ein reiterloses Pferd. Dies ist ein hartes Land für einen jungen Burschen, der es allein durchquert, und heutzutage bedeutet es schon beinahe, sich selber die Kehle durchzuschneiden, wenn man nicht in Gesellschaft reist. Hier.« Er trat zu einem der Pferde und zog eine Satteldecke herunter, die er dem Jungen zuwarf. »Schlaf, wo du willst, nur bleib in der Nähe. Es ist leichter für den Mann, der Posten steht, wenn wir nicht überall herumliegen wie eine verstreute Schafherde.«

Isgrimnur starrte auf das Distelflaumhaar, das wirr nach allen Seiten stand, und die hellen Augen. »Einskaldir hat dir zu essen gegeben. Brauchst du noch etwas?« Der Junge blinzelte – wo hatte er ihn schon gesehen? Wahrscheinlich in der Stadt.

»Nein«, antwortete er. »Ich hoffe nur, daß … daß Binnock sich ohne mich nicht verläuft.«

»Verlaß dich auf mich, Junge. Wenn er dich nicht findet, dann jemand anderen, das ist ganz bestimmt so.«

Einskaldir hatte sich bereits entfernt. Nun stampfte auch der Herzog davon. Simon rollte sich in die Decke und legte sich vor dem Felsen nieder.


Ich habe die Sterne schon eine ganze Weile nicht mehr richtig gesehen, überlegte Simon und schaute aus seiner Decke nach oben. Die hellen Spitzen schienen in der Luft zu hängen wie erstarrte Glühwürmchen. Es ist etwas anderes hier draußen, als wenn man durch die Bäume sieht – als läge man auf einer Tischplatte.

Er dachte an Seddas Decke, und dabei fiel ihm wieder Binabik ein. Ich hoffe nur, er ist in Sicherheit … aber er hat mich den Rimmersmännern überlassen.

Es war ein glücklicher Zufall gewesen, daß es Herzog Isgrimnur war, in dessen Gefangenschaft er geraten war, aber trotzdem hatte es Augenblicke puren Entsetzens gegeben, als er im Lager zu sich gekommen war, umgeben von hart aussehenden, bärtigen Männern. Vermutlich konnte er es dem Troll nicht einmal übelnehmen, daß er sich davongemacht hatte – wenn er überhaupt gesehen hatte, daß Simon entführt worden war, und er kannte ja schließlich die Abneigung zwischen Binabiks Volk und den Rimmersmännern. Trotzdem tat es weh, auf diese Art einen Freund zu verlieren. Er würde härter werden müssen: Gerade erst hatte er angefangen, sich auf den kleinen Mann zu verlassen, damit er ihm sagte, was richtig und zu tun war, so wie er einst gebannt Doktor Morgenes gelauscht hatte. Nun, er hatte seine Lektion gelernt: Von nun an würde er sein eigener Herr sein, nur auf sich selbst hören und seinen Weg gehen.

Eigentlich hatte er Isgrimnur sein wahres Ziel nicht nennen wollen, aber der Herzog war scharfsinnig, und Simon hatte mehrmals das Gefühl gehabt, der alte Soldat wäge ihn auf Messers Schneide – ein falscher Schritt, und er wäre abgestürzt.

Außerdem, dieser Dunkle, der die ganze Zeit neben mir saß, sah aus, als würde er mir liebend gern den Hals umdrehen, wie er vielleicht ein Kätzchen ertränkt, wenn er Lust dazu hat.

Darum hatte er dem Herzog, soweit es ohne Nachteil möglich war, die Wahrheit erzählt und damit auch Erfolg gehabt. Nunmehr stellte sich die Frage, was er weiter unternehmen sollte. Bei den Rimmersmännern bleiben? Es schien töricht, es nicht zu tun, aber dennoch … Simon war sich immer noch nicht ganz sicher, auf wessen Seite der Herzog eigentlich stand. Isgrimnur wollte nach Naglimund, aber was war, wenn er dort Josua verhaftete? Alle Leute auf dem Hochhorst hatten dauernd davon geredet, wie treu Isgrimnur dem alten König Johan gewesen war, wie er den Königsfrieden höher hielt als sein eigenes Leben. Wie stand er zu Elias?

Unter keinen Umständen wollte Simon davon erzählen, welche Rolle er bei Josuas Flucht aus dem Hochhorst gespielt hatte; aber manchmal rutschte einem eben doch etwas heraus. Simon starb vor Neugier nach Neuigkeiten aus der Burg, nach dem, was nach Morgenes' letztem Schachzug geschehen war – hatte Pryrates überlebt? Inch? Was hatte Elias den Leuten über den Vorfall erzählt? Aber es waren genau diese Fragen, so listig man sie auch stellen mochte, die einen in Teufels Küche bringen konnten.

Simon war zu aufgedreht zum Schlafen. Er blickte zu den verstreuten Sternen auf und dachte an die Knochen, die er Binabik morgens hatte werfen sehen. Der Wind strich über sein Gesicht, und auf einmal waren die Sterne selbst wie Knochen – in wildem Durcheinander über das dunkle Feld des Himmels verteilt. Einsam war es hier draußen unter lauter Fremden, unter der grenzenlosen Nacht. Er sehnte sich nach seinem gemütlichen Bett in der Dienstbotenunterkunft, nach den Tagen, bevor all diese Dinge geschehen waren. Seine Sehnsucht war wie die durchdringende Musik von Binabiks Flöte: ein kühler Schmerz, der dennoch das einzige Ding auf der weiten, weiten Welt war, an das er sich klammern konnte.


Er war ein wenig eingenickt, als das Geräusch ihn weckte. Sein Herz klopfte. Noch immer brannten die Sterne tief in der Schwärze. Jähe Panik schnürte ihm die Kehle zu, als eine dunkle, unbegreiflich hohe Gestalt vor ihm aufragte. Wo war der Mond?

Eine Sekunde später erkannte er, daß es nur der Wachtposten war, der mit dem Rücken zu Simons Decke einen Augenblick stehengeblieben war. Der Posten hatte sich seine eigene Satteldecke um die Schultern geschlungen, so daß die runde Oberseite seines helmlosen Kopfes aus den Falten herausschaute.

Der Wächter ging, ohne nach unten zu sehen, vorüber. In seinem breiten Gürtel steckte eine Axt, eine bösartig, scharfe, schwere Waffe. Außerdem trug er einen Speer, der länger als er selber war; das hintere Ende schleifte im Staub, während der Rimmersmann seine Runden machte.

Simon wickelte sich fester in die Decke und duckte sich vor dem scharfen Wind, der über die Ebene wehte. Der Himmel hatte sich verändert: Wo er zuvor klar gewesen war, so daß sich die Sterne in strahlender Schärfe von seiner unergründlichen Schwärze abgehoben hatten, trübten ihn jetzt Wolkenbänder, milchige Fühler aus dem Norden, die wie Finger nach ihm griffen. Auf der anderen Seite des Himmels hatten sie die am tiefsten stehenden Sterne schon zugedeckt – wie Sand, den man über die Kohlenglut eines Feuers schüttet. Vielleicht fängt Sedda heute nacht ihren Gatten, dachte Simon schläfrig.


Als er das zweite Mal erwachte, spritzte ihm Wasser in Augen und Nase. Er schnappte nach Luft und riß die Lider auf. Die Sterne über ihm waren so säuberlich ausgelöscht, als sei der Deckel auf eine Juwelentruhe gefallen. Es regnete; die Wolken standen jetzt genau über ihm. Simon brummte, wischte sich das Wasser vom Gesicht und drehte sich auf die Seite. Die Decke zog er sich wie eine Kapuze über den Kopf. Ein Stückchen weiter entfernt, konnte er auch den Posten wieder sehen, der sein Gesicht mit der Hand schützte und in den Regen hinaufstarrte.

Gerade wollten Simon die Augen wieder zufallen, als der Mann einen merkwürdigen, ächzenden Laut von sich gab und den Kopf senkte, um auf den Boden zu schauen. Etwas in seiner Haltung, etwas, das den Anschein erweckte, als ringe er mit jemanden, obwohl er so unbeweglich stand wie ein Felsblock, veranlaßte Simon, genauer hinzusehen. Der Regen begann in Strömen zu fließen, und in der Ferne grollte der Donner. Simon strengte sich an, in dem brodelnden Wolkenbruch den Posten zu erkennen. Der Mann stand immer noch am selben Fleck, aber jetzt entstand zu seinen Füßen eine Bewegung, etwas, das sich regte und damit aus der allgemeinen Schwärze herausgelöst hatte. Simon setzte sich auf. Ringsum klatschten und spritzten die Regentropfen auf die Erde.

Jäh erhellte ein Lichtblitz die Nacht und ließ die Felsen grell aufleuchten wie die bemalten Holzkulissen eines Usires-Spieles. Das ganze Lager war deutlich zu erkennen – die dampfenden Überreste des Feuers, die zusammengerollten schlafenden Gestalten der Rimmersmänner –, aber was Simon in jenem Bruchteil einer Sekunde ins Auge sprang, war der Posten, dessen Gesicht zu einer grauenerregenden, stummen Maske totalen Entsetzens verzerrt war.

Donner krachte, dann wurde der Himmel aufs neue von Blitzen erfüllt. Die Erde um den Posten herum kochte, warf große Sandblasen auf. Simons Herz machte einen Satz in seiner Brust, als der Mann in die Knie sank. Wieder rollte der Donner; dreimal hintereinander blitzte es auf. Noch immer sprühte die Erde wie ein Springbrunnen, aber jetzt waren überall Hände und lange dünne Arme, die bläßlich im Regen glitzerten, als sie sich am Körper des knienden Mannes hinauftasteten und ihn hinunterzerrten, kopfüber in das schwarze Erdreich. Im grellen Himmelslicht brandete eine neue, noch größere Welle an, eine Horde dunkler Wesen, die aus der Erde hervorquoll, dürre, zerlumpte Geschöpfe mit fuchtelnden Armen, weißen, glotzenden Augen, – gräßlich klar, als der Blitz über den Himmel zuckte und der Regen herunterzischte – verfilzten Bärten und Kleiderfetzen. Als der Donner nachließ, schrie Simon laut auf, verschluckte sich am Wasser, schrie wieder.

Es war schlimmer als jede Höllenvision. Die Rimmersmänner, aufgeschreckt von Simons Entsetzensschrei, wurden auf allen Seiten von hüpfenden, auf sie einschlagenden Körpern angegriffen. Die Wesen schwärmten aus dem Boden wie Ratten – und wirklich, während sie durch das Lager huschten, war die Luft von dünnen, wimmernden Quäklauten erfüllt, die nach Tunneln und Blindheit und feiger Bosheit klangen.

Einer der Nordmänner stand aufrecht, über und über von den Wesen bedeckt. Keines von ihnen war auch nur so groß wie Binabik, aber ihre Zahl war gewaltig, und noch während der Nordmann das Schwert zog, rissen sie ihn nieder. Simon glaubte das Aufblitzen scharfer Gegenstände in ihren Händen zu sehen, die sich hoben und senkten.

»Vaer! Vaer Bukken!« brüllte ein Rimmersmann von der anderen Seite des Lagers. Die Männer waren jetzt alle auf den Beinen, und wenn es blitzte, konnte Simon das bleiche Feuer ihrer Schwerter und Äxte sehen. Er trat mit den Füßen die Decke fort und sprang auf, wobei er sich verzweifelt nach einer Waffe umblickte. Die Wesen waren überall, auf ihren dünnen Beinen staksig wie Insekten, laut rufend, dünne Schreie ausstoßend, wenn die Axt eines Rimmersmannes zubiß. Ihre Schreie klangen fast wie eine Sprache, und das war mitten in diesem Alptraum beinahe das Grauenhafteste.

Simon duckte sich hinter den Felsen, der ihm Schutz gewährt hatte, drehte sich im Kreis und suchte fieberhaft nach etwas, mit dem er sich verteidigen könnte. Eine Gestalt rannte auf ihn zu, nur um einen Schritt vor ihm zu Boden zu taumeln – einer der Nordmänner, das halbe Gesicht eine feuchte Masse. Simon sprang vor, um die Axt aus seiner verkrampften Hand zu reißen; der Mann, noch nicht tot, gurgelte, als der Junge ihm die Waffe wegzerrte. Eine Sekunde später spürte Simon einen knochigen Griff am Knie und fuhr herum. Hinter der Greifkralle gewahrte er ein gräßliches kleines, menschenähnliches Gesicht mit weißlich starrenden Augen. Er schwang die Axt danach, so hart er konnte, und hörte ein Knirschen wie von einem zertretenen Käfer. Die steifen Finger lösten sich, und Simon sprang zur Seite. Er würgte.

Das Licht vom Himmel wechselte zwischen Aufblühen und Vergehen, so daß es so gut wie unmöglich war festzustellen, was sich abspielte. Die schwankenden Gestalten der Rimmersmänner standen überall, aber die Menge der hüpfenden, pfeifenden Dämonen war viel größer. Anscheinend war der beste Ort –

Ohne Warnung wurde Simon umgeworfen. Eine Greifpfote krallte sich um seinen Nacken. Er fühlte, wie sein Gesicht seitlich in den Schlamm gedrückt wurde, schmeckte ihn, bäumte sich auf gegen das Ding auf seinem Rücken. Eine grobe Klinge sauste an ihm vorbei und bohrte sich mit saugendem Geräusch in die Erde. Simon kämpfte sich auf die Knie, aber eine zweite Hand griff ihm ins Gesicht und hielt ihm die Augen zu. Sie stank nach Schlamm und fauligem Wasser, und die Finger wanden sich wie Nachtkriecher. Wo ist die Axt? Ich habe die Axt fallenlassen!

Wacklig kam er auf die Füße, die Beine auf dem schlüpfrigen Boden weit gespreizt, und versuchte, die klammernden Finger von seiner Luftröhre wegzureißen. Er stolperte vorwärts und wäre um ein Haar wieder gefallen. Es gelang ihm nicht, das schreckliche, würgende Wesen von seinem Rücken abzustreifen. Die Knochenhand schnitt ihm die Luft ab, die spitzen Knie bohrten sich in seine Rippen; ihm war, als hörte er das klebrige Geschöpf triumphierend quäken. Er schaffte noch ein paar Schritte, ehe er in die Knie sank; der Lärm der Schlacht hinter ihm wurde leiser. In seinen Ohren dröhnte es; aus seinen Armen und dem Körper rann die Kraft wie Mehl aus einem zerrissenen Sack.

Ich sterbe … mehr konnte er nicht denken. Vor seinen Augen war nur noch ein stumpfes rotes Licht.

Dann war der schnürende, kratzende Griff um seine Kehle plötzlich weg. Simon sackte schwer auf Brust und Gesicht und lag keuchend da.

Schnaufend blickte er auf. Von einem flachen Blitz auf den schwarzen Himmel gemalt, zeichnete sich ein Umriß des Wahnsinns ab: ein kleiner Mann auf einem Wolf.

Binabik!

Simon sog Luft in seinen zerfetzten Hals und wollte sich aufrichten, schaffte es aber nur bis zu den Ellenbogen, bevor der kleine Mann an seiner Seite war. Einen Schritt weiter lag der Körper des Erdwesens, zusammengekrümmt wie eine versengte Spinne, die blinden Augen himmelwärts gerichtet.

»Sag nichts!« zischte Binabik. »Wir müssen fort! Schnell!« Er half Simon in eine sitzende Stellung, aber der Junge winkte ihm, sich zu entfernen, schlug mit säuglingsschwachen Händen auf den Troll ein.

»Muß … muß…« Simon deutete mit zitternder Hand nach dem Chaos, das kaum zwanzig Schritte entfernt im Lager tobte.

»Lächerlich!« schnappte Binabik. »Die Rimmersmänner können sich selber wehren. Meine Pflicht ist es, dich in Sicherheit zu bringen. Nun komm!«

»Nein«, beharrte Simon verbissen. Binabik hielt seinen hohlen Stab in der Hand; der Junge begriff, was seinen Angreifer überwältigt hatte. »Wir m-müssen ihnen … h-helfen.«

»Sie werden es überleben«, erklärte Binabik grimmig. Qantaqa war ihrem Herrn gefolgt und schnüffelte jetzt besorgt an Simons Wunde. »Ich bin für dich verantwortlich.«

»Was meinst du…«, begann Simon, als Qantaqa zu grollen anfing; ein tiefer, bedrohlicher Laut der Unruhe.

Binabik sah auf. »Tochter der Berge!« stöhnte er. Simon folgte seinem Blick.

Ein Klumpen der tieferen Dunkelheit hatte sich aus dem wirbelnden Getümmel gelöst und bewegte sich rasch auf sie zu. Man konnte schlecht sagen, wie viele der Wesen das hüpfende Gewirr aus Armen und Augen enthalten mochte, aber es waren mehr als nur einige.

»Nihut, Qantaqa!« schrie Binabik. Sofort sprang die Wölfin auf sie zu; sie quäkten in pfeifendem Entsetzen, als das große Tier über sie kam.

»Wir haben keine Zeit mehr zu vergeuden, Simon«, fauchte der Troll. Donner krachte über die Ebene, als er das Messer aus dem Gürtel riß und Simon in die Höhe zerrte. »Die Männer des Herzogs halten jetzt stand, aber ich habe keine Möglichkeit zu vermeiden, daß du in diesem letzten Ringen getötet wirst.«

Inmitten der Erdgräber stand Qantaqa, eine graupelzige Todesmaschine. Ihre gewaltigen Kiefer bissen zu, sie schüttelte sich und biß von neuem um sich; dünne schwarze Körper wurden nach allen Seiten geschleudert und stürzten in vernichteten Haufen übereinander. Weitere strömten heran, während das Knurren der Wölfin das Tosen des Sturms übertönte.

»Aber … aber…« Simon blieb stehen, als Binabik zu seinem Reittier gehen wollte.

»Es war mein festes Versprechen, dich zu schützen«, erklärte Binabik und zog ihn mit sich fort. »So lautete Doktor Morgenes' Wunsch.«

»Doktor … du kennst Doktor Morgenes?«

Simon starrte ihn mit bebendem Mund an. Binabik blieb stehen und pfiff zweimal. Mit einem letzten verzückten Schauder schüttelte Qantaqa zwei der Wesen zur Seite und sprang zu ihrem Herrn zurück.

»Nun lauf, närrischer Junge!« rief Binabik. Sie rannten, Qantaqa voran – in großen Sätzen wie ein Hirsch, die Schnauze schwarz von Blut –, Binabik hinterher. Als letzter kam Simon, stolpernd und taumelnd über die schlammige Ebene, und der Sturm schrie Fragen, auf die es keine Antwort gab.

XXII Ein Wind von Norden

»Nein, ich brauche verdammt noch mal gar nichts!« Guthwulf, Graf von Utanyeat, spuckte Citrilsaft auf den Steinfußboden, und der Page huschte mit weitaufgerissenen Augen eilig aus dem Zimmer. Guthwulf sah ihm nach und bereute seine übereilten Worte – nicht, weil ihm der Junge leid getan hätte, sondern weil ihm plötzlich eingefallen war, daß er vielleicht doch etwas brauchte. Schon fast eine Stunde wartete er vor dem Thronsaal, ohne daß er einen Tropfen zum Trinken gehabt hätte, und Ädon allein wußte, wie lange er hier noch herumsitzen und vor sich hin modern mußte.

Wieder spie er aus. Der scharfe Citril brannte auf Zunge und Lippen. Fluchend wischte er sich einen Speichelfaden vom langen Kinn. Im Gegensatz zu einem Großteil der Männer, die er befehligte, hatte Guthwulf nicht die Angewohnheit, ständig ein Stück der bitteren Wurzel aus dem Süden in der Backentasche zu tragen, aber in diesem unheimlichen, feuchten Frühling, in dem er sich tagelang auf dem Hochhorst eingesperrt fand und darauf wartete, daß der König einen Auftrag für ihn hatte, war ihm jede Ablenkung, und sei es auch nur die eines verbrannten Gaumens, willkommen.

Außerdem kam es ihm vor – was zweifellos an der feuchten Witterung lag –, als röchen die Hallen des Hochhorsts nach Schimmel, Schimmel und … nein, Verwesung war ein zu überspannter Ausdruck. Jedenfalls schien das starke Citrilaroma dagegen zu helfen.

Gerade hatte sich Guthwulf erhoben und seinen Stuhl verlassen, um das ohnmächtig-grimmige Hin- und Herwandern wieder aufzunehmen, mit dem er den größten Teil der Wartezeit verbracht hatte, als die Thronsaaltür knarrte und nach innen schwang. In der Öffnung erschien Pryrates' plumper Kopf mit den schwarzen Augen, flach und glänzend wie bei einer Echse.

»Ah, guter Utanyeat!« Pryrates zeigte sein Gebiß. »Wie lange wir Euch warten ließen. Der König ist jetzt bereit, Euch zu empfangen.« Der Priester zog die Tür weiter nach innen, so daß sein Scharlachgewand und ein Stück der hohen Halle hinter ihm sichtbar wurden. »Bitte«, sagte er.

Beim Eintreten mußte Guthwulf sehr dicht an Pryrates vorbei. Er zog die Brust ein, um die Berührung möglichst flüchtig zu halten. Warum stellte sich der Mann so eng neben ihn? Wollte er Guthwulf ärgern – zwischen der Hand des Königs und dem königlichen Ratgeber herrschte keinerlei Zuneigung –, oder versuchte er, die Tür so gut wie möglich geschlossen zu halten? Die Burg war kalt in diesem Frühjahr, und wenn jemand ein wenig Wärme verdient hatte, dann Elias. Vielleicht wollte Pryrates nur keine Kälte in den weitläufigen Thronsaal lassen.

Nun, wenn das seine Absicht war, hatte er vollständig versagt. Kaum hatte Guthwulf die Schwelle überschritten und die Tür im Rücken, als er fühlte, wie sich kalte Luft auf ihn herabsenkte und die Haut seiner kräftigen Arme in Gänsehaut verwandelte. Er warf einen Blick hinter den Thron und bemerkte, daß mehrere der Oberlichte offenstanden, mit Stöcken festgeklemmt. Die kalte Nordluft, die von dort hereindrang, zerrte an den Flammen der Fackeln und ließ sie in ihren Glutpfannen tanzen.

»Guthwulf!« dröhnte Elias und erhob sich halb von seinem Sessel aus vergilbten Knochen. Über seiner Schulter grinste der gewaltige Drachenschädel. »Ich schäme mich, daß ich dich warten ließ. Komm näher!«

Guthwulf schritt über den fliesenbelegten Mittelgang und gab sich Mühe, nicht zu zittern. »Ihr müßt Euch um vieles kümmern, Majestät. Das Warten macht mir nichts aus.«

Elias setzte sich auf seinem Thron zurecht, und der Graf von Utanyeat beugte vor ihm das Knie. Der König trug ein schwarzes, grün und silbern besticktes Hemd. Stiefel und Hosen waren ebenfalls schwarz. Hoch auf der bleichen Stirn saß Fingils eiserne Krone, und in der Scheide an seiner Seite hing das Schwert mit dem seltsam gekreuzten Griff. Seit Wochen hatte man ihn nicht mehr ohne es gesehen, aber Guthwulf hatte keine Ahnung, woher es stammte. Der König hatte nie etwas darüber gesagt, und es war etwas Wunderliches und Unheimliches an der Klinge, das Guthwulf am Fragen hinderte.

»Setz dich.« Elias deutete auf eine Bank, wenige Schritte hinter der Stelle, an der der Graf kniete. »Seit wann macht dir das Warten nichts mehr aus, Wolf? Denk nicht, daß ich blind und dumm geworden bin, nur weil ich jetzt König heiße.« Elias grinste schief.

»Ich bin sicher, wenn ihr etwas für Eure Königliche Hand zu tun habt, werdet Ihr es mir mitteilen.«

Zwischen Guthwulf und seinem alten Freund Elias hatte sich viel verändert, und der Graf von Utanyeat war darüber nicht glücklich. Elias war nie verschlossen gewesen, jetzt aber spürte Guthwulf gewaltige verborgene Strömungen unter der Oberfläche des Alltäglichen, Strömungen, von denen der König vorgab, daß sie gar nicht existierten. Alles war anders geworden, und Guthwulf wußte genau, wer daran schuld war. Er schaute über Elias' Schulter auf Pryrates, der ihn mit starrem Blick beobachtete. Als ihre Augen sich trafen, hob der rotgekleidete Priester eine haarlose Braue, als wolle er eine spöttische Frage stellen.

Der König rieb sich kurz die Schläfen. »Du wirst bald Arbeit genug und übergenug haben, das verspreche ich dir. Ach, mein Kopf. Eine Krone ist wahrlich eine schwere Last, Freund. Manchmal wünsche ich mir, ich könnte sie ablegen und einfach fortgehen, wie wir es früher so oft getan haben – als freie Gefährten der Straße!« Elias wandte sein grimmiges Lächeln von Guthwulf zu seinem Ratgeber. »Priester, mein Kopf schmerzt mich wieder. Bringt mir Wein, ja?«

»Sofort, Herr.« Pryrates verschwand im Hintergrund des Thronsaales.

»Wo sind Eure Pagen, Majestät?« fragte Guthwulf. Der König sah entsetzlich müde aus, fand er. Auf seinen unrasierten Wangen traten die Stoppeln hervor, schwarz auf der fahlen Haut. »Und warum, mit Verlaub, verkriecht Ihr Euch in diesem Eiskeller? Hier drin ist es kalt wie im schwarzen Arsch des Teufels; außerdem riecht es nach Schimmel. Laßt mich ein Feuer im Kamin anzünden.«

»Nein.« Elias bewegte abwehrend die breite Hand. »Ich möchte es nicht wärmer haben. Mir ist schon warm genug. Pryrates sagt, es ist nur ein Schüttelfrost. Aber was immer es auch sein mag, ich empfinde die kalte Luft als angenehm. Und es weht von überall kräftig herein, so daß man weder Stickigkeit noch üble Launen fürchten muß.«

Pryrates war mit dem Pokal des Königs zurückgekommen. Elias leerte ihn in einem Zug und trocknete sich mit dem Ärmel die Lippen ab.

»In der Tat, es weht kräftig, Majestät.« Guthwulf grinste säuerlich. »Nun, mein König, Ihr … und Pryrates … wißt es am besten und braucht gewiß nicht den Rat eines schlichten Kriegsmannes. Kann ich Euch auf andere Weise dienen?«

»Ich denke, du kannst es, obwohl dir die Aufgabe vielleicht nicht sonderlich angenehm sein mag. Doch sag mir erst, ob Graf Fengbald zurückgekehrt ist.«

Guthwulf nickte. »Ich habe heute morgen mit ihm gesprochen, mein König.«

»Ich habe ihn rufen lassen.« Elias hielt den Becher hin, und Pryrates brachte die Kanne und goß ihm mehr Wein ein. »Aber da du ihn schon gesehen hast, sag mir, ob er gute Nachrichten mitbringt?«

»Ich fürchte, nein. Der Spion, den Ihr sucht, Herr, Morgenes' Helfershelfer, ist noch immer auf freiem Fuß.«

»Gottes Fluch über ihn!« Elias rieb eine Stelle neben seiner Augenbraue. »Hat er die Hunde nicht mitgenommen, die ich ihm gab? Und den Jägermeister?«

»Doch Majestät, und er hat sie weiterjagen lassen. Doch um Fengbald Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, muß ich sagen, daß Ihr ihm eine fast unlösbare Aufgabe gestellt habt.«

Elias' Augen wurden schmal, und sekundenlang hatte Guthwulf das Gefühl, ein Fremder sitze ihm gegenüber. Dann brach das Klirren der Kanne gegen den Pokal die Spannung, und Elias lockerte sich. »Nun ja doch«, meinte er, »höchstwahrscheinlich hast du recht. Ich werde achtgeben müssen, daß ich meine Enttäuschung nicht an Fengbald auslasse. Er und ich … wir beide teilen ein Mißgeschick.«

Guthwulf nickte und beobachtete den König. »Ja, Majestät, die Nachricht von der Erkrankung Eurer Tochter hat mich sehr beunruhigt. Wie geht es Miriamel?«

Der König sah kurz zu Pryrates hinüber, der mit dem Eingießen fertig war und zurücktrat. »Es ist freundlich von dir zu fragen, Wolf. Wir glauben nicht, daß Gefahr besteht, aber Pryrates ist überzeugt, die Seeluft von Meremund sei die beste Kur für ihre Beschwerden. Trotzdem ist es schade, die Hochzeit zu verschieben.« Der König starrte in seinen Weinbecher wie in einen Brunnen, in den gerade etwas Wertvolles hineingefallen ist. In den geöffneten Fenstern pfiff der Wind.

Nachdem ein paar lange Sekunden vergangen waren, fühlte der Graf von Utanyeat sich gezwungen, etwas zu sagen. »Ihr meintet, es gebe da eine Kleinigkeit, die ich für Euch erledigen könnte, mein König?«

Elias blickte auf. »Ah. Natürlich. Ich möchte, daß du nach Hernysadharc reitest. Seit ich gezwungen war, die Steuern zu erhöhen, um mit der verfluchten, elenden Dürre fertigzuwerden, trotzt mir dieser alte Berghamster von Lluth. Er hat mir den aufgeplusterten Eolair geschickt, der mich mit honigsüßen Worten beschwichtigen soll; aber die Zeit der Worte ist vorbei.«

»Vorbei, Herr?« Guthwulf zog eine Braue hoch.

»Vorbei«, grollte Elias. »Ich möchte, daß du ein Dutzend Männer mitnimmst – nicht mehr, sonst bleibt Lluth nichts anderes übrig, als Widerstand zu Leisten – und dich nach dem Taig begibst, um den alten Geizhals in seinem Bau zu stellen. Sag ihm, mir das rechtmäßig Geschuldete zu verweigern, sei ein Schlag ins Gesicht … als spucke er auf den Drachenbeinthron selbst. Aber sei listig, sag vor seinen Gefolgsleuten kein Wort zu ihm, das ihn so beschämt, daß er sich wehren muß. Mach ihm aber klar, daß eine weitere Ablehnung zur Folge haben kann, daß ihm das Dach über dem Kopf angezündet wird. Jag ihm Angst ein, Guthwulf!«

»Das kann ich tun, Herr.«

Elias lächelte verkniffen. »Gut. Und wenn du schon dort bist, halt ein Auge offen, ob du irgendwelche Hinweise auf Josuas Verbleib entdecken kannst. Man hört nichts Neues aus Naglimund, obwohl meine Spione es umzingelt haben. Es kann durchaus sein, daß mein verräterischer Bruder bei Lluth ist. Es mag sogar sein, daß er es ist, der den steifnackigen Hernystiri anstachelt.«

»Ich werde Euer Auge so gut wie Eure Hand sein, mein König.«

»Mit Verlaub, König Elias?« Neben dem König hob Pryrates einen Finger.

»Sprecht, Priester.«

»Ich möchte noch vorschlagen, daß unser Herr von Utanyeat sich auch nach dem Jungen umsieht. Es wäre eine zusätzliche Hilfe für Fengbald. Wir brauchen diesen Jungen, Majestät – was nützt es, die Schlange zu töten, wenn ihre Brut entkommt?«

»Wenn ich die kleine Viper finde«, grinste Guthwulf, »werde ich sie mit Vergnügen zertreten.«

»Nein!« schrie Elias mit einer Heftigkeit, die Guthwulf verblüffte.

»Nein! Der Spion muß am Leben bleiben und mit ihm alle seine Gefährten, bis wir sie sicher hier auf dem Hochhorst haben. Es gibt Fragen, die wir ihnen stellen müssen.«

Elias, als sei er verlegen über seinen Ausbruch, richtete seltsam flehende Augen auf seinen alten Freund. »Das verstehst du doch, oder?«

»Natürlich, Majestät«, antwortete Guthwulf schnell.

»Man muß sie nur noch atmend zu uns bringen«, sagte Pryrates, so gelassen wie ein Bäcker, der über Mehl redet. »Dann werden wir alles von ihnen erfahren.«

»Genug.« Elias rutschte auf seinem Knochensitz nach hinten. Guthwulf war erstaunt, Schweißperlen auf seiner Stirn zu sehen, während er selbst in der eisigen Luft schauderte. »Geh jetzt, alter Freund. Bring mir Lluths vollständige Bündnistreue; wenn nicht, werde ich dich zurücksenden, mir seinen Kopf zu holen. Geh!«

»Gott schütze Euch, Majestät.« Guthwulf beugte neben der Bank das Knie, erhob sich dann und ging rückwärts den Mittelgang hinunter. Die Banner über seinem Kopf, vom Wind gepeitscht, schwangen hin und her; in den fließenden Schatten, die von den flackernden Fackeln geworfen wurden, schienen die Stammestiere und Wappengeschöpfe einen unheimlichen, zuckenden Tanz aufzuführen.


Im Vorsaal stieß Guthwulf auf Fengbald. Der Graf von Falshire hatte sich den Straßenstaub aus Gesicht und Haar gebadet, seit sie einander am Morgen begegnet waren, und trug jetzt ein rotes Samtwams mit dem in Silber getriebenen Adler seines Hauses auf der Brust, dessen Federn sich zu einem kunstvollen Muster verschlangen.

»Ho, Guthwulf! Hast du ihn gesehen?« fragte er. Der Graf von Utanyeat nickte. »Ja, und du wirst ihn auch sehen. Gottes Fluch, er ist es, der in Meremund Salzluft atmen sollte, nicht Miriamel! Er sieht aus ... ich weiß nicht, er sieht elend krank aus. Und der Thronsaal ist kalt wie Frost.«

»Dann stimmt es also?« erkundigte sich Fengbald mürrisch. »Das mit der Prinzessin? Ich hatte gehofft, er hätte es sich anders überlegt.«

»Nach Westen ans Meer gereist. Dein großer Tag wird noch ein bißchen warten müssen, so wie es aussieht.« Guthwulf grinste hämisch. »Ich bin überzeugt, du wirst etwas finden, das dein Interesse warmhält, bis die Prinzessin wiederkommt.«

»Darum geht es nicht.« Der Mund des Grafen von Falshire verzog sich, als ob er auf etwas Saures gebissen hätte. »Ich fürchte nur, daß er sich aus seinem Versprechen herauswinden will. Ich habe gehört, keiner hätte von ihrer Krankheit gewußt, bevor sie abreiste.«

»Du machst dir zuviel Sorgen«, antwortete Guthwulf. »Das sind Frauensachen. Elias braucht einen Erben. Sei dankbar, daß du seinen Vorstellungen von einem Schwiegersohn besser entsprichst als ich.« Guthwulf zeigte mit höhnischem Lächeln die Zähne. »Ich würde nach Meremund reiten und sie mir holen.« Er tat, als salutierte er, schlenderte davon und ließ Fengbald vor den hohen Eichentüren des Thronsaales stehen.


Sie konnte schon von ganz unten im Korridor sehen, daß es Graf Fengbald war – und zwar in allerschlechtester Laune. Sein mit den Armen ausschwingender Gang, wie bei einem kleinen Jungen, den man vom Abendbrottisch wegschickt, und das laute, absichtliche Aufknallen der Stiefelabsätze auf dem Boden verkündeten seine Stimmung wie Trompetenstöße.

Sie streckte den Arm aus und zupfte Jael am Ellenbogen. Als das kuhäugige Mädchen aufblickte, schon jetzt überzeugt, irgend etwas falsch gemacht zu haben, deutete Rachel mit einer Geste auf den sich nähernden Grafen von Falshire.

»Stell lieber den Eimer da weg, Mädchen.« Sie nahm Jael den Schrubber aus der Hand. Der Eimer mit dem Seifenwasser stand mitten im Gang, dem sich nähernden Edelmann genau im Weg.

»Schnell doch, dumme Trine!« zischte Rachel, einen Unterton von Alarm in der Stimme. Kaum waren die Worte heraus, als sie auch schon wußte, daß sie besser geschwiegen hätte. Fengbald fluchte vor sich hin, das Gesicht zu einer Grimasse gekränkter Wut verzogen. Jael, in fieberhafter, aber schlecht durchdachter Hast, ließ den Eimer aus den nassen Fingern rutschen. Mit lautem Krachen schlug er auf dem Boden auf, und ein Schwall seifigen Wassers schwappte über den Rand und spritzte in den Gang. Fengbald, jetzt unmittelbar vor ihnen, trat mitten in die sich ausbreitende Pfütze. Für einen Augenblick verlor er das Gleichgewicht, warf im Ausrutschen die Arme in die Höhe und klammerte sich halt suchend an einem Wandteppich fest, während Rachel in hilflosem, ahnungsvollem Entsetzen zusah. Es war ein glücklicher Zufall, daß der Wandbehang Fengbalds Gewicht so lange aushielt, bis er sein Gleichgewicht zurückgewonnen hatte, trotzdem riß der Teppich einen Augenblick später an einer oberen Ecke ab und glitt langsam die Wand hinunter, um in der Seifenpfütze zu landen.

Nur eine Sekunde sah Rachel dem Grafen von Falshire in das knallrot anlaufende Gesicht, bevor sie sich zu Jael umdrehte. »Raus, du ungeschickte Kuh. Weg mit dir, aber sofort!« Jael warf einen hoffnungslosen Blick auf Fengbald, machte kehrt und rannte, wobei ihr dickes Hinterteil mitleiderregend hin und her wackelte.

»Komm zurück, du Schlampe!« kreischte Fengbald, dessen Kinn vor Wut zitterte. Das lange schwarze Haar war außer Fasson geraten und hing ihm ins Gesicht. »Das werde ich dir heimzahlen, du … heimzahlen!«

Rachel, ein Auge auf den Grafen geheftet, bückte sich und hob die durchnäßte Ecke des Wandbehanges aus dem Wasser. Sie konnte ihn im Augenblick nicht wieder aufhängen und stand nur da, sah zu, wie er tropfte, und hörte sich Fengbalds Toben an.

»Schau! Schau dir meine Stiefel an! Dafür lasse ich dieser dreckigen Hure den Hals abschneiden!« Der Graf richtete den Blick auf Rachel. »Wie kannst du es wagen, sie fortzuschicken?«

Rachel schlug die Augen nieder, was nicht schwierig war, weil der junge Edelmann sie um mindestens einen Fuß überragte. »Es tut mir leid, Herr«, erwiderte sie, und ehrliche Furcht legte einen überzeugenden Klang von Respekt in ihre Stimme. »Sie ist ein dummes Mädchen und wird ihre Prügel bekommen, aber ich bin die Oberste der Kammerfrauen, und die Verantwortung, Gebieter, liegt bei mir. Es tut mir leid, sehr leid.«

Fengbald starrte einen Augenblick auf sie herunter, und seine Augen wurden schmal. Dann hob er pfeilschnell den Arm und schlug Rachel ins Gesicht. Ihre Hand flog an das rote Mal, das sich auf ihrer Wange ausbreitete und wuchs wie die Pfütze auf den Steinplatten.

»Dann gib das der fetten Schlampe«, fauchte Fengbald, »und sag ihr, wenn sie mir noch einmal begegnet, drehe ich ihr den Hals um.« Er warf der obersten der Kammerfrauen einen bösen Blick zu und ging dann schnell weiter die Halle hinunter. Er hinterließ eine feuchtschimmernde Absatz-und-Spitzen-Spur auf den Fliesen.


Und er brächte es fertig, überlegte Rachel später, als sie auf ihrem Bett saß und sich einen nassen Waschlappen an die brennende Wange hielt. Auf der anderen Seite der Halle schluchzte Jael im Mägdeschlafsaal. Rachel hatte nicht das Herz gehabt, sie auch nur anzuschreien, aber der Anblick von Rachels geschwollenem Gesicht war Strafe genug gewesen und hatte das plumpe, weichherzige Mädchen in einen fürchterlichen Weinkrampf fallen lassen.

Süße Rhiap und Pelippa, lieber lasse ich mich nochmals schlagen, als mir dies Geblubber anzuhören.

Rachel rollte sich auf ihren harten Strohsack – sie hatte ein Brett darunter gelegt, weil ihr ständig der Rücken weh tat – und zog sich die Decke über den Kopf, um das Geräusch von Jaels Heulerei zu dämpfen. Im Schutz der Decke konnte sie ihren eigenen warmen Atem auf dem Gesicht fühlen.

So muß es der Wäsche im Korb zumute sein, dachte sie und schalt sich sogleich ob solcher Einfältigkeit. Du wirst alt, alte Frau … alt und nutzlos. Plötzlich merkte sie, daß ihr die Tränen kamen, die ersten, die sie seit der Nachricht über Simon vergossen hatte.

Ich bin einfach müde. Manchmal glaube ich, ich falle um, wo ich gerade stehe, kippe diesen jungen Ungeheuern vor die Füße wie ein zerbrochener Besen – in meiner Burg trampeln sie herum, behandeln uns wie Dreck – würden mich wahrscheinlich am liebsten mit dem Staub hinauskehren. So müde … wenn nur … wenn…

Die Luft unter der Decke war dick und warm. Rachel hatte aufgehört zu weinen – was nützten schon Tränen? Die laßt den törichten, leichtsinnigen Mädchen – und fühlte jetzt, wie sie in Schlaf fiel, seiner Schwere erlag, als ertrinke sie in warmem, klebrigem Wasser.

Und in ihrem Traum war Simon nicht tot, war nicht in dem schrecklichen Feuer gestorben, das auch Morgenes getötet hatte und mehrere von den Wachen, die herbeigeeilt waren, um zu löschen. Sogar Graf Breyugar, hieß es, war bei der Katastrophe umgekommen, erschlagen, als das brennende Dach einstürzte … Nein, Simon war am Leben und gesund. Etwas an ihm war anders, aber Rachel konnte nicht sagen, was – der Blick, die härtere Kinnlinie? –, doch darauf kam es auch nicht an. Es war Simon, lebendig, und während sie so träumte, war Rachels Herz wieder voll. Sie sah ihn, den toten Jungen – ihren Jungen eigentlich, denn hatte sie ihn nicht großgezogen wie eine Mutter, bevor er ihr genommen wurde? –, und er stand an einem Ort von fast fleckenlosem Weiß und starrte einen großen, weißen Baum hinauf, der in die Lüfte ragte wie eine Leiter zu Gottes Thron. Und obwohl er so entschlossen dastand, den Kopf zurückgeworfen, die Augen auf den Baum gerichtet, konnte Rachel nicht umhin zu bemerken, daß sein Haar, dieses dicke, rötliche Gestrüpp, dringend geschnitten werden mußte … nun, darum würde sie sich schon kümmern, kein Zweifel … der Junge brauchte eine feste Hand…

Als sie aufwachte und sich ganz erschreckt die erstickende Decke herunterriß, nur um festzustellen, daß es um sie herum noch dunkler war – diesmal mit der Dunkelheit des Abends –, glitt die Last des Verlustes und des Kummers von neuem auf sie herunter wie ein nasser Wandteppich. Sie setzte sich im Bett auf, um langsam auf die Füße zu kommen. Der Waschlappen fiel hinunter, trocken wie Herbstlaub. Sie hatte nicht das Recht, hier herumzuliegen und sich zu grämen wie ein verwirrtes kleines Mädchen. Es gab Arbeit, die getan werden mußte, ermahnte Rachel sich selber, und keine Ruhe diesseits vom Himmel.

Das Tamburin rasselte, und der Lautenspieler zupfte sanft die Saiten, bevor er mit dem letzten Vers begann.

Und kommst du nun, o Jungfrau schön,

in Khandery-Tuch und Seidenfall?

Wenn du mein Herz beherrschen willst,

so folg mir nach Emettinshall!

Der Musikant endete mit einem Wirbel lieblicher Töne und verbeugte sich, als Herzog Leobardis Beifall klatschte. »Emettinshall!« sagte der Herzog zu Eolair, dem Grafen von Nad Mullagh, der mit pflichtschuldigem Applaus Leobardis' Beispiel gefolgt war. Insgeheim fand der Hernystiri, er hätte schon Besseres gehört. Die Liebesballaden, die am Hofe von Nabban so beliebt waren, begeisterten ihn nur mäßig.

»Ich liebe dieses Lied«, lächelte der Herzog. Das lange weiße Haar und die rosigen Wangen ließen ihn wie einen Lieblings-Großonkel von der Sorte aussehen, die bei den Festen zur Ädonszeit zuviel Starkbier trinkt und dann den Kindern das Pfeifen beibringen will. Nur das wallende, mit Lapislazuli und Gold besetzte weiße Gewand und der goldene Reif mit dem Perlmutt-Eisvogel auf seinem Kopf zeigten an, daß er sich von anderen Männern unterschied. »Kommt, Graf Eolair, ich habe immer gedacht, die Musik sei das Herzblut des Taig. Hält Lluth sich nicht für den größten Gönner der Harfner in ganz Osten Ard und Euer Hernystir für die natürliche Heimat aller Musikanten?« Der Herzog beugte sich über die Lehne seines himmelblauen Sessels und klopfte Eolair leicht auf die Hand.

»Allerdings hat König Lluth stets seine Harfner um sich«, stimmte der Graf zu. »Ich bitte Euch, Herzog, wenn ich zerstreut scheine, so liegt das gewiß nicht daran, daß es mir bei Euch an irgend etwas mangelte. Eure Freundlichkeit ist wahrhaft unvergeßlich. Nein, ich muß gestehen, daß ich mir noch immer Sorgen mache wegen der Dinge, über die wir vorhin gesprochen haben.«

In die milden blauen Augen des Herzogs trat ein betroffener Ausdruck. »Ich habe Euch gesagt, mein Eolair, daß solche Dinge ihre Zeit brauchen. Es ist gewiß ermüdend, wenn man warten muß, aber so ist es nun einmal.« Leobardis winkte dem Lautenspieler zu, der geduldig auf ein Knie gestützt ausgeharrt hatte. Der Musikant stand auf, verbeugte und entfernte sich. Sein phantastisch kunstvolles Gewand umwogte ihn, als er zu einer Gruppe von Höflingen trat, die in ebenso üppig bestickte Gewänder und Tuniken gekleidet waren. Die Damen hatten ihre Ausstattung noch durch exotische Hüte ergänzt, mit Flügeln wie Seevögel oder Kämmen wie die Flossen bunter Fische. Auch die Farben des Thronraumes waren gedämpft wie die der Hoftrachten: geschmackvolle Blautöne, gelbliche Sahnefarben, Rosa-, Weiß- und Schaumgrün-Schattierungen. Der Gesamteindruck war der eines aus köstlichen Meerkieseln erbauten Palastes, in dem die Macht des Ozeans alles geglättet und abgerundet hatte.

Hinter den Damen und Herren des Hofes lagen die hohen Bogenfenster, die auf das bewegte, sonnengefleckte grüne Meer hinausgingen; sie nahmen die ganze Südwestwand gegenüber dem Sessel des Herzogs ein. Die See, die unaufhörlich gegen das felsige Vorgebirge anbrandete, auf dem sich der herzogliche Palast erhob, war ein bebender, lebender Teppich. Eolair, der den ganzen Tag zugeschaut hatte, wie das wandernde Licht auf der Wasseroberfläche tanzte oder stille Seeflächen enthüllte, die schwer und durchscheinend waren wie Jade, wünschte sich oft, er könnte die Höflinge einfach beiseite fegen und übereinanderpurzelnd und quiekend aus dem Saal scheuchen, damit nichts mehr ihm diese Aussicht versperrte.

»Ihr mögt recht haben, Herzog Leobardis«, erklärte Eolair nach einer Pause. »Man muß irgendwann mit dem Reden aufhören, sogar wenn es um lebenswichtige Dinge geht. Vermutlich sollte ich mir hier, wo ich sitze, den Ozean als Beispiel nehmen. Er braucht nicht hart zu arbeiten, um zu bekommen, was er will; irgendwann wird er die Felsen abgetragen haben … die Küsten … selbst die Berge.«

Diese Art Unterhaltung sagte Leobardis mehr zu. »Ja, das Meer ändert sich nie, nicht wahr? Und doch herrscht dort ein ständiger Wechsel.«

»Das stimmt, Herr. Und es ist nicht immer ruhig. Manchmal gibt es Stürme.«

Der Herzog warf einen schrägen Blick auf den Hernystiri; er wußte nicht recht, ob diese Bemerkung mehr andeutete, als sich unmittelbar daraus entnehmen ließ. In diesem Augenblick betrat sein Sohn Benigaris den Raum, nickte einigen der Höflinge, die ihn begrüßten, kurz zu und näherte sich dem Sessel des Herzogs.

»Mein herzoglicher Vater; Graf Eolair«, sagte er und machte beiden eine Verbeugung. Eolair lächelte und streckte die Hand zum Händedruck aus.

»Es tut gut, Euch zu sehen«, sagte der Hernystiri. Benigaris war größer als beim letzten Mal, als er ihm gegenübergestanden hatte, aber damals war der Herzogssohn auch erst siebzehn oder achtzehn Jahre alt gewesen. Fast zwei Jahrzehnte waren seither vergangen, und Eolair war nicht traurig festzustellen, daß er zwar gute acht Jahre älter war als Benigaris, daß aber dieser und nicht er sich um den Gürtel gerundet hatte. Nichtsdestoweniger war der Sohn des Herzogs hochgewachsen und breitschultrig und hatte aufmerksame, dunkle Augen unter dichten, schwarzen Brauen. In seiner gegürteten Tunika und der gesteppten Weste machte er eine recht eindrucksvolle Figur – ein kraftvoller Gegensatz zu seinem liebenswürdigen Vater.

»Heja, es ist lange her«, stimmte Benigaris zu. »Wir wollen uns heute beim Abendessen darüber unterhalten.« Eolair hatte nicht das Gefühl, daß der andere von dieser Aussicht besonders hingerissen war. Benigaris wandte sich zu seinem Vater: »Herr Fluiren möchte Euch sprechen. Im Augenblick ist er beim Kämmerer.«

»Ach, der gute alte Fluiren! Das wird Euch wie Ironie vorkommen, Eolair. Einer der größten Ritter, die Nabban je hervorgebracht hat.«

»Nur Euren Bruder Camaris nannte man je größer«, unterbrach Eolair, der nicht ungern Erinnerungen an ein kriegerischeres Nabban weckte.

»Ja, mein lieber Bruder.« Leobardis lächelte ein trauriges Lächeln. »Aber wenn man sich vorstellt, daß Fluiren als Gesandter von Elias zu mir kommt!«

»Es liegt eine gewisse Ironie darin«, erwiderte Eolair leichthin. Benigaris kräuselte ungeduldig die Lippen. »Er erwartet Euch. Ich denke, Ihr solltet ihn schnellstens empfangen – ein Zeichen Eurer Achtung für den Hochkönig.«

»So, so!« Leobardis warf Eolair einen belustigten Blick zu. »Hört Ihr, wie mein Sohn mich herumkommandiert?« Doch kam es Eolair vor, als liege noch etwas anderes als Erheiterung in Leobardis' Blick – Zorn? Sorge?

»Also gut, sag meinem alten Freund Fluiren, ich würde ihn empfangen … laß mich überlegen … ja, im Ratssaal. Wollt Ihr uns begleiten, Eolair?«

Benigaris drängte sich dazwischen. »Vater, ich glaube nicht, daß Ihr selbst einen so vertrauenswürdigen Freund wie den Grafen auffordern solltet, geheime Mitteilungen des Hochkönigs mit anzuhören!«

»Und warum, wenn ich fragen darf, sollte es notwendig sein, Geheimnisse vor Hernystir zu haben?« erkundigte sich der Herzog, dessen Stimme einen zornigen Unterton bekommen hatte. »Mit Verlaub, Herzog, ich habe ohnehin noch Dinge zu erledigen. Ich werde später nachkommen, um Fluiren zu begrüßen.« Eolair stand auf und verbeugte sich.

Als er beim Durchqueren des Thronsaales noch einmal innehielt, um die herrliche Aussicht zu genießen, hörte er hinter sich die in gedämpftem Streit erhobenen Stimmen von Leobardis und seinem Sohn.

Wellen erzeugen weitere Wellen, wie die Nabbanai sagen, dachte Eolair. Es sieht aus, als sei Leobardis' Gleichgewicht empfindlicher, als ich dachte. Bestimmt ist das der Grund dafür, daß er nicht offen mit mir über seine Schwierigkeiten mit dem König reden will. Nur gut, daß Leobardis ein zäherer Bursche ist, als es nach außen scheint.

Hinter sich hörte er die Höflinge tuscheln und sah, als er sich umdrehte, daß mehrere in seine Richtung blickten. Er lächelte und nickte ihnen zu. Die Frauen erröteten und bedeckten den Mund mit den fließenden Ärmeln; die Männer nickten ernsthaft und wandten rasch den Blick ab. Er wußte, was sie dachten – er war ein Gegenstand ihrer Neugierde, ein bäuerlicher, ungebildeter Mann aus dem Westen, selbst wenn er ein alter Freund des Herzogs war. Ganz gleich, was er anziehen und wie fehlerlos er sprechen mochte, daran würde sich nichts ändern. Plötzlich überkam Eolair tiefe Sehnsucht nach seiner Heimat in Hernystir. Er war schon viel zu lange an diesen fremdländischen Höfen.

Unten brandeten die Wellen an die Felsen, als wäre das Meer so lange nicht zufrieden, bis seine ungeheuerliche Geduld endlich den Palast in seine wäßrige Umklammerung stürzen ließ.


Eolair brachte den restlichen Nachmittag damit zu, durch die hohen, luftigen Gänge und säuberlich gepflegten Gärten der Sancellanischen Mahistrevis zu schlendern. Heute Herzogspalast und Kapitol von Nabban, war sie einst Regierungssitz des gesamten Menschenreiches von Osten Ard gewesen. Auch wenn sie an Bedeutung verloren hatte, war sie doch immer noch voller Herrlichkeiten.

Oben vom felsigen Grat der Sancellanischen Hügel blickten die Westmauern des Palastes auf das Meer hinaus, das stets Nabbans Lebensblut gewesen war. Nicht umsonst hatten alle vornehmen Familien Nabbans Wasservögel als Symbole ihrer Macht gewählt: den benidrivinischen Eisvogel der jetzigen Herzogsdynastie, den prevanischen Fischadler und den ingadarinischen Albatros; sogar den Reiher von Sulis, der einmal, wenn auch nur für kurze Zeit, in Erkynland über dem Hochhorst geweht hatte.

Östlich vom Palast erstreckte sich die Stadt Nabban über die Landzunge der Halbinsel, eine überfüllte, ausufernde Stadt aus Hügeln und dicht bebauten Wohnvierteln, die erst dann weitläufiger wurde, als die Halbinsel in die Wiesen und Gehöfte des Seenlands überging. Nabbans Gesichtsfeld war enger geworden, von der ganzen bekannten Welt von einst zu diesem Halbinsel-Herzogtum mit seinem Brautschleier dazugehöriger Inseln; und seine Herrscher hatten sich auf sich selbst zurückgezogen. Und doch hatte vor keineswegs allzulanger Zeit der Mantel der Imperatoren von Nabban die ganze Welt bedeckt, vom brackigen Wran bis zu den fernsten Enden des eisigen Rimmersgard. Damals hatten im Hader zwischen Fischadler und Pelikan und im Streit zwischen Reiher und Möwe Belohnungen als Preis gewinkt, für die man alles aufs Spiel setzte.

Eolair wanderte durch die Springbrunnenhalle, in der glitzernde Schaumfontänen aufstiegen, um sich unter dem offenen Gitterwerk des steinernen Dachs zu feinem Nebel zu vermischen. Er fragte sich, ob die Nabbanai überhaupt noch den Willen zum Kämpfen besaßen oder sich einfach mit ihrem langsamen Niedergang abgefunden hatten, so daß Elias' Provokationen nur dazu führen würden, daß sie sich noch weiter in ihr schönes, zierliches Schneckenhaus zurückzogen. Wo waren sie, die großen Männer, die das Reich von Nabban einst aus dem rohen Stein von Osten Ard gehauen hatten – Männer wie Tiyagaris oder Anitulles?

Natürlich, dachte er, war da Camaris – ein Mann, der, wenn ihm nicht das Dienen so viel wichtiger gewesen wäre als das Sich-Bedienen-Lassen, die willige Welt in der hohlen Hand hätte festhalten können. Ja, Camaris war wirklich ein mächtiger Mann gewesen.

Und wer sind wir Hernystiri denn, daß wir den Mund aufmachen dürfen? fragte er sich weiter. Welche Männer sind seit Hern dem Großen aus unseren westlichen Ländern hervorgegangen? Tethtain, der Sulis den Hochhorst abgewann? Vielleicht. Aber wer sonst? Wo ist Hernystirs Halle der Springbrunnen, wo sind unsere großen Paläste und Kirchen?

Aber eben darin liegt natürlich der Unterschied. Er sah über die strömenden Brunnen zur Domspitze der Sancellanischen Ädonitis hinüber, dem Palast des Lektors und der Mutter Kirche. Wir Hernystiri schauen nicht auf die Bergbäche und sagen: Wie nehme ich das mit nach Hause? Wir gehen hin und bauen unser Haus neben den Bach. Wir haben keinen gesichtslosen Gott, den wir mit Türmen verherrlichen, die höher sind als die Bäume im Circoille. Wir wissen, daß die Götter in den Bäumen und in den Gebeinen der Erde und in den Flüssen leben, die genauso hoch aufsprühen wie nur irgendein Springbrunnen, wenn sie vom Grianspog-Gebirge zu Tal brausen.

Wir wollten nie die Welt regieren. Er lächelte vor sich hin und dachte an den Taig in Hernysadharc, einer Burg, die nicht aus Steinen erbaut war, sondern aus Holz, und deren Herz aus Eiche war und zu den Herzen seines Volkes paßte. Wirklich, wir wollen nichts anderes, als in Ruhe gelassen werden. Aber nach ihren vielen Jahren voller Eroberungen haben diese Nabbanai vielleicht vergessen, daß man manchmal auch gewöhnlich darum kämpfen muß.

Als er den Springbrunnensaal verließ, streifte Eolair von Nad Mullagh zwei eintretende Legionärswachen.

»Verdammter Gebirgler«, hörte er einen der beiden sagen, der Eolairs Kleidung und den Pferdeschwanz seiner schwarzen Haare musterte.

»Heja, weißt du«, bemerkte der andere, »ab und zu müssen auch die Schafhirten herkommen und sich anschauen, wie eine Stadt aussieht.«


»… Und wie geht es meiner kleinen Nichte Miriamel, Graf?« fragte die Herzogin. Eolair saß nahe dem Kopfende der langen Tafel zu ihrer Linken. Fluiren als Zuletztgekommener und hervorragender Sohn Nabbans hatte den Ehrenplatz auf der rechten Seite von Leobardis inne.

»Es schien ihr gut zu gehen, Herrin.«

»Habt Ihr sie oft gesehen, als Ihr Euch am Hof des Hochkönigs aufhieltet?«

Die Herzogin Nessalanta hob eine wundervoll gezeichnete Augenbraue und beugte sich näher zu ihm. Sie war eine ältere Frau von strenger Schönheit, bei der man freilich nicht recht wußte, wieviel davon den geschickten Händen ihrer Haarkünstlerinnen, Näherinnen und Zofen zu verdanken war. Eolair jedenfalls konnte es sich nicht vorstellen. Nessalanta war genau die Art Frau, die ihn – der er mit der Gesellschaft des schönen Geschlechtes durchaus vertraut war – zutiefst verunsicherte. Sie war jünger als ihr Gemahl, aber doch die Mutter eines Mannes in reichlich mittleren Jahren. Was also war bleibende Schönheit, was Kunstwerk? Andererseits, kam es überhaupt darauf an? Nessalanta war eine mächtige Frau, und nur Leobardis selbst hatte größeren Einfluß auf die Staatsgeschäfte.

»Ich war nicht oft in Gesellschaft der Prinzessin, Herzogin, aber wir hatten mehrmals die Möglichkeit, beim Abendessen miteinander zu sprechen. Sie war so entzückend wie stets, aber ich glaube, sie hatte bereits großes Heimweh nach Meremund.«

»Hmmm.« Die Herzogin steckte eine Ecke ihres Tellerbrotes in den Mund und leckte sich zierlich die Finger ab. »Es ist mir interessant, daß Ihr das erwähnt, Graf Eolair. Ich habe gerade Nachricht aus Erkynland bekommen, daß sie in die Burg von Meremund zurückgekehrt ist.« Sie hob die Stimme. »Vater Dinivan?«

Ein paar Plätze weiter unten sah ein junger Priester von seiner Mahlzeit auf. Obwohl sein Schädel nach Klosterart geschoren war, wuchs das verbleibende Haar lockig und recht lang.

»Ja, Herrin?« fragte er.

»Vater Dinivan ist der Privatsekretär Seiner Heiligkeit des Lektors Ranessin«, erklärte Nessalanta. Der Hernystiri machte ein beeindrucktes Gesicht, und Dinivan lachte.

»Ich glaube nicht, daß dies auf besondere Geistesgaben oder Talente meinerseits zurückzuführen ist«, bemerkte er. »Der Lektor nimmt auch herrenlose Hunde auf, was Escritor Velligis furchtbar erregt. ›Die Sancellanische Ädonitis ist kein Hundezwinger‹, erklärt er dem Lektor, aber Seine Heiligkeit lächelt nur und erwidert: ›Osten Ard ist auch keine Kinderstube, und doch läßt der Wohlwollende Herr seine Kinder dort spielen, so unartig sie sich auch benehmen.‹« Dinivan wackelte mit den buschigen Brauen. »Mit dem Lektor kann man schwer diskutieren.«

»Stimmt es nicht«, fragte die Herzogin, als Eolair lachte, »daß der König, als Ihr ihn saht, Euch sagte, seine Tochter sei nach Meremund gereist?«

»Doch, das tat er«, erwiderte Dinivan, jetzt ernsthafter. »Er sagte, sie sei erkrankt und die Hofärzte rieten zu Seeluft.«

»Das tut mir leid.« Eolair sah an der Herzogin vorbei auf Leobardis und den alten Ritter Fluiren, die sich inmitten des Abendbrotlärms leise unterhielten – für ein zivilisiertes Volk, dachte er, hatten die Nabbanai erstaunlich viel Spaß an lauten Tischgesprächen.

»Nun ja«, verkündete Nessalanta und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, worauf sofort ein Page mit einer Fingerschale herbeisprang, »das beweist nur, daß man Menschen nicht mit Gewalt zu etwas machen kann, das sie nicht sind. Natürlich hat Miriamel Nabbanai-Blut, und unser Blut ist salzig wie die See. Wir gehören an die Küste – und man sollte bleiben, wo man hingehört.«

Und was, fragte der Graf sich innerlich, wollt Ihr mir damit sagen, gnädigste Herrin? Daß ich in Hernystir bleiben und Euren Gatten – und Euer Herzogtum – in Frieden lassen soll? Kurzum: zurück zu meinesgleichen?

Sehnsüchtig beobachtete Eolair, wie Leobardis und Fluiren miteinander debattierten. Man hatte ihn ausmanövriert, das wußte er; es gab keine höfliche Art, wie er die Herzogin übergehen und am Gespräch der beiden teilnehmen konnte. Inzwischen redete der alte Fluiren auf den Herzog ein und überschüttete ihn mit Elias' süßen Worten. Und seinen Drohungen? Nein, wahrscheinlich nicht. Dazu hätte Elias nicht den würdigen Fluiren geschickt. Für solche Zwecke hielt er erforderlichenfalls Guthwulf bereit, die Königliche Hand.

Eolair ergab sich in sein Schicksal und führte eine leichte Unterhaltung mit der Herzogin, aber sein Herz war nicht bei der Sache. Er war jetzt überzeugt, daß sie seine Mission kannte und ihr ablehnend gegenüberstand. Benigaris war ihr Augapfel, und er hatte Eolairs Gesellschaft den ganzen Abend gemieden. Nessalanta war eine ehrgeizige Frau und zweifellos der Ansicht, daß das Wohlergehen Nabbans sicherer wäre, wenn die Macht von Erkynland dahinterstünde – selbst eines dominierenden, tyrannischen Erkynlandes –, als in einem Bündnis mit den Heiden von Hernystir.

Und, wurde Eolair plötzlich klar, sie hat selber eine heiratsfähige Tochter, die Herrin Antippa. Vielleicht ist ihre Anteilnahme an Miriamels Gesundheit nicht nur die einer freundlichen Tante an ihrer Nichte?

Er wußte, daß die Herzogstochter Antippa bereits einem Baron Devasalles versprochen war, einem jungen adligen Gecken, der sich just in diesem Augenblick am untersten Ende der Tafel in einer Weinpfütze mit Benigaris im Armdrücken maß. Aber vielleicht hatte Nessalanta Größeres im Auge.

Wenn Prinzessin Miriamel nicht heiraten will – oder kann –, grübelte Eolair, dann erhoffte sich die Herzogin vielleicht Fengbald als Gatten für ihre Tochter. Der Graf von Falshire wäre eine weit bessere Partie als dieser Nabbanai-Baron aus den hinteren Rängen. Und Herzog Leobardis wäre mit stählernen Seilen an Erkynland gefesselt.

Das hieß, begriff der Graf, daß man sich nicht nur darüber Sorgen machen mußte, wo Josua geblieben war, sondern auch über Miriamel. Was für ein Durcheinander!

Wenn das der alte Isgrimnur sehen könnte, der sich immer über die vielen Intrigen beschwert! Sein Bart würde Feuer fangen!

»Sagt mir doch, Vater Dinivan«, fragte der Graf, indem er sich dem Priester zuwandte, »was hat Euer heiliges Buch über die Kunst des Politisierens zu sagen?«

»Nun«, einen Augenblick überschattete ein Ausdruck der Konzentration Dinivans schlichte, intelligente Züge, »das Buch Ädon spricht oft von den Prüfungen der Völker.« Er dachte eine weitere Sekunde nach. »Eine meiner Lieblingsstellen war immer diese hier: So der Feind mit dem Schwert in der Hand zu dir kommt, öffne ihm die Tür und sprich mit ihm, doch halte dein eigenes Schwert bereit. Kommt er mit leeren Händen, so empfange ihn ebenso. Kommt er aber mit Geschenken, so stelle dich auf deine Mauern und wirf Steine auf ihn hinab.« Dinivan wischte sich die Finger an seiner schwarzen Priesterkutte ab.

»Fürwahr, ein Buch voller Weisheit«, nickte Eolair.

XXIII Zurück ins Herz

Der Wind schleuderte ihnen Regen ins Gesicht, als sie durch die Dunkelheit ostwärts und auf die unsichtbaren Vorberge zurannten. Der Lärm aus Isgrimnurs Lager blieb hinter ihnen zurück, erstickt unter einer Decke aus Donner.

Während sie so über die nasse Ebene liefen, begann Simons fieberhafte Erregung abzunehmen; das ekstatische Gefühl von Energie, die Vorstellung, er könne nun immer weiter durch die Nacht springen wie ein Hirsch, wurde nach und nach vom Regen und dem erbarmungslosen Gegenwind abgekühlt. Eine halbe Meile weiter hatte sich sein Galopp zum schnellen Schritt verlangsamt, und bald kostete auch dieser Mühe. An der Stelle, wo die Knochenhand sein Knie umklammert hatte, fühlte er das Gelenk steif werden wie ein verrostetes Scharnier; schmerzhafte Ringe um seinen Hals stachen bei jedem tiefen Atemzug.

»Morgenes … hat dich geschickt?« rief er.

»Später, Simon«, japste Binabik. »Alles wird später erzählt.«

Sie rannten und rannten, stolperten und spritzten über den durchnäßten Grasboden.

»Und was…«, keuchte Simon, »was waren das für … Wesen?«

»Die … euch angegriffen haben?« Selbst im Rennen machte der Troll eine seltsame Gebärde mit der Hand nach dem Mund. »Bukken … Gräber nennt man … sie auch.«

»Was sind sie?« fragte Simon und wäre um ein Haar auf einer schlammigen Stelle ausgeglitten. Einen Augenblick lang rutschte er plattfüßig nach vorn.

»Übel.« Binabik verzog das Gesicht. »Nichts mehr, das jetzt berichtet werden müßte.«

Als sie nicht mehr rennen konnten, gingen sie, stapften weiter, bis sich die Sonne hinter der Wolkenbank nach oben schob wie eine Kerze hinter einem grauen Laken. Vor ihnen ragte der Weidhelm auf, und seine Umrisse zeichneten sich vor der bleichen Dämmerung ab wie die gebeugten Rücken betender Mönche.


Im kargen Schutz einer Ansammlung runder Granitfelsen, die übergangslos aus dem Grasmeer wuchsen, als wollten sie die hinter ihnen liegenden Berge nachahmen, schlug Binabik eine Art Lager auf. Nachdem er auf der Suche nach einer Stelle, die den besten Schutz von dem aus unterschiedlichen Richtungen kommenden Regen bot, um die Felsen herumgegangen war, half er Simon in eine Lücke hinunter, die von zwei aneinanderlehnenden Blöcken gebildet wurde. Sie formten einen Winkel, in dem sich der Junge mit einem Mindestmaß an Bequemlichkeit niederlegen konnte. Schnell fiel Simon in schlaffen, erschöpften Schlaf.

Von den Spitzen der Blöcke sprangen fliegende Regentropfen. Binabik hockte am Boden, stopfte den Mantel des Jungen, den der Troll mit dem Rest ihrer Habseligkeiten den ganzen langen Weg von Sankt Hoderund mitgeschleppt hatte, um ihn herum und wühlte dann in seinem Rucksack nach etwas Trockenfisch zum Kauen und nach seinen Knöcheln. Qantaqa kam von einem Erkundungszug durch ihr neues Revier zurück und rollte sich auf Simons Schienbeinen zusammen. Der Troll nahm die Knöchel heraus und warf sie, wobei ihm der Rucksack als Tisch diente.

Pfad im Schatten. Binabik grinste ein bitteres Grinsen. Dann Herrenloser Widder und noch einmal Pfad im Schatten. Er fluchte leise, aber ausführlich. Nur ein Narr konnte eine so deutliche Botschaft unbeachtet lassen. Binabik wußte, daß er viele Eigenschaften besaß, zu denen gelegentlich auch die Torheit gehörte, aber jetzt war weder Zeit noch Ort für solche Wagnisse.

Er zog sich die Pelzkapuze wieder über die Ohren und legte sich neben Qantaqa. Für jeden Vorüberkommenden, wenn er denn in dem schwachen Licht und mit dem Regen im Gesicht überhaupt etwas bemerkt hätte, würden die drei Gefährten kaum anders ausgesehen haben als ungewöhnliche graubraune Flechten auf der Windschattenseite der Felsen.


»Also was für ein Spiel hast du nun mit mir gespielt, Binabik?« erkundigte Simon sich unfreundlich. »Woher weißt du von Doktor Morgenes?« In den wenigen Stunden, die er geschlafen hatte, war aus der fahlen Dämmerung ein kalter, düsterer Morgen geworden, ohne tröstendes Lagerfeuer oder Frühstück. Der wolkengeschwollene Himmel hing so dicht über ihnen wie eine niedrige Zimmerdecke.

»Es ist kein Spiel, das ich spiele«, erwiderte der Troll. Er hatte Simons Hals- und Beinwunden gereinigt und verbunden und versorgte jetzt geduldig Qantaqa. Nur eine der Verletzungen der Wölfin war ernsterer Natur, ein tiefer Riß an der Innenseite eines Vorderlaufes. Während Binabik den Sand aus der Haut entfernte, beschnüffelte Qantaqa seine Finger, vertrauensvoll wie ein Kind.

»Ich habe kein Bedauern, es dir nicht gesagt zu haben; hätte ich mich nicht dazu gezwungen gefühlt, wüßtest du es noch nicht.« Er rieb einen Finger voll Salbe in die Wunde, dann gab er sein Reittier frei. Sofort beugte sie sich hinunter und fing an, das Bein zu belecken und daran herumzubeißen. »Ich wußte, daß sie das tun würde«, erklärte der Troll mit mildem Vorwurf und setzte dann ein nachsichtiges Lächeln auf. »Wie du, glaubt sie nicht, daß ich mein Handwerk verstehe.«

Simon merkte, daß auch er unbewußt an seinen Verbänden gezupft hatte und lehnte sich nach vorn. »Los, Binabik, sag mir, was hier vorgeht. Woher weißt du von Morgenes? Woher kommst du wirklich?«

»Ich komme genau dorther, wo ich es sage«, entgegnete der Troll entrüstet. »Ich bin ein Qanuc. Und ich weiß nicht nur von Morgenes, ich bin ihm sogar einmal begegnet. Er ist ein guter Freund meines Meisters. Sie sind … Kollegen, sagen die gelehrten Männer dazu, denke ich.«

»Was soll das heißen?«

Binabik setzte sich an den Felsen. Obwohl gerade kein Regen fiel, vor dem man sich schützen mußte, war schon der schneidende Wind Grund genug, in der Nähe der Felsgruppe zu bleiben. Der kleine Mann schien sich seine Worte sorgfältig zu überlegen. Simon fand, er sehe müde aus, die dunkle Haut lose und einen Ton blasser als sonst.

»Zuerst«, begann der Troll endlich, »mußt du etwas über meinen Meister wissen. Sein Name war Ookequk. Er war der … Singende Mann, wie ihr es wohl nennen würdet, unseres Berges. Mit der Bezeichnung Singender Mann meinen wir nicht jemanden, der nur singt, sondern einen Mann, der sich an die alten Lieder und die alte Weisheit erinnert. Wie Doktor und Priester in einem, scheint mir.

Ookequk wurde mein Meister, weil die Ältesten in mir gewisse Dinge zu sehen glaubten. Es war eine große Ehre, derjenige zu sein, der Ookequks Weisheit teilen sollte – ich nahm drei Tage kein Essen zu mir, als man es mir sagte, nur um die richtige Reinheit zu erlangen.« Binabik lächelte. »Als ich das voller Stolz meinem neuen Meister erzählte, schlug er mich aufs Ohr. ›Du bist zu jung und zu dumm, um dich vorsätzlich auszuhungern‹, sagte er zu mir. ›Es ist Hochmütigkeit. Verhungern darfst du nur zufällig.‹«

Binabiks Grinsen wurde breiter und verwandelte sich in Gelächter; als Simon einen Augenblick darüber nachgedacht hatte, lachte auch er ein wenig.

»Auf jeden Fall«, fuhr Binabik fort, »werde ich dir eines Tages von meinen Jahren des Lernens bei Ookequk erzählen – er war ein großer, fetter Troll, Simon, der mehr wog als du und doch nur so hoch war wie ich –, jetzt müssen wir leider schneller zur Sache kommen.

Ich weiß nicht mit Genauigkeit, wann mein Meister Morgenes das erste Mal begegnete, doch es war lange bevor ich in seine Höhle kam. Sie waren aber Freunde, und mein Meister lehrte Morgenes die Kunst, Botschaften von Vögeln überbringen zu lassen. Sie hatten viele Gespräche in Briefen, mein Meister und dein Doktor. Sie hatten viele gemeinsame … Vorstellungen über den Lauf der Welt.

Vor gerade zwei Sommern kamen meine Eltern ums Leben. Ihr Tod geschah im Drachenschnee des Berges, den wir das Näschen nennen, und als sie nicht mehr da waren, widmete ich all mein Denken – oder doch fast alles – dem Lernen von Meister Ookequk. Als er mir letztes Tauwetter sagte, ich sollte ihn auf einer großen Reise nach Süden begleiten, war ich voller Aufregung. Es schien mir ganz klar, daß das die Prüfung meiner Würdigkeit sein sollte.

Was ich allerdings nicht wußte«, fuhr der Troll fort und stocherte mit seinem Wanderstab vor sich im lehmigen Gras – fast zornig, dachte Simon, aber es lag kein Zorn in Binabiks Stimme –, »was ich nicht erfuhr, war, daß Ookequk wichtigere Reisegründe hatte als den Abschluß meiner Lehrzeit. Er hatte Nachricht von Doktor Morgenes erhalten … und von einigen anderen … über Dinge, die ihn beunruhigten, und er fand, es sei Zeit, den Besuch zu erwidern, den Morgenes ihm vor langen Jahren gemacht hatte, als ich gerade neu zu ihm gekommen war.«

»Was für ›Dinge‹?« fragte Simon. »Was hatte ihm Morgenes mitgeteilt?«

»Wenn du es noch nicht weißt«, meinte Binabik ernst, »dann gibt es vielleicht noch Wahrheiten, die du nicht benötigst. Darüber muß ich nachdenken, aber für jetzt laß mich erzählen, was ich kann.« Simon, zurückgewiesen, nickte steif.

»Ich will dich auch nicht mit der langen Geschichte unserer Reise nach Süden belasten. Mir wurde schon sehr bald klar, daß mein Meister mir auch nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte. Er machte sich Sorgen, große Sorgen, und wenn er die Knochen warf oder bestimmte Zeichen am Himmel und im Wind las, wurden sie noch größer. Außerdem hatten wir ein paar äußerst üble Erlebnisse. Du weißt ja, daß ich schon viel allein gereist bin, größtenteils bevor ich der Diener meines Meisters wurde; nie aber habe ich so schlechte Zeiten für Reisende gesehen. Ein Abenteuer ganz ähnlich dem deinen letzte Nacht hatten auch wir, gerade unterhalb des Drorshullvenn-Sees in der Frostmark.«

»Du meinst diese … Bukken?« fragte Simon. Selbst am hellen Tage war der Gedanke an die krallenden Hände grauenvoll lebendig.

»Allerdings«, nickte Binabik, »und das war … ist … ein schlechtes Zeichen, daß sie so angreifen. Es ist nicht in Erinnerung meines Volkes, daß die Boghanik, so lautet unser Name für sie, eine Gruppe bewaffneter Männer überfallen, und das auf so furchterregende Weise. Ihre übliche Gewohnheit ist, Tieren und einzelnen Reisenden aufzulauern.«

»Was sind sie?«

»Später, Simon, wirst du vieles lernen, wenn du Geduld mit mir hast. Auch mein Meister hat mir nicht alles gesagt – womit ich nicht meine, bitte beachte, daß ich dein Meister wäre –, aber er war in größter Unruhe. Auf unserer ganzen Reise durch die Frostmark habe ich ihn nicht schlafen sehen. Wenn ich einschlief, war er immer noch wach, und der Morgen fand ihn vor mir auf den Beinen. Und er war nicht mehr jung; schon als ich zu ihm kam, war er alt, und ich war mehrere Jahre bei ihm und studierte.

Eines Tages, als wir endlich die nördliche Grenze von Erkynland überschritten hatten, bat er mich, Wache zu stehen, damit er die Straße der Träume gehen konnte. Wir waren an einem Ort ganz ähnlich diesem hier«, Binabik zeigte mit der Hand auf die öde Ebene am Fuß der Berge, »der Frühling war gekommen, hatte sich aber noch nicht durchgesetzt. Es war, oh, ungefähr zur Zeit des Allernarrentages oder einen Tag davor.«

Am Vorabend des Allernarrentages … Simon versuchte zurückzudenken, sich zu erinnern. Die Nacht, in der dieser furchtbare Lärm die ganze Burg aufschreckte. Die Nacht bevor … der Regen kam …

»Qantaqa war auf der Jagd, und der alte Widder Einauge – groß, fett und geduldig genug, Ookequk zu tragen! – schlief am Feuer. Wir waren allein, nur wir und der Himmel. Mein Meister aß von der Traumborke, die aus dem Marschland von Wran im Süden zu ihm gekommen war. Er verfiel in eine Art Schlummer. Er hatte mir nicht gesagt, warum er das tat, aber ich konnte mir denken, daß er nach Antworten suchte, die er auf andere Weise nicht finden konnte. Die Boghanik hatten ihm angst gemacht, weil ihr Verhalten ein falsches war.

Bald fing er an vor sich hin zu murmeln, wie er es gewöhnlich tat, wenn sein Herz auf der Straße der Träume wandelte. Vieles war unverständlich, aber ein paar Dinge, von denen er sprach, hat auch Bruder Dochais erwähnt; das ist der Grund, weshalb du mir vielleicht Erstaunen angemerkt hast.«

Simon mußte ein saures Lächeln unterdrücken. Und er hatte geglaubt, es wäre seine eigene, von den fieberwirren Worten des Hernystiri angefachte Furcht, die so deutlich für alle gewesen wäre!

»Auf einmal«, fuhr der Troll fort und bohrte immer noch verbissen mit seinem Stab im schlammigen Gras, »schien es mir, als hätte ihn etwas gepackt – wieder eine Ähnlichkeit mit Bruder Dochais. Aber mein Meister war stark, stärker im Herzen, glaube ich, als fast jeder andere, Mensch oder Troll, und er wehrte sich. Er kämpfte und kämpfte immer weiter, den ganzen Nachmittag lang und in den Abend hinein, während ich daneben stand und nicht helfen konnte, außer ihm die Stirn zu befeuchten.« Binabik riß eine Handvoll Gras aus, warf sie in die Luft und schlug mit dem Stock danach. »Dann, kurze Zeit nach der Mitte der Nacht, sagte er einige Worte zu mir – ganz ruhig, als säße er mit den anderen Ältesten in der Stammeshöhle beim Trinken – und starb.

Ich glaube, es war schlimmer für mich als bei meinen Eltern, denn sie waren plötzlich verschwunden – einfach in einer Schneelawine verschüttet, ohne eine Spur. Ich begrub Ookequk dort an einem Berghang. Keines der geziemenden Rituale wurde ordnungsgemäß vollzogen, und das ist eine Schande für mich. Einauge wollte nicht fort von seinem Herrn; soweit ich wissen kann, ist er vielleicht immer noch bei ihm. Ich hoffe es.«

Der Troll schwieg eine Weile und starrte verbissen auf das zerkratzte Leder an den Knien seiner Hose. Sein Schmerz war Simons eigenem Leid so ähnlich, daß dem Jungen keine Worte einfielen, die für jemand anderen als ihn selbst sinnvoll gewesen wären. Etwas später öffnete Binabik stumm seinen Rucksack und bot ihm eine Handvoll Nüsse an. Simon nahm sie und auch den Wasserschlauch.

»Dann«, fing Binabik wieder an, fast als habe er keine Pause gemacht, »geschah etwas Seltsames.« Simon kuschelte sich in seinen Mantel und schaute in das Gesicht des Trolls, der fortfuhr: »Zwei Tage hatte ich an der Grabstätte meines Meisters zugebracht. Es war eigentlich ein schöner Ort, der unter freiem Himmel lag, aber trotzdem tat mir das Herz weh, weil ich wußte, daß er hoch oben im Gebirge glücklicher gewesen wäre. Ich dachte nach, was ich nun anfangen sollte, zu Morgenes nach Erchester Weiterreisen oder zu meinem Volk zurückkehren und verkünden, daß der Singende Mann Ookequk tot war.

Am Nachmittag des zweiten Tages entschied ich mich dafür, umzukehren. Ich wußte nicht, wie wichtig die Unterredung meines Meisters mit Doktor Morgenes war – bedauerlicherweise weiß ich es immer noch nicht recht –, und ich hatte andere … Verantwortlichkeiten.

Als ich nach Qantaqa rief und den treuen Einauge ein letztes Mal zwischen den Hörnern kraulte, flatterte ein kleiner, grauer Vogel herab und landete auf Ookequks Grab. Ich erkannte ihn als einen der Botenvögel meines Meisters; er war sehr müde, weil er eine schwere Bürde trug, seine Botschaft und … und noch etwas anderes. Als ich zu ihm hinging, um ihn einzufangen, kam Qantaqa krachend durch das Unterholz gestürmt. Der Vogel, es ist nicht erstaunlich, war erschreckt und flog auf. Ich erwischte ihn um Haaresbreite. Es war eine Knappheit, Simon, aber ich fing ihn.

Die Botschaft war von Morgenes geschrieben, und sie handelte von dir, mein Freund. Sie sagte dem Leser – der mein Meister hätte sein sollen –, daß du in Gefahr seist und allein vom Hochhorst nach Naglimund reisen würdest. Sie bat meinen Meister, dir zu helfen, wenn möglich ohne dein Wissen. Und noch ein paar andere Dinge.«

Simon lauschte gebannt; hier war ein fehlendes Stück seiner eigenen Geschichte. »Was für ›andere Dinge‹?« wollte er wissen.

»Dinge nur für die Augen meines Meisters.« Binabiks Ton war freundlich, aber fest. »Man braucht wohl nicht zu erwähnen, daß jetzt alles anders aussah. Sein alter Freund bat meinen Meister um einen Gefallen … aber nur ich konnte ihm diesen Gefallen noch tun. Auch das war schwierig, aber sobald ich Morgenes' Nachricht gelesen hatte, wußte ich, daß ich seine Bitte erfüllen mußte. Also brach ich am selben Tage, noch vor Einbruch der Dämmerung, nach Erchester auf.«

Die Botschaft lautete, daß ich allein reisen würde. Morgenes hat nie geglaubt, daß er fliehen könnte. Simon fühlte, wie ihm die Tränen kamen, und versteckte die Mühe, die es ihn kostete, sie zu unterdrücken, hinter einer Frage.

»Aber wie solltest du mich finden?«

Binabik lächelte. »Mit Hilfe harter Qanuc-Arbeit, Freund Simon. Ich mußte deine Fährte aufspüren – Zeichen, daß ein junger Mann vorbeigekommen war, ohne festes Ziel, dergleichen Dinge. Harte Qanuc-Arbeit und eine Größe von Glück führten mich zu dir.«

In Simons Herz stieg jäh eine Erinnerung auf, grau und furchterregend selbst aus weiter Ferne. »Bist du mir auf der Begräbnisstätte gefolgt? Dort vor den Stadtmauern?« Es war nicht alles ein Traum gewesen, das wußte er. Etwas hatte seinen Namen gerufen.

Aber das runde Gesicht des Trolls blieb enttäuschend leer.

»Nein, Simon«, antwortete er und überlegte sorgfältig. »Ich habe deine Spur erst, denke ich, auf der Alten Forststraße entdeckt. Warum?«

»Es ist nicht wichtig.« Simon stand auf, streckte sich und blickte auf das feuchte Flachland hinaus. Dann setzte er sich wieder hin und griff nach dem Wasserschlauch. »Also gut. Ich denke, ich verstehe jetzt … aber ich muß mir über so vieles erst noch klarwerden. Es sieht ganz danach aus, als sollten wir doch nach Naglimund gehen, oder was meinst du?«

Binabik machte ein besorgtes Gesicht. »Ich bin nicht sicher, Simon. Wenn sich die Bukken in der Frostmark zeigen, ist die Straße zur Feste Naglimund für zwei einzelne Reisende zu gefährlich. Ich muß gestehen, daß ich mir große Sorgen mache. Ich wünschte, wir hätten deinen Doktor Morgenes hier, um uns einen Rat zu geben. Bist du in so großer Gefahr, Simon, daß wir nicht wenigstens irgendeine Botschaft an ihn wagen können? Ich glaube nicht, daß er will, daß ich dich durch so schreckliche Gefahren führe.«

Es dauerte einen Augenblick, bis Simon begriff, daß der ›er‹, von dem Binabik sprach, immer noch Morgenes war. Gleich darauf kam ihm die verblüffende Erkenntnis, daß der Troll ja gar nicht wußte, was vorgefallen war.

»Binabik«, begann er und hatte im selben Augenblick ein Gefühl, als füge er dem anderen eine Wunde zu, »er ist tot. Doktor Morgenes ist tot.«

Eine Sekunde lang riß der Kleine weit die Augen auf. Zum ersten Mal war das Weiß um die braune Iris sichtbar. Dann erstarrte Binabiks Miene sofort zur leidenschaftslosen Maske.

»Tot?« wiederholte er endlich, und seine Stimme war so kalt, daß es Simon ganz sonderbar zumute war – als müßte er sich verteidigen, als wäre das alles irgendwie seine Schuld –, und dabei hatte er doch so bitterlich um den Doktor geweint!

»Ja.« Simon überlegte kurz und ging dann bewußt ein Risiko ein. »Er starb, um Prinz Josua und mir aus der Burg zu helfen. König Elias hat ihn getötet – das heißt, er ließ ihn von Pryrates töten, der sein Gefolgsmann ist.«

Binabik starrte Simon in die Augen und sah dann zu Boden. »Ich wußte von Josuas Gefangenschaft. Es stand in dem Brief. Alles weitere sind … Neuigkeiten, und zwar sehr schlimme.« Er stand auf, und der Wind zerrte an seinem glatten, schwarzen Haar. »Laß mich jetzt ein Stück gehen, Simon. Ich muß nachdenken, was das alles bedeutet … ich muß nachdenken…«

Mit immer noch ausdruckslosem Gesicht entfernte sich der kleine Mann von der Felsgruppe. Sofort sprang Qantaqa ihm nach. Binabik wollte sie erst verscheuchen, zuckte dann aber die Achseln. Sie umkreiste ihn in weiten, trägen Bögen, während er langsam weiterging, den Kopf gesenkt, die kleinen Hände in den Ärmeln versteckt. Simon dachte, er sehe viel zu klein aus für das Gewicht, das auf ihm lastete.


Simon hatte halb und halb gehofft, der Troll würde bei seiner Rückkehr vielleicht eine fette Holztaube oder etwas ähnliches mitbringen. Doch er wurde enttäuscht.

»Tut mir leid, Simon«, meinte der kleine Mann, »aber wir hätten auch wenig davon gehabt. Mit nichts als nassem Gestrüpp ringsum hätten wir kein rauchloses Feuer machen können, und ich glaube, ein Feuer mit Rauchzeichen ist im Augenblick nicht günstig für uns. Iß ein Stück Trockenfisch.«

Der Fisch, schon recht knapp, war weder sättigend noch schmackhaft, aber Simon kaute finster auf seinem Stück herum: Wer wußte, wann er bei diesem unseligen Abenteuer das nächste Mal etwas zu essen bekommen würde?

»Ich habe nachgedacht, Simon. Deine Neuigkeit, ohne daß du daran schuld wärst, schmerzt mich. So bald nach dem Tod meines Meisters vom Ende des Doktors zu hören, eines so guten alten Mannes…«

Binabik verstummte, bückte sich dann und fing an, seine Sachen wieder im Rucksack zu verstauen, nachdem er zuvor verschiedene Gegenstände aussortiert hatte.

»Das gehört dir – schau, ich habe es für dich aufbewahrt.« Er gab Simon die beiden vertrauten röhrenförmigen Bündel. »Dieses hier…«, sagte Simon und nahm die Päckchen, »… nicht der Pfeil, sondern das da…«, er reichte es Binabik wieder hin, »… ist eine Schrift von Doktor Morgenes.«

»Wahrhaftig?« Binabik schob die Verpackung aus Lumpen an einer Ecke zurück. »Etwas, das uns hilft?«

»Ich glaube nicht«, antwortete Simon. »Es handelt von Leben und Regierung Johan Presbyters. Ich habe ein wenig darin gelesen – es geht hauptsächlich um Schlachten und solche Dinge.«

»Aha. Ja.« Binabik gab es Simon zurück, der es in den Gürtel schob. »Zu schade ist das. Wir könnten jetzt genauere Anweisungen von ihm brauchen.« Der Troll bückte sich und steckte weitere Gegenstände in seinen Rucksack. »Morgenes und Ookequk, mein Meister, die beiden gehörten zu einer ganz besonderen Gruppe.« Er holte etwas aus seinen Sachen und hielt es hoch, damit Simon es betrachten konnte. Im Licht des bedeckten Nachmittages glänzte es matt: ein Anhänger aus einer Schriftrolle und einem Federkiel.

»So etwas hatte Morgenes auch!« sagte Simon und beugte sich näher.

»Jawohl.« Binabik nickte. »Dies hier gehörte meinem Meister. Es ist ein Siegel, das alle besitzen, die dem Bund der Schriftrolle beitreten. Er hat, sagte mein Meister, nie mehr als sieben Mitglieder. Dein und mein Meister sind tot, also können nur noch fünf übrig sein.« Er schloß die kleine Hand rasch über dem Anhänger und warf ihn in den Rucksack zurück.

»Der Bund der Schriftrolle?« fragte Simon verwundert. »Was ist das?«

»Eine Gruppe von Gelehrten, die ihr Wissen miteinander teilen, habe ich meinen Meister sagen hören. Vielleicht noch mehr als das, aber darüber wollte er mir nie erzählen.« Der Troll war mit dem Packen fertig und richtete sich auf. »Es tut mir leid, Simon, das zu sagen, aber ich fürchte, wir müssen uns wieder auf den Weg machen.«

»Schon?« Bereits vergessene Schmerzen kehrten jäh in Simons Muskeln zurück.

»Mir scheint, es ist nötig. Wie ich erwähnte, habe ich mir viele Gedanken gemacht. Und dies ist es, was ich gedacht habe…« Er schraubte seinen Wanderstock fester zusammen und pfiff nach Qantaqa. »Erstens ist es meine Pflicht, dich nach Naglimund zu bringen. Daran hat sich nichts geändert; es war leider nur mein Entschluß, der ins Wanken geraten ist. Die Schwierigkeit liegt darin, daß ich der Frostmark nicht traue. Du hast die Bukken gesehen – wahrscheinlich wäre es dir auch lieber, ihnen nicht wieder zu begegnen. Aber wir müssen nach Norden. Ich denke darum, daß wir zum Aldheorte zurückgehen sollten.«

»Aber, Binabik, wie können wir dort sicherer sein? Was hindert diese Gräberwesen, uns in den Wald zu folgen, wo wir wahrscheinlich nicht einmal wegrennen können?«

»Eine gute Frage. Ich habe dir schon einmal von Altherz erzählt – von seinem Alter und … und … mir fällt in deiner Sprache kein Wort dafür ein, aber ›Seele‹ und ›Geist‹ geben dir vielleicht einen Begriff von dem, was ich meine.

Die Bukken können unter dem alten Wald durch, aber es ist nicht leicht für sie. Es liegt Macht in den Wurzeln des Aldheorte, Macht, die solche … Geschöpfe … nicht leicht überwinden können. Außerdem lebt dort jemand, den ich sehen muß, jemand, der erfahren muß, was mit deinem und meinem Meister geschehen ist.«

Simon hatte seine eigenen Fragen längst selber satt, erkundigte sich aber trotzdem: »Und wer ist das?«

»Ihr Name ist Geloë. Eine weise Frau ist sie, bekannt als Valada – das ist ein Rimmersgard-Wort. Außerdem kann sie uns vielleicht helfen, Naglimund zu erreichen, weil wir von der östlichen Seite des Waldes aus den Weldhelm überqueren müssen und ich diesen Weg nicht kenne.«

Simon zog seinen Mantel an und hakte die abgeschabte Schnalle unter dem Kinn fest. »Müssen wir heute noch fort?« fragte er. »Es ist schon später Nachmittag.«

»Simon«, sagte Binabik ernst, als Qantaqa mit hängender Zunge herbeigetrabt kam, »bitte glaub mir. Auch wenn es Dinge gibt, die ich dir noch nicht sagen kann, müssen wir wahre Gefährten sein. Ich brauche dein Vertrauen. Es geht hier nicht allein um Elias' Königtum. Wir haben beide jemanden verloren, an dem wir gehangen haben – einen alten Mann und einen alten Troll, die viel mehr wußten als wir. Sie hatten beide Angst. Bruder Dochais, denke ich, starb vor Angst. Etwas Böses erwacht, und es wäre töricht von uns, noch länger in offenem Gelände zu bleiben.«

»Was erwacht, Binabik? Welches Böse? Dochais nannte einen Namen – ich habe ihn gehört. Gerade bevor er starb, sagte er –«

»Du brauchst es nicht –«, wollte Binabik ihn unterbrechen, aber Simon kümmerte sich nicht darum. Er hatte die Andeutungen und Anspielungen nachgerade satt.

»… Sturmkönig«, schloß er energisch.

Binabik sah sich hastig um, als erwartete er, daß etwas Furchtbares erschiene. »Ja«, zischte er. »Ich habe es auch gehört, aber ich weiß nicht viel davon.« Hinter dem fernen Horizont ertönte ein Donnergrollen. Der kleine Mann machte ein grimmiges Gesicht. »Der Sturmkönig, das ist im dunklen Norden ein Name voller Grauen, Simon, ein Name aus Legenden, mit denen man den Leuten angst macht, mit dem man Beschwörungen spricht. Alles, was ich habe, sind kleine Worte, die mir mein Meister manchmal gesagt hat, aber sie reichen aus, um mich vor Sorge krank zu machen.« Er schulterte seinen Rucksack und marschierte in die schlammige Ebene hinaus, auf die plumpe, geduckte Reihe der Berge zu.

»Dieser Name«, ergänzte er, und seine Stimme klang inmitten solch flacher Leere sinnlos gedämpft, »allein genügt, um Ernten verdorren zu lassen, Fieber und schlechte Träume zu bringen…«

»… und Regen und schlechtes Wetter?« fragte Simon und sah zu dem häßlichen, tiefhängenden Himmel auf.

»Und noch viel mehr«, erwiderte Binabik und berührte mit der Handfläche seine Jacke, gerade über dem Herzen.

XXIV Die Hunde von Erkynland

Simon träumte, er gehe im Kieferngarten des Hochhorstes spazieren, unmittelbar draußen vor dem Speisesaal. Über den sanft rauschenden Bäumen hing die Steinbrücke, die Saal und Kapelle verband. Obwohl er keine Kälte empfand – eigentlich fühlte er seinen Körper überhaupt nicht, es sei denn als Mittel der Beförderung von einem Ort zum anderen –, schwebten ringsum sachte Schneeflocken herab. Die zarten, nadelspitzen Umrisse der Bäume begannen unter weißen Decken zu verschwimmen, und überall herrschte Stille; der Wind, der Schnee, Simon selbst – alles bewegte sich in einer Welt, in der es weder einen Laut noch eine schnelle Regung zu geben schien.

Der Wind, den er nicht spürte, wehte jetzt stärker, und die Bäume des geschützten Gartens neigten sich, wenn Simon vorbeikam, teilten sich wie Meereswellen um einen halb versunkenen Stein. Der Schnee wirbelte, und Simon schritt in die Öffnung hinein, einen baumgesäumten Korridor aus stiebendem Weiß. Immer weiter ging er, und die Bäume wichen vor ihm zurück wie respektvolle Soldaten.

Der Garten war doch nie so lang gewesen?

Plötzlich wurde Simons Blick aufwärts gezogen. Am Ende des verschneiten Pfades stand eine riesige weiße Säule und ragte weit über seinem Kopf in den dunklen Himmel empor.

Natürlich, dachte er in der Halblogik seines Traumes, es ist der Grünengel-Turm. Zwar hatte er früher nie direkt vom Garten zum Turmsockel gehen können, aber die Dinge hatten sich eben geändert, seit er fort war …

Aber wenn es der Turm ist, dachte er und starrte zu dem gewaltigen Gebilde empor, warum hat er dann Äste? Es ist nicht der Turm … jedenfalls nicht mehr … es ist ein Baum … ein großer, weißer Baum…

Mit weit aufgerissenen Augen fuhr Simon in die Höhe.

»Was ist ein Baum?« fragte Binabik, der dicht neben ihm saß und mit einer Vogelknochennadel Simons Hemd zusammenflickte. Gleich darauf war er fertig und reichte es dem Jungen zurück, der einen Arm unter dem schützenden Mantel hervorstreckte, um es in Empfang zu nehmen. »Was ist ein Baum, und war dein Schlafen gut?«

»Ein Traum, sonst nichts«, sagte Simon etwas gedämpft, während er das Hemd über den Kopf zog. »Ich habe geträumt, der Grünengel-Turm hätte sich in einen Baum verwandelt.« Er sah Binabik fragend an, aber der Troll zuckte nur die Achseln.

»Ein Traum«, stimmte Binabik zu.

Simon gähnte und streckte sich. Der Schlaf in der geschützten Spalte des Berghanges war nicht sonderlich bequem gewesen, aber einer schutzlosen Nacht auf der Ebene bei weitem vorzuziehen. Die Logik dieser Tatsache hatte ihm, sobald sie sich gestern erst einmal in Marsch gesetzt hatten, sehr schnell eingeleuchtet.

Während er noch schlief, war die Sonne aufgegangen, unauffällig hinter der Wolkendecke, nur ein Strich rosagrauen Lichtes quer über den Himmel. Wenn man oben vom Berghang zurückblickte, konnte man schwer sagen, wo der Himmel aufhörte und die dunstigen Ebenen begannen. Die Welt heute morgen schien ein trüber und unfertiger Ort zu sein.

»Ich sah Feuer heute nacht, während du schliefst«, bemerkte der Troll und schreckte Simon damit aus seiner Träumerei.

»Feuer?! Wo?«

Binabik deutete mit der linken Hand über die Ebene nach Süden. »Dort hinten. Sorg dich nicht. Ich glaube, sie sind weit weg. Es ist durchaus die Möglichkeit, daß sie nichts mit uns zu tun haben.«

»Vermutlich.« Simon spähte in die graue Ferne. »Denkst du, es könnten Isgrimnur und seine Rimmersmänner sein?«

»Das ist zweifelhaft.«

Simon drehte sich wieder um und sah den Kleinen an. »Aber du hast gesagt, sie würden entkommen! Sie würden überleben!«

Der Troll warf ihm einen gereizten Blick zu. »Wenn du warten könntest, würdest du hören. Ich bin überzeugt, daß sie überlebt haben, aber sie waren unterwegs nach Norden, und ich bezweifle, daß sie umgekehrt sind. Diese Feuer waren weiter südlich, als ob…«

»… als ob sie von Erkynland herüberkämen«, beendete Simon den Satz.

»Ja!« erwiderte Binabik ein wenig ungehalten. »Aber es könnten ja Händler sein … oder Pilger…« Er sah sich um. »Wo nur Qantaqa steckt?«

Simon zog eine Grimasse. Er erkannte eine Ausflucht, wenn er sie hörte. »Also gut. Es könnte alles Mögliche sein … aber gestern warst du es, der zur Eile mahnte. Sollen wir warten, bis wir selbst sehen können, ob es Kaufleute sind oder … oder Gräber?« Der Scherz hatte einen ziemlich sauren Nachgeschmack. Das letzte Wort hatte ihm nicht angenehm im Mund gelegen.

»Nicht dumm zu sein ist wichtig«, grunzte Binabik angewidert. »Boghanik – die Bukken – machen kein Feuer. Sie hassen alles Helle. Und wir, nein, wir werden nicht warten, bis diese Feueranzünder zu uns kommen. Wir kehren in den Wald zurück, wie ich es dir gesagt habe.« Er deutete über seinen Kopf weg nach hinten. »Auf der anderen Seite des Berges werden wir ihn sehen können.«

Hinter ihnen knackte es im Gestrüpp, und Troll und Junge sprangen überrascht auf. Doch es war nur die Wölfin, die in Kreuz- und Quersprüngen den Hang hinunterkam, die Nase dicht am Boden. Als sie das Lager erreicht hatte, stupste sie Binabik am Arm, bis er ihren Kopf kraulte.

»Qantaqa ist fröhlicher Laune, hmmm?« Der Troll zeigte lächelnd die gelben Zähne. »Da wir den Vorteil eines dicht bewölkten Tages haben, der den Rauch eines Lagerfeuers verdeckt, denke ich, daß wir uns erlauben können, zumindest eine ordentliche Mahlzeit zu uns zu nehmen, bevor wir uns wieder auf den Weg machen. Findet das deine Zustimmung?«

Simon bemühte sich um eine ernsthafte Miene. »Ich … glaube schon, daß ich etwas essen könnte … wenn es denn sein müßte«, antwortete er, »wenn du es wirklich für wichtig hältst…«

Binabik riß die Augen auf und versuchte sich darüber klarzuwerden, ob Simon tatsächlich Einwände gegen ein Frühstück hatte, und der Junge fühlte, wie ein Lachen in ihm aufstieg und heraussprudeln wollte.

Wieso benehme ich mich wie ein Mondkalb? Er wunderte sich über sich selbst. Wir sind in furchtbarer Gefahr, und daran wird sich auch so bald nichts ändern.

Aber schließlich war Binabiks verwirrter Blick zu viel für ihn, und er brach in lautes Gelächter aus.

Nun ja, gab er sich selbst Antwort, man kann sich nicht ununterbrochen Sorgen machen.


Simon seufzte und ließ sich von Qantaqa die wenigen Restkrümel Eichhörnchenfleisch von den Fingern lecken. Er staunte, wie zart die Wölfin ihre gewaltigen Kiefer und blitzenden Zähne benutzen konnte.

Das Feuer war nur klein, denn der Troll hielt nichts von unnötigen Risiken. Ein dünner Rauchfaden kräuselte sich geschmeidig im Wind, der über den Berghang strich.

Binabik las in Morgenes' Manuskript, das er mit Simons Erlaubnis ausgepackt hatte. »Es ist meine Hoffnung, daß du verstehst«, bemerkte der Troll ohne aufzusehen, »daß du das mit keinem anderen Wolf als meiner Freundin Qantaqa versuchen darfst.«

»Natürlich nicht. Es ist erstaunlich, wie zahm sie ist.«

»Nicht zahm.« Binabik betonte das Wort mit Nachdruck. »Sie hat eine Ehrenschuld mir gegenüber, und das schließt die mit ein, die meine Freunde sind.«

»Ehre?« fragte Simon träge.

»Ich bin überzeugt, du kennst diesen Begriff, auch wenn man in den südlichen Ländern recht leichtfertig damit umgeht. Ehre. Glaubst du, daß es so etwas zwischen Troll und Tier nicht geben kann?« Binabik warf ihm einen kurzen Blick zu und blätterte dann weiter in dem Manuskript.

»Ach, ich glaube heutzutage überhaupt nicht mehr viel«, erwiderte Simon leichthin und beugte sich vor, um Qantaqas dickpelziges Kinn zu kratzen. »Ich versuche nur, den Kopf schön nach unten zu halten und bis nach Naglimund zu kommen.«

»Du weichst einer echten Antwort aus«, brummte Binabik, verfolgte jedoch das Thema nicht weiter. Eine Weile war auf dem Berghang nur das Knistern des Pergaments zu vernehmen. Die Morgensonne stieg am Himmel höher.

»Hier«, meinte Binabik endlich, »hör mir zu. Ach, Tochter der Berge, wie sehr vermisse ich doch Morgenes, wenn ich nur seine Worte lese. Weißt du etwas über Nerulagh, Simon?«

»Gewiß. Wo König Johan die Nabbanai schlug. In der Burg ist ein Tor, das ganz mit Schnitzereien davon bedeckt ist.«

»Du hast recht. Nun, hier schreibt Morgenes also über die Schlacht von Nerulagh, in der Johan zum ersten Mal dem berühmten Ritter Camaris begegnete. Darf ich dir vorlesen?«

Simon unterdrückte eine Anwandlung von Eifersucht. Der Doktor hatte schließlich sein Manuskript nicht allein für Simon und sonst niemanden bestimmt, erinnerte er sich.

»Nachdem sich daher Ardrivis' Entscheidung – eine tapfere, sagen manche, hochmütig nennen sie andere –, diesem Emporkömmling, dem König aus dem Norden, in der flachen Ebene des Wiesen-Thrithings am Myrme-See gegenüberzutreten, als verhängnisvoll erwiesen hatte, zog Ardrivis die Hauptmasse seiner Truppen zum Onestrinischen Paß zurück, einem schmalen Durchgang zwischen den Bergseen Eadne und Clodu…«

»Wovon Morgenes hier spricht«, erläuterte Binabik, »ist, daß Ardrivis, der Imperator von Nabban, nicht glaubte, Johan der Priester könne in so großer Entfernung von Erkynland noch eine bedeutende Streitmacht gegen ihn aufstellen. Aber die Inselbewohner von Perdruin, die immer im Schatten der Nabbanai gestanden hatten, schlossen einen Geheimvertrag mit dem König und halfen ihm, seine Truppen zu verstärken. Johans Heer schlug Ardrivis' Truppen vernichtend am Rande des Wiesen-Thrithings, etwas, das die stolzen Nabbanai niemals für möglich gehalten hätten. – Kannst du mir folgen?«

»Ich glaube.« Simon war sich nicht ganz sicher, hatte aber genügend Balladen über Nerulagh gehört, um die meisten Namen wiederzuerkennen. »Lies weiter.«

»Das werde ich. Laß mich nur die Stelle finden, die ich dir vorlesen wollte.« Er überflog die Seite. »Ho!«

»Und so führte, als die Sonne hinter dem Berg Onestris versank, die letzte Sonne für achttausend tote und sterbende Männer, der junge Camaris, dessen Vater Benidrivis-sá-Vinitta erst vor einer Stunde von seinem sterbenden Bruder Ardrivis den Stab des Imperators übernommen hatte, den Angriff von fünfhundert Berittenen an, dem Rest der kaiserlichen Garde, begierig nach Rache…«

»Binabik?« unterbrach Simon.

»Ja?«

»Wer übernahm was von wem?«

Binabik lachte. »Verzeih mir. Es ist ein Netz voller Namen für einen einzigen Fang, nicht wahr? Ardrivis war der letzte Imperator von Nabban, obwohl sein Kaiserreich, verstehst du, nicht größer war als das heutige Herzogtum Nabban. Ardrivis überwarf sich mit Johan dem Priester, vermutlich, weil Ardrivis wußte, daß Johan ein vereinigtes Osten Ard anstrebte und es eines Tages zum Krieg kommen würde. Ich will dich nicht mit allen diesen Kämpfen langweilen, aber du weißt ja, daß es ihre letzte Schlacht war. Imperator Ardrivis wurde von einem Pfeil getötet und sein Bruder Benidrivis der neue Imperator … allerdings nur für den Rest dieses Tages, der mit der Unterwerfung Nabbans endete. Camaris war Benidrivis' Sohn. Er war damals noch sehr jung, vielleicht fünfzehn Jahre, und so wurde er für diesen Nachmittag der letzte Nabbanai-Prinz, wie er auch manchmal in den Liedern heißt … hast du jetzt verstanden?«

»Besser. Es waren diese vielen ›Arise‹ und ›Ivise‹, die mich einen Augenblick nicht mitkommen ließen.«

Binabik nahm das Pergament wieder auf und las weiter.

»Als nun Camaris auf das Schlachtfeld ritt, war das ermüdete Heer von Erkynland sehr bestürzt. Die Truppen des jungen Prinzen waren zwar nicht frisch, aber Camaris selbst glich einem Wirbelwind, einem tödlichen Sturm, und das Schwert Dorn, das ihm sein sterbender Onkel gegeben hatte, war wie ein schwarzzackiger Blitz. Selbst zu diesem späten Zeitpunkt, heißt es in den Aufzeichnungen, hätten die Streitkräfte von Erkynland noch aufgerieben werden können. Da aber trat Johan der Priester auf den Plan, Hellnagel fest in der behandschuhten Faust, und hieb sich einen Weg durch die Kaiserliche Garde von Nabban, bis er dem tapferen Camaris gegenüberstand.«

»Jetzt kommt das, worauf ich dich besonders aufmerksam machen möchte«, sagte Binabik und blätterte um zur nächsten Seite.

»Das ist ja großartig«, meinte Simon. »Spaltet Johan der Priester ihn ihn zwei Hälften?«

»Lächerlich!« schnaubte der Troll. »Wie sollten sie denn dann die engsten und ruhmreichsten Freunde werden? In zwei Hälften spalten! Pah!« Er fuhr fort.

»In den Balladen heißt es, sie hätten den ganzen Tag und bis in die Nacht hinein gefochten, aber das möchte ich stark bezweifeln. Bestimmt kämpften sie lange, aber zweifellos waren Dämmerung und Dunkelheit ohnehin nicht mehr fern, und es kam nur einigen der müde gewordenen Zuschauer so vor, als hätten diese beiden großen Männer den ganzen Tag lang gegeneinander gestritten…«

»Was für Überlegungen dein Doktor anstellt!« kicherte Binabik belustigt.

»Wie aber die Wahrheit auch lauten mag, sie tauschten Schlag um Schlag, klirrten und hämmerten auf die Rüstung des anderen ein, bis die Sonne sank und die Raben sich gütlich taten. Keiner der Männer konnte die Oberhand gewinnen, obwohl Johans Truppen inzwischen Camaris' Garde längst besiegt hatten. Aber keiner der Erkynländer wagte sich einzumischen. Endlich trat Camaris' Pferd zufällig in ein Loch, brach sich das Bein und stürzte mit gellendem Aufschrei nieder, wobei es den Prinzen unter sich begrub. In diesem Augenblick hätte Johan ein Ende machen können, und wenige hätten ihn darum getadelt; statt dessen jedoch, so schwören die Zuschauer einmütig, half er dem gefallenen Nabbanai-Ritter unter seinem Roß hervor, gab ihm sein Schwert zurück und setzte, nachdem sich Camaris als unverletzt erwiesen hatte, den Kampf mit ihm fort.«

»Ädon!« hauchte Simon, tief beeindruckt. Natürlich hatte er die Geschichte schon gehört, aber es war etwas ganz anderes, sie jetzt in Morgenes' knappen, bestimmten Worten bestätigt zu bekommen.

»So stritten sie fort und fort, bis Johan der Priester – der schließlich gute zwanzig Jahre mehr als Camaris zählte – müde wurde und stolperte. Er stürzte vor den Füßen des Prinzen von Nabban zu Boden.

Camaris, von der Stärke und Ehrenhaftigkeit seines Gegners gerührt, verzichtete darauf, ihn zu töten. Statt dessen setzte er Johan das Schwert Dorn an die Kehle und forderte das Versprechen von ihm, Nabban von nun an unbehelligt zu lassen. Johan, der nicht erwartet hatte, daß man ihm seine eigene Barmherzigkeit in gleicher Weise vergelten würde, sah auf das Feld von Nerulagh hinaus, leer bis auf seine eigenen Krieger, überlegte einen Augenblick – und versetzte Camaris-sá-Vinitta einen überraschenden Fußtritt zwischen die Beine.«

»Nein!« rief Simon fassungslos. Qantaqa hob bei seinem Ausruf den schläfrigen Kopf. Binabik grinste nur und fuhr fort, weiter aus Morgenes' Aufzeichnungen vorzulesen.

»Nunmehr stellte sich Johan seinerseits über den schmerzhaft verwundeten Camaris und sprach zu ihm: ›Ihr habt noch viel zu lernen, aber Ihr seid ein tapferer und edler Mann. Ich will Eurem Vater und Eurem Hause jede Höflichkeit erweisen und gut für Euer Volk sorgen. Ich hoffe, daß Ihr wiederum die erste Lektion, die ich Euch heute erteilt habe, beherzigen werdet, nämlich diese: Ehre ist etwas Wunderbares, aber sie ist ein Mittel, kein Ziel. Ein Mann, der ehrenvoll verhungert, hilft damit nicht seiner Familie; ein König, der sich in Ehren in sein Schwert stürzt, rettet damit nicht sein Reich.‹

Als Camaris genas, war er so voll Ehrfurcht für seinen neuen König, daß er von diesem Tage an Johans treuester Gefolgsmann wurde.«

»Und warum hast du mir das vorgelesen?« fragte Simon. Er fühlte sich einigermaßen gekränkt über die Belustigung, die Binabik gezeigt hatte, als er ihm von dem üblen Verhalten des größten Herrschers über Simons Vaterland vorlas – aber immerhin waren es Morgenes' Worte gewesen, und wenn man es sich überlegte, machten sie den alten König Johan weit menschlicher und einer Marmorstatue Sankt Sutrins, die als Staubfänger an der Domfassade in Erchester stand, weniger ähnlich.

»Es schien mir von Interesse zu sein.« Binabik lächelte ein Koboldlächeln. »Nein, das war nicht der Grund«, fügte er rasch hinzu, als Simon die Stirn runzelte. »Was ich wirklich wollte, war, daß du etwas einsiehst, und ich dachte, Morgenes könnte es dir besser klarmachen als ich.

Du wolltest die Männer von Rimmersgard nicht im Stich lassen, und ich begreife dein Gefühl – es war vielleicht nicht die ehrenhafteste Art von Benehmen. Aber es bedeutete auch für mich keine Ehre, meine Pflichten in Yiqanuc unerfüllt zu lassen; und doch müssen wir manchmal gegen die Ehre handeln – oder sollte man sagen, gegen das, was uns auf den ersten Blick ehrenhaft erscheint … verstehst du mich?«

»Nicht besonders gut.« Aus Simons Stirnrunzeln wurde ein spöttisches, liebevolles Lächeln.

»Aha.« Binabik zuckte philosophisch mit den Schultern. »Ko muhu-hok na mik aqa nop, sagen wir in Yiqanuc: ›Wenn es dir auf den Kopf fällt, weißt du, daß es ein Felsblock ist.‹«

Simon dachte stoisch darüber nach, während Binabik seine Kochutensilien in den Rucksack packte.


In einem Punkt hatte Binabik unzweifelhaft recht gehabt. Als sie den Bergkamm erreicht hatten, konnten sie buchstäblich nichts anderes sehen als die unendliche dunkle Weite des Aldheortes, der sich grenzenlos vor ihnen ausdehnte – ein grünschwarzes Meer, erstarrt in der Sekunde, bevor seine Wellen am Fuß der Berge anbrandeten. Allerdings erschien Altherz Simon eher wie die See, gegen die das Land selbst vergeblich anstürmen würde.

Simon konnte nicht umhin, vor Staunen tief Luft zu holen. Die Bäume unter ihnen erstreckten sich so weit in die Ferne, daß sie am Horizont im Nebel verschwanden, so als überschreite der Wald auf geheimnisvolle Weise die Grenzen der Erde.

Binabik, der seine großen Augen sah, meinte: »Von allen Zeitpunkten, an denen es wichtig ist, auf mich zu hören, ist dies der wichtigste: Wenn wir einander dort drin verlieren, wird es vielleicht kein Wiederfinden geben.«

»Ich war schon in diesem Wald, Binabik.«

»Nur an seinem Rand, Freund Simon. Jetzt aber betreten wir sein Inneres.«

»Quer durch?«

»Ha! Nein, das würde Monate dauern – ein Jahr, wer kann es wissen? Aber wir entfernen uns weit von seinen Grenzen, darum müssen wir hoffen, daß er uns gestattet, seine Gäste zu sein.«

Simon starrte hinab und fühlte ein Prickeln auf der Haut. Die dunklen, schweigenden Bäume, die düsterschattigen Pfade, die nie das Geräusch von Schritten vernommen hatten … alle Geschichten eines Volkes von Burg- und Stadtbewohnern stiegen in seiner Phantasie auf und ließen sich nur allzu leicht ins Gedächtnis zurückrufen.

Und doch muß ich dorthin, dachte er, und ich glaube auch nicht, daß der Wald böse ist. Er ist nur alt … uralt. Und argwöhnisch gegenüber Fremden – oder wenigstens gibt er mir dieses Gefühl. Aber nicht böse.

»Gehen wir«, sagte er mit seiner klarsten, kräftigsten Stimme.

Aber als Binabik ihm den Berg hinunter voranlief, machte Simon auf seiner Brust das Zeichen des Baumes – nur um ganz sicherzugehen.


Sie waren vom Berg hinuntergestiegen und näherten sich der Kette grasiger Hügel, die sanft zum Rand des Aldheortes hin abfiel, als Qantaqa plötzlich den zottigen Kopf schief legte und stehenblieb. Es war nach Mittag, die Sonne stand hoch am Himmel und hatte einen großen Teil des über dem Boden liegenden Dunstes weggebrannt. Simon und der Troll gingen zu der Wölfin, die reglos wie ein graues Standbild verharrte, und blickten sich nach allen Seiten um. Nirgends unterbrach eine Bewegung die erstarrte Wellenform des Landes.

Als sie näher kamen, winselte Qantaqa und legte lauschend den Kopf auf die andere Seite. Binabik stellte vorsichtig seinen Rucksack ab, brachte die darin leise klappernden Knochen und Steine zum Schweigen und spitzte selber die Ohren.

Gerade wollte der Troll, dem das Haar strähnig in die Augen hing, den Mund öffnen und etwas sagen, da hörte Simon es auch: ein dünnes, schwaches Geräusch, an- und abschwellend, als zöge eine Kette schreiender Gänse meilenhoch über ihnen vorbei, weit über den Wolken. Aber das Geräusch schien nicht vom Himmel zu kommen; vielmehr klang es, als rollte es den langen Gang zwischen Wald und Bergen hinunter, ob von Norden oder Süden, konnte Simon nicht sagen.

»Was …?« wollte er fragen. Qantaqa winselte erneut und schüttelte den Kopf, als sei ihr der Ton unangenehm in den Ohren. Der Troll hob die kleine braune Hand und lauschte einen weiteren Moment. Dann schulterte er seinen Rucksack wieder und winkte Simon, ihm zu den dämmrigen Ausläufern des Waldes zu folgen.

»Hunde, denke ich«, erklärte er. Die Wölfin trottete in unregelmäßigen Ovalen um sie herum, kam näher und sprang wieder fort. »Mir scheint, sie sind noch weit weg, südlich der Berge … draußen in der Frostmark. Trotzdem, je schneller wir in den Wald kommen, desto besser…«

»Vielleicht«, sagte Simon, der gut vorwärtskam, als er mit langen Schritten neben dem kleinen Mann herlief, der seinerseits halb trabte, »aber sie klangen nach keinem Hund, den ich je gehört habe.«

»Das«, grunzte Binabik, »ist auch mein Gedanke … und der Grund, weshalb wir so schnell laufen, wie wir können.«

Simon dachte über Binabiks Worte nach und fühlte eine kalte Hand nach seinen Eingeweiden greifen.

»Halt«, sagte er und hielt an.

»Was tust du?« zischte der Kleine. »Sie sind noch weit hinter uns, aber…«

»Ruf Qantaqa.« Simon stand geduldig da. Binabik musterte ihn kurz und pfiff dann der Wölfin, die schon zu ihm zurücktrottete.

»Ich hoffe, du wirst mir bald erklären…«, begann der Troll.

Simon zeigte auf Qantaqa.

»Reite auf ihr. Schnell, steig auf! Wenn wir uns beeilen müssen, kann ich rennen – aber deine Beine sind zu kurz.«

»Simon«, sagte Binabik mit Zornfältchen um die Augen, »ich rannte über die schmalen Grate von Mintahoq, als ich noch ein kleines Kind war…«

»Aber hier ist flacher Boden, und es geht bergab. Bitte, Binabik, du hast gesagt, wir müßten uns beeilen!«

Der Troll sah ihn an, machte dann kehrt und schnalzte Qantaqa etwas zu, die sich sogleich im kargen Gras niederließ. Binabik warf ein Bein über ihren breiten Rücken und setzte sich zurecht, indem er ihr dickes Nackenfell als Sattelknopf benutzte. Wieder schnalzte er, und die Wölfin stand auf – erst mit den Vorder-, dann mit den Hinterfüßen –, wobei Binabik auf ihrem Rücken schwankte.

»Ummu, Qantaqa«, befahl er kurz, und sie setzte sich in Marsch. Simon verlängerte seine Schritte und begann neben ihnen herzutraben. Sie konnten jetzt außer dem Geräusch ihres eigenen Laufens nichts mehr hören, aber der Gedanke an das Heulen in der Ferne verursachte ein Prickeln in Simons Nacken, und Aldheortes dunkles Antlitz kam ihm immer mehr wie das Willkommenslächeln eines Freundes vor. Binabik duckte sich tief über Qantaqas Hals und wollte Simon lange Zeit nicht in die Augen sehen.

Seite an Seite rannten sie den langen Hang hinunter. Endlich, als die flache, graue Sonne schon auf die Berge hinter ihnen zu sinken begann, erreichten sie die erste Baumreihe, eine Schar schlanker Birken – blasse Dienstmägde, die Besucher ins Haus ihres dunklen, alten Gebieters geleiteten.

Obwohl es draußen in den Hügeln noch hell vom schrägen Sonnenlicht war, tauchten die Gefährten, sobald die Bäume über ihnen aufzuragen begannen, schon bald in düsteres Dämmerlicht ein. Der weiche Waldboden dämpfte ihre Schritte, und sie rannten stumm wie Gespenster durch den schütteren äußeren Forst.

Lichtsäulen drangen wie Speere durch das Astwerk, und hinter ihnen stieg Staub auf, der glitzernd zwischen den Schatten schwebte.

Simon wurde jetzt schnell müde. Schweiß rann ihm in schmutzigen Bächen über Gesicht und Hals.

»Weiter müssen wir«, rief ihm Binabik von seinem schwankenden Halt auf Qantaqas Rücken zu. »Schon bald wird dieser Weg so zugewachsen sein, daß keine Schnelligkeit möglich ist, und das Licht zu schwach dafür. Dann werden wir rasten.«

Simon antwortete nicht, sondern kämpfte sich weiter. Sein Atem brannte in den Lungen.

Als der Junge endlich langsam wurde und in einen unregelmäßigen Trott fiel, rutschte Binabik vom Rücken der Wölfin und rannte neben ihm her. Ringsum glitt die schiefe Sonne die Baumstämme hinauf und ließ den Waldboden im Dunkel, während gleichzeitig die oberen Äste leuchtende Heiligenscheine bekamen und aussahen wie auf den buntfarbigen Fenstern der Hochhorstkapelle. Schließlich, als sich die Erde vor ihnen in Finsternis auflöste, stolperte Simon über einen halb begrabenen Stein. Als Binabik ihn am Ellenbogen packte, blieb er stehen.

»Nun setz dich hin«, sagte der Troll. Wortlos glitt Simon zu Boden und fühlte, wie unter ihm leicht das lockere Erdreich nachgab. Gleich darauf umkreiste sie Qantaqa. Sie schnüffelte die unmittelbare Umgebung ab und setzte sich dann hin, um Simon den Schweiß vom Nacken zu lecken. Es kitzelte, aber Simon war zu erschöpft, um sich ernstlich dagegen zu wehren.

Binabik hockte sich nieder und untersuchte ihren Rastplatz. Sie befanden sich auf halber Höhe einer kleinen Mulde, durch die sich unten ein schlammiges Bachbett schlängelte, in dessen Mitte ein dunkles Wasserrinnsal floß.

»Wenn du wieder atmest«, meinte er, »denke ich, wir sollten vielleicht dorthin gehen.« Mit dem Finger zeigte er auf eine etwas höher gelegene Stelle, an der eine große Eiche stand, deren Wurzelgeflecht die Annäherung anderer Bäume verhindert hatte, so daß rings um ihren dicken, knotigen Stamm eine Steinwurfweite freier Raum war. Simon, immer noch nach Luft ringend, nickte. Nach einer Weile stand er mühsam auf und schleppte sich mit dem kleinen Mann hangaufwärts bis zu dem Baum.

»Weißt du, wo wir sind?« fragte er und sank nieder, um sich an eine der verschlungenen, halb begrabenen Wurzeln zu lehnen.

»Nein«, meinte Binabik fröhlich. »Aber morgen, wenn die Sonne scheint und ich Zeit habe, gewisse Dinge zu tun … dann werde ich es wissen. Hilf mir jetzt ein paar Steine und Stöcke suchen, damit wir ein Feuerchen anzünden können. Und später«, Binabik erhob sich aus seiner Hockstellung und machte sich im schwindenden Tageslicht auf die Suche nach gefallenem Holz, »später wird es eine angenehme Überraschung für dich geben.«


Binabik hatte eine Art dreiseitiger Steinkiste um das Feuerloch gebaut, um das Licht zu verdecken, aber trotzdem knisterte es auf höchst ermutigende Weise. Der rote Schimmer warf sonderbare Schatten auf den Troll, der in seinem Rucksack wühlte. Simon sah ein paar einsamen Funken nach, die wirbelnd nach oben kreisten.

Sie hatten sich aus getrocknetem Fisch, Hartkuchen und Wasser eine karge Mahlzeit zubereitet. Simon fand, er habe seinen Magen nicht so gut behandelt, wie er es gern getan hätte, aber es war doch besser, hier zu liegen und den dumpfen Schmerz in seinen Beinen der Wärme auszusetzen, als weiter zu laufen. Er konnte sich nicht erinnern, jemals eine so lange Zeit oder eine so weite Strecke gerannt zu sein, ohne einmal anzuhalten.

»Ha!« gluckste Binabik vergnügt und hob sein vom Feuerschein gerötetes Gesicht triumphierend aus dem Rucksack. »Eine Überraschung habe ich dir versprochen, Simon, und eine Überraschung habe ich!«

»Eine angenehme Überraschung, hast du gesagt. Von der anderen Sorte habe ich für mein Lebtag genug.«

Binabik grinste, und sein rundes Gesicht schien sich bis zu den Ohren zu verbreitern. »Nun, das mußt du selbst entscheiden. Hier, versuch das.« Er gab Simon einen kleinen Tonkrug.

»Was ist das?« Simon hielt den Krug ans Feuer. Er fühlte sich gewichtig an, trug jedoch keinen Hinweis auf seinen Inhalt. »Ein Trollding?«

»Öffne ihn!«

Simon steckte den Finger oben hinein und stellte fest, daß die Öffnung mit etwas Wachsartigem versiegelt war. Er kratzte ein Loch hindurch und hielt dann den Krug an die Nase, um vorsichtig daran zu riechen. Dann bohrte er den Finger in das Loch, zog ihn wieder heraus und steckte ihn in den Mund.

»Marmelade!« sagte er entzückt.

»Sicher aus Weintrauben«, meinte Binabik, der sich über Simons Reaktion freute. »Einige davon fand ich in der Abtei, aber die Aufregungen der letzten Zeit haben sie aus meinem Kopf vertrieben.«

Nachdem er mehrere Finger voll verspeist hatte, reichte Simon die Marmelade, wenn auch ungern, Binabik, der sie ebenfalls recht wohlschmeckend fand. Es dauerte nicht lange, da hatten sie alles aufgegessen und überließen Qantaqa den klebrigen Krug zum Auslecken.

Simon rollte sich neben den warmen Steinen des erlöschenden Feuers in seinen Mantel. »Könntest du nicht ein Lied singen, Binabik«, bat er, »oder eine Geschichte erzählen?«

Der Troll sah zu ihm hinüber. »Besser keine Geschichte, Simon, denn wir müssen schlafen und früh aufstehen. Vielleicht ein kurzes Lied.«

»Das wäre schön.«

»Aber wenn ich es mir recht überlege«, wandte Binabik ein und zog sich die Kapuze über die Ohren, »würde ich gern einmal ein Lied von dir hören. Natürlich leise gesungen.«

»Von mir? Ein Lied?« Simon überlegte. Durch eine Lücke in den Bäumen glaubte er das schwache Glitzern eines Sterns zu erkennen. Eines Sterns … »Also gut«, erklärte er, »weil du mir auch ein Lied vorgesungen hast, von Sedda und der Decke aus Sternen … ich denke, ich kann dir etwas singen, das mir als Kind die Kammerfrauen beigebracht haben.« Er drehte und wendete sich ein wenig, um es sich bequemer zu machen. »Hoffentlich weiß ich die Worte noch alle. Es ist ein lustiges Lied.«

Tief im Altherzental

rief Hans Mundwald einmal

seine Männer vom Wald nah und fern.

Eine Krone es galt und den Ruhm dort im Wald,

für den Mann, der ihm fing einen Stern.

Da stand Beornoth auf, rief »Ich klettre hinauf

auf den höchsten der Baumwipfel hier!

Und ich hole den Stern für die Krone von fern,

und dann reichst du die Goldene mir.«

Und er klettert in Hast auf den obersten Ast

einer Birke und sprang weiter noch

wie im wildesten Traum, von Baumstamm zu Baum,

doch der Stern stand am Himmel zu hoch.

Osgal lachte derweil und versprach einen Pfeil

in den obersten Himmel hinein.

»Ich schieß ihn vom Zelt, daß herunter er fällt,

und die Krone, die Krone ist mein…«

Zwanzig Pfeile, das Schaf! Doch kein einziger traf

auf den Stern voller Hohn in der Nacht.

Zwanzig Pfeile hinab. Osgal wünscht sich ins Grab

und versteckt hinter Hans sich, der lacht.

Jetzt versucht's jeder Mann, und ein Streiten hebt an,

und die Mühe wird schnell ihnen leid;

da tritt aus dem Chor Schön Hruse hervor,

und sie glättet bedächtig ihr Kleid.

»Es ist wahrlich nicht viel, was Hans Mundwald da will«,

sagt sie lächelnd, ein Blitzen im Blick,

»doch wenn ihr sie nicht wollt, die Krone aus Gold,

will ich lösen das Rätsel mit Glück.«

Ein Netz ließ sie jetzt sich bringen zuletzt,

und sie warf es hinaus in den See.

Wasser wallte empört und hätt beinah zerstört

das Abbild des Sterns in der Höh.

Doch es währte nicht lang, da lag stille ihr Fang,

und sie lächelt: »Dein Spiel, Hans, ist aus.

Dein Stern zappelt im See, ist gefangen, o weh,

und wenn du ihn willst, hol ihn raus!«

Und Hans lachte sich krumm, und der Menge ringsum

rief er zu: »Diese Frau will ich frein!

Für den Stern ist ihr Lohn meine goldene Kron,

und mein Leben, das gibt's obendrein.«

Ja, sie holte den Stern für die Krone von fern,

und Hans Mundwald, der nahm sie zum Weib…

Aus der Dunkelheit konnte er Binabiks Lachen hören, leise und leicht. »Ein Lied zum Freuen, Simon. Sei bedankt.«

Bald verstummte das Zischen der Glut, und das einzige Geräusch war das Atmen des Windes in den endlosen Bäumen.


Noch bevor er die Augen aufschlug, vernahm Simon seltsame, eintönige Laute, die gleich neben seinem Lager an- und abschwollen. Er hob den Kopf, fühlte sich klebrig vom Schlaf und erblickte Binabik, der mit untergeschlagenen Beinen vor dem Feuer saß. Die Sonne war gerade erst aufgegangen; blasse Nebelranken umwanden ringsum den Wald.

Binabik hatte einen Kreis aus Federn sorgfältig um die Feuerstelle gelegt, Federn vieler verschiedener Vögel, als hätte er sie im ganzen Wald zusammengesammelt. Die Augen geschlossen, beugte er sich über das kleine Feuer und sang in seiner Heimatsprache vor sich hin, die Laute, die Simon wach gemacht hatten.

»… Tutusik-Ahyuq-Chuyuc-Qachimak,

Tutusik-Ahyuk-Chuyuk-Qaqimak…« Immer und immer wieder. Das schmale Rauchband, das vom Lagerfeuer aufstieg, begann zu flattern wie in einem kräftigen Wind, aber die winzigen Federchen blieben flach am Boden liegen und rührten sich nicht. Mit immer noch geschlossenen Augen begann Binabik mit der Handfläche einen flachen Kreis über dem Feuer zu beschreiben; das Rauchband bog sich, als habe es jemand verschoben, und fing an, stetig in eine Ecke der Grube zu wehen. Der Troll öffnete die Augen und sah eine kleine Weile dem Rauch nach, dann beendete er das Kreisen seiner kleinen Hand. Gleich darauf stieg der Rauch wieder auf wie gewöhnlich.

Simon hatte den Atem angehalten. Jetzt stieß er die Luft aus. »Und weißt du jetzt, wo wir sind?« erkundigte er sich. Binabik drehte sich um und lächelte zufrieden.

»Morgengrüße. Ja, ich glaube, ich weiß es jetzt auf das hübscheste. Wir dürften kaum Schwierigkeiten haben – aber einen langen Fußweg vor uns, bis wir Geloës Haus erreichen.«

»Haus?« fragte Simon. »Ein Haus im Aldheorte? Wie sieht es aus?«

»Ah«, meinte Binabik, streckte die Beine aus und rieb sich die Waden, »es ist anders als alle Häuser, die du…« Er verstummte und starrte wie gebannt über Simons Schulter. Erschreckt fuhr der Junge herum, aber es war nichts zu sehen.

»Was ist?«

»Pssst.« Binabik starrte immer noch. »Dort. Hörst du?«

Eine Sekunde später hörte er es: das ferne Gebell, das sie auf ihrem Weg durch die Grashügel zum Wald schon vernommen hatten.

Simon fühlte, wie er eine Gänsehaut bekam.

»Wieder die Hunde!« sagte er. »Aber es hört sich an, als seien sie noch weit weg.«

»Du begreifst noch nicht.« Binabik sah auf die Feuergrube, dann hinauf nach dem Morgenlicht, das durch die Baumwipfel heruntersickerte, rot wie Blut. »Sie sind in der Nacht an uns vorbeigezogen. Sie müssen die ganze Nacht gerannt sein. Und jetzt, wenn mir meine Ohren keinen Streich spielen, laufen sie wieder zu uns zurück!«

»Wessen Hunde sind das?« Simon merkte, daß seine Handflächen feucht wurden von Schweiß und wischte sie am Mantel ab. »Verfolgen sie uns? Sie können uns doch nicht im Wald jagen, oder?«

Binabik scharrte mit seinem kleinen Stiefel die Federn auseinander und begann seinen Rucksack zu packen. »Ich weiß es nicht«, entgegnete er. »Ich kenne auf alle drei Fragen keine Antwort. Es ist eine Macht in diesem Wald, die vielleicht Jagdhunde verwirrt macht – gewöhnliche Hunde. Aber ich bezweifle, daß irgendein Baron aus dieser Gegend, der sich ein Jagdvergnügen machen will, seine Hunde die ganze Nacht lang rennen läßt, und ich habe noch nie von Hunden gehört, die dazu imstande wären.«

Binabik rief Qantaqa. Simon setzte sich auf und zog rasch seine Stiefel an. Er fühlte sich am ganzen Körper wie zerschlagen und ahnte doch, daß er schon bald wieder würde rennen müssen.

»Es ist Elias, nicht wahr?« fragte er grimmig und zuckte zusammen, als er seinen mit Blasen bedeckten Fuß auf den Stiefelabsatz hinabschob.

»Vielleicht.« Qantaqa trottete herbei, und Binabik warf ein Bein über ihren Rücken und zog sich hinauf. »Aber was macht den Gehilfen eines Doktors so wichtig für ihn – und wo findet der König Hunde, die zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang zwanzig Meilen laufen?« Binabik setzte seinen Rucksack vor sich auf Qantaqas Rücken und reichte Simon seinen Wanderstab. »Bitte verlier ihn nicht. Ich wünschte, wir hätten für dich ein Pferd zum Reiten gefunden.«

Die beiden stiegen den Hang hinunter bis an den Wasserlauf, dann auf der anderen Seite wieder nach oben.

»Sind sie schon nah?« fragte Simon. »Und wie weit ist es noch?«

»Weder Hunde noch Haus sind nah«, erwiderte Binabik. »Ich werde neben dir herrennen, sobald Qantaqa müde wird. Kikkasut!« fluchte er, »wie sehr ich mir doch ein Pferd wünsche!«

»Ich auch«, schnaufte Simon.

So zogen sie den ganzen Morgen weiter nach Osten, immer tiefer in den Wald hinein. Sie stiegen Felsentäler hinauf und hinunter, und hinter ihnen wurde das Bellen minutenlang leiser, nur um dann noch lauter als zuvor wieder zu ertönen. Binabik hielt Wort und sprang von Qantaqas Rücken, als die Wölfin langsamer wurde. Nun trottete er neben ihr her, und seine kurzen Beine benötigten zwei Schritte für jeden Schritt Simons. Er hatte die Zähne entblößt, und seine Wangen blähten sich und wurden wieder flach.

Als die Sonne den Mittag fast erreicht hatte, hielten sie an, um Wasser zu trinken und sich ein wenig auszuruhen. Simon riß von seinen beiden Päckchen Streifen ab, um die Blasen an seinen Fersen zu verbinden. Dann gab er Binabik die Bündel, damit er sie in seinen Rucksack steckte; denn Simon hielt es einfach nicht mehr aus, sie beim Gehen und Rennen gegen seinen Oberschenkel schlagen zu fühlen. Als sie sich mit den letzten muffigen Tropfen aus dem Wasserschlauch die Backentaschen ausspülten und mühsam wieder zu Atem zu kommen versuchten, war das Geräusch der Verfolgung wieder zu hören. Diesmal klang der unverwechselbare Lärm der Hunde soviel näher, daß sie sich sofort, wenn auch schwankend, wieder in Trab setzten.

Schon bald führte sie ihr Weg eine lange Steigung hinauf. Je höher sie kamen, desto felsiger wurde der Boden, und selbst die Baumarten schienen sich zu verändern. Simon stolperte über den unebenen Hang und merkte, wie sich ein Übelkeit erregendes Gefühl der Niederlage in seinem Körper ausbreitete wie Gift. Binabik hatte ihm erklärt, es würde zumindest später Nachmittag werden, bis sie zu dieser Geloë kamen; aber sie hatten das Rennen jetzt schon verloren, und die Sonne über den schützenden Bäumen stand noch nicht einmal im Mittag. Der Lärm ihrer Verfolger blieb immer gleich, ein aufgeregtes Heulen, so laut, daß sich Simon, noch während er den entmutigenden Hang hinauftaumelte, wundern mußte, woher sie den Atem nahmen, gleichzeitig zu rennen und zu bellen. Was für eine Art Hunde war das?

Simons Herz schlug so schnell wie Vogelflügel. Nur allzu bald würden er und der Troll vor ihren Jägern stehen. Und bei diesem Gedanken wurde ihm schlecht.

Endlich war durch die Baumstämme des Horizontes ein schmaler Streifen Himmel zu sehen: die Höhe des Abhanges. Sie hinkten an der letzten Baumreihe vorbei. Qantaqa, die vor ihnen herlief, hielt plötzlich inne und bellte, ein scharfer, hoher Laut aus tiefer Kehle.

»Simon!« schrie Binabik, warf sich nieder und schlug dem Jungen die Beine weg, so daß er mit einem Ächzen gewaltsam den Atem ausstieß und stürzte. Als sich gleich darauf der schwarze Tunnel seines Blickfeldes erweiterte, lag er auf seinen Ellenbogen und sah über eine zerklüftete Felswand in eine tiefe Schlucht hinunter. Unter seiner Hand lösten sich ein paar Stücke Geröll aus dem Fels und hüpften und polterten die Steilwand hinab, um tief unten in den grünen Wipfeln der Bäume zu verschwinden.

Das Gebell war wie die eherne Fanfare von Kriegstrompeten. Simon und der Troll schoben sich vom Rand der Schlucht fort, ein paar Fuß bergab, und standen auf.

»Schau!« zischte Simon, dessen blutende Hände und Knie jetzt unwichtig für ihn waren. »Binabik, schau!« Er deutete den langen Abhang hinunter, den sie gerade erst erklommen hatten. Ein dichter Mantel aus Bäumen bedeckte ihn.

Über die Lichtungen huschte, viel, viel weniger als eine halbe Meile hinter ihnen, ein Schwarm weißer, dicht über dem Boden laufender Gestalten: die Hunde.

Binabik nahm Simon den Stab ab, drehte ihn auseinander, schüttelte die Dornen heraus und gab dem Jungen das Ende mit dem Messer.

»Schnell«, sagte er, »schneide dir einen Ast als Keule ab! Wenn wir unser Leben verkaufen müssen, soll der Preis ein hoher sein.«

Die kehligen Stimmen der Hunde brandeten den Berg hinauf, ein stetig anschwellendes Lied vom Ende der Jagd und vom Tod.

XXV Der geheime See

Wie ein Wahnsinniger hieb und hackte er, bog den Ast mit seinem ganzen Gewicht nach unten, das Messer schlüpfrig in den zitternden Fingern. Viele kostbare Sekunden brauchte Simon, bis er einen Ast abgeschnitten hatte, der ihm geeignet schien – eine so armselige Verteidigung er auch sein mochte –, und jede Sekunde brachte die Hunde näher heran. Der Ast, den er endlich abbrach, war so lang wie sein Arm und hatte an einem Ende, dort, wo ein anderer Ast abgefallen war, einen Knorren.

Der Troll wühlte in seinem Rucksack und hielt mit der anderen Hand Qantaqas dickes Nackenfell gepackt.

»Halt sie fest!« rief er Simon zu. »Wenn wir sie jetzt loslassen, greift sie zu früh an. Dann werden sie sie niederreißen und sofort töten.« Simon hockte sich hin und legte der Wölfin den Arm um den breiten Hals. Sie bebte vor Erregung; Simon fühlte sein eigenes Herz im selben schnellen Rhythmus schlagen – es war alles so unwirklich! Erst heute morgen hatte er friedlich neben Binabik und der Wölfin am Feuer gesessen…

Der Ruf der Meute wurde drängender; sie kamen den Berg hinaufgeschwärmt, wie weiße Ameisen aus einem bröckelnden Nest fliehen. Qantaqa machte einen Satz nach vorn und zerrte Simon auf die Knie.

»Hinik Aia!« schrie Binabik und gab ihr mit dem hohlen Knochenröhrchen einen Klaps auf die Nase. Dann ließ er das Röhrchen fallen, zog ein Stück Seil aus den Tiefen seines Rucksacks und machte sich daran, eine Schlinge zu knüpfen. Simon, der ihn zu verstehen glaubte, warf einen Blick nach rückwärts über den Rand der Schlucht und schüttelte verzweiflungsvoll den Kopf. Es ging viel zu tief hinunter, mehr als doppelt so weit, wie Binabiks Seil die glatte Felswand hinabreichte. Dann sah er etwas und spürte, wie sich trotz allem Hoffnung in ihm regte.

»Schau, Binabik!« Er deutete mit der Hand. Obwohl ein Abstieg unmöglich war, schlang der Troll sein Seil um einen Baumstumpf, der keinen Meter vom Rand der Schlucht im Boden saß. Als er fertig war, blickte er auf, Simons Zeigefinger nach.

Weniger als hundert Schritte von der Stelle entfernt, an der sie sich duckten, lag eine riesige, alte Schierlingstanne, die in den Abgrund gekippt war. Das Wurzelende balancierte auf der diesseitigen Kante der Schlucht, der Wipfel auf halber Höhe der gegenüberliegenden Wand, wo er sich an einem Felsvorsprung verfangen hatte.

»Wir können auf die andere Seite hinüberklettern!« erklärte Simon. Aber der Troll schüttelte den Kopf.

»Wenn wir mit Qantaqa dort hinunterkommen, können sie es auch. Und es führt nirgendwo hin.« Er machte eine Handbewegung.

Der Vorsprung, an dem der Baum sich verhakt hatte, war nur ein breites Band an der Felswand. »Aber es ist eine gewisse Hilfe.«

Binabik stand auf und zog an dem Seil, um den Knoten um den Baumstumpf zu prüfen. »Nimm Qantaqa mit dort hinunter, wenn du kannst. Nicht zu weit, nur etwa zehn Ellen. Halt sie so lange fest, bis ich rufe, verstanden?«

»Aber…«, begann Simon und sah dann wieder hinab. Die weißen Gestalten, insgesamt etwa ein Dutzend, würden sie bald erreichen. Er erwischte die unwillige Qantaqa beim Kragen und drängte sie nach der umgestürzten Schierlingstanne.

Es lag noch ein genügend großes Stück des Baumes auf dem Schluchtrand, um Raum zwischen dem Wurzelgewirr und der Felskante zu lassen. Es war nicht leicht, dabei das Gleichgewicht zu halten, wenn man auch noch die Wölfin packen mußte. Sie schauderte und wich knurrend zurück; der Laut ging im Lärm der näherkommenden Hunde fast unter. Er schaffte es nicht, sie auf den breiten Stamm hinaufzulocken. Ratlos drehte er sich zu Binabik um.

»Ummu!« schrie der Troll heiser, und sofort sprang Qantaqa, noch immer grollend, auf die Tanne. Simon setzte sich, so gut er konnte, rittlings auf den Stamm, wobei ihm die Keule im Gürtel recht hinderlich war. Er rutschte auf dem Hinterteil rückwärts weiter und hielt dabei immer noch Qantaqa fest, bis er den Rand der Schlucht ein gutes Stück zurückgelassen hatte. Genau in diesem Augenblick schrie der Troll auf, und als Qantaqa den Ton seiner Stimme hörte, fuhr sie jäh herum. Simon hing mit beiden Armen an ihrem Hals und preßte seine Knie an die rauhe Borke. Ihm war auf einmal kalt, so kalt! Er vergrub das Gesicht in ihrem Pelz, roch ihren starken, wilden Geruch und flüsterte ein Gebet.

»… Elysia, Mutter unseres Erlösers, sei uns gnädig, beschütze uns…«

Binabik stand, ein zusammengerolltes Stück des Seiles in der Hand, genau einen Schritt vor dem Abgrund. »Hinik, Qantaqa!« rief er, und dann waren die Hunde aus den Bäumen heraus und jagten das letzte Stück den Abhang hinauf.

Von dort, wo er saß und die strampelnde Wölfin festhielt, konnte Simon recht wenig von ihnen sehen – nur lange, schmale weiße Rücken und scharfe Ohren. Die Bestien rannten im Galopp auf den Troll zu und machten dabei ein Geräusch, als schleife man Metallketten über einen Schieferboden.

Was hat Binabik nur vor? dachte Simon, der vor lauter Panik kaum atmen konnte. Warum läuft er nicht weg, warum macht er keinen Gebrauch von seinen Dornen – warum tut er nicht irgend etwas!

Es war, als kehre sein schlimmster Alptraum zurück, von Morgenes, der zwischen Simon und Elias' tödlicher Hand in Flammen stand. Er konnte nicht hier sitzen bleiben und zusehen, wie Binabik vor seinen Augen zerrissen wurde. Gerade wollte er den Stamm wieder hinaufrutschen, als die Hundemeute den Troll ansprang.

Nur sekundenlang nahm Simon die langen, fahlen Schnauzen, die leeren, perlweißen Augen und das Aufblitzen roter, gerollter Zungen und roter Lefzen wahr, dann sprang Binabik nach hinten und hinab in die Schlucht –

»Nein!« kreischte Simon, außer sich vor Entsetzen. Die fünf oder sechs Tiere, die Binabik am nächsten gewesen waren, schossen vorwärts, konnten nicht mehr bremsen und purzelten in einem aufjaulenden Gewirr weißer Beine und Schwänze die Klippe hinunter. Hilflos sah Simon, wie der Klumpen winselnder Hunde gegen die steile Felswand prallte und dann senkrecht tief in die Bäume hinabstürzte. Brechende Äste krachten wie bei einer Explosion. Er fühlte, wie ein neuer würgender Aufschrei aus seiner Brust stieg …

»Jetzt, Simon! Laß sie los!«

Mit aufgesperrtem Mund schaute Simon nach unten und erblickte Binabiks gegen die Wand der Schlucht gestemmte Füße. Der Troll hing an dem um seine Mitte geschlungenen Seil, keine zwei Dutzend Fuß unter der Stelle, an der er hinabgesprungen war.

»Laß sie los!« wiederholte er, und Simon löste endlich den Arm von Qantaqas Nacken. Die verbliebenen Hunde drängten sich über Binabiks Kopf am Rand zusammen, schnüffelten am Boden und starrten in die Tiefe. In ohnmächtiger Wut bellten sie den kleinen Mann an, der so quälend nahe hing.

Noch während sich Qantaqa den breiten Rücken der Schierlingstanne hinaufbewegte, richtete einer der weißen Hunde winzige Augen wie beschlagene Spiegel auf den Baum und Simon, stieß ein lautes, rasselndes Knurren aus und rannte auf ihn zu; die anderen folgten ihm sofort.

Noch bevor jedoch die jappende Meute die Tanne erreicht hatte, tat die graue Wölfin die letzten Schritte und landete mit einem prachtvollen Sprung auf dem Rand des Abgrundes. Einen Herzschlag später war der erste Hund an ihr, zwei weitere dicht dahinter. Das knurrende Kampflied der Wölfin stieg in die Höhe, im Bellen und Heulen der Hunde ein tieferer Ton.

Simon, einen Augenblick lang unentschlossen, begann sich dem Schluchtrand zuzuschieben. Der Stamm war so breit, daß ihm die gespreizten Beine weh taten. Er überlegte, ob er sich auf die Knie aufrichten und kriechen, seinen festen Halt am Baum also der Schnelligkeit opfern sollte. Die Baumwipfel tief unter ihm waren ein höckriger, grüner Teppich. Die Entfernung machte ihn schwindlig; sie war weit größer als der Sprung von der Mauer zum Grünengel-Turm. In seinem Kopf drehte es sich; er wandte den Blick ab und beschloß, seine Knie dort zu lassen, wo sie waren. Als er wieder aufschaute, sprang vom Rand eine weiße Gestalt auf die breite Tanne.

Der Hund grollte und kam rasch vorwärts. Seine Krallen kratzten über die Rinde. Simon blieb nur eine Sekunde, um seinen Ast mit dem Knorren herauszureißen, bevor das Untier die vielleicht ein Dutzend Fuß zurückgelegt hatte und ihn ansprang. Einen Moment verhakte sich der Ast in seinem Gürtel, aber Simon hatte das schmale Ende nach unten gesteckt, und das rettete ihm wahrscheinlich das Leben.

Die Keule war frei, als der Hund über ihn kam. Gelbe Zähne blitzten, als er nach Simons Gesicht schnappte. Dem Jungen gelang es, mit dem Ast so weit auszuholen, daß er den Angreifer mit seinem Hieb streifte und dadurch ablenkte. Einen Zollbreit von seinem linken Ohr klappten die Zähne in der Luft zusammen und bespritzten ihn mit Geifer. Die Hundepfoten standen auf seiner Brust, und der fürchterliche Aasgeruch des Atems wehte ihm in die Nase; Simon war im Begriff, den Halt zu verlieren. Er versuchte die Keule wieder hochzureißen, aber sie blieb zwischen den gestreckten Vorderläufen des Tiers stecken. Als die lange, geifernde Schnauze ein zweites Mal auf sein Gesicht zustieß, beugte er sich rückwärts und versuchte den Ast freizuzerren. Ein sekundenlanger Widerstand, dann hatte er dem weißen Hund eine Pfote unter der Schulter weggeschlagen – und das Tier verlor das Gleichgewicht. Es jaulte auf, torkelte zur Seite, kratzte einen Augenblick mit den Pfoten über die Borke und riß die Keule mit sich, als es vom Baumstamm abrutschte, um kopfüber in die Schlucht zu stürzen.

Simon sank nach vorn, klammerte sich mit den Händen am Baum fest und hustete, um den stinkenden Atem des Hundes aus seiner Nase zu vertreiben. Ein dumpfes Knurren unterbrach ihn. Langsam hob er den Kopf und sah einen zweiten Hund auf dem Stamm stehen, gerade hinter den Wurzeln. Die milchigen Augen glänzten wie bei einem blinden Bettler. Der Hund entblößte die Zähne zu einem schäumenden, scharlachzüngigen Grinsen. Simon hob hilflos die leeren Hände, als sich das Tier langsam den Baumstamm vortastete. Unter dem kurzen Fell traten die Muskeln hervor wie Stricke.

Der Hund drehte sich um, schnappte nach seiner Flanke, zerrte einen Augenblick an seinem Fell und richtete dann von neuem den unheimlich leeren Blick auf Simon. Schließlich machte er einen weiteren Schritt, schwankte, tat noch einen unsicheren Schritt, sank zusammen – und rutschte von der Schierlingstanne hinunter ins Vergessen.

»Der schwarze Dorn schien mir am sichersten«, rief Binabik. Der kleine Mann stand ein paar Meter hangab unter dem verdorrten Wurzelballen des Baumes. Gleich darauf hinkte Qantaqa herbei und stellte sich neben ihn. Ihre Schnauze troff von dunkelrotem Blut. Simon stierte die beiden an und begriff allmählich, daß sie es überstanden hatten.

»Jetzt langsam«, befahl der Troll. »Hier, ich werfe dir das Seil zu. Es wäre unvernünftig, dich nun zu verlieren, nach allem, was wir hinter uns gebracht haben…« Das Seil beschrieb einen weiten Bogen und glitt über den Stamm auf Simon zu. Der Junge griff dankbar danach, und seine Hände zitterten, als litte er an Schüttellähmung.


Binabik drehte den Hund mühsam mit dem Fuß um. Es war einer, den er mit einem Dorn erlegt hatte; der Wollpfropf ragte aus dem glatten weißen Fall am Hals des Tieres hervor wie ein winziger Pilz.

»Sieh hier«, sagte der Troll. Simon beugte sich ein Stück näher. Der Hund glich keinem Jagdhund, den er je gesehen hatte: Die schmale Schnauze und das fliehende Kinn erinnerten ihn eher an die um sich schlagenden Haie, welche die Fischer aus dem Kynslagh zogen. Die schillernden weißen Augen, die nun blicklos vor sich hinstarrten, schienen Fenster zu irgendeiner innerlichen Krankheit zu sein.

»Nein, das meine ich.« Binabik deutete mit dem Finger. Auf der Brust des Hundes, schwarz in die kurzen Haare eingebrannt, war ein schlankes Dreieck mit schmaler Grundlinie zu erkennen – ein Brandzeichen, wie es die Männer der Thrithinge mit im Feuer erhitzten Speeren in die Flanken ihrer Pferde sengten.

»Das ist das Zeichen von Sturmspitze«, erklärte Binabik ruhig. »Es ist die Marke der Nornen.«

»Und wer ist das?«

»Ein seltsames Volk. Ihr Land liegt noch höher im Norden als Yiqanuc und Rimmersgard. Ein großer Berg steht dort – sehr hoch und ganz bedeckt mit Schnee und Eis –, den die Rimmersmänner Sturmspitze nennen. Die Nornen meiden die Gefilde von Osten Ard. Manche sagen, sie seien Sithi, aber ich weiß nicht, ob das der Wahrheit entspricht.«

»Wie kann das sein?« fragte Simon. »Schau dir das Halsband an.« Er bückte sich und schob vorsichtig einen Finger unter das weiße Leder, um es vom steifwerdenden Fleisch des toten Hundes hochzuheben.

Binabik lächelte verlegen. »Schande über mich! Ich habe das Halsband übersehen, weiß auf weiß, wie es ist – ich, der seit frühester Kindheit gelernt hat, im Schnee zu jagen!«

»Aber schau es dir doch an!« drängte Simon. »Fällt dir die Schnalle nicht auf?«

Die Schnalle des Halsbandes war in der Tat ungewöhnlich: ein Stück gehämmertes Silber in Gestalt eines geringelten Drachens.

»Das ist der Drachen der königlichen Hundezwinger«, erklärte Simon mit fester Stimme. »Ich muß es wissen – ich war oft genug bei Tobas dem Hundewärter.«

Binabik hockte sich nieder und musterte den Kadaver. »Ich glaube dir. Doch was das Zeichen von Sturmspitze betrifft, so braucht man die Tiere nur anzusehen, um zu erkennen, daß diese Hunde keine Geschöpfe sind, die in eurem Hochhorst gezüchtet wurden.« Er stand auf und trat einen Schritt zurück. Qantaqa kam heran, um die Leiche zu beschnüffeln, und wich sofort mit grollendem Knurren wieder zurück.

»Ein Geheimnis, dessen Lösung warten muß«, bemerkte der Troll. »Im Augenblick können wir uns glücklich preisen, daß wir am Leben sind und noch alle unsere Glieder haben. Wir wollen uns wieder auf den Weg machen; ich hege nicht den Wunsch, dem Herrn dieser Hunde zu begegnen.«

»Ist es noch weit zu Geloë?«

»Irgendwo hat man uns von unserem Weg abgedrängt, aber es läßt sich noch gutmachen. Wenn wir jetzt aufbrechen, müßten wir immer noch schneller sein als die Dunkelheit.«

Simon sah auf die lange Schnauze und die bösartigen Kiefer des Hundes hinab, auf den kraftvollen Körper und das trüb werdende Auge.

»Hoffentlich«, meinte er leise.

Sie fanden nirgends eine Stelle, an der sie die Schlucht überqueren konnten, und entschlossen sich endlich widerwillig dazu, den langen Hang wieder hinunterzuklettern und sich nach einem anderen, leichteren Abstieg als der nackten Felswand vor ihnen umzuschauen. Simon war fast kindisch froh, daß er nicht hinabklimmen mußte; er hatte immer noch ein so schwaches Gefühl in den Knien wie nach einem Fieber. Er verspürte auch keine Lust, noch einen Blick in den Schlund der Schlucht zu werfen, unter sich nichts als den tiefen, tiefen Absturz. Es war eine Sache, im Hochhorst auf Mauern und Türme zu klettern, die rechtwinklige Ecken und Ritzen für die Maurer hatten – ein Baumstamm, der wie ein schwaches Zweiglein über dem Nichts hing, war etwas ganz anderes.

Als sie nach einer Stunde wieder am Fuß des langen Hanges angekommen waren, hielten sie sich nach rechts und suchten sich einen Weg nach Nordwesten. Sie hatten noch keine fünf Achtelmeilen zurückgelegt, als ein hoher, klagender Schrei messerscharf durch die Nachmittagsluft schnitt. Qantaqa spitzte die Ohren und grollte. Der Laut wiederholte sich.

»Es klingt wie ein schreiendes Kind«, erklärte Simon und drehte den Kopf, um den Ursprung des Geräusches zu orten.

»Der Wald spielt einem oft solche Streiche«, begann Binabik. Von neuem erhob sich der klagende Laut. Gleich darauf ertönte ein wütendes Bellen, das ihnen nur allzu vertraut war.

»Qinkipas Augen!« fluchte Binabik, »wollen sie uns den ganzen Weg bis nach Naglimund hetzen?« Das Gebell schwoll an, und er lauschte. »Es klingt nach nur einem Hund. Das ist wenigstens ein Glück.«

»Es hört sich an, als komme es von dort unten.« Simon deutete auf eine etwas entfernte Stelle, an der die Bäume dichter zusammenstanden. »Laß uns nachsehen.«

»Simon!« Binabiks Stimme war rauh vor Überraschung. »Was sagst du da? Wir fliehen um unser Leben!«

»Du hast gesagt, es klingt nur nach einem. Wir haben Qantaqa. Da wird jemand angegriffen. Wie können wir wegrennen?«

»Simon, wir wissen nicht, ob das Schreien eine List ist … oder es könnte ein Tier sein.«

»Und wenn es das nicht ist?« fragte Simon. »Wenn dieses Untier nun irgendein Holzfällerkind gefunden hat, oder … etwas anderes?«

»Ein Holzfällerkind? So weit entfernt vom Waldrand?« Binabik starrte ihn enttäuscht und zornig an. Simon gab den Blick trotzig zurück. »Ha!« sagte Binabik mit Nachdruck. »Dann soll es so sein, wie du wünschst.«

Simon machte kehrt und lief auf die dichter stehenden Bäume zu.

»Mikmok hanno so gijiq, sagen wir in Yiqanuc!« rief Binabik ihm hinterher. »Wer ein hungriges Wiesel in der Tasche trägt, ist selber schuld!« Der Junge drehte sich nicht um. Binabik schlug seinen Wanderstab gegen einen Baum und folgte ihm.

Innerhalb von hundert Schritten war er wieder an Simons Seite; zwanzig Schritte weiter hatte er seinen Stab aufgeschraubt und den Beutel mit den Dornen herausgeholt. Mit einem gezischten Befehl holte er die vorausstürmende Qantaqa zurück und rollte dann im Laufen geschickt grobe Wolle um einen der Dornen mit dunkler Spitze.

»Könntest du dich nicht selber vergiften, wenn du stolpern und hinfallen würdest?« wollte Simon wissen.

Binabik warf ihm einen sauren, besorgten Blick zu und bemühte sich, Schritt zu halten.

Als sie endlich den Ort des Geschehens erreichten, sah es dort täuschend harmlos aus: Am Fuß einer weitverzweigten Esche hockte ein Hund und starrte hinauf zu einer dunklen Gestalt, die sich über ihm auf einem Ast duckte. Es hätte einer der Burghunde aus dem Hochhorst sein können, der eine Katze auf einen Baum gejagt hatte, nur daß Hund und Beute beide wesentlich größer waren.

Sie waren keine hundert Schritte mehr entfernt, als der Hund sich ihnen zuwandte. Er zog die Lefzen hoch und bellte, ein bösartiges, rohes, gellendes Geräusch. Noch einmal schaute er nach dem Baum, streckte dann die langen Beine und trottete auf die Neuankömmlinge zu. Binabik wurde langsamer und blieb stehen. Er setzte das hohle Röhrchen an die Lippen. Qantaqa trabte an ihm vorbei. Als der Hund näherkam, blies der Troll die Backen auf und pustete. Falls der Dorn ihn getroffen hatte, ließ es sich der Hund nicht anmerken; statt dessen rannte er knurrend weiter, Qantaqa ihm entgegen. Dieser Hund war noch größer als die anderen, ebenso groß, wenn nicht gar noch etwas größer als die Wölfin.

Die beiden Tiere umkreisten einander nicht, sondern stürzten sofort aufeinander los. Gleich darauf wälzten sie sich fauchend am Boden, ein tobendes, zappelndes Knäuel aus grauem und weißem Fell. Neben Simon fluchte Binabik erbost: Vor lauter Hast, einen neuen Dorn aufzudrehen, war ihm das lederne Päckchen aus der Hand gefallen. Die Elfenbeinnadeln verteilten sich am Boden zwischen Blättern und Moos.

Das Knurren der Kämpfer war schriller geworden. Der lange weiße Kopf des Hundes stieß vor und zurück, einmal, zweimal, dreimal, wie eine Viper, die zuschlägt. Beim letzten Mal war Blut auf der bleichen Schnauze.

Simon und der Troll liefen auf die Tiere zu, als Binabik plötzlich einen seltsamen, erstickten Laut von sich gab.

»Qantaqa!« schrie er und sprang vor. Simon sah Binabiks Messer mit dem Knochengriff aufblitzen, dann warf der Troll sich, kaum zu glauben, zwischen die sich windenden, schnappenden Tiere, stieß mit dem Messer zu, riß es hoch, stieß nochmals zu. Simon, der um das Leben seiner beiden Gefährten fürchtete, riß das Röhrchen vom Boden, wo Binabik es fallen gelassen hatte, und hastete näher. Er kam rechtzeitig, um zu sehen, wie der Troll sich aufrichtete, Qantaqa an ihrem dicken, grauen Rückenfell packte und zog. Die beiden Tiere lösten sich voneinander. Beide waren voller Blut. Qantaqa stand langsam auf; sie zog ein Bein nach. Der weiße Hund lag still.

Binabik kauerte sich nieder, legte der Wölfin den Arm um den Hals und preßte seine Stirn an ihre. Simon, sonderbar gerührt, ging an ihnen vorüber auf den Baum zu.

Die erste Überraschung war, daß dort oben in den Ästen der Weißesche nicht eine Person saß, sondern zwei: ein Junge mit weitgeöffneten Augen, auf dem Schoß eine kleinere, stumme Gestalt. Die zweite Überraschung war, daß Simon den Größeren kannte.

»Du bist es!« Er starrte voller Erstaunen auf das schmutzverkrustete, blutige Gesicht. »Du! Mal … Malachias!«

Der Knabe sagte nichts, sondern schaute mit einem Blick voller Qual zu ihm hinunter, wobei er die kleine Gestalt auf seinem Schoß sanft hin- und herwiegte. Sekundenlang war das kleine Gehölz still und regungslos, als hätte jemand die Nachmittagssonne über den Bäumen in ihrem Lauf angehalten. Dann zerschmetterte das Gellen eines Horns die Stille.

»Schnell!« rief Simon zu Malachias hinauf. »Herunter! Du mußt herunterkommen!« Hinter ihm erschien Binabik mit der humpelnden Qantaqa.

»Jägerhorn, kein Zweifel«, war alles, was er sagte.

Malachias, als begreife er endlich, fing an, über den langen Ast auf den Stamm zuzurutschen, wobei er seine kleine Begleiterin sorgsam festhielt. Als er die Gabelung erreicht hatte, zögerte er einen Moment, dann reichte er Simon das schlaffe Bündel hinunter. Es war ein kleines, schwarzhaariges Mädchen, nicht älter als zehn Jahre. Sie bewegte sich nicht; die Augen in dem viel zu bleichen Gesicht waren geschlossen. Als Simon sie auffing, fühlte er etwas Klebriges auf der ganzen Vorderseite ihres groben Kleides. Gleich darauf ließ sich auch Malachias vom Ast gleiten, fiel die letzten paar Fuß hinunter, stolperte, kam aber fast sogleich wieder auf die Füße.

»Was jetzt?« fragte Simon und versuchte, das kleine Mädchen an seiner Brust zurechtzusetzen. Irgendwo am Rand der hinter ihnen liegenden Schlucht ertönte von neuem das Echo des Horns und jetzt auch das erregte Jappen weiterer Hunde.

»Wir können nicht gegen Männer und Hunde kämpfen«, bemerkte der Troll, dessen müdem Gesicht deutlich seine Erschöpfung anzusehen war. »Wir können auch nicht schneller rennen als Pferde. Wir müssen uns verstecken.«

»Wie?« fragte Simon. »Die Hunde werden uns riechen.«

Binabik beugte sich vor und nahm Qantaqas verletzte Pfote in die kleine Hand. Er bog sie vor und zurück. Die Wölfin wehrte sich einen Moment und saß dann schnaufend da, bis der kleine Mann seine Untersuchungen beendet hatte.

»Schmerzhaft ist es, aber nicht gebrochen«, erklärte er Simon, um sich dann an die Wölfin zu wenden. Malachias hob den Blick von Simons Last und starrte den Troll an. »Chok, Qantaqa«, sagte Binabik, »ummu chok Geloë!«

Die Wölfin brummte tief in der Brust und sprang dann sofort in nordwestlicher Richtung davon, weg von dem Lärm, der hinter ihnen immer lauter wurde. Sekunden später war sie, das blutbespritzte Vorderbein schonend, unter den Bäumen verschwunden.

»Ich hoffe«, erläuterte Binabik, »daß das Durcheinander von Gerüchen hier«, er deutete auf den Baum, dann auf den davor liegenden riesigen Hund, »sie verwirrt und der Geruch, dem sie dann folgen, der von Qantaqa ist. Ich denke, daß sie meine tapfere Freundin nicht fangen können, selbst wenn sie lahmt – zu schlau ist sie.«

Simon sah sich um. »Wie ist es mit dort drüben?« fragte er und deutete auf einen Spalt im Berghang, gebildet von einem großen Rechteck gebänderter Steine, die abgebrochen und hingestürzt waren, als hätte ein riesiger Keil sie gespalten.

»Nur daß wir nicht wissen, welche Richtung sie einschlagen werden«, erwiderte Binabik. »Wenn sie hier den Berg hinunterkommen, haben wir Glück. Wenn sie weiter hinten absteigen, werden sie genau an diesem Loch vorbeireiten. Das ist zu unsicher.«

Simon fiel das Denken schwer. Der Lärm der herannahenden Hunde war furchterregend. Hatte Binabik recht? Würde man sie auf der ganzen Strecke nach Naglimund verfolgen? Nicht, daß sie noch viel länger fliehen konnten, müde und zerschlagen wie sie waren.

»Dort!« sagte er plötzlich. In einiger Entfernung von ihnen ragte ein weiterer Felsfinger aus dem Waldboden auf, etwa dreimal so hoch wie ein Mann. Sein Sockel war dicht von Bäumen umstanden, die ihn umringten wie kleine Kinder ihren Großvater, dem sie helfen wollen, zum Abendbrottisch zu humpeln.

»Wenn wir dort hinaufklettern können«, meinte Simon, »werden wir sogar noch höher sein als die Berittenen.«

»Ja«, antwortete Binabik und nickte. »Recht, du hast recht. Kommt, wir wollen klettern.« Er machte sich auf den Weg zu dem Felsblock, dicht gefolgt von dem schweigenden Malachias. Simon rückte das kleine Mädchen an seinem Körper zurecht und eilte hinterdrein.

Binabik kletterte ein Stück nach oben, hielt sich am Ast eines dicht am Felsen wachsenden Baumes fest und drehte sich dann um. »Reich mir die Kleine hoch.«

Simon streckte die Arme aus, so weit er konnte, und hob das Kind zu ihm empor. Dann wandte er sich um und wollte Malachias, der einen ersten Halt für seine Zehen suchte, stützend die Hand unter den Ellenbogen legen. Der Junge schüttelte Simons hilfreiche Geste ab und kletterte vorsichtig in die Höhe.

Simon war der letzte. Als er den ersten Absatz erreichte, hob er die stille Gestalt des kleinen Mädchens wieder auf und legte sie sanft über seine Schulter, um mit ihr zu der abgerundeten Kuppe des Felsens weiterzusteigen. Dort angelangt, legte er sich wie die anderen unter die Blätter und Zweige, so daß sie hinter einem Schirm von Ästen verborgen waren. Sein Herz hämmerte vor Erschöpfung und Furcht. Ihm war, als befinde er sich schon ewig auf der Flucht, ewig in Verstecken.

Noch wälzten sie sich hin und her, um eine bequemere Lage für alle vier Körper zu finden, als das Gejaul der Hunde zu fürchterlicher Lautstärke anschwoll. Gleich darauf war der Wald unter ihnen erfüllt von hin- und herschießenden weißen Gestalten.

Simon ließ das kleine Mädchen bei Malachias, der es fest in den Armen hielt, und schob sich leise vorwärts, bis er neben Binabik am vorspringenden Rand des Felsens lag und mit dem Troll durch eine Lücke im Laubwerk spähen konnte. Die Hunde, witternd und bellend, waren überall; mindestens zwanzig von ihnen rannten aufgeregt zwischen dem Baum, der Leiche ihres Gefährten und dem Fuß des Felsens hin und her. Eines der Tiere schien sogar direkt zu Simon und Binabik hinaufzustarren; die leeren weißen Augen glänzten, das rote Maul grinste wild. Doch gleich darauf trottete es zu seinen schaumbedeckten Artgenossen zurück.

Das Horn klang jetzt ganz nah. Eine Reihe von Pferden erschien und suchte sich einen Pfad durch den dicht bewaldeten Berghang. Jetzt hatten die Runden der Hunde einen vierten Bezugspunkt, und sie rannten mit wildem Geheul zwischen den steingrauen Beinen des Leitpferdes hindurch, das so ruhig weiterschritt, als wären sie ein paar Nachtschmetterlinge. Die folgenden Pferde waren nicht ganz so gelassen; eines, das unmittelbar hinterherkam, scheute leicht, und sein Reiter scherte mit ihm aus der Reihe aus und spornte es den letzten kurzen Hang hinab, um es in der Nähe des Felsblockes zu einem stampfenden, schnaubenden Halt zu bringen.

Der Reiter war jung und glattrasiert, mit kräftigem Kinn und lockigen Haaren von der kastanienbraunen Farbe seines Rosses. Über der silberglänzenden Rüstung trug er einen Wappenrock in Blau und Schwarz mit einem Abzeichen aus drei gelben Blumen, das schräg von der Schulter zur Taille führte. Er machte ein mürrisches Gesicht.

»Noch einer tot«, fauchte er. »Was haltet Ihr davon, Jegger?« Seine Stimme nahm einen hämischen Ton an. »Oh, verzeiht mir, ich meinte Meister Ingen

Simon war verblüfft, wie deutlich die Worte des Mannes zu verstehen waren, so als spreche er unmittelbar zu den verborgenen Lauschern. Er hielt den Atem an.

Der Gepanzerte starrte auf etwas außerhalb ihres Gesichtsfeldes, und sein Profil kam Simon plötzlich ungemein bekannt vor. Er war überzeugt, diesen Mann schon gesehen zu haben, höchstwahrscheinlich auf dem Hochhorst. Dem Akzent nach war er auf alle Fälle ein Erkynländer.

»Es kommt nicht darauf an, wie Ihr mich nennt«, erwiderte eine andere Stimme, eine tiefe, glatte, kalte Stimme. »Nicht Ihr habt Ingen Jegger zum Jägermeister dieser Jagd gemacht. Ihr seid hier … aus Höflichkeit, Heahferth. Weil es Euer Land ist.«

Jetzt wußte Simon, wen er vor sich hatte: Er kannte Baron Heahferth als einen ständigen Gast an Elias' Hof und Kumpan von Graf Fengbald. Der zweite Sprecher lenkte sein graues Roß in die Lücke, durch die Simon und Binabik hindurchstarrten. Erregte weiße Hunde umwimmelten die Pferdehufe.

Der Mann, der Ingen hieß, war ganz in Schwarz gekleidet, Waffenrock, Hosen und Hemd im selben tristen, stumpfen Ton. Auf den ersten Blick hielt man ihn für weißbärtig; dann aber zeigte sich, daß der kurzgestutzte Bart in dem harten Gesicht von so lichtem Gelb war, daß er fast farblos wirkte – so farblos wie die Augen, fahle, bleiche Flecken im dunklen Antlitz. Sie mochten blau sein.

Simon starrte auf die von der schwarzen Kapuze umrahmten kalten Züge, auf den kraftvollen, muskulösen Körper und spürte eine Furcht, die anders war als alles, was er an diesem ganzen Tag voller Gefahren erlebt hatte. Wer war dieser Mann? Er sah aus wie ein Rimmersmann, und sein Name war einer aus Rimmersgard; aber er sprach eigenartig, mit einem langsamen, fremdklingenden Akzent, den Simon noch nie gehört hatte.

»Mein Land endet am Rand des Waldes«, erklärte Heahferth jetzt und trieb sein widerspenstiges Reittier wieder an seinen Platz zurück. Ein halbes Dutzend Männer in leichter Rüstung war nacheinander auf die Lichtung geritten und saß nun wartend auf den Pferden. »Und dort, wo mein Land aufhörte«, fuhr Heahferth fort, »war auch meine Geduld zu Ende. Das ist ein schlechter Witz. Überall liegen tote Hunde herum wie Spreu…«

»Und zwei Gefangene sind entkommen«, schloß Ingen.

»Gefangene!« spottete Heahferth. »Ein Junge und ein kleines Mädchen! Glaubt Ihr, das seien die Verräter, hinter denen Elias so eifrig her ist? Glaubt ihr, ein solches Pärchen hätte das fertiggebracht?« Und er nickte mit dem Kopf zum Kadaver des großen Hundes hinüber.

»Die Hunde haben irgend etwas gejagt.« Ingen Jegger starrte auf den toten Kampfhund hinunter. »Schaut selbst. Seht Euch die Wunden an. Es waren weder Bär noch Wolf, die das getan haben. Es war unsere Beute, und noch ist sie flüchtig. Und nun, dank Eurer Dummheit, rennen auch unsere Gefangenen.«

»Wie könnt Ihr es wagen?« fuhr Baron Heahferth ihn mit erhobener Stimme an. »Wie könnt Ihr es wagen?! Mit einem Wort könnte ich Euch von Pfeilen starren lassen wie einen Igel von Stacheln.«

Ingen sah langsam vom Leichnam des Hundes auf. »Aber das werdet Ihr nicht«, versetzte er gelassen. Heahferths Pferd scheute und bäumte sich auf. Als der Baron es wieder gebändigt hatte, tauschten die beiden Männer einen langen Blick.

»Oh … also gut«, sagte Heahferth. Seine Stimme klang ganz anders, als er jetzt von dem Schwarzgekleideten wegsah und in den Wald hineinblickte. »Aber was nun?«

»Die Hunde haben eine Spur«, erklärte Ingen. »Wir werden tun, was wir müssen. Folgt mir.« Er hob das Horn, das an seiner Seite hing, und stieß einmal hinein. Die Hunde, die sich am Rand der Lichtung zusammengedrängt hatten, gaben Laut und rannten dorthin, wo Qantaqa verschwunden war; wortlos ritt Ingen Jeggers Grauroß hinterher. Baron Heahferth winkte fluchend seinen Männern und folgte. Keine hundert Herzschläge, und der Wald unter dem Felsen war wieder leer und still. Trotzdem ließ Binabik alle noch eine Weile still liegen, bevor er ihnen erlauben mochte, herunterzuklettern.

Unten am Boden untersuchte er rasch das kleine Mädchen, öffnete ihr mit behutsamem, stämmigem Finger die Augen und beugte sich über sie, um ihrem Atem zu lauschen.

»Sehr schlecht geht es ihr, der Kleinen. Wie ist ihr Name, Malachias?«

»Leleth«, erwiderte der Junge und betrachtete das blasse Gesicht. »Meine Schwester.«

»Unsere einzige Hoffnung ist, sie schnell in Geloës Haus zu bringen«, sagte Binabik. »Und daß Qantaqa diese Männer in die Irre führt, damit wir lebendig dorthin kommen.«

»Was machst du eigentlich hier, Malachias?« wollte Simon jetzt wissen. »Und wie bist du Heahferth entkommen?«

Der Junge gab keine Antwort, und als Simon die Frage wiederholte, wandte er den Kopf ab.

»Fragen später«, erklärte Binabik und stand auf. »Schnelligkeit brauchen wir jetzt. Kannst du dieses Mädchenkind tragen, Simon?«

»Ich denke schon.«

»Also los!«

Sie bahnten sich einen Weg in nordwestlicher Richtung durch den dichten Forst. Die sinkende Sonne stach durch die Äste. Simon fragte den Troll nach dem Mann namens Ingen und seiner merkwürdigen Redeweise.

»Schwarz-Rimmersmann, denke ich«, erwiderte Binabik. »Sie sind ein seltenes Volk, wenig zu sehen außer in den Siedlungen des äußersten Nordens, in die sie manchmal zum Handeln kommen. Sie sprechen nicht die Sprache von Rimmersgard. Es heißt, sie leben am Rand des Landes, das den Nornen gehört.«

»Schon wieder die Nornen«, brummte Simon und duckte sich unter einem Ast, der Malachias aus der unachtsamen Hand gesprungen war. Er drehte sich um und sah den Troll an. »Was wird hier eigentlich gespielt? Wieso haben solche Leute an uns Interesse?«

»Gefährliche Zeiten, Freund Simon«, meinte Binabik nur. »Durch gefährliche Zeiten gehen wir.«

Mehrere Stunden vergingen, und die Schatten des Nachmittages wurden immer länger. Die Stücke Himmel, die durch die Baumwipfel schimmerten, färbten sich langsam von Blau zu Muschelrosa. Die kleine Gruppe wanderte weiter. Das Land war überwiegend flach und bildete nur manchmal kleine Senken, flach wie Bettelschalen. Über ihnen in den Zweigen führten Eichhörnchen und Häher ihre endlosen Debatten; im Blattgewirr unter ihren Füßen summten die Heuschrecken. Einmal sah Simon eine große, graue Eule, die wie ein Gespenst durch die ineinander verschlungenen Äste über ihnen schwebte. Später bemerkte er eine zweite, der ersten so ähnlich wie eine Zwillingsschwester.

Wenn sie Lichtungen überquerten, beobachtete Binabik sorgfältig den Himmel und ließ sie etwas stärker in Richtung Osten schwenken. Bald erreichten sie einen schmalen Waldbach, der über tausend kleine Hindernisse aus hineingefallenen Ästen dahingurgelte. Eine Zeitlang gingen sie durch das dichte Gras, das seine Ufer säumte; als ihnen ein dicker Baumstamm den Weg versperrte, wichen sie ihm aus und liefen auf dem Rücken der Steine weiter, die im seichten Bachbett verstreut lagen.

Als ein zweiter kleiner Wasserlauf einmündete, erweiterte sich das Bachbett, und gleich darauf hob Binabik die Hand als Zeichen zum Anhalten. Sie hatten gerade eine Biegung des Wasserlaufes umrundet; an dieser Stelle fiel der Bach jäh nach unten und rauschte als kleiner Wasserfall über eine Reihe von Felsblöcken.

Sie standen am Rand einer großen Mulde. Eine sanft abfallende, baumbestandene Fläche führte hinab zu einem weiten, dunklen See. Die Sonne war untergegangen, und in der insektensummenden Dämmerung erschien das Wasser purpurn und tief. Baumwurzeln ringelten sich ins Wasser wie Schlangen. Eine Ahnung von Stille lag über dem Wasser, von stummen, nur den endlosen Bäumen zugeflüsterten Geheimnissen. Am anderen Ufer des Sees stand, in der zunehmenden Dunkelheit unbestimmt und nicht genau zu erkennen, eine große, strohgedeckte Hütte, die sich so über dem Wasser erhob, daß es auf den ersten Blick aussah, als schwebe sie in der Luft. Dann aber stellte Simon fest, daß sie auf Stelzen über der Wasseroberfläche errichtet war. In zwei kleinen Fenstern schimmerte buttergelbes Licht.

»Geloës Haus«, verkündete Binabik, und sie machten sich auf den Weg in die baumbewachsene Senke. Mit lautlosem Flügelschlag schoß aus den Wipfeln über ihnen eine graue Gestalt, kreiste zweimal tief über dem See und verschwand im Dunkel neben der Hütte. Einen Augenblick schien es Simon, als sehe er die Eule in die Hütte fliegen, aber seine Lider waren schwer vor Übermüdung, so daß er es nicht mit Sicherheit sagen konnte. Ringsum stieg das Abendlied der Grillen auf, und die Schatten wurden länger. Am Seeufer entlang kam etwas in großen Sprüngen auf sie zu.

»Qantaqa!« lachte Binabik und rannte ihr entgegen.

XXVI In Geloës Haus

Die Gestalt, die dort eingerahmt vom warmen Licht der Türöffnung stand, regte sich nicht und sagte kein Wort, als die Gefährten die lange Balkenbrücke betraten, die von der Türschwelle zum Ufer des Sees führte. Als Simon, die kleine Leleth sorgsam auf dem Arm, hinter Binabik herging, konnte er nicht umhin, sich zu wundern, weshalb Geloë nicht einen etwas dauerhafter erbauten Eingang für ihre Hütte besaß, zumindest mit einem Seil als Handlauf. Seinen müden Füßen fiel es schwer, sich auf der schmalen Brücke zu halten. Vermutlich hat sie ja auch nicht viel Besuch, dachte er und sah zu dem sich rasch verfinsternden Wald hinüber.

Vor der obersten Stufe blieb Binabik stehen und verbeugte sich, wobei er Simon um ein Haar in das stille Gewässer gestoßen hätte.

»Valada Geloë«, verkündete er, »Binbines Mintahoqis erbittet Eure Hilfe. Ich bringe Euch Reisende.«

Die Gestalt in der Tür trat zurück und gab den Weg frei.

»Verschone mich mit diesen Nabbanai-Phrasen, Binabik.« Es war eine rauhe und doch melodische Stimme mit starkem, fremdartigem Akzent, doch unzweifelhaft eine Frauenstimme. »Ich wußte, daß du kommst. Qantaqa ist schon seit einer Stunde hier.« Die Wölfin am Ende der Rampe spitzte die Ohren. »Natürlich seid ihr willkommen. Glaubst du, ich würde euch abweisen?«

Binabik trat ins Haus. Simon, einen Schritt hinter ihm, fragte: »Wohin soll ich das kleine Mädchen bringen?«

Er duckte sich unter der Tür durch und gewann den schnellen Eindruck eines hohen Daches und langer, von vielen Kerzenflammen geworfener, flackernder Schatten, dann stand Geloë vor ihm. Sie trug ein grobes Gewand aus graubraunem Stoff, mit einem Gürtel ungeschickt zusammengehalten. Ihre Größe lag zwischen der Simons und des Trolls. Das Gesicht war breit und sonnengebräunt und voller Falten um Augen und Mund. Ihr dunkles Haar war überall mit Grau durchsetzt und kurz abgeschnitten, so daß sie fast wie ein Priester aussah. Aber es waren ihre Augen, die Simon fesselten, runde, schwerlidrige gelbe Augen mit großen, kohlschwarzen Pupillen. Es waren alte, wissende Augen, die Augen eines würdigen Vogels aus dem Hochgebirge, und es lag eine Macht in ihnen, die Simon wie angewurzelt stehenbleiben ließ. Sie schien sein vollständiges Maß zu nehmen, sein Innerstes zuäußerst zu kehren und ihn zu schütteln wie einen Sack, alles im selben Augenblick. Als sich ihr Blick endlich dem verletzten Mädchen zuwandte, fühlte er sich leer wie ein trockener Weinschlauch.

»Dieses Kind ist verwundet.« Es war keine Frage.

Simon ließ hilflos zu, daß sie ihm Leleth aus den Armen nahm. Binabik kam herbei.

»Sie ist von Hunden angefallen worden«, erklärte der Troll. »Hunden mit dem Brandzeichen von Sturmspitze.«

Wenn er einen Blick voller Überraschung oder Furcht erwartet hatte, wurde er enttäuscht. Geloë drängte sich energisch an ihm vorbei und ging zu einem Strohsack am Boden, wo sie das Mädchen niederlegte. »Sucht euch etwas zu essen, wenn ihr hungrig seid«, sagte sie. »Ich muß jetzt an die Arbeit. Ist man euch gefolgt?«

Binabik berichtete ihr rasch die Ereignisse der letzten Stunden, während Geloë den teilnahmslosen Körper des Kindes entkleidete. Endlich kam auch Malachias herein. Er hockte sich neben den Strohsack und blieb auch dort, als Geloë Leleths Wunden säuberte. Als er ihr dabei zu nahe kam und ihre Bewegungen hinderte, berührte die Valada mit ihrer sommersprossigen Hand den Jungen leicht an der Schulter. Einen Augenblick hielt sie ihn fest und sah ihn an, bis Malachias aufblickte und zurückzuckte. Gleich darauf schlug er noch einmal die Augen zu Geloë auf, und die beiden schienen eine stumme Botschaft auszutauschen, bevor sich Malachias abwandte und an die Wand setzte.

Binabik schürte das Feuer, das in einem geschickt angelegten, tiefen Schacht im Boden brannte. Der Rauch – von dem es erstaunlich wenig gab – zog zur Decke hin ab. Simon überlegte, daß es in den Schatten dort oben einen verborgenen Schornstein geben mußte.

Die Hütte selbst, die eigentlich nur aus einem einzigen, großen Raum bestand, erinnerte ihn in mancherlei Weise an Morgenes' Studierzimmer. An den lehmbestrichenen Wänden hingen lauter merkwürdige Dinge: zu sorgfältigen Bündeln geschnürte belaubte Zweige, Säckchen mit getrockneten Blumen, die ihre Blütenblätter verstreuten, und Halme, Schilfrohr und lange, glitschige Wurzeln, die alle aussahen, als hätten sie recht widerwillig den See unter ihnen verlassen. Das Feuerlicht flackerte auch über eine Vielzahl kleiner Tierschädel, deren helle, glattpolierte Oberflächen es beschien, ohne in die Dunkelheit der Augen einzudringen.

Eine ganze Wand war zwischen Boden und Decke durch ein gürtelhohes Bord aus über Rahmen gespannter Baumrinde geteilt. Es war ebenfalls mit sonderbaren Gegenständen bedeckt: Tierfellen und kleinen Bündeln aus Stöckchen und Knochen, schönen, vom Wasser glattgeschliffenen Kieseln in allen Formen und Farben und einer sorgsam aufgeschichteten Sammlung von Schriftrollen mit den Griffen nach außen, die aussahen wie ein Bündel Brennholz. Es war alles so vollgestopft, daß Simon eine Weile brauchte, bis er merkte, daß es eigentlich gar kein Bord, sondern ein Schreibtisch war; neben den Schriftrollen lagen ein Stapel Pergament und ein Federkiel in einem aus einem weiteren Tierschädel gefertigten Tintenfaß.

Qantaqa winselte leise und stieß mit der Nase gegen seinen Oberschenkel. Simon kraulte ihr die Schnauze. Sie hatte Rißwunden an Gesicht und Ohren, aber das Fell war säuberlich von getrocknetem Blut gereinigt worden. Simon wandte sich vom Tisch ab und der langen Wand zu, deren beide kleine Fenster auf den See hinausgingen. Die Sonne war inzwischen untergegangen, und das hinausströmende Kerzenlicht warf zwei lange, unregelmäßige Rechtecke auf das Wasser. In einem davon konnte Simon seine eigene, schlaksige Silhouette sehen wie die Pupille eines hellen Auges.

»Ich habe etwas Suppe gewärmt«, sagte Binabik hinter ihm und bot ihm eine hölzerne Schale. »Ich habe sie selbst nötig«, lächelte der Troll, »und du und alle anderen auch. Ich hoffe, daß ich nie wieder einen Tag erleben werde, der diesem gleicht.«

Simon pustete auf die heiße Flüssigkeit und brachte dann etwas davon über die Lippen. Sie war würzig und ein klein wenig bitter, wie der gewürzte Apfelmost zu Elysiameß.

»Schmeckt gut«, sagte er und nahm einen weiteren Schluck. »Was ist es?«

»Besser nicht zu fragen, vielleicht«, grinste Binabik schalkhaft.

Geloë sah vom Strohsack auf, die Augenbrauen schräg zum scharfen Nasenrücken hin zusammengezogen, und heftete einen durchbohrenden Blick auf Binabik.

»Laß das, Troll, der Junge bekommt ja Magenschmerzen«, schnaubte sie ärgerlich. »Honiglocke, Löwenzahn und Steingras, mehr ist nicht darin, Junge.«

Binabik schien beschämt. »Entschuldigungen, Valada.«

»Mir schmeckt es«, bemerkte Simon, der fürchtete, sie unbeabsichtigt beleidigt zu haben, und fügte gleich darauf hinzu: »Seid bedankt, daß Ihr uns aufgenommen habt. Mein Name ist Simon.«

»Aha«, brummte Geloë und fuhr fort, die Wunden des Mädchens zu reinigen. Der verwirrte Simon trank so geräuschlos er konnte seine Brühe aus. Binabik nahm ihm die Schale ab und füllte sie nochmals, und Simon leerte sie fast ebenso schnell wie das erste Mal.

Binabik machte sich jetzt daran, mit den kurzen, kräftigen Fingern Qantaqas Fell zu strählen. Kletten und Zweige, die er herausholte, warf er ins Feuer. Geloë legte Leleth schweigend Verbände an, und Malachias, dem das strähnige schwarze Haar ins Gesicht hing, schaute zu. Simon fand einen verhältnismäßig freien Platz, an dem er sich an die Hüttenwand lehnen konnte.

Eine Legion von Grillen und anderen nächtlichen Sängern füllte die Hohlräume der Nacht, als Simon in einen Schlaf der Erschöpfung sank, und sein Herz schlug in ihrem langsamen Rhythmus mit.


Es war immer noch Nacht, als er aufwachte. Er schüttelte tranig den Kopf, um die klebrigen Überreste eines zu kurzen Schlummers daraus zu vertreiben. Er mußte sich erst einmal verstohlen in dem unvertrauten Raum umschauen, bis ihm wieder einfiel, wo er war.

Geloë und Binabik unterhielten sich leise. Die Frau saß auf einem hohen Schemel, der Troll wie ein Schüler mit gekreuzten Beinen zu ihren Füßen. Hinter ihnen auf dem Strohsack lag etwas Dunkles, Unförmiges, das Simon schließlich als Malachias und Leleth erkannte, die sich im Schlaf aneinanderschmiegten.

»Es kommt nicht darauf an, ob du klug gehandelt hast oder nicht, junger Troll«, meinte die Frau. »Du hast Glück gehabt, und das ist mehr wert.«

Simon beschloß, sie wissen zu lassen, daß er wach war. »Wie geht es der Kleinen?« erkundigte er sich gähnend.

Geloë richtete den verschleierten Blick auf ihn. »Sehr schlecht. Sie ist schwer verletzt und hat Fieber. Die Nornenhunde … nun, es ist nicht gut, von ihnen gebissen zu werden. Sie fressen unreines Fleisch.«

»Die Valada hat alles getan, was getan werden kann, Simon«, erklärte Binabik. Er hielt etwas in der Hand: einen neuen Lederbeutel, den er beim Sprechen zusammennähte. Simon fragte sich, wo der Troll wohl neue Dornen finden würde. Hätte er doch nur ein Schwert … oder wenigstens ein Messer! Menschen in Abenteuern besaßen immer Schwerter oder wenigstens einen scharfen Verstand. Oder Zauberkraft.

»Hast du…« Simon zögerte. »Hast du ihr von Morgenes erzählt?«

»Ich wußte es schon.« Geloë starrte ihn an. Der Feuerschein färbte ihre hellen Augen rot. Als sie weitersprach, geschah es mit kraftvoller Bedächtigkeit. »Du warst bei ihm, Junge. Ich kenne deinen Namen, und ich fühlte Morgenes' Zeichen auf dir, als ich dir das Kind abnahm und dich berührte.« Wie um es ihm zu beweisen, streckte sie die breite, schwielige Hand aus.

»Ihr kanntet meinen Namen?«

»Ich weiß viele Dinge, die mit dem Doktor im Zusammenhang stehen.« Geloë beugte sich vor und stocherte mit einem langen, verkohlten Stock im Feuer. »Wir haben einen großen Mann verloren, einen Mann, den wir schlecht entbehren können.«

Simon zögerte, bis endlich doch die Neugier den Sieg über seine Ehrfurcht vor der Valada davontrug. »Was meint Ihr?« Er kroch näher, bis er neben dem Troll saß. »Ich meine, was bedeutet wir

»›Wir‹ bedeutet ›wir alle‹«, antwortete sie. »›Wir‹ meint all die, die das Dunkel nicht willkommen heißen.«

»Ich habe Geloë berichtet, was uns widerfahren ist, Freund Simon«, sagte Binabik ruhig. »Es ist kein Geheimnis, daß ich kaum eine Erklärung dafür habe.«

Geloë machte ein schiefes Gesicht und zog das grobe Gewand enger um den Körper. »Und ich kann nichts hinzufügen … noch nicht. Allerdings ist mir jetzt klar, daß die Wetterzeichen, die ich selbst hier an meinem einsamen See bemerkt habe, die Gänse auf dem Flug nach Norden, die schon vor vierzehn Tagen über mich hätten hinwegziehen sollen, alle Dinge, die mich in dieser seltsamen Jahreszeit nachdenklich gemacht haben«, sie preßte die Handflächen aneinander, als wollte sie beten, »Wirklichkeit sind – und mit ihnen die Veränderung, die sie prophezeien. Schreckliche Wirklichkeit.« Sie ließ die Hände schwer in den Schoß sinken und starrte darauf.

»Binabik hat recht«, fuhr sie endlich fort. Der Troll neben ihr nickte ernsthaft mit dem Kopf, aber Simon sah ein zufriedenes Glitzern in den Augen des kleinen Mannes, als habe man ihm ein großes Kompliment gemacht. »Hier geht es um weit mehr als nur den Kampf eines Königs mit seinem Bruder. Der Streit von Königen kann das Land zerstören, kann Bäume entwurzeln und Felder in Blut baden« – prasselnd und funkenstiebend brach ein Scheit auseinander, und Simon fuhr erschreckt in die Höhe –, »aber die Kriege der Menschen bringen keine schwarzen Wolken aus dem Norden oder senden die hungrigen Bären im Maia-Monat in ihre Höhlen zurück.«

Geloë stand auf und streckte sich, und die weiten Ärmel ihres Gewandes hingen an ihr herunter wie Vogelschwingen. »Morgen werde ich versuchen, ein paar Antworten für euch zu finden. Jetzt soll schlafen, wer kann, denn ich fürchte, das Fieber des Kindes wird heute nacht mit aller Stärke wiederkehren.«

Sie ging an die andere Wand und begann, kleine Krüglein auf die Borde zurückzustellen. Simon breitete auf dem Boden neben der Feuerstelle seinen Mantel aus.

»Vielleicht solltest du nicht so dicht daran schlafen«, warnte Binabik. »Ein Funke, der herausspringt, kann dich in Brand setzen.«

Simon betrachtete ihn vorsichtig, aber der Troll schien nicht zu scherzen. Er zog den Mantel mehrere Fuß nach hinten und legte sich darauf. Die Kapuze rollte er als Kissen unter den Kopf und zog dann sorgfältig die Seitenteile über sich. Binabik verschwand in einer Ecke, wo er noch einen Augenblick herumraschelte und polterte, bis auch er es sich bequem gemacht hatte.

Das Lied der Grillen war verstummt. Simon starrte hinauf in die Schatten, die in den Dachbalken flackerten, und lauschte dem sanften Rauschen des Windes, der unaufhörlich durch die Äste der das Haus umgebenden Bäume und auf den See hinauswehte.


Es brannte keine Laterne und auch kein Feuer mehr; nur das pilzbleiche Licht des Mondes sickerte durch die hohen Fenster und tauchte den vollgestopften Raum in eine Art frostigen Schein. Simon starrte auf die sonderbaren, unkenntlichen Umrisse der auf den Tischen herumliegenden Gegenstände und die kantigen, leblosen Gestalten der zu schiefen Türmen aufgestapelten Bücher, die aus dem Boden ragten wie Grabsteine auf einem Friedhof. Besonders ein Buch zog seinen Blick an. Aufgeschlagen lag es da, weißglänzend wie das Fleisch eines entrindeten Baumes. Mitten auf der offenen Seite sah er ein bekanntes Gesicht – einen Mann mit brennenden Augen, dessen Haupt das verzweigte Geweih eines Hirsches trug.

Simon schaute das Zimmer, dann wieder das Buch an. Ja, er war in Morgenes' Wohnung. Natürlich! Wo sollte er denn auch sonst sein?

Im Augenblick, als er das feststellte, als die Umrisse die vertrauten Formen der Flaschen und Gestelle und Retorten des Doktors annahmen, ertönte ein vorsichtiges, kratzendes Geräusch an der Tür. Der unerwartete Laut erschreckte ihn. Schräge Streifen Mondlicht ließen die Wand schief und baufällig erscheinen. Wieder kam das Kratzen.

»Simon?«

Die Stimme war sehr leise, als wolle der Sprecher nicht gehört werden, aber Simon erkannte sie sofort.

»Doktor?« Er sprang auf und war mit wenigen Schritten an der Tür. Warum hatte der alte Mann nicht geklopft? Und was war das für eine Art, so spät nach Hause zu kommen? Vielleicht war er auf einer seiner geheimnisvollen Reisen gewesen und hatte sich törichterweise selber ausgesperrt – natürlich, das mußte es sein! Ein Glück, daß Simon da war, um ihn hereinzulassen. Er mühte sich mit dem schattendunklen Schloß ab. »Was habt Ihr angestellt, Doktor Morgenes?« flüsterte er. »Ich warte schon so lange auf Euch!« Keine Antwort.

Gerade war er dabei, den Riegel aus seinem Loch zu ziehen, als ihn ein jähes Gefühl des Unbehagens überkam. Er ließ die halb entriegelte Tür, wie sie war, und stellte sich auf die Zehen, um durch einen Spalt zwischen den Türbrettern zu spähen.

»Doktor?«

Im inneren Korridor, vom blauen Licht der Gang-Lampen beleuchtet, stand die von Kapuze und Mantel verhüllte Gestalt des Alten. Das Gesicht lag im Schatten, aber sein zerlumpter alter Mantel, der schmale Körperbau, die weißen Haarsträhnen, die unter der Kapuze hervorschauten, bläulich im Lampenschein, alle diese Dinge waren unverwechselbar. Warum antwortete er nicht? Hatte er sich verletzt?

»Fehlt Euch etwas?« fragte Simon und zog die Tür nach innen. Die kleine, gebeugte Gestalt regte sich nicht. »Wo seid Ihr gewesen? Was habt Ihr herausgefunden?« Er glaubte, der Doktor hätte etwas gesagt und beugte sich vor.

Die Worte, die zu ihm heraufdrangen, waren voller Luft, schmerzhaft rauh. »… Falscher … Bote…« war alles, was er verstand. Der trockenen Stimme schien das Sprechen schwerzufallen. Und dann hob sich das Gesicht, und die Kapuze fiel nach hinten.

Der Kopf, der den zersausten weißen Haarkranz trug, war eine verbrannte, geschwärzte Ruine, ein Klumpen mit zersprungenen, leeren Höhlen als Augen; der spindeldürre Hals, auf dem er wackelte, ein verkohlter Stock. Als Simon zurücktaumelte, in der Kehle einen Schrei, der festsaß und nicht herauskonnte, lief eine dünne, rote Linie über die Vorderseite des schwarzen, ledrigen Balls, und gleich darauf öffnete sich gähnend der Mund, ein gespaltenes Grinsen aus rosa Fleisch.

»Der … falsche … Bote«, sagte das Wesen, jedes Wort ein rasselndes Keuchen, »… hüte … dich…«

Und dann schrie Simon, bis ihm das Blut in den Ohren dröhnte, denn das verbrannte Ding sprach, es gab keinen Zweifel, mit Doktor Morgenes' Stimme.


Es dauerte lange, bis sein jagendes Herz ruhiger wurde. Stoßweise atmend, saß er da, Binabik neben ihm.

»Hier ist nichts Böses«, versicherte der Troll und legte Simon die Handfläche auf die Stirn. »Du bist kalt wie Eis.«

Geloë kam von dem Strohsack herüber, wo sie Malachias die Decke, die er fortgestoßen hatte, als Simons Schrei ihn jäh aus dem Schlaf riß, wieder übergelegt hatte.

»Hattest du schon solche starken Träume, als du noch in der Burg wohntest, Junge?« fragte sie, nachdem er ihnen den Traum beschrieben hatte, und sie musterte ihn dabei mit so strengem Blick, als wollte sie sehen, ob er es wagte, das abzustreiten. Simon schauderte. Vor diesem überwältigenden Blick hatte er nicht den Wunsch, etwas anderes als die Wahrheit zu erzählen. »Erst in den … letzten paar Monaten … bevor…«

»Bevor Morgenes starb«, ergänzte Geloë knapp. »Binabik, wenn mich das Wissen, über das ich verfüge, nicht ganz und gar verlassen hat, kann ich nicht glauben, daß es ein Zufall ist, wenn er in meinem Haus von Morgenes träumt. Nicht so einen Traum.«

Binabik fuhr sich mit der Hand durch das vom Schlaf zerwühlte Haar. »Valada Geloë, wenn Ihr es nicht wißt, wie dann ich? Tochter der Berge! Mir ist, als lauschte ich auf Geräusche im Dunkeln. Ich kann die Gefahren nicht erkennen, die uns umgeben, aber ich weiß, daß es Gefahren sind. Simon träumt eine Warnung vor ›falschen Boten‹… aber das ist nur eines von allzu vielen geheimnisvollen Dingen. Warum die Nornen? Der Schwarz-Rimmersmann? Die schmutzigen Bukken?«

Geloë trat zu Simon und schob ihn sanft, aber energisch auf seinen Mantel zurück. »Versuch wieder einzuschlafen«, sagte sie. »Nichts wird das Haus der Zauberfrau betreten, das dir Übles zufügen könnte.« Sie wandte sich an Binabik. »Ich denke, wenn sein Traum so zusammenhängend ist, wie es den Anschein hat, wird er uns bei unserer Suche nach Antworten nützlich sein.«

Auf dem Rücken liegend, sah Simon die Valada und den Troll als schwarze Gestalten vor dem Glühwürmchenglanz der Glut. Der kleinere Schatten beugte sich noch einmal über ihn.

»Simon«, flüsterte Binabik, »gibt es andere Träume, die noch nicht erwähnt wurden? Von denen du uns nichts erzählt hast?«

Simon schüttelte langsam den Kopf. Es gab nichts, nichts außer Schatten, und er war zu müde zum Reden. Noch hatte er den Geschmack der Furcht vor dem verbrannten Ding an der Tür auf der Zunge; er wünschte nur eines, sich dem Sog des Vergessens auszuliefern, zu schlafen, schlafen…

Aber das ging nicht so leicht. Obwohl er die Augen fest geschlossen hielt, standen noch die Bilder des Feuers und der Katastrophe vor ihm. Er wälzte sich hin und her und fand keine Lage, die seine verspannten Muskeln einlud, sich zu lockern. Er hörte das leise Gespräch des Trolls und der Zauberin wie das Kratzen von Ratten in den Wänden.

Endlich verstummten auch diese Laute, und der feierliche Atem des Windes drang wieder an sein Ohr. Er schlug die Augen auf. Geloë saß allein am Feuer, die Schultern hochgezogen wie ein Vogel, der sich vor dem Regen duckt, die Augen halbgeöffnet; er wußte nicht, ob sie schlief oder in das verglimmende Feuer sah.

Sein letzter wacher Gedanke, der langsam aus seinem tiefsten Innern stieg und dabei flackerte wie ein Feuer unter der See, galt einem hohen Berg, einem Berg mit einer Krone aus Steinen. Das war im Traum gewesen, oder doch nicht? Er hätte daran denken … es Binabik erzählen sollen.

Ein Feuer loderte auf in der Finsternis des Berggipfels, und er hörte das Knarren hölzerner Räder … Traumräder…


Als der Morgen kam, brachte er keine Sonne mit. Vom Fenster der Hütte konnte Simon die dunklen Baumspitzen am anderen Ende der Mulde sehen, der See selber trug einen Mantel aus dichtem Nebel. Sogar unmittelbar unter dem Fenster war kaum das Wasser zu erkennen. Langsam ziehender Dunst machte alles verschwommen und körperlos. Der Himmel über der düsteren Reihe der Bäume war grau und ohne Tiefe.

Geloë hatte den jungen Malachias abkommandiert, mit ihr nach einem bestimmten heilkräftigen Moos zu suchen und Binabik zurückgelassen, um Leleth zu versorgen. Der Zustand des Kindes schien den Troll geringfügig zu ermutigen, aber als Simon das blasse Gesichtchen und die schwachen Bewegungen der schmalen Brust sah, fragte er sich, welchen Unterschied der kleine Mann feststellte, den er, Simon nicht entdecken konnte.

Aus einem Stapel dürrer Aste, die Geloë ordentlich in einer Ecke aufgeschichtet hatte, machte Simon ein neues Feuer und half dann dabei, die Verbände des Mädchens zu erneuern. Als Binabik das Laken von Leleths Körper schälte und die Bandagen abnahm, zuckte Simon zusammen, gestattete sich aber kein Zurückweichen. Ihr ganzer Rumpf war blau von Prellungen und schlimmen Zahnspuren. Unter dem linken Arm war die Haut bis zur Hüfte aufgerissen, ein zerfetzter Riß von einem Fuß Länge. Als Binabik die Wunden gesäubert und mit breiten Leinenstreifen neu verbunden hatte, blühten kleine Blutrosen durch den Stoff.

»Hat sie wirklich Aussichten, am Leben zu bleiben?« fragte Simon. Binabik zuckte die Achseln, während seine Hände damit beschäftigt waren, sorgfältige Knoten zu binden.

»Geloë hält es für möglich«, antwortete er. »Sie ist eine Frau von strengem und geradem Sinn, in deren Wertschätzung Menschen nicht höher stehen als Tiere, und trotzdem ist diese Wertschätzung doch sehr hoch. Ich meine, sie würde nicht gegen das Unmögliche ankämpfen.«

»Ist sie wirklich eine Zauberfrau, wie sie gesagt hat?«

Binabik deckte das kleine Mädchen wieder mit dem Laken zu und ließ nur das magere Gesichtchen frei. Ihr Mund stand ein wenig offen; Simon konnte sehen, daß sie beide Vorderzähne verloren hatte. Ihn überkam ein jähes, bitter-schmerzliches Mitgefühl für das Kind – allein mit ihrem Bruder im wilden Wald, verirrt, gefangen, gequält, geängstigt. Wie konnte der Herr Usires eine solche Welt lieben?

»Eine Zauberfrau?« Binabik erhob sich. Draußen trappelte Qantaqa die Brücke zur Haustür hinauf; Geloë und Malachias mußten gleich kommen. »Eine Weise Frau ist sie gewiß und ein Wesen von seltener Stärke. Wenn ich recht verstehe, bedeutet Zauberfrau in deiner Sprache ›Hexe‹, jemand, der böse ist, der eurem Teufel gehört und seinen Nachbarn Schaden zufügt. Das trifft auf die Valada ganz sicher nicht zu. Ihre Nachbarn sind die Vögel und Waldbewohner, und sie hegt sie wie eine Herde. Trotzdem hat sie Rimmersgard vor vielen Jahren verlassen – vor vielen, vielen Jahren –, um hierher zu ziehen. Möglich ist es, daß die Menschen in ihrer Umgebung einst auch so einen Unsinn gedacht haben … vielleicht war das der Grund, daß sie an diesen See kam.«

Binabik drehte sich um und begrüßte die ungeduldige Qantaqa. Er kratzte im dicken Fell ihres Rückens herum, und sie wand sich vor Vergnügen. Dann ging er mit einem Topf vor die Tür, ließ ihn ins Wasser hinunter und zog ihn gefüllt wieder empor, um ihn dann an einer Hakenkette über dem Feuer aufzuhängen.

»Du kennst Malachias schon aus der Burg, sagtest du?«

Simon beobachtete Qantaqa. Die Wölfin war wieder zum See getrottet und stand jetzt am seichten Ufer und fuhr mit der Schnauze ins Wasser. »Will sie Fische fangen?« fragte er lachend.

Binabik lächelte geduldig und nickte. »Und sie fängt sie sogar. – Malachias?«

»Oh. Ja, ich kenne ihn von dort … ein wenig. Ich habe ihn einmal erwischt, wie er mir nachspionierte. Allerdings hat er es bestritten. Hat er mit dir geredet? Hat er dir erzählt, was er und seine Schwester im Aldheorte wollten und wie man sie gefangen hat?«

Tatsächlich hatte Qantaqa einen Fisch geschnappt, ein silberglänzendes Wesen, das wild, aber sinnlos um sich schlug, als die Wölfin triefnaß das Seeufer hinaufstieg.

»Mehr Glück hätte ich gehabt, einem Stein das Singen beizubringen.« Binabik fand auf einem von Geloës Borden eine Schüssel mit getrockneten Blättern und zerkrümelte eine Handvoll davon über dem Topf mit dem kochenden Wasser. Sofort erfüllten warme Minzedüfte den Raum. »Fünf oder sechs Worte habe ich aus seinem Mund gehört, seitdem wir die beiden dort auf dem Baum fanden. Aber er erinnert sich an dich. Mehrfach habe ich gesehen, daß er dich anstarrte. Ich glaube, er ist nicht gefährlich – tatsächlich bin ich mir dessen völlig sicher –, aber trotzdem, man muß ihn beobachten.«

Bevor Simon etwas antworten konnte, hörte er Qantaqa kurz bellen. Er blickte aus dem Fenster und sah die Wölfin aufspringen. Sie ließ ihre größtenteils verzehrte Beute am Seeufer liegen und rannte den Pfad hinauf. Gleich darauf war sie im Nebel verschwunden. Aber schon bald kam sie zurückgetrottet, gefolgt von zwei verschwommenen Gestalten, die nach und nach zu Geloë und dem sonderbaren, fuchsgesichtigen Jungen Malachias wurden. Die beiden unterhielten sich angeregt. »Qinkipa!« schnaubte Binabik und rührte im Wassertopf. »Auf einmal redet er!«

Geloë kratzte ihre Stiefel am Türrahmen ab und steckte den Kopf nach innen. »Überall Nebel!« meinte sie. »Der Wald ist schläfrig heute.« Sie schüttelte ihren Mantel aus und trat ein, hinter ihr der wieder vorsichtig um sich blickende Malachias. Er hatte hochrote Wangen.

Geloë ging sofort zu ihrem Tisch und fing an, den Inhalt zweier Säcke zu sortieren. Sie war heute wie ein Mann gekleidet, dicke Wollhosen, Wams, abgetragene, aber feste Stiefel. Sie strömte kraftvolle Gelassenheit aus wie ein Kriegshauptmann, der jede mögliche Maßnahme getroffen hat und nun nur noch darauf wartet, daß die Schlacht beginnt.

»Ist das Wasser fertig?« fragte sie.

Binabik beugte sich über den Topf und schnüffelte. »Es erweckt den Anschein«, erwiderte er dann.

»Gut.« Geloë löste ein kleines Stoffsäckchen vom Gürtel und holte eine Handvoll dunkelgrünes Moos heraus, auf dem noch Wasserperlen glänzten. Sie warf es ohne weitere Umstände in den Topf und rührte mit dem Stock um, den Binabik ihr gegeben hatte. »Malachias und ich haben miteinander geredet«, erklärte sie und schielte in den Dampf hinunter. »Wir haben über viele Dinge gesprochen.« Sie sah auf, aber Malachias senkte nur den Kopf, und seine roten Wangen wurden sogar noch ein bißchen röter. Er ging zu Leleth und setzte sich zu ihr auf den Strohsack, ergriff ihre Hand und streichelte ihre blasse, feuchte Stirn.

Geloë zuckte die Achseln. »Nun, wir werden uns darüber unterhalten, wenn Malachias bereit ist. Für jetzt ist ohnehin genug zu tun.« Sie hob mit dem Ende des Rührstockes etwas Moos heraus, betastete es mit dem Finger, nahm dann von einem Holztischchen eine Schüssel und schabte den ganzen klebrigen Brei aus dem Topf. Die dampfende Schüssel trug sie zum Strohsack hinüber.

Während Malachias und die Zauberfrau aus dem Moos Breiumschläge herstellten, stieg Simon zum See hinunter. Die Hütte der Zauberfrau sah bei Tageslicht von außen genauso wunderlich aus wie nachts von innen; das strohgedeckte Dach lief oben spitz zu wie ein seltsamer Hut, und das dunkle Holz der Wände war über und über mit schwarzen und blauen Runenmalereien bedeckt. Während er so um das Haus herum und zum Ufer hinabging, verschwanden die Zeichen und tauchten wieder auf, je nachdem, wie das Sonnenlicht auf sie fiel. Schlammverkrustet in den dunklen Schatten unter der Hütte schienen auch die Doppelstelzen, auf denen sie stand, mit einer Art ungewöhnlicher Schindeln verkleidet zu sein.

Qantaqa war zu ihrem Fischkadaver zurückgekehrt und zupfte die letzten Fleischfetzen von den schmalen Knochen. Simon setzte sich neben sie auf einen Felsen, rutschte jedoch ein kleines Stück weiter, als die Wölfin warnend knurrte. Er warf ein paar Kiesel in den alles verschlingenden Nebel und lauschte ihrem Aufspritzen, bis Binabik sich zu ihm gesellte.

»Frühstück für dich?« fragte der Troll und reichte ihm einen Kanten knuspriges Schwarzbrot, dick mit scharf riechendem Käse bestrichen. Simon aß es gierig auf. Dann saßen die beiden nebeneinander und sahen ein paar Vögeln zu, die im Sand des Seeufers herumpickten.

»Valada Geloë möchte, daß du zu uns kommst und an unserem Vorhaben von heute nachmittag teilnimmst«, sagte Binabik endlich.

»Was für ein Vorhaben?«

»Eine Suche. Suche nach Antworten.«

»Und wie wollen wir suchen? Gehen wir irgendwohin?«

Binabik betrachtete ihn ernst. »In gewisser Weise, ja – nein, schau mich nicht so ärgerlich an! Ich will es erklären.« Er warf einen Kiesel. »Es gibt etwas, das manchmal getan wird, wenn andere Wege, etwas herauszufinden, verschlossen sind. Etwas, das die Weisen tun können. Mein Meister Ookequk nannte es ›auf der Straße der Träume gehen‹.«

»Aber das hat ihn das Leben gekostet!«

»Nein! Das heißt…« Der Troll machte ein sorgenvolles Gesicht und suchte nach Worten. »Das heißt, ja, er starb auf dieser Straße. Aber man kann auf jeder Straße den Tod finden; es bedeutet nicht, daß jeder, der sie geht, stirbt. Auch auf eurer Mittelgasse sind Menschen von Wagen überrollt worden, aber hundert andere bewegen sich dort jeden Tag und kommen nicht zu Schaden.«

»Was genau ist die Straße der Träume?« fragte Simon.

»Ich muß zuerst gestehen«, erwiderte Binabik mit einem traurigen halben Lächeln, »daß die Traumstraße gefährlicher ist als die Mittelgasse. Mein Meister lehrte mich, daß diese Straße wie ein Saumpfad ist, der höher liegt als alle anderen.« Der Troll reckte über seinem Kopf die Hand in die Luft. »Von dieser Straße aus, auch wenn der Aufstieg zu ihr große Schwierigkeiten mit sich bringt, kannst du Dinge sehen, die du sonst niemals erblicken würdest – Dinge, die von der Straße des Alltages aus unsichtbar sind.«

»Und das Träumen?«

»Ich wurde gelehrt, daß das Träumen ein Weg ist, zu dieser Straße hinaufzugelangen, ein Weg, den jeder gehen kann.« Binabik runzelte die Stirn. »Aber wenn jemand einfach dadurch, daß er nachts träumt, die Straße erreicht, kann er nicht auf ihr weitergehen: Er sieht sie nur von der einen Stelle aus und muß von dort wieder hinab. So daß – das hat mir Ookequk gesagt – dieser Träumer oft nicht weiß, was er wirklich gesehen hat. Manchmal«, der Troll deutete auf den Nebel, der über Bäumen und See hing, »erblickt er nur Nebel. Aber der Weise kann, wenn er erst einmal die Kunst beherrscht, zu ihr hinaufzusteigen, auf der Straße weitergehen. Er kann sich bewegen und schauen und die Dinge sehen, wie sie sind und wie sie sich ändern.« Er hob die Schultern. »Erklären ist schwer. Die Traumstraße ist ein Ort, an den man geht, um etwas zu sehen, das man hier, wo wir unter der wachen Sonne stehen, nicht deutlich erkennen kann. Geloë hat viele solcher Reisen unternommen, und auch ich besitze einige Erfahrung darin, obwohl ich kein Meister bin.«

Simon saß eine Weile still da und starrte auf das Wasser hinaus. Er dachte über Binabiks Worte nach. Das andere Ufer des Sees war unsichtbar; müßig überlegte er, wie weit es wohl entfernt sein mochte. Seine müden Erinnerungen an ihre Ankunft gestern waren so dunstig wie die Morgenluft.

Jetzt, wo er darüber nachdachte, erkannte er, wie weit er schon gekommen war. Einen langen Weg, weiter als ich je zu reisen gedachte. Und sicher liegen noch viele Meilen vor mir. Lohnt sich das Risiko, damit unsere Chancen steigen, lebendig nach Naglimund zu kommen?

Warum mußte er überhaupt solche Entscheidungen treffen? Es war wirklich schrecklich ungerecht. Bitter grübelte er, warum Gott gerade ihn für eine so üble Behandlung ausgesucht hatte – wenn es wirklich stimmte, daß Er, wie Vater Dreosan immer behauptete, ein Auge auf jeden einzelnen hatte.

Aber es gab mehr zu bedenken als nur seine Empörung. Binabik und die anderen schienen auf ihn zu zählen, und das war etwas, woran Simon nicht gewöhnt war. Man erwartete jetzt etwas von ihm. »Ich werde es tun«, erklärte er schließlich. »Aber sag mir noch eins. Was ist wirklich mit deinem Meister geschehen? Wie ist er gestorben?«

Binabik nickte langsam mit dem Kopf. »Ich habe gehört, daß es zweierlei Arten von Dingen gibt, die einem auf der Straße widerfahren können … gefährlichen Dingen. Das erste, und das geschieht in der Regel nur dem Ungeübten, tritt ein, wenn man ohne die nötige Weisheit auf der Straße zu gehen versucht: Man kann die Stellen übersehen, an denen die Traumstraße und der Weg des an die Erde gebundenen Lebens in verschiedene Richtungen führen.« Er hielt die Handflächen schräg aneinander. »Dann findet der Wanderer den Rückweg nicht. Doch ich glaube, daß Ookequk dazu viel zu klug war.«

Der Gedanke daran, allein und heimatlos in diesem Reich der Phantasie herumzuirren, berührte in Simon eine verwandte Saite, und er sog tief die feuchte Luft ein.

»Und was ist nun mit Ook – mit Ookequk geschehen?«

»Die andere Gefahr, so lehrte er mich«, fuhr Binabik fort und erhob sich, »ist, daß es außer den Weisen und den Guten noch andere Wesen gibt, die über die Straße der Träume wandern, und auch andere Träumer, die gefährlicher sind. Ich denke mir, daß er einem davon begegnet ist.«

Binabik ging Simon voran die kleine Rampe zur Hütte hinauf.


Geloë entkorkte einen weithalsigen Topf, steckte zwei Finger hinein und zog sie, bedeckt mit einer dunkelgrünen Paste, die noch klebriger war und noch seltsamer roch als der Moosbrei, wieder hervor.

»Beug dich vor«, befahl sie und strich Simon einen Klecks davon auf die Stirn, gerade über der Nase; dann tat sie das gleiche bei sich selbst und Binabik.

»Was ist das?« wollte Simon wissen. Es fühlte sich eigenartig an auf der Haut, heiß und kalt zugleich.

Geloë ließ sich vor dem Feuer im Boden nieder und winkte dem Jungen und dem Troll, sich zu ihr zu setzen. »Nachtschatten, Trugblatt, Weißholzrinde, damit es die richtige Zusammensetzung bekommt…« Sie plazierte Jungen, Troll und sich selber im Dreieck um die Feuerstelle und setzte den Topf neben ihrem Knie auf die Erde.

Das Gefühl auf seiner Stirn war höchst sonderbar, fand Simon und sah der Valada zu, die grüne Zweige ins Feuer warf. Weiße Rauchbänder kräuselten sich in die Höhe und verwandelten den Raum zwischen ihnen in eine dunstige Säule, durch die Geloës Schwefelaugen glühten, in denen sich der Feuerschein spiegelte.

»Nun verreibt das auf beiden Händen«, sagte sie und holte für jeden von ihnen einen weiteren Klecks heraus, »und betupft euch die Lippen – aber nichts in den Mund! Nur einen Tupfer, so…«

Als sie fertig waren, ließ Geloë sie einander bei den Händen fassen. Malachias, der, seitdem Simon und der Troll zurückgekehrt waren, noch kein Wort gesprochen hatte, saß neben dem schlafenden Kind auf dem Strohsack und schaute zu. Der seltsame Junge machte einen angespannten Eindruck, hatte aber grimmig die Zähne zusammengebissen, als zwinge er sich, die eigene Unruhe zu verbergen. Simon streckte nach beiden Seiten die Arme aus und ergriff mit der Linken Binabiks kleine, trockene Pfote und mit der Rechten Geloës kräftige Hand.

»Haltet gut fest«, forderte die Zauberfrau sie auf. »Es wird nichts Schreckliches geschehen, wenn ihr loslaßt, aber es ist besser, wenn ihr es nicht tut.« Sie senkte den Blick und begann in leisen, unverständlichen Worten vor sich hinzusprechen. Simon starrte auf ihre sich bewegenden Lippen, die Lider, die ihre großen Augen verdeckten; wieder fiel ihm auf, wie sehr sie einem Vogel glich, einem stolzen, steil in die Höhe steigenden Vogel. Während er weiter durch die Rauchsäule blickte, begann ihm das Prickeln auf Handflächen, Stirn und Lippen allmählich unangenehm zu werden.

Plötzlich war es ringsum finster, als habe sich eine dichte Wolke vor die Sonne geschoben. Gleich darauf konnte er nur noch den Rauch und das rote Glühen des Feuers erkennen, alles andere war hinter den Wänden aus Schwärze verschwunden, die auf einmal zu beiden Seiten aufragten. Seine Augen waren schwer, und er hatte ein Gefühl, als habe ihm jemand das Gesicht in Schnee gedrückt. Ihm war kalt. Er stürzte rückwärts, fiel um, und um ihn war nur noch Schwärze.

Nach einer Weile, von der Simon keine Vorstellung besaß, wie lange sie gedauert hatte, nur daß er immer noch schwach den Griff an beiden Händen fühlte – eine sehr tröstliche Empfindung –, begann die Finsternis in einem Licht zu glühen, das ohne Richtung war, ein Licht, das sich nach und nach in einem Feld aus Weiß auflöste. Das Weiß war ungleichmäßig: an einigen Stellen glänzte es wie Sonnenlicht auf poliertem Stahl, andere Flecke waren fast grau. Gleich darauf verwandelte sich das weiße Feld in einen unermeßlichen, glitzernden Eisberg, der so unglaublich hoch war, daß seine Spitze in den wirbelnden Wolken verschwand, die den dunklen Himmel säumten. Aus Spalten in seinen glasigen Wänden quoll Rauch und strömte nach oben in den Kranz aus Wolken.

Und dann war Simon, irgendwie, im Inneren des gewaltigen Berges, flog blitzschnell wie ein Funke durch immer tiefer führende Tunnel, dunkle Tunnel, die gleichwohl mit spiegelndem Eis verkleidet waren. Unzählige Tausende von Gestalten schwebten durch diese Nebel und Schatten und den Frostglanz – blaßgesichtige, eckige Figuren, die in wandernden Dickichten schimmernder Speere die Gänge entlangmarschierten oder die wunderlichen blaugelben Feuer schürten, deren Rauch die Höhen krönte.

Der Funke, der Simon war, spürte immer noch zwei feste Hände, welche die seinen festhielten – oder eigentlich etwas anderes, das ihm sagte, er sei nicht allein, denn natürlich hatte ein Funke keine Hände zum Halten. Er befand sich jetzt in einer riesigen Höhle, einem ungeheuren Loch im Mittelpunkt des Berges. Die Decke hing so hoch über den vom Eis glasierten Platten des Bodens, daß aus der Höhe des Raumes ein Schneegestöber heruntertanzte, hüpfende, wirbelnde Schneewolken wie Heere winziger weißer Schmetterlinge. Inmitten der unendlichen Kammer lag ein Brunnen von ungeheurer Größe, aus dessen Schacht ein blasses, blaues Licht flackerte; eine entsetzliche, das Herz zusammenpressende Furcht schien von ihm auszugehen. Irgendwo aus seinen unergründlichen Tiefen mußte wohl etwas wie Hitze aufsteigen, denn die Luft darüber war ein Pfeiler aus brodelnden Nebeln, eine dunstige Säule, in unbestimmten Farben schillernd wie ein titanischer Eiszapfen, in dem das Sonnenlicht sich bricht.

Im Nebel über dem Brunnen schwebte auf rätselhafte Weise ein unerklärliches Etwas, dessen Form nicht recht erkennbar und dessen Ausdehnung nicht völlig vorstellbar war; ein Wesen aus vielen Bestandteilen und Formen, alle farblos wie Glas. Wenn seine Umrisse hier und da aus der strudelnden Nebelsäule hervortraten, so schien es ein Gebilde aus Winkeln und geschwungenen Kurven zu sein, von heimtückischer, angsterregender Verwickeltheit. Auf eine nicht genau zu erläuternde Weise sah es wie ein Musikinstrument aus; wenn das aber zutraf, war es ein so riesenhaftes, fremdartiges und erschreckendes Instrument, daß der Funke, der Simon war, wußte, daß er niemals seine furchtbare Musik hören und am Leben bleiben könnte.

Dem Brunnen gegenüber saß auf einem eckigen Thron aus reifüberkrustetem, schwarzem Fels eine Gestalt. Er konnte sie deutlich erkennen, als schwebe er plötzlich genau über dem entsetzlichen, blau brennenden Brunnen. Sie war in ein weißsilbernes Gewand mit phantastisch verschlungenen Mustern gekleidet. Über die Schultern floß schneeweißes Haar, das fast unsichtbar in die fleckenlos weißen Gewänder überging.

Das bleiche Wesen hob den Kopf, und sein Gesicht war eine Flut schimmernden Lichtes. Dann wandte es sich ab, und Simon merkte, daß das, was er sah, nur eine silberne Maske war, die schöne, aber ausdruckslose Nachbildung eines Frauenantlitzes. Wieder drehte sich das blendende, fremdartige Gesicht ihm zu. Er fühlte sich fortgestoßen, brüsk abgewiesen, so wie man ein Kätzchen losreißt, das sich an den Kleidersaum klammert. Eine Vision erschien ihm, die irgendwie Teil des Nebelkranzes und der grimmen weißen Gestalt war. Zuerst war es nur ein weiterer Fleck Alabasterweiß, der sich langsam in ein schwarz bekritzeltes, eckiges Gebilde verwandelte. Aus den schwarzen Krakeln wurden Linien, aus den Linien Zeichen; zuletzt schwebte vor ihm ein offenes Buch. Auf der aufgeschlagenen Seite standen Buchstaben, die Simon nicht lesen konnte, verschlungene Runen, die ineinanderliefen und wieder klar wurden.

Ein Augenblick ohne Zeit verging, dann begannen die Runen zu schimmern. Sie flossen auseinander und formten sich neu zu schwarzen Konturen, drei langen, schlanken Gebilden: Schwertern. Das eine hatte einen Griff, der wie ein Usires-Baum geformt war, das zweite einen wie die rechtwinkligen Giebelbalken eines Daches. Das dritte besaß ein seltsames Doppelstichblatt, dessen Kreuzstücke zusammen mit dem Griff eine Art fünfzackigen Stern bildeten. Irgendwo tief in seinem Inneren erkannte Simon dieses Schwert. Irgendwo in einer Erinnerung, schwarz wie die Nacht, tief wie eine Höhle, hatte er eine Klinge wie diese gesehen.

Eines nach dem anderen begannen die Schwerter wieder zu verschwinden, und als sie fort waren, blieb nur noch graues und weißes Nichts.

Simon fühlte, wie er zurückfiel – fort von dem Berg, fort aus der Brunnenkammer, fort aus dem Traum selbst. Ein Teil von ihm war froh über dieses Fallen, denn ihm graute vor den entsetzlichen, verbotenen Orten, an die sein Geist geflogen war; aber ein anderer Teil wollte nicht loslassen.

Wo waren die Antworten? Sein ganzes Leben war entwurzelt worden, hatte sich im Lauf eines verdammten, unbarmherzigen, achtlosen Rades verfangen, und tief in demjenigen Teil seines Wesens, der sein ureigenster war, erfüllte ihn verzweifelter Zorn. Zwar fürchtete er sich auch, in einem Alptraum gefangen, der nicht enden wollte; aber was er jetzt empfand, war Zorn, und in diesem Augenblick war der Zorn stärker.

Er wehrte sich gegen den Sog, kämpfte mit Waffen, die er nicht begriff, um den Traum festzuhalten, ihm das Wissen zu entreißen, das er begehrte. Er packte das schnell vergehende Weiß und versuchte wütend, es neu zu formen, in etwas zu verwandeln, das ihm sagen würde, warum Morgenes gestorben, warum Dochais und die Mönche von Sankt Hoderund umgekommen waren, warum das kleine Mädchen Leleth in einer Hütte in der Tiefe des wilden Waldes mit dem Tode rang. Er kämpfte, und er haßte. Wenn ein Funke weinen konnte, dann weinte er.

Langsam, schmerzhaft langsam formte sich aus der Leere vor ihm von neuem der Eisberg. Wo war die Wahrheit? Während Simons Traum-Ich kämpfte, wuchs der Berg höher, wurde schmaler, begann Äste zu bilden wie ein eisiger Baum und streckte sich hinauf in den Himmel.

Dann fielen die Äste ab, und nur noch ein glatter, weißer Turm stand da – ein Turm, den Simon kannte. Flammen loderten von seiner Spitze. Ein gewaltiger, dumpfer Ton dröhnte wie das Läuten einer ungeheuren Glocke. Der Turm schwankte. Wieder grollte die Glocke wie Donner. Es war etwas von furchtbarer Wichtigkeit, das wußte er, etwas Grauenhaftes, Geheimes. Er konnte die Antwort fast zum Greifen nah fühlen…

Kleine Fliege! Du bist zu uns gekommen?

Ein gräßliches, versengendes Nichts griff nach ihm und verschlang ihn, erstickte den Turm und die tönende Glocke. Er fühlte, wie in seinem Traum-Ich der Atem des Lebens verbrannte und sich grenzenlose Kälte um ihn schloß. Er war verloren in der schreiend-leeren Leere, ein winziges Fleckchen am Grund eines Meeres unendlicher schwarzer Tiefen, abgeschnitten von Leben, Atem, Gedanken. Alles war verschwunden … außer dem schaurigen, zerstörerischen Haß des Wesens, das ihn gepackt hielt … das ihn zu ersticken suchte.

Doch dann, nie hätte er es zu hoffen gewagt, war er frei.

Er schwebte nach oben, flog in schwindelnder Höhe über die Welt von Osten Ard, festgehalten von den mächtigen Klauen einer großen, grauen Eule, die dahinbrauste wie das Kind des Windes selbst. Hinter ihm verschwand der Eisberg, verschluckt von der Unendlichkeit der knochenweißen Ebene. In unfaßbar schnellen Sekunden trug die Eule ihn über Seen und Eis und Berge dahin, auf einen dunklen Strich am Horizont zu. Gerade als er erkannte, was das war, als der Strich zum Wald wurde, merkte er, daß er den Klauen der Eule zu entgleiten drohte. Der Vogel packte ihn fester und sank in pfeifendem Sturzflug der Erde zu. Der Boden sprang ihnen entgegen, und die Eule spreizte weit die Schwingen. Sie flogen flacher, glitten dahin und wirbelten über die Schneefelder der Sicherheit des Waldes zu.

Und dann waren sie unter dem Dachfirst und gerettet.


Simon rollte sich auf die Seite und stöhnte. Sein Kopf hämmerte wie der Amboß von Ruben dem Bär zur Turnierzeit. Seine Zunge schien zu doppelter Größe angeschwollen. Die Atemluft schmeckte nach Metall. Er richtete sich mühsam zu kauernder Stellung auf und bewegte dabei den schweren Kopf nur ganz langsam.

Gleich neben ihm lag Binabik, das breite Gesicht fahl. Qantaqa stupste den Troll winselnd mit der Nase in die Seite. Auf der anderen Seite der rauchenden Feuerstelle schüttelte der dunkelhaarige Malachias Geloë, deren Mund schlaff herabhing. Ihre Lippen glänzten feucht. Wieder stöhnte Simon; sein Kopf, der ihm zwischen den Schultern hing wie eine zerquetschte Frucht, pochte. Er kroch zu Binabik. Der kleine Mann atmete. Noch während Simon sich über ihn beugte, fing der Troll an zu husten, schnappte nach Luft und schlug die Augen auf.

»Wir…«, keuchte er heiser, »wir … sind … alle … da?«

Simon nickte und sah zu Geloë hinüber, die sich trotz Malachias' Bemühungen noch immer nicht regte. »Einen Augenblick…« sagte er und stand langsam auf.

Mit einem kleinen, leeren Topf ging er vorsichtig zur Hüttentür hinaus. Mit leichtem Staunen stellte er fest, daß es trotz der Nebeldecke immer noch mitten am Nachmittag war; die Zeit auf der Traumstraße war ihm viel länger vorgekommen. Außerdem hatte er das nagende Gefühl, daß sich vor der Hütte irgend etwas verändert hatte, aber er konnte nicht genau sagen, was es war. Die Aussicht schien irgendwie verschoben. Er kam zu dem Ergebnis, daß es wohl eine Nebenwirkung seiner Erlebnisse von vorhin sein müßte. Nachdem er den Topf mit Seewasser gefüllt und sich die klebrige, grüne Paste von den Händen gewaschen hatte, ging er zurück ins Haus.

Binabik trank durstig und bat Simon dann mit einer Geste, Geloë das Gefäß zu bringen. Halb hoffnungsvoll, halb eifersüchtig schaute Malachias zu, wie Simon vorsichtig das Kinn der Zauberfrau mit der Hand festhielt und ihr ein wenig Wasser in den geöffneten Mund spritzte. Sie hustete und schluckte, und Simon gab ihr noch ein wenig mehr Wasser.

Als er so ihren Kopf hielt, wurde Simon sich jäh bewußt, daß es Geloë war, die ihn, während sie alle in ihren Träumen wandelten, auf irgendeine Weise gerettet hatte. Er sah hinunter auf die Frau, die jetzt regelmäßiger atmete, und erinnerte sich an die graue Eule, die ihn, als sein Traum-Ich schon den letzten Atemzug tun wollte, gepackt und fortgetragen hatte.

Geloë und der Troll hatten eigentlich nicht mit etwas Derartigem gerechnet, das fühlte er; es war Simon, der sie in diese Gefahr gebracht hatte. Aber ausnahmsweise war er über sein Verhalten nicht beschämt. Er hatte getan, was getan werden mußte. Schon viel zu lange war er vor dem Rad geflohen.

»Wie geht es ihr?« fragte Binabik.

»Ich glaube, sie wird sich erholen«, erwiderte Simon und betrachtete die Zauberfrau genau. »Sie hat mich gerettet, nicht wahr?«

Binabik sah ihn an. Sein Haar stand in schweißverklebten Stacheln von der braunen Stirn ab. »Es ist wahrscheinlich, daß sie das getan hat«, meinte er endlich. »Sie ist eine mächtige Verbündete, aber jetzt ist selbst sie fast am Ende ihrer Kräfte.«

»Was bedeutet das alles?« wollte Simon wissen und überließ Geloë Malachias' stützendem Arm. »Hast du das gleiche gesehen wie ich? Den Berg und … die Frau mit der Maske … und das Buch?«

»Ich frage mich sehr, ob wir alle das gleiche gesehen haben, Simon«, erwiderte Binabik langsam. »Aber ich denke, es ist wichtig, daß wir warten, bis auch Geloë ihre Gedanken mit uns teilen kann. Vielleicht später, wenn wir gegessen haben. Ich bin erfüllt von schrecklichem Hunger.«

Simon schenkte dem Troll ein wackliges, schiefes Lächeln. Als er sich umdrehte, begegnete er Malachias' eindringlichem Blick. Der Junge wollte sich schon abwenden, schien dann aber einen Entschluß zu fassen und hielt Simons Blick stand, bis dieser an der Reihe war, sich unbehaglich zu fühlen.

»Es war, als ob das ganze Haus bebte«, sagte Malachias unvermittelt und erschreckte Simon damit nicht wenig. Die Stimme des Jungen war angestrengt, hoch und heiser.

»Was meinst du?« fragte Simon, der die Tatsache, daß Malachias überhaupt etwas von sich gab, fast genauso spannend fand wie seine Worte.

»Das ganze Häuschen. Als ihr drei dasaßt und ins Feuer starrtet, fingen die Wände an … zu zittern. Als ob es jemand hochnähme und wieder hinsetzte.«

»Wahrscheinlich lag es nur daran, wie wir uns bewegten, als wir … ich meine … ach, ich weiß auch nicht.« Simon gab angewidert auf. Die Wahrheit war, daß er langsam gar nichts mehr verstand. Sein Gehirn kam ihm vor, als hätte man es mit einem Stock umgerührt. Malachias wandte sich ab, um Geloë noch etwas Wasser zu geben. Plötzlich begannen Regentropfen auf das Fensterbrett zu klopfen; der graue Himmel konnte die Last des Gewitters nicht länger halten.


Die Zauberfrau machte ein grimmiges Gesicht. Sie hatten die Suppenschüsseln beiseitegestellt und saßen einander auf dem nackten Boden gegenüber: Simon, der Troll und die Herrin der Hütte. Malachias, obschon sichtlich interessiert, war bei dem kleinen Mädchen auf seinem Lager sitzengeblieben.

»Ich sah, wie böse Dinge sich rührten«, erklärte Geloë, und ihre Augen blitzten. »Böses, das die Wurzeln unserer vertrauten Welt erschüttern wird.« Sie hatte ihre Kraft wiedergefunden und noch etwas anderes dazu: Sie war so feierlich und ernst wie ein König, der zu Gericht sitzt. »Fast wünschte ich, wir hätten den Traumpfad nicht beschritten – doch das ist ein eitler Wunsch und stammt von demjenigen Teil meines Ichs, der am liebsten seine Ruhe haben möchte. Ich sehe dunklere Tage kommen und fürchte mich, in solch unheilverkündende Ereignisse hineingezogen zu werden.«

»Was meint Ihr damit?« fragte Simon. »Was war das alles? Habt Ihr auch den Berg gesehen?«

»Sturmspitze.« Binabiks Stimme klang seltsam flach. Geloë sah zu ihm hinüber, nickte und sprach dann weiter, zu Simon gewandt.

»Es ist wahr. Es war Sturmrspeik, den wir gesehen haben; so nennen sie ihn in Rimmersgard, wo er eine Legende ist, wenn man die Rimmersmänner danach fragt. Der Berg der Nornen.«

»Wir Qanuc«, ergänzte Binabik, »wissen, daß Sturmspitze Wirklichkeit ist. Aber trotzdem – die Nornen haben sich seit der Zeit jenseits der Zeiten nicht um die Angelegenheiten von Osten Ard gekümmert. Warum jetzt? Es kam mir vor, als…«

»… als ob sie zum Krieg rüsteten«, beendete Geloë den Satz für ihn. »Wenn man dem Traum Glauben schenken kann, hast du recht. Aber natürlich gehört ein besser geschultes Auge als das meine dazu, festzustellen, ob wir die Wahrheit gesehen haben. Andererseits hast du gesagt, die Hunde, die euch verfolgten, trügen das Brandzeichen von Sturmspitze; das ist ein greifbarer Beweis aus der wachen Welt.

Ich meine, wir können diesem Teil des Traumes trauen; wenigstens finde ich, wir sollten es.«

»Zum Krieg rüsten?« Simon war jetzt schon verwirrt. »Gegen wen? Und wer war die Frau hinter der silbernen Maske?«

Geloë sah sehr müde aus. »Die Maske? Keine Frau. Ein Geschöpf aus den Legenden, könnte man sagen, oder ein Wesen aus der Zeit jenseits der Zeiten, wie Binabik es ausgedrückt hat. Das war Utuk'ku, die Königin der Nornen.«

Simon fühlte, wie es ihn eisig überlief. Draußen sang der Wind ein kaltes und einsames Lied. »Aber was sind diese Nornen? Binabik glaubt, sie wären Sithi.«

»Die alte Weisheit sagt, daß sie einst zu den Sithi gehörten«, antwortete Geloë. »Aber sie sind ein verschollener Stamm oder Abtrünnige. Sie kamen nie mit dem Rest ihres Volkes nach Asu'a, sondern verschwanden im unerforschten Norden, den eisigen Gegenden hinter Rimmersgard und seinen Gebirgen. Sie wollten mit dem, was in Osten Ard vorging, nichts zu schaffen haben, obwohl das jetzt anders zu werden scheint.«

Sekundenlang sah Simon einen Schatten tiefer Besorgnis über das mürrische, nüchterne Gesicht der Zauberfrau huschen.

Und diese Nornen helfen Elias, mich zu jagen? dachte er und fühlte neue Panik in sich aufsteigen. Wie bin ich nur in diesen Alptraum geraten?

Und als hätte die Angst in seinem Kopf eine Tür geöffnet, fiel ihm etwas ein. Aus den Verstecken seines Herzens stiegen abschreckende Gestalten nach oben, und er rang nach Atem.

»Diese … diese blassen Leute … die Nornen. Ich habe sie schon einmal gesehen!«

»Was?« Geloë und der Troll riefen es wie aus einem Mund und beugten sich vor. Simon, von ihrer Intensität überrascht, zuckte erschreckt zurück.

»Wann?« schnappte Geloë.

»Es war … wenigstens glaube ich das, es kann auch ein Traum gewesen sein … in der Nacht, als ich vom Hochhorst fortlief. Ich war an der Begräbnisstätte, und ich dachte, ich hörte jemanden meinen Namen rufen – eine Frauenstimme. Ich hatte solche Angst, daß ich wegrannte, einfach fort, auf den Thisterborg zu.« Auf dem Strohsack bewegte sich etwas; Malachias wechselte unruhig die Stellung. Simon achtete nicht auf ihn und fuhr fort.

»Da war ein Feuer oben auf dem Berg, zwischen den Zornsteinen. Kennt ihr sie?«

»Ja.« Geloës Antwort war knapp, aber Simon spürte ein Gewicht hinter den Worten, das er nicht verstand.

»Ja … ich fror und fürchtete mich, also kletterte ich hinauf. Es tut mir leid, aber ich war immer ganz sicher, daß es bloß ein Traum war. Vielleicht ist es ja auch einer.«

»Vielleicht. Erzähl weiter!«

»Es waren Männer auf dem Gipfel, Soldaten, ich sah es an ihrer Rüstung.« Simon fühlte, wie seine Handflächen sich mit dünnem Schweiß bedeckten. Er rieb sie aneinander. »Einer von ihnen war König Elias. Da bekam ich noch viel mehr Angst, darum versteckte ich mich. Und dann … dann hörte ich ein gräßliches, knarrendes Geräusch, und von der anderen Seite des Berges erschien ein schwarzer Wagen.« Es kam wieder, alles kam wieder … oder wenigstens schien es alles zu sein … aber da waren noch immer leere Schatten. »Diese Blaßhäutigen – die Nornen, es waren Nornen – begleiteten ihn, mehrere von ihnen, in schwarzen Gewändern.«

Eine lange Pause, während Simon sich mühsam zu erinnern versuchte. Auf dem Hüttendach trommelte der Regen.

»Und?« fragte die Valada endlich sanft.

»Elysia, Mutter Gottes!« fluchte Simon, und seine Augen füllten sich mit Tränen. »Ich kann mich nicht erinnern! Sie gaben ihm etwas, etwas von dem Wagen. Und es geschah noch anderes, aber in meinem Kopf ist alles wie unter einer Decke! Ich kann die Hand darauf legen, aber nicht sagen, was es ist. Sie haben Elias etwas gegeben. Ich dachte, es wäre ein Traum!« Er vergrub das Gesicht in den Händen, als wollte er die schmerzhaften Gedanken aus seinem schwindligen Kopf pressen.

Binabik klopfte Simon unbeholfen das Knie. »Das beantwortet vielleicht unsere zweite Frage. Auch ich habe nachgedacht, warum die Nornen sich zum Kampf rüsten sollten. Ich fragte mich, ob sie vielleicht Krieg gegen Elias, den Hochkönig, führen wollten, aus uraltem Groll gegen das Menschengeschlecht. Jetzt aber hat es für mich den Anschein, als wollten sie ihm helfen. Irgendein Handel ist abgeschlossen worden. Möglicherweise war es das, was Simon gesehen hat. Aber wie? Wie konnte Elias je einen solchen Pakt mit den geheimnisvollen Nornen schließen?«

»Pryrates.« Sobald Simon es ausgesprochen hatte, war er überzeugt, daß es stimmte. »Morgenes hat gesagt, Pryrates würde Türen öffnen, und Schreckliches käme herein. Pryrates war auch auf dem Berg.«

Valada Geloë nickte. »Das ergibt einen gewissen Sinn. Eine Frage, die beantwortet werden muß, die aber, davon bin ich überzeugt, außerhalb unserer Macht liegt, ist – womit wurde der Handel besiegelt? Was konnten diese beiden, Pryrates und der König, den Nornen für ihre Hilfe anbieten?«

Sie teilten ein langes Schweigen.

»Was stand in dem Buch?« fragte Simon plötzlich. »Auf der Straße der Träume. Habt ihr das Buch auch gesehen?«

Binabik klopfte sich mit dem Handballen auf die Brust. »Es war da. Die Runen, die ich sah, stammten aus Rimmersgard: ›Du Svarden-vyrd‹. Das heißt in deiner Sprache ›Der Zauber der Schwerter‹.«

»Oder ›Das Verhängnis der Schwerter‹«, ergänzte Geloë. »Unter den Weisen ist es ein berühmtes Buch, aber seit langer Zeit verschollen. Ich habe es nie gesehen. Es soll von Nisses verfaßt worden sein, einem Priester, Ratgeber König Hjeldins des Wahnsinnigen.«

»Der, nach dem der Hjeldin-Turm benannt ist?« fragte Simon.

»Ja. Hjeldin und Nisses sind beide dort gestorben.«

Simon dachte nach. »Ich habe auch drei Schwerter gesehen.«

Binabik sah Geloë an. »Nur Gebilde habe ich erblickt«, erklärte der Troll langsam. »Ich denke, es mögen Schwerter gewesen sein.«

Auch die Zauberfrau wußte es nicht genau. Simon beschrieb die Umrisse, so gut er konnte, aber sie hatten weder für Geloë noch für Binabik eine Bedeutung.

»So«, meinte der kleine Mann schließlich, »was haben wir nun auf der Traumstraße erfahren? Daß die Nornen Elias Unterstützung gewähren? Das hatten wir uns bereits gedacht. Daß ein seltsames Buch eine Rolle spielt … vielleicht? Das ist etwas Neues. Wir konnten einen Traumblick auf Sturmspitze und die Hallen der Bergkönigin werfen. Wir haben vielleicht Dinge gesehen, die wir noch nicht verstehen. Aber dennoch, denke ich, hat sich an einem gar nichts geändert: Wir müssen nach Naglimund. Euer Haus, Valada, wird uns eine Weile Schutz bieten, aber wenn Josua am Leben ist, muß er von diesen Dingen erfahren.«

Binabik wurde von unerwarteter Seite unterbrochen. »Simon«, sagte Malachias, »du hast erzählt, jemand hätte auf der Begräbnisstätte nach dir gerufen. Es war meine Stimme, die du gehört hast. Ich war es, die dich rief.«

Simon konnte nur Mund und Nase aufsperren. Geloë lächelte.

»Endlich beginnt eines unserer Geheimnisse zu reden! Fahr fort, Kind. Sag ihnen, was du mußt.«

Malachias wurde puterrot. »Ich … mein Name ist nicht Malachias. Ich heiße … Marya.«

»Aber Marya ist ein Mädchenname«, fing Simon an und verstummte beim Anblick von Geloës immer breiter werdendem Grinsen.

»Ein Mädchen?« fragte er lahm. Er schaute dem fremden Jungen ins Gesicht und erkannte es plötzlich als das, was es war. »Ein Mädchen«, brummte er und kam sich unsagbar dumm vor.

Die Zauberfrau lächelte vergnügt. »Es war offensichtlich, muß ich sagen – oder hätte es sein müssen. Sie hatte den Vorteil, mit einem Troll und einem Knaben zu reisen, unter dem Deckmantel rätselhafter, gefährlicher Abenteuer; aber ich habe ihr erklärt, daß sie die Täuschung nicht aufrechterhalten könne.«

»Vor allem nicht den ganzen Weg bis Naglimund, und dorthin muß ich.« Marya rieb sich müde die Augen. »Ich muß Prinz Josua eine wichtige Botschaft von seiner Nichte Miriamel überbringen. Bitte fragt mich nicht, was es ist, denn ich darf es nicht sagen.«

»Und was ist mit deiner Schwester?« erkundigte sich Binabik.

»Sie wird noch lange nicht reisen können.« Auch er schielte zu der überraschenden Marya hinüber, als wollte er herausfinden, wie er sich hatte täuschen lassen können. Dabei kam es ihm jetzt alles ganz unverkennbar vor.

»Sie ist nicht meine Schwester«, erwiderte Marya traurig. »Leleth war die kleine Dienerin der Prinzessin. Wir waren sehr gute Freundinnen. Sie hatte Angst, allein im Schloß zurückzubleiben und wollte unbedingt mitkommen.« Sie sah das schlafende Kind an. »Ich hätte sie nie mitnehmen dürfen. Ich wollte sie auf den Baum ziehen, bevor uns die Hunde faßten. Wäre ich doch nur stärker gewesen…«

»Es steht noch nicht fest«, unterbrach Geloë sie, »ob das kleine Mädchen überhaupt je wieder reisen kann. Sie ist von der Schwelle des Todes noch nicht weit entfernt. Ich sage das sehr ungern, aber es ist die Wahrheit. Du mußt sie bei mir lassen.«

Marya wollte protestieren, aber Geloë weigerte sich zuzuhören. Simon war verstört, als er in den dunklen Augen des Mädchens etwas entdeckte, das nach einem Schimmer von Erleichterung aussah. Der Gedanke, daß sie das verletzte Kind einfach zurücklassen wollte, so wichtig ihre Botschaft auch sein mochte, erzürnte ihn.

»Gut«, sagte Binabik endlich, »und wo stehen wir jetzt? Wir müssen immer noch nach Naglimund, und dazwischen stehen Meilen von Wald und die steilen Hänge des Weldhelm, die uns den Weg versperren, ganz abgesehen von den Jägern, die uns verfolgen.«

Geloë dachte gründlich nach. »Es scheint mir ganz klar«, erklärte sie dann, »daß ihr euch durch den Wald nach Da'ai Chikiza durchschlagen müßt. Es ist ein alter Ort der Sithi, natürlich lange verlassen. Dort könnt ihr die Steige finden, eine alte Straße über die Berge aus der Zeit, als die Sithi regelmäßig von dort nach Asu'a – dem Hochhorst – reisten. Sie wird nicht mehr benutzt, außer von Tieren, aber sie ist der leichteste und sicherste Übergang. Ich kann euch morgen früh eine Karte geben. Ach ja, Da'ai Chikiza…« Ein tiefes Licht flammte in den gelben Augen auf, und sie nickte, wie in Gedanken verloren, langsam vor sich hin. Gleich darauf blinzelte sie und wurde wieder so energisch wie vorher. »Jetzt müßt ihr schlafen. Wir sollten alle schlafen. Unsere heutigen Taten haben mich schlaff gemacht wie einen Weidenzweig.«

Simon fand das nicht. Ihm schien die Zauberfrau stark wie ein Eichbaum – aber wahrscheinlich konnte der Sturm selbst einer Eiche schaden.


Später, als er in seinen Mantel gerollt dalag, die warme Masse von Qantaqas ein wenig aufdringlicher Persönlichkeit an seine Beine geschmiegt, versuchte er, die Gedanken an den furchtbaren Berg von sich zu schieben. Es war alles zu ungeheuerlich, zu undurchschaubar.

Statt dessen fragte er sich, was Marya wohl von ihm halten mochte. Einen Knaben hatte Geloë ihn genannt – einen Knaben, der nicht wußte, wie ein Mädchen aussah. Aber das war ungerecht – wann hätte er Zeit haben sollen, sich damit zu beschäftigen?

Warum hatte sie im Hochhorst herumspioniert? Vielleicht für die Prinzessin? Und wenn es Marya war, die an der Begräbnisstätte nach ihm gerufen hatte, warum? Woher kannte sie seinen Namen, wieso hatte sie sich die Mühe gemacht, ihn zu behalten? Er erinnerte sich nicht, sie jemals in der Burg gesehen zu haben – zumindest nicht als Mädchen.

Als er endlich in den Schlaf trieb wie ein kleines Boot, das man auf einen schwarzen Ozean hinausschiebt, war ihm, als verfolge er ein Licht, das vor ihm zurückwich, einen hellen Fleck gerade außerhalb seiner Reichweite. Vor den Fenstern deckte Regen den dunklen Spiegel von Geloës See zu.

XXVII Türme aus Spinnweb

Er versuchte so zu tun, als spüre er die Hand auf seiner Schulter nicht, aber das war unmöglich. Als er die Augen aufschlug, fand er den Raum noch völlig im Dunkel. Nur zwei eckige Siebe aus Sternstaub deuteten an, wo die Fenster waren.

»Laß mich schlafen!« stöhnte er. »Es ist viel zu früh!«

»Steh auf, Junge!« Ein rauhes Flüstern. Es war Geloë, lose in ihr Gewand gewickelt. »Wir dürfen keine Zeit verlieren.«

Simon blinzelte mit den trockenen und schmerzenden Augen an der knienden Frau vorbei auf Binabik, der wortlos dabei war, seinen Rucksack zu packen. »Was ist denn los?« fragte er, aber der Troll schien zu beschäftigt, um zu antworten.

»Ich war draußen«, erklärte Geloë. »Man hat den See entdeckt – wahrscheinlich die Männer, die euch jagten.«

Sofort setzte Simon sich auf und suchte seine Stiefel. In der fast undurchsichtigen Finsternis kam ihm alles ganz unwirklich vor, aber trotzdem konnte er seinen beschleunigten Herzschlag fühlen.

»Usires!« fluchte er leise. »Was machen wir jetzt? Ob sie uns angreifen?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Geloë und verließ ihn, um Malachias – nein, Marya, ermahnte sich Simon – zu wecken. »Es sind zwei Lager, eines am anderen See-Ende, dort wo der Zufluß ist, das andere nicht weit von hier. Entweder wissen sie, wem dieses Haus gehört und überlegen noch, was sie unternehmen sollen, oder sie wissen gar nicht, daß hier eine Hütte steht. Vielleicht sind sie erst gekommen, als wir die Kerzen schon gelöscht hatten.«

Simon fiel plötzlich eine Frage ein. »Woher wißt Ihr, daß sie drüben am anderen Ende sind?« Er spähte durchs Fenster. Der See war wieder in Nebel gehüllt, und nichts deutete auf Lagerfeuer hin. »Es ist doch dunkel«, fügte er hinzu und sah zu Geloë hinüber. Sie war ganz und gar nicht dazu angezogen, im Wald umherzustreifen. Ihre Füße waren nackt.

Aber noch während er sie so betrachtete, das hastig übergestreifte Gewand und die feuchten Nebelperlen, die ihr in Gesicht und Haar hingen, erinnerte er sich an die riesigen Schwingen der Eule, die auf dem Weg zum See vor ihnen hergeflogen war. Und er konnte die starken Klauen noch fühlen, die ihn fortgetragen hatten, als das widerwärtige Wesen auf der Straße der Träume das Leben aus ihm herauspressen wollte.

»Aber das ist jetzt wohl weniger wichtig, nicht wahr?« schloß er endlich. »Wichtig ist nur, daß wir wissen, daß sie da draußen sind.« Trotz des schwachen Mondlichtes sah er, daß die Zauberfrau grinste.

»Recht hast du, Simon«, erwiderte sie leise und half dann Binabik, zwei weitere Rucksäcke zu füllen, einen für Simon und einen für Marya.

»Hört zu«, sagte Geloë, als der inzwischen angekleidete Simon neben sie trat. »Es ist klar, daß ihr fort müßt, bevor es dämmert«, sie schielte einen Augenblick nach den Sternen, »was nicht mehr lange dauern wird. Die Frage ist nur, wie.«

»Unsere einzige Hoffnung«, brummte Binabik, »ist, uns hinauszuschleichen und sie dann im Wald zu umgehen. Wir müssen uns ganz leise bewegen. Jedenfalls können wir mit Sicherheit nicht fliegen.« Er grinste ein wenig mürrisch. Marya, die sich gerade in einen Mantel wickelte, den ihr die Valada gegeben hatte, starrte verwirrt auf das Lächeln des Trolls.

»Nein«, entgegnete Geloë ernsthaft, »aber ich bezweifle auch, daß ihr euch an diesen entsetzlichen Hunden vorbeischleichen könnt. Ja, ihr könnt nicht fortfliegen, aber vielleicht könnt ihr fortschwimmen. Ich habe unter dem Haus ein Boot angebunden. Es ist nicht groß, aber ihr vier paßt wohl hinein – und Qantaqa, solange sie keine Bocksprünge macht.« Sie kraulte liebevoll die Ohren der Wölfin, die neben ihrem hockenden Herrn lag.

»Und was bringt das Gutes?« erkundigte sich Binabik. »Sollen wir in die Mitte des Sees paddeln und sie dann morgen früh auffordern, herzuschwimmen und uns zu holen?« Er war mit dem letzten Rucksack fertig und schob Simon und dem Mädchen je einen zu.

»Es gibt einen Zufluß«, erläuterte Geloë. »Er ist klein und hat nicht viel Strömung, nicht einmal so viel wie der Bach, dem ihr auf dem Herweg gefolgt seid. Mit vier Paddeln kommt ihr leicht aus dem See raus und ein Stück flußauf.« Ihr leichtes Stirnrunzeln war eher nachdenklich als besorgt. »Leider führt der Zufluß auch an einem der beiden Lager vorbei. Aber das läßt sich nun einmal nicht ändern. Ihr müßt eben ganz lautlos paddeln. Vielleicht hilft das sogar eurer Flucht. Ein Mann, der so stur ist wie euer Baron Heahferth – und glaubt mir, ich habe schon mit ihm und seinesgleichen zu tun gehabt –, kann sich einfach nicht vorstellen, daß seine Beute so nah an ihm vorüberschlüpfen würde.«

»Heahferth macht mir auch keine Sorge«, erwiderte Binabik. »Es ist der andere, der in Wahrheit der Herr der Jagd ist – Ingen Jegger, der Schwarz-Rimmersmann.«

»Wahrscheinlich schläft er überhaupt nicht«, bemerkte Simon. Die Erinnerung an diesen Mann war ihm ganz und gar nicht behaglich.

Geloë verzog das Gesicht. »Habt keine Angst. Oder laßt euch wenigstens nicht von ihr bezwingen. Vielleicht gibt es eine nützliche Ablenkung … irgend etwas … man weiß nie.« Sie stand auf. »Komm, Junge«, sagte sie zu Simon, »du bist groß und kräftig. Hilf mir, das Boot loszubinden und es leise an die Brücke vor der Haustür zu ziehen.«


»Kannst du es sehen?« zischte Geloë und deutete auf etwas Dunkles, das auf der anderen Seite des aus dem Wasser ragenden Hauses auf dem ebenholzschwarzen See tanzte. Simon, schon bis zu den Knien im Wasser, nickte. »Dann mach leise«, mahnte sie – ziemlich unnötig, fand Simon.

Während er um das Haus herumwatete, über dem Kopf die auf Stelzen ruhenden Bodenbretter, kam Simon zu dem Ergebnis, daß er sich am Nachmittag doch nicht geirrt hatte, als es ihm vorgekommen war, als hätte sich die Umgebung der Hütte irgendwie verändert. Der Baum dort, die Wurzeln halb im Wasser, den hatte er am ersten Tag gesehen, als sie ankamen; aber da – bei Usires, er war ganz sicher! – hatte der Baum auf der anderen Seite der Hütte gestanden, neben der zur Tür führenden Planke. Wie konnte ein Baum sich bewegen?

Mit den Fingern fand er das Haltetau des Bootes und griff nach oben, bis er an die Stelle kam, wo es an einer Art Reifen, der vom Boden der Hütte herunterhing, festgemacht war. Während er sich krümmte, daß ihm der Rücken weh tat, um den Knoten zu lösen, rümpfte er die Nase über den merkwürdigen Geruch. War es der See oder die Unterseite des Hauses, was da so roch? Neben den Ausdünstungen von feuchtem Holz und Schimmel war da noch eine Art merkwürdiger Tiergeruch, warm und moschusartig, jedoch nicht unangenehm. Während er noch so ins Dunkel spähte, hellten sich die Schatten ein wenig auf. Er konnte sogar den Knoten erkennen. Seine Freude darüber und über das rasche Losbinden, das nun möglich war, wurde von der kalten Einsicht zerstört, daß es bald dämmern würde; seine Helferin war die abnehmende Dunkelheit. Er zog das Haltetau herunter und watete zurück. Das Boot zog er leise hinter sich her. Er konnte vage Geloës unbestimmte Gestalt erkennen, die sich dicht an die schräge Eingangsplanke duckte. So schnell es ging, steuerte er auf sie zu … bis er stolperte.

Es spritzte, und mit einem unterdrückten Aufschrei fiel er beinahe aufs Knie, zog sich aber gleich wieder hoch. Wo war er hängengeblieben? Es fühlte sich an wie ein Baumstamm. Er versuchte über das Hindernis wegzusteigen, trat aber mit dem nackten Fuß mitten darauf und mußte sich zusammennehmen, um nicht wieder zu schreien. Obwohl es regungslos und fest dalag, fühlte es sich doch schuppig an wie ein Hecht aus dem Burggraben im Hochhorst oder eines der ausgestopften Fabeltiere, die bei Morgenes auf den Borden standen. Als die kleinen Wellen sich beruhigten und er Geloës leise, aber wachsame Stimme fragen hörte, ob er sich verletzt hätte, sah er nach unten.

Obwohl das Wasser in der Dunkelheit so gut wie undurchsichtig war, war Simon überzeugt, den Umriß eines sonderbar aussehenden Baumstamms oder besser einer Art sehr großen Astes zu erkennen, denn er konnte ausmachen, daß das, worüber er gestrauchelt war, dicht unter der Wasseroberfläche lag und sich dort mit zwei weiteren schuppigen Ästen vereinigte. Alle zusammen schienen mit dem Sockel eines der beiden Pfeiler verbunden zu sein, auf denen das Haus über dem See stand.

Und als er vorsichtig darüberstieg und lautlos durch das Wasser auf den Schatten, der Geloë war, zuglitt, erkannte er auf einmal, wie die Baumwurzeln – oder Äste, oder was immer sie waren – wirklich aussahen: wie ein riesenhafter Fuß. Oder eigentlich eine Klaue, eine Vogelklaue. Was für eine verrückte Idee! Ein Haus hatte keine Vogelfüße, genausowenig wie ein Haus aufstand und … wandelte …

Simon war sehr still, als Geloë das Boot am Fuß der Planke festband.


Alles und jeder wurde in das kleine Boot hineingestopft: Binabik hockte im spitzen Bug, Marya in der Mitte, Simon, die unruhige Qantaqa zwischen den Knien, im Heck. Die Wölfin fühlte sich sichtlich unwohl. Als Binabik ihr befahl, in den schaukelnden Kahn zu steigen, hatte sie gewinselt und sich gesträubt. Zum Schluß hatte er ihr einen kleinen Klaps auf die Schnauze versetzen müssen. Selbst in der Dunkelheit, die der Morgendämmerung vorausging, konnte man dem kleinen Mann vom Gesicht ablesen, wie schwer ihm das gefallen war.

Der Mond hatte sich tief in das blauschwarze Gewölbe des lichter werdenden westlichen Himmels zurückgezogen. Geloë reichte ihnen die Paddel und richtete sich auf.

»Sobald ihr sicher aus dem See heraus und ein Stück den Fluß hinauf seid, solltet ihr das Boot am besten über Land tragen, durch den Wald bis zum Aelfwent. Es ist nicht übermäßig schwer, und ihr braucht es auch nicht sehr weit zu schleppen. Der Fluß fließt in die richtige Richtung und müßte euch schnell nach Da'ai Chikiza bringen.«

Binabik streckte sein Paddel aus und stieß das Boot von der Planke ab. Geloë stand knöcheltief im Seewasser, als sie sich sanft vom Ufer wegdrehten.

»Denkt daran«, flüsterte sie, »laßt die Paddel im Wasser schleifen, sobald ihr den Fluß erreicht. Stille! Das ist euer Schutz.«

Simon hob die offene Hand. »Lebt wohl, Valada Geloë.«

»Leb wohl, junger Pilgrim.« Obwohl kaum drei Ellen sie trennten, wurde ihre Stimme bereits schwächer. »Viel Glück für euch alle.

Fürchtet euch nicht! Ich werde gut für das kleine Mädchen sorgen.«

Leise glitten sie davon, bis die Zauberfrau nur noch ein Schatten neben der vorderen Stelze des Hauses war.

Der Bug des kleinen Bootes durchschnitt das Wasser wie eine Barbierklinge Seide. Auf einen Wink Binabiks senkten sie die Köpfe, und der Troll steuerte das Boot schweigend in die Mitte des nebligen Sees. Simon duckte sich in Qantaqas dickes Rückenfell, spürte den Puls ihres unruhigen Atems und sah zu, wie sich auf der Wasseroberfläche neben dem Boot kleine Ringe bildeten. Zuerst dachte er an Fische, die so früh schon ein Frühstück aus Maifliegen und Mücken einzunehmen gedachten. Dann aber spürte er einen winzigen nassen Tropfen im Nacken und noch einen. Es regnete.

Als sie sich der Mitte näherten, fuhren sie durch ganze Felder von Hyazinthen, die über das Wasser verstreut waren, als habe man sie auf den Pfad eines heimkehrenden Helden geworfen. Der Himmel begann sich zu erhellen. Die Dämmerung kündete ihr Kommen nicht an: es würde Stunden dauern, bis die Sonne die Wolken durchbrechen und sich am Himmel zeigen könnte. Es sah eher aus, als habe man eine Schicht Dunkelheit vom Himmel geschält wie den ersten von vielen Schleiern. Die Baumlinie, die ein schwarzer Fleck am Horizont gewesen war, verwandelte sich in ein Strohdach aus einzelnen Baumwipfeln, die sich vom schiefergrauen Himmel abhoben. Das Wasser, das sie umgab, war schwarzes Glas, aber schon wurden ein paar Einzelheiten des Ufers erkennbar, matte, bleiche Baumwurzeln wie verkrüppelte Bettlerbeine, der vage Silberschein eines Granitfelsens – das alles umgab den geheimen See wie ein Hoftheater, das darauf wartet, daß die Schauspieler sich einfinden. Langsam verwandelten sich die grauen Nachtgestalten in die lebendigen Dinge des Tages.

Qantaqa duckte sich überrascht, als Marya sich plötzlich vorbeugte und über die Seitenwand des Bootes spähte. Sie wollte etwas sagen, unterließ es und zeigte statt dessen mit dem Finger über den Bug und leicht nach rechts.

Simon kniff die Augen zusammen und sah es: ein fremdartiges Gebilde am unordentlichen und doch in gewisser Weise regelmäßigen Waldsaum, ein viereckiges, kompaktes Ding, dessen Farbe sich von den dunklen Ästen ringsum abhob – ein blaugestreiftes Zelt.

Jetzt gewahrten sie noch einige weitere Zelte, drei oder vier, die gleich hinter dem ersten standen. Simon machte ein finsteres Gesicht und lächelte dann verächtlich. Wie typisch für Baron Heahferth, jedenfalls nach dem, was er damals in der Burg über ihn gehört hatte, derartigen Luxus in den wilden Wald mitzuschleppen.

Gleich hinter den verstreuten kleinen Zelten wich das Seeufer mehrere Ellen zurück und trat dann wieder vor. In der Mitte gab es eine dunkle Stelle, als ob jemand ein Stück aus der Uferlinie herausgebissen hätte. Äste hingen dort tief über dem Wasser. Man konnte zwar nicht sehen, ob es wirklich die Mündung des Zuflusses war, aber Simon war davon überzeugt.

Genau an der Stelle, wo Geloë es gesagt hat! dachte er. Scharfe Augen hat sie – aber das ist ja auch nicht weiter erstaunlich. Er wies auf die dunkle Lücke im Seeufer, und Binabik nickte; er hatte sie ebenfalls gesehen.

Als sie sich dem schweigenden Lager näherten, mußte Binabik etwas kräftiger paddeln, damit sie nicht zu langsam vorbeiglitten; Simon dachte, daß sich die Strömung des Zuflusses wohl allmählich bemerkbar machte. Vorsichtig hob er sein Paddel, um es über die Bootswand zu bringen, aber Binabik bemerkte die Bewegung aus dem Augenwinkel, drehte sich um und schüttelte den Kopf, wobei er lautlos die Worte noch nicht hauchte. Unmittelbar über dem vom Regen gekräuselten Wasser ließ Simon das kleine Paddel verharren.

Als sie, keine dreißig Ellen vom Ufer, die Zelte passierten, sah Simon eine dunkle Gestalt zwischen den Wänden aus azurblauem Stoff herumgehen. Es schnürte ihm die Kehle zu. Ein Posten; unter dem Mantel nahm er den stumpfen Glanz von Metall wahr. Vielleicht blickte der Mann sogar in ihre Richtung, aber das war schwer festzustellen, weil er die Kapuze weit über den Kopf gezogen hatte.

Gleich darauf hatten auch die anderen den Wächter erkannt. Binabik hob vorsichtig das Paddel aus dem Wasser, und alle bückten sich, um so wenig wie möglich von ihrem Umriß zu zeigen. Selbst wenn der Soldat zufällig auf den See schaute, übersah er sie vielleicht oder würde nur einen Baumstamm bemerken, der auf dem Wasser schaukelte – aber Simon war sicher, daß das einfach zuviel gehofft war. Er konnte sich nicht vorstellen, daß der Mann, wenn er sich umdrehte, sie nicht entdecken sollte; dazu waren sie ihm viel zu nahe.

Die Fahrt des kleinen Bootes verlangsamte sich, und die dunkle Lücke in der Uferlinie kam näher. Es war der Zufluß. Simon konnte die kleinen Wellen sehen, dort wo das Wasser ein paar Meter aufwärts über den runden Rücken eines Felsblockes strömte.

Auch ihre Fahrt hatte es schon fast abgebremst; die Nase des Bootes begann sich, von der leichten Strömung abgewiesen, bereits zu drehen. Sie würden bald die Paddel eintauchen müssen oder genau unter den blauen Zelten ans Ufer treiben. Und in diesem Augenblick war der Posten mit dem fertig, was auf der anderen Seite des Lagers seine Aufmerksamkeit erregt hatte, und drehte sich um, um auf den See hinauszuschauen.

In derselben Sekunde, noch ehe die in ihnen aufsteigende Furcht sie wirklich erfassen konnte, fiel aus den Bäumen über dem Lager etwas Dunkles senkrecht auf den Posten hinunter. Es segelte wie ein riesiges graues Blatt durch die Äste und landete auf seinem Hals; aber dieses Blatt hatte Klauen. Als er sie an der Kehle fühlte, stieß der Gepanzerte einen Schreckensschrei aus, ließ den Speer fallen und schlug auf das Wesen ein, das ihn gepackt hielt. Die graue Gestalt flatterte mit schwirrenden Schwingen in die Höhe und schwebte gerade außer Reichweite über seinem Kopf. Wieder schrie der Mann, griff sich an den Hals und tastete auf der Erde nach seinem Speer. »Jetzt!« zischte Binabik. »Paddelt!« Er, Marya und Simon tauchten die hölzernen Blätter ins Wasser und ruderten mit aller Macht. Die ersten Schläge schienen sie nicht weiterzubringen, sinnlos spritzte Wasser, und das Boot schaukelte. Dann begannen sie sich in Bewegung zu setzen und paddelten gleich darauf gegen die stärkere Strömung des Flusses, als sie unter den überhängenden Ästen hindurchgeglitten waren.

Simon blickte sich um und sah den Posten, der barhäuptig herumhüpfte und nach dem über ihm schwebenden Wesen schlug. Ein paar von den anderen Männern hatten sich auf ihren Schlafdecken aufgerichtet und lachten über den Anblick ihres Kameraden, der den Speer wieder fallengelassen hatte und jetzt mit Steinen nach dem verrückten, gefährlichen Vogel warf. Die Eule wich den Geschossen mit Leichtigkeit aus. Als Simon den Vorhang aus belaubten Zweigen hinter dem Boot herunterzog, schwenkte sie spöttisch den breiten weißen Schwanz und kreiste nach oben in die Schatten der Bäume.

Sie stemmten sich gegen die widerspenstige Strömung, die überraschend stark war, obwohl sich an der Oberfläche gar nichts zu bewegen schien, und Simon lachte leise und triumphierend vor sich hin.


Lange Zeit paddelten sie so den Fluß hinauf. Auch wenn sie nicht gewußt hätten, daß sie still sein mußten, wäre ihnen eine Unterhaltung schwergefallen, so anstrengend war das Paddeln. Endlich, fast eine Stunde später, stießen sie auf einen kleinen Altarm, von einem Schutzschirm aus Schilfrohr umgeben, wo sie haltmachen und sich ausruhen konnten.

Die Sonne war inzwischen ganz aufgegangen, ein verschwommener, glühender Fleck hinter einem perlweißen, den ganzen Himmel bedeckenden Wolkenbaldachin. Noch immer hing dünner Nebel über Wald und Fluß, so daß ihre Umgebung einer Traumlandschaft glich. Etwas weiter oben schien der Fluß irgendein Hindernis zu unter- oder überspülen; das ruhige Schnurren des fließenden Wassers wurde durch die glockenspielartigen Geräusche des Wasserlaufes verstärkt, der in die Höhe sprang und plätschernd wieder herunterfiel.

Simon pustete und beobachtete das Mädchen Marya. Sie hatte die Wange auf den Unterarm gelegt und lehnte sich an die Bootswand. Es war ihm völlig unverständlich, wie er sie je für einen Jungen hatte halten können. Was ihn an einen Fuchs erinnert hatte, die für einen Jungen ungewöhnlich scharfen Züge, schien ihm jetzt anmutig. Sie war rot vor Anstrengung. Simon betrachtete ihre geröteten Wangen, und sein Blick wanderte über die weiße Länge des gestreckten Halses zu der sanften, aber deutlich sichtbaren Erhebung ihres Schlüsselbeines, dort, wo das Jungenhemd, das sie trug, am Hals offenstand.

Sie ist nicht sehr gut gepolstert … nicht wie Hepzibah, überlegte er sinnend. Ha! Ich möchte einmal sehen, wie Hepzibah sich als Junge ausgibt! Aber trotzdem ist sie auf ihre magere Weise hübsch. Ihr Haar ist so ungemein schwarz.

Maryas Augen flatterten zu. Sie atmete weiter tief. Simon streichelte gedankenverloren Qantaqas breiten Kopf.

»Gut gebaut ist sie, nicht wahr?« fragte Binabik vergnügt.

Simon starrte ihn erschreckt an. »Was?«

Binabik runzelte die Stirn. »Es tut mir leid. Vielleicht sagt ihr auf Erkynländisch ›er‹ dazu? Oder ›es‹? Aber trotzdem mußt du mir zustimmen, daß Geloë ein Werk von großer Kunst vollbracht hat.«

»Binabik«, sagte Simon, dessen Erröten nachzulassen begann, »ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon du sprichst.«

Der kleine Mann klopfte mit der flachen Hand sanft auf die Bootswand. »Was für ein schönes Werk Geloë aus Rinde und Holz geschaffen hat. Und so leicht! Ich denke, wir werden keine große Mühe haben, es über Land zum Aelfwent zu tragen.«

»Das Boot…«, sagte Simon und nickte wie ein Dorftrottel. »Das Boot. Ja, es ist gut gebaut.«

Marya setzte sich auf. »Wollen wir jetzt versuchen, uns zu dem anderen Fluß durchzuschlagen?« fragte sie. Als sie sich wieder umdrehte und nach dem dünnen Waldstreifen blickte, den man durch das Schilf erkennen konnte, bemerkte Simon die dunklen Ringe unter ihren Augen, sah, wie erschöpft sie war. Ein wenig regte er sich immer noch darüber auf, daß sie erleichtert gewesen war, als Geloë sich bereiterklärte, das Kind zu behalten; aber er war froh, daß diese Dienerin sich Gedanken zu machen schien, daß sie nicht einfach zu den Mädchen gehörte, die immer nur Lachen und Scherzen im Sinn haben.

Nein, natürlich gehört sie nicht dazu, dachte er. Eigentlich habe ich sie überhaupt noch nicht lächeln sehen. Nicht, daß unsere Erlebnisse nicht jedem das Lachen austreiben könnten – aber ich laufe ja auch nicht immer mürrisch und schlechtgelaunt herum.

»Das wäre vielleicht gar keine schlechte Idee«, sagte Binabik als Antwort auf Maryas Frage. »Ich glaube, das Geräusch, das wir dort vor uns hören, ist eine Versammlung von Felsen im Fluß. Wenn das zutrifft, hätten wir ohnehin kaum eine andere Wahl, als das Boot außenherum zu tragen. Vielleicht könnte Simon hingehen und es herausfinden.«

»Wie alt bist du?« fragte Simon Marya. Binabik drehte sich überrascht um und glotzte ihn an. Marya verzog den Mund und betrachtete Simon einen langen Augenblick.

»Ich bin…« begann sie und hielt dann inne. »Im Octander werde ich sechzehn Jahre.«

»Also fünfzehn«, meinte Simon nicht ohne eine gewisse Selbstgefälligkeit.

»Und du?« erkundigte sich das Mädchen herausfordernd. Simon sträubten sich die Nackenhaare.

»Fünfzehn!«

Binabik hüstelte. »Gut und schön – Schiffskameraden sollten sich miteinander bekanntmachen. Aber … vielleicht besser später. Simon, könntest du hingehen und feststellen, ob dort vorn wirklich Felsen sind?«

Simon wollte schon ›ja‹ sagen, hatte aber plötzlich keine Lust mehr. War er ein Laufbursche? Ein Kind, das springen und für die Erwachsenen Sachen herausfinden mußte? Wer hatte denn schließlich die Entscheidung getroffen, hinzugehen und dieses dumme Mädchen von ihrem Baum zu retten?

»Wenn wir doch ohnehin zu dem Wie-heißt-er-doch-gleich hinüber müssen, warum dann der Aufwand?« fragte er. »Gehen wir doch einfach los.«

Der Troll warf ihm einen scharfen Blick zu, nickte jedoch schließlich mit dem Kopf. »Na schön. Ich denke, meiner Freundin Quantaqa wird es auch guttun, wenn sie sich ein wenig die Beine vertritt.« Und zu Marya: »Wölfe sind keine Seeleute, weißt du.«

Marya starrte Binabik an, als wäre er noch wunderlicher als Simon. Dann brach sie in schallendes Gelächter aus. »Sehr wahr!« meinte sie und lachte weiter.


Das Kanu war tatsächlich federleicht, aber trotzdem nicht einfach durch die Äste und Ranken zu befördern, die ständig daran hängenblieben. Um eine Höhe zu erreichen, bei der sowohl Binabik als auch das Mädchen mittragen konnten, mußten sie das umgekehrte Boot so tief halten, daß das scharfe Heckende ständig gegen Simons Brustbein schlug. Außerdem konnte er beim Gehen die eigenen Füße nicht sehen, was zur Folge hatte, daß er immer wieder im Unterholz stolperte. Durch das Geflecht aus Zweigen und Blättern über ihnen ergoß sich der Regen; Simon, der keine Hand frei hatte, konnte sich nicht einmal die Tropfen abwischen, die ihm in die Augen liefen. Er war nicht in bester Stimmung.

»Wie weit ist es eigentlich, Binabik?« fragte er endlich. »Dieses verdammte Boot schlägt mir die Brust in Stücke.«

»Nicht weit, ist meine Hoffnung«, rief der Troll, dessen Stimme unter der Hülle aus gespannter Baumrinde unheimlich widerhallte. »Geloë hat gesagt, der Zufluß und der Aelfwent flössen eine lange Strecke nebeneinander her und seien nicht mehr als eine Viertelstunde getrennt. Wir sollten bald da sein.«

»Bald sollte es wirklich sein«, bemerkte Simon grimmig. Marya vor ihm gab einen Laut von sich, von dem Simon sicher war, daß er nach Abscheu klang – wahrscheinlich seinetwegen. Er zog ein ungemein finsteres Gesicht, und das rote Haar lag ihm naß und strähnig auf der Stirn.

Endlich vernahmen sie durch das sanfte Trommeln von Regentropfen auf Laub und Boot ein anderes Geräusch, ein atmendes Rauschen, das Simon an einen Raum voll murmelnder Menschen denken ließ. Quantaqa sprang krachend durch das Unterholz voraus.

»Ha!« ächzte Binabik und ließ sein Bootsende sinken. »Seht ihr? Wir haben ihn gefunden. T'si Suhyasei!«

»Ich dachte, er hieße Aelfwent.« Marya rieb sich die Stelle ihrer Schulter, auf der das Boot gelegen hatte. »Oder sagen das die Trolle immer, wenn sie auf einen Fluß stoßen?«

Binabik lächelte. »Nein. Es ist ein Sithiname. Schließlich ist das in gewisser Weise ein Sithifluß, denn sie fuhren mit ihren Booten darauf, als Da'ai Chikiza ihre Stadt war. Du solltest das wissen, denn Aelfwent heißt in der alten Sprache von Erkynland ›Sithifluß‹.«

»Und was bedeutet dann … das, was du gesagt hast?« fragte Marya.

»T'si Suhyasei?« Binabik dachte nach. »Das kann man schwer genau übersetzen. Es heißt ungefähr ›ihr Blut ist kalt‹.«

»Ihr?« fragte Simon und kratzte sich mit einem Stock den Lehm von den Stiefeln. »Und wer ist dieses Mal ›ihr‹?«

»Der Wald«, erwiderte Binabik. »Bei den Sithi ist er weiblich. Kommt jetzt. Ihr könnt euch gleich den Schlamm im Wasser abwaschen.«

Sie trugen das Boot die Uferböschung hinunter. Dazu mußten sie es durch ein Dickicht aus Katzenschwänzen stoßen, was viele geknickte Stiele zur Folge hatte. Endlich lag der Fluß vor ihnen – eine breite, gesunde Wasserfläche, erheblich größer als der Seezufluß und mit einer sichtlich stärkeren Strömung. Sie mußten das Boot in die vom Flußlauf ausgewaschene Schlucht hinunterlassen; zuletzt stand Simon, der Längste, knietief im seichten Wasser, um das Boot in Empfang zu nehmen. Seine Stiefel wurden dabei allerdings wirklich sauber. Er hielt das tanzende Fahrzeug fest, während Marya und der Troll zuerst die mißtrauische Quantaqa über den Rand hoben – ohne daß die Wölfin ihnen dabei wesentlich behilflich gewesen wäre –, um dann selber einzusteigen. Simon kletterte als letzter an Bord und nahm seinen Platz im Heck ein.

»Deine Stellung«, ermahnte Binabik ihn ernst, »erfordert viel Verantwortung. Bei einer so starken Strömung werden wir nicht viel zu paddeln haben, aber du mußt steuern; und rufe, wenn Felsen kommen, damit wir mithelfen können, uns von ihnen abzustoßen!«

»Das kann ich«, antwortete Simon rasch. Binabik nickte und ließ den langen Ast los, an dem er sich festgehalten hatte; sie stießen vom Ufer ab und trieben hinaus auf den brausenden Aelfwent.

Zuerst war es, wie Simon rasch merkte, doch ein wenig schwierig. Einige der Felsen, denen sie aus dem Weg gehen mußten, waren über der glasigen Oberfläche des Wassers gar nicht sichtbar, sondern lagen unmittelbar darunter, so daß sie nur an den glänzenden Buckeln zu erkennen waren, die das Wasser darüber bildete. Der erste, den Simon nicht sah, verursachte ein gräßliches Geräusch, als der straffgespannte Rumpf an ihm entlangschrammte, so daß sie alle einen Augenblick Angst bekamen; aber das kleine Boot sprang von dem versunkenen Stein fort wie ein Schaf vor den Scheren. Bald hatte Simon sein Fahrzeug im Gefühl; an manchen Stellen schien es fast über das Wasser zu fliegen, schwerelos wie ein Blatt auf dem wogenden Rücken des Flusses.

Als sie in einen Abschnitt mit ruhigerem Fahrwasser kamen und das Tosen der Felsen hinter ihnen zurückblieb, spürte Simon, wie ihm das Herz in der Brust schwoll. Die neckenden Hände des Flusses zupften an seinem Paddel, das im Wasser trieb. Eine Erinnerung an die breiten Zinnen des Hochhorstes, auf denen er herumgeklettert war, stieg in ihm auf – als er atemlos gewesen war über die eigene Macht, über den Anblick der säuberlichen Felder tief unter ihm. Ihm fiel ein, wie er in der Glockenstube des Grünengel-Turmes gehockt und auf die aneinandergeduckten Häuser von Erchester hinuntergeschaut hatte, hinaus in die weite Welt, den Wind im Gesicht. Hier, im Heck des kleinen Bootes, kauerte er von neuem zugleich in der Welt und darüber, weit darüber, segelte wie der Frühlingswind, der durch die Baumkronen schnaubte. Er hob das Paddel vor sich in die Höhe … und es war ein Schwert.

Usires war ein Seemann, fing er an zu singen, die Worte fielen ihm plötzlich wieder ein. Es war eine Melodie, die ihm jemand vorgesungen hatte, als er noch sehr klein gewesen war.

Usires war ein Seemann,

wohl auf dem weiten Ozean,

er nahm das Gotteswort mit sich

und segelte nach Nabban-o!

Binabik und Marya drehten sich nach ihm um; Simon grinste.

Tiyagaris war ein Kriegsmann,

wohl auf dem weiten Ozean,

er nahm das Wort des Rechts mit sich

und segelte nach Nabban-o!

Und Johan war ein König,

wohl auf dem weiten Ozean,

er nahm das Ädonswort mit sich und

segelte nach Nabban-o!

Er verstummte.

»Warum hörst du auf?« fragte Binabik. Marya betrachtete ihn immer noch mit nachdenklichem Augenausdruck.

»Das ist alles, was ich davon weiß«, erklärte Simon und versenkte sein Paddel wieder im gurgelnden Kielwasser des Bootes. »Ich erinnere mich nicht einmal, woher. Ich glaube, eine der Kammerfrauen hat es gesungen, als ich ein Kind war.«

Binabik lächelte. »Ein gutes Lied für eine Flußreise, finde ich, obwohl einige der Einzelheiten über wenig historische Richtigkeit verfügen. Bist du sicher, daß du dich an nichts mehr erinnern kannst?«

»Leider ja.« Das Versagen seiner Erinnerung kümmerte ihn wenig. Diese eine kurze Stunde auf dem Fluß hatte seine Laune ganz und gar gehoben. Er war einmal auf einem Fischerboot mit in der Bucht gewesen und hatte es sehr schön gefunden … aber das war nichts im Vergleich zu jetzt, zu dem vorüberrauschenden Wald und dem Gefühl des zierlichen Bootes unter ihm, so sensibel und empfänglich für seine Kommandos wie ein Fohlen.

»Ich kenne keine Segellieder«, bemerkte der Troll, der sich über Simons veränderte Stimmung freute. »Im hohen Qanuc sind die Flüsse aus Eis, und nur die kleinen Trollinge spielen ihre Schleifspiele darauf. Ich könnte allenfalls etwas vom mächtigen Chukku und seinen Abenteuern singen…«

»Ich kenne ein Flußlied«, unterbrach ihn Marya und fuhr sich mit schmaler, weißer Hand durch den schwarzen Haarschopf. »Die Straßen von Meremund sind voll von Seemannsliedern.«

»Meremund?« fragte Simon. »Wie kommt ein Burgmädchen nach Meremund?«

Marya kräuselte die Lippen. »Wo, glaubst du, haben die Prinzessin und ihr ganzer Hof gelebt, bevor wir zum Hochhorst kamen – in der Einöde von Nascadu?« Sie schnaubte. »Natürlich in Meremund. Es ist die schönste Stadt der Welt, in der sich das Meer und der große Gleniwent-Fluß begegnen. Du kannst das nicht wissen, du warst nie dort.« Sie feixte. »Burgjunge!«

»Dann sing!« mischte Binabik sich ein und wedelte mit der Hand vor sich her. »Der Fluß wartet darauf, dich zu hören, und der Wald auch.«

»Hoffentlich erinnere ich mich noch«, meinte sie spöttisch und warf Simon einen schrägen Blick zu. Er erwiderte ihn hochmütig – ihre Bemerkung hatte seine gehobene Stimmung kaum berührt. »Es ist ein Lied der Flußschiffer«, fuhr sie fort, räusperte sich und hob dann, erst ein wenig unsicher, dann mutiger, mit lieblicher, kehliger Stimme zu singen an.

… Und manche segeln auf der See,

und ihr Mund ist mächtig voll

von Geheimnissen und Schlachtgebrüll

und Historien blutig toll.

Doch fragt ihr dort am Gleniwent

einen Mann, der's wissen muß,

sagt er, freilich, Gott erschuf das Meer,

doch gemeint hat er den Fluß.

Oh, das Meer ist eine Frage,

doch die Antwort ist der Fluß,

wenn er tanzt und lacht und Sprünge macht

wie ein Tänzerinnenfuß!

Hol der Teufel, wer sich drücken will

vor dem Boot so alt und bunt,

und geht so ein Kerl mal über Bord –

Prost auf ihn in Meremund!

Und mancher geht aufs Meer hinaus,

der nie mehr gesehen wird,

doch uns Kerls vom Fluß, die findet man

jede Nacht beim Schenkenwirt.

Und mancher sagt, wir trinken viel

und gelärmt wird und gelacht,

doch wenn der Fluß deine Dame ist,

schläfst du trotzdem gut bei Nacht.

Oh, das Meer ist eine Frage,

doch die Antwort ist der Fluß,

wenn er tanzt und lacht und Sprünge macht

wie ein Tänzerinnenfuß!

Hol der Teufel, wer sich drücken will

vor dem Boot so alt und bunt,

und geht so ein Kerl mal über Bord –

Prost auf ihn in Meremund!

In Meremund! In Meremund!

Dort trinken wir ihm zu,

aber wenn er nicht vorübertreibt,

gibt's auch keine letzte Ruh!

Als Marya zum dritten Mal zum Kehrreim kam, kannten Simon und Binabik die Worte und konnten einfallen. Qantaqa legte die Ohren an, als sie den dahineilenden Aelfwent hinuntergrölten.

Oh, das Meer ist eine Frage, doch die Antwort ist der Fluß, sang Simon aus voller Kehle, als plötzlich die Nase des Bootes in ein Wasserloch kippte und wieder in die Höhe schoß: Sie fuhren von neuem durch Felsen. Als sie die brodelnden Wasser hinter sich gebracht und wieder freie Fahrt hatten, waren sie alle zu atemlos zum Weitersingen. Aber Simon grinste immer noch, und als die grauen Wolken über dem Wald ihre Schleusen öffneten und sie mit noch mehr Regen überschütteten, hob er das Kinn und fing die Tropfen mit der Zunge auf. »Regen, jetzt«, erläuterte Binabik und hob unter dem an die Stirn geklatschten Haar die Brauen. »Ich denke, wir werden naß.«

Den kurzen Augenblick der Stille durchbohrte das hohe, prustende Gelächter des Trolls.


Als das durch den Baumbaldachin herabsickernde Licht schwächer wurde, steuerten sie das Boot ans Ufer und schlugen ihr Lager auf. Binabik schichtete ein Feuer und setzte mit Hilfe seines Säckchens mit gelbem Staub das feuchte Holz in Brand. Dann förderte er aus einem der Rucksäcke, die Geloë ihnen mitgegeben hatte, ein Paket mit frischem Gemüse und Obst zutage. Die Wölfin, sich selbst überlassen, schlich ins hohe Gebüsch hinein und kam nach einiger Zeit mit triefendnassem Fell zurück; ein paar blutige Streifen zierten ihre Schnauze. Simon blickte zu Marya hinüber, die nachdenklich an einem Pfirsichkern lutschte, um zu sehen, wie sie auf dieses Zeichen der brutalen Seite von Qantaqas Wesen reagieren würde, aber falls das Mädchen es überhaupt bemerkt hatte, zeigte sie keinen Hinweis auf Unbehagen. Sie muß in der Küche der Prinzessin gearbeitet haben, dachte er. Trotzdem, ich wette, wenn ich ihr eine von Morgenes' ausgestopften Echsen in den Mantel steckte, dann würde sie springen.

Der Gedanke daran, daß sie in einer der Burgküchen beschäftigt gewesen sein könnte, veranlaßte ihn nachzugrübeln, was sie eigentlich im Dienst der Prinzessin für Aufgaben gehabt haben mochte – und, wenn er schon dabei war, wieso hatte sie gerade ihm nachspioniert? Aber als er sie über die Prinzessin ausfragen wollte, schüttelte sie nur den Kopf und meinte, über ihre Herrin und ihren Dienst könne sie erst dann etwas erzählen, wenn sie ihre Botschaft in Naglimund abgeliefert hätte.

»Ich hoffe, du wirst mir die Stellung dieser Frage vergeben«, bemerkte Binabik, der gerade die wenigen Eßgeräte einpackte und seinen Wanderstab auseinandernahm, um dann seine Flöte herauszuholen, »aber welchen Plan hast du, wenn Josua nicht in Naglimund ist und deine Botschaft nicht entgegennehmen kann?«

Marya machte ein verwirrtes Gesicht, schwieg aber trotzdem weiter. Simon war versucht, Binabik nach ihren Plänen zu fragen, und nach Da'ai Chikiza und der Steige, aber der Troll trillerte bereits gedankenverloren auf seiner Flöte. Die Nacht legte eine Decke aus Dunkelheit über den ganzen großen Aldheorte und ließ nur ihr kleines Feuerchen unbedeckt. Simon und Marya saßen da und lauschten dem Troll, der seine Musik in die regennassen Baumwipfel aufsteigen und dort ein Echo finden ließ.


Am nächsten Tag waren sie kurz nach Sonnenaufgang schon auf dem Fluß. Der Rhythmus des fließenden Wassers schien ihnen jetzt vertraut wie ein Kinderreim: die langen, trägen Strecken, auf denen es ihnen vorkam, als sei ihr Boot ein Felsen, auf dem sie saßen, während zu beiden Seiten das unendliche Meer der Bäume vorüberrauschte – und andererseits die gefährliche Erregung der brausenden Stromschnellen, die das schwache Fahrzeug schüttelten wie einen Fisch, der am Haken zappelt.

Im Lauf des Vormittages ließ der Regen nach, und die Sonne funkelte durch die überhängenden Äste und schmückte Fluß und Waldboden mit kleinen Lichttümpeln.

Die willkommene Erholungspause von den Unbilden des Wetters – das, wie Simon nicht umhin konnte festzustellen, für den späten Maia ungewöhnlich winterlich war, wobei er an den Eisberg ihres gemeinsamen Traums dachte – trug dazu bei, daß sie alle guter Dinge waren. Während sie durch den Tunnel tief herabgeneigter Bäume dahinschwammen, zwischen denen sich hier und da majestätische Flächen voller Sonnenschein ausbreiteten, der durch Lücken im Astgewirr strömte und den Fluß für kurze Zeit in einen Spiegel aus poliertem Gold verwandelte, unterhielten sie einander durch muntere Reden. Simon, zuerst recht unwillig, erzählte von den Menschen, die er in der Burg gekannt hatte – von Rachel, Tobas dem Hundewärter, der sich mit Lampenruß die Nase schwärzte, damit ihn seine Schützlinge leichter als zur Familie gehörig anerkannten, von Peter Goldschüssel, dem riesigen Ruben und vielen anderen. Binabik sprach mehr von seinen Reisen, von seinen Jugendfahrten in das Brackland von Wran und die öden, fremdartigen Wüsten im Osten seiner Heimat Mintahoq. Selbst Marya, trotz ihrer anfänglichen Zurückhaltung und der langen Liste der Dinge, über die man nicht mit ihr reden konnte, brachte Simon und den Troll mit ihrer Darstellung der Auseinandersetzungen zwischen Flußschiffern und Seeleuten und ihren Bemerkungen über einige der zweifelhaften Edelleute, die in Meremund und auf dem Hochhorst den Umgang der Prinzessin Miriamel gebildet hatten, zum Lächeln.

Nur einmal wandte sich auf dieser Bootsfahrt des zweiten Tages das Gespräch den dunkleren Dingen zu, die wie ein Schatten über den Gedanken der drei Gefährten lagen.

»Binabik«, fragte Simon, als sie auf einem sonnenhellen Stück Waldwiese ihr Mittagsmahl einnahmen, »glaubst du wirklich, daß wir diese Männer endgültig hinter uns gelassen haben? Oder gibt es vielleicht noch andere, die uns suchen?«

Der Troll schnippte einen Apfelkern vom Kinn. »Mit Sicherheit weiß ich gar nichts, Freund Simon – wie ich bereits erwähnt habe. Überzeugt bin ich, daß wir an ihnen vorbeigeschlüpft sind und man uns nicht unmittelbar verfolgt hat; aber da ich nicht wissen kann, warum sie uns überhaupt suchen, weiß ich auch nicht, ob sie uns finden können. Wissen sie, daß wir nach Naglimund wollen? Sich das vorzustellen, ist ja nicht so schwer. Aber es gibt drei Dinge, die zu unseren Gunsten sprechen.«

»Nämlich?« fragte Marya mit leichtem Stirnrunzeln.

»Erstens ist es leichter, etwas in einem Wald zu suchen als es zu finden.« Er hob einen kurzen, stämmigen Finger. »Zweitens nehmen wir einen Schleichweg nach Naglimund, der seit Jahrhunderten kaum noch bekannt ist.« Ein zweiter Finger. »Und schließlich, um unsere Route herauszufinden, müssen diese Männer sie von Geloë in Erfahrung bringen«, sein dritter Finger streckte sich, »und das ist etwas, von dem ich nicht glaube, daß es geschehen wird.«

Genau darüber hatte sich Simon insgeheim schon Sorgen gemacht. »Und wenn sie ihr weh tun?« fragte er deshalb. »Es waren Männer mit Schwertern und Speeren, Binabik. Sie werden sich auf die Dauer von Eulen kaum verscheuchen lassen.«

Der Troll nickte ernsthaft und baute aus seinen kurzen Fingern ein Zelt. »Nicht, daß ich deshalb nicht besorgt wäre, Simon. Tochter der Berge, ich bin es! Aber du weißt wenig von Geloë. Sie nur für eine Weise Frau der Dörfer zu halten, heißt einen Fehler machen, einen Fehler, der Heahferths Männern leid tun könnte, falls sie ihr nicht den gehörigen Respekt entbieten. Schon lange Zeit schreitet Valada Geloë durch Osten Ard; viele Jahre lebt sie im Wald und viele, viele Jahre wohnte sie zuvor bei den Rimmersgardern. Und noch weit früher kam sie aus dem Süden nach Nabban; von ihren Reisen davor weiß niemand. Sie ist jemand, der für sich selbst einstehen kann, darauf kannst du dich verlassen – weit besser als ich oder sogar, wie auf so traurige Weise bewiesen, jener gute Mann Morgenes.« Er griff nach einem neuen Apfel, dem letzten im Sack. »Aber genug von solchen Dingen. Der Fluß wartet, und unsere Herzen müssen leicht sein, damit wir schneller vorwärtskommen.«


Später am Nachmittag, als die Schatten der Bäume zu einem großen Schattenfleck über dem Fluß zusammenzufließen begannen, erfuhr Simon mehr über die Geheimnisse des Aelfwent. Er fischte gerade in seinem Rucksack nach einem Stück Stoff, das er um seine Hände wickeln wollte, um sie vor den Blasen zu schützen, die ihm das rauhe Paddel eingetragen hatte. Er fand etwas, das sich anfühlte, als sei es dafür geeignet, und zog es heraus. Es war der Weiße Pfeil, immer noch in den zerfetzten Saum seines Hemdes gehüllt. Simon war überrascht, ihn plötzlich wieder in der Hand zu halten, seine Köstlichkeit zu spüren, einer Feder gleich, die im ersten verirrten Windhauch davonschweben kann. Vorsichtig wickelte der Junge ihn aus dem schützenden Tuch.

»Schau«, sagte er zu Marya und griff über Qantaqa hinüber, um ihr den Pfeil in seinem Nest aus Lumpen zu zeigen. »Es ist ein Weißer Pfeil der Sithi. Ich habe einem Sitha das Leben gerettet, und er gab ihn mir.« Er überlegte kurz. »Schoß ihn nach mir, besser gesagt.«

Es war ein Werk von großer Schönheit, fast leuchtend im schwindenden Licht, wie die schimmernde Brust eines Schwans. Marya betrachtete ihn kurz und berührte ihn dann mit spitzem Finger.

»Hübsch«, meinte sie, aber in ihrem Ton lag nichts von der Bewunderung, die Simon erhofft hatte.

»Natürlich ist er hübsch! Er ist geheiligt. Er bedeutet, daß eine Schuld offensteht. Frag Binabik, der kann es dir bestätigen.«

»Simon hat recht«, rief der Troll vom Bug herüber. »Es geschah kurz bevor wir einander begegneten.«

Marya fuhr fort, den Pfeil gelassen zu mustern, als wäre sie mit ihren Gedanken an einem ganz anderen Ort. »Er ist wunderschön«, sagte sie, und ihre Stimme klang kaum überzeugender als vorher. »Du hast großes Glück gehabt, Simon.«

Er wußte nicht warum, aber die Worte machten ihn wütend. Begriff sie denn nicht, was er durchgemacht hatte? Begräbnisstätte, Sithifalle, die Hunde, die Feindschaft eines Hochkönigs? Wer war sie, daß sie ihm antwortete wie eine der Kammerfrauen, die ihn tröstete, wenn er sich das Knie aufgeschürft hatte, und dabei an etwas ganz anderes dachte?

»Natürlich«, meinte er endlich und hielt den Pfeil vor sich in die Höhe, so daß sich ein fast waagrechter Sonnenstrahl darin brach und das Flußufer wie ein vorüberziehender Teppich dahinter lag, »natürlich hat er mir inzwischen so viel Glück gebracht – ich bin überfallen worden, gebissen, gejagt, litt Hunger –, daß ich ihn genausogut nie bekommen haben könnte.« Er starrte den Pfeil ärgerlich an und ließ den Blick über die Schnitzereien wandern, die ihm vorkamen wie die Geschichte seines Lebens, nachdem er den Hochhorst verlassen hatte: verwickelt, aber sinnlos.

»Ich könnte ihn wirklich ruhig wegwerfen«, sagte er bitter – natürlich würde er es nie tun, aber es war seltsam befriedigend, sich vorzustellen, daß es immerhin in seiner Macht stand –, »ich meine, was habe ich denn schon Gutes von ihm gehabt?«

Binabiks Warnruf kam mitten im Satz, aber bis Simon begriffen hatte, war es bereits zu spät. Das Boot prallte fast senkrecht auf den verborgenen Felsen; es schwankte, und das Heck senkte sich mit saugendem Aufklatschen ins Wasser. Der Pfeil wurde aus Simons Hand gerissen, drehte sich in der Luft und fiel in die um die Felsen tosenden Fluten. Als das Hinterteil des Bootes herunterkippte, drehte Simon sich um; gleich darauf rutschten sie von einem weiteren versunkenen Felsen ab, und Simon stürzte. Das Boot legte sich schief, ohne zu kentern, doch er fiel…

Das Wasser war erschreckend kalt. Einen Augenblick schien es, als sei er durch ein Loch in der Welt in völlige Nacht gestürzt. Dann brach er keuchend an die Oberfläche, wie verrückt in dem strudelnden Wasser herumwirbelnd. Er stieß gegen einen Felsen, drehte sich und ging wieder unter; angsteinflößendes Wasser drängte ihm die Luft aus Nase und Mund. Mühsam streckte er den Kopf wieder heraus und spannte die Muskeln, als ihn die gurgelnde Strömung gegen ein hartes Hindernis nach dem anderen schleuderte. Eine Sekunde fühlte er Wind im Gesicht und sog ihn hustend ein; er spürte, wie etwas von der Usires-sei-gelobten Luft den Weg in seine brennenden Lungen fand. Dann war er plötzlich an den Felsen vorbei und schwamm frei, strampelte mit den Füßen, um den Kopf über der Wasseroberfläche zu halten. Zu seiner Verblüffung befand sich das Boot jetzt hinter ihm und glitt gerade um die letzten der Buckelsteine herum. Binabik und Marya paddelten aus Leibeskräften, die Augen groß vor Angst, aber Simon merkte, daß sich die Entfernung allmählich vergrößerte. Er trieb stromab, und als er den Kopf wild nach allen Seiten drehte, sah er, daß die Flußufer erschreckend weit weg waren. Wieder tat er einen tiefen, keuchenden Atemzug.

»Simon!« schrie Binabik. »Schwimm zu uns zurück! Wir können nicht schnell genug rudern!«

Mit großer Anstrengung versuchte er zu wenden und sich zu ihnen zurückzukämpfen, aber der Fluß zog ihn mit tausend unsichtbaren Fingern fort. Er spritzte und versuchte seine Hände zu den Paddeln zu formen, die ihm Rachel – Morgenes? – einmal gezeigt hatte, während man ihn im seichten Wasser des Kynslagh festhielt; aber gegen die alles mitreißende Macht der Strömung schien ihm der Versuch lächerlich. Er ermüdete jetzt schnell, konnte seine Beine nicht mehr finden, fühlte nur noch kalte Leere, wenn er um sich treten wollte. Wasser spritzte ihm in die Augen, ließ die herunterhängenden Zweige in allen Regenbogenfarben schillern, dann glitt er wieder hinab in die Tiefe. Etwas schlug klatschend neben seiner Hand auf, und er ruderte mit den Armen im kalten Wasser, um ein letztes Mal nach oben zu kommen. Es war Maryas Paddel. Mit ihrer größeren Reichweite hatte sie sich an Binabiks Platz im Bug geschoben und den Arm so weit ausgestreckt, daß nur noch wenige Zoll das flache Holzstück von seinem Griff trennten. Neben ihr stand bellend Qantaqa, die sich, als wollte sie es ihr nachtun, fast ebensoweit hinauslehnte wie das Mädchen; das kopflastig gewordene Kanu lag gefährlich schräg.

Simon sandte einen Gedanken dorthin zurück, wo einmal seine Beine gewesen waren, forderte sie auf, um sich zu treten, falls sie ihn hören könnten, und reckte die Hand. Er fühlte das Paddel kaum, als seine tauben Finger sich darum schlossen, aber es war da, genau dort, wo er es brauchte.

Nachdem sie ihn an Bord gezogen hatten – an sich schon eine beinahe unmögliche Aufgabe, weil er mehr wog als alle anderen, die Wölfin ausgenommen – und er große Mengen Flußwasser herausgehustet und gespuckt hatte, lag er keuchend und schlotternd da, auf dem Boden des Bootes zur Kugel zusammengerollt, während das Mädchen und der Troll nach einem Landeplatz Ausschau hielten.

Er fand genug Kraft, um allein, auf unsicheren Beinen, aus dem Boot zu klettern. Als er auf die Knie fiel und dankbar die Hände auf den weichen Waldboden stützte, griff Binabik nach unten und zog etwas aus dem triefenden, zerlumpten Fetzen, der Simons Hemd gewesen war.

»Schau, was sich in deinen Kleidern verfangen hat«, sagte Binabik, und sein Gesicht hatte einen sonderbaren Ausdruck. Es war der Weiße Pfeil. »Wir wollen ein Feuer für dich machen, Freund Simon. Vielleicht hast du eine Lektion gelernt – eine grausame Lektion, aber sehr wichtig –, daß man von den Geschenken der Sithi nicht schlecht reden soll, wenn man auf einem Sithifluß fährt.«

Simon hatte nicht einmal mehr die Kraft, verlegen zu sein, als Binabik ihm beim Ausziehen half und ihn in seinen Mantel einpackte. Vor dem gesegneten Feuer schlief er ein. Wenig überraschend waren seine Träume dunkel und voll von Dingen, die nach ihm griffen und ihn zu ersticken suchten.


Am nächsten Morgen hingen die Wolken tief. Simon fühlte sich sehr schlecht. Nachdem er, gegen den Protest seines verstörten Magens, ein paar Streifen Dörrfleisch gekaut und hinuntergeschluckt hatte, kletterte er vorsichtig ins Boot und überließ Marya den Platz am Heck, während er sich in der Mitte zusammenkauerte, dicht an Qantaqas warmen Körper geschmiegt. Den ganzen langen Tag auf dem Fluß schlief er immer wieder ein. Das vorbeigleitende, verschwommene Grün, das der Wald war, verursachte ihm Schwindel, und sein Kopf fühlte sich heiß und viel zu groß an, wie eine auf den Kohlen aufgehende Kartoffel. Sowohl Binabik als auch Marya kontrollierten sorgsam den Verlauf seines Fiebers. Als er aus dem Dämmerschlaf erwachte, in den er, als seine beiden Gefährten zu Mittag aßen, gesunken war und sie über sich gebeugt fand, Maryas kühle Handfläche auf seiner Stirn, dachte er ganz verwirrt: Was für eine seltsame Mutter und was für einen wunderlichen Vater ich doch habe!

Kaum begann die Dämmerung durch die Bäume zu sinken, als sie zur Nacht hielten. Simon, in den Mantel gepackt wie ein Wickelkind, saß dicht am Feuer und streckte die Arme nur kurz heraus, um etwas von der Suppe zu trinken, die der Troll gekocht hatte, eine Brühe aus getrocknetem Rindfleisch, Rüben und Zwiebeln.

»Wir müssen morgen mit den ersten Schritten der Sonne aufstehen«, erklärte Binabik und hielt der Wölfin, die mit wohlwollender Gleichgültigkeit daran schnüffelte, das Stielende einer Rübe hin. »Nahe sind wir Da'ai Chikiza, aber es wäre sinnlos, nachts dorthin zu kommen, wenn man nichts mehr richtig erkennen kann. Auf jeden Fall werden wir von dort bis zu der Steige einen langen Weg hinaufklettern müssen und sollten das lieber tun, solange der Tag warm ist.«

Simon sah mit trübem Blick zu, wie der Troll Morgenes' Manuskript aus einem der Rucksäcke nahm und auswickelte. Binabik hockte sich dicht ans flackernde Lagerfeuer und hielt die Seiten schräg, um darin lesen zu können; er sah aus wie ein kleiner Mönch im Gebet über seinem Buch Ädon. Über ihnen raschelte der Wind in den Bäumen und blies Wassertropfen hinab, die an den Blättern gehangen hatten, Überbleibsel des Nachmittagsschauers. In das eintönige Rauschen des Wassers unter ihnen mischte sich das hartnäckige Quaken der kleinen Flußfrösche.

Simon brauchte eine Weile, bis er begriff, daß der sanfte Druck an seiner Schulter keine neue Botschaft seines kranken, unzufriedenen Körpers war. Mühsam reckte er das Kinn über den Kragen des dicken Wollmantels und machte eine Hand frei, um Qantaqa zu verscheuchen – nur um Maryas dunklen Kopf auf seinem Oberarm ruhen zu sehen. Ihr Mund stand leicht offen, und sie atmete im Rhythmus ihres Schlafes ein und aus.

Binabik sah hinüber. »Es war ein harter Tag des Arbeitens heute«, lächelte er. »Viel paddeln. Wenn es dir keine Schmerzen bereitet, laß sie ein wenig liegen.« Er wandte sich wieder dem Manuskript zu.

Marya bewegte sich neben ihm und murmelte etwas vor sich hin. Simon zog den Mantel, den Geloë ihr gegeben hatte, höher hinauf; als er ihre Wange berührte, stammelte sie irgend etwas, hob die Hand und strich unbeholfen über Simons Brust, um dann ein Stückchen näher zu rutschen.

Das Geräusch ihres gleichmäßigen Atems so nahe an seinem Ohr vereinte sich mit den Geräuschen von Fluß und Nachtwald. Simon schauderte und fühlte seine Augen schwer werden, so schwer … aber sein Herz schlug schnell, und es war der Ton seines ruhelosen Blutes, der ihn einen Pfad in warme Dunkelheit hinunterführte.


Im grauen, unbestimmten Licht einer regennassen Morgendämmerung, die Augen noch voller Schlaf und die Körper merkwürdig träge vom zu frühen Aufstehen, sahen sie die erste Brücke.

Simon saß wieder am Heck. Obwohl es verwirrend gewesen war, in fast völliger Dunkelheit ins Boot zu steigen und auf den Fluß hinauszugleiten, ging es ihm besser als am Vortag; er war immer noch schwindlig, aber sehr viel kräftiger. Als sie eine Biegung des Flusses, der fröhlich dahinsprang und sich nicht um die Tageszeit scherte, umrundet hatten, gewahrte Simon plötzlich ein seltsames Gebilde, das vor ihnen im Bogen das Wasser überspannte. Er wischte sich einen Augenblick die Nebelnässe aus dem Gesicht, die weniger herunterzuregnen als vielmehr in der Luft zu hängen schien, und kniff die Augen zusammen.

»Binabik«, fragte er nach vorn gebeugt, »ist das eine…«

»Eine Brücke, ja, so ist es«, antwortete der Troll vergnügt. »Das Tor der Kraniche, glaube ich.«

Der Fluß trug sie immer näher heran, und sie schöpften mit ihren Paddeln Wasser, um die Fahrt zu verlangsamen. Aus dem alles überwuchernden Unterholz des Ufers wuchs die Brücke hervor und spannte sich in schlankem Bogen hinüber zu den Bäumen auf der anderen Seite. Aus blassem, durchsichtigen grünem Stein gehauen, wirkte sie so zart wie ein Steg aus erstarrtem Meerschaum. Einst mit kunstvollem Schnitzwerk bedeckt, lag jetzt ein großer Teil ihrer Oberfläche unter Moos und Efeugewirr begraben. Die Stellen, die hervorlugten, waren verwittert, Schnörkel, Kurven und harte Kanten weicher geworden, rundgeschliffen von Wind und Regen. Oben am höchsten Punkt, gerade über ihren Köpfen, als das kleine Boot hindurchglitt, breitete ein milchiggrüner, durchscheinender Steinvogel seine vom Wasser abgeschabten Schwingen aus.

Gleich darauf hatten sie den leichten Schatten passiert und waren auf der anderen Seite. Plötzlich schien der Wald Uraltes zu atmen, als wären sie durch eine offene Tür in die Vergangenheit geglitten.

»Vor langer Zeit schon hat Altherz die Wasserstraßen verschlungen«, sagte Binabik ruhig, während sie sich alle nach der Brücke umdrehten, die hinter ihnen immer kleiner wurde. »Vielleicht werden selbst die anderen Werke der Sithi eines Tages vergehen.«

»Wie konnten sie nur auf so etwas den Fluß überqueren?« fragte Marya. »Es sah so … zerbrechlich aus.«

»Zerbrechlicher als es einmal war, soviel ist sicher«, antwortete Binabik mit einem sehnsüchtigen Blick zurück. »Aber die Sithi bauten nie … bauen nie … allein der Schönheit wegen. Steht nicht der höchste Turm in Osten Ard, das Werk ihrer Hände, immer noch auf eurem Hochhorst?«

Marya nickte sinnend. Simon zog die Finger durch das kalte Wasser.


Durch elf weitere Brücken oder »Tore«, wie Binabik sie nannte, weil sie seit tausend Jahren oder mehr den Wasserweg nach Da'ai Chikiza bestimmt hatten, fuhren sie hindurch. Jedes Tor trug den Namen eines Tieres, erklärte der Troll, und es entsprach zugleich einer Mondphase. Nacheinander trieben sie so unter Füchsen, Hähnen, Hasen und Tauben dahin, alle ein wenig von ihrer natürlichen Gestalt abweichend, aus hellem Mondstein oder leuchtendem Lapis gemeißelt, aber alle unverkennbar das Werk der gleichen feinfühligen und ehrfürchtigen Hände.

Als die Sonne hinter den Wolken ihren Vormittagsstand erreicht hatte, glitten sie gerade unter dem Tor der Nachtigallen hin. Jenseits dieses Überganges, auf dessen stolzer Meißelarbeit noch immer Goldflecken glitzerten, begann der Fluß seine Richtung zu ändern und sich wieder westwärts zu wenden, der unsichtbaren Ostflanke der Weldhelm-Berge zu. Hier gab es keine Felsen mit Wasserstrudeln darüber; die Strömung floß rasch und gleichmäßig. Simon wollte Marya gerade etwas fragen, als Binabik die Hand hob.

Sie fuhren um eine Biegung, und da lag es vor ihnen: ein Wald aus unfaßbar anmutigen Türmen – wie ein juwelenfunkelndes Rätsel inmitten des größeren Waldes aus Bäumen. Die Sithistadt, die sich auf beiden Seiten des Flusses erhob, schien unmittelbar aus dem Boden zu wachsen. Sie war wie der ureigene Traum des Waldes, Wirklichkeit geworden in feinem Stein, in hundert Farbtönen von Grün und Weiß und blassem Sommerhimmelblau. Sie war ein endloses Dickicht aus nadelspitzem Stein, aus hauchdünnen Übergängen wie Brücken aus Spinnweb, aus filigranen Turmspitzen und Minaretten, die bis in die hohen Wipfel der Bäume reichten, um auf ihren Eisblumengesichtern die Sonne einzufangen. Vor ihnen lag die Vergangenheit, die ihnen den Atem raubte und das Herz zerriß. Es war das Schönste, was Simon je gesehen hatte.

Aber als sie tiefer in die Stadt hineinkamen, zwischen deren schlanken Säulen der Fluß sich hindurchwand, sahen sie deutlich, daß der Wald dabei war, Da'ai Chikiza für sich zurückzugewinnen. Die plattenbelegten Türme mit ihren Mustern aus kunstvollen Rissen waren von Efeu und verschlungenen Baumästen gefesselt wie durch Netze. An vielen Stellen, wo einmal Wände oder Türen aus Holz oder anderen vergänglichen Stoffen gewesen waren, standen die steinernen Hüllen jetzt gefährlich ungestützt, wie die gebleichten Skelette unvorstellbarer Meerwunder. Überall drängte sich Pflanzenwuchs hinein, klammerte sich an schmale Mauern, erstickte die zarten Turmspitzen in gleichgültigem Laub.

In gewisser Hinsicht, fand Simon, sah es dadurch nur noch schöner aus, so als hätte der Wald, rastlos und unerfüllt, eine Stadt aus sich selbst herauswachsen lassen.

Binabiks ruhige Stimme unterbrach die Stille, feierlich wie der Augenblick selbst; ihr Echo verklang schnell im alles erstickenden Grün. »Baum des singenden Windes nannten sie es: Da'ai Chikiza. Einst war es voller Musik und Leben. In allen Fenstern brannten Lampen, und bunte Boote segelten auf dem Fluß.«

Der Troll legte den Kopf in den Nacken, um nach oben zu schauen, als sie unter einer letzten Steinbrücke hindurchfuhren, schmal wie ein Federkiel, mit den Abbildern anmutiger, geweihgeschmückter Hirsche bedeckt. »Baum des singenden Windes«, wiederholte er, weit weg wie jemand, der tief in Gedanken versunken ist.

Simon steuerte ihr kleines Fahrzeug wortlos zu einer Uferreihe von Steinstufen, die an einer Plattform endeten, die fast auf gleicher Höhe mit dem Wasserspiegel des breiten Flusses lag. Dort stiegen sie aus und banden das Boot an eine Wurzel, die durch den zersprungenen weißen Stein gewachsen war. Als sie die Stufen hinaufgegangen waren, blieben sie stehen und betrachteten schweigend die rankenüberwucherten Wände und bemoosten Gänge. Selbst die Luft in der verfallenen Stadt war voll von stummen Echos wie eine gestimmte, aber nicht angeschlagene Saite. Sogar Qantaqa stand wie betreten da, ließ den Schwanz hängen und witterte. Dann spitzte sie die Ohren und winselte.

Das Zischen war fast unhörbar. Ein Schattenstrich sauste an Simons Gesicht vorbei und prallte mit scharfem Klirren von einem der zerstörten Übergänge ab. Funkelnde Splitter aus grünem Stein stoben nach allen Richtungen. Simon fuhr herum.

Keine hundert Ellen entfernt und von den Gefährten nur durch die wogende Wasserfläche des Flusses getrennt, stand eine schwarzgekleidete Gestalt, in der Hand einen Bogen, der so lang war wie sie selbst. Hinter ihr kam ungefähr ein Dutzend anderer Männer in blau und schwarz gemusterten Waffenröcken den Pfad hinauf.

Die schwarze Gestalt hob eine Hand an den Mund. Sekundenlang schimmerte ein heller Bart.

»Ihr könnt nicht entkommen!« klang Ingen Jeggers Stimme gedämpft über das Tosen des Flusses. »Ergebt euch, im Namen des Königs!«

»Das Boot!« schrie Binabik, aber noch während sie zu den Stufen zurückhasteten, reichte der schwarzgekleidete Ingen dem Fackelträger einen schmalen Gegenstand. Feuer loderte auf. Gleich darauf hatte er den Pfeil auf die Bogensehne gelegt. Als die Gefährten die unterste Stufe erreicht hatten, sauste ein Feuerblitz über den Fluß und explodierte in der Bootswand. Der zitternde Pfeil setzte fast sofort die Borke in Brand, und es gelang dem Troll nur noch knapp, einen der Rucksäcke herauszuzerren, bevor die Flammen ihn zurückzwangen. Für einen Augenblick hinter dem auflodernden Brand verborgen, hasteten Simon und Marya die Treppe wieder hinauf, Binabik dicht hinter ihnen. Oben rannte Qantaqa von einer Seite zur anderen und stieß ein heiseres Gebell des Entsetzens aus.

»Lauft!« fauchte Binabik. Auf der anderen Flußseite traten zwei weitere Bogenschützen neben Ingen. Als Simon der Deckung des nächstgelegenen Turmes zustrebte, hörte er das schreckliche Sirren eines zweiten Pfeils und sah ihn zwanzig Ellen vor sich über die Steinplatten scharren. Zwei weitere Pfeile prallten gegen die Turmmauer, die so quälend weit vor ihm zu liegen schien. Ein Schmerzensschrei drang an sein Ohr, gefolgt von Maryas angstvollem Ruf.

»Simon!«

Er wirbelte herum und sah Binabik zu Boden stürzen, ein kleines Bündel zu Füßen des Mädchens. Irgendwo heulte ein Wolf.

XXVIII Trommeln aus Eis

Die Morgensonne des vierundzwanzigsten Tages im Maia-Monat strahlte auf Hernysadharc hinunter und verwandelte die goldene Scheibe auf der Spitze des höchsten Taig-Daches in einen Reif aus blitzender Flamme. Der Himmel war blau wie ein emaillierter Teller, so als hätte Brynioch von den Himmeln mit seinem göttlichen Haselstecken die Wolken verjagt, die nun finster über den hohen Gipfeln des aufragenden Grianspog lauern mußten.

Die plötzliche Rückkehr des Frühlings hätte Maegwins Herz eigentlich erfreuen müssen. In ganz Hernystir hatten der unzeitige Regen und grausame Frost sich wie ein Leichentuch über Land und Volk ihres Vaters gelegt. Blumen waren ungeboren in der Erde erfroren. Klein und sauer waren die Äpfel von den knotigen Ästen in den Obstgärten gefallen. Schafe und Kühe, zum Grasen auf nasse Wiesen geschickt, kamen mit angstvoll rollenden Augen in die Ställe zurück, von Hagelkörnern und Sturmböen verschreckt.

Eine Amsel, die dreist bis zum letzten Augenblick gewartet hatte, hüpfte von Maegwins Weg in die kahlen Zweige eines Kirschbaumes hinauf und fing an, streitsüchtig zu trillern. Maegwin hörte nicht darauf, sondern raffte ihr langes Kleid und eilte der großen Halle ihres Vaters zu.

Zuerst beachtete sie die Stimme nicht, die ihren Namen rief, weil sie sich bei ihrem Vorhaben nicht aufhalten lassen wollte. Schließlich drehte sie sich aber doch unwillig um und sah ihren Halbbruder Gwythinn auf sich zurennen. Mit verschränkten Armen blieb sie stehen und wartete auf ihn.

Gwythinns weißes Wams war in Unordnung und sein goldener Halsring halb nach hinten gerutscht, als wäre er ein Kind und nicht ein junger Mann im waffenfähigen Alter. Keuchend holte er sie ein. Sie schnaubte empört und machte sich sofort daran, seine Sachen zurechtzuzupfen. Der Prinz grinste frech, wartete aber geduldig, bis sie den Halsring so gedreht hatte, daß er auf dem Schlüsselbein lag. Seine lange, braune Haarmähne hatte sich zum größten Teil aus dem roten Tuch gelöst, das sie in einem lässigen Pferdeschwanz zusammengehalten hatte. Als Maegwin nach hinten griff, um es wieder festzubinden, standen sie Auge in Auge, obwohl Gwythinn gewiß kein kleiner Mann war. Maegwin machte ein finsteres Gesicht.

»Bei Bagbas Herde, Gwythinn, wie du wieder aussiehst! Du mußt dich endlich bessern. Eines Tages wirst du König sein!«

»Und was hat das Königsein mit meiner Haartracht zu tun? Außerdem sah ich durchaus schön aus, als ich loslief, aber ich mußte ja rennen wie der Wind selbst, um dich einzuholen – mit deinen langen Beinen.«

Maegwin wandte sich errötend ab. Ihre Größe war etwas, bei dem sie trotz aller Mühe nicht sachlich bleiben konnte.

»Jetzt hast du mich ja eingeholt. Willst du auch in die Halle?«

»Allerdings.« Ein strengerer Ausdruck huschte quecksilberschnell über Gwythinns Gesicht, und er zupfte an seinem langen Schnurrbart. »Ich habe etwas mit unserem Vater zu besprechen.«

»Ich auch«, nickte Maegwin bereits im Gehen. Die Schritte der beiden und ihre Körperlänge paßten so genau zusammen, das rotbraune Haar glich sich so, als wäre es auf demselben Rad gesponnen, daß jeder Außenstehende sie für Zwillinge gehalten hätte, obwohl Maegwin fünf Jahre älter war und eine andere Mutter gehabt hatte.

»Gestern abend ist Aeghonwye gestorben, unsere beste Zuchtsau. Wieder eine, Gwythinn! Was kann es nur sein? Eine Pest wie in Abaingeat?«

»Wenn es eine Pest ist«, erwiderte ihr Bruder grimmig und tastete nach dem mit Leder umwickelten Griff seines Schwertes, »dann weiß ich, wer sie zu uns gebracht hat. Dieser Mann ist eine wandelnde Seuche.« Er schlug auf den Schwertknauf und spuckte aus. »Ich bete nur, daß er heute einmal etwas Ungehöriges sagt. Brynioch! Wie gern würde ich mit dem Kerl die Klingen kreuzen!«

Maegwin bekam schmale Augen. »Sei kein Narr«, erklärte sie ärgerlich, »Guthwulf hat hundert Männer getötet. Und auch wenn es dir merkwürdig vorkommen mag, er ist Gast im Taig.«

»Ein Gast, der meinen Vater beleidigt!« knurrte Gwythinn und riß den Ellenbogen aus Maegwins sanftem Griff. »Ein Gast, der Drohungen von einem Hochkönig überbringt, dessen Reich unter seiner schlechten Regierung zugrunde geht – einem König, der herumstolziert und Leute einschüchtert und mit Goldmünzen um sich wirft wie mit Kieselsteinen – um dann von Hernystir zu verlangen, daß wir das bezahlen!« Gwythinns Stimme wurde lauter, und seine Schwester, besorgt, wer ihn vielleicht hören konnte, warf einen hastigen Blick in die Runde. Außer den bleichen Gestalten der Türhüter, gute hundert Schritte entfernt, war niemand zu sehen.

»Wo war König Elias, als wir die Straße nach Naarved und Elvritshalla verloren? Als Räuber – und die Götter wissen, was sonst noch – die Frostmarkstraße überfielen?« Mit aufs neue gerötetem Gesicht schaute der Prinz auf, nur um festzustellen, daß Maegwin nicht mehr neben ihm stand. Er drehte sich um und sah sie zehn Schritte hinter sich, wo sie mit gekreuzten Armen stehengeblieben war.

»Bist du fertig, Gwythinn?« fragte sie. Er nickte, aber seine Lippen waren fest zusammengepreßt. »Nun gut. Der Unterschied zwischen unserem Vater und dir, Bruder, beträgt mehr als nur dreißig und ein paar Jahre. Er hat gelernt, wann man reden und wann man seine Gedanken für sich behalten muß. Das ist der Grund, warum du eines Tages – dank ihm – König sein wirst und nicht bloß der Herzog von Hernystir.«

Gwythinn starrte sie eine lange Weile an. »Ich weiß«, erwiderte er endlich, »du möchtest, daß ich so bin wie Eolair und vor den erkynländischen Hunden Verbeugungen und Kratzfüße mache. Ich weiß, für dich ist Eolair Sonne und Mond – und es ist dir dabei ganz gleich, was er von dir hält, und wenn du zehnmal eine Königstochter bist –, aber so ein Mann will ich nicht sein. Wir sind Hernystiri! Wir kriechen vor niemandem!«

Maegwin musterte ihn giftig, getroffen von seiner spitzen Bemerkung über ihre Gefühle für den Grafen von Nad Mullagh – mit der Gwythinn im übrigen vollkommen richtig lag: Die Aufmerksamkeit, die Eolair ihr widmete, war nicht mehr als das, was der linkischen, ledigen Tochter eines Königs zustand. Aber die Tränen, die sie fürchtete, kamen nicht; statt dessen schaute sie Gwythinn an, dessen gutgeschnittene Züge von ohnmächtigem Haß, Stolz und nicht zuletzt aufrichtiger Liebe zu seinem Volk und Land verzerrt waren, und sie erblickte in ihm wieder den kleinen Bruder, den sie einst auf den Schultern getragen – und selbst von Zeit zu Zeit so geneckt hatte, daß er zu weinen anfing.

»Warum streiten wir uns, Gwythinn?« fragte sie müde. »Was hat diesen Schatten über unser Haus gebracht?«

Ihr Bruder senkte den Blick auf seine Stiefelspitzen und streckte ihr verlegen die Hand entgegen. »Freunde und Verbündete«, sagte er. »Komm, wir wollen hineingehen und mit Vater sprechen, bevor der Graf von Utanyeat sich einschleicht, um ihm sein wärmstes Lebewohl zu entbieten.«

Die Fenster der großen Halle des Taig standen weit offen; das hereinströmende Sonnenlicht war voll vom funkelnden Staub der auf dem Boden ausgestreuten Binsen. Die dicken Balken der Wand, aus den Eichbäumen des Circoille gehauen, fügten sich so exakt aneinander, daß kein Licht hindurchschimmerte. Oben unter den Dachbalken hingen tausend bemalte Schnitzereien von Göttern, Helden und Ungeheuern der Hernystiri. Sie drehten sich langsam zwischen den Dachsparren, und in ihren polierten Holzgesichtern spiegelte sich warm das Licht.

Am anderen Ende der Halle, in das von beiden Seiten Sonne fiel, saß auf seinem gewaltigen Eichenthron König Lluth-ubh-Llythinn unter dem geschnitzten Hirschkopf, der über die Rückenlehne ragte und an dessen hölzernem Schädel ein Geweih aus echtem Horn befestigt war. Der König aß mit einem Knochenlöffel eine Schale Haferbrei mit Honig. Neben ihm, auf einem niedrigeren Sessel, war seine junge Frau Inahwen damit beschäftigt, den Saum eines seiner Gewänder mit einer Ranke aus zierlichen Stichen zu schmücken.

Als die Wachtposten zweimal mit den Speerspitzen auf die Schilde schlugen, um Gwythinns Ankunft zu melden – der weniger hohe Adel wie etwa Graf Eolair bekam nur einen Schlag, der König selber drei und Maegwin gar keinen –, schaute Lluth auf und lächelte. Er stellte die Schale auf die Armlehne des Thrones und wischte sich mit dem Ärmel den grauen Schnurrbart ab. Inahwen sah die Bewegung und warf Maegwin einen verzweifelten Blick von Frau zu Frau zu, der Lluths Tochter nicht wenig ärgerte. Maegwin war nie recht darüber hinweggekommen, daß Gwythinns Mutter Fiathna den Platz Penemhwyes, ihrer eigenen Mutter, eingenommen hatte, die gestorben war, als Maegwin gerade vier Jahre zählte. Aber wenigstens war Fiathna in Lluths Alter gewesen, kein junges Mädchen wie Inahwen! Andererseits hatte die junge, goldhaarige Frau ein gutes Herz, wenn auch vielleicht nicht allzuviel Verstand. Und schließlich war es ganz und gar nicht Inahwens Schuld, daß sie eine dritte Gemahlin geworden war.

»Gwythinn!« Lluth erhob sich halb und strich die Krümel vom Schoß seines gegürteten gelben Gewandes. »Haben wir nicht Glück, daß die Sonne heute scheint?« Der König schwenkte die Hand zum Fenster, vergnügt wie ein Kind, das ein kleines Kunststück gelernt hat. »Es steht fest, daß wir ein bißchen Sonne brauchen, wie? Und vielleicht hilft sie uns, unsere Gäste aus Erkynland«, er verzog das Gesicht und seine klugen, beweglichen Züge nahmen einen verwirrten Ausdruck an, und über der dicken, schiefen, in seiner Knabenzeit gebrochenen Nase zogen sich die Brauen zusammen, »in eine zugänglichere Stimmung zu versetzen. Glaubst du nicht auch?«

»Nein, das glaube ich nicht, Vater«, erwiderte Gwythinn und trat näher, während der König sich wieder in seinem hirschgeweihgekrönten Thron zurücksetzte. »Und ich hoffe, die Antwort, die Ihr ihnen heute gebt – mit Verlaub –, schickt sie in noch üblerer Laune nach Hause.« Er zog sich einen Schemel heran und setzte sich gleich unterhalb des erhöhten Podestes zu Füßen seines Vaters. Ein Harfner beeilte sich, ihm Platz zu machen. »Gestern abend hat einer von Guthwulfs Soldaten Streit mit dem alten Craobhan angefangen. Ich hatte große Mühe, Craobhan daran zu hindern, dem Bastard mit einem Pfeil den Rücken zu federn.«

Sekundenlang machte Lluth ein sorgenvolles Gesicht, dann verschwand dieser Ausdruck unter der lächelnden Maske, die Maegwin so gut kannte.

Ach, Vater, dachte sie, selbst du findest es wohl ein wenig mühsam, die Musik weiterspielen zu lassen, während diese Köter im ganzen Taig herumkläffen.

Sie kam wortlos näher und setzte sich neben Gwythinns Schemel auf das Podest.

»Nun ja«, grinste der König ein wenig mißmutig, »fest steht, daß König Elias seine Botschafter etwas sorgfältiger hätte auswählen können. Aber in einer Stunde werden sie fort sein, und es wird wieder Friede in Hernysadharc einkehren.« Lluth schnalzte mit den Fingern, und ein Page sprang vor, um ihm seine Haferbreischale abzunehmen. Inahwen sah kritisch zu, wie sie vorbeigetragen wurde.

»Aha«, meinte sie vorwurfsvoll. »Schon wieder nicht aufgegessen. Was soll ich mit eurem Vater anfangen?« fügte sie hinzu und blickte dabei Maegwin an, wobei sie sie liebevoll anlächelte, als wäre auch Maegwin ein Soldat in der ständigen Schlacht um Lluth, der seinen Teller nicht leer aß.

Maegwin, die immer noch nicht wußte, wie sie mit einer Mutter umgehen sollte, die ein Jahr jünger war als sie selber, brach rasch das Schweigen. »Aeghonwye ist gestorben, Vater. Unsere beste Sau, und die zehnte Sau in diesem Monat. Und einige von den anderen sind sehr dünn geworden.«

Der König runzelte die Stirn. »Dieses verfluchte Wetter. Wenn Elias wenigstens die Frühlingssonne am Himmel halten könnte – ich zahlte ihm jede Steuer, die er verlangte.« Er streckte die Hand aus, um Maegwins Arm zu tätscheln, kam aber nicht ganz so weit hinunter. »Alles, was wir tun können, ist, die Binsen in den Ställen höher zu schichten, damit die Kälte nicht so eindringt. Wenn das versagt, stehen wir in Bryniochs und Mirchas göttlichen Händen.«

Wieder krachte metallisch Speer auf Schild, und der Sprecher der Türsteher erschien mit nervös gerungenen Händen.

»Hoheit«, rief er, »der Graf von Utanyeat ersucht um Gehör.«

Lluth lächelte. »Unsere Gäste möchten sich verabschieden, bevor sie zu Pferd steigen. Natürlich! Bitte führt Graf Guthwulf sofort herein.«

Aber der Gast, gefolgt von mehreren seiner gepanzerten, wenn auch schwertlosen Männer, drängte sich bereits an dem alten Diener vorbei.

Fünf Schritte vor dem Hochsitz sank Guthwulf langsam auf ein Knie. »Eure Majestät … ah, und auch der Prinz. Ich habe Glück.« Es lag kein spöttischer Unterton in seiner Stimme, aber in den grünen Augen glitzerte ein nur schlecht verborgenes Feuer. »Und Prinzessin Maegwin«, – ein Lächeln –, »die Rose von Hernysadharc.«

Maegwin bewahrte mühsam Haltung. »Graf, es gab nur eine Rose von Hernysadharc«, erklärte sie, »und da sie die Mutter Eures Königs Elias war, wundere ich mich, daß dies Euch entfallen zu sein scheint.«

Guthwulf nickte ernsthaft. »Gewiß, Herrin. Ich wollte Euch nur eine Artigkeit sagen; doch muß ich meinerseits beanstanden, daß Ihr Elias meinen König nennt. Ist er nicht unter dem Schutz des Königsfriedens auch der Eure?«

Gwythinn rutschte unruhig auf seinem Schemel hin und her und drehte sich um, weil er sehen wollte, wie sein Vater darauf antworten würde. Seine Schwertscheide scharrte über das Holzpodest.

»Natürlich, natürlich.« Lluth machte eine langsame Handbewegung, wie jemand, der tief unter Wasser steht. »Das haben wir ja alles schon erörtert, und ich sehe keine Veranlassung, von neuem damit zu beginnen. Ich erkenne die Schuld meines Hauses König Johan gegenüber an. Wir haben diese Pflicht stets erfüllt, im Frieden wie im Krieg.«

»Ja.« Der Graf von Utanyeat stand auf und klopfte sich die Knie seiner Hosen ab. »Aber wie verhält es sich mit dem, was Euer Haus König Elias schuldet? Er hat große Langmut bewiesen…«

Inahwen erhob sich, und das Gewand, an dem sie genäht hatte, glitt zu Boden. »Ihr müßt mich entschuldigen«, erklärte sie atemlos und hob es auf. »Ich muß mich um Haushaltsangelegenheiten kümmern.« Der König nickte ihr Gewährung zu, und sie schritt schnell, aber achtsam zwischen den wartenden Männern hindurch und schlüpfte anmutig wie ein Reh aus der halb geöffneten Tür der Halle.

Lluth stieß einen stillen Seufzer aus; Maegwin betrachtete ihn und sah, was sie jedesmal wieder erstaunte: die Alterslinien, die das Gesicht ihres Vaters überzogen.

Er ist müde, und sie, Inahwen, hat Angst, dachte die Prinzessin. Und was ist mit mir? Bin ich zornig? Ich weiß es gar nicht genau – eigentlich bin ich wohl eher erschöpft.

Der König starrte Elias' Boten an, und der Raum schien sich zu verdunkeln. Einen Augenblick fürchtete Maegwin, Wolken hätten sich über die Sonne geschoben, und der Winter kehre zurück; dann aber verstand sie, daß es nur ihre eigenen trüben Ahnungen waren, das jähe Gefühl, daß es hier um weit mehr ging als nur um ihres Vaters Seelenfrieden.

»Guthwulf«, begann der König, und seine Stimme klang wie von großer Last beschwert, »glaubt nicht, daß Ihr mich heute zum Zorn reizen könnt … doch denkt auch nicht, Ihr könntet mich einschüchtern. König Elias hat bisher keinerlei Verständnis für die Sorgen der Hernystiri gezeigt. Wir haben eine schlimme Trockenzeit hinter uns, und der Regen, für den wir allen Göttern tausendfach Dank gesagt haben, hat sich in einen Fluch verwandelt. Welche Strafe kann Elias mir androhen, die schlimmer ist, als zusehen zu müssen, wie mein Volk in Angst lebt, daß unser Vieh verhungert? Ich kann keinen höheren Zehnten bezahlen.«

Einen Moment stand der Graf von Utanyeat stumm, und die Ausdruckslosigkeit seiner Züge verhärtete sich langsam zu etwas, das für Maegwin beunruhigend nach Jubel aussah.

»Keine schlimmere Strafe?« sagte der Graf und ließ jedes Wort auf der Zunge zergehen, als schmecke es süß. »Kein höherer Zehnt?« Er spie einen Schwall Citrilsaft auf den Boden vor dem Thron. Mehrere von Lluths Kriegern schrien vor Empörung laut auf; der Harfner, der in der Ecke leise vor sich hingespielt hatte, ließ mit mißtönendem Krachen sein Instrument fallen.

»Hund!« Gwythinn sprang auf. Sein Schemel fiel klappernd um. In einer blitzschnellen Sekunde war sein Schwert gezogen und lag an Guthwulfs Hals. Der Graf schaute ihn nur an, das Kinn ganz leicht zurückgeworfen.

»Gwythinn!« rief Lluth scharf. »In die Scheide mit dem Schwert, verdammter Junge!«

Guthwulfs Lippen kräuselten sich. »Laßt ihn doch. Los, Welpe, töte die unbewaffnete Hand des Hochkönigs!« An der Tür entstand ein Klirren, als einige Männer des Herzogs, die sich von ihrer Verblüffung erholt hatten, näherkamen. Guthwulfs Hand fuhr in die Höhe. »Nein! Selbst wenn dieser Welpe mir die Luftröhre von Ohr zu Ohr durchschneidet, soll niemand ihn anfassen! Reitet zurück nach Erkynland. König Elias wird … großen Anteil nehmen.«

Seine Männer verharrten wie gepanzerte Vogelscheuchen. »Zurück, Gwythinn«, befahl Lluth, kalten Zorn in der Stimme. Der Prinz, feuerrot im Gesicht, warf dem Erkynländer einen langen Blick zu, dann ließ er die Klinge wieder an seine Seite sinken. Guthwulf strich mit dem Finger über den winzigen Schnitt an seiner Kehle und betrachtete kühl sein eigenes Blut. Maegwin merkte, daß sie den Atem angehalten hatte; beim Anblick des purpurroten Flecks auf der Fingerspitze des Grafen stieß sie ihn pfeifend aus.

»Ihr werdet am Leben bleiben, um Elias persönlich Bericht zu erstatten, Utanyeat.« Nur der Hauch eines Zitterns trübte die Gelassenheit der königlichen Stimme. »Und Vergeßt nicht, ihm auch von der tödlichen Beleidigung zu erzählen, die Ihr dem Hause Hern zugefügt habt, einer Beleidigung, die Euren Tod bedeutet hätte, wäret Ihr nicht Elias' Gesandter und die Hand des Königs. Geht jetzt!«

Guthwulf drehte sich um und trat zu seinen Männern, die mit aufgerissenen, wilden Augen dastanden. Als er sie erreicht hatte, machte er auf dem Absatz kehrt und sah Lluth über die weite Fläche der großen Halle an.

»Erinnert Euch, daß Ihr keinen höheren Zehnten zu zahlen bereit wart, wenn Ihr eines Tages Feuer in den Balken des Taig und das Weinen Eurer Kinder hört.« Dann stapfte er mit schweren Schritten zur Tür hinaus.

Maegwin bückte sich mit zitternden Händen und hob ein Stück der zerschmetterten Harfe auf. Die gerollte Saite wand sie sich um die Hand. Sie hob den Kopf, um Vater und Bruder anzuschauen; was sie sah, veranlaßte sie, sich wieder dem Holzstück und der Saite zuzuwenden, die sich straff über ihre weiße Haut spannte.


Tiamak hauchte einen leisen Fluch der Wranna-Männer und musterte betrübt den leeren Schilfkäfig. Es war seine dritte Falle, und bisher hatte noch in keiner ein Krebs gesessen. Die Fischkopfköder waren natürlich spurlos verschwunden. Finster starrte er in das schlammige Wasser und hatte plötzlich das unheimliche Gefühl, daß die Krebse einfach schlauer waren als er – vielleicht jetzt schon darauf warteten, daß er den Käfig, mit einem neuen glotzäugigen Kopf verproviantiert, wieder in Wasser versenkte. Er konnte sich ausmalen, wie ein ganzer Krebsstamm mit allen Anzeichen des Jubels herbeieilte, um den Köder mit einem Stock oder irgendeinem anderen Werkzeug, das eine wohlwollende Krustentiergottheit dem Krabbenvolk seit neuestem verliehen hatte, zwischen den Gitterstäben herauszustochern.

Ob ihn die Krebse wohl als weichschaligen Futter-Engel verehrten, fragte er sich, oder ob sie mit der kaltschnäuzigen Gleichgültigkeit einer Bande von Tunichtguten zu ihm aufsahen, die den Grad der Betrunkenheit eines Säufers prüften, bevor sie ihn um seine Börse erleichterten?

Er war überzeugt, daß letzteres der Fall war. Er setzte einen neuen Köder in den sorgfältig geflochtenen Käfig und ließ ihn mit leisem Seufzer ins Wasser zurückplumpsen. Im Sinken rollte er das Seil hinter sich ab.

Die Sonne schlüpfte gerade hinter den Horizont und tünchte den weiten Himmel über der Marsch mit orange- und pflaumenfarbigen Tönen. Tiamak stakte seinen flachen Kahn über die Wasserwege von Wran – stellenweise nur durch die geringere Höhe des Pflanzenwuchses vom Land zu unterscheiden – und hatte das unangenehme Gefühl, das Pech des heutigen Tages sei nur der Beginn einer immer größer werdenden Welle. Heute morgen hatte er schon seine beste Schüssel zerbrochen, die er damit bezahlt hatte, daß er Roahog dem Töpfer zwei Tage lang die Liste seiner Ahnen aufschrieb; am Nachmittag hatte er eine Federspitze zerdrückt und einen großen Klecks aus Beerensafttinte über sein Manuskript gespritzt: eine fast vollgeschriebene Seite war ruiniert. Und wenn jetzt die Krebse nicht beschlossen hatten, auf dem engen Raum seiner letzten Falle irgendein Fest abzuhalten, würde es heute abend auch noch ziemlich wenig zu essen geben. Er hatte die Wurzelsuppen und Reiskekse langsam ungemein satt!

Als er sich lautlos dem letzten Schwimmer näherte, einem kugelförmigen Gittergeflecht aus Schilf, richtete er ein unausgesprochenes Gebet an Ihnder-stets-auf-Sand-tritt, daß gerade jetzt die kleinen Grundläufer sich unten im Käfig drängeln und stoßen sollten. Wegen seiner ungewöhnlichen Erziehung, zu der ein Jahr Aufenthalt in Perdruin gezählt hatte – unerhört für einen Wranna-Mann –, glaubte Tiamak eigentlich nicht mehr an Ihn-derstets-auf-Sand-tritt, brachte ihm aber trotzdem eine gewisse Anhänglichkeit entgegen, so wie man sie für einen verkalkten Großvater empfindet, der öfter vom Haus herunterfällt, einem früher aber Nüsse und geschnitztes Spielzeug geschenkt hat. Außerdem schadete ein Gebet nie, auch dann nicht, wenn man nicht an seinen Empfänger glaubte. Es beruhigte und machte zudem Eindruck auf andere Leute.

Langsam hob sich die Falle, und einen Augenblick schlug Tiamaks Herz schneller in seiner schmalen Brust, als wolle es die erwartungsvollen Geräusche seines Magens übertönen. Aber das Gefühl von Widerstand war nur von kurzer Dauer; wahrscheinlich hatte eine Schlingwurzel den Käfig festgehalten und war nun abgerutscht, so daß er plötzlich nach oben hüpfte und auf der wolkigen Wasseroberfläche tanzte. Etwas bewegte sich doch darin; Tiamak hob den Käfig auf und hielt ihn mit zusammengekniffenen Augen zwischen sich und den grellen Sonnenuntergangshimmel. Zwei winzige Fühlerspitzenaugen glotzten zurück, Augen, die über einem Krebs schwankten, der in seiner Handfläche verschwinden würde, wenn der Wranna-Mann die Finger darüber schloß.

Tiamak schnaubte. Er konnte sich vorstellen, was da geschehen war. Die älteren, wüsteren Krebsbrüder hatten den Kleinen so lange geärgert, bis er die Falle in Angriff nahm; das Junge, einmal gefangen, weinte, während die rohen Brüder lachten und die Scheren schwenkten. Dann Tiamaks riesiger Schatten, der Käfig jäh nach oben gezerrt, die einander betreten anstarrenden Krebsbrüder, die sich fragten, wie sie ihrer Mutter erklären sollten, daß Brüderchen nicht mehr da war.

Andererseits, dachte Tiamak unter Berücksichtigung des hohlen Gefühls in seiner Mitte, wenn das nun einmal alles war, was er heute vorweisen konnte – der Fang war zwar klein, aber in der Suppe würde er sich nett machen.

Wieder schielte er in den Käfig, kippte ihn um und schüttelte den Gefangenen auf seine Handfläche. Warum sich selbst etwas vormachen? Es war ein Tag, um auf Sandbänken aufzulaufen, und damit hatte es sich.

Das Krebslein machte ein platschendes Geräusch, als Tiamak es wieder ins Wasser fallen ließ. Er machte sich nicht die Mühe, die Falle neu zu versenken.

Als er die lange Leiter von seinem vertäuten Boot zu dem kleinen Häuschen oben im Banyanbaum hinaufstieg, schwor sich Tiamak, mit Suppe und einem Keks zufrieden zu sein. Er erinnerte sich selber daran, daß Völlerei eines der Hindernisse war, die die Seele von den Gefilden der Wahrheit trennten. Schwankend erreichte er mit Hilfe der Leiter die Veranda vor dem Haus und dachte dabei an Sie-die-die-Menschheit-gebar, die nicht einmal eine schöne Schale Wurzelsuppe gehabt, sondern sich einzig und allein von Steinen, Erde und Sumpfwasser ernährt hatte, bis sie sich in ihrem Magen vereinten und sie einen Wurf Lehmwesen zur Welt brachte – die ersten Menschen.

Also, das machte Wurzelsuppe zu einem wirklichen Genuß, oder nicht? Außerdem hatte Tiamak ohnehin noch viel zu tun, zum Beispiel die Manuskriptseite mit dem Fleck auszubessern oder neu zu schreiben. Bei seinen Stammesgenossen galt er lediglich als sonderbar, aber irgendwo auf der Welt mußte es Menschen geben, die den von ihm überarbeiteten Text von Die unfelbarn Heylmittel der Wranna-Heyler lesen und erkennen würden, daß es auch in den Marschen wahrhaft gelehrte Köpfe gab. Aber ach! ein Krebs wäre wirklich willkommen gewesen – und ein Krug Farnbier nicht minder.

Als Tiamak seine Hände in der Wasserschüssel wusch, die er hinausgestellt hatte, als er fortgegangen war – hockend, weil zwischen seinem fanatisch gescheuerten und polierten Schreibbrett und dem Wasserkrug kein Platz zum Sitzen war –, hörte er auf dem Dach ein kratzendes Geräusch. Er trocknete sich die Hände an seinem Hüfttuch und lauschte gespannt. Da war es wieder, ein trockenes Rascheln, als riebe jemand Tiamaks zerbrochene Schreibfeder über das Schilfdach.

Es dauerte nur eine Sekunde, bis er aus dem Fenster geschlüpft und Hand über Hand auf das schräge Dach geklettert war. Er packte einen der langen, gekrümmten Äste des Banyan und stieg ganz nach oben, wo auf dem Dachgiebel ein kleiner, mit Baumrinde gedeckter Kasten saß, ein Häuschen-Kind auf dem Rücken der Haus-Mutter. Tiamak steckte den Kopf in das offene Ende des Kastens.

Und tatsächlich, da war er, ein grauer Sperling, der munter die auf den Boden gestreuten Körner aufpickte. Tiamak streckte eine sanfte Hand aus und griff nach ihm. Dann kletterte er, so vorsichtig er konnte, wieder vom Dach hinunter und glitt zum Fenster hinein.

Er setzte den Sperling in den Krabbenkäfig, den er für solche Anlässe am Dachbalken aufgehängt hatte, und zündete rasch ein Feuer an. Als auf dem steinernen Herd die Flammen zu züngeln begannen, holte er den Vogel aus dem Käfig. Seine Augen brannten, als der Rauch sich zum Deckenloch emporkräuselte.

Der Sperling hatte ein paar Schwanzfedern verloren und hielt einen Flügel leicht abgespreizt, als hätte er auf dem Weg von Erkynland herunter ein paar Abenteuer zu bestehen gehabt. Tiamak wußte, daß er aus Erkynland kam, weil es der einzige Sperling war, den er je aufgezogen hatte. Seine anderen Vögel waren Marschtauben, aber aus irgendeinem Grund hatte Morgenes auf Sperlingen bestanden – er war eben ein komischer alter Kauz.

Nachdem er einen Topf Wasser aufs Feuer gesetzt hatte, tat Tiamak sein Bestes für den steifen Silberflügel und stellte dann dem Vogel weitere Körner und eine hohlgewölbte Baumrinde mit Wasser hin. Er war in Versuchung, mit dem Lesen der Botschaft so lange zu warten, bis er gegessen hatte, um den Genuß der Neuigkeiten aus weiter Ferne so lange wie möglich vor sich zu haben, aber an einem Tag wie dem heutigen wäre soviel Geduld zuviel verlangt gewesen. Er zerstampfte ein wenig Reismehl im Mörser, fügte etwas Pfeffer und Wasser hinzu, rollte die Mischung aus und formte sie zu einem Kuchen, den er zum Backen auf den Feuerstein legte.

Der um das Sperlingsbein gewickelte Pergamentstreifen war an den Enden ausgefranst und die Druckschrift verschmiert, als wäre der Vogel mehr als nur etwas naß geworden. Aber Tiamak war derlei gewöhnt und hatte den Inhalt schnell entziffert. Die Angabe des Schreibdatums überraschte ihn: Der graue Sperling hatte fast einen Monat für die Reise nach Wran gebraucht. Aber noch mehr überraschte ihn die Botschaft selbst, und es war nicht die Art Überraschung, auf die er gehofft hatte.

Mit dem Gefühl eines kalten Gewichtes im Magen, das jeden Hunger verdrängte, trat er ans Fenster und schaute durch das Astgewirr des Banyanbaumes zu den schnell erblühenden Sternen hinauf. Er starrte zum nördlichen Himmel und glaubte sekundenlang fast, den messerscharf kalten Wind zu spüren, der in die warme Luft von Wran einen eisigen Keil trieb. Lange stand er so am Fenster, bis er den Geruch seines verbrennenden Abendessens gewahrte.


Graf Eolair lehnte sich in seinem üppig gepolsterten Sessel zurück und blickte zu der hohen Decke auf. Sie war mit frommen Gemälden bedeckt, pedantisch genauen Wiedergaben von Usires, wie er die Wäscherin heilte, Sutrins Martyrium in der Arena von Imperator Crexis und ähnlichen Themen. Die Farben schienen ein wenig verblaßt, und viele der Bilder waren vom Staub wie von feinen Schleiern verhüllt. Trotzdem boten sie einen eindrucksvollen Anblick, auch wenn es sich nur um eines der kleineren Vorzimmer der Sancellanischen Ädonitis handelte.

Ein Millionengewicht von Sandstein, Marmor und Gold, dachte Eolair, und alles als Denkmal für etwas, das niemand je gesehen hat.

Eine unwillkommene Woge von Heimweh überflutete ihn, wie schon mehrfach in dieser letzten Woche. Was hätte er nicht darum gegeben, wieder in seiner bescheidenen Halle in Nad Mullagh zu sitzen, umgeben von Nichten und Neffen und den kleinen Denkmälern seines eigenen Volkes, seiner eigenen Götter, oder im Taig von Hernysadharc, wo immer ein Stück seines geheimen Herzens zurückblieb, anstatt hier, wo ihn der landverschlingende Stein Nabbans erdrückte! Doch der Wind roch nach Krieg, und er konnte sich nicht irgendwohin zurückziehen, wenn sein König ihn um Hilfe bat. Aber er war des Reisens müde. Das Gras von Hernystir unter den Hufen seines Rosses würde ein wunderbares Gefühl sein.

»Graf Eolair! Vergebt mir, ich bitte Euch, daß Ihr warten mußtet.« Vater Dinivan, der junge Sekretär des Lektors, stand in der Tür am anderen Ende des Zimmers und wischte sich an seinem schwarzen Gewand die Hände ab. »Heute war jetzt bereits ein voller Tag, und wir sind noch nicht einmal am Ende des Vormittages angelangt. Trotzdem«, er lachte, »ist das eine recht magere Entschuldigung. Bitte kommt mit in meine Wohnung!«

Eolair folgte ihm aus dem Vorzimmer hinaus. Seine Stiefel verursachten auf den dicken Teppichen kein Geräusch.


»Da wären wir«, meinte Dinivan grinsend und wärmte sich die Hände am Feuer, »ist das besser? Es ist ein Skandal, aber wir können das größte Haus des Herrn nicht warm kriegen. Die Decken sind zu hoch, zumal in einem so kalten Frühjahr!«

Der Graf lächelte. »Um die Wahrheit zu sagen, ist es mir kaum aufgefallen. In Hernystir schlafen wir bis auf die allerschlimmsten Winter bei offenem Fenster. Wir sind ein Volk, das im Freien lebt.«

Dinivan wackelte mit den Augenbrauen. »Und wir in Nabban sind verweichlichte Südländer, wie?«

»Das habe ich nicht gesagt!« Eolair lachte. »Eines seid ihr Südländer jedenfalls – Meister der schlauen Rede.«

Dinivan nahm auf einem Stuhl mit ungepolsterter Lehne Platz.

»Ah, aber Seine Heiligkeit der Lektor – der, wie Ihr wißt, ursprünglich ein Erkynländer ist – kann uns im Reden allen etwas vormachen. Er ist ein weiser und einfühlsamer Mann.«

»Das weiß ich. Und er ist es, über den ich mit Euch sprechen möchte, Vater.«

»Nennt mich Dinivan, bitte. Ach, das ist immer das Los der Sekretäre großer Männer – niemand sucht sie um ihrer selbst willen auf, immer nur wegen ihrer Nähe zu anderen.« Er machte ein scheinbar niedergeschlagenes Gesicht.

Eolair stellte fest, daß ihm dieser Priester sehr sympathisch war. »Das ist in der Tat Euer Verhängnis, Dinivan. Jetzt, bitte, hört mich an. Ich vermute, Ihr wißt, weshalb mein König mich hierhergeschickt hat?«

»Ich müßte in der Tat ein Tölpel sein, wenn ich es nicht wüßte. Wir leben in Zeiten, die Zungen wedeln lassen wie die Schweife aufgeregter Hunde. Lluth wendet sich an Leobardis, um mit ihm gemeinschaftlich vorzugehen.«

»So ist es.« Eolair trat vom Feuer weg, um sich einen Stuhl zu Dinivan heranzuziehen. »Es ist ein empfindliches Gleichgewicht: mein König, Euer Lektor Ranessin, Elias der Hochkönig, Herzog Leobardis …«

»Und Prinz Josua, wenn er noch lebt«, sagte Dinivan, und sein Gesicht war sorgenvoll. »Ja, fürwahr ein höchst empfindliches Gleichgewicht. Und Ihr wißt, daß der Lektor nichts tun kann, um es zu erschüttern.«

Eolair nickte langsam. »Das weiß ich.«

»Warum also seid Ihr zu mir gekommen?« erkundigte sich Dinivan freundlich.

»Ich bin mir nicht ganz sicher. Doch eines möchte ich Euch sagen: Es hat den Anschein, als braue sich lediglich irgendein Streit zusammen, wie es oft vorkommt; aber ich meinerseits fürchte, daß es tiefer geht als das. Ihr mögt mich für verrückt halten, aber ich ahne, daß ein Zeitalter zu Ende geht, und ich habe Angst vor dem, was das Kommende bringt.«

Der Sekretär des Lektors starrte ihn an. Einen Augenblick sahen seine schlichten Züge viel älter aus, als grüble er über Sorgen, die er lange mit sich herumgetragen hätte.

»Ich will Euch gestehen, daß ich Eure Befürchtungen teile, Graf Eolair«, erwiderte er endlich. »Doch kann ich nicht für den Lektor sprechen, nur wiederholen, was ich vorhin sagte: Er ist ein weiser und einfühlsamer Mann.« Er strich über den Baum auf seiner Brust. »Um aber Euer Herz zu erleichtern, kann ich noch dieses hinzufügen: Herzog Leobardis hat noch keinen Entschluß gefaßt, wem er seine Unterstützung gewähren will. Obwohl der Hochkönig ihm abwechselnd schmeichelt und droht, leistet Leobardis ihm Widerstand.«

»Nun, das ist doch keine schlechte Nachricht«, meinte Eolair und lächelte vorsichtig. »Als ich dem Herzog heute morgen begegnete, hielt er sehr auf Abstand, als fürchte er, man könne sehen, wie er mir zu aufmerksam zuhörte.«

»Er muß vieles abwägen, ganz wie mein Gebieter auch«, erwiderte Dinivan. »Aber ich will Euch noch etwas verraten – und das ist absolut vertraulich. Heute morgen habe ich Baron Devasalles zu Lektor Ranessin geführt. Der Baron steht im Begriff, zu einer Gesandtschaft aufzubrechen, die sowohl für Leobardis als auch für meinen Herrn sehr viel bedeutet und viel mit der Entscheidung zu tun hat, in welche Waagschale Nabban bei einem Konflikt seine Macht werfen wird. Mehr als das kann ich nicht sagen, aber ich hoffe, daß es Euch ein wenig weiterhilft.«

»Mehr als nur ein wenig«, antwortete Eolair. »Ich danke Euch für Euer Vertrauen, Dinivan.«

Irgendwo in der Sancellanischen Ädonitis läutete tief und dunkel eine Glocke.

»Die Claveïsche Glocke ruft die Mittagsstunde«, erklärte Vater Dinivan. »Kommt, wir wollen etwas zu essen und einen Krug Bier finden und über angenehmere Dinge reden.« Ein Lächeln huschte über seine Züge und machte ihn wieder jung. »Wißt Ihr, daß ich einmal durch Hernystir gereist bin? Euer Land ist schön, Eolair.«

»Obwohl es ihm ein wenig an Steinbauten fehlt«, entgegnete der Graf und klopfte an die Wand von Dinivans Zimmer.

»Und das ist einer seiner Reize«, lachte der Priester und geleitete ihn zur Tür hinaus.


Der Bart des alten Mannes war weiß und so lang, daß er ihn beim Gehen in den Gürtel steckte – was er bis zum heutigen Morgen nun schon mehrere Tage getan hatte. Sein Haar war nicht dunkler als der Bart. Selbst seine Kapuzenjacke und die Beinlinge bestanden aus dem dicken Pelz eines weißen Wolfes. Die Haut des Tieres war sorgfältig abgezogen worden; seine Vorderpfoten kreuzten sich über der Brust des Mannes, und der kiefernlose, auf eine Eisenhaube genagelte Kopf saß auf seiner Stirn. Ohne die roten Kristallsplitter in den leeren Augenhöhlen des Wolfes und die grimmigen blauen Augen des Mannes darunter wäre auch er nur ein weiterer weißer Fleck im verschneiten Forst zwischen dem Drorshullsee und den Bergen gewesen.

Das Stöhnen des Windes in den Wipfeln wurde stärker, und von den Ästen der hohen Kiefer, unter der der Mann kauerte, fiel eine Schneewehe auf ihn herab. Er schüttelte sich ungeduldig wie ein Tier, und dünner Nebel bildete sich um ihn herum, in dem sich sekundenlang das matte Licht der Sonne in einem Dunst winziger Regenbogen brach. Der Wind sang weiter sein klagendes Lied, und der alte Mann in Weiß griff neben sich und faßte nach etwas, das auf den ersten Blick wie ein weiterer Klumpen Weiß aussah – ein schneebedeckter Stein oder Baumstumpf. Er hielt es in die Höhe, wischte das pudrige Weiß von Oberteil und Seiten und hob dann die Tuchdecke gerade so hoch, daß er hineinspähen konnte.

Er flüsterte etwas in die Öffnung und wartete. Dann runzelte er kurz die Brauen, als sei er verärgert oder beunruhigt. Er setzte den Gegenstand wieder hin, stand auf und schnallte den Gürtel aus gebleichtem Rentierleder ab. Vom mageren, wettergehärteten Gesicht schob er die Kapuze zurück und zog dann den Wolfspelzmantel aus. Das ärmellose Hemd, das er darunter trug, war von der Farbe der Jacke, die Haut der sehnigen Arme kaum dunkler; aber auf dem rechten Handgelenk, gerade oberhalb des Fausthandschuhs aus Fell, war in grellen Farben der Kopf einer Schlange zu sehen, in Blau und Schwarz und Blutrot auf die Haut gezeichnet. Der Schlangenkörper ringelte sich spiralförmig den Arm des Alten hinauf, verschwand an der Schulter unter dem Hemd und kam in geschmeidigen Windungen auf dem linken Arm wieder zum Vorschein, um am linken Handgelenk in einem verschnörkelten Schwanz zu enden. Die leuchtendbunten Farben hoben sich scharf von dem eintönigen Winterwald und der weißen Kleidung und Haut des Mannes ab; aus kurzer Entfernung sah es aus, als kämpfe eine Flügelschlange, in der Luft in zwei Teile zerhackt, zwei Ellen über der Erde ihren Todeskampf.

Der alte Mann achtete nicht auf die Gänsehaut auf seinen Armen, bis er seine Jacke über das Bündel gezogen und die losen Falten darunter gesteckt hatte. Dann nahm er aus einem Beutel in seinem Unterhemd ein ledernes Säckchen, drückte einen Strang gelbes Fett heraus und rieb es rasch über seine entblößte Haut, wodurch die Schlange zu glänzen anfing, als sei sie gerade eben einem feuchten südlichen Dschungel entsprungen. Als er fertig war, hockte er sich von neuem wartend auf die Fersen. Er war hungrig, aber er hatte am Vorabend seinen letzten Reiseproviant verzehrt. Doch darauf kam es nicht an, denn die, auf die er wartete, würden sich bald einfinden, und dann würde es auch zu essen geben.

Mit gesenktem Kinn, die Kobaltaugen schwelend unter eisigen Brauen, beobachtete Jarnauga die Wege nach Süden. Er war ein alter, ein uralter Mann, und die Unbilden der Zeit und des Wetters hatten ihn abgehärtet und hager gemacht. In gewisser Weise freute er sich auf die Stunde, die nicht mehr fern war, wenn der Tod ihn rufen und in seine dunkle, stille Halle holen würde. Schweigen und Einsamkeit waren ohne Schrecken für ihn, sie waren Kette und Schuß im Gewebe seines langen Lebens gewesen. Er wollte nur die Aufgabe zu Ende bringen, die man ihm anvertraut hatte, eine Fackel weitergeben, die anderen in der Dunkelheit, die vor ihnen lag, leuchten könnte; dann würde er Leben und Körper so leicht abschütteln wie jetzt den Schnee, der auf seinen nackten Schultern lag.

Er dachte an die feierlichen Hallen, die an der letzten Biegung seines Weges auf ihn warteten, und sein geliebtes Tungoldyr fiel ihm ein, das er vor vierzehn Tagen verlassen hatte. Als er am letzten Tag auf seiner Türschwelle gestanden hatte, lag die kleine Stadt, in der er den größten Teil seiner neunzig Jahre verbracht hatte, so leer vor ihm wie das sagenhafte Huelheim, das nach getaner Arbeit auf ihn wartete. Schon vor Monaten hatten alle anderen Einwohner von Tungoldyr die Flucht ergriffen; nur Jarnauga war in dem Dorf zurückgeblieben, das den Namen Mondtür trug, hoch oben im hohen Himilfjällgebirge, doch immer noch überschattet vom fernen Sturmrspeik – der Sturmspitze. Der Winter war zu einer Kälte erstarrt, die selbst die Rimmersmänner von Tungoldyr noch nie erlebt hatten, und die nächtlichen Lieder des Windes hatten sich in etwas verwandelt, das wie Heulen und Weinen klang, bis Männer wahnsinnig und am Morgen lachend inmitten ihrer toten Familien aufgefunden wurden.

Nur Jarnauga war in seinem kleinen Haus zurückgeblieben, als die Eisnebel in den Bergpässen und den engen Gassen des Ortes dick wie Wolle geworden waren und die schrägen Dächer von Tungoldyr in den Wolken zu schwimmen begannen wie die Schiffe gespenstischer Krieger. Niemand außer Jarnauga war Zeuge gewesen, wie die flackernden Lichter der Sturmspitze immer heller und heller brannten, hatte den Klang einer ungeheuren, rauhen Musik gehört, die im Rollen des Donners an- und abschwoll und über die Berge und Täler dieser nördlichsten Provinz von Rimmersgard tönte.

Jetzt aber hatte auch er – denn gewisse Zeichen und Botschaften hatten ihm verkündet, daß seine Zeit endlich gekommen war – Tungoldyr der schleichenden Finsternis und Kälte überlassen. Jarnauga wußte, daß er, was immer auch geschehen mochte, die Sonne auf den Holzhäusern niemals wiedersehen, dem Singen der Bergbäche, die an seiner Haustür vorbei zum schwellenden Gratuvask hinabplätscherten, nie mehr lauschen würde. Nie wieder würde er in den klaren, dunklen Frühlingsnächten auf seiner Veranda stehen und die Lichter im Himmel anschauen, die schimmernden Nordlichter, die seit seiner Jugend dort geleuchtet hatten – nicht die unruhigen, üblen Flammen, die jetzt das finstere Antlitz der Sturmspitze umspielten. Das alles war nun vorbei! Sein Weg lag klar vor ihm, doch er bedeutete wenig Freude.

Aber auch jetzt war nicht alles eindeutig. Da war immer noch dieser quälende Traum, mit dem er fertig werden mußte, der Traum von dem schwarzen Buch und den drei Schwertern. Seit zwei Wochen verfolgte er ihn im Schlaf, aber sein Sinn war ihm bis heute verborgen geblieben.

Auf dem Weg nach Süden, weit entfernt am Rand der Bäume, die die westlichen Ausläufer des Weldhelms säumten, entstand eine Bewegung, die seine Gedanken unterbrach. Er kniff kurz die Augen zusammen, nickte dann langsam mit dem Kopf und stand auf.

Als er seinen Mantel wieder anzog, änderte der Wind die Richtung; gleich darauf ließ sich von Norden dumpfes Donnergrollen vernehmen. Es wiederholte sich, ein tiefes Brummen wie von einem Tier, das mühsam aus dem Schlaf erwacht. Sofort schwoll auch aus der entgegengesetzten Richtung das Geräusch der Hufe vom Getrappel zu einer Lautstärke an, die mit dem Donner um die Wette toste.

Als Jarnauga seinen Vogelkäfig aufhob und den Reitern entgegenging, verschmolzen die Geräusche miteinander – das Grollen des Donners im Norden, das gedämpfte Stampfen herannahender Reiter im Süden –, bis sie den weißen Wald mit ihrem kalten Dröhnen erfüllten wie Schläge auf Trommeln aus Eis.

XXIX Jäger und Gejagte

Das hohle Brausen des Flusses erfüllte seine Ohren. Einen Herzschlag lang kam es Simon vor, als sei das Wasser das einzige, was sich bewegte – als seien die Bogenschützen am anderen Ufer, Marya, er selber, zu Stein erstarrt, als der Pfeil einschlug, der jetzt in Binabiks Rücken bebte. Dann fauchte ein weiterer Schaft an dem weißgesichtigen Mädchen vorbei, zersplitterte krachend an einem zerbrochenen Gesims aus glänzendem Stein, und alles war wieder in fieberhaftem Getümmel.

Er nahm die insektenhaft über das Wasser huschenden Bogenschützen kaum recht wahr. In drei Sätzen legte er die Entfernung zwischen sich, Mädchen und Troll zurück. Er bückte sich, und ein seltsam isolierter Teil seines Gehirns registrierte, daß die Jungenhosen, die Marya trug, am Knie zerfetzte Löcher hatten und sich unter seinem Arm ein Pfeil durch sein Hemd gebohrt hatte. Zuerst glaubte er, das Geschoß habe ihn verfehlt, bis er gleich darauf einen brennenden Schmerz fühlte, der ihm den Brustkorb versengte.

Immer mehr Pfeile sausten vorbei, prallten vor ihnen flach auf die Steinplatten und hüpften weiter wie Steine auf einem See. Rasch kniete Simon nieder und hob den stummen Troll auf die Arme. Er fühlte, wie der gräßliche, steife Pfeil unter seinen Fingern zitterte. Dann drehte er sich um, so daß sein Rücken zwischen dem kleinen Mann und den Bogenschützen war – Binabik sah so bleich aus. War er tot? Bestimmt war er tot! –, und stand auf. Von neuem brannte der Schmerz an seinen Rippen, und er taumelte. Marya packte ihn am Ellenbogen.

»Lökens Blut!« schrie der schwarzgekleidete Ingen, dessen ferne Stimme in Simons Ohren wie ein leises Murmeln klang. »Ihr tötet sie ja, ihr Dummköpfe! Ich habe gesagt, ihr solltet sie dort festhalten! Wo ist Baron Heahferth?«

Qantaqa war wieder zu ihnen heruntergelaufen. Marya versuchte die Wölfin fortzuscheuchen, während sie und Simon die Stufen nach Da'ai Chikiza hinauftaumelten. Hinter ihnen zersprang ein gefiederter Schaft, dann war die Luft still.

»Heahferth ist hier, Rimmersmann!« rief eine Stimme durch den Lärm der Gepanzerten. Von der obersten Stufe blickte Simon sich um. Sein Herz sank. – Ein Dutzend Männer in voller Kampfausrüstung rannte an Ingen und seinen Bogenschützen vorbei, gerade auf das Tor der Hirsche zu, die Brücke, die Simon und seine Gefährten vor ihrer Landung zuletzt passiert hatten. Der Baron selbst ritt auf seinem roten Roß hinter ihnen her und schwang einen langen Speer über dem Kopf. Sie hätten nicht einmal den Fußsoldaten einen großen Vorsprung abgewinnen können – das Pferd des Barons würde sie in weniger als drei Atemzügen stellen.

»Lauf, Simon!« Marya zerrte ihn am Arm, so daß er stolpernd vorwärts rannte. »Wir müssen uns in der Stadt verstecken!« Aber Simon wußte, daß auch das hoffnungslos war. Bis sie ein Versteck fanden, würden die Soldaten sie längst eingeholt haben. »Heahferth!« rief Ingen Jeggers Stimme hinter ihnen, ein flacher, kleiner Ton im Brausen des Flusses. »Das geht nicht! Seid kein Narr, Erkynländer, Euer Pferd …!«

Der Rest ging im Tosen des Wassers unter. Falls Heahferth die Worte überhaupt gehört hatte, schien er sie jedenfalls nicht zu beachten. Zum Klirren der Soldatenfüße auf der Brücke gesellte sich das Klappern von Hufschlag auf Stein.

Noch während der Lärm der Verfolgung lauter wurde, stolperte Simon mit der Stiefelspitze über eine hochstehende Platte und stürzte.

Ein Speer im Rücken … dachte er noch im Fallen, und: Wie konnte das alles nur geschehen? Dann prallte er schmerzhaft auf seine Schulter, denn er hatte sich zur Seite gerollt, um den Körper des Trolls in seinen Armen zu schützen.

Simon lag auf dem Rücken und starrte auf die Stücke Himmel, die durch den dunklen Dom der Bäume schimmerten. Auf seiner Brust lastete Binabiks nicht unbeträchtliches Gewicht. Marya zog ihn am Hemd und versuchte ihn aufzurichten. Er wollte ihr sagen, daß es jetzt doch keinen Sinn mehr hätte, nicht mehr der Mühe wert sei; aber als er sich auf einen Ellenbogen stützte und mit dem anderen Arm den Troll festhielt, sah er, daß hinter ihnen etwas Seltsames vorging.

Mitten auf der langen, hochgewölbten Brücke hatten Baron Heahferth und seine Männer aufgehört, sich zu bewegen – nein, das stimmte nicht ganz: Sie standen da und schwankten; die Bewaffneten hielten sich an den niedrigen Brückenmauern fest, der Baron umklammerte den Hals seines Pferdes. Man konnte aus der Entfernung seine Züge nicht deutlich erkennen, aber seine Haltung war die eines Menschen, der jäh vom Schlaf erwacht. Eine Sekunde später bäumte sich, ohne daß Simon einen Grund dafür feststellen konnte, das Pferd auf und stürmte vorwärts. Die Männer, die noch schneller rannten als vorher, folgten ihm. Unmittelbar darauf – keinen Lidschlag nach dieser Bewegung – drang ein gewaltiges Knacken an Simons Ohr, als hätte eine Riesenhand sich einen Baumstamm als Zahnstocher abgebrochen. Das schlanke Tor der Hirsche schien in der Mitte zu bersten.

Vor den entsetzten, gebannten Augen von Simon und Marya stürzte die Brücke in die Tiefe, das Mittelstück zuerst. Die Steine lösten sich voneinander und zerbröckelten zu großen, eckigen Scherben, die schaumspritzend ins Wasser krachten. Einige Pulsschläge lang sah es aus, als würden Heahferth und seine Soldaten noch die andere Seite erreichen; aber dann, in Wellenbewegungen wie eine ausgeschüttelte Decke, faltete sich der Steinbogen zusammen und schickte eine wimmelnde Masse von Armen, Beinen, bleichen Gesichtern und einem um sich schlagenden Roß kopfüber hinunter zwischen die zackigen Blöcke aus milchigem Chalzedon, wo sie in Strudeln grünen Wassers und weißen Schaumes verschwanden. Wenig später erschien ein paar Ellen flußabwärts der Kopf des Pferdes mit mühsam aus dem Wasser gereckten Hals, der aber sofort wieder im wirbelnden Fluß unterging.

Langsam drehte sich Simon zum Fuß der Brücke um. Die beiden Bogenschützen lagen auf den Knien und starrten in den reißenden Strom; hinter ihnen stand die Gestalt Ingens mit der schwarzen Kapuze und blickte zu den Gefährten hinüber. Es war, als wären seine blassen Augen nur ein paar Zoll von ihnen entfernt.

»Steh auf!« brüllte Marya und zog Simon an den Haaren. Mit einem fast hörbaren Schnappen löste Simon den Blick von Ingen Jeggers Augen, als risse ein Seil. Er stand auf, wobei er seine kleine Last sorgsam im Gleichgewicht hielt, und sie machten kehrt und flohen in die Echos und ragenden Schatten von Da'ai Chikiza.


Nach hundert Schritten taten Simon die Arme weh, und er hatte ein Gefühl, als steche ihm ein Messer immer wieder in die Seite; er mußte sich anstrengen, nicht hinter dem Mädchen zurückzubleiben. Sie folgten der vorausspringenden Wölfin durch die Ruinen der Sithistadt. Es war, als liefen sie durch eine Höhle aus Bäumen und Eiszapfen, einen Wald aus steilem Glanz und dunkler, moosiger Verwesung. Überall lagen zerbrochene Steinplatten herum, und dicke Strähnen aus Spinnweben spannten sich über wunderschöne, zerfallende Bögen. Simon war zumute, als habe ihn ein unvorstellbar großer Riese mit Eingeweiden aus Quarz, Jade und Perlmutt verschluckt. Hinter ihnen verstummten allmählich die Geräusche des Flusses, und nur das Rasseln ihres eigenen, rauhen Atems wetteiferte mit dem Scharren ihrer schnellen Schritte.

Endlich schienen sie den äußeren Rand der Stadt erreicht zu haben. Die hohen Bäume, Schierlingstanne, Zeder und ragende Kiefer, standen dichter zusammen, und die Steinplattenböden, die bisher überall gewesen waren, verwandelten sich in schmale Pfade, die sich um die Füße der Waldriesen wanden. Simon hörte auf zu laufen. Sein Blickfeld hatte schwarze Ränder bekommen. Er blieb stehen und fühlte, wie sich die Welt um ihn drehte. Marya ergriff seine Hand und führte ihn ein paar hinkende Schritte zu einem efeuüberwucherten Steinhaufen, den Simon, als sein Sehvermögen langsam wiederkehrte, als Brunnen erkannte. Er legte Binabiks Körper sanft auf den Rucksack nieder, den Marya getragen hatte, stützte den Kopf des kleinen Mannes an den groben Stoff und lehnte sich selber an den Brunnenrand, um Luft in seine notleidenden Lungen zu saugen. Seine Seite stach immer noch.

Marya hockte sich neben Binabik und schubste Qantaqas Nase fort, mit der die Wölfin ihren stummen Herrn anstieß. Qantaqa trat einen Schritt zurück, stieß einen winselnden, verständnislosen Laut aus und legte sich dann hin, die Schnauze auf den Pfoten. Simon merkte, daß ihm heiße Tränen in die Augen schossen.

»Er ist nicht tot.«

Simon glotzte erst Marya, dann Binabiks farbloses Gesicht an. »Wie?« fragte er. »Was meinst du?«

»Er ist nicht tot«, wiederholte sie, ohne aufzublicken. Simon kniete sich neben das Mädchen. Tatsächlich, die Brust des Trolls hob sich beinahe unmerklich. Eine schaumige Blutblase auf seiner Unterlippe pulsierte im selben Rhythmus.

»Usires Ädon.« Simon wischte sich mit der Hand die tropfende Stirn. »Wir müssen den Pfeil herausholen.«

Marya sah ihn scharf an. »Bist du verrückt? Wenn wir das tun, fließt das Leben aus ihm heraus! Dann hat er keine Hoffnung mehr!«

»Nein.« Simon schüttelte den Kopf. »Der Doktor hat es mir erklärt! Ganz bestimmt hat er es gesagt, nur daß ich nicht weiß, wie ich den Pfeil herausbekommen soll. Hilf mir, ihm die Jacke auszuziehen.«

Als sie einen Augenblick vorsichtig an der Jacke herumgezupft hatten, sahen sie ein, daß es keine Möglichkeit gab, sie auszuziehen, bevor sie den Pfeil entfernt hatten. Simon fluchte. Er brauchte etwas, um die Jacke aufzuschneiden, etwas Scharfes. An einem Riemen zog er den geretteten Rucksack zu sich heran und fischte darin herum. Dabei freute er sich trotz aller Sorge und Pein, den Weißen Pfeil zu entdecken, immer noch in seiner Hülle aus Lumpen. Er zog ihn heraus und begann den Knoten zu lösen, der die Stoffstreifen zusammenhielt.

»Was tust du da?« fragte Marya ungeduldig. »Haben wir nicht genug von Pfeilen?«

»Ich brauche etwas Scharfes zum Schneiden«, brummte er. »Es ist ein Jammer, daß wir das Stück von Binabiks Stab verloren haben – es war das mit dem Messer darin.«

»Ist es das, was du suchst?« Marya griff in ihr Hemd und zog ein kleines Messer in einer Lederscheide heraus, die ihr an einem Riemen um den Hals hing. »Geloë meinte, ich sollte es mitnehmen«, erklärte sie, nahm es aus der Scheide und reichte es ihm. »Gegen Bogenschützen hilft es allerdings nicht viel.«

»Und Bogenschützen helfen nicht viel dabei, Brücken vor dem Einsturz zu bewahren, gottlob.« Simon begann das geölte Leder durchzusägen.

»Glaubst du, daß es nur das war?« fragte Marya nach einer Weile.

»Was willst du damit sagen?« keuchte Simon. Die Arbeit war hart, aber er hatte die Jacke jetzt von unten aufgeschnitten, vorbei an dem Pfeil. Eine klebrige Masse geronnenen Blutes wurde sichtbar. Er zog die Messerklinge weiter nach oben, zum Kragen hinauf.

»Daß die Brücke so einfach … einstürzte.« Marya sah hinauf in das Licht, das durch das verschlungene Laubwerk sickerte. »Vielleicht waren die Sithi zornig über das, was da in ihrer Stadt vorging.«

»Pah.« Simon biß die Zähne zusammen und durchtrennte das letzte Stück Leder. »Die Sithi, die noch leben, wohnen hier nicht mehr, und wenn die Sithi nicht sterben, wie mir der Doktor erzählt hat, gibt es auch keine Geister hier, die Brücken zum Einsturz bringen könnten.« Er breitete die beiden Flügel der zerschnittenen Jacke auseinander und zuckte. Der Rücken des Trolls war bedeckt mit geronnenem Blut. »Du hast doch gehört, wie der Rimmersmann Heahferth zuschrie, er solle mit dem Pferd von der Brücke bleiben. Und jetzt, verdammt noch mal, laß mich nachdenken!«

Marya hob die Hand, als wollte sie ihn schlagen; Simon sah auf, und ihre Blicke bohrten sich ineinander. Erst jetzt merkte er, daß das Mädchen auch geweint hatte. »Ich habe dir mein Messer gegeben!« sagte sie.

Simon schüttelte verwirrt den Kopf. »Es ist nur … dieser Teufel Ingen hat vielleicht schon eine andere Stelle gefunden, an der er den Fluß überqueren kann. Er hat mindestens zwei Bogenschützen bei sich, und wer weiß, was aus den Hunden geworden ist … und … und Binabik ist mein Freund.« Er wandte sich wieder dem blutüberströmten Troll zu.

Marya schwieg eine Weile. »Ich weiß«, sagte sie endlich.

Der Pfeil war schräg eingedrungen, eine gute Handlänge von der Mitte des Rückgrats entfernt. Durch vorsichtiges Anheben des kleinen Körpers konnte Simon die Hand daruntergleiten lassen. Schnell fanden seine Finger die scharfe, eiserne Pfeilspitze, die gerade unter Binabiks Arm herausgetreten war, neben den vorderen Rippen.

»Verflucht! Er ist mitten durchgegangen!« Simon überlegte fieberhaft. »Gleich … gleich…«

»Brich die Spitze ab«, schlug Marya, jetzt mit ruhigerer Stimme, vor. »Dann kannst du ihn leichter herausziehen – wenn du sicher bist, daß das das Richtige ist.«

»Natürlich!« Simon war begeistert und ein wenig schwindlig. »Natürlich.«

Er brauchte eine gehörige Zeit, bis er den Pfeil unterhalb der Spitze durchgeschnitten hatte; das kleine Messer wurde immer stumpfer dabei. Als er fertig war, half ihm Marya, Binabik in die Lage zu bringen, in der der Pfeil sich am besten bewegen ließ. Dann, ein stummes Gebet an Ädon auf der Zunge, drehte Simon den Pfeil aus der Eintrittswunde heraus. Frisches Blut quoll darunter hervor. Simon starrte den verhaßten Gegenstand an und schleuderte ihn fort. Qantaqa hob den dicken Kopf und sah ihm nach, gab dann ein brummendes Stöhnen von sich und sackte wieder zusammen.

Sie wickelten Binabik in die Lumpen des Weißen Pfeils und Streifen aus seiner zerschnittenen Jacke, dann hob Simon den immer noch schwach atmenden Troll hoch und nahm ihn auf seine Arme. »Geloë hat gesagt, wir sollten die Steige hinaufklettern. Ich weiß zwar nicht, wo das ist, aber wir sollten uns lieber in Richtung der Berge halten«, erklärte Simon. Marya nickte.

Der Anblick der Sonnenflecken zwischen den Bäumen verriet ihnen, daß es fast Mittag war, als sie den zugewachsenen Brunnen verließen. Rasch durchquerten sie die Außenbezirke der verfallenden Stadt und merkten schon nach einer Stunde, daß das Land unter ihren müden Füßen anzusteigen begann. Der Troll wurde allmählich wieder zur schweren Last. Simon war zu stolz, etwas zu sagen, aber er schwitzte heftig, und Rücken und Arme fingen an, genauso weh zu tun wie die verwundete Seite. Marya schlug vor, Beinlöcher in den Rucksack zu schneiden, damit man Binabik darin tragen könnte. Aber nach einigem Nachdenken verwarf Simon diese Idee. Erstens wären die Erschütterungen für den hilf- und bewußtlosen Troll zu groß gewesen, und zweitens müßten sie dann einiges vom Inhalt des Rucksackes zurücklassen, und das meiste davon waren Lebensmittel, die sie noch brauchen würden.

Als das sanft ansteigende Land sich in steile, buschbestandene Hänge voller Riedgras und Disteln zu verwandeln begann, winkte Simon Marya, endlich anzuhalten. Er setzte den kleinen Mann ab und stand einen Augenblick mit in die Hüfte gestemmten Händen da, und seine Brust hob und senkte sich, während er tief Atem holte.

»Wir … wir müssen … ich muß … mich … ausruhen«, schnaufte er. Marya betrachtete voller Mitgefühl sein gerötetes Gesicht.

»Du kannst ihn nicht bis ganz auf den Gipfel schleppen, Simon«, bemerkte sie sanft. »Weiter oben scheint es noch steiler zu werden. Du wirst die Hände zum Klettern brauchen.«

»Er … ist … mein Freund«, beharrte Simon starrsinnig, »ich … kann … das.«

»Nein, das kannst du nicht.« Marya schüttelte den Kopf. »Wenn wir ihn nicht im Rucksack tragen können, dann müssen wir…« Sie ließ die Schultern hängen und setzte sich erschöpft auf einen Felsen. »Ich weiß nicht, was wir müssen, aber irgendwas müssen wir.«

Simon sackte neben ihr zusammen. Qantaqa war weiter bergauf verschwunden und sprang behende an Stellen voraus, zu deren Erklettern der Junge und das Mädchen lange und beschwerliche Minuten brauchen würden.

Plötzlich kam Simon ein Einfall. »Qantaqa!« rief er, stand auf und verstreute den Inhalt des Rucksackes vor sich auf dem Grasboden. »Qantaqa! Komm her!«

In fieberhafter Eile, den unausgesprochenen Gedanken an Ingen Jegger als drohenden Schatten über sich, wickelten Simon und Marya Binabik von Kopf bis Fuß in den Mantel des Mädchens und legten den Troll dann mit dem Bauch nach unten auf den Rücken der folgsamen Wölfin. Mit den letzten Streifen zerfetzter Kleidung aus dem Rucksack banden sie ihn dort fest. Simon erinnerte sich von seinem unfreiwilligen Ritt in Herzog Isgrimnurs Lager an die Haltung, aber er wußte auch, daß der kleine Mann mit dem dicken Mantel zwischen sich und dem Wolfsrücken wenigstens atmen können würde. Simon wußte, daß die Lage für einen verletzten, wahrscheinlich sterbenden Troll nicht gerade günstig war, aber was konnten sie sonst tun? Marya hatte recht, um bergauf zu klettern, brauchte er seine Hände.

Nachdem sich Qantaqas anfängliche Unruhe gelegt hatte, stand sie geduldig da, während Junge und Mädchen den Troll auf ihr festzurrten. Nur ab und zu drehte sie sich um und wollte Binabiks Gesicht, das an ihrer Flanke auf- und abschwankte, beschnüffeln. Als sie aber fertig waren und weiter den Hang hinaufstiegen, suchte die Wölfin sich ihren Weg ganz vorsichtig, als wüßte sie, wie wichtig ein sanfter Ritt für ihre schweigende Last wäre.

Jetzt kamen sie besser vorwärts. Sie kletterten über Steine und uralte Stämme, von denen sich die Rinde in langen Streifen abschälte. Der helle, wolkengetrübte Sonnenball, der durch die Äste spähte, war weit auf seinen westlichen Ankerplatz zugerollt. Simon stapfte vor sich hin, vor seinen vor Schweiß brennenden Augen wie eine Rauchfahne den grauweißen Schwanz der Wölfin, und fragte sich, wo die Dunkelheit sie überraschen und was sie wohl in dieser Dunkelheit überraschen würde.


Der Anstieg war immer steiler geworden, und sowohl Simon als auch Marya spürten die zahllosen Kratzspuren des alles erstickenden Unterholzes auf ihrer Haut, als sie endlich auf eine offene, waagrecht laufende Falte der Bergwand hinausstolperten. Dankbar setzten sie sich mitten auf den Pfad. Qantaqa sah aus, als hätte sie nichts dagegen, den schmalen, grasüberwucherten Weg noch ein Stück weiter hinauf zu erkunden, ließ sich dann aber doch mit heraushängender Zunge neben ihnen nieder. Simon befreite den Troll aus seinem behelfsmäßigen Geschirr; der Zustand des kleinen Mannes schien unverändert. Sein Atem ging immer noch erschreckend flach. Simon tropfte ihm aus dem Schlauch Wasser in den Mund und reichte dann Marya den Behälter. Als sie fertig war, hielt er die hohlen Hände aneinander, sie füllte sie, und er ließ Qantaqa daraus trinken. Danach nahm auch er ein paar tiefe Schlucke aus dem Schlauch.

»Glaubst du, daß wir auf der Steige sind?« fragte Marya und fuhr sich mit den Händen durch das feuchte schwarze Haar. Simon lächelte matt. War das nicht typisch Mädchen, sich mitten im Wald das Haar zu richten? Sie war tief errötet, und er sah, daß die Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken dadurch deutlich hervortraten.

»Es sieht eher wie ein Hirschpfad oder so etwas aus«, antwortete er endlich und wandte seine Aufmerksamkeit der Stelle zu, an der sich der Pfad an der Flanke des Berges verlor. »Ich denke, die Steige ist etwas von den Sithi, wie Geloë gesagt hat. Aber vielleicht können wir diesem Weg doch eine Weile folgen.«

Sie ist eigentlich gar nicht so dünn, nicht wirklich, dachte Simon. Mehr das, was man zart nennt. Er erinnerte sich, wie sie in die Höhe gegriffen und die überhängenden Äste abgerissen hatte, und an ihre rauhen Fluß-Shanties. Nein, vielleicht war zart auch nicht ganz das richtige Wort.

»Dann wollen wir lieber weiter«, unterbrach Marya sein Sinnen. »Ich bin hungrig, aber ich möchte lieber nicht hier draußen im offenen Gelände sein, wenn die Sonne untergeht.«

Sie erhob sich und fing an, die Stoffstreifen zusammenzusuchen, um Binabik wieder auf seinem Reittier zu befestigen, das seinerseits die letzten Augenblicke ungebundener Freiheit dazu benutzte, sich hinter dem Ohr zu kratzen.

»Ich hab dich gern, Marya«, platzte Simon heraus und wollte sich dann umdrehen, wegrennen, irgend etwas tun. Statt dessen blieb er tapfer, wo er war, bis das Mädchen gleich darauf lächelnd zu ihm aufblickte – und sie war es, die verlegen aussah!

»Darüber bin ich froh«, war alles, was sie antwortete, dann ging sie den Hirschpfad ein paar Schritte weiter hinauf und überließ es Simon, Binabik mit plötzlich unbeholfenen Händen wieder festzubinden. Als er endlich die letzte Schlinge unter dem zottigen Bauch der unendlich geduldigen Wölfin verknotete, sah er plötzlich in das blutleere Gesicht des Trolls, das schlaff und still war wie der Tod, und wurde wütend auf sich selber.

Was für ein Mondkalb ich doch immer noch bin! dachte er wild. Einer meiner besten Freunde liegt im Sterben, ich habe mich am Ende der Welt verirrt, werde von bewaffneten Männern und vielleicht noch Schlimmerem gejagt – und da stehe ich nun und lasse wegen einer dürren Dienstmagd den Kopf hängen! Trottel!

Er sagte nichts zu Marya, als er sie einholte, aber der Ausdruck seines Gesichtes mußte ihr einiges verraten haben. Sie warf ihm einen nachdenklichen Blick zu, und die beiden setzten sich ohne ein weiteres Wort in Marsch.

Die Sonne war hinter den gezackten Rücken der Berge verschwunden, als der Hirschpfad breiter zu werden begann. Innerhalb einer Viertelmeile verwandelte er sich in einen ebenen Weg, auf dem einst vielleicht sogar Wagen hatten fahren können, der aber nun längst seine Herrschaft an die wuchernde Wildnis abgetreten hatte. Neben ihm schlängelten sich andere, schmalere Pfade, die hauptsächlich als Lücken in der glatten Decke aus Büschen und Bäumen sichtbar waren. Schließlich kamen sie an eine Stelle, wo sich diese Nebenpfade mit dem Hauptweg vereinten, und hundert Ellen weiter merkten sie, daß sie wieder die uralten Steinplatten unter den Füßen hatten. Bald darauf erreichten sie die Steige.

Die breite, gepflasterte Straße kreuzte den Weg, auf dem sie gekommen waren, und schwang sich in steilen, quergeführten Serpentinen den Berg hinauf. Zwischen den zersprungenen, grauen und weißen Bodenplatten war hohes Gras aufgeschossen, und manchmal waren sogar große Bäume einfach aus dem Straßenpflaster gewachsen und hatten mit zunehmender Größe die Steine auseinander und zur Seite gedrängt, so daß sie jetzt von kleinen Schlackenhaufen entwurzelter Steine umgeben waren.

»Und das geht jetzt so bis nach Naglimund«, sagte Simon halb zu sich selber. Es waren die ersten Worte, die einer von beiden seit langer Zeit sprach.

Marya wollte gerade etwas antworten, als ihr Blick auf den Gipfel fiel. Sie schaute genauer hin, aber was auch immer dort ein Licht hatte aufblitzen lassen, war wieder verschwunden.

»Simon, ich glaube, ich habe dort oben etwas glänzen sehen.« Sie deutete zum Bergkamm hinauf, eine gute Meile über ihnen. »Was war es?« fragte er, aber sie zuckte nur die Achseln. »Eine Rüstung vielleicht, falls sich so spät am Tag noch die Sonne darin spiegelt«, gab er sich selber Antwort, »oder die Wälle von Naglimund, oder … wer weiß?« Er sah mit schmalen Augen nach der Höhe.

»Wir können den Weg nicht verlassen«, meinte er schließlich. »Jedenfalls nicht, bevor wir noch weiter oben sind, nicht solange es hell ist. Ich würde mir nie verzeihen, wenn wir Binabik nicht nach Naglimund bekämen, vor allem, wenn … wenn…«

»Ich weiß, Simon, aber ich glaube nicht, daß wir es heute noch bis ganz über den Gipfel schaffen.« Marya trat gegen einen Stein, der über das Pflaster ins hohe Gras rollte. Sie zuckte zusammen. »Ich habe an einem Fuß mehr Blasen als vorher in meinem ganzen Leben. Und es kann nicht gut für Binabik sein, wenn er die ganze Nacht auf dem Rücken der Wölfin hin- und herrutscht.« Marya sah ihm in die Augen. »Wenn er es überhaupt überlebt. Du hast das Menschenmögliche getan, Simon. Es ist nicht deine Schuld.«

»Ich weiß!« versetzte Simon zornig. »Gehen wir trotzdem! Wir können im Laufen weiterreden.«

Sie stapften weiter. Es dauerte nicht lange, bis die Weisheit in Maryas Worten sich unangenehm bemerkbar machte. Auch Simon war so zerkratzt und voller Blasen und blauer Flecke, daß er sich am liebsten fallengelassen und losgeheult hätte – ein anderer Simon, der Simon, der im labyrinthischen Hochhorst sein Burgjungenleben gelebt hatte, hätte es getan, hätte sich auf einen Stein gesetzt und ein Abendessen und Schlaf gefordert. Aber Simon hatte sich verändert; er haderte immer noch mit seinem Schicksal, aber jetzt gab es wichtigere Dinge.

Endlich fing sogar Qantaqa an, ein Bein zu schonen. Es hatte wirklich keinen Sinn, sie alle zu Krüppeln zu schinden, und Simon war gerade bereit nachzugeben, als Marya wieder ein Licht auf dem Bergkamm sah. Das konnte keine Spiegelung der Sonne sein, denn schon senkte sich blaue Dämmerung über die Hänge.

»Fackeln!« stöhnte Simon. »Usires! Warum jetzt, da wir fast oben sind?«

»Das ist es wahrscheinlich gerade. Dieses Ungeheuer von Schwarz-Rimmersmann muß zur Spitze der Steige vorgestoßen sein, um dort auf uns zu warten. Wir müssen vom Weg runter!«

Mit bleischwerem Herzen verließen sie sofort das Pflaster der Steige und kletterten in einen Graben, der an der Breitseite des Berges entlanglief. Im abnehmenden Licht häufig stolpernd, eilten sie weiter, bis sie auf eine kleine Lichtung stießen, nicht breiter, als Simon groß war, und von einer Palisade junger Schierlingstannen geschützt. Als er ein letztes Mal nach oben schaute, bevor er sich in die Deckung der hohen Büsche duckte, war ihm, als sähe er die glänzenden Augen mehrerer weiterer Fackeln, die vom Gipfel des Berges herunterblinzelten. »In der Hölle sollen sie verbrennen, diese Bastarde!« knurrte er atemlos und hockte sich nieder, um Binabiks schlaffe Gestalt von Qantaqas Rücken zu schnallen. »Ädon! Usires Ädon! Hätte ich doch nur ein Schwert oder einen Bogen…«

»Vielleicht solltest du Binabik nicht herunternehmen?« flüsterte Marya. »Was ist, wenn wir wieder rennen müssen?«

»Dann trage ich ihn. Außerdem, wenn wir rennen müssen, können wir genausogut gleich aufgeben. Ich glaube, ich könnte keine fünfzig Schritte mehr laufen. Und du?«

Marya schüttelte bekümmert den Kopf.

Sie nahmen abwechselnd Schlucke aus dem Wasserschlauch, während Simon Binabiks Handgelenke und Knöchel massierte, um etwas Blut in die kalten Glieder des Trolls zurückzubringen. Der kleine Mann atmete jetzt besser, aber Simon vertraute nicht darauf, daß es so bleiben würde; bei jedem Atemzug quoll dem Troll eine dünne Schicht blutigen Speichels aus dem Mund, und als Simon Binabiks Augenlider zurückschob, wie er es Doktor Morgenes einmal bei einer in Ohnmacht gefallenen Kammerfrau hatte tun sehen, kam ihm das Weiße in den Augen des Trolls grau vor.

Während Marya den Rucksack nach etwas Eßbarem durchsuchte, wollte Simon Qantaqas Pfote hochheben, um festzustellen, weshalb sie hinkte. Die Wölfin unterbrach ihr Keuchen gerade lange genug, um die Zähne zu entblößen und ihn auf äußerst eindrucksvolle Weise anzuknurren. Als er trotzdem die Untersuchung fortsetzen wollte, schnappte sie nach seiner Hand, und ihre Kiefer schlugen kaum einen Zollbreit von seinen tastenden Fingern entfernt aufeinander. Simon hatte beinahe vergessen, daß sie eine Wölfin war, und sich daran gewöhnt, mit ihr umzugehen wie mit einem von Tobas' Hunden. Er war plötzlich dankbar, daß sie ihn nur so milde zurechtgewiesen hatte, und ließ sie in Ruhe, damit sie sich mit der Zunge den zerschundenen Ballen lecken konnte.

Das Licht nahm ab. In der tiefer werdenden Finsternis über ihnen blühten nadelspitze kleine Sterne auf. Simon kaute an einem Stück hartem Keks, den Marya für ihn im Rucksack aufgestöbert hatte, und sehnte sich nach einem Apfel oder sonst etwas Saftigem, als ein dünnes, lärmendes Geräusch das Lied der ersten Abendgrillen zu durchdringen begann. Simon und Marya sahen einander an und schauten dann zur Bestätigung, die sie im Grunde nicht brauchten, auf Qantaqa. Die Ohren der Wölfin waren nach vorn gestellt, ihre Augen wachsam.

Sie mußten den Namen der Geschöpfe, von denen die fernen, bellenden Laute stammten, nicht nennen: Mit Jagdhundgeläut aus vollem Hals waren sie beide nur allzu vertraut.

»Was sollen wir …?« wollte Marya fragen, aber Simon schüttelte den Kopf. In sinnlosem Zorn knallte er die Faust gegen einen Baumstamm und sah geistesabwesend zu, wie Blut über die Oberseite der bleichen Knöchel sickerte. In wenigen Minuten würde es vollständig dunkel sein.

»Wir können gar nichts tun«, zischte er. »Wenn wir weglaufen, haben sie nur eine noch bessere Spur.« Er wollte wieder zuschlagen, irgend etwas zertrümmern. Sinnlos, sinnlos, sinnlos, diese ganze verdammte Plackerei! Warum das alles?!

Als er so dasaß, schäumend vor Wut, kam Marya und schmiegte sich dicht an seine Seite, hob seinen Arm und legte ihn um ihre Schulter. »Mir ist kalt«, war alles, was sie sagte.

Er lehnte müde seinen Kopf an ihren, und Tränen ohnmächtiger Wut und aufsteigender Angst strömten aus seinen Augen, als er auf die Geräusche oben auf dem Berg lauschte. Jetzt war ihm, als höre er Männerstimmen, die einander über den Lärm der Hunde etwas zuriefen. Was gäbe er doch für ein Schwert! So unerfahren er damit auch war, wenigstens hätte er ihnen damit ein bißchen weh tun können, bevor sie ihn niederschlugen.

Sanft hob er Maryas Kopf von seiner Schulter und beugte sich vor. Wenn er sich recht erinnerte, lag Binabiks Lederbeutel ganz unten im Rucksack. Er zog ihn hervor und wühlte mit den Fingern darin herum. Auf der Lichtung war es so finster, daß er nur durch Tasten suchen konnte.

»Was machst du?« wisperte Marya.

Simon fand, was er suchte, und schloß seine Hand darum. Jetzt kamen auch Geräusche von der Nordseite des Berges, fast auf gleicher Höhe mit ihnen. Die Falle schnappte zu.

»Halt Qantaqa fest!« Er richtete sich auf, kroch ein Stück zur Seite und durchforstete das Gebüsch, bis er einen größeren abgebrochenen Ast fand, so dick wie sein Arm und länger. Er brachte ihn zurück und leerte Binabiks Pulverbeutel darüber aus. Dann legte er ihn sorgfältig neben sich. »Ich mache eine Fackel«, erklärte er und nahm die Feuersteine des Trolls aus dem Beutel.

»Leitet sie das nicht erst recht zu uns?« fragte das Mädchen, einen Unterton sorgenvoller Neugier in der Stimme. »Ich zünde sie erst an, wenn ich muß«, erwiderte er, »aber wenigstens haben wir dann etwas … etwas zum Kämpfen.«

Ihr Gesicht lag im Schatten, aber er spürte ihren Blick. Sie wußte ebensogut, wie wenig eine solche Geste ihnen nützen würde. Er hoffte – und es war eine sehr starke Hoffnung –, daß sie verstehen würde, warum er diesen Versuch unternehmen mußte. Der wilde Aufruhr der Hunde war jetzt entsetzlich nahe. Simon konnte das Knacken der niedergetretenen Büsche und die wilden Schreie der Jäger hören. Das Prasseln brechender Zweige wurde lauter. Es kam jetzt von direkt über ihnen am Hang und näherte sich immer mehr – ein viel zu lautes Geräusch für Hunde, dachte Simon, und sein Herz flatterte, als er den Feuerstein gegen einen Stein schlug. Es mußten Berittene sein. Das Pulver sprühte Funken, entzündete sich aber nicht. Im Unterholz krachte es, als überschlage sich ein ganzer Wagen.

Fang Feuer, verdammt noch mal! Fang Feuer!

Gerade über ihrem Versteck brach etwas aus dem Dickicht. Marya klammerte sich so fest an seinen Arm, daß es wehtat. »Simon!« schrie sie, und dann zischte das Pulver und ging in Flammen auf; an der Spitze des Astes erblühte eine flackernde, orangerote Blume. Simon sprang in die Höhe und schwang den Ast vor sich. Die Flammen tanzten. Etwas kam krachend durch die Bäume. Qantaqa riß sich aus Maryas Griff los und heulte laut.

Alptraum! Das war alles, was Simon noch denken konnte, als er die Fackel hob. Das Licht wurde heller und beleuchtete, was da erschreckt und aufrecht vor ihm stand.

Es war ein Riese.

In dem grauenhaften, gelähmten Augenblick danach kämpfte Simons Verstand darum zu verarbeiten, was seine Augen sahen – dieses Wesen, das da vor ihm aufragte und im grellen Licht der Fackel hin- und herschwankte. Zuerst hatte er es für eine Art Bär gehalten, weil es überall mit fahlem, zottigem Fell bedeckt war. Aber die Beine waren zu lang, die Arme und die schwarzhäutigen Hände zu menschlich. Der haarige Scheitel war drei Ellen höher als Simons Kopf, als es sich aus der Mitte nach vorn beugte, die Augen schmal im ledrigen, menschenähnlichen Gesicht.

Von überallher ertönte das Gebell, wie die Musik eines Chores unheimlicher Dämonen. Das Ungetüm schlug mit einem langen Klauenarm nach Simon, riß ihm das Fleisch an der Schulter auf und stieß ihn zurück, daß er stolperte und um ein Haar die Fackel fallengelassen hätte. Das zuckende Licht der Flammen beleuchtete kurz Marya, die mit schreckgeweiteten Augen Binabiks schlaffen Körper umklammerte und aus dem Weg zu zerren versuchte. Der Riese öffnete den Mund und donnerte – nur so konnte man das hallende Brummen bezeichnen, das er ausstieß. Dann stürzte er sich von neuem auf Simon. Der sprang zur Seite, blieb mit dem Fuß hängen und fiel zu Boden. Aber noch bevor das Ungeheuer bei ihm war, verwandelte sich das Grollen, das seine Brust erschütterte, in ein Aufheulen des Schmerzes. Der Riese kippte nach vorn und sackte halb zusammen.

Qantaqa hatte ihn in einer zottigen Kniekehle erwischt, ein grauer Schatten, der sofort zurücksprang, um gleich wieder nach den Beinen des Ungetüms zu schnappen, das fauchte und nach der Wölfin schlug. Das erste Mal verfehlte es sie, doch beim zweiten Mal traf sie die breite Hand, Qantaqa überschlug sich und flog ins Gebüsch.

Jetzt wandte der Riese sich wieder Simon zu, aber gerade als dieser hoffnungslos seine Fackel hob und ihr zuckendes Licht in den glänzendschwarzen Augen des Riesen widergespiegelt sah, ergoß sich eine brodelnde Flut von Wesen aus dem Unterholz, heulend wie der Wind in tausend hohen Türmchen. Sie umbrandeten das gewaltige Geschöpf wie ein wütendes Meer – Hunde überall, die angriffen und bissen, während der Riese mit seiner Donnerstimme brüllte. Wie eine Windmühle ließ er die Arme kreisen, und zerschmetterte Körper flogen nach allen Seiten; einer traf Simon und warf ihn zu Boden, daß ihm die Fackel davonsauste. Aber für jeden, der fortgeschleudert wurde, sprangen fünf neue herbei.

Als Simon auf die Fackel zukroch, im Kopf ein wildes Gewirr aus wahnsinnigen Fieberphantasien, leuchteten plötzlich überall Lichter auf. Die Riesengestalt des Ungeheuers schwankte brüllend über die Lichtung; Männer kamen, Pferde bäumten sich, alles schrie. Etwas Dunkles sprang über Simon hinweg und schlug ihm zum zweiten Mal die Fackel aus der Hand. Kurz hinter ihm kam das Pferd rutschend zum Stehen. Der Reiter stand in den Bügeln, und sein langer Speer blitzte zwischen Dunkelheit und Fackelschein hin und her. Gleich darauf war der Speer ein großer schwarzer Nagel, der aus der Brust des bedrängten Riesen ragte. Das Ungeheuer stieß eine letztes, bebendes Brüllen aus und glitt zu Boden, unter die wogende Decke der Hunde.

Der Reiter stieg ab. An ihm vorbei rannten Männer mit Fackeln, um die Hunde zurückzuzerren. Das Licht schien auf das Profil des Reiters, und Simon richtete sich auf ein Knie auf.

»Josua!« rief er und stürzte vornüber. Das letzte, was er sah, war das hagere Gesicht des Prinzen, vom gelben Licht der Fackelflammen umflossen, mit vor Überraschung geweiteten Augen.


Zeit kam und ging in unruhigen Augenblicken von Wachsein und Dunkelheit. Er saß auf einem Pferd, vor einem schweigenden Mann, der nach Leder und Schweiß roch. Der Arm des Mannes war ein starker Reifen um Simons Mitte, als sie die Steige hinaufschwankten.

Die Pferdehufe klapperten auf Stein, und Simon merkte, daß er den wehenden Schweif des Pferdes vor ihm beobachtete. Überall waren Fackeln.

Er suchte nach Marya, nach Binabik und den anderen … wo waren sie nur?

Jetzt umgab ihn auf allen Seiten eine Art Tunnel. Die Steinwände hallten wider vom pochenden Laut der Herzschläge. Nein, der Hufschläge. Der Tunnel schien kein Ende zu haben. Vor ihnen ragte eine in den Stein gefügte, gewaltige Holztür auf. Langsam schwang sie nach außen, Fackelschein flutete hervor wie Wasser aus einem geborstenen Damm, und im herausdringenden Licht des Einganges standen die Gestalten vieler Männer.

Nun waren sie im Freien, stiegen einen langen Hang hinunter, ein Pferd hinter dem anderen, eine glitzernde Schlange aus Fackeln, die sich den Pfad hinabwand, so weit das Auge reichte. Um sie herum war ein Feld aus kahler Erde, mit nichts bepflanzt als mit nackten Eisenstangen.

Unter ihnen waren die Wälle mit noch viel mehr Fackeln gesäumt. Die Posten blickten zu der Prozession hinauf, die da von den Bergen herunterkam. Vor ihnen lagen die steinernen Mauern, bald in gleicher Höhe, bald langsam über ihren Köpfen ansteigend, während sie dem Pfad bergab folgten. Der Nachthimmel war dunkel wie das Innere eines Fasses, jedoch gespickt mit Sternen. Simons Kopf wackelte, und er merkte, wie er von neuem in Schlaf sank – oder in den dunklen Himmel, er wußte es nicht recht.

Naglimund, dachte er noch, als sich Fackelschein über sein Gesicht ergoß und die Männer oben auf den Wällen riefen und sangen. Dann stürzte er aus dem Licht, und Dunkelheit legte sich über ihn wie eine Decke aus Ebenholzstaub.

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