Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass die Kuh mich aus ihren leeren Augenhöhlen anschaute. Und dann sah ich es durch mein Fernglas: wie am unteren Rand einer dieser Höhlen eine Träne erschien, anschwoll, den Schädel hinabrann und in den Schnee tropfte. Es folgte eine zweite, eine dritte …

Alexander heulte immer noch, doch den Sinn bekam ich nicht mehr mit. Vielleicht gab es auch keinen mehr – das Geheul war zum Katzenjammer geworden. Alexander weinte. Ich weinte auch. Alle weinten wir … Doch bald merkte ich, Klage und Hingebung flossen zusammen, Michalytsch, der Offizier, der die Stange auf dem Hügel installiert hatte, die Leute im Dunkel hinter den Fahrzeugen – alle heulten sie, Nase zum Mond gereckt, heulten um sich, ihr unvergleichliches Land, dieses jämmerliche Leben, den dummen Tod und die ersehnten hundert Dollar pro Barrel …

»He!«, hörte ich jemanden sagen. »Komm zu dir!«

»Was?«

Ich schlug die Augen auf. Alexander und der Offizier standen neben meinem Stuhl. In einiger Entfernung fröstelte Michalytsch.

»Es hat geklappt«, sagte der Offizier. »Das Öl läuft wieder.«

»Wunderbar, wie du geheult hast!«, sagte Alexander. »Wir waren ganz hin und weg.«

»Stimmt. Das Mädel kann was!«, lobte Michalytsch. »Ich hab mich erst gefragt, wozu Sie sie mitgenommen haben, Genosse Generalleutnant …«

Alexander sagte nichts darauf. Einer der Männer, die hinter den Autos gewartet hatten, kam herüber. Auch er trug eine Uniform ohne Rangabzeichen.

»Das ist für Sie«, sagte er und überreichte Alexander ein Schächtelchen. »Die Vaterländische Verdienstmedaille. Davon haben Sie schon etliche, ich weiß. Aber Sie sollen wissen, dass Ihr Vaterland große Stücke auf Sie hält.«

»Danke. Diene der Heimat«, sagte Alexander nicht sehr gerührt und schob die Schachtel in die Hosentasche.

Er nahm mich beim Arm und führte mich zum Auto.

»Jetzt sag mal ehrlich, von Wolf zu Fuchs. Oder meinetwegen von Werwolf zu Werfuchs«, raunte ich, als wir weit genug von den anderen weg waren. »Glaubst du wirklich, dass Chawroschetschka wegen Kukis-Jukis an keinen Apfel gekommen ist? Liegt es nicht eher an dem stinkenden Fischkopf, der sich mal als Bock ausgibt und mal als Bär?«

Alexander schien verdattert.

»Kukis-was? Fischkopf? Worum geht es?«

Erst jetzt merkte ich, was für ein schräges Zeug ich quasselte. Das war der Stress: Ich übersah schon den Unterschied zwischen der Welt und dem, was ich über sie dachte. Alexander hatte ja nicht gesprochen – er hatte einen Kuhschädel angeheult. Der Rest war meine Interpretation.

»Jetzt will sie mir noch einen Bären aufbinden!«, murmelte er.

Fürwahr, ich musste bescheuert sein. Über den Bären und den Fischkopf hatte ich bislang kein Wort mit ihm geredet.

»Das hat mit den Märchen zu tun«, sagte ich reumütig. »Die ich im Flugzeug gelesen habe.«

»Ach so. Alles klar.«

Eine Frage konnte ich trotzdem stellen, die nicht zu blöd klang in dieser Situation. Nur wägte ich die Wirkung meiner Worte diesmal genauer ab, bevor ich den Mund aufmachte.

»Weißt du, was ich für ein Gefühl hatte? Mir war, als hättest du mich dem Schädel als Chawroschetschka präsentiert. Kann das sein?«

Er lächelte.

»Warum auch nicht. Du bist so herzergreifend.«

»Aber sieh mich doch mal richtig an. Was bin ich für eine Chawroschetschka?«

»Und wenn du Maria Magdalena wärest!«, erwiderte er. »Was tut das zur Sache? Ich bin Pragmatiker. Mein Job ist es, Erdöl zu zapfen. Und dafür muss ich den Schädel zum Weinen bringen. Was soll man machen, wenn er bei Michalytsch nicht mehr weinen will? Nicht mal, wenn der Kollege sich fünf Kubik Ketamin drückt?«

»Aber … Es war doch geschwindelt«, sagte ich konsterniert.

Er räusperte sich.

»Na und? Findest du, dass die Kunst immer die Wahrheit sagen muss?«

Statt einer Antwort zwinkerte ich ein paarmal. Das Komische war, dass ich tatsächlich so dachte. Und plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, wer von uns beiden der zynischere Manipulator fremden Bewusstseins war.

»Das kannst du meinetwegen der Saatchi Gallery als Kunstkonzept verkaufen«, meinte er. »Vielleicht stellen sie es aus neben ihrem marinierten Haifisch. Oder Brian kauft es dir ab. Der mit seinen Tausend-Pfund-Offerten.«


Brian konnte leider gar nichts mehr kaufen … Diese geläufige Art, über einen Toten zu reden, hat sich inzwischen übrigens weitgehend überholt. Es kommt vor, dass ein Kunde stirbt, und seine Broker an der Börse sind weiter fleißig am Zappeln. Und hat die betrübliche Nachricht sie endlich erreicht, spekuliert ein von allen vergessnes Programm noch lange im Cyberspace herum, kauft und verkauft bei Erreichen der Schwellenwerte fröhlich weiter seine Pfunds und Yens … Bei mir gab es für Brian aber wohl tatsächlich nichts mehr zu kaufen. Am allerwenigsten den Gedanken, dass Kunst die Wahrheit sagen muss.

Moskau hatte mich mit der traurigen Neuigkeit empfangen. Die Notiz auf der Site nachrichten.ru, deren Adresse sich auf mystische Weise schon wieder ins Startmenü eingeschrieben hatte, war so übertitelt:


ENGLISCHER ARISTOKRAT IN DER CHRISTUS-ERLÖSER-KATHEDRALE TOT AUFGEFUNDEN!


Ein Gefühl, das sich wie Übelkeit ausnahm, verhinderte, dass ich die Notiz von Anfang bis Ende durchlas – sie diagonal zu überfliegen genügte, um den journalistischen Gemeinplätzen (gefrorene Grimasse unsäglichen Entsetzens, untröstliche Witwe tränenüberströmt, Vertreter der Botschaft, Aufklärung der näheren Umstände) ein paar Fakten abzuringen. Um I Huli machte ich mir keine Gedanken, der Vorgang war für sie reine Routine. Sorgen musste man sich um die Aufklärer der näheren Umstände: dass diese Grimasse unsäglichen Entsetzens nicht auch auf dem Gesicht eines von ihnen festfror.

Lord Cricket hingegen hatte Mitgefühl verdient. Ich gab mir auch alle Mühe, es gelang mir jedoch nicht, mich auf sein Gesicht zu konzentrieren, stattdessen liefen dokumentarische Fuchsjagdbilder vor meinem inneren Auge ab: ein über das Feld flitzendes kleines rotes Knäuel, schutzlos, verzweifelt und doch voller Hoffnung, dazu die berittene Schar der Verfolger in eleganten Capes … Ein Totenmantra sprach ich trotzdem für ihn.

Dann wurde meine Aufmerksamkeit von einer Kolumnenschlagzeile angezogen:


KRANKER RÄUBER SUCHT ZUFLUCHT IM BITZA-PARK


Ein Absatz in diesem Pamphlet war besonders unverschämt:


Der Fuchs, von vielen kahlen Stellen gezeichnet (besser gesagt: an einigen Stellen war noch Fell vorhanden), erregte bei Augenzeugen heftiges Mitleid und nährte darüber hinaus den Verdacht, es könnte in der Nähe eine radioaktive Müllkippe geben. Vielleicht suchte das kranke alte Tier die Nähe des Menschen in der Hoffnung auf einen Coup de Grâce, der seinen Leiden ein Ende gesetzt hätte. Doch von den hartherzig gewordenen Moskauern ist selbst solch ein Service unentgeltlich nicht mehr zu haben. Welchen Ausgang die Jagd nahm, die zwei berittene Polizisten auf das arme kranke Tier machten, ist nicht bekannt.

Was für ein elender Lügner! Und dabei kann sich jeder denken, dass kein Augenzeuge von einer radioaktiven Müllkippe geredet hat. Alles aus den Fingern gesogen, um irgendwie diese Kolumne zu füllen … Online-Kolumnisten schreiben, nebenbei gesagt, über alle Themen gleichermaßen abgefuckt: Politik, Kultur, sogar Marsforschung, ganz egal. Nun also Füchse. Dieser Typ hier auf nachrichten.ru hatte noch dazu seinen ganz persönlichen Flitz: Immer wenn er jemanden richtig fertig machen wollte, kam bei ihm »heftiges Mitleid« vor. Das frappierte mich jedes Mal: wie man das hehrste aller menschenmöglichen Gefühle, das Mitgefühl, in solch einen Giftstachel verwandeln kann … Schon wie das klang: Mitleid? Aber heftig!

Eigentlich musste man sich darüber jedoch nicht wundern. Denn was ist ein Online-Kolumnist? Eine arme Sau. Vielleicht etwas mehr als ein Lagerwachhund. Aber weit, weit weniger als ein Werfuchs.


1. Die Ähnlichkeit von Online-Kolumnist und Lagerwachhund besteht in der Fähigkeit, einen genau markierten Sektor zu verbellen.

2. Der Unterschied liegt darin, dass ein Lagerwachhund gar nicht wissen kann, wen oder was er verbellt, der Online-Kolumnist könnte es wissen.

3. Die Ähnlichkeit eines Online-Kolumnisten mit einem Werfuchs besteht darin, dass beide etwas vorzuspiegeln bemüht sind, was der Mensch ihnen als Realität abkaufen soll.

4. Der Unterschied ist, dass den Werfüchsen dieses gelingt, den Online-Kolumnisten nicht.


Letzteres erstaunt nicht. Käme denn einer, der glaubhafte Phantome herzustellen in der Lage ist, auf die Idee, als Online-Kolumnist zu arbeiten? Äußerst unwahrscheinlich. Ein Online-Kolumnist schafft es nicht einmal selber, an seine Enten zu glauben, dachte ich mit geballten Fäusten, von den anderen ganz zu schweigen. Darum muss er still in seiner Hundehütte sitzen und darf nur dann kläffen, wenn …

Moment.

Schlagartig waren Online-Kolumnisten und Lagerwachhunde in Vergessenheit geraten – wie aus dem Kopf gepustet. Denn dort war die Sonne der Erkenntnis aufgegangen.

Selbst daran glauben, ja klar, das ist es!, dachte ich. Das ist der Unterschied!

Ganz unversehens hatte ich die Lösung eines Rätsels gefunden, das mich seit geraumer Zeit quälte. Viele Tage hatte mein Geist sich ihm auf immer neuen Umwegen zu nähern versucht – erfolglos. Auf einmal ruckelte sich dort etwas zurecht, es machte klick!, und alles passte zusammen: als hätte ich versehentlich ein Kreuzworträtsel gelöst.

Ich hatte begriffen, was uns Werfüchse von den Werwölfen unterscheidet. Dieser Unterschied ist, wie so oft, nichts weiter als eine mutierte Gemeinsamkeit, Füchse und Wölfe sind nahe Verwandte. Beider Magie basiert auf manipulierter Wahrnehmung. Doch die Formen der Manipulation sind verschieden.

An dieser Stelle ist ein kurzer theoretischer Exkurs vonnöten, andernfalls blieben meine Ausführungen unverständlich, fürchte ich.

Die Menschen streiten des Öfteren darüber, ob diese Welt tatsächlich existiert. Oder womöglich nur so ein Matrix-Ding ist. Ein dummer Streit! Auseinandersetzungen wie diese rühren daher, dass die Leute die Wörter, die sie benutzen, nicht verstehen. Bevor man dieses Thema diskutiert, sollte man zum Beispiel bedenken, was das Wort »existieren« überhaupt bedeutet. Da käme viel Interessantes zum Vorschein. Aber Menschen sind nun mal selten zu richtigem Denken befähigt.

Womit ich nicht sagen will, dass alle Menschen komplette Idioten sind. Es gibt durchaus welche unter ihnen, deren Intellekt sich mit dem eines Werfuchses messen lässt. Nehmen wir den irischen Philosophen Berkeley. Der gesagt hat: Existieren heißt wahrgenommen werden. Dass die Dinge also lediglich in der Wahrnehmung existieren. Man muss sich nur einmal drei Minuten Zeit nehmen, das Thema in Ruhe zu durchdenken – und alle abweichenden Ansichten zu dieser Frage wandern von ganz allein in die Kiste mit Osiris-Kult und Mithra-Glauben.

Mich dünkt es ist überhaupt der einzige vernünftige Gedanke, der das abendländische Denken in seiner traurigen Geschichte heimgesucht hat; all die Humes, Kants und Baudrillards sticken in die Leinwand dieser großen Weisheit nur noch ihre kleinkarierten Muster.

Wo aber bleibt ein Gegenstand, wenn wir uns von ihm abwenden und ihn also nicht mehr sehen? Er wird doch deswegen nicht verschwinden, wie Kinder und die Indianer am Amazonas glauben? Berkeley sagt, er existiere während dieser Zeit in der Wahrnehmung Gottes. Katharer und Gnostiker wiederum sind der Meinung, er existiere in der Wahrnehmung eines satanischen Demiurgen – und ihre Argumente sind durchaus nicht schwächer als die von Berkeley. Ihrer Ansicht nach ist die Materie das Böse, das den Geist hemmt. (Beim Lesen der Gruselbücher von Stephen Hawking kam mir manchmal der Gedanke, dass die Albigenser, wären sie im Besitz von Radioteleskopen gewesen, den Big Bang für einen Big Snap vom Aufstand des Satans gehalten hätten.) Es gibt in diesem geistigen Marasmus übrigens auch einen Mittelweg: zu glauben, ein Teil der Welt könnte in der Wahrnehmung Gottes existieren und ein anderer in der Wahrnehmung des Teufels.

Was lässt sich hierzu sagen? Wir Werfüchse sind der Ansicht, dass es nie einen Urknall gegeben hat, genauso wenig wie den von Breughel gemalten Turm zu Babel – dass eine Reproduktion dieses Bildes in dem Zimmer an der Wand hängt, von dem Sie gerade träumen, ändert an der Tatsache nichts. Gott und Teufel wiederum sind Begriffe, die in den Köpfen derer existieren, die an sie glauben. Ein Vöglein, wenn es singt, preist mitnichten den Herrn. (Das hätte jeder kleine Pope gern, dass er mit diesem Lied gemeint ist!) Berkeley behauptet, die Wahrnehmung bräuchte unbedingt ein Subjekt. Darum haben die unter den Schrank gerollte Münze und der hinter das Bett gerutschte Strumpf ein Begräbnis erster Klasse im Schädel des eigens zu diesem Zweck erschaffenen Schöpfers bekommen. Was aber nun, wenn der Berkeleysche Gott, in dessen Wahrnehmung wir existieren, selbst vorrangig nur im abstrakten Denken einiger Vertreter der europäiden Rasse mit einem Jahreseinkommen von fünfzigtausend Euro existiert? Während er im Bewusstsein des chinesischen Reisbauern überhaupt nicht vorkommt, und auch das Vöglein weiß nichts, weiß nicht einmal, dass es Gottes Vöglein ist? Was wird aus ihm, wenn existieren wirklich nur wahrgenommen werden bedeutet?

Vergiss es!, sagen die Werfüchse. Auf die fundamentale Frage der Philosophie haben wir eine fundamentale Antwort. Sie besteht darin, diese fundamentale Frage in den Wind zu schreiben. Sowieso gibt es keine philosophischen Probleme, es gibt nur endlos viele aneinandergereihte linguistische Sackgassen, die dadurch entstehen, dass Sprache grundsätzlich ungeeignet ist, die Wahrheit widerzuspiegeln.

Aber immer noch besser, gleich im ersten Absatz auf solch eine Sackgasse zu stoßen als nach vierzig Jahren Forschung und fünftausend beschriebenen Seiten. Als Berkeley gegen Ende begriff, was Sache war, schrieb er nur noch über die wundersamen Wirkungen des Teerwassers, mit dem er in Nordamerika Bekanntschaft gemacht hatte. Deswegen amüsieren sich manche Philister noch heute über ihn – nicht wissend, dass man den Teer in Amerika damals aus einer Pflanze gewann, die sich Jimson Weed beziehungsweise Datura nannte, wir sagen Stechapfel dazu – ein Rauschmittel erster Güte.

Und weil wir gerade bei diesem Thema sind: Religiöse Eiferer bezichtigen uns Werwölfe, wir vernebelten den Menschen die Hirne und verzerrten das Bild Gottes. Die so reden, haben wohl keine sonderlich klare Vorstellung vom Bild Gottes, weil sie es aus ihren eigenen Schnepfenvisagen zusammenbosseln. Vernebeln und verzerren sind jedenfalls tendenziöse Begriffe, die die Frage auf eine emotionale Ebene verschieben und ungeeignet sind, zum Kern der Sache vorzudringen. Und dieser Kern ist folgender (nachfolgendem Absatz bitte ich mit Aufmerksamkeit zu begegnen – ich komme endlich zum Punkt):


Insofern die Existenz der Dinge an ihrer Wahrnehmbarkeit hängt, kann jedwede Transformation auf zwei Wegen erfolgen: entweder als Wahrnehmung der Transformation oder als Transformation der Wahrnehmung.


Dem großen Iren zu Ehren würde ich diese Regel am liebsten das Berkeley-Gesetz nennen. Wahrheitssucher, Inquisitoren, Marketingexperten und Pädophile, die es vorziehen, in Freiheit zu leben, sollten sie kennen und beherzigen.

Werfüchse und Werwölfe nutzen nun also in ihrer Praxis jeweils eine der beiden Optionen des Berkeley-Gesetzes für sich aus.

Werfüchse wenden die Transformation der Wahrnehmung an. Wir beeinflussen diese bei unseren Kunden, lassen sie das sehen, was uns beliebt. Die ihnen vorgespiegelten Phantome werden von ihnen als Wirklichkeit erlebt – dafür sind die Schrammen auf dem Rücken des unvergessenen Pawel Iwanowitsch der schlagende Beweis. Währenddessen sehen die Werfüchse die zugrunde liegende Realität weiterhin so, wie – Berkeley zufolge – Gott sie sieht. Wohl aus diesem Grund wirft man uns vor, das Gottesbild zu verzerren.

Das ist natürlich eine philiströse Anschuldigung, die auf Scheinheiligkeit beruht. Nicht nur der Werfuchsmagie liegt eine Transformation der Wahrnehmung zugrunde, sie ist ein Grundbestandteil vieler Markttechnologien. Die Firma Ford beispielsweise schraubt an ihren Billigkleintransporter F-150 einen schicken Kühlergrill, biegt die Karosse ein wenig um und nennt das so entstandene Produkt Lincoln Navigator. Da sagt keiner, die Firma Ford verzerre das Gottesbild. Von der Politik ganz zu schweigen, da ist sowieso alles klar. Nur wir Werfüchse ecken seltsamerweise damit an.

Werwölfe gehen den anderen Weg: Sie nutzen die Wahrnehmung der Transformation. Dabei erzeugen sie die Illusion nicht für andere, sondern für sich selbst. Und glauben so lange und so fest daran, bis die Illusion aufhört, Illusion zu sein. Mir scheint, in der Bibel findet sich der dazu passende Spruch: So ihr Glauben habt als ein Senfkorn … Die Wölfe haben ihn. Ihre Verwandlung ist eine Art alchimistische Kettenreaktion.

Zunächst bildet der Werwolf sich ein, ihm wüchse ein Schweif. Wenn es dann tatsächlich passiert, so wirkt dieses Gerät (das den Wölfen ja genau wie uns der Suggestion dient) hypnotisch auf das Bewusstsein des Werwolfs zurück, macht ihn glauben, dass die Transformation geschieht, und so geht das weiter, bis die Verwandlung zum Tier abgeschlossen ist. Positive Rückkopplung ist der technische Begriff dafür.

Alexanders Verwandlung begann jedes Mal gleich: Sein Körper ging ins Hohlkreuz, als würde ein unsichtbares Seil zwischen Schweif und Schädel gespannt. Nun begriff ich, was da eigentlich ablief. Die Energie, die wir Werfüchse auf die Menschen richteten, schlossen die Werwölfe in sich kurz; sie induzierten die Transformation zunächst in der eigenen Wahrnehmung und erst hierdurch, in der Folge bei anderen.

Darf man solch eine Art der Verwandlung real nennen? Ich wusste noch nie recht, was dieses Beiwort eigentlich besagen soll, zumal jede Epoche eine andere Bedeutung hineinlegt. Im modernen Russischen zum Beispiel gibt es für die Vokabel »real« (realny) vier grundsätzliche Anwendungsmöglichkeiten:


1. Interjektion für den Kampfgebrauch, verwendet von Banditen und FSB-Mitarbeitern bei Revierstreitigkeiten;

2. Jargonausdruck, den Upper rat und Von-Unten-Nehmer im Gespräch über Auslandskonten gebrauchen;

3. Terminus technicus im Immobilienzusammenhang;

4. allgemeingebräuchliches Attribut in der Bedeutung »mit Dollargegenwert«.


Letztere Unterbedeutung rückt den Terminus »real« in synonymische Beziehung zum Wort »metaphysisch« – ist doch der Dollar in unserer Zeit eine dunkle, mystische Größe, die zur Gänze auf dem Glauben basiert, dass es morgen so ähnlich ist wie heute. Mystik aber sollten Werwesen tunlichst denen überlassen, die von Berufs wegen damit zu tun haben: Polittechnologen und Ökonomen, meine ich. Schon deswegen zögere ich, die Verwandlung eines Werwolfs als real zu bezeichnen – es könnte leicht der Eindruck entstehen, dass billiger menschlicher Satanismus im Spiel wäre. Zweierlei stand in diesem Zusammenhang jedoch außer Frage:


1. Eine Werwolftransformation war etwas grundsätzlich anderes als die Bezirzung durch einen Werfuchs, auch wenn beide auf demselben Effekt beruhten.

2. Für eine Metamorphose zum Werwolf bedurfte es riesiger Mengen an Energie – weit mehr, als wir Werfüchse an einem Kunden verausgabten.


Dies war der Grund, weshalb Werwölfe nie lange im Tierkörper verbleiben konnten; die Folklore hat daraus allerlei zeitliche Einschränkungen für eine solche Transformation abgeleitet: lichtlose Tageszeit, Vollmond und dergleichen mehr. Hier hat der selige Lord Cricket vollkommen klar gesehen.

An diesem Punkt der Überlegung angelangt, kam mir jenes eigentümliche Empfinden während der letzten Jagd in den Sinn, da ich, zum ersten Mal im Leben, die Reststrahlung meines Schweifes an mir selbst wahrnahm. Was zum Teufel war es, was ich mir da selbst suggeriert hatte? Dass ich ein Werfuchs war? Das wusste ich auch ohne Suggestion … Was war los? Ich fühlte mich an der Schwelle zu etwas Bedeutendem, das mein ganzes Leben verändern und endlich aus der geistigen Sackgasse herausführen konnte, in der ich seit fünfhundert Jahren festsaß … Zu meiner Schande muss ich jedoch gestehen, dass ich erst einmal überhaupt nicht an geistige Praxis dachte.

Peinlich zuzugeben, aber mein erster Gedanke galt dem Sex. Alexanders harter grauer Schweif fiel mir ein, und auf einmal wusste ich, wie wir unser Liebesleben in andere Höhen katapultieren konnten. Es war ganz einfach. Die suggestiven Mechanismen waren bei Werfuchs und Werwolf im Wesentlichen gleich – unterschiedlich nur die Intensität der Einwirkung und das Objekt. Ich bewirtete meinen Kunden sozusagen mit Champagner, und es wurde für ihn ein heiterer Abend. Alexander hingegen leerte seine Flasche Wodka selbst, und das bekam allen Anwesenden schlecht. Doch der Wirkstoff Alkohol war in beiden Fällen derselbe.

Brächten wir es fertig, unsere Potenzen zusammenzulegen, so ließen sich aus Champagner und Wodka eine Menge unterschiedlichster Cocktails mixen. Sex ist ja doch mehr als nur die Koppelung gewisser Körperteile. Er ist ein Energieverbund, ein gemeinsamer Trip. Wenn wir es lernten, unsere Hypnose-Vektoren so zu verquicken, dass eine Illusion von Liebe daraus entstünde, in die wir gemeinsam abtauchen konnten, dann hinge der Himmel für uns voller Geigen, ein einziger großer Geigenladen … So mein Gedanke.

Eine Schwierigkeit gab es allerdings. Man musste sich als Erstes darauf einigen, was man sehen wollte. Und das nicht bloß in Worten – die waren hierfür eine unsichere Basis. Verließ man sich auf sie, konnten die Vorstellungen über das Ziel unserer Reise weit auseinandergeraten. Wir brauchten ein fertiges Bild, von dem die Visualisierung ausgehen konnte. Ein Gemälde zum Beispiel …

Ich kramte in meinem Gedächtnis nach dem passenden Bild. Wie zum Trotz fiel mir nichts Spannendes ein: erst einmal nur Picassos frühes Meisterwerk Alter Bettler mit Knaben – ich hatte die Postkarte viele Jahre als Lesezeichen in Freuds Psychopathologie des Alltagslebens liegen gehabt, die zu Ende zu lesen ich mich nie aufraffen konnte; seither waren mir die zwei traurigen dunklen Gestalten in allen Einzelheiten erinnerlich.

Nein, Gemälde eigneten sich nicht für den Zweck. Sie lieferten keine plastischen Vorstellungen. Dann schon lieber Videos. Alexander hat doch diesen großen Fernseher, dachte ich. Der muss doch zu irgendetwas gut sein?

Es gibt diese Sorte türkischen Kaugummi mit Einlegebildchen, auf denen Liebespaare in diversen komischen Situationen abgebildet sind. Unter den Bildern steht jeweils: LOVE IS … Ich sah sie früher oft in Fahrstühlen oder Kinos an der Wand kleben. Hätte ich meine Version dieses Comics zu zeichnen, dann wären darin Wolf und Fuchs mit ineinander verflochtenen Schweifen vor dem Fernseher sitzend zu sehen.

Die Technologie des Wunders gestaltete sich einfacher als gedacht. Es genügte, unsere Hypnosegeräte in Kontakt zu bringen; jede Pose, die das erlaubte, war gut genug. Berühren durften sich nur die Schweife: Das Geschehen auf dem Bildschirm musste zu verfolgen sein, jedes innigere Beieinander hätte dies nur beeinträchtigt.

Das Ritual hatten wir erstaunlich schnell heraus. Für gewöhnlich legte Alexander sich auf die Seite, die Beine in Richtung Teppich baumelnd, ich setzte mich daneben. Wir ließen den Film laufen, und ich liebkoste ihn so lange, bis die Transformation einsetzte. Dann warf ich ihm die Beine über die zottige Flanke, wir verlinkten unsere Antennen, und es begann etwas derartig Irres, dass kein schweifloses Wesen sich je ein Bild davon macht. Die Intensität des Erlebens war so gewaltig, dass ich eine spezielle Technik anwenden musste, um wieder »herunterzukommen«, abzukühlen: Ich wandte die Augen vom Bildschirm und sprach stumm ein Mantra aus dem Herz-Sutra vor mich hin, wie ein Brunnen so tief und kühl: In den sanskritischen Silben ließ sich jedes Zappeln der Seele ohne Rückstände auflösen. Der Anblick unserer verflochtenen Schweife – rot und grau – bereitete mir großes Behagen. Als hätte jemand einen morschen alten Stubben in Brand gesetzt, sodass eine fröhliche Flamme funkenschlagend hervorloderte … Diesen Vergleich behielt ich übrigens für mich.

Während die technische Seite der Angelegenheit also spielend zu bewältigen war, wurde um die Route für unsere gemeinsamen Ausflüge jedes Mal heftig gestritten. Zu sagen, dass sich unsere Geschmäcker unterschieden, wäre untertrieben: es lagen Welten dazwischen. In seinem Fall von Geschmack zu sprechen – versteht man darunter ein klares ästhetisches Wertesystem – wäre überhaupt verfehlt. Wie einem Achtklässler sagte ihm alles zu, was nur irgendwie heroisch und sentimental war, stundenlang ließ er mich irgendwelche Samurai-Dramen anschauen, Western oder – was ich am allerwenigsten ausstehen konnte – japanische Robotermangas. Und dann träumten wir uns in irgendwelche nebenherlaufenden Lovestorys hinein, die die Regisseure dieses Videoschrotts als Lückenfüller zwischen all dem Mord und Totschlag brauchten. Anfangs fand ich das noch interessant. Später nicht mehr.

Aufgrund meiner beträchtlichen Berufserfahrung konnten mich Quickies von der Stange ohnehin nicht vom Hocker reißen – ich habe der Menschheit mehr Träume zu diesem Thema beschert, als die Menschheit Pornos über sich gedreht hat. Es hätte mir gefallen, durch die Terra incognita der modernen Sexualität zu streunen, ihre Randzonen zu erforschen, die grünen Inseln in der Wüste öffentlicher Moral und Sittlichkeit. Er aber war nicht dazu bereit, und obwohl niemand sonst auf der Welt Zeuge unserer gemeinsamen Halluzinationen hätte sein können, wurde er von seinem inneren Grenzsoldaten zuverlässig zurückgehalten.

Auf mein Drängen, doch endlich einmal eine Abenteuerreise zu wagen, reagierte er mit verlegenen Ausflüchten oder machte seinerseits Vorschläge, die für mich nicht in Frage kamen. Zum Beispiel: sich in ein Pärchen Anime-Transformers zu verwandeln, die einander auf dem Dach eines Tokioter Wolkenkratzers beschnüffeln … Der blanke Horror. Und als ich einmal der deutsche Major aus Casablanca sein wollte, der ihn von hinten vögelt, während er – als der schwarze Klavierspieler – Summertime, and the living is easy singt, da geriet Alexander dermaßen außer sich, als hätte ich Vaterlandsverrat von ihm verlangt.

Auch das wäre ein interessantes Thema für Doktor Spengler gewesen: Die russischen Männer in ihrer Mehrzahl sind deswegen so homophob, weil der russische Geist stark von den Metastasen des kriminellen Ehrenkodex befallen ist. Jeder richtige Mann, gleich was er angestellt oder nicht angestellt hat, veranstaltet ein gedankliches Probeliegen auf den Lagerpritschen und sieht zu, dass sein Personalbogen keine maßgeblichen Brüche irgendwelcher Lagertabus enthält, für die er früher oder später den Arsch hinhalten müsste. Darum hat das Leben des russischen Machos etwas von einer spiritistischen Endlossitzung: Während der Körper im Luxus badet, sitzt der Geist immer irgendeine Strafe ab.

Ich bin, nebenbei gesagt, im Bilde, warum das so ist, ich könnte ein dickes gelehrtes Buch darüber schreiben. Der Kerngedanke wäre folgender: Russland ist ein Land, das auf bäuerlicher Selbstverwaltung gewachsen ist, und die Zerstörung dieser bäuerlichen Kultur führte dazu, dass mehr und mehr eine andere Form von Selbstverwaltung, nämlich die des kriminellen Milieus, die allgemeingültigen Maßstäbe der Moral lieferte. Wo früher der liebe Gott residierte, galt jetzt ein kleines Einmaleins, genauer gesagt, der liebe Gott wurde ein Teil davon: 1 Mann, 1 Wort, wie der Diskurs jenes unbekannten Meisters der Knasttätowierung lautete. Und als schließlich auch die letzte Religionsprothese, der »innere Parteisekretär« aus Sowjetzeiten, demontiert war, da lieferte die auf Ganovenlieder gestimmte Klampfe endgültig den Kammerton der russischen Seele.

So ekelhaft diese Knastmoral auch immer sein mag – eine andere ist nicht mehr vorhanden. Ich seh nur noch Melonenkarren, ich seh hier keine Menschen mehr – Lermontow scheint es exakt vorausgesehen zu haben, auch wenn er nicht wissen konnte, dass »Melonen« einmal, gut anderthalb Jahrhunderte später, ein Unterweltsausdruck für Millionen sein würde. (Dollar natürlich.) Melonen im Überfluss, nur keine ehrenwerten Leute! Nichts als KGB-Windhunde und Spintrienjournaille, spezialisiert auf liberale Wertepropaganda …

Yeah! Den letzten Satz lasse ich so stehen, möge der Leser sich daran ergötzen. Werfuchsschläue! Wir Werfüchse sind nämlich von Natur aus liberal, so wie die Seele die geborene Christin ist. – Huch! … Was schreibe ich denn da? Mein Gott. Aber man weiß ja, wo das alles herkommt. Das von der Spintrienjournaille hab ich von den KGB-Windhunden. Das von den KGB-Windhunden hab ich von der Spintrienjournaille. Nichts zu machen: Schnappt ein Werfuchs irgendeine Meinung auf, dann käut er sie automatisch in der ersten Person wieder. Wie auch sonst? Eine eigene Meinung haben wir zu diesen Fragen nicht (das fehlte noch), aber man lebt unter Leuten. Also lässt man die Bälle zurückgehen. Nein, was bin ich froh, dass ich kein Buch über Russland schreiben muss. Was wäre ich schon für ein Solschenizyn auf seiner Ranch Jasnaja Poljana? Nicht mit der Lüge leben. Life's Good © Aber ich schweife schon wieder ab.

Die tieferen Gründe für seine Homophobie hatte ich mit Alexander bislang kaum erörtert (kein Thema für ihn), doch war ich überzeugt davon, dass ihre Wurzel bis in die kriminellen Katakomben des russischen Bewusstseins hinabreichte. Bei ihm ging die Homophobie so weit, dass er alles ablehnte, was auch nur ein klein wenig schillernd war. Und er phantasierte es sonst wo hinein: Zum Beispiel war er der Meinung, Bunins Schulbuchgedicht Der Hahn auf dem Kirchenkreuz spiele auf die schwierige Situation der Schwulen in Russland unter dem Zaren an. (Gleich stellte ich mir einen Nachtklub-Chansonnier auf der Kirchturmkuppel vor, wie er mit dem Lied seinen Arsch bei besoffenen Kreuzrittern loszukaufen sucht: Er singt vom Leben und vom Tod / von Feuersnot und Gnadenbrot …)

»Was hast du eigentlich gegen Schwule?«, fragte ich.

»Sie sind gegen die Natur.«

»Aber die Natur hat sie doch geschaffen. Wie können sie dann gegen die Natur sein?«

»Das ändert nichts. Was als Keim im Sex verborgen liegt, sind die Kinder – so wie die Kerne in der Melone. Die Schwulen kämpfen für das Recht, Melone ohne Kerne essen zu dürfen.«

»Gegen wen kämpfen sie denn?«

»Gegen die Melone. Sonst ist es eh längst allen egal. Aber die Melone kann ohne Kerne nicht fortexistieren. Darum sage ich, Schwule sind gegen die Natur. Ist das nicht logisch?«

»Ich kannte mal eine Melone«, gab ich zur Antwort, »die meinte, die Fortpflanzung von Melonen hänge davon ab, ob man den Leuten weiszumachen versteht, dass es gesund wäre, die Kerne runterzuschlucken. Aber da überschätzen die Melonen ihre hypnotischen Fähigkeiten gewaltig. In Wahrheit geschieht die Fortpflanzung der Melonen in einem Prozess, von dem die Melonen keine Vorstellung haben, weil sie nämlich nie dabei sind. Denn erst wenn die Melone stirbt, fängt dieser Prozess an.«

»Du redest schon wieder so verquer, dass ich nix kapiere, Füchslein«, sagte er missmutig. »Mach es kürzer, ohne diesen ganzen schwulen Fickfack.«

Eine besondere Abneigung hegte Alexander gegen Luchino Visconti. Jeden Vorschlag, etwas von diesem Regisseur (ich halte ihn für einen der größten des zwanzigsten Jahrhunderts) in den Recorder zu schieben, fasste er als persönliche Beleidigung auf. Das Fragment eines solchen Streitgesprächs ist mir erhalten geblieben. Wenn alle übrigen Dialoge in meinen Aufzeichnungen nur Gedächtnisprotokolle sind – dieser ist absolut genau, ich habe ihn zufällig auf Diktaphon mitgeschnitten. Er soll vor allem deshalb hier stehen, weil ich noch einmal Alexanders Stimme im Ohr haben möchte – während der Abschrift kann ich mich an ihr satt hören.


AS: Tod in Venedig? Du fällst mir auf den Wecker damit, Füchslein. Hältst du mich für schwul?

AH: Dann wenigstens Gewalt und Leidenschaft.

AS: Nein. Lieber Takeshi Kitano. Zatoichi straft die Mörder-Geisha. Und lässt sich dann von ihr bestrafen.

AH: Das mag ich nicht. Dann lieber noch mal Vom Winde verweht.

AS: Ach, nö … Da ist die Treppe so lang.

AH: Was denn für eine Treppe?

AS: Die ich dich ins Schlafzimmer rauftragen muss. Und du machst sie absichtlich noch fünfmal länger. Ich war das letzte Mal völlig nassgeschwitzt. Ernsthaft! Obwohl man denken könnte, wir hätten das Sofa gar nicht verlassen.

AH: Na, manchmal werd ich schon ganz gern auf Händen getragen … Aber ich machs kurz diesmal. Die Treppe, meine ich. O.k.?

AS: Lieber was andres … Ich hätte gerne einen, wo ne Schießerei dabei ist.

AH: Na gut, dann nehmen wir Mulholland Drive. Da wird geschossen. Bitte!

AS: Jetzt fängst du damit wieder an. Nicht mit mir, wie oft soll ich dir das noch sagen? Hol dir nen Schwulen von der Straße rauf, mit dem kannst du das gucken.

AH: Was hat das damit zu tun? Das sind doch Lesben in dem Film.

AS: Ist das nicht dasselbe?

(Pause. Rascheln, Klappern. Ich hocke auf dem Fußboden und wühle in den herumliegenden Kassetten.)

AH: Da schau, hier gibt es eine Stephen-King-Verfilmung: Dreamcatcher. Schon gesehen?

AS: Nein.

AH: Dann lass uns das probieren. Da müssen wir keine Menschen sein, sondern Aliens.

AS: Was denn für Aliens?

AH: Die haben einen Mund mit Zähnen drin, der geht senkrecht den ganzen Körper runter. Und die Augen sind an den Seiten. Kannst du dir vorstellen, was das für blutige Küsse gibt? Das allein ist schon der reinste Cunnilingus. Ich vermute, dass die sich auch so fortpflanzen.

AS: Liebste! Runterzieher hab ich auf Arbeit genug. Lass uns lieber was Romantisches gucken.

AH: Was Romantisches, na schön … Was Romantisches … Hier haben wir Matrix-2. Magst du mit Keanu Reeves ficken?

AS: Nicht wirklich.

AH: Dann lass mich das machen.

AS: Abgelehnt. Matrix-3 ist nicht zufällig da?

AH: Doch.

AS: Da gäbe es eine spannende Variante mit diesen Maschinen.

AH: Welche meinst du?

AS: Na, die humanoiden Roboter, wo Menschen drinsitzen. Sie schießen sich mit diesen schwarzen Achtbeinern. Stell dir vor, so ein Roboter hat einen von den Achtbeinigen geschnappt und …

AH: Weißt du was? Manchmal kommst du mir vor wie zwölf.

AS: Dann schieb Matrix rein, und fertig. (Erneutes Rascheln. Wahrscheinlich bin ich bei den DVD-Vorräten gelandet.)

AH: Wie wärs mit Herr der Ringe?

AS: Du bist schon wieder dabei, dir was Grusliges auszudenken.

AH: Glaub doch nicht, dass ich mich unter einen Hobbit lege … Woher immer diese Bedenken? Hast du Angst, dass sie auf Arbeit davon erfahren? Um dein moralisches Ansehen und so?

AS: Nein, wieso Angst? Ich mag einfach nicht.

AH: Sieh mal, hier gibts einen Packen Filme auf Englisch. Interessante Auswahl.

AS: Nämlich?

AH: Midnight Dancers … Sex Life in L.A. …

AS: Kein Bedarf.

AH: Versace Murder?

AS: Nein.

AH: Warum nicht?

AS: Darum nicht.

AH: Übrigens: Weißt du, wie die Homos in Miami statt vice versa sagen? Vice Versace. Wie viele Untertöne da mitschwingen!

AS: Erst stemmt der eine dem andern die Kiste auf, und dann tauschen sie. Das ist alles, was da mitschwingt.

AH: Darf ich ihn einlegen?

AS: Nein! Ich sag doch: Schlepp dir einen Schwulen von der Klappe ab oder aus dem Gastmahl des Meeres und vergnüg dich mit dem.

AH: Sei doch kein solcher Ignorant! Selbst bei den Tieren in der freien Natur gibt es Homosexualität, hab ich gelesen. Bei den Schafen, bei den Affen …

AS: Bei den Affen, soso. Kein besonders schwulenfreundliches Argument, findest du nicht?

AH: Oje. Dich haben sie wirklich prima gepanzert. Da richtet keiner mehr was aus … Was hast du jetzt für eine Kassette in der Hand?

AS: Romeo und Julia.

(Verächtliches Fauchen meinerseits.)

AH: Die kannst du in den Müll schmeißen.

AS: Könnten wir uns die nicht noch mal angucken?

AH: Wie oft denn noch?

AS: Nur noch ein allerletztes Mal. Einverstanden? In dem Shirt bist du die perfekte Julia.

AH: Was soll ich bloß mit dir machen, Romeo … Von mir aus. Aber nur unter einer Bedingung.

AS: Und die wäre?

AH: Hinterher kommt Mulholland Drive dran.

AS: R-r-rrr!

AH: Liebster, was ist denn nun los? So schnell?

AS: R-r-rrr!

AH: Ist ja gut, ist ja gut. Bin schon dabei … Diesen Film kann ich wirklich bald auswendig. Zwei Häuser, beide gleich an Rang und Stand, hier in Verona, wie ihrs gleich erlebt, entfachen alten Hass zu neuem Brand, bis Schweineblut an Schweinehaxen klebt …

AS: U-u-uuh!

AH: Nicht du bist gemeint, Isegrim, entspann dich. Das ist Shakespeare. Apropos Schweine. Hatten wir das Thema schon mal? Ein Schwein kann nicht in den Himmel gucken, das lässt sein Hals nicht zu. Ist das nicht eine tolle Metapher? Geht einfach nicht, und gut … Wahrscheinlich weiß es nicht mal, was es ist …


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