Nach dem Koitus sind alle Tiere traurig, sagten die alten Römer. Mit Ausnahme des Werfuchses, möchte ich hinzufügen. Und der Frau. Das wusste ich nunmehr genau.

Womit ich nicht sagen will, dass die Frau zu den Tieren zählt. Das Gegenteil ist der Fall: Der Mann in all seinen Lebensäußerungen, den Gerüchen und Geräuschen, die er absondert, seiner Körperlichkeit, wie auch in der Wahl der Mittel, mit denen er für sein privates kleines Glück kämpft (ganz zu schweigen davon, was er für sein privates kleines Glück hält), ist dem Tier sehr viel näher. Doch wird dieser alte Römer, der seine Laune nach dem Liebesakt zum Sinnspruch erhob, ein so eingefleischter Sex-Chauvinist gewesen sein, dass er an die Frau gar keinen Gedanken verschwendete – die Gerechtigkeit sei darum hier wiederhergestellt.

Für besagte Sentenz sind mindestens vier Herleitungen möglich:


1. Die Römer sahen in der Frau nicht einmal ein Tier.

2. Die Römer sahen in der Frau sehr wohl ein Tier, doch koitierten sie mit ihr in einer Weise, die die Frau tatsächlich traurig machte. (Sueton zum Beispiel berichtet, dass das Gesetz es untersagte, Jungfrauen zu strangulieren, weshalb der Henker sie vor der Hinrichtung erst noch schändete – wenn das kein Grund zur Trauer sein soll…)

3. Die Römer sahen das Tier nicht in der Frau, sondern nur im Manne. Für so eine edelmütige Sicht der Dinge könnte man den Römern so manches nachsehen – von ihrem Flitz mit den Jungfrauen und dem Strang einmal abgesehen.

4. Die Römer interessierten sich weder für Frauen noch für Metaphern, ihre Leidenschaft entzündete sich an Hausvieh und Geflügel, welches diese Neigungen nicht erwidern und seine Gefühle nicht verhehlen konnte.


Jede dieser Erklärungen mag ein Körnchen Wahrheit enthalten – was wird nicht alles vorgekommen sein in den Jahrhunderten, die das Reich bestand. Ich aber war ein glückliches Tier.

Während der letzten anderthalb Jahrtausende hatte ich den Komplex einer alten Jungfer entwickelt – natürlich nicht den Menschen gegenüber, deren Meinung mir herzlich gleichgültig war, doch innerhalb unserer kleinen Werfuchs-Community. Mir war es manchmal so vorgekommen, als würde hinter meinem Rücken über mich getuschelt. Und das nicht ohne Grund: Alle meine Schwestern hatten ihre Unschuld noch im Altertum verloren, bei verschiedenster Gelegenheit. Die interessanteste Geschichte war Schwester I passiert: Sie wurde von einem Nomadenanführer gepfählt und hatte tapfer drei Tage und Nächte lang eine Agonie vorgetäuscht. Erst als die Nomaden besoffen waren, gelang es ihr, in die Steppe zu fliehen. Hierin hatte vermutlich auch ihr unauslöschlicher Hass auf die Aristokratie seine lieferen Wurzeln, der nun schon so viele Jahrhunderte in immer wieder neuen, obskuren Formen zutage trat…

Zugegeben, ein bisschen traurig war ich auch. Wie schon im neunzehnten Jahrhundert meine Bordsteingenossin, die Gymnasiastin Mascha aus Nikolajewo, sagte: Er kommt nicht zweimal in denselben Schrein. (Zu meiner Scham muss ich gestehen, den Spruch damals missverstanden und lange Zeit auf lärm-frohes männliches Sexualverhalten bezogen zu haben, ehe ich begriff, dass Mascha vom Reliquienschrein gesprochen hatte und jenem guten Engel darin, welcher uns verlässt, wenn wir die Unschuld verlieren.) Doch meine Traurigkeit war von lichter Art und meine Stimmung im Ganzen vorzüglich.

Einen Verdacht allerdings gab es, der seinen Schatten warf. Ich wurde das Gefühl nicht los, in dieselbe Falle getappt zu sein, die ich zeit meines Lebens anderen stellte: Konnte es sein, dass ich mir das alles nur eingebildet hatte? Es war die reine Paranoia – wir Werfüchse sprechen nicht auf Hypnose an. Doch eine vage Beunruhigung blieb in meinem Herzen wohnen.

Die Verwandlung, die mit Alexander vor sich gegangen war, konnte ich nicht verstehen. Auch Werfüchse erleben mitunter so genannte supraphysikalische Transformationen, ich werde darauf noch zu sprechen kommen. Doch die gehen niemals so weit. Was Alexander da vorgeführt hatte, war atemberaubend. Ein uraltes Geheimnis schien in ihm lebendig, das die Werfüchse längst vergessen hatten – und dass mich dieses noch längere Zeit beschäftigen würde, wusste ich schon.

Außerdem fragte ich mich, ob der Verlust der Jungfräulichkeit womöglich Auswirkungen auf meine Fähigkeiten zur Irreführung hatte. Es bestand überhaupt kein Anlass zu dieser Befürchtung, doch irrationale Ängste sind bekanntlich die klebrigsten. Ich wusste, dass ich keine Ruhe finden würde, bevor ich mich nicht meiner Begabungen versichert hatte. Darum war ich, als mein Telefon das nächste Mal klingelte, schnell bereit, dem Ruf zu folgen.

Wie der Anrufer klang, hatte ich es mit einem schüchternen Studenten aus der Provinz zu tun, der ein bisschen Geld gespart hatte, um von seiner Kindheit rituell Abschied zu nehmen. Irgendetwas an dieser Stimme bewog mich jedoch, sicherzugehen und die Nummer im Display mit der entsprechenden Datenbank auf meiner Festplatte abzugleichen. Und siehe da, der Anruf kam vom nächstgelegenen Polizeirevier. Anscheinend planten die Bullen einen Subbotnik zum Frühlingsanfang. Diese Art Veranstaltung hatte ich schon zu Sowjetzeiten gehasst, doch heute beschloss ich, mich freiwillig in die Höhle des Löwen zu begeben – wenn schon einen Test, dann einen richtigen.

Die Bullen waren zu dritt. Einen Duschraum hatte das Revier nicht zu bieten, ich musste meine Vorbereitungen also in einer Klokabine mit Sprung in der Schüssel treffen, die mich lebhaft an die Tscheka in Odessa während der Revolutionsjahre erinnerte. (Über einem solchen Becken hatte man Leute in den Kopf geschossen, damit das Blut nicht auf den Boden spritzte.) Meine Ängste erwiesen sich selbstverständlich als unbegründet – alle drei Milizionäre versackten in Trance, kaum dass ich den Schweif gehoben hatte. Ich hätte mich unter meine Reitbahntribüne zurückziehen können, doch mir kam ein interessanter Gedanke.

Noch am Morgen hatte ich über das alte Rom meditiert und an Sueton gedacht – vielleicht war dies der Auslöser gewesen für die in mir erwachte Experimentierfreude. Sein Bericht über Tiberius' Orgien auf Capri fiel mir ein: Dort war von so genannten Spintrien die Rede, die die Sinnlichkeit des alternden Imperators entfachen halfen, indem sie sich vor seinen Augen zu dreien paarten. Die Geschichte reizte meine Vorstellungskraft – das ging so weit, dass ich den Namen eines unschuldigen Computerspiels, Splinter Cell nach Tom Clancy, in diese Phantasien einbaute. Hier nun, in Gesellschaft dreier moralischer Außenseiter, konnte ich mich eines Experiments nicht enthalten. Und ich kriegte es wunderbar hin! Besser gesagt: Sie kriegten es hin. Was Tiberius an diesem rüden Schauspiel sinnlich gefunden hatte, blieb mir allerdings ein Rätsel – meiner Ansicht nach taugte es bestenfalls als Illustration für eine der edelsten Weisheiten des Buddhismus: Leben ist dukha, Sehnsucht und Schmerz. Aber das hätte ich auch ohne die Dreieinigkeit kopulierender Polizisten gewusst.

Auf dem Revier fanden sich viertausend Dollar in bar, die mir äußerst gelegen kamen. Außerdem stieß ich auf ein Fotoalbum zu Lehrzwecken mit Tätowierungen aus dem kriminellen Milieu, das ich neugierig durchblätterte. Wohin die Entwicklung in diesem Genre ging, entsprach ganz der Richtung, die die Weltkultur im Allgemeinen nahm: Das religiöse Bewusstsein eroberte sich die im zwanzigsten Jahrhundert verlorenen Positionen zurück. Auch wenn man seine Entäußerungen nicht immer gleich als solche wahrnahm. Zum Beispiel verstand ich nicht auf Anhieb, dass die Wortfolge SWAT SWAT SWAT (unter ein blaues Kreuz tätowiert, das einem deutschen Ritterkreuz ähnlicher sah als jedem Kruzifix) keineswegs das berüchtigte Sonderpolizeikommando von L. A. Special Weapon And Tactics verherrlichte – gemeint war das Heilig, heilig, heilig! der orthodoxen Liturgie in lateinischen Buchstaben.

Am meisten beeindruckte mich ein Rückendiptychon, Himmel und Erde darstellend. Der Himmel befand sich zwischen den Schulterblättern: Dort schien die Sonne, und Engelein schwebten, die wie Brieftauben aussahen. Den Erdkreis repräsentierte das Moskauer Wappen mit seinem Drachenkämpfer zu Pferde, nur dass anstelle des Speers verschiedenfarbige Strahlen aus der Handfläche des Reiters auf die Drachen hinabstießen – von ihnen gab es mehrere, einer schiefer, säuerlicher und platt gedrückter als der andere und trotzdem irgendwie knuffige kleine Kerlchen, die über eine baumbestandene Allee das Weite suchten. Das Ganze trug einen Namen, und der war: Der Hl. Georg vertreibt die Lesben vom Twerskoi Bulwar.

Eine in einen Bierbauch gestochene Kreuzigung interessierte mich der Buchstaben wegen, die in einer Girlande oberhalb des Kreuzes schwebten: dort, wo normalerweise INRI steht: Jesus von Nazareth, König der Juden – hier aber stand EMEW. Ohne den Kommentar unter dem Foto wäre ich nie darauf gekommen, was das bedeutete: Ein Mann – Ein Wort. Gnostisches Fresko aus den Zeiten von Boris Monomachos.

Ich überblätterte ein paar Seiten, auf denen die altbewährten Sortimente: Stalins, Hitlers, Drachen, Spinnen, Haie etc. vorkamen (unter einem von letzteren der Spruch: In tiefer Ergriffenheit), bevor ich wieder auf das Thema Religion stieß. Jemandes Rücken zierte ein Höllenpanorama mit vielen verlorenen Sünderlein. Besonders eindrucksvoll ein halb von Würmern zerfressener Bill Gates und ein im Feuer schmorender Bin Laden, er trug ein frivoles weißes T-Shirt mit dem Aufdruck:



Auf der letzten Seite schließlich gab es eine dystrophisch blasse Schulter zu sehen und auf ihr einen Atompilz, der anstelle der Kappe den Nike-Swoosh trug, NUKE stand darunter. Offenbar eine Erinnerung an die Zukunft.

Unter dem Stöhnen und Schnaufen der Spintrien kam einem das alles noch viel unerfreulicher vor. Wohin geht die Menschheit? Wer geht voraus? Was wird in fünfzig Jahren auf der Erde los sein? In hundert? Meine frühlingshafte Stimmung trübte sich ein, trotz der guten Ausbeute. Was diese anging, regte sich mein Gewissen übrigens nicht im Geringsten. Ich hatte nicht das Gefühl, einen Diebstahl zu begehen. Die Bullen hatten ihren Sex bekommen und ich mein Geld. Und dass ich teuer bin – daraus habe ich nie einen Hehl gemacht.

Auf dem Nachhauseweg gingen mir die Tätowierungen nicht aus dem Sinn. Ich liebe Tattoos, auch wenn ich mir selbst fast nie eins machen lasse. Bei Werfüchsen halten sie sowieso nie länger als zwanzig Jahre. Außerdem zerfließen sie häufig zu bizarren Formen. Das hängt mit gewissen Eigenheiten unseres Körperbaus zusammen. In den letzten hundert Jahren habe ich nur ein einziges Mal ein Tattoo getragen: zwei Zeilen Text, die der Dichter Wystan Hugh Auden mir auf ewig ins Herz eingebrannt hat, der einäugige Stecher Slawa Kosoi sengte sie mir für eine Weile in die Schulter:


I am a sex machine,

And I'm super bad.


Darunter hing eine dicke blaue Träne; ich weiß nicht, warum die Kunden sie immer für eine Zwiebel oder ein Klistier hielten, man musste annehmen, die Bewohner des verstaubten Sowjetparadieses wussten tatsächlich nicht mehr, was Traurigkeit ist.

Mit dieser Tätowierung gab es damals übrigens eine Menge Stress. Ständig wurde ich von Bullen oder Hilfsbullen angehalten, die wissen wollten, was da in der Sprache des potentiellen Feindes geschrieben stand. (Der Kampf gegen die »Halbstarken« lief gerade auf Hochtouren.) Folglich waren immer wieder Hypnosubbotniks abzuleisten, weit strapaziöser als dieser hier. Kurzum, die Lust, im ärmellosen Kleid herumzulaufen, wurde mir vergällt. Dabei ist es bis heute geblieben, auch wenn die Tätowierung längst ausgeblichen ist, der potentielle Feind auf leisen Sohlen angeschlichen kam und, kaum dass der Staub sich gesetzt hatte, als potentieller Verbündeter einstieg.

Zu Hause schaltete ich den Fernseher ein, es lief gerade der BBC World Service. Zuerst kam Click, ein Internet-Panorama, moderiert von einem, der aussah wie Clinton; dann folgten die Nachrichten. Das forsche Gebaren des Anchorman deutete auf stolze Fangergebnisse hin.

»Heute ist in London ein Attentat auf den tschetschenischen Exil-Essayisten Aslan Udojew verübt worden. Ein Selbstmordattentäter aus einer schiitischen Kampftruppe versuchte ihn in den Tod zu reißen. Aslan Udojew kam mit einer leichten Gehirnerschütterung davon, zwei seiner Leibwächter starben am Tatort.«

Gezeigt wurde das schmale Dienstzimmer eines Polizeibeamten, der vor der schwarzen Mündung des Mikrofons bedachtsam seine Worte wählte: »Wir wissen, dass der Attentäter versucht hat, sich Aslan Udojew zu nähern, während dieser im St. James Park Eichhörnchen fütterte. Als Udojews Leibwache den Terroristen bemerkte, zündete er seinen Sprengsatz …«

Auf dem Bildschirm erschien der Berichterstatter vor Ort, er stand auf einem Balkon, der Wind raufte ihm die strohgelben Haare, und um seine Lippen spielte ein kleines Lächeln, wie der Abglanz eines wohltuenden Geheimwissens, das er mit den Zuschauern teilte.

»Andere Quellen behaupten, dass der Sprengsatz zündete, bevor der Attentäter am beabsichtigten Ort angelangt war. Die Detonation erfolgte exakt um 12:00 westeuropäischer Zeit. Die Polizei enthält sich bisher jeglichen Kommentars. Zeugen des Ereignisses wollen gehört haben, dass der Selbstmordattentäter vor der Detonation nicht wie sonst üblich ›Allah Akbar!‹, sondern ›Same Shi'ite Different Fight!‹ gerufen habe. Hier gehen die Zeugenaussagen etwas auseinander, der Terrorist sprach offenbar mit stark arabischem Akzent. ›Same Shi'ite Different Fight!‹ war bereits zuvor als Name einer schiitischen Terrororganisation bekannt geworden, die nach eigenen Aussagen eine zweite Dschihad-Front in Europa zu errichten beabsichtigt. Ideologisch soll die Gruppierung der al-Mahdi-Armee des radikalen Geistlichen Mokhtada al-Sadr nahe stehen.«

Wieder filmte die Kamera den Polizeibeamten in seinem winzigen Kabuff.

»Bekanntlich zählen die Tschetschenen zum sunnitischen Zweig des Islam«, begann der Korrespondent seine Frage. »Der Attentäter hingegen war Schiit. Darf man sich in diesem Zusammenhang den ersten Analysen mancher Kommentatoren anschließen, dass die lange angekündigten Auseinandersetzungen zwischen Schiiten und Sunniten nunmehr begonnen haben?«

»Kurzschlüssige Spekulationen über die Motive der Täter und ihrer Hintermänner suchen wir zu vermeiden«, erwiderte der Beamte. »Die Ermittlungen stehen noch ganz am Anfang. Außerdem möchte ich an dieser Stelle betonen, dass über Programm und Zielstellungen einer Terrorgruppe mit dem Namen ›Same Shi'ite Different Fight!‹ bislang keine konkreten Erkenntnisse vorliegen, ebenso wenig über einen schiitischen Untergrund in Großbritannien.«

»Stimmt es, dass dem Terroristen Drähte in den Kopf implantiert waren?«

»Kein Kommentar.«

Zuletzt erschien Aslan Udojew auf dem Bildschirm. Er lief einen Krankenhauskorridor entlang, blickte feindselig in die Kamera und hielt sich die verbundene Stirn.

Anschließend war von der Hochzeit irgendeines Fußballers die Rede.

Ich schaltete den Fernseher ab, saß einige Minuten wie gelähmt und versuchte einen Gedanken zu fassen. Das fiel mir schwer, ich war schockiert. Ich stellte mir eine Zukunft vor mit Spezialkliniken, operativer Zombifizierung, in den Kopf implantiertem Steuerkabel (die hautfarbenen Drähte im Ohr des Wachmanns vom National!). Es folgt die Mission. Zum Beispiel mit einer Mine auf dem Rücken unter einen Panzer kriechen – so wie früher im Krieg jener legendäre Schäferhund. Aber nein, Panzer waren gar nicht mehr aktuell. Sagen wir, unter einem gelben Hummer auf der Fifth Avenue. Diese Variante hätte Stil, gefiele mir deswegen aber auch nicht viel besser. Same shite different Shakespeareforscher, sozusagen …

Ins Ausland gehen? Das ließ sich machen – ich hatte ja den falschen Pass. Bloß wohin? Thailand? Dann doch lieber London … Schon lange wollte ich I Huli einen Brief schreiben, war nie dazu gekommen. Jetzt bot sich ein guter Anlass. Ich setzte mich hinter den Computer und kramte angestrengt aus meinem Gedächtnis hervor, was ich ihr in letzter Zeit alles hatte sagen wollen. Dann fing ich an zu tippen.


Grüß Dich, Rotschopf,

wie geht's? Immer noch dasselbe bübische Lächeln, und bergeweise Leichen im Keller?:)))) Pass auf Dich auf! Obwohl, Du warst ja immer die Vorsichtigste von uns allen, nicht ich sollte Dich belehren …

Unlängst bekam ich einen Brief von unserer Schwester E, bei der Du zu Besuch warst. Wie sehr ich sie doch um ihr bescheidenes, doch redliches und glückliches Leben beneide! Sie klagt, müde von der Arbeit zu sein. Aber das ist bestimmt eine selige Art Müdigkeit – wie der Bauer sie nach einem langen Tag auf dem Acker spürt. Von solcher Müdigkeit heilen alle seelischen Wunden, gerät aller Gram in Vergessenheit – um dieser Müdigkeit willen ist Lew Tolstoi hinter seinem Pflug hergestiefelt. In der Stadt ermüdet man auf andere Art. Du kennst die Pferde, die in diesen Göpeln im Kreis gehen, zum Wasserpumpen. Du und ich, wir sind, bedenkt man es recht, genau solche armen Viecher. Der Unterschied ist nur, dass ein Göpelgaul mit seinem Schweif die Schmeißfliegen vertreibt, die sich an ihm gütlich tun wollen, während wir beide den Schweif benutzen, um Schmeißfliegen anzulocken und uns an ihnen gütlich zu tun. Außerdem ist das Pferd ein Nutztier für den Menschen, wir hingegen … Sagen wir es so: Wir sind Nutznießer. Aber ich weiß, Du kannst das Moralisieren nicht ausstehen.

E Huli schrieb, Du habest einen neuen Lord an Deiner Seite. Führst Du über sie wenigstens Buch? Gerne würde ich ein Auge auf ihn werfen, solange es sich noch lohnt:)))) Wie E Huli weiter schrieb, interessierst Du Dich in letzter Zeit sehr für Überwertiere. Und dass Du mich nach der zerstörten Kathedrale ausgefragt hast, scheint auch nicht zufällig gewesen zu sein.

Es stimmt, die Weissagung vom Überwertier verheißt sein Erscheinen in einer Stadt wo ein Tempel von dem kein Stein auf dem anderen blieb, wiedererrichtet wurde. Doch muss man sehen, dass diese Weissagung runde zweitausend Jahre alt ist, damals waren Vergleiche und Allegorien noch sehr im Schwange, alles Wesentliche kam ausschließlich in Gleichnissen zur Sprache. Die Weissagung wurde in der Sprache der inneren Alchimie getroffen: Stadt bedeutet Seele, der Tempel, »zerstört und wieder aufgebaut«, meint das Herz, das der Macht des Bösen verfallen und dann auf den Pfad des Guten zurückgekehrt ist. Bitte suche in diesen Worten nach keinem anderen Sinn.

Ich wage es, eine Vermutung zu äußern, die Du mir bitte nicht übel nehmen solltest. Du lebst schon so lange im Westen, dass das christliche Mythologem in Deinem Denken unbemerkt Keime getrieben hat. Überleg doch mal selbst: Du wartest darauf dass irgendein Superwertier kommt, uns all unsere Werfuchssünden vergibt, unsere Seelen wieder so rein werden lässt wie im Ursprung der Zeiten. Jetzt pass mal auf, was ich Dir sage: Zu uns Werwesen wird nie ein Messias kommen. Doch jedes von uns kann sich ändern, kann seine eigenen Schranken überwinden. Darin liegt der Sinn der Formulierung Über-Werwesen – der, welcher seine Grenzen hinter sich lässt, hat sich selbst überwunden. Das Überwerwesen kommt weder aus dem Osten noch aus dem Westen, es kommt von innen. Das wird der Tag der Sühne sein. Und es gibt nur einen Weg dorthin. Jawohl, es sind die Gebote, die Dich so ankotzen:

1. Barmherzigkeit;

2. Schonung für die Schwachen dieser Welt, die Tiere und die Menschen – jedenfalls wann immer es sich einrichten lässt;

3. das Wichtigste: unermüdlich die eigene Natur zu erforschen.

Kurz und knapp gesagt (mit Nietzsches Worten, für unseren Fall leicht paraphrasiert), ist das Geheimnis ganz simpel: Überwinde das Tier in dir! Denn dass Du den Menschen bereits überwunden hast, daran zweifle ich nicht:))))

Gedenke der Meditationsstunden, die Du einst beim Lehrer vom Gelben Berg nahmst. Glaub mir, in den reichlich tausend Jahren, die seither vergangen sind, ward nichts Bessres erfunden. Atombombe, Gucchi-Parfüm, Noppenkondom, CNN-Nachrichten, Flüge zum Mars – all diese bunten Wunder rührten nicht an den Gewichten, die das Wesen der Welt in der Balance halten. Besinne Dich daher auf unsere Praktiken, und in ein, zwei Jahrhunderten wirst Du kein Überwerwesen mehr nötig haben. (Sollte ich dich mit meinen Tiraden erschöpft haben, sieh es mir nach – Du weißt, ich bin ernsthaft um Dein Wohl besorgt, indem ich diese Zeilen niederschreibe.)

Nun zum Wichtigsten. Meine Geschäfte gehen hier in letzter Zeit nur noch mau. Früher hat ein pädophiler Geldsack in dem Glauben, gegen den Paragraphen zu verstoßen (Schulranzen, lauter Vieren im Heft – diese Masche) für mein Grundeinkommen gesorgt. Er war sentimental: wartete sehnsüchtig auf jedes Treffen, kriegte bei jeder Polizeisirene das Zittern. Widerwärtig, ich weiß. Aber so musste ich bloß einen Tag im Monat arbeiten. Doch dann war er von einem Tag auf den anderen gelähmt, und ich musste nach neuen Möglichkeiten Ausschau halten. Über ein Jahr ist das Hotel National mein Standbein gewesen, doch wurde die Lage dort kompliziert, nachdem mir ein Kunde vom Schweif sprang. Und jetzt dringen die Probleme von allen Seiten auf mich ein. Sie sind wahrscheinlich zu speziell russisch, als dass Du sie nachvollziehen könntest. Jedenfalls sind sie bitter ernst.

Ich kann mir denken, dass Du mit Dir selber genug zu tun hast, Trotzdem wollte ich Dich um Deinen Rat und Deine Anteilnahme bitten. Sollte ich nicht vielleicht nach England gehen? Dass ich mit den Engländern gut zurechtkäme, dessen bin ich mir sicher. Etliche von ihnen habe ich im National kennen gelernt, sie scheinen mir ein anständiges Volk zu sein. Ich werde öfters in Pfund ausgezahlt, diesbezüglich würde ich also keinen Kulturschock erleiden. Bitte schreib mir recht, bald, ob sich in London nicht vielleicht ein nettes Plätzchen für A Huli finden ließe?


Ich liebe Dich und denk an Dich,

Deine A


Kaum hatte ich den Brief abgesandt, klingelte das Handy. Die Nummer war nicht festzustellen, und mein Herz machte einen Sprung. Ich ahnte, wer es war, noch bevor ich die Stimme hörte.

»Grüß dich«, sagte Alexander. »Du sprachst von drei Tagen, aber das ist mir zu lange. Kann ich dich morgen sehen? Und wenn es fünf Minuten sind.«

»Gut«, sagte ich, bevor ich nachdenken konnte.

»Dann schicke ich Michalytsch. Er ruft dich an. Küsschen.«


Die Fahrstuhltür ging auf, Michalytsch und ich betraten das Penthouse. Alexander saß in seiner Generalsuniform im Sessel und sah fern. Er wandte sich um, sprach aber nicht zu mir.

»Na sag mal, Michalytsch, da haben sich eure Leute wohl wieder kräftig selber angepisst?«, fragte er fröhlich und nickte in Richtung des langen LCD-Panels, auf dem zwei Sender nebeneinander liefen: Über die eine Bildhälfte sprangen weiße und tote Fußballer, auf der anderen schwätzte Aslan Udojew, ertrug jetzt ein Pflaster an der Stirn, mit dem dunkellila Bart sah er aus wie der böse Karabas im Märchen.

»Jawohl, Genosse Generalleutnant«, erwiderte Michalytsch verlegen. »Selber angepisst, die ganze Abteilung.«

»Mäßige deine Worte vor der jungen Dame.«

»Zu Befehl.«

»Was ist passiert?«

»Vollkommen unbegreiflich. Unvorhergesehene Störungen. Anscheinend hat sich das Signal vom Rundfunkzeitdienst drübergelegt.«

»Also alles wie immer«, sagte Alexander. »Sobald irgendwie Scheiße passiert, wird die Technikabteilung vorgeschoben.«

»Zu Befehl, Genosse Generalleutnant.«

»Tuts euch nicht Leid um den Akteur?«

»Ach …« Michalytsch winkte ab. »Solche Shakespeareforscher haben wir zur Genüge im Dienst. Nur an Shakespeares fehlts im Revier.«

»Hatte ich mich nicht klar genug ausgedrückt, Michalytsch? Du sollst das Fluchen sein lassen.«

Alexander warf einen Seitenblick auf mich.

»Zu Befehl. Soll ich einen Ermittlungsantrag stellen?« »Keinen Ermittlungsantrag. Das ist nicht mein Bier, sollen die es auslöffeln, die es eingebrockt haben. Solchen Papierkram mag ich nicht. Auf dem Papier geht immer alles gut aus, anders als im Leben … wie du siehst«, er nickte zum Bildschirm hin.

»Zu Befehl, Genosse Generalleutnant.«

»Du kannst gehen.«

Alexander wartete, bis die Tür sich hinter Michalytsch geschlossen hatte, dann erhob er sich und kam zu mir. Ich konnte mir denken, dass er vor seinem Untergebenen keine Gefühle hatte zeigen wollen, tat aber dennoch ein bisschen pikiert und rückte ab, als seine Hand meine Schulter berührte.

»Hättest mir ruhig erst mal guten Tag sagen können, bevor du dich mit dieser Knalltüte über Fußball unterhältst. Und überhaupt, stell endlich den Fernseher ab!«

Auf dem Bildschirm war kein Udojew mehr zu sehen, sondern ein kecker junger Mann auf seinem Trike. »Heute kann sich meine Crew eine anzünden! Marlboro natürlich!«, rief er, dann erlosch das Bild.

»Entschuldige«, sagte Alexander und warf die Fernbedienung zurück auf den Coachtisch. »Guten Tag.«

»Und außerdem, wie redest du denn? Wie ein besoffener Klempner.«

»Na genau. Frei von der Fettleber weg!«

Ich lächelte. Ein paar Sekunden schauten wir uns schweigend in die Augen.

»Wie gehts dir?«, fragte er dann.

»Danke, schon besser.«

»Und was trägst du in dem Korb mit dir herum?«

»Das hab ich dir mitgebracht«, sagte ich verschämt.

»Lass sehen …«

Er nahm mir den Korb aus den Händen, riss die Verpackung auf.

»Nanu? Kuchen?«, staunte er und sah mich stirnrunzelnd an. »Wozu das denn?«

Ich senkte den Blick.

Langsam schien ihm ein Licht aufzugehen.

»Moment … Und ich dachte schon die ganze Zeit, wieso hat sie dieses rote Käppchen auf… A-ha-ha!«

Mit frohem Gelächter schloss er mich in die Arme und platzierte mich neben sich auf das Sofa. Diese Bewegung hatte etwas sehr Natürliches, ich brachte es nicht über mich, ihn wegzustoßen, obwohl ich mich eigentlich noch ein bisschen zieren wollte. Das heißt: Ob ich das wollte, war mir auch schon nicht mehr ganz klar.

»Das ist wie in dem Witz vom Wolf und dem Rotkäppchen«, sagte er, »wo das Rotkäppchen fragt: Aber Wolf, warum hast du denn so große Augen? Und der Wolf sagt: Damit ich dich besser sehen kann. – Aber, Wolf, sag, warum hast du so große Ohren? – Damit ich dich besser hören kann! – Und warum hast du einen so großen Schwanz? – Das ist kein Schwanz, sprach der Wolf und errötete …«

»Puh.«

»Ist wohl nicht lustig?«

Ich zuckte die Achseln.

»Es ist unglaubwürdig. Dass ein Wolf errötet … Die Schnauze ist doch dicht mit Fell zugewachsen. Selbst wenn er errötete, wie sollte man das erkennen?«

Alexander dachte nach.

»Stimmt natürlich«, sagte er dann. »Ist ja auch bloß ein Witz.«

»Gut, dass du das Rotkäppchen wenigstens aus Witzen kennst«, sagte ich. »Ich dachte schon, dir entgeht die Anspielung ganz und gar…«

»Du hältst mich wohl für einen ziemlichen Dilettanten?«

»Wieso? Ein Dilettant wäre einer, der, was er nicht kann, trotzdem tut, weil er es gern könnte. Einen, der etwas nicht weiß, weil er es nicht wissen will, bezeichnet man als Ignoranten. Wofür würdest du dich entscheiden?«

Er errötete – ganz wie in seinem Witz.

»Was meine Bildung angeht, da täuschst du dich. Ich lese täglich.«

Und er deutete zum Couchtisch, wo ein Paperback lag, anscheinend ein Krimi. Werwölfe in Uniform, so der Titel.

»Spannend?«, fragte ich.

»Naja. Geht so.«

»Wozu liest du es dann?«

»Ich wollte herauskriegen, was es mit dem Titel auf sich hat. Wir gehen allen Provokationen nach.«

»Wer ist wir?«

»Gehört nicht zur Sache«, sagte er. »Ich meine, zur literarischen.«

»Krimis gehören auch nicht zur literarischen Sache.«

»Du magst keine Krimis?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Und warum nicht?«

»Sie langweilen mich. Wenn du von der ersten Seite an weißt, wer es war und wozu.«

»Ach ja? Wenn ich dir die erste Seite dieser Werwölfe in Uniform vorlese, kannst du mir sagen, wer es war?«

»Das kann ich auch so. Es war der Autor, und nur wegen des Geldes.«

»Hm. Na gut … Und was ist für dich Literatur?«

»Zum Beispiel Marcel Proust. Oder James Joyce.«

»Joyce?«, fragte er und rückte näher. »Der diesen Ulysses geschrieben hat? Das hab ich zu lesen versucht. Langweilig. Ehrlich gesagt, frage ich mich, wozu solche Bücher gut sind.«

»Wie meinst du das?«

»Na, den Ulysses liest doch keiner. Gut, drei haben ihn gelesen und leben davon bis ans Ende ihrer Tage. Schreiben Artikel, fahren zu Konferenzen. Sonst kann sich keiner dazu aufraffen.«

»Also, weißt du!«, sagte ich und ließ die Werwölfe zu Boden fallen. »Der Wert eines Buches bemisst sich doch nicht danach, wie viele Leser es hat. So wie die Genialität der Mona Lisa nicht davon abhängt, wie viele Leute pro Jahr an ihr vorbeiströmen. Die besten Bücher haben die wenigsten Leser, denn sie zu lesen strengt an. Erst diese Anstrengung sorgt für die ästhetische Wirkung. Literarisches Fast Food kann dir dergleichen nicht bieten.«

Er fasste mich um die Schultern.

»Ich hab dich schon mal gebeten, nach Möglichkeit ein bisschen einfacher zu reden.«

»Noch einfacher ließe es sich so sagen: Lesen ist Kommunikation. Mit wem wir kommunizieren, entscheidet darüber, was wir sind. Stell dir vor, du wärest Fernfahrer. Die Bücher, die du liest, sind die Anhalter, die du mitnimmst. Wenn es kluge, kulturvolle Menschen sind, dann lernst du etwas dazu. Nimmst du immer nur Idioten mit, dann bist du bald selbst einer. Sich mit Krimis zu vergnügen, das ist wie … wie wenn du eine kleine, ungebildete Nutte mitnimmst, nur damit sie dir einen bläst.«

»Wen schlägst du denn vor mitzunehmen?«, fragte er, während er mir die Hand unter das T-Shirt schob.

»Man sollte ernsthafte, anspruchsvolle Bücher lesen, Zeit und Mühe dafür nicht scheuen.«

Seine Hand landete an meinem Bauch.

»Aha«, sagte er. »Als Trucker sollte ich mir also deiner Meinung nach einen kahlköpfigen alten Schnobelpreisträger auf den Beifahrersitz laden? Und mich zwei Wochen lang von ihm in den Arsch ficken lassen, während ich dem Gegenverkehr ausweiche? Verstehe ich dich richtig?«

»Na, prima. So lässt sich alles in den Dreck reden«, sagte ich und verstummte.

Selber schuld, warum musste ich auch wieder auf meiner Fernfahrerfellatio herumreiten, mit der ich schon Pawel Iwanowitsch unglücklich gemacht hatte. Etwas Blöderes als abschätzige Bemerkungen über Prostituierte hätte mir wohl kaum einfallen können – wusste Alexander doch, welcher Beschäftigung ich nachging. Blieb nur zu hoffen, dass er es als Zeichen von Unterwerfung ansah. Seine Antwort hatte ganz danach geklungen.

Wir Werfüchse haben ein ernsthaftes Handicap. Ist uns einmal etwas Einprägsames zu Ohren gekommen, kauen wir es im Gespräch mit anderen wieder, ganz gleich, wie klug oder dämlich es ist. Denn leider ist unser Geist nur ein ebensolcher Fake wie die Schwanzfänger-Hautfalte unter unserem Schweif. Als echtes »Denkorgan« nicht zu gebrauchen. Das Denken überlassen wir den Menschen auf ihrem heroischen Slalom-Parcours vom Unaussprechlichen bis ins Grab. Der Werfuchsverstand ist nur ein Tennisschläger, mit dem wir den Gesprächsball zu einem beliebigen Thema beliebig oft zurückprallen lassen können. Wir geben den Leuten die Urteile zurück, die wir uns zuvor bei Ihnen ausgeborgt haben – nur in anderem Winkel, angeschnitten oder auch mal als steile Kerze nach oben.

Ich darf in aller Bescheidenheit anmerken, dass meine Simulationen das Original beinahe immer übertreffen. Möchte man die Tennisanalogie noch etwas weiter treiben, so pariere ich jeden noch so schwierigen Ball in gediegener Manier. Man muss allerdings sagen, dass die Menschen ausnahmslos schwierige Bälle in ihren Köpfen haben. Man fragt sich: Wer schlägt diese Bälle eigentlich auf? Sind es wirklich die Menschen? Oder muss man den Aufschlagenden ganz woanders suchen, an einem Ort, der keiner ist?

Man muss abwarten, bis einmal ein Gespräch zu diesem Thema mit irgendeinem klugen Menschen stattfindet. Dann werden wir sehen, wohin ich den Ball platziere. Auf die Art erfahre ich meine Wahrheiten übrigens schon seit mehr als tausend Jahren.

Während ich diesen Gedanken zu Ende dachte, hatte Alexander mir das T-Shirt ausgezogen. Ich leistete keinen Widerstand, hob nur etwas gequält die Brauenenden – ganz die kleine Ballerina, die auf dem Weg zur Philharmonie schon wieder von einem großen rothaarigen SS-Mann vergewaltigt wird. Was soll man machen, Genossen. Sind nun mal Besatzer …

Allerdings war die Ballerina für das Treffen heute gerüstet. Ich trug Unterwäsche: weiße Spitzenhöschen, in die ich mit der Nagelschere ein Loch für den Schweif geschnitten hatte, sowie drei gleiche Bikini-Oberteile, Größe 0, auch mit Spitze. Die zwei unteren hatten nichts zu halten, aber sie schnürten sich ein wenig in die Brust ein und sorgten so selbst für einen kleinen Inhalt. Ich hatte selbstverständlich nicht vor, wölfischen Ansprüchen Genüge zu tun. Es war eine postmodernistische Ironisierung des Geschehens, eine Variation auf das Thema Tier im Manne, worüber er so ausdauernd bei unserer letzten Begegnung gesprochen hatte.

Ich war mir nicht sicher, ob ihm mein Scherz zusagen würde, und darum ein bisschen aufgeregt. Aber es funktionierte. Und zwar so gut, dass die Verwandlung sofort einsetzte.

Diesmal war ich nicht so erschrocken und konnte besser verfolgen, was geschah. Als Erstes kam die zottige graue Rute hervorgesprungen. Das wirkte ziemlich sexuell: wie eine aus dem Rückgrat schnellende Feder, deren Druck übermächtig geworden war. Der Körper zog sich krumm, Kopf und Schweif ruckten aufeinander zu wie die Enden eines Flitzbogens mit unsichtbar sich straffender Sehne. Dann wuchs ihm der Pelz.

Das Wort wachsen trifft es freilich nicht ganz. Jacke und Hosen zerfielen gewissermaßen zu Fell – als wären Biesen und Achselklappen vorher mit Gouachefarbe auf die anklitschende nasse Mähne gemalt gewesen und zerbröselten nun infolge heftiger Trockenheit in viele einzelne Haare.

Zugleich schwoll er und spreizte sich im Ganzen, und das auf eine wie selbstverständliche Weise. Derart große Wölfe gibt es in natura nicht; eher ähnelte er einem Bären nach absolvierter Abmagerungskur. Doch dieser Körper war echt, leibhaftig. Ich spürte sein Gewicht, als Alexander sich mit der Pfote auf meine Hand stützte: Sie versackte tief im Sofapolster.

»Du zerquetschst mich, Isegrim!«, quiekte ich, und er nahm die Pfote weg.

Das Empfinden der eigenen Stärke und meiner Schwäche schien ihn zu berauschen. Seinen monströsen Rachen über mich geneigt (der Atem heiß, aber irisch wie bei einem Säugling), biss er nacheinander alle drei Büstenhalter durch und zog sie mit seinen grässlichen behaarten Klauen herunter.

Jedes Mal zerriss es mir fast das Herz, so nahe war das Klacken seiner Hauer. Sie waren scharf wie Rasiermesser – wozu hielt er sich eigentlich diesen Monica-Lewinsky-Zigarrenabschneider auf dem Schreibtisch? Ach so, das Zigarrenrauchen fiel vermutlich in seine Menschenphasen.

Nachdem er auf gleiche Weise mit meinem Höschen umgesprungen war, machte er einen Satz zurück und fauchte, als wollte er mich in Stücke reißen. Sodann fiel er vor mir auf die Knie, legte seine Riesenklauen wie ein Höllenorganist auf die zarten Tasten meiner Schlüsselbeine … Das wars!, dachte ich mir.

Doch er vermied es, mir wehzutun. Von mir aus hätte er sich getrost ein wenig aggressiver aufführen können – ich war darauf gefasst. Ich meine, ich war auf Schmerzen eingerichtet und bereit, einiges mehr auszuhalten. Die Prüfung fiel weniger strapaziös aus als erwartet.

Aber so war es auch nicht schlecht.

Der Ordnung halber stöhnte ich natürlich trotzdem von Zeit zu Zeit: »Aua, aua! Stoß doch nicht so arg, Isegrim! Zart und rhythmisch bitte … na also.«


Die Antwort von I Huli war lang.


Grüß Dich, Rotschwänzchen.

Schön zu sehen, dass Du Dich überhaupt nicht verändert hast. Versuchst immer noch, meine verirrte Seele auf den rechten Pfad zu lenken.

Wie Du schreibst, ziehen sich dunkle Wolken über Dir zusammen, Ist das Dein Ernst? Soweit ich mich erinnern kann, haben sich die letzten siebenhundert Jahre immer Wolken über Dir zusammengezogen; erfahrungsgemäß hat es in der Mehrzahl der Fälle genügt, an etwas anderes zu denken. Vielleicht ist ja auch diesmal alles halb so schlimm?

Und Du möchtest tatsächlich nach England übersiedeln? Glaubst Du, es könnte Dir hier besser ergehen?

Du musst wissen, der Westen ist eine einzige große Shopping mall. Märchenhaft, von der Seite betrachtet. Aber man musste schon im Ostblock leben, um ihre Schaufenster auch nur für Momente als real anzusehen. Zu diesem Zweck hat es Euch überhaupt nur gegeben, scheint mir. Weißt Du noch, der Marsch der Roten Flieger? »Wir sind geboren, Märchen wahr zu machen«? In Wirklichkeit kannst du hier nur in drei Rollen auftreten: als Käufer, als Verkäufer oder als Ware auf dem Ladentisch. Verkäufer zu sein ist banal, Käufer zu sein langweilig (außerdem musst du sowieso noch als Verkäufer dazuverdienen) und Ware zu sein widerwärtig. Jeglicher Versuch, etwas anderes sein zu wollen, läuft de facto auf jenes Nichtsein hinaus, mit dem die Kräfte des Marktes einen jeden Hamlet sehr schnell in die Schranken weisen. Der Rest ist Spektakel.

Weißt du, worin der wahre Schrecken eines Lebens im Westen verborgen liegt? Du gehst dir eine Jacke kaufen oder ein Auto oder sonst was und hast dank der Werbung ein sehr genaues Bild von dem Ort in deinem Kopf, wohin du in dieser Jacke gehen oder in diesem Auto fahren wirst. Nur dass der Ort außerhalb des Werbeclips gar nicht existiert. Dieses schwarze Loch in der Wirklichkeit beklagen alle seriösen westlichen Philosophen. Bei aller Freude am Shopping weiß man und möchte es doch nicht wahrhaben, dass unsere ganze Welt ein einziges großes Skigeschäft mitten in der Sahara ist. Es reicht also nicht, Skier zu kaufen, man braucht auch noch Kunstschnee. Du verstehst die Metapher?

Außerdem haben wir Werfüchse noch mit einem speziellen Problem zu kämpfen. Von Jahr zu Jahr wird es schwieriger, die eigene Identität zu bewahren. Sich noch als Prostituierte zu fühlen, da doch die ganze Umgebung sich mehr und mehr prostituiert. Du hörst, wie Dein alter Freund vertraulich zu Dir spricht, und weißt schon im selben Moment, dass er Dir gleich empfehlen wird, zwei Flaschen Anti-Schuppen-Shampoo zu kaufen, um eine dritte kostenlos dazuzukriegen. Mir schwirrt noch ein Wort im Kopf herum, das Du früher an jeder passenden und unpassenden Stelle ins Gespräch einzuflechten bemüht warst: Uroboros. Eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt, wenn ich mich recht entsinne. Wenn so eine Schlange Kopf und Schwanz nur noch als special effects im Werbeclip hat, wird sie sich über ihren zappelnden fetten Leib nur noch sehr bedingt freuen können. Das heißt, sie könnte, wenn sie wüsste, womit.

Eure Welt wird bald so sein wie unsere (jedenfalls für die, die das Erdöl zu uns rüberpumpen dürfen). Noch aber existieren dort drüben bei Euch Grauzonen, in deren Ambivalenz man sich flüchten kann. Dort kann ein Seelchen wie Deines wenn schon nicht sein Glück, so doch sein inneres Gleichgewicht finden. Wenn andere solche Ambivalenzzonen für Dich schaffen, dann freue Dich und genieße sie, solange sie noch da sind. Die Welt wird nicht immer so bleiben. Lass Dir das – in Erwiderung auf Deine Predigt – von mir gesagt sein!

Nun zu den englischen Männern. Aus den kurzen Begegnungen im National solltest Du Dir kein Bild machen. Hier sind sie vollkommen anders. Erinnerst Du Dich an Yuan Mei, den Schwester E im Jahre 1739 ehelichte? Du hast ihn bestimmt nicht vergessen: ein Gelehrter an der Hanlin-Akademie, der die mandschurische Sprache studierte und Geschichten über das Böse sammelte … Er wusste übrigens, wer Schwester E in Wirklichkeit ist. Eben darum hat er sie geheiratet. Sein Buch (es hieß Wovon Konfuzius nicht sprach) besteht zur Hälfte aus ihren Erzählungen, doch gibt es auch interessante ethnographische Schilderungen darin. Zur damaligen Zeit hat man England noch als das Land der Rothaarigen bezeichnet. Lies einmal, was Yuan Mei über die Engländer geschrieben hat – ich gebe Dir den Absatz ungekürzt wieder:


407. Die Bewohner des Landes der Rothaarigen bespucken Sängerinnen

Die Bewohner des Landes der Rothaarigen treiben des Öfteren mit Sängerinnen ihre liederlichen Späße. Veranstalten sie Gelage, laden sie Sängerinnen dazu, entkleiden sie, setzen sich im Kreis um sie herum und spucken ihnen auf die intime Stelle. Größerer Nähe bedürfen sie nicht. Wenn das Spucken zu Ende ist, werden die Sängerinnen großzügig belohnt (solches heißt: Geld aus dem großen Topf) und entlassen.


Dieser Bericht, so historisch unglaubwürdig er einem vorkommen mag, widerspiegelt erstaunlich präzise die Handlung, die der englische Aristokrat an der sich ihm offenbarenden weiblichen Seele begeht. (Glücklicherweise lässt das hiesige Bildungssystem mit seinen Privilegien die Mehrzahl von ihnen schon in zarter Jugend homosexuell werden.) Früher, wenn ich den Engländern so zusah, habe ich mich immer gefragt: Was mag hinter diesem undurchdringlichen, mit den Jahrhunderten stahlgewordenen Arroganzpanzer wohl stecken? Aber dann begriff ich: Dahinter steckt nichts als die oben beschriebene simple Handlung. Dieser Minimalismus ist das Unterpfand für die Stabilität der hiesigen Weltordnung.

Glaub mir, bist Du erst einmal in London, wirst Du Dich als Spucknapf fühlen, einsam wandelnd zwischen all den Dir in die Seele rotzenden Snipers, für die die Gleichberechtigung der Frau nur den Wert hat, damit »Geld aus dem großen Topf« zu sparen.

Und was das Überwertier angeht … Da scheinst Du mir etwas zu sehr in Nabelschau befangen, weißt Du. Überleg doch mal: Wenn alles Wesentliche nur in uns selbst läge, wozu gäbe es dann überhaupt noch eine äußere Welt? Oder glaubst Du, dass von ihr keine Überraschungen mehr zu gewärtigen wären und es daher genügte, auf einem staubigen Meditationsteppich vor der Wand zu hocken und jeden Anflug eines Gedankens abzuwehren wie ein Schwimmer die toten Quallen? Und wenn nun plötzlich der Goldene Butt dazwischen auftaucht? Mir scheint, diese Welt abhaken zu wollen, ist es noch zu früh. Könnte sein, dass man sich nur selber damit abhakt. Weißt Du, was mein Männlein gestern zu mir sagte? »Das Überwertier wird kommen, und du wirst es sehen, so deutlich, wie du mich hier stehen siehst.« Selbst wenn ich Dir also insgeheim Recht gäbe – wie könnte ich einem Oberhaupt aus dem Hause Cricket widersprechen? :-=))) Aber weißt Du was, meine Liebe, lass uns das alles diskutieren, wenn wir uns sehen. Nächste Woche kommen Brian und ich nach Moskau – Handy nicht ausschalten!


Ich liebe Dich und denk an Dich,

Deine I


Ich las den Brief und schüttelte den Kopf. Da sollte es wohl demnächst jemandem an den Kragen gehen. Das Zeichen :-=) (es sah aus wie Kriegsverbrecher Hitler, wenn er grinste) war einer von I Hulis gängigen Zinken. Er bedeutete, dass sie etwas Böses und Gemeines ausheckte. Was hätte man vom gnadenlosesten Werfuchs der ganzen Familie auch anderes erwarten sollen? So ist sie immer, dachte ich. Du bittest sie um Hilfe, und sie rät dir, an etwas anderes zu denken. Wolken? Ach, das träumst du doch bloß …

Aber vielleicht hatte sie ja sogar Recht? Die Dinge standen durchaus nicht so schlecht, wie ich noch gestern angenommen hatte. Ich brannte darauf, jemandem von meiner unfreiwilligen Affäre zu erzählen. Bloß wem? Natürlich hätte ich irgendeinem Taxifahrer mein Herz ausschütten können, um ihm dieses Wissen anschließend wieder zu entziehen. Aber Mutwille im Straßenverkehr ist riskant. Nein, besser war es, ich wartete auf I Huli. In ihr würde ich eine aufmerksame Zuhörerin finden. Zumal sie sich schon so viele Jahrhunderte über meine Jungfräulichkeit lustig machte. Nun konnte ich sie endlich einmal in den Schatten stellen. Denn bei aller Raffinesse: So einen Lover hatte sie noch nie gehabt – von ihrem Yaksa-Dämonen im sechzehnten Jahrhundert vielleicht einmal abgesehen. Und selbst der musste im Vergleich zu Alexander mickrig erscheinen …

An dieser Stelle besann ich mich – der Brief des Schwesterleins erinnerte mich an das Wesentliche.

Wenn dich Jubel oder Traurigkeit im Alltag hinwegreißen wollen, dann ist für Übungen die beste Zeit – das war mir seit langem klar. Ich schaltete den Computer aus, breitete eine Gymnastikmatte aus Schaumstoff auf dem Fußboden aus. Hervorragend geeignet zum Meditieren, solche hatten wir früher leider nicht. Darüber kam ein mit Buchweizenspelzen gefülltes Kissen, auf dem ich im Lotossitz, mit hängendem Schweif, Platz nahm.

Die spirituelle Praxis der Werfüchse umfasst eine Kontemplation des Geistes und eine Kontemplation des Herzens. Heute wollte ich die Meditation mit der Kontemplation des Herzens beginnen. Das Herz spielt bei dieser Technik eine rein metaphorische Rolle. Die Krücken der Übersetzung: Das chinesische Schriftzeichen Sin hat vielerlei Bedeutungen, ein genauerer Ausdruck schiene mir hier die Kontemplation des tiefsten Inneren zu sein. Sieht man die Sache wiederum ganz praktisch, wäre Schweifziehen die zutreffende Bezeichnung.

Zieht man einen Hund oder eine Katze am Schwanz, fühlen sie Schmerz, das weiß jedes Kind. Zieht man einen Werfuchs kräftig am Schweif, geschieht etwas, das selbst der klügste unter den schwanzlosen Affen nicht einsehen wird: Ein Werfuchs fühlt in diesem Moment die ganze Bürde seiner Untaten. Das kommt, weil es der Schweif ist, mit dem er sie begeht. Und weil nun einmal jeder Werfuchs, von ein paar Blindgängern abgesehen, Leichen sonder Zahl im Keller hat, führt jedes Ziehen zu einem ungeheuren Gewissensbiss, begleitet von grauenerregenden Gesichten und niederschmetternden Visionen, bei denen man am liebsten seine Tage beschließen möchte. Die übrige Zeit werden wir vom Gewissen nicht behelligt.

Alles hängt hier davon ab, wie sehr und wie plötzlich man zieht. Auch wenn wir zum Beispiel während der Hühnerjagd (von ihr wird noch die Rede sein) mit dem Schweif an einem Busch hängen bleiben, regt sich das Gewissen ein wenig. Doch sind die betreffenden Muskeln während der Fortbewegung angespannt, was die Wirkung abmildert. Das Wesen der Kontemplation des Herzens als spiritueller Übung besteht nun darin, sich genau in dem Moment am Schweif zu ziehen, wo alle seine Muskeln maximal entspannt sind.

Das klingt viel einfacher, als es ist. Denn die Kontemplation des Herzens lässt sich von der Kontemplation des Geistes nicht trennen; um diese Technik korrekt auszuführen, muss man das Bewusstsein in drei autonome Ströme kanalisieren:


1. Bewusstseinsstrom 1 – das ist der Geist, der sich an all seine dunklen Machenschaften seit undenklichen Zeiten erinnert;

2. Bewusstseinsstrom 2 – das ist der Geist, der den Werfuchs dazu bringt, sich spontan und überraschend am Schweif zu ziehen;

3. Bewusstseinsstrom 3 – das ist der Geist, der entrückt auf die Ströme 1 und 2 achthat und auf sich selbst noch dazu.


Bewusstseinsstrom 3 lässt sich, wenn man es nicht zu genau nimmt, als Kern einer Kontemplation des Geistes ansehen. All diese Praktiken sind Vorstufen, man muss sie tausend Jahre lang ausüben, ehe man zum Eigentlichen kommen kann, jener Übung, die Schweif der Leere oder auch Kunstlosigkeit geheißen wird. Eine Geheimtechnik, über die nicht einmal erfahrene Werfüchse richtig Bescheid wissen, die wie ich den tausendjährigen Vorbereitungszyklus längst durchlaufen haben.

Ich nahm also den Lotossitz ein, legte die linke Hand auf das Knie, die rechte an den Schweif. Konzentrierte mich. Begann mir die Vergangenheit ins Gedächtnis zu rufen – jene ihrer Schichten, die der Strom der Gedanken im Alltag normalerweise verdeckt. Bis plötzlich, vollkommen unerwartet für mich selbst, meine rechte Hand kräftig am Schweif riss. Der Schmerz fuhr bis ins Mark. Doch er war gar nichts im Vergleich zu dem Schwall von Reue, Entsetzen, Scham ob des Begangenen, der mit solcher Gewalt über mich hereinbrach, dass mir Tränen in die Augen schossen.

Gesichter von Menschen, die die Begegnung mit mir nicht überlebt hatten, fegten an mir vorüber wie gelbes Laub im Herbststurm vor dem Fenster. Für eine Sekunde nur erstanden sie aus dem Nichts, doch diese Sekunde genügte, dass jedes Augenpaar einen Blick voller Schmerz und Unverständnis auf mich richten konnte. Ich sah sie mir an, erinnerte mich, was gewesen war, und die Tränen rannen mir in zwei Bächen über die Wangen, die Reue zerriss mir schier das Herz.

Zugleich aber fiel mir wieder einmal wie Schuppen von den Augen, dass alles Geschehen nur Spiegelfechterei war, Gedankenflimmern, in Gang gesetzt von ein wenig geistiger Zugluft, und war dieses Flimmern erst vorüber, so würde offenbar, dass geistige Zugluft, Spiegelfechtereien, auch so etwas wie »der Geist an sich« gar nicht existieren – was bleibt, ist dieser klare, ewige, alles durchdringende Blick, vor dem keine Gegenwart Bestand hat.

Diese Übung praktiziere ich seit ungefähr zwölf Jahrhunderten.


Zwischen Alexander und mir bestand von Anfang an die stille Übereinkunft, einander nicht mit Neugier zu quälen. Mich hatte nicht zu interessieren, worüber er aufgrund diverser Schweigeverpflichtungen und ähnlicher Geheimdienstkrämerei sowieso nicht hätte reden dürfen. Und er stellte mir keine überflüssigen Fragen, weil meine Auskünfte ihn womöglich in einen Zwiespalt gebracht hätten. Was, wenn ich zum Beispiel eine chinesische Spionin war? … So ließ sich die Sache übrigens durchaus darstellen – ich besaß ja nicht einmal einen Personalausweis, nur einen gefälschten Pass.

Diese Situation behagte mir nicht so ganz. Liebend gern hätte ich ein bisschen mehr über ihn gewusst. Und auch ihm setzte die Neugier zu, das sah man. Doch wir erkundeten einander nur sehr allmählich, abtastend – die Wahrheiten kamen in homöopathischen Dosen ans Licht.

Mir gefiel es, seine Wangen zu küssen, kurz bevor er zum wilden Tier wurde. (Ihn auf den Mund zu küssen konnte ich mich nicht entschließen – was merkwürdig war, bedenkt man den erreichten Grad an Intimität.) Im Übrigen waren diese Zärtlichkeiten nie von langer Dauer; schon nach wenigen Berührungen setzte die Transformation ein, und von da an waren Küsse nicht mehr möglich.

So viele Jahrhunderte war der Kuss für mich ausschließlich ein Element der Vorspiegelung gewesen, nun küsste ich auf einmal richtig, wenn auch auf kindliche Weise … Das hatte etwas von einem Traum. Oft hing ihm dieser Tüllschleier vor dem Gesicht, den ich erst zur Seite schieben musste. Einmal wurde es mir zu viel, und ich riss die verrutschte Maskierung am Bändchen herunter.

»Vielleicht kannst du das Ding in Zukunft weglassen, wenn wir miteinander zu tun haben? Oder bist du Michael Jackson?«

»Es ist nur wegen dem Geruch«, sagte er. »Der Schleier ist mit etwas getränkt, was den Geruch vertilgt.«

»Wonach soll es denn hier riechen?«, wunderte ich mich.

Wir saßen an der geöffneten Tür zur Dachterrasse. (Alexander vermied es, seinen Spiegelstarkasten zu verlassen, vielleicht fürchtete er Scharfschützen oder Kameras oder einen strafenden Blitz vom Himmel.) Von der Straße drang ein schwacher Benzindunst herauf, ansonsten roch ich nichts.

»Nach aller Welt«, sagte er und verzog das Gesicht.

»Zum Beispiel?«, fragte ich verwundert zurück.

Er schaute auf meine kurze weiße Bluse und atmete einmal tief durch die Nase.

»Diese Bluse zum Beispiel«, sagte er dann, »hat vor dir eine Frau in mittleren Jahren getragen, die ein selbstgemachtes Eau de Cologne aus ägyptischem Lotosextrakt benutzt hat.«

Ich schnüffelte an meiner Bluse. Sie roch nach gar nichts.

»Echt? Die hab ich im Secondhandshop gekauft, ich fand die Stickerei so hübsch.«

Er sog noch einmal Luft ein.

»Noch dazu hat sie den Extrakt mit Selbstgebranntem Wodka gestreckt. Schlechter Fusel.«

»Sag bloß!« Ich war konsterniert. »Da möchte man das Ding doch gleich ausziehen und wegschmeißen … Und was riechst du sonst noch?«

Er wandte sich der offenstehenden Tür zu.

»Der Benzingestank ist grässlich. Er zerschleißt einem das Hirn. Außerdem riecht es nach Asphalt, Gummi, Tabakrauch … Klo, Menschenschweiß, Bier, Gebackenem, Kaffee, Popcorn, Staub, frischer Farbe, Fingernagellack, Pfannkuchen, Zeitungspapier … Ich könnte noch etliches mehr aufzählen.«

»Und diese Gerüche vermengen sich nicht?«

Er schüttelte den Kopf.

»Eher umhüllen sie einander, da steckt einer im anderen. Wie ein Brief im Kuvert, das in der Innentasche des Mantels steckt, der im Schrank hängt und so weiter. Das Grausame dabei ist, dass du eine Menge Dinge erfährst, die du bestimmt nicht wissen wolltest. Zum Beispiel kriegst du irgendein Papier zum Unterschreiben hingeschoben und riechst, da lag gestern ein Frühstücksbrot drauf, und die Wurst war nicht mehr frisch. Und damit nicht genug: Du riechst auch noch den Schweiß von der Hand, die dir das Papier hingeschoben hat, und dieser Geruch sagt dir, dass alles, was draufsteht, gelogen ist. Und so weiter.«

»Und warum ist das bei dir so?«

»Der normale Geruchssinn eines Wolfes. Er bleibt bei mir nur leider oft in den Phasen bestehen, wo ich Mensch bin. Das ist hart. Hilft allerdings auch gegen viele schlechte Angewohnheiten.«

»Was zum Beispiel?«

»Zum Beispiel kommt Kiffen für mich nicht in Frage. Koksen erst recht nicht.«

»Wieso nicht?«

»Weil ich schon nach der ersten Line weiß, wie viel Stunden es der Kurier im Arsch stecken hatte, bis er es von Colombo nach Baku geschafft hat. Und nicht nur das, ich kann dir sogar sagen, wer ihn wie oft dort reinge-…«

»Schon klar«, unterbrach ich ihn, »du musst das nicht ausführen, ich hab verstanden.«

»Und vor allem weißt du nie, wann es dich überkommt. Es ist unvorhersehbar, wie Migräne.«

»Du Ärmster!«, seufzte ich. »Das ist ja ein Kreuz!«

»Na ja«, sagte er, »so muss man es auch wieder nicht nennen. Manches daran gefällt mir sogar. Zum Beispiel gefällt mir, wie du riechst.«

Ich wurde verlegen. Der Leib eines Werfuchses dünstet tatsächlich ein schwaches Aroma aus; Menschen halten es in der Kegel für ein Parfüm.

»Wonach rieche ich denn?«

»Schwer zu sagen … Nach Gebirge, Mondlicht … Frühling. Blumen. Hinterlist. Schalk, meine ich. Ohne Bosheit. Dein Geruch gefällt mir wahnsinnig gut. Ich glaube, ich könnte ihn mein Leben lang riechen und immer etwas Neues darin finden.«

»Na, da bin ich aber froh«, sagte ich. »Das fand ich peinlich, als du von meiner Bluse zu reden anfingst. Nie wieder kaufe ich was im Secondhandshop.«

»Kein Problem«, sagte er. »Aber ich wäre dir sehr verbunden, wenn du sie auszögest …«

»Ist der Geruch so stark?«

»Nein, nein. Ganz schwach nur. Ohne Bluse gefällst du mir einfach noch besser.«

Nach einem Moment des Überlegens zog ich die Bluse über den Kopf.

»Heute ohne Büstenhalter«, lachte er.

»Ja. Ich hab gelesen, wenn eine junge Frau zu ihrem jungen Mann geht, mit dem sie gerne möchte … Also ich meine, wenn sie möchte, dass es passiert, dann zieht sie keinen an. So als eine Art Etikette.«

»Wo hast du das denn gelesen?«

»Im Cosmopolitan. Hör mal, ich will dich schon die ganze Zeit was fragen. Findest du nicht, dass meine Brust zu klein ist?«

»Nein. Mir gefällt deine Brust sehr gut«, sagte er. »Man möchte sie wieder und wieder küssen.«

Mir schien, dass Sprechen bereitete ihm Mühe, so als müsste er ein Gähnen unterdrücken. Das übliche Anzeichen der einsetzenden Transformation. Seine Verheißung, das »wieder und wieder« betreffend, klang gut, doch dazu kam es nur selten. Seine heiße Wolfszunge übrigens … Aber nein, ich möchte die Grenzen der Schicklichkeit nicht überschreiten, der Leser wird es sich selbst ausmalen können.

Er hatte mich noch nicht vom Höschen befreit, da war es schon wieder geschehen: Die sexuelle Erregung setzte den geheimnisvollen Mechanismus seiner Metamorphose in Gang. Es brauchte weniger als eine Minute, bis er zum Tier geworden war, schrecklich und schön anzusehen, wobei sein Liebesinstrument das Allerbeeindruckendste war. Jedes Mal wieder mochte ich nicht glauben, dass dieser Hexenhammer in mein Als-ob-Säckchen ganz hineingehen sollte.

Mit seiner Verwandlung zum Wolf verlor Alexander die Fähigkeit zu sprechen. Doch er verstand, was er hörte – wiewohl ich mir natürlich nicht sicher sein durfte, dass ein Wolf es genauso auffasste wie ein Mensch. Die verbliebenen Fähigkeiten zur Kommunikation reichten zur Wiedergabe komplexer Gemütsregungen nicht aus, Ja-Nein-Antworten waren jedoch möglich. Ein dumpfes kurzes Knurren – R-r-r! – das hieß: ja. U-u-uh! – ein Laut zwischen Heulen und Gähnen – bedeutete: nein. Letzteres fand ich ein bisschen zum Lachen, so winselt ein Hund in der Mittagshitze, den das Herrchen auf den BaIkon gesperrt hat. Doch ich behielt diese Beobachtung für mich.

Seine Hände erinnerten weniger an Wolfspfoten als an die phantastischen Extremitäten irgendeines Marsianers im Film. Dass diese Klauen zu zärtlicher Berührung fähig sein sollten, erschien mir unvorstellbar, obwohl ich es aus Erfahrung besser wusste.

Deshalb wurde mir, als er sie mir auf den Bauch legte, wie immer ein bisschen mulmig.

»Wie hättest du es denn gern, Grauer?«, fragte ich. »Dass ich mich auf die Seite lege?«

»U-u-uh!«

»Auf den Bauch?«

»U-u-uh!«

»Soll ich auf die Knie gehen?«

»R-r-rrr!«

»Gut, aber sei vorsichtig, ja?«

»R-r-rrrrrr! …«

Ich war mir nicht ganz sicher, ob das letzte R-r-r noch ein Ja war oder nicht einfach bloß ein R-r-r, trotzdem kam ich seiner Bitte nach. Und bereute es sogleich: Er packte mich mit der Pfote am Schweif.

»He! Loslassen, Isegrim! Hörst du?«

»U-u-uh!«

»Lass bitte los, das meine ich ernst!«, bettelte ich.

»U-u-uh!«

Und es geschah, was ich am allermeisten fürchtete: Er zog mich am Schweif. Nicht gerade sehr, aber doch so spürbar, dass sofort der Sikh aus dem National vor mein geistiges Auge trat. Und als er noch ein bisschen heftiger zog, schämte ich mich so sehr für meinen Anteil am Schicksal dieses armen Mannes, dass ich zu schluchzen anfing.

Alexander hatte es nicht darauf abgesehen, mich am Schweif zu ziehen. Er hielt ihn nur, gar nicht mal unsanft. Doch die Stöße seiner Schenkel schlugen meinen Körper nach vorn, und der Effekt war derselbe, als versuchte er, mir den Schweif aus dem Rücken zu reißen. Ich spannte alle Muskeln an, es ging über meine Kräfte. Mit jedem Ruck wurde meine Seele von einer Woge unaussprechlicher Scham überflutet. Das Schrecklichste aber war, dass nicht nur diese Scham in meinem Herzen brannte, sie mischte sich mit der Lust, die mir bereitete, was da geschah.

Das war nun etwas Unvorstellbares – wahrlich jenseits von Gut und Böse. Erst jetzt konnte ich nachvollziehen, in was für verheerenden Abgründen einst der Marquis de Sade herumgestolpert sein mochte, der mir bis dahin immer nur albern und aufgeblasen vorgekommen war. Nein, der war durchaus nicht so abgedreht – er hatte nur nicht die rechten Worte gefunden, seinen Alptraum zu beschreiben. Und ich wusste auch, warum – solche Worte gab es in der Menschensprache gar nicht.

»Hör auf!«, flüsterte ich unter Tränen.

»U-u-uh!«

Und dabei wusste ich tief im Inneren tatsächlich nicht, was ich wollte: dass er aufhörte oder dass er weitermachte.

»Lass es sein«, wiederholte ich keuchend. »Bitte!«

»U-u-uh!«

»Willst du mich umbringen?«

»R-r-rrr!«

Ich konnte nicht länger an mich halten und heulte los. Doch es waren Tränen der Wonne – peinlich, ungeheuerlich und doch so hinreißend, dass an ein freiwilliges Ende nicht zu denken war. Kurz darauf verlor ich die Kontrolle über das, was da vor sich ging – wenn nicht sogar das Bewusstsein. Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass Alexander – wieder in menschlicher Gestalt – sich über mich beugte. Er wirkte hilflos.

»Hab ich dir wehgetan?«

Ich nickte.

»Verzeih …«

»Du musst mir eins versprechen«, flüsterte ich. »Versprich mir, dass du mich nie mehr am Schwanz ziehen wirst. Niemals wieder, hörst du?«

»Mein Offiziersehrenwort!«, sagte er und legte die Hand an die Ordensleiste. »Ist es dir nicht gut bekommen?«

»Ich habe mich geschämt«, flüsterte ich. »Ich habe im Leben viel verzapft, woran ich nicht gern erinnert werde, weißt du. Ich habe den Menschen übel mitgespielt…«

Sein Gesicht wurde plötzlich sehr ernst.

»Hör auf!«, sagte er. »Ich bitte dich, das muss nicht sein. Nicht jetzt.«


Wir Werfüchse machen gern Jagd auf englische Aristokraten und auf Hühner. Auf englische Aristokraten machen wir deshalb Jagd, weil englische Aristokraten Jagd auf uns machen, das ist gewissermaßen eine Sache der Ehre. Hühnerjagd hingegen ist etwas fürs Herz. Jede der beiden Spielarten hat ihre glühenden Verfechter, die ihre Vorliebe auf Biegen und Brechen verteidigen. Aus meiner Sicht hat die Hühnerjagd einige gewichtige Vorzüge:


1. sorgt die Jagd auf englische Aristokraten für schlechtes Karma, das man sich durch die Tötung eines Menschen, und sei er noch so nutzlos, unweigerlich zuzieht. Von Hühnern hingegen wird das Karma nicht sehr beschwert.

2. muss man, um Jagd auf Aristokraten zu machen, nach Europa reisen (obwohl manche der Meinung sind, ein Überseedampfer eigne sich hierfür am besten). Hühnerjagd geht überall.

3. verwandeln sich Werfüchse beim Jagen englischer Aristokraten physisch überhaupt nicht. Bei der Hühnerjagd hingegen geschieht mit uns etwas, das von ferne an die Transformation der Werwölfe erinnert – wir gleichen uns vorübergehend unseren wilden Artverwandten an.


Englische Aristokraten jage ich schon seit vielen Jahren nicht mehr und bedauere dies nicht. Die Hühnerjagd hingegen ist nach wie vor meine Leidenschaft.

Einem Außenstehenden die Hühnerjagd zu erklären ist gar nicht so leicht. Wenn du, Kleider und Schuhe von dir werfend, wie wild auf drei Beinen davonpreschst und mit dem vierten das Huhn an deine Brust presst, sein kleines Herz schlägt im Gleichklang mit deinem, und das Zickzack der Wege, vom Tempo verwischt, streicht frei durch das entleerte Bewusstsein … In solchen Momenten geht dir auf, dass du und das Hühnchen, selbst auch die lärmenden Verfolger, dass ihr alle Teile eines großen, unfassbaren Ganzen seid, eines, das Masken trägt und mit sich selbst Verstecken spielt … Man würde gern glauben, dass auch das Hühnchen es begreift. Und wenn nicht, kommt irgendwann ein Leben, in dem es ganz, ganz sicher zur Erkenntnis gelangt!

Hier die Grundregeln für die Hühnerjagd:


1. Annäherung an den Hühnerstall in Gestalt eines mondänen Luxuspüppchens: Abendkleid, hohe Absätze. Der Aufputz soll die Bewegungsfähigkeit weitgehend einschränken und an Glamourmagazine denken lassen.

2. Erregung von Aufmerksamkeit bei den Hühnerstallbesitzern. Sie müssen unbedingt Augenzeuge sein, wie die vornehme Besucherin zum Hühnerklau wird.

3. Flucht vor den wütenden Verfolgern – nicht zu schnell und nicht zu langsam. Der Hauptgedanke dieser Jagd ist es, in ihnen solange wie möglich die Gewissheit zu nähren, dass die Diebin einzuholen ist.

4. Auslöschung der Erinnerung an das Vorgefallene bei den Verfolgern zu dem Zeitpunkt, da ihnen die Kräfte zur Verfolgung ausgehen (sowie in Fällen, da die vor ihren Augen sich ereignende Transformation einen Schock bewirkt) durch einen speziellen Peitschenknall des Schweifes. Freilassung des Huhns.


Den letzten Nachsatz habe ich selbst eingeführt. Fragen Sie mich nicht, was das Huhn mit dieser Freiheit anfängt. Aber man kann ihm ja wirklich schlecht den Hals umdrehen. Gut, manchmal geschieht es, dass ein Huhn während der Jagd den Geist aufgibt. Hätte es – im Sinne der Evolution – mehr davon, im Suppentopf des Philisters zu enden?

Manche von uns wenden dieselbe Logik auch auf die englischen Aristokraten an, womit ich nicht einverstanden bin. Jeder englische Aristokrat könnte theoretisch in diesem Leben zu Buddha werden, und dieser Chance darf man ihn nicht zu Vergnügungszwecken berauben.

Die Aristokratenjagd ist zu neunzig Prozent ein lästiges soziales Exerzitium, nicht sehr verschieden von einer offiziellen Teeparty. Manchmal aber geschieht es, dass sich die abgefahrensten meiner Schwestern, mit denen ich nichts zu tun haben möchte, zusammenrotten und ein Kesseltreiben veranstalten, in dessen Verlauf viele englische Aristokraten dem Tod ins Auge sehen. Das Geschehen nimmt in diesen Fällen pittoreske Formen an, der einhergehenden Halluzination können viele Tausend Menschen auf einmal erliegen – anhand der Geschichte der Titanic oder der so genannten Schlacht bei Waterloo mag man sich diesbezüglich ein Bild machen. Die schockierendsten Details bleiben dem Publikum dabei noch verborgen.

Ich kann mir vorstellen, dass es schwerfällt, solche erschreckenden Massentäuschungen für möglich zu halten, man muss dazu das Folgende wissen: Wird eine Halluzination von mehreren Werfüchsen zugleich initiiert, so steigert sich ihre Wirkung um die dritte Potenz der Anzahl der Teilnehmerinnen. Mit anderen Worten: Ein und dieselbe Suggestion, von drei Werfüchsen veranstaltet, ist fast dreißig Mal so stark, wie wenn ein einzelner Werfuchs sie produziert. Hierbei bedient man sich einer Reihe geheimer Methoden und Praktiken: Die Werfüchse lernen als Erstes, einen zuvor betrachteten Gegenstand gemeinschaftlich zu imaginieren; dann einen, den sie noch nie gesehen haben; schließlich bringen sie andere dazu, einen Gegenstand wahrzunehmen, den es überhaupt gar nicht gibt, und immer so weiter. Es ist eine komplizierte Technik, sie sich anzueignen, braucht es Jahrhunderte. Doch wenn einmal zehn, zwanzig Werfüchse zusammenkommen, die sie beherrschen … Man kann sich vorstellen, wozu sie fähig sind.

Wenn dem so ist, könnte einer einwenden, wieso regieren die Werfüchse dann nicht längst die Welt? Das hat zweierlei Gründe:


1. sind Werfüchse nicht so blöd, diese Bürde auf sich zu nehmen.

2. sind Werfüchse sehr egoistisch und darum unfähig, längerfristige Vereinbarungen mit anderen zu treffen, die über die kollektive Jagd auf englische Aristokraten hinausgehen.


Da die Menschen heutzutage über viele moderne Mittel zur Beobachtung und Überwachung verfügen, hängen sich die Werfüchse in die Menschheitsgeschichte lieber nicht mehr hinein, sondern lösen das Problem auf einfachere Art. Im Norden Englands gibt es eine Anzahl Privatschlösser, wo Aristokraten von besten Erzeugern gezüchtet und speziell für die Werfuchsjagd aufgezogen werden – die Ausbeute ist gering, die Qualität dafür hervorragend. Ähnliche Zuchtanstalten gibt es in Argentinien und Paraguay, doch sind die Bedingungen dort lausig; die in Massenproduktion, per künstlicher Besamung erzeugten englischen Aristokraten (klontechnische Versuche blieben bislang erfolglos) taugen allenfalls zur Hubschraubersafari: Sie reden wie Gauchos, saufen eimerweise Tequila, scheitern auch im dritten Versuch, ihren Stammbaum aufzuzeichnen, und wollen, dass man ihnen vor dem Tod die Che-Guevara-Hymne Un Hombre singt. Anscheinend möchten sie sich wenigstens für ein paar Minuten als Portfolio-Manager fühlen.

Es gibt eine andere Schule der Jagd. Hier ist der englische Aristokrat handverlesen, und der letzte Parcours, über den wir ihn treiben, kann sich über Jahre hinziehen: Der Werfuchs wird seine Geliebte oder Gemahlin und befindet sich bis zum bitteren Moment der Wahrheit an seiner Seite – der dann umso grausamer ist. Irgendwann während eines Gewitters oder in einem vergleichbar dramatischen Augenblick eröffnet sie ihm, wie es um ihn steht, und holt ihren Schweif hervor – nicht, um ihm die allfällige Dosis Eheglück zu verabreichen, sondern für den letzten, den tödlichen Schlag … Dies ist die schwierigste Form der Jagd, die ein virtuoses Sozialempfinden voraussetzt. Hier kann niemand unserer Schwester I Huli das Wasser reichen, die schon seit Ewigkeiten in England lebt und es in diesem Sport zu wahrer Meisterschaft gebracht hat.

Der größte Vorzug der Hühnerjagd besteht in der supraphysikalischen Transformation, die wir dabei vollziehen. Das Huhn muss als lebender Katalysator assistieren: Die Jahrtausende Leben in Kultur haben uns Werfüchse dieser Gabe fast gänzlich beraubt, wie Dante brauchen wir beim Trip in die Unterwelt einen, der vorausgeht. Die Transformation gelingt nicht immer und nie für längere Zeit, doch der Kick dabei ist so gewaltig, dass man noch viele Tage von der Erinnerung zehrt.

Etwas Vergleichbares widerfährt uns manchmal auch bei heftigem Erschrecken, doch das lässt sich nicht kontrollieren. Die Kunst der Hühnerjagd besteht aber gerade darin, die eigene Angst zu dosieren und in Schach zu halten. Man muss die Verfolger nahe genug heranlassen, damit die Mechanismen der inneren Alchimie anspringen, die für Sekunden ein Raubtier aus dir machen, das Gut und Böse nicht kennt. Natürlich muss man, um Gut und Böse nicht gänzlich außer Kraft zu setzen, einen Sicherheitsabstand wahren. All dies zusammen ist beinahe wie Windsurfen, nur dass man für den Verlust der Balance hier einen ungleich höheren Preis zu zahlen hat. Dafür sind aber auch die positiven Emotionen weitaus stärker – es gibt nichts Herzerfrischenderes als Hatz und Risiko.

Manchmal kommt es vor, dass sich mir Hunde an die Fersen hängen, doch sie lassen ab von mir, sobald sie merken, wer ich bin. Hunde lassen sich ebenso leicht etwas vormachen wie Menschen. Außerdem haben sie ein besonderes Nachrichtennetzwerk, eine Art Geruchsinternet, könnte man sagen: Gibt es etwas Neues, sind die anderen beinahe sofort im Bilde. Seit jenem Tag, als ein mutiger Rottweiler, der mit mir hatte spielen wollen, von zwei kaukasischen Brüdern (pardon, Schäferhunde sind gemeint) vergewaltigt wurde, machten die Hunde im Wald von Bitza einen Bogen um mich. Sie sind kluge Tiere und können die Zusammenhänge nachvollziehen, wenn erst ein Rottweiler sich knurrend auf eine aparte rothaarige Joggerin stürzt und alle Rüden, die zwei Köpfe größer als dieser Rottweiler sind, ihn plötzlich für eine zärtliche, großäugige, oberläufige Hündin halten.

Der Entschluss, Alexander mit auf die Jagd zu nehmen, hatte nichts mit Prahlsucht zu tun. Die Transformation eines Werfuchses während der Hühnerjagd bleibt zurück hinter dem, was einem Werwolf widerfährt. Kein Grund, sich damit zu brüsten. Doch ich dachte, wenn der supraphysikalische Schub vor Alexanders Augen geschah, war das die beste Art, ihm zu sagen: Du und ich, wir sind vom selben Blut. Vielleicht, dass das die Reste von Misstrauen zwischen uns zum Schmelzen brachte und für weitere Annäherung sorgte – so mein vages Kalkül.

Den Ort, an dem die Jagd stattfinden sollte, hatte ich schon vor längerem ausgeguckt. Einer der Wege, die sich durch den Bitza-Park schlängelten, stieß auf ein am Waldrand stehendes Holzhaus, in dem der Forsthüter wohnte. (Ob diese Bezeichnung ganz zutreffend ist, weiß ich nicht, jedenfalls band den Mann irgendeine Dienstpflicht an diesen Park.) Neben dem Haus gab es einen Hühnerstall, was in Moskau heutzutage eine große Seltenheit ist. Ich hatte ihn irgendwann bei einem Fahrradausflug entdeckt; nun beschloss ich meine Entdeckung zu nutzen. Zuvor aber musste ich die Situation dort noch einmal prüfen und die Rückzugswege abstecken. Ich nahm mir einen ganzen Tag Zeit für eine Erkundungstour per Fahrrad und gelangte zu folgenden Erkenntnissen:


1. Es gab Hühner im Stall und Leute im Haus; die wesentlichen zwei Komponenten für die Aktion waren also vorhanden.

2. Die Flucht hatte über einen in den Wald führenden Weg zu erfolgen.

3. Die Verfolger mussten abgeschüttelt sein, bevor dieser Weg auf der anderen Seite wieder aus dem Wald herausführte – am jenseitigen Waldrand gab es viele Spaziergänger, meist junge Mütter mit Kinderwagen.


Ferner entdeckte ich, wie man mit dem Auto fast ganz bis an den Hühnerstall herankam. Das Forsthäuschen schien nur auf den ersten Blick im Wald versteckt zu liegen, schon dreihundert Meter dahinter fing die Stadt an: eine Reihe sechsstöckiger Plattenbauten, hart an der Waldgrenze. Die Adresse des dem Hühnerstall nächstgelegenen Hauses hatte ich notiert. Alles war bereit, die Jagd konnte beginnen.

Und noch ein weiteres Ergebnis hatte die Erkundungstour gebracht. Ich war auf dem Rückweg eine unbekannte Route gefahren und an einen erstaunlichen Ort geraten, wo ich nie zuvor gewesen war. Es handelte sich um eine größere Brachfläche, beinahe ein Feld; nach der einen Seite, zu einem kleinen Wasserlauf hin abschüssig; allseits von Wald umgeben. Über die Fläche liefen mehrere kleine Pfade, und an der Hangseite zum Flüsschen hin befand sich eine Sprungrampe für Biker: eine steile Erdaufschüttung, die von vielen Reifen zerfahren war. Ich traute mich nicht zu springen, fuhr nur vorsichtig bis an den Rand und stellte mir vor, wie es war, hier mit Karacho runterzudüsen und durch die Luft zu fliegen. An eine glückliche Landung konnte ich für mich nicht recht glauben.

Unweit der Rampe fand sich eine sonderbare Skulpturengruppe. Mehrere graue Holzbalken verschiedener Länge waren in die Erde gegraben, die geglätteten oberen Enden trugen die Gesichter von Kriegern. Die Holzsoldaten standen dicht beieinander, um sie herum zog sich ein Kreis aus grob und stabil gezimmerten Sitzbänken, unterbrochen von vier nach Norden, Westen, Süden und Osten ausgerichteten Toren: zwei Balken längs, einer quer darüber, ebenso grob, grau und rissig. Das Ganze wirkte wie ein hölzernes Stonehenge, verschlissen im Kampf gegen die Ewigkeit; etliche Balken waren angekokelt von den Lagerfeuern, die die Cliquen aus dem Umkreis anscheinend mittendrin errichteten. Doch ungeachtet der Brandstellen und der vielen leeren Bierflaschen war dem Objekt ein Anflug von Schönheit eigen, wohl gar von Größe und Erhabenheit.

Ich setzte mich auf einen der Balken, starrte auf den roten Sonnenball (solche Sonnenuntergänge gibt es in Moskau nur im Monat Mai) und driftete mit den Gedanken in die Vergangenheit. Ich musste an einen Menschen denken, die Begegnung mit ihm lag mehr als tausend Jahre zurück: Man nannte ihn den Gelben Herrn, weil sein Kloster auf dem Gelben Berg stand. Nur eine Nacht lang währte damals unser Gespräch, doch es blieb mir in Erinnerung – ich musste nur die Augen schließen, schon sah ich das Gesicht des Gelben Herrn zum Greifen nah und deutlich vor mir. Und wie vielen Menschen war ich seither begegnet, tagein, tagaus – nicht der Schatten von ihnen hatte sich im Gedächtnis erhalten … Auch Schwesterlein I hatte den Gelben Herrn gekannt, fiel mir ein.

Ob sie sich gut an ihn erinnerte? Ich musste sie danach fragen.

In dem Moment klingelte mein Handy.

»Hallo?«

»Grüß dich, Rotschwänzchen.«

Ich traute meinen Ohren nicht.

»I, Schwesterlein? Das ist ja nicht zu fassen! Gerade eben habe ich an dich gedacht …«

»Davon hat mir der Schweif gejuckt!«, lachte sie. »Ich bin in Moskau.«

»Wo bist du abgestiegen?«

»Im Hotel National. Hast du morgen um eins schon was vor?«


Ich befürchtete, am Einlass vom National Probleme zu bekommen, doch keiner der Typen von der Security beachtete mich. Vielleicht lag es daran, dass ein Fräulein von der Rezeption, das wie eine SS-Scharführerin aussah, mit dem Schild Valued Guest of Lady Cricket-Taylor auf mich wartete; sie geleitete mich zu einem der Luxus-Appartements. Fehlte nur noch Ehrenwache und Orchester.

Bei meinem Eintreten saß I Huli auf dem gestreiften Diwan des Wohnzimmers. Mir kam der quälende Verdacht, in diesem Zimmer schon mal mit einem Kunden zugange gewesen zu sein, Geschäftsmann aus Südkorea vielleicht oder arabischer Waffenhändler. Es konnte aber auch an dem gestreiften Diwan liegen, solche gab es hier in vielen Zimmern. Als die Schwester mich erblickte, sprang sie auf, und wir umarmten uns zärtlich. Plötzlich hielt sie eine Plastiktüte in den Händen.

»Das ist für dich«, sagte sie. »Erlesen, wenn auch nicht teuer.«

In der Tüte steckte ein T-Shirt mit Union Jack und dem zweisprachigen Aufdruck


КОКНИ

COCKNEY


»Das kriegt man in London zu kaufen«, sagte sie. »In allen Sprachen. Aber auf Russisch kommt es besonders nett.7«

Sie kicherte. Ich konnte nicht an mich halten und lachte mit.

I Huli sah noch ganz genauso aus wie anno neunundzwanzig, als sie aufgrund von Kontakten zur Komintern, die damals in Mode war, öfters nach Russland kam. Höchstens der Haarschnitt schien noch ein wenig kürzer. Gekleidet war sie wie immer unnachahmlich.

In den letzten tausend Jahren war I Hulis Stil unverändert geblieben: extrem radikal in der Sache, utilitär-minimalistisch an der Oberfläche. Ich beneidete sie um ihren kühnen Geschmack – immer war sie der Mode um einen halben Schritt voraus. Mode hat ihre Zyklen, und im Laufe der Jahrhunderte entwickelte Schwesterlein I sich zur professionellen Wellenreiterin, die auf den Höhen dieser Zyklen dahinsegelte; immer wieder brachte sie das Wunder zustande, just an dem Punkt zu sein, dessen Koordinaten die Modemacher gerade vorauszusehen bemüht waren.

Diesmal trug sie eine frappierende Weste, die aussah wie ein überdimensionaler Patronengürtel – mit einer Vielzahl aufgesetzter bunter Taschen, gestickten arabischen Schnörkeln und der Aufschrift Ka-Boom! in Orange. Eine Variation auf das Thema Sprengstoffgürtel – wie ihn ein libertinärer japanischer Modegestalter entworfen hätte. Zugleich war das Ding überaus praktisch: Wer eine solche Weste hatte, brauchte bestimmt keine Tasche mit sich herumzutragen.

»Ist das für London nicht ein bisschen kühn?«, fragte ich. »Ich meine, hat sich noch keiner darüber empört?«

»Bewahre! Der Engländer verwendet all seine Geisteskraft auf die Scheinheiligkeit. Für Intoleranz bleibt da nicht viel.«

»Ist es wirklich derart finster?«

Sie winkte ab.

»Das englische Wort für Heuchelei ist hypocrisy. Ich wäre dafür, einen neuen Begriff einzuführen: hippopocrisy – von Hippopotamus. Um den Maßstäben des Problems gerecht zu werden.«

Ich kann es nicht leiden, wenn man ganze Nationen schlechtmacht. Das tun meiner Meinung nach nur Loser oder Leute, die ein schlechtes Gewissen haben. Einen Loser konnte man Schwesterlein I wahrlich nicht nennen. Aber was das Gewissen anbetraf …

»Warum gehst du nicht mit gutem Beispiel voran und lässt das Heucheln sein?«, fragte ich.

»Das wäre blanker Zynismus. Fragt sich, was schlimmer wäre. Jedenfalls ist es in der Kammer dunkel und feucht.«

»Was denn für eine Kammer?«

»Ich meine die englische Seele. Sie erinnert mich an eine Abstellkammer. Oder wie soll man das genauer übersetzen: closet? Die besten Engländer versuchen ihr Leben lang da herauszukommen, aber es gelingt ihnen für gewöhnlich erst in der Stunde ihres Todes.«

»Woher willst du das wissen?«

»Wie woher? Das ist die Innensicht. Ich bin doch selber Engländerin. Nicht so ganz natürlich – ungefähr so, wie du Russin bist. Das kann man doch sagen, oder?«

»Vermutlich schon«, erklärte ich mich mit leisem Seufzen einverstanden.

»Und womit lässt sich die russische Seele vergleichen?«

Ich dachte nach.

»Mit dem Fahrerhaus von einem Truck. Der Trucker hat dich reingeholt, damit du ihm einen bläst. Dann ist er gestorben, und du bist allein da drin. Ringsum endlose Steppe, Himmel, die Straße. Und du hast keinen Führerschein.«

»Und der Fahrer liegt noch drin, oder wie?«

Ich zuckte die Achseln.

»Je nachdem.«

»Tja«, sagte I Huli. »Anscheinend auch nicht viel anders.«

»Anders als was?« Ich verstand nicht.

»Bei uns existiert ein Sprichwort: Everybody has his skeleton in the closet. Das hat Lord Byron gesagt. Als er mitbekam, dass er den Homosexuellen in sich abgewürgt hatte.«

»Der Ärmste.«

»Der Ärmste, was soll das heißen?« I Huli hob die Augenbrauen. »Du hast ja keine Ahnung. Er hat diesen Homosexuellen in sich zeit seines Lebens gepiesackt und gefoltert, erwürgt hat er ihn erst ganz zuletzt, als er merkte, dass er selber bald den Löffel abgibt. Und alle seine Gedichte und Poeme, stellt sich raus, hat gar nicht er geschrieben, sondern dieser Homosexuelle in ihm. Das haben zwei amerikanische Gelehrte nachgewiesen, ich hab es selbst gelesen. So sind die Leute in England! Dann schon lieber den Downer in euerm Fahrerhaus.«

»Wieso Downer? Ich finde, es hat was.«

»Was denn? Das Gerippe auf dem Fahrersitz?«

»Nein. Die russische Seele. Stell dir vor, du kannst nicht Auto fahren, und ringsum nichts als Steppe und Himmel. Ich liebe Russland.«

»Und was genau ist es, was du daran liebst?«

Über diese Frage musste ich eine Weile nachdenken.

»Die russische Sprache«, antwortete ich schließlich zögernd.

»Ist schon in Ordnung«, sagte I Huli, »dass du dir das einredest. Sonst wäre es für dich unerträglich, hier zu leben. Wie für mich in England.«

Sie räkelte sich katzenhaft, ihr Blick verlor sich in der Ferne, darin etwas träge Verträumtes. Plötzlich aber, für den Bruchteil einer Sekunde, sah ich dort, wo ihr Gesicht war, einen scharfzahnigen Raubtierrachen – so wie auf dem berühmten fünfundzwanzigsten Filmbild. Ich bekam Lust, ihr eine kleine Bissigkeit hinzuwerfen.

»Ich finde, das ist Selbstsuggestion: dass du glaubst, unter Heuchlern und Unmenschen zu leben.«

»Ach so? Wozu sollte ich mir das denn selber suggerieren?«, fragte sie.

»Man sagt, keiner wäre zu einem Mord fähig, ohne seinem Opfer zuvor irgendeine miese Eigenschaft angedichtet zu haben. Sonst plagt ihn das Gewissen. Wenn man aber nun am Fließband mordet, ist es praktischer, diese Eigenschaften gleich auf die ganze Zielgruppe zu übertragen. Dann fürchtet man sich weniger vor der Vergeltung.«

Ein Schatten strich über I Hulis Gesicht.

»Kommst du mir jetzt mit Moral?«, fragte sie. »Selbst unter den Menschen trifft man hie und da die Erkenntnis an, dass Gut und Böse in der Wirklichkeit nicht vorkommen. Und wir beide sind Werfüchse. Weder Vergeltung für Untaten, noch Belohnung für Wohltaten stehen nach dem Tod ins Haus, ausnahmslos alle nehmen denselben Weg zurück zur Gelben Quelle, wo die große Grenze ist. Der Rest ist Erfindung, um das Volk am Gängelband zu halten und in Angst. Wovon redest du?«

Ich sah ein, dass mein Benehmen idiotisch war. Wozu die Schwester in Rage bringen, wenn ich mich doch mit ihr beratschlagen wollte? Gerade ich muss ihr Vorwürfe machen, ich bin doch um kein Jota besser!, dachte ich. Und falls ich mich tatsächlich für etwas Besseres hielt, so hieß das nur, dass ich noch schlimmer war. Ich musste das Ganze schleunigst ins Lächerliche ziehen.

»He, was sind wir verbissen!«, sagte ich in schalkhaftem Ton. »Das macht die langjährige Lebensgemeinschaft mit den schwanzlosen Affen. Du argumentierst schon genau wie sie.«

I Huli blickte mich ein paar Sekunden argwöhnisch an, schob die buschigen Brauen zusammen. Das stand ihr sehr gut. Dann lächelte sie. »Aha, du willst mich also auf den Arm nehmen? Na warte, dreh du mir den Rücken zu …«

Bei den Werfüchsen hat diese Aussage etwas andere Untertöne als beim Menschen, doch sie bedeutet ungefähr das Gleiche. Ich hatte gewiss nicht vor, ihr den Rücken zuzudrehen, zumal eine wie sie es wirklich fertig brachte, dich am Schweif zu ziehen – im fünfzehnten Jahrhundert war das schon einmal vorgekommen, und ich weiß es noch wie heute. Aber ihr Satz brachte mir unverhofft mein letztes Rendezvous mit Alexander in Erinnerung. Ich wurde rot. Was I Huli nicht verborgen blieb.

»Oho!«, sagte sie, »du kannst immer noch so schön rot werden wie vor tausend Jahren. Geradezu beneidenswert! Wie machst du das bloß? Dafür muss man vermutlich noch Jungfrau sein?«

Das Seltsame ist, dass ich ausschließlich in Gegenwart anderer Werfüchse erröte, im Umgang mit Menschen kommt es nie dazu. Eigentlich bedauerlich – man hätte die Tarife deutlich erhöhen können.

»Jungfrau? Bin ich nicht mehr«, sagte ich und errötete noch tiefer.

»Sag bloß!« Vor Verblüffung ließ I Huli sich nach hinten gegen die Sofalehne fallen. »Los, erzähle!«

Endlich konnte ich dem Drang nachgeben, die Story jemandem anzuvertrauen – die nächste halbe Stunde ging dafür drauf, mein übervolles Herz auszuschütten.

Während ich die prickelnden Details meiner affaire hererzählte, runzelte I Huli die Stirn, lächelte, nickte, hob manchmal gar den Zeigefinger, als wie: Hab ich es dir nicht oft genug gesagt! Und als ich fertig war, sprach sie: »Na siehst du. Nun ist es dir also auch passiert. Ob tausend Jahre früher oder später, was macht das schon … Gratuliere!«

Ich nahm eine Serviette vom Beistelltisch und knüllte sie zu einem Papierball, den ich nach meiner Schwester warf. Geschickt wich sie aus.

»Lebenserfahrung ist doch eine großartige Sache«, fuhr sie fort. »Sag selbst: Wäre so etwas in den Tagen unserer zarten Jugend vorstellbar gewesen? Du hast ihn so profimäßig provoziert, man kann gar nicht genau sagen, wer da wen vergewaltigt hat.«

»Wie bitte?« Vor Verblüffung blieb mir der Mund offen stehen.

I Huli grinste.

»Vor den eigenen Leuten musst du nicht die gekränkte Unschuld spielen.«

»Was redest du da? Wann soll ich ihn provoziert haben?«

»Nackt aus dem Badezimmer springen und ihm den Hintern entgegenrecken – ist das etwa keine Provokation?«

»Meinst du das im Ernst?«

»Aber ja. Warum sonst hast du ihm den Rücken zugedreht, frage ich mich.«

Ich zuckte die Achseln.

»Sicherheitshalber.«

»Was soll daran sicher sein?«

»Der Schweif ist so näher dem Ziel«, sagte ich, selbst nicht ganz überzeugt von meiner Idee.

»Na schön. Aber dabei sollte man doch immerhin den Kopf nach hinten drehen. Sag ehrlich: Hast du dich jemals zuvor sicherheitshalber so aufgebaut?«

»Nein.«

»Wie bist du dann diesmal drauf gekommen?«

»Ich … ich dachte einfach, das ist ein sehr heikler Fall. Und ich darf mich auf gar keinen Fall anschmieren lassen. Blamieren, meine ich.«

I HuIi brach in lautes Lachen aus.

»Hör mal«, sagte sie. »Du willst mir doch nicht wirklich erzählen, du hättest das alles unbewusst inszeniert?«

Die Richtung, in die unser Gespräch ging, behagte mir ganz und gar nicht.

»Ich weiß, du hältst nichts davon«, fuhr sie fort, »aber würdest du mal einen guten Psychoanalytiker konsultieren, lägen deine wahren Motive schnell auf der Hand. Mit einem Analytiker lässt es sich übrigens ganz ungehemmt reden, über alles, was du willst – dafür kriegt er sein Geld. Gut, den Schweif muss man nicht unbedingt ausplaudern. Oder man stellt ihn als Phantasiespiel hin. Aber dann vergiss alles, was er dir über Penisneid erzählt …«

Da schüttet man nun einer Freundin sein Herz aus und muss sich so was anhören!, dachte ich.

»Sag mal, findest du nicht auch, dass es längst an der Zeit wäre, diesen ganzen psychoanalytischen Diskurs mit einem Pfahl aus Espenholz in den verkoksten und zugepeppten Arsch zurückzutreiben, der ihn ausgeschissen hat?«, fasste ich meinen Groll in Worte. I Huli riss die Augen auf.

»Zugepeppt, na gut, das kann ich noch verstehen. Immerhin war ich zwei Jahre lang mit Jean-Paul Sartre befreundet, falls du das noch nicht weißt. Auch mit dem Arsch komme ich gut klar. Aber verkokst, wieso verkokst?«

»Das kann ich dir erklären«, sagte ich, hocherfreut, dass das Gespräch von dem heiklen Thema abkam.

»Na, da bin ich aber gespannt!«

»Nicht genug damit, dass Doktor Freud selber auf Kokain war, er hat es seinen Patienten verordnet. Um dann seine Theorien daraus abzuleiten. Kokain ist ein ernstzunehmendes sexuelles Stimulans. Darum hat alles, was Freud sich so ausgedacht hat, diese ganzen Ödipusse, Sphinxe und Sphinktere, nur für den geistigen Raum seiner Patienten Gültigkeit, ihre vom Kokain zu Spiegeleiern verbratenen Gehirne. In so einem Zustand hat der Mensch wirklich keine anderen Sorgen mehr, als sich entscheiden zu müssen, ob er lieber zuerst die Mama fickt oder den Papa killt. Alles sehr einleuchtend, solange genug Kokain da ist. Und mit dem Nachschub scheint es damals keine Probleme gegeben zu haben.«

»Ich rede doch gar nicht von …«

»Aber solange du deine Dosis von drei Gramm pro Tag nicht überschreitest«, sprach ich einfach weiter, »hast du weder Ödipuskomplexe noch irgendeine andere von seinen vielen Entdeckungen zu befürchten. Wenn ich damit anfange, mich bei der Analyse meines Verhaltens auf die freudschen Theorien zu stützen, kann ich auch gleich in die Kaktustrips von Carlos Castaneda einsteigen. Bei dem ist wenigstens Herz dabei und Poesie. Dieser Freud hingegen hat nur seinen Kneifer, zwei Lines auf dem Büfett und das Zipperlein im Schließmuskel. Die Bourgeoisie liebt ihn gerade seiner Schweinigeleien wegen. Für sein Talent, die ganze Welt aus Arschhöhe zu sehen.«

»Ich verstehe nicht: Warum sollte die Bourgeoisie ihn gerade deswegen lieben?«

»Weil die Portfolio-Manager Propheten brauchen, die ihnen die Welt in ihren eigenen Begriffen erklären. Und sie ein ums andere Mal beruhigen, dass der objektiven Realität, in die sie so viel Geld investiert haben, keine Gefahr droht.«

I Huli sah mich an – ein wenig spöttisch, wie mir schien.

»Und was meinst du«, fragte sie, »liegt der Tendenz, die objektive Realität zu ignorieren, eine sexuelle Deprivation zugrunde oder nicht?«

»Hä?«, machte ich.

»Anders gesagt: Bist du auch der Meinung, dass vor allem solche Leute die Welt als Illusion betrachten, die mit ihrem Sexleben nicht klarkommen?«

Dies war eine Weltsicht, der man hier im National häufig begegnen konnte. Nach dem Motto: Nur Loser mit sexuellen Komplexen flüchten sich vor dem fröhlichen Treiben des Marktes in Mystik und Obskurantismus. Solches von einsam auf dem Bett herumkrauchenden Kunden zu hören war besonders lustig. Vor allem wenn man bedachte, dass sie es all die anderen Tage genauso trieben – nur dass statt eines Fuchsschweifes die Financial Times für die Anschubanimation sorgte und die Einsamkeit nicht wie in meiner Gegenwart relativ, sondern absolut war … Dass aber nun ausgerechnet mein Schwesterlein solchen Theorien das Wort redete, war stark. Ein Beispiel dafür, was die Konsumgesellschaft aus uns macht.

»Die Sache verhält sich gerade umgekehrt«, entgegnete ich. »In Wirklichkeit lässt die Neigung, zwischen geistigem Streben und sexuellen Problemen einen Zusammenhang zu konstruieren, auf die Frustration des analen Libidovektors schließen.«

»Wie das?«, fragte I Huli und hob verwundert die Brauen.

»Na eben so. Die so reden, gehören in den Arsch gefickt. Weil sie es sich nicht selber machen können, was insgeheim schon immer ihr Wunsch war.«

»Und was soll das bringen?«

»Wenn sie sich auf das konzentrieren, wovon sie was verstehen, hören sie auf, über Dinge zu reden, von denen sie keine Ahnung haben. Den Schweinen hat der liebe Gott keinen Hals gegeben, mit dem es sich in den Himmel gucken lässt. Was noch lange nicht heißt, dass der Himmel eine sexuelle Neurose ist.«

»Aha … Hast du das von deinem Wolf?«

Ich schwieg.

»Verstehe«, sagte Schwesterlein I. »Darf man ihn sich denn mal ansehen?«

»Woher so plötzlich das Interesse?«, fragte ich argwöhnisch.

»Bloß keine Eifersucht!«, sagte sie lachend. »Ich bin einfach neugierig, an wem dein Wohlgefallen sich entzündet hat. Außerdem bin ich noch nie einem Werwolf begegnet, weiß nur vom Hörensagen, dass sie im Norden vorkommen sollen. Das Überwertier, zu dem du mir ständig Vorträge hältst, ist übrigens auch eher Wolf als Fuchs. Meint jedenfalls mein Mann. Und in seiner Loge Rosa Abendlohe sehen das alle so.«

Ich seufzte nur. Es war einfach unbegreiflich, wie diese I Huli, die in manchen Dingen so scharfsinnig war, sich in anderen wiederum so dumpf und traumwandlerisch verhalten konnte. Wie oft sollte ich es ihr noch erklären? Ich beschloss, keinen Streit anzufangen. Stattdessen fragte ich: »Du glaubst wohl, mein Alexander könnte der Überwerwolf sein?«

»Wenn ich es recht verstehe, ist das Überwertier kein einfacher Wolf. Es ist vom Wolf genauso weit entfernt wie ein Werfuchs. Aber es ist auch kein Mittelding zwischen Werwolf und Werfuchs. Es geht weit über den Wolf hinaus.«

»Das ist mir unklar«, sagte ich. »Über den Wolf hinaus, was soll das heißen?«

»Ich kann es dir nicht schlüssig erklären, weißt du. Mein armer Brian hat alles irgendwie greifbare Material zu diesem Thema gesammelt. Wenn du möchtest, kann er dir einen kleinen Vortrag halten, solange er noch am Leben ist. Morgen tagsüber hätten wir zufällig ein bisschen freie Zeit. Du könntest deinen Alexander mitbringen – den dürfte das doch auch interessieren, denke ich mir. Und es wäre die Gelegenheit, ihn mir vorzuführen.«

»Das wäre prima«, sagte ich. »Aber Alexander spricht ein lausiges Englisch.«

»Macht nichts. Brian ist Polyglott, er spricht fließend fünf Sprachen. Zum Beispiel auch Russisch.«

»Gut«, sagte ich. »Dann lass es uns probieren.«

»Und dafür tut dein Generalleutnant uns auch einen Gefallen«, fügte I Huli mit erhobenem Zeigefinger an.

»Nämlich?«

»Brian und ich, wir hätten gern einmal nachts Zugang zur Christus-Erlöser-Kathedrale. Es müsste aber die Nacht von Freitag auf Samstag sein. Weil da Vollmond ist. Ob er das arrangieren könnte?«

»Vermutlich schon«, sagte ich. »Die nötigen Kontakte dürfte er haben. Ich versuch mit ihm zu reden.«

»Fein. Ich komme darauf zurück«, sagte I Huli.

So war es mit ihr immer. Sie spannte einen in ihre Angelegenheiten ein und vermittelte noch dazu das Gefühl, als würde man dadurch geadelt. Andererseits brannte ich darauf, Lord Cricket kennen zu lernen, den Okkultisten, Mäzen der schönen Künste und passionierten Fuchsjäger.

»Sag mal, hat dein Mann eigentlich eine Ahnung?«, fragte ich. »Ich meine, was dich betrifft?«

»Nein. Wie stellst du dir das vor? Es gibt doch Jagdvorschriften. Er darf erst im allerletzten Moment davon erfahren.«

»Und wie schaffst du es, dich die ganze Zeit nicht zu outen?«

»Ach, die Gepflogenheiten der englischen Lebenswelt kommen einem da sehr entgegen. Getrennte Schlafzimmer, das viktorianische Grausen vor dem nackten Körper, das steife Zubettgehritual. In diesen aristokratischen Kreisen genügt es, eine bestimmte Ordnung einzuführen und an ihr festzuhalten. Schwieriger ist was anderes: den großen Showdown immer wieder rauszuschieben. Dafür muss man innerlich stark sein.«

»Deine Ausdauer ist wirklich bewundernswert.« »Brian ist mein Moby Dick«, sagte I Huli und lachte. »Obwohl sein dick nicht gerade moby ist, ha-ha …«

»Wie lange jagst du ihn schon?«, fragte ich. »Fünf Jahre doch mindestens?«

»Sechs.«

»Und wann planst du …«

»In den nächsten Tagen.«

Vor Überraschung zuckte ich zusammen.

»Deswegen sind wir hier«, flüsterte sie, mich um die Schulter fassend.

»Und wieso ausgerechnet in Moskau?«

»Hier ist es weniger gefährlich. Außerdem könnte die Situation günstiger kaum sein. Brian kennt nicht nur die Voraussagen, nach denen das Überwertier hier auftauchen soll. Er träumt davon, diese Rolle selbst zu übernehmen. Aus irgendeinem Grund glaubt er, man müsste dafür in dem abgerissenen und wiederaufgebauten Tempel eine Art schwarze Messe abhalten, so wie er es aus seiner dämlichen Loge kennt. Alles muss ganz im Geheimen ablaufen, ohne Zeugen. Ich als Einzige werde assistieren, weil ich die nötige Weihe besitze.«

»Wie das?«

»Er hat mich extra initiiert.«

Ein Punkt an der Sache irritierte mich besonders.

»Aber, sag mal … Glaubst du denn nicht selber an das Überwertier?«

»In welchem Sinne?«

»Na, dass es eines Tages kommt und leibhaftig vor uns hintritt und so – wie du es in dem Brief geschrieben hast?«

»Ich habe nicht geschrieben, dass ich daran glaube. Ich habe geschrieben, dass Brian es so sieht. Mich lässt diese ganze Mystik kalt. Ob dieses Superwesen kommt oder nicht, ist mir völlig egal. Aber ich wüsste keine bessre Gelegenheit, um mein Ding« – sie schnipste mit den Fingern, damit ich verstand, welches – »durchzuziehen.«

»Was bist du für ein gerissenes Luder!«

I Huli antwortete mit einem bezaubernden Lächeln.

Erst jetzt hatte ich begriffen, was sie plante. Es war eine Offenbarung: wie wenn ein Schachanfänger plötzlich hinter die Partie eines genialen Spielers steigt. Der Showdown versprach dramatisch und theatralisch zu werden, so wie es die Regeln erforderten. Ein besser geeignetes Interieur für den Gnadenstoß als eine Kathedrale zur Nacht konnte man sich schwerlich vorstellen. Und noch dazu war von Beginn an für eine Legende gesorgt, die den bizarren Vorgang überzeugend erklären konnte, ja, im Grunde war es gar keine Legende, sondern die reine Wahrheit, an die der Ausrichter des Spektakels so fest glaubte wie vor einer Minute noch ich. Da war nichts, was die Kriminalpolizei auf den Plan rufen konnte.

Elegant und gediegen das Ganze, ohne die geringste Unglaubwürdigkeit. Ein Meisterwerk der Planung. Auch wenn ich dieser Sportart selbstverständlich nichts abgewinnen konnte, musste ich der Schwester Anerkennung zollen. Und zweifellos war I Huli die weitbeste Jägerin, keine Kontrahentin konnte ihr das Wasser reichen. Ich räusperte mich respektvoll.

»Steht schon fest, wer der Nächste sein wird?«

»Ach, man schaut sich um … Es gibt schon ein paar fabelhafte Ideen, ganz überraschende darunter.«

»Zum Beispiel?«

I Huli blinzelte und hob mit kristallklarem Stimmchen zu singen an: »Don't question why she needs to be so free …«

»Mick Jagger?«, ächzte ich. »Wie kannst du an so was auch nur zu denken wagen!«

»Wieso nicht?«, entgegnete sie ungerührt. »Er ist doch neuerdings Sir Mick. Legitimate target. Und sag bloß, dich rührt diese Zeile immer noch an? Ich finde, es klingt längst nach Flugzeugträgerreklame für die Royal Navy.«


Lord Cricket war ein Mann von unbestimmtem Alter. Und Geschlecht, mochte man der Genauigkeit halber hinzufügen. Schwesterlein I zufolge entstammte er einer Sippe angestammter Militärs, was sein Äußeres jedoch überhaupt nicht erkennen ließ. »War hero or shero« war das Erste, was mir bei seinem Anblick einfiel, trotz Kahlkopf und Goateebärtchen. Und sein Gesichtsausdruck sprach Bände: Man meinte zu sehen, wie er als Jugendlicher nach Licht und Freiheit gestrebt hatte, um dann, gescheitert bei dem Versuch, den Panzer aus Pflichtgefühl und Selbstbeherrschung zu durchbrechen, zur personifizierten Sprechblase mit Fragezeichen zu erstarren. Verdruss und Befremden, zur Grimasse geballt.

Er trug einen dunklen Anzug und ein weißes Hemd mit breiter, zartgrün schillernder Krawatte. Am Aufschlag seines Jacketts blitzte ein kleiner runder Sticker: Es hätte das Mao-Emailleabzeichen sein können, das zu tragen in China einmal Vorschrift gewesen war, doch statt Mao grinste einen Aleister Crowley an. (Die Auskunft kam von I Huli, ich hätte den britischen Obersatanisten gewiss nicht erkannt.)

Alexander und Lord Cricket begegneten einander mit gespannter Aufmerksamkeit. Beim Anblick der Uniform lächelte der Lord. Ein Lächeln von erstaunlicher Art: mit einer winzigen Spur Ironie darin, die sich doch beim besten Willen nicht übersehen ließ. Über Jahrhunderte musste dieser Rasen gestutzt und gepflegt worden sein … Alexander schniefte nervös, als er den Lord erblickte, seine Augen verengten sich, und ein Schatten glitt ihm übers Gesicht, wie die Erinnerung an etwas Unangenehmes.

Anfangs fürchtete ich, die beiden könnten sich anstänkern. Doch sehr bald entwickelte sich zwischen ihnen ein Smalltalk über den Nahen Osten, den schiitischen Terrorismus und das Ölgeschäft. Ich muss ein bisschen verbiestert dreingeschaut haben, denn Lord Cricket stellte mir die klassische Frage: »Warum lächelt ihr Russen so wenig?«

»Weil es nicht lohnt. Wir müssen uns um unsere Konkurrenzfähigkeit keine Sorgen machen«, erwiderte ich grimmig. »Wo wir doch die geborene Loser-Nation sind.«

Eine Braue von Lord Cricket schnellte nach oben.

»Jetzt übertreiben sie aber!«, sagte er.

Trotzdem schien meine Antwort ihn befriedigt zu haben, er wandte sich wieder Alexander zu, um das unterbrochene Gespräch fortzusetzen.

Ich vergewisserte mich, dass sie bei belanglosen Themen blieben, und kümmerte mich als Nächstes um den Videoprojektor, den wir extra im Business-Center unseres Viertels entliehen hatten. Eine esoterische PowerPoint-Präsentation mochte etwas Skurriles an sich haben, doch war die menschliche Esoterik im Ganzen längst derart profaniert, dass kein Microsoft ihr noch etwas anhaben konnte.

Während wir die Technik zum Laufen brachten, gab ich wieder einmal der Versuchung nach, Schwesterlein I ein paar moralische Grundsätze einimpfen zu wollen.

»Du kannst dir nicht vorstellen«, fing ich schnell und leise zu reden an, um in den wenigen zur Verfügung stehenden Sekunden so viel wie möglich nützliche Informationen unterzubringen, »welch entlastende Wirkung Kants kategorischer Imperativ für die Seele hat. Mir sind geradezu Flügel gewachsen, als ich begriff – jaja, lach du nur -, dass der Mensch für uns nicht immer nur Mittel zum Zweck sein muss. Er kann auch das Ziel sein!«

I Huli verzog das Gesicht.

»Stimmt!«, konterte sie dann. »Wenn ich mit Brian fertig bin, fliege ich nach Argentinien auf Safari. Ich wollte schon immer mal vom Hubschrauber runterballern!«

Was sollte man dazu noch sagen!

Es gelang uns lange nicht, Beamer und Notebook zusammenzukoppeln, das Bluetooth-System wollte nicht funktionieren, ich hatte es nie zuvor ausprobiert. Eine Zeit lang war ich von diesem Technikkram in Anspruch genommen und achtete nicht mehr darauf, was im Raum vor sich ging. Als wir das Problem schließlich gelöst hatten, waren Lord Cricket und Alexander schon mitten in einer Wertediskussion.

»Glauben Sie wirklich«, fragte der Lord, »es könnte eine bessere Gesellschaftsordnung geben als die liberale Demokratie?«

»Die Liberalen können uns gestohlen bleiben! Zehn Jahre haben wir uns mit ihnen abgequält. Wir haben uns gerade erst ein bisschen erholt davon.«

Ich sah, dass es höchste Zeit war einzuschreiten.

»Entschuldigt«, sagte ich, Alexander hinter dem Rücken des Lords die Faust zeigend, »zwischen euch besteht offenbar ein Missverständnis. Ein rein linguistisches, wie mir scheint.«

»Wieso?«, fragte Lord Cricket.

»Es gibt eine ganze Reihe von Lautverbindungen, die in verschiedenen Sprachen sehr unterschiedliche Dinge bedeuten. Nehmen wir nur das Wort Bog: Im Russischen ist es Gott, im Englischen ein Sumpf. God wiederum, was der liebe Gott im Englischen ist, meint im Russischen einfach nur das Kalenderjahr. Dem Klang nach identisch, der Sinn könnte unterschiedlicher nicht sein. Dasselbe hat man bei Familiennamen, da ergeben sich manchmal witzige Verquickungen. Und genauso verhält es sich mit dem Wort liberal. Ein klassisches sprachübergreifendes Homonym. Bezeichnet es, sagen wir, in Amerika jemanden, der für strengere Waffengesetze, gleichgeschlechtliche Ehen und Abtreibung eintritt und den Armen insgesamt mehr Mitgefühl entgegenbringt als den Reichen, so ist ein Liberaler bei uns …«

»… ein gewissenloser kleiner Wadenbeißer«, schaltete Alexander sich ein, »der ein bisschen dazuzuverdienen hofft, indem er sich mit großen runden Augen hinstellt und behauptet, diese zwanzig Parasiten, denen das Fett schon aus den Poren quillt, dürften Russland für alle Ewigkeit bei den Eiern gepackt halten, nur weil sie zu Beginn der so genannten Privatisierung an der richtigen Stelle einen Blumenstand eröffnet haben!«

»Puh! Wie vulgär!«, sagte ich.

»Dafür die Wahrheit. Wobei die besondere Tragödie des russischen Liberalismus darin liegt, dass der kleine Wadenbeißer trotzdem kein Geld dafür bekommt.«

»Wieso nicht?«, fragte ich.

»Früher aus Geiz. Heute aus Schiss. Und in Zukunft, weil kein Geld mehr da ist.«

Das hat man selten, dachte ich: dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft so gnadenlos trist zu einer Sentenz gerinnen.

»Sie reden also einer Korrektur der Ergebnisse der Privatisierung das Wort?«, fragte Lord Cricket, der gespannt zugehört hatte.

»Warum auch nicht?«, mischte I Huli sich ein. »Bei näherem Hinsehen entpuppt sich die ganze Menschheitsgeschichte der letzten zehntausend Jahre als eine pausenlose Korrektur der Ergebnisse der Privatisierung. Nur weil ein paar Leute sich eine große Menge Geld unter den Nagel gerissen haben, wird das nicht das Ende der Geschichte sein. Da können diese Herren drei Fukuyamas an jedem Finger haben!«

Schwesterlein I drückte sich zuweilen gern einmal radikal aus, mit einem Schuss ins Rabiate, was gut zu ihrer Raubtierschönheit passte und jedes potentielle Opfer sofort in Bann schlug. Auch jetzt war zu erleben, wie begeistert Alexander sie anstarrte.

»Exakt!«, sagte er. »Schade, dass ich keinen Stift dabeihabe, ich hätte mir diesen Gedanken sonst gleich notiert. Aber was sind denn Fukuyamas? So was wie Geishas?«

»Etwas in der Art«, sagte I Huli und drehte sich so, dass Alexander ihr Profil sah. En profil ist sie unvergleichlich.

So ein Miststück!, dachte ich. Dabei hat sie mir versprochen, dass sie … Und trotzdem: Man kam nicht umhin, ihr Bewunderung zu zollen. Schwesterlein I hatte keine Ahnung von Russland, wusste jedoch instinktiv, was sie sagen musste, um diesen Mann schon beim ersten Wurf an den Haken zu kriegen. Alexander blickte sie an mit offenem Mund, und ich begriff, dass ich ihn schleunigst zu mir herüber an Land ziehen musste. Also noch eins drauflegen in punkto Radikalität.

»Und darum ist dieser ganze Liberalismusstreit nur eine Wortklauberei«, sagte ich, wie um das Thema abzuschließen. »Und obwohl wir die liberale Demokratie im Prinzip hochhalten, stinkt das Wort im Russischen für die nächsten hundert Jahre zum Himmel!«

Alexander ließ verzückte Blicke zwischen I Huli und mir hin- und hergehen. Der Mann fühlt sich heute wie im siebten Himmel !, dachte ich.

»In Bezug auf das Wort hast du vollkommen Recht«, sagte er. »Es geht gar nicht um das liberale Aushängeschild. Es geht um diese widerlichen Wechselbälge, die sich damit tarnen. Da landet so ein fetter Off-Shore-Kater auf dem Weg zu seiner Steueroase in Amerika zwischen und gibt an, ein Liberaler zu sein, und die geknechteten Neger dort glauben, er wäre für die Legalisierung von Cannabis …«

»Sagen Sie mal, wie lässt sich denn eine so emotionale Sicht auf die Dinge mit Ihrer beruflichen Tätigkeit vereinbaren?«, wollte Lord Cricket wissen.

Alexander entging die Ironie, die dieser Frage innewohnte.

»Na hören Sie! Wir sollten schon wissen, wem wir ein Dach bieten und wem nicht … Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich will nicht sagen, dass Demokratie an und für sich etwas Schlechtes wäre. Demokratie ist gut. Schlecht ist nur, wenn Gauner und Betrüger sie für sich in Anspruch nehmen. Man muss der Demokratie helfen, die richtige Richtung zu finden. So sehen wir das.«

»Das wäre keine Demokratie mehr«, wandte Lord Cricket ein. »Das Wesen der Demokratie besteht gerade darin, dass keiner ihr hilft, sondern dass sie sich selber helfen muss.«

»Ach so? Soll das heißen, wir sitzen da und gucken zu, wie gewisse sogenannte Meistbegünstigte mit Doppelkinn und Dreifachstaatsbürgerschaft uns in alle Löcher ficken? Das haben wir zwanzig Jahre lang getan. Man hat uns die Pläne für die Homelands aufgezeichnet, das russischsprachige Personal war auch schon engagiert, wir wissen Bescheid … Wir haben das Kleingedruckte studiert. Meinen Sie, wir hätten die Schrauben nur aus Liebe zur Kunst angezogen? Irrtum! Drei Jahre länger, und wir wären ausgelutscht gewesen, so siehts aus.«

»Wer hätte Sie ausgelutscht?«, fragte Lord Cricket verwundert. »Die Demokratie? Der Liberalismus?«

»Demokratie, Liberalismus – das sind doch alles bloß Wörter auf Aushängeschildern, das hat das Mädel ganz richtig gesagt. Die Wirklichkeit hat viel mehr Ähnlichkeit mit einer Darmflora, wenn Sie den Vergleich erlauben. Bei Ihnen im Westen neutralisieren die Mikroben sich gegenseitig, das hat sich über die Jahrhunderte so ausbalanciert. Jeder produziert fein still seinen Schwefelwasserstoff und hält den Mund. Alles reguliert wie ein Uhrwerk, der Stoffwechsel läuft rund. Obendrauf sitzen die Medienkonzerne und speicheln das Ganze ordentlich ein. So ein Organismus darf sich offene Gesellschaft nennen, der braucht keine Stöpsel, der bohrt auf und lötet zu, wo und wen er will. Uns hingegen haben sie Stäbchenbakterien in die Gedärme gepflanzt – aus welchem Labor, darüber streiten noch die Gelehrten an denen hätte Robert Koch seine helle Freude gehabt, für die gab es weder Antikörper noch irgendwelche andere Mikroben, mit denen man hätte gegenhalten können. Und so fing der Große Dünnschiss an, bei dem dreihundert Milliarden Dollar abgeflossen sind, bevor überhaupt einer begriffen hat, was los war. Darum gab es für uns nur noch zwei Alternativen: entweder restlos auszulaufen durch ein nicht näher identifiziertes Afterleck – oder Antibiotika zu schlucken und dann langsam, aber sicher von vorne anzufangen. Und diesmal ganz anders.«

»Na ja, Antibiotika waren bei euch ja noch nie das Problem, denke ich«, bemerkte Lord Cricket. »Die Frage ist nur, wer sie verschreibt.«

»Dafür findet sich jemand«, sagte Alexander. »Nur keine Beraterverträge mehr mit Weltbank und Währungsfonds, die uns erst die Koch-Stäbchen anhängen und dann den Nachttopf unterschieben. Das kennen wir jetzt zur Genüge: tapfer in den Abgrund springen, kräftig unten aufknallen, und es gibt höflichen Applaus von der Weltgemeinschaft. Vielleicht, dass es ohne Applaus und ohne Abgrund besser für uns ausginge? Tausend Jahre ist Russland mit sich und dem eigenen Verstand klargekommen, und das, wenn man sich die Weltkarte betrachtet, nicht mal ganz schlecht. Aber nein, jetzt heißt es ab in den großen Schmelztiegel, und das nur, weil mal jemand ein guter Blumenverkäufer gewesen ist. Aber das wollen wir doch erst mal sehen, wer wen in die Pfanne haut. Wenn jemand uns partout umschmelzen möchte, mag er es versuchen. Nur könnte es passieren, dass er sich selber zu schwarzem Rauch verflüchtigt, dafür ließe sich sorgen! Die Chemikalien haben wir, und nicht zu knapp!«

Bei den letzten Worten ließ Alexander die Faust auf den Tisch niedergehen, dass Notebook und Beamer in die Höhe sprangen. Danach trat Stille ein. Man konnte eine verirrte Fliege zwischen Fenster und Gardine zappeln hören.

Manchmal wusste ich selber nicht, was größere Bestürzung bei mir auslöste: das monströse Liebesinstrument, mit dem ich es zu tun bekam, wenn er seine Wolfsphasen hatte, oder diese krassen, wahrhaft wölfischen Lebensansichten, die er äußerte, solange er Mensch war. Wahrscheinlich verzauberte mich beides gleichermaßen, und … Ich mochte den Gedanken nicht zu Ende denken, so erschreckend war er.

Zumal es wenig Grund gab, sich verzaubern zu lassen. Bei allem Anschein von Radikalismus, den er sich gab, sprach er doch nur von den Folgen, verschwieg die Ursache geflissentlich: die in schmatzender Selbstversorgung befangene Oberratte. (Vielleicht konnte ich ihretwegen niemanden vom Blasen reden hören, fiel mir plötzlich ein – Psychopathologie des Alltagslebens nennt sich so etwas.) Wahrscheinlich war Alexander über all dies bestens im Bilde, trickste jedoch. Dafür, dass einer in Clan Canaria lebte und den Apparat übersah, musste er viel Geld geboten kriegen – und daran schien es Alexander nicht zu fehlen. Aber vielleicht war doch kein Tricksen dabei, wer konnte das wissen … Mir selber waren die Zusammenhänge bezüglich Upper rat und Von-Unten-Nehmer ja auch erst aufgegangen, als ich im Brief an mein Schwesterlein E nach Erklärungen suchte. Und was im Kopf eines Wolfes vorging, darüber wusste ich einstweilen noch wenig.

Als Erster gewann Lord Cricket die Fassung wieder. In seinem Gesicht spiegelte sich aufrichtiges Bedauern. (An Aufrichtigkeit glaubte ich selbstredend keine Sekunde: Die mimische Versiertheit des britischen Aristokraten ließ nur einfach keine andere Beschreibung zu.)

»Bis zu einem gewissen Grad kann ich Ihre Gefühle nachvollziehen«, sagte er mit einem Blick zur Uhr. »Aber ehrlich gesagt, reizt es mich wenig, dem Weg zu folgen, den Ihr Geist mir da vorzeichnet. Die Landschaft, in die er führt, ist so öde! Über solchen fruchtlosen Debatten bringen manche Menschen ihr ganzes Leben zu. Und dann sterben sie.«

»Was sollten sie sonst tun«, stellte Alexander fest. »Gibt es Alternativen?«

»O ja!«, sprach Lord Cricket. »Es gibt sie, das dürfen Sie mir glauben. Unter uns leben Geschöpfe von anderer Natur. Wie ich hörte, hegen Sie ein durchaus ernsthaftes Interesse an Ihnen. Die widerlichen Wechselbälge, wie Sie sich ausdrückten – sie begegnen den Bagatellen, über die Sie sich so ereifern, mit Gleichmut. Und sie verstecken sich beileibe nicht hinter liberalen Aushängeschildern – in diesem Punkt irren Sie. Die Spiegelwelten, derentwegen Ihnen die Faust ausrutscht und die Zornesadern anschwellen – sie werden von ihnen einfach ignoriert …«

Alexander senkte mürrisch den Kopf.

»Wahrscheinlich könnten Sie diesen Geschöpfen die Ursache Ihres Grolls gar nicht begreiflich machen«, fuhr Lord Cricket fort. »They march to the sound of a different drummer, wie Thoreau schrieb … Sie sind bar jeder Ideologie – was nicht heißt, dass sie vom Schicksal benachteiligt wären, eher im Gegenteil. Ihre Existenz ist sehr viel realer als die des Menschen. Denn das, worüber Sie die ganze Zeit reden, ist lediglich ein Traum. Nehmen Sie eine fünfzig Jahre alte Zeitung zur Hand, lesen Sie! Lauter engstirniges dummes Zeug, kleinliche Ambitionen längst verblichener Leute, damals schon tot, nur dass sie es nicht wussten … Dieser ganze hochgekochte Kram im Hier und Heute, der Sie so mitnimmt, unterscheidet sich nicht von dem, was die Geister damals bewegt hat. Höchstens, dass die Wortfolge in den Überschriften ein wenig abweicht. Besinnen Sie sich!«

Alexander hatte den Kopf tief zwischen die Schultern gezogen. Anscheinend traf Lord Cricket ihn an einem wunden Punkt.

»Interessiert es Sie denn gar nicht, wer diese so ganz anders gearteten Wesen sind? Und worin sie sich von den Menschen unterscheiden?«

Diese Frage gab Alexander den Rest.

»Doch, doch«, brummelte er.

»Dann vergessen Sie den ganzen Quatsch. Kommen wir zur Sache! Ich möchte Ihnen heute davon berichten, was es mit der Fähigkeit mancher Menschen, zum Tier zu werden, auf sich hat – eine Verwandlung in ganz handfestem, unmetaphorischem Sinne. Funktioniert alles, Anthea? Dann darf ich darum bitten, das Licht zu löschen …«


»Was Sie nun zu hören bekommen«, begann Lord Cricket, »darf als ein esoterisches Wissen gelten. Ich muss Sie bitten, Stillschweigen darüber zu bewahren. Die Informationen, die ich Ihnen zukommen lassen möchte, gehen auf die Loge Rosa Abendlohe zurück, genauer gesagt, auf Aleister Crowley, David Bowie, The Pet Shop Boys und wer auf dieser Linie noch so für diskrete Weitergabe sorgt. Das Erfordernis der Geheimhaltung, von dem ich spreche, ist von prinzipieller Wichtigkeit – weniger für den Orden, als für Ihre eigene Sicherheit. Nehmen Sie die Bedingung an?«

Alexander und ich wechselten einen Blick.

Ich bejahte. Alexanders Zustimmung kam etwas zögerlicher.

Lord Cricket berührte eine Taste seines Notebooks. An der Wand erschien die schematische Darstellung eines Menschen im Lotossitz. Längs seines Rückgrats verlief eine senkrechte Linie. Auf ihr waren mit Sanskritzeichen versehene Symbole platziert, es sah aus wie eine Reihe bunter Zahnräder mit verschieden vielen Zähnen.

»Ihnen dürfte bekannt sein, dass der Mensch nicht nur ein physischer Körper mit einem auf die Wahrnehmung der materiellen Welt abgestellten Nervensystem ist. Feinstofflich gesehen, stellt der Mensch eine psychoenergetische Struktur dar, die aus drei energetischen Kanälen und sieben psychischen Zentren besteht, den so genannten Chakren.«

Lord Cricket fuhr mit dem Finger über etwas wie eine Fahrradkette, die die auf der Wirbelsäule sitzenden Zahnräder miteinander verband.

»Diese Feinstruktur reguliert nicht nur das geistige Leben eines Menschen, von ihr hängt auch ab, wie er seine Umwelt wahrnimmt. Jedes Chakra ist mit einem bestimmten Komplex psychischer Eigenschaften gekoppelt, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte. Wichtig für uns ist, dass sich, ganz im Einklang mit den Auffassungen der okkulten Tradition, jegliche geistig-spirituelle Entwicklung als Auftrieb längs der energetischen Mittelachse vollzieht, in Form der so genannten Kundalini oder Schlangenkraft.«

Auf der Leinwand erschien ein vergrößerter Ausschnitt des Schaubilds mit einem auf der Spitze stehenden Dreieck am unteren Ende der Wirbelsäule.

»Im eingerollten Zustand schlummert die Kundalinikraft in diesem dreieckigen Knöchelchen, Sakrum genannt. Das Sakrum befindet sich am Grunde der Wirbelsäule, als ihr erster Knochen. Beziehungsweise ihr letzter, je nachdem, von welcher Seite man herangeht. Die okkulte Tradition sieht es so, dass die schrittweise energetische Aufladung der Chakren durch die Kundalini den Weg von der geistigen Indifferenz über allerlei Fragen profaner Natur hinauf zum Sakralen ausmacht, durch das die Einheit mit dem Göttlichen vollzogen wird …«

Lord Cricket ließ etwas Zeit vergehen, ehe er weitersprach.

»Die meisten Schulen der okkulten Lehre waren sich darin einig, dass die Kundalini nur den Weg über den Mittelkanal nach oben nehmen kann. Davon, dass die Schlangenkraft sich auch abwärts bewegen könnte, ist in den zugänglichen Quellen nirgends die Rede. Nichtsdestoweniger liegt solch ein energetisches Manöver im Bereich des Möglichen.«

Das nächste Schaubild glich dem ersten, nur dass die senkrechte Linie durch die gekreuzten Beine des Sitzenden nach unten gezogen war; drei neue Zahnräder kamen hinzu, sie waren schwarz und trugen anstelle des sanskritischen Zeichens eine römische Ziffer: das dem Mann zunächst gelegene die I, das mittlere die II, das entfernteste die III.

»Wie man die Kundalini dazu bringt, abwärts zu fließen, darüber möchte ich hier nicht sprechen. Es setzte ein Höchstmaß an Initiation voraus, eine Bedingung, die keiner der hier Anwesenden erfüllt.«

»Machs halblang, Brian«, ging I Huli ihn an. »Das kannst du ihnen doch erzählen.«

»Alles zu seiner Zeit, Anthea«, meinte Lord Cricket. »Durch eine bestimmte Prozedur ist es jedenfalls möglich, die Kundalini auf einer gedachten Verlängerung der Mittelachse nach unten zu führen. Dabei kann sie in drei Punkten landen, die als spiegelbildliche Projektion der drei unteren Chakren zu verstehen sind: Muladhara, Swadhishtana und Manipura.«

Er fuhr mit dem Finger über die drei schwarzen Zahnräder auf der Leinwand. Mir fiel auf, dass No. I vier Zähne hatte und darum Ähnlichkeit mit dem Messer eines Fleischwolfs. No. II hatte sechs, es ähnelte einem asiatischen Wurfgeschoss. Und No. III bestand aus zwei übereinandergelegten Sternen zu je fünf leicht gebogenen Zacken, insgesamt also zehn.

»Wie bereits angedeutet, führt der Auftrieb der Kundalini längs der Mittelachse zu einer Verschmelzung mit Gott, respektive zur Göttlichkeit. Daraus ließe sich logisch schlussfolgern, dass die Abwärtsbewegung einen gegenteiligen Effekt haben müsste. In diesem Zusammenhang möchte ich Sie auf einen außerordentlich interessanten Umstand aufmerksam machen, unser bezaubernder junger Gast hat ihn mir in Erinnerung gerufen, als sie von den verschiedenen Bedeutungen gleichklingender Wörter in verschiedenen Sprachen sprach …«

Lord Cricket deutete eine Verbeugung an und lächelte. Ich lächelte zurück. »Leg dir Manieren zu, du Flegel!«, wisperte ich in Alexanders Richtung.

»Wie richtig bemerkt wurde«, fuhr Lord Cricket fort, »heißt Gott auf Russisch Bog und auf Englisch God. Liest man das Wort God von hinten her, ergibt sich Dog, also Hund. Sie werden mir zustimmen, dass dies kein simpler Zufall sein kann. Man darf darüber streiten, was zuerst da war: die Sprache oder die Wirklichkeit, die von ihr reflektiert wird. Das ist die alte Frage nach dem Huhn und dem Ei.«

Auf der Leinwand erschienen die Silhouetten dreier Tiere: Wolf, Hund und Fuchs.

»Mit dem Sammelbegriff Wertier, Werwesen oder auch Wechselwesen bezeichnet man einen Menschen, der die Gestalt eines Tieres anzunehmen in der Lage ist. Der gängigere Ausdruck dafür in westlichen Sprachen ist Werwolf. In diesem Wort ist das konkrete Tier, in das der Mensch sich verwandelt, schon genannt. In der chinesischen Folklore hingegen denkt man beim entsprechenden Wort zuerst an Füchse. Dies ist jedoch kein fundamentaler Widerspruch – Wolf und Fuchs gehören beide zur Familie der hundeartigen Säugetiere. Das ist derselbe rückwärts gelesene Gott, dieselbe energetische schwarze Messe, dasselbe Absacken der Kundalinikraft.«

»Energetische schwarze Messe …«, echote I Huli leise und bedachte ihren Mann mit einem respektvollen Blick.

»Es stellt sich die Frage, wie die Kundalini vorankommt, wenn sie den Körper verlässt? Sich durch den leeren Raum zu bewegen dürfte ihr kaum möglich sein. Und hier wartet auf uns die eigentliche Überraschung. Einmal mehr ließe sich lange darüber streiten, was Ursache ist und was Folge: Der Austritt der Kundalini geht jedenfalls mit einer physischen Mutation einher. Ein unglaublicher Vorgang. Sie haben sicher schon einmal Vulkane im Fernsehen ausbrechen sehen? Dabei kann man mitunter beobachten, wie die abwärts gleitende Lava sich ein Bett in den Hang brennt, das Minuten zuvor dort noch nicht gewesen war. Ebenso schafft sich die Kundalini einen physischen Austrittskanal. Und in dem Moment, wo sie in Bereiche unterhalb des Muladhara absackt – das ist das zuunterst befindliche, am Ende der Wirbelsäule gelegene Chakra des Menschen – wächst dem Werwesen ein Schweif!«

Auf der Leinwand erschienen zwei Schweife: der eine vom Wolf, der andere vom Fuchs. Letztere Abbildung wies einige lustige Fehler auf. Auf dem nächsten Bild sah man wieder den Mann im Lotossitz, nun aber mit Schweif, auf den die drei schwarzen Zahnräder appliziert waren.

»Über diesen Schweif gelangt die Kundalini-Energie zu den drei Infrachakren. Diese haben keine sanskritischen Namen. Man bezeichnet sie hilfsweise als Fuchsposition, Wolfsposition und Abgrund. Das körpernächste Infrachakra ist die Fuchsposition.«

Er zeigte auf das schwarze Fleischwolfmesser mit der Ziffer I.

»Sie gilt als ein Punkt mit stabilem Gleichgewicht, an dem die Energie dauerhaft verbleiben kann. Insofern ist es für das betreffende Werwesen kein Problem, beliebig lange in Fuchsgestalt aufzutreten. Was aber nicht etwa heißt, dass hierbei auch nur annähernd ein Fuchs im zoologischen Sinne entstünde. Die Schlangenkraft überschreitet die Grenzen des Körpers nur unwesentlich, weshalb sich das Werwesen phänomenologisch auch nur wenig vom Menschen unterscheidet. Ein unscheinbares Geschöpf mit Schweif und einer leichten Verformung der Ohren …«

Um ein Haar hätte ich gefaucht.

»Außerdem erfolgt eine Transformation der Pupillenform, die Augenbrauenbögen treten ein wenig hervor … Doch wenn sie einem solchen Geschöpf auf der Straße begegneten, fielen Sie gewiss nicht aus allen Wolken …«

»Ist ja irre!«, sagte I Huli.

Nun deutete Lord Cricket auf das Zahnrad in der Mitte des Schweifes.

»Wandert die Kundalini in das zweite Infrachakra, ist die Verwandlung optisch weitaus attraktiver. Hier haben wir es mit einem Klassiker zu tun, dem sogenannten Werwolf. Es entsteht kein einfacher Wolf. Es ist die Übertreibung eines Wolfes, wenn man so sagen darf. Übermannsgroß, unerhört kräftig, mit einem weiten, gezahnten Rachen, geht wie ein Mensch auf zwei Beinen, kann aber bei Bedarf auch auf allen vieren sprinten. In der Folklore findet sich sein recht genaues Abbild, immerhin war es das am weitesten verbreitete Werwesen in Europa. Auf ein interessantes Detail möchte ich besonders hinweisen: Es heißt, die Transformation zum Werwolf geschehe nur in einer ganz bestimmten Mondphase und bei Einbruch der Dämmerung. Und ihr Ende findet die Wolfsphase den landläufigen Vorstellungen zufolge im Morgengrauen, da dieses Teufelspack angeblich kein Sonnenlicht verträgt. In Wirklichkeit spielen Licht und Dunkel hierbei keine Rolle. Dafür trifft eine andere Beobachtung zu: Die Transformation zum Werwolf erfolgt immer nur kurzzeitig, denn das Infrachakra No. II verfügt über ein instabiles Gleichgewicht, in dem die Kundalini nie lange verbleibt …«

»Stabiles Gleichgewicht, instabiles Gleichgewicht – was bedeutet das eigentlich?«, fragte I Huli, Lord Cricket beugte sich über sein Notebook.

»Moment«, sagte er, »auch dafür habe ich irgendwo ein Schaubild …«

Auf der Leinwand erschien ein Bild von Stonehenge, dann das in Grüntönen gehaltene Werbefoto eines Wohnwagens, in dessen Fenster dilettantisch, doch liebevoll eine Vase mit Narzissen einmontiert war. Schließlich eine sinusförmige schwarze Linie.

»Da haben wir es!«, sagte Lord Cricket. »Entschuldigen Sie das Durcheinander.«

Im Tal der Sinuskurve lag eine blaue Kugel, auf dem Scheitel eine rote. Von den Kugeln gingen kurze Pfeile in gleicher Farbe aus, sie sollten Bewegung symbolisieren.

»Das ist ganz einfach«, sagte der Lord. »Beide Kugeln befinden sich im Gleichgewicht. Doch wenn Sie die blaue Kugel anstoßen, wird sie an den Punkt zurückkehren, an dem sie sich zuvor befand. Das nennt man ein stabiles Gleichgewicht. Verschieben Sie aber die rote, so wird sie an den jetzigen Punkt nicht zurückkehren, sondern einfach runterrollen. Das ist ein instabiles Gleichgewicht.«

»Ich hätte auch eine Frage«, sagte Alexander. »Darf ich?«

»Bitte!«

»Warum ist die eine Kugel blau, die andere rot?«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

»Na ja. Genauso die Pfeile. Wieso ausgerechnet diese beiden Farben?«

»Was spielt das für eine Rolle?«

»Keine«, sagte Alexander, »aber interessant ist es doch. Vielleicht wissen Sie ja nicht, dass das Wort blau im Russischen für Homosexualität steht. Mich beschäftigt seit Ewigkeiten die Frage, wieso auf allen Generalstabskarten die Pfeile immer entweder rot oder blau sind. So als bestünde der Grundwiderspruch der Geschichte im Kampf zwischen Schwulen und Kommunisten. Ich dachte, Sie hätten vielleicht eine Erklärung dafür.«

»Wieso ausgerechnet diese beiden Farben, kann ich Ihnen leider nicht sagen«, erwiderte der Lord höflich. »Darf ich fortfahren?«

Alexander nickte. Auf der Leinwand erschien wieder der Schweif mit den schwarzen Infrachakren.

»Wie ich schon sagte, ist die Position No. II, an der die Transformation zum Wolf erfolgt, instabil. Legte man die Sinuskurve über die Zeichnung, so würden Sie sehen, dass die benachbarten Positionen No. I und III stabil sein müssen. No. I ist die Fuchsposition, über sie sprachen wir schon. Nun werden Sie sich wahrscheinlich fragen, was es mit Position No. III auf sich hat?«

»Ja, wirklich, Brian,«, sagte I Huli, »was ist das für eine Position? Sag es uns!«

»Ich erwähnte bereits, dass die Infrachakren bei einem Werwesen symmetrisch zu den drei unteren Chakren des Menschen liegen. Das letzte Infrachakra, das sich ganz am Schweifende befindet, ist ein Spiegelbild des Manipura, welches zwischen Nabel und Herz liegt. An dieser Stelle ist der Mittelkanal unterbrochen. Die Kundalini kann nicht auf die oberen Chakren überspringen, wenn die Zone rund um das Manipura, der sogenannte Ozean der Illusionen, nicht mit den Energien eines wahrhaftigen spirituellen Lehrers gefüllt ist. Dasselbe gilt, nach dem Prinzip des Hermes Trismegistos, für die Infrachakren eines Werwesens. Um die Kundalini an ihre unterste Grenze zu führen, braucht es eine Invokation der Finsternis, den spirituellen Beistand eines übergeordneten Dämonen, der mit seinen Vibrationen die sogenannte Wüste der Wahrheit ausfüllt – die Lücke in der Verlängerung der Mittelachse, in Schweifmitte …«

»Was ist das für ein übergeordneter Dämon?«, fragte ich ungeduldig.

Der Lord lächelte.

»Das kommt ganz auf Ihre persönlichen Verbindungen an«, sagte er. »Da hat jeder seine eigenen Möglichkeiten … Wir sind am Ende dessen angelangt, was auszusprechen ich berechtigt bin. Ich darf nur noch eines hinzufügen: Position No. III, der sogenannte Abgrund, ist der Ort, wo die Transformation zum Überwertier erfolgt.«

»Und hat schon mal jemand dieses Manöver bewerkstelligt?«, wollte ich wissen.

»Diversen Quellen zufolge ist dies im Jahr 1925 einem Ihrer Landsleute gelungen, dem Moskauer Anthroposophen Bellow alias Scharikow. Er war Schüler von Doktor Steiner, befreundet mit Maximilian Woloschin und Andrej Bely. Bellow wurde, soweit bekannt, von der Tscheka festgesetzt, und die ganze Angelegenheit wurde totgeschwiegen. Der Geheimhaltung hat man damals sehr große Bedeutung beigemessen: Ich darf daran erinnern, dass dem Schriftsteller Bulgakow das Manuskript seines Romans Hundeherz aus diesem Grunde entzogen wurde – das Buch fußt auf den Gerüchten, die zu diesem Geschehnis in Umlauf waren. Danach ward Bellow nie wieder gesehen.«

»Ein Überwertier, was soll das überhaupt sein?«, fragte Alexander.

»Das weiß ich nicht«, sprach Lord Cricket. »Noch nicht. Aber Sie können sich nicht vorstellen, wie begierig ich bin, dies herauszufinden …«


»Wieso läufst du eigentlich schon frühmorgens in Abendkleid und Stöckeln herum?«, fragte mich Alexander.

»Steht mir das etwa nicht?«

»Doch, doch, Schwarz steht dir sehr gut«, sagte er, seine Wange vorsichtig an meiner reibend. »Weiß übrigens genauso.«

Statt uns zu küssen, rieben wir manchmal die Wangen aneinander. Zuerst hatte mich dieses Gebaren belustigt: Kinder benahmen sich so oder Welpen … Später gab er zu, dass es ihn gelüstete, an meiner Haut zu schnuppern, deren Odem in Ohrnähe offenbar besonders aufregend ist. Seither empfand ich bei diesem Ritual einen gelinden Verdruss – irgendwie fühlte ich mich benutzt.

»Heißt das, wir gehen heute ins Theater?«, bohrte er.

»Nein. Ich hätte was Spannenderes zu bieten. Wir fahren auf die Jagd.«

»Ach. Was wollen wir denn jagen?«

»Jagen werde ich allein. Du wirst zuschauen.«

»Und wen wirst du jagen?«

»Hühner«, sagte ich stolz.

»Knurrt dir der Magen?«

»Ha, ha.«

»Wozu sonst eine Hühnerjagd?«

»Ich möchte einfach, dass du mich ein bisschen besser kennen lernst. Pack deine Tasche – wir fahren raus ins Grüne.«

»Was denn, jetzt gleich?«

»Klar. Aber zuvor musst du das hier lesen. Man unterbreitet dir ein kommerzielles Angebot.«

Und ich reichte ihm den Ausdruck eines Briefes, den ich am Morgen per E-Mail von I Huli bekommen hatte.


Grüß Dich, Rotschwänzchen,

pursuant to unserem gestrigen Treffen (sehr nett!). Die Zeit, die wir unsere Jungs sich selbst überließen, um über alte Zeiten zu plaudern, haben sie, wie sich herausstellt, zu einem Streitgespräch über moderne Kunst genutzt. Brian hat Alexander ein paar Fotos von Arbeiten gezeigt, die er in Kooperation mit der Saatchi Gallery auszustellen gedenkt. Da wäre zum einen die Installation Befreiung Babylons: ein Modell des Ischtar-Tors, vor dem zehn gefakte schottische Fallschirmjäger mit Dudelsäcken und gerafften Röcken stehen. Die Gipsfiguren drängen ihre Erektionen dem Betrachter auf, attackieren seine Wahrnehmung und verwandeln ihn so selbst in ein betrachtenswertes Exponat. In einem der Schwerkraft des künstlerischen Objekts ausgesetzten und unterworfenen Raum wird der Zuschauer sich der eigenen räumlichen Präsenz in ihren physischen und emotionalen Koordinaten bewusst. Die Befreiung Babylons hat Alexander gefallen, was sich von den anderen Werken nicht sagen lässt.

Hast du den Hit der Biennale Venedig gesehen? Den Heuschober, in dem sich der erste weißrussische Postmodernist Mykolai Climaxovich vier Jahre lang vor der Polizei versteckt hielt? Alexander hat diese Arbeit als Plagiat geschmäht und von einem analogen Schober des Autors Wladimir Uljanow (Lenin) erzählt, der sich in einer Dauerausstellung im russischen Dorf Rasliw befinden soll. Brian merkte an, eine Nachbildung sei nicht zwangsläufig als Plagiat zu bewerten, sei vielmehr das Wesen der Postmoderne und, umfassender betrachtet, des kulturellen Zeitgeists, der sich im Klonen von Schafen ebenso äußere wie im Remake alter Filme. Womit sollte man sich nach dem Ende der Geschichte auch sonst befassen? Gerade der Verweischarakter mache aus dem Plagiator den Postmodernisten Climaxovich. Dagegen wandte Alexander ein, kein Verweischarakter könne Climaxovich vor dem russischen Revierbullen retten, und wenn in Weißrussland das Ende der Geschichte eintrete, heiße das noch lange nicht, dass in Russland mit irgendwelchen Unregelmäßigkeiten zu rechnen sei.

Dann zeigte Brian Alexander eine Arbeit von Asuro Keshami, die ihm besonders am Herzen liegt, schon wegen der beträchtlichen Investitionen, die mit ihrer Herstellung und Montage verbunden waren. Keshamis Arbeit, inspiriert vom Werk der Dir wohlbekannten Camille Paglia, besteht aus einem riesigen Rohr aus roter Weichplastik mit weißen Haifischzähnen an der Innenseite. Sie soll ihren Platz unter freiem Himmel in einem der Londoner Sportparks finden.

Zu den heikelsten Aufgaben in der Welt der modernen Kunst gehört es, sich eine frische und originelle Verbalinterpretation der eigenen Arbeit auszudenken. Es braucht nur ein paar Kernsätze, die sich anschließend in Katalogtexten und Überblicksartikeln verwursten lassen. Von dieser vermeintlichen Bagatelle hängt oft das Wohl und Wehe eines Werkes ab. Es kommt auf die Fähigkeit an, das Objekt aus einem überraschenden, ja, schockierenden Blickwinkel zu sehen, was Deinem Gefährten mit seiner barbarisch unverstellten Sicht auf die Welt sehr gut gelingt. Darum bittet Brian um die Genehmigung, einige der gestern von Alexander geäußerten Gedanken für die konzeptuelle Ummantelung seiner Installation verwenden zu dürfen. Nachfolgender Begleittext stellt gewissermaßen eine Kompilation aus Brians und Alexanders Gedankengut dar:


In Asuro Keshamis Arbeit »VD-42CC« kommen unterschiedliche Sprachen zueinander: Ingenieur, Techniker und Gelehrter finden den gemeinsamen Ton. Auf einer grundlegenden Ebene geht es um die Überwindung des Raumes: des physischen ebenso wie jenes aus Tabus und unterschwelligen Ängsten, die wir mit uns herumtragen. Die Sprache des Ingenieurs oder die des Technikers befasst sich mit dem Material, aus dem das Objekt gebaut ist, während der Künstler mit dem Betrachter in der Sprache der Emotionen spricht. Kapiert der Betrachter, dass diese kleine schwule Ratte von irgendwelchen Leuten fünfzehn Millionen Pfund in den Arsch geschoben kriegt, nur um eine Fotze aus billigem Kunstleder auf einen verwahrlosten Bolzplatz zu zerren, dann fällt ihm doch gleich ein, womit er selbst den lieben langen Tag beschäftigt ist und was er dafür einnimmt; dann guckt er sich das Foto an von dieser kleinen schwulen Ratte mit Hornbrille und Spaßjackett, und er fühlt sich verraten und verkauft, Gefühle, die hinüberwechseln in etwas, das der deutsche Philosoph Martin Heidegger als Geworfenheit bezeichnet hat. Der Betrachter ist eingeladen, sich auf diese Empfindungen einzulassen – denn sie sind es, die jenen ästhetischen Mehrwert hervorrufen, den vorliegende Installation anstrebt.


Für die Mitarbeit am Text bietet Brian Alexander ein Honorar von eintausend Pfund an. Keine Riesensumme, doch muss man wissen, dass dies noch nicht die endgültige Fassung des Begleittextes ist, es steht noch nicht einmal fest, ob er überhaupt zur Verwendung kommt. Sprich mit Alexander darüber, o.k.? Ihr könnt Brian über diese Adresse eine direkte Antwort zukommen lassen. Ich bin gerade ein bisschen wütend auf ihn. Er hat schlechte Laune, weil sie ihn letzte Nacht in einen Club namens Night Flight nicht reingelassen haben. Erst scheiterte er an der Face control (denen gefielen seine Mokassins nicht), dann kam noch ein holländischer Zuhälter aus den Tiefen der Lasterhöhle rauf und befahl Brian, er möge sich more stylish kleiden. Stylish! regt Brian sich schon den ganzen Tag auf, was ist denn stylish? Der vor mir reingekommen ist in blauem Hemd und grünem Jackett war der stylish? Und wenn Brian schlechte Laune hat, bin ich die Leidtragende. Na, das kennen wir schon. :-=)))

Hauptsache, Ihr denkt an den Passierschein für die Christus-Erlöser-Kathedrale!


Ich liebe Dich und denk an Dich,

Deine I


Alexander las den Brief gründlich. Dann faltete er das Blatt erst einmal, dann noch einmal fein säuberlich zusammen und zerriss es.

»Tausend Pfund«, sagte er. »Ha! Der scheint nicht recht zu wissen, mit wem er es zu tun hat. Schreib du ihm am besten. Du kannst besser Englisch als ich.«

»Danke«, erwiderte ich bescheiden. »Was soll ich ihm denn schreiben? Dass er noch was drauflegen soll?« Er sah mich abschätzig an.

»Du sollst ihn mit Wortgülle zubratzen bis zur Halskrause. In alleraristokratischster Form.«

»Das geht nicht«, sagte ich. »Beim besten Willen nicht.« »Wieso nicht?«

»Entweder zubratzen oder aristokratisch. Beides zusammen geht nicht.«

»Dann nimm das, was geht«, sagte er. »Aber so, dass die Schwarte kracht. Schalte gefälligst deinen Sarkasmus ein, mit dem du mir die ganze Zeit Löcher in die Seele brennst. Soll er doch mal zu was nütze sein.«

Etwas an seinem Tonfall bewirkte, dass ich mir die Frage, wozu nütze, verkniff. Diese kindische Art, eingeschnappt zu sein, rührte mich, ein Teil von ihr griff auf mich über. Und wenn ich ganz ehrlich bin: Musste man einen Werfuchs zweimal bitten, einen englischen Aristokraten mit Dreck zu bewerfen?

Ich setzte mich an den Computer und dachte nach. Meine internationalistisch-feministische Ader forderte von mir, die Antwort nach dem Vorbild avancierter Amerikanerinnen um die Phrase Suck my dick herum zu bauen. Doch die Stimme der Vernunft in mir suggerierte, dieses könnte in einem Brief, der Alexanders Unterschrift trug, leicht eine Nummer zu klein geraten. Also schrieb ich das Folgende:


Dear Lord Cricket,

Being extremely busy, I'm not sure that you can currently suck my dick. However, please feel encouraged to fantasise about such a development while sucking on a cucumber, a carrot, an eggplant or any other elongated roundish object you might find appropriate for that matter.

With kind regards, Alexandre Fenris-Gray


Dass ich Alexandre und nicht Alexander schrieb, war Absicht, es sollte französisch klingen. Der Nachname Fenris-Gray war eine Eingebung im letzten Moment. Er klang so aristokratisch wie gewünscht. Gut, Earl Gray fiel einem dazu ein, weshalb die Unterschrift ein bisschen nach Bergamotteöl roch. Doch er war ja nur zum einmaligen Gebrauch.

»Und?«, fragte er.

Ich übersetzte ihm vom Blatt.

»Lieber Lord Cricket, ich bin im Moment sehr beschäftigt und darum nicht sicher, ob ich mir von Ihnen, äh, na ja, halt eben den Dingsda dingsen lassen kann. Aber tun Sie Ihrer Phantasie keinen Zwang an, wenn Sie sich ersatzweise an einer Gurke, Möhre, Aubergine oder ähnlich geeigneten Objekten länglich-rundlicher Art versuchen. Mit Hochachtung, Sascha Sery.«

»Geht es nicht ohne Hochachtung?«

»Dann ist es nicht aristokratisch.«

»Von mir aus schick es so ab«, seufzte er. »Und komm zu mir, wenn du fertig bist. Der Graue Wolf hat mit dem Rotkäppchen was zu bedingsen.«

»Worum geht's denn?«

»Ach, ich plane ein … Kolloquium zur Psychoanalyse des russischen Volksmärchens, weißt du. Da geht es darum, mit einem Kuchen dem Rotkäppchen in den Korb zu treffen. Leider gibt es nur einen einzigen Kuchen. Den müssen wir darum immer wieder rausnehmen und neu reinwerfen.«

»Puh, du bist schon wieder so vulgär …«

»Kommst du rüber, oder soll ich kommen?«

»Ich komm schon. Aber lass es uns kurz machen, versprochen? Wir müssen nämlich los. Und heute beißt du mir gefälligst nichts kaputt, hörst du? Ich hab mir die Sohlen abgelaufen, um neue Slips zu kriegen. Mir passt schließlich nicht jeder.«

»Schon recht.«

»Und noch was. Solange du noch reden kannst …«

»Was denn?«

»Warum musst du in alles, was du sagst, immer diese selbstzufriedene Apologie militanter Unbildung einflechten?«

»Was soll das jetzt wieder heißen?«

»Na, gerade eben zum Beispiel, das übers Rotkäppchen und die Psychoanalyse. Manchmal kommt es mir so vor, als wolltest du in meiner Person alle Kultur und Geschichte ficken …«

»Mit Kultur könntest du Recht haben, aber Geschichte? Spielst du jetzt die Sphinx oder was? Wie alt bist du überhaupt, sag mal? Wenn ich schätzen müsste, ich gäbe dir höchstens sechzehn. Aber wie alt bist du wirklich?«

Ich spürte meine Wangen glühend heiß werden.

»Ich?«

»Ja, du.«

»Also weißt du«, fiel mir ein, »ich hab da mal ein Gedicht in die Hand bekommen, das hat ein Staatsanwalt des Justizministeriums geschrieben und in kleiner Auflage verbreitet, da ging es um einen jugendlichen Kämpfer fürs Vaterland, das Gedicht fing an mit der Zeile: Ich gäb ihm keine fünfzehn Jahre …«

»Klaro! Sohn des Regiments wurden solche damals genannt … Aber was soll das jetzt?«

»Na ja. Wenn einer wie du, in dieser Uniform, sich hinstellt und sagt: Ich gäbe dir höchstens sechzehn, da fragt man sich doch gleich, nach welchem Paragraphen.«

»Falls dich die Uniform reizt«, sagte er, »musst du bloß dein dämliches Kleid ausziehen – dann findest du schnell anstelle der Schulterklappen ein schönes weiches Fell … Na, also. Brav … Bist doch ein kluges Kind …«

»Was ich noch fragen wollte: Besorgst du ihnen den Passierschein für die Kathedrale oder nicht?«

»U-u-uh!«

»Nicht? Na, geschieht ihnen recht. Wir haben es diesem Brian ja ordentlich gezeigt, hi-hi … Obwohl … Wollen wir es ihm nicht noch deutlicher zeigen, auf die ganz superaristokratische Art?«

»R-r-rrr!«

»Dann sollten wir ihm jetzt, nachdem du ihm gezeigt hast, wo der Hammer hängt, trotz allem den Passierschein organisieren. Das wäre … das Nonplusultra wäre das. Was meinst du?«

»R-r-rrr!«

»Machen wir es so?«

»R-r-r-rrr!«

»Na, fein. Ich werd dich nachher dran erinnern … Mann, du bist nicht gescheit! Hab ich dir nicht gesagt, du sollst nichts kaputtbeißen! Geh doch in einen Hundeladen und kauf dir einen Gummiknochen, den kannst du beknabbern, bis du schwarz wirst – und mich brauchst du nicht dazu! Sticht dich der Hafer wirklich so sehr? Na, komm her, Isegrim … Aber mach hin, in einer Stunde müssen wir im Wald sein!«


Der Wagen hielt am Waldrand, unweit des sechsgeschossigen Plattenbaus, den ich als Startmarkierung ausersehen hatte.

»Und wohin jetzt?«, fragte Alexander.

Er zeigte die herablassende Freundlichkeit des Erwachsenen, der von Kindern in irgendein dämliches Spiel hineingezogen wird. Das ärgerte mich. Warten wirs ab, dachte ich, was du in einer Stunde zu sagen hast!

Ich griff mir die Tüte mit dem Champagner und den Gläsern und stieg aus dem Auto. Alexander instruierte leise den Chauffeur und kam hinterher. Ich schlenderte in den Wald hinein.

Dort herrschte schon Sommer. Es waren jene erstaunlichen Maientage, wo Blätter und Blüten unsterblich scheinen, Sieger für alle Zeit. Doch ich wusste: Nur zwei, drei Wochen mussten vergehen, dann würde sich in der Moskauer Luft ein Vorgefühl von Herbst breitmachen.

Anstatt mich lange an der Natur zu ergötzen, sah ich lieber auf meine Füße: Die Stöckel sanken in den Waldboden ein, ich musste achtgeben, wohin ich trat. Wir kamen zu einer Bank zwischen zwei Birken. Die nächste Wegmarke. Von hier bis zum Forsthaus waren es nur noch ein paar Schritte.

»Setzen wir uns doch einen Moment«, sagte ich.

Wir nahmen auf der Bank Platz. Ich reichte ihm die Flasche, er öffnete sie geschickt.

»Schönes Plätzchen«, sagte er, während er den Champagner einschenkte, »und so still. Gerade erst Frühling geworden, und alles grünt schon und blüht. Im Norden ist noch Eis und Schnee.«

»Wieso fällt dir das gerade jetzt ein?«

»Nur so. Worauf trinken wir?«

»Weidmannsheil!«

Wir stießen an. Ich trank mein Glas leer und zerschlug es an der Bankkante. Mit einer Scherbe zerschnitt ich den Träger des Kleides an meiner rechten Schulter. Alexander beobachtete mein Treiben mit stummer Missbilligung.

»Spielst du die Amazone heute?«, fragte er dann.

Ich hielt den Mund.

»Und sag doch mal, wieso du ganz in Schwarz bist? Dazu noch diese Sonnenbrille! Ist das die Matrix-Tour?«

Ich sagte immer noch nichts.

»Es ist ja wirklich nicht so, dass dir Schwarz nicht stünde, aber …«

»Ab hier geh ich alleine weiter«, unterbrach ich ihn.

»Aha. Und was mache ich in der Zeit?«

»Wenn ich gerannt komme, kannst du mir nachlaufen. Aber seitlich halten. Und misch dich um Himmels willen nicht ein. Auch dann nicht, wenn dir irgendwas nicht in den Kram passen sollte. Halt dich zurück und schau zu.«

»Gut.«

»Und bleib auf Abstand. Du verschreckst sonst die Leute.«

»Was für Leute?«

»Das wirst du sehen.«

»Gefällt mir alles nicht besonders«, meinte er. »Ich mach mir Sorgen um dich. Wollen wir das Ganze nicht lieber lassen?«

Ich stand entschlossen auf.

»Wir fangen an.«

Es war bereits die Rede davon, dass die Hühnerjagd auf eine supraphysische Transformation abzielt, wobei es sehr auf die richtige Reihenfolge der einleitenden Handlungen ankommt. Damit die Transformation in Gang kommt, bringen wir uns selbst in eine extrem peinliche Situation: dass einem vor lauter Peinlichkeit die Luft wegbleibt, man vor Scham im Erdboden versinken möchte. Diesem Zweck sind Abendkleid und Hackenschuhe dienlich. Wir überspitzen die Situation derart, dass es für uns gar keinen anderen Ausweg mehr gibt, als zum Tier zu werden. Das Hühnchen wird als biochemischer Katalysator benötigt – ohne kommt es nicht zur Transformation. Und es ist sehr wichtig, dass es bis zuletzt am Leben bleibt – stirbt es, erlangen wir unser menschliches Aussehen viel zu schnell zurück. Darum sollte die Wahl auf ein möglichst gesundes und kräftiges Tier fallen.

Während ich mich dem Hühnerstall näherte, sah ich zum Haus des Forsthüters hinüber. Die Sonne spiegelte sich in den Scheiben, sodass ich nicht erkennen konnte, ob dahinter jemand war. Doch es befanden sich Leute im Haus. Aus der offenen Tür drang Musik. Gesetzte Männerstimmen, ein kleiner Mönchschor vielleicht: »Nacht kommt herzu … Himmlische Ruh … Gott hält die Hand übers schlafende Land …«

Ich hatte keine Zeit zu verlieren.

Der Hühnerstall war eine Bretterbude mit einem Schrägdach aus Sperrholz, darüber eine Abdeckung aus Kunststoff. Ich schob den Riegel zurück, zog die über den Boden schleifende Tür auf – und konnte in dem stinkenden Halbdunkel sogleich meine Beute ausmachen. Ein braunes Huhn, an den Seiten weiß. Während alle übrigen Hühner auseinanderstoben, blieb es als Einziges hocken. Scheint auf mich gewartet zu haben! dachte ich.

»Put-put-put!«, machte ich mit rauer, unaufrichtiger Stimme, beugte mich schnell nach vorn und griff zu.

Das Huhn erwies sich als friedlich. Ruckte nur einmal, um den eingeklemmten Flügel zu richten, hielt dann still. Wie immer in diesen Momenten schien es mir, als verstünde das Tier sehr wohl, was gespielt wurde und welche Rolle ihm dabei zukam. Ich presste es gegen meine Brust und trat den Rückzug an. Ein Schuh blieb mit dem Absatz im Boden hängen, knickte um und rutschte vom Fuß. Ich schleuderte den zweiten hinterher.

»He, Mädel!«, ertönte eine Stimme.

Ich hob den Kopf. Auf den Stufen vor der Haustür stand ein Mann um die fünfzig in verschlissener Arbeitsjacke, mit buschigem Hängeschnauzer.

»Was tust du da?«, fragte er. »Hast du sie noch alle?«

Hinter dem Mann trat ein rotbackiger Bursche aus dem Haus, um die dreißig, auch er mit Schnauzbart – anscheinend der Sohn. Er trug einen blauen Trainingsanzug mit den Großbuchstaben ZSKA. Beide waren sie viel zu massig, um Schnellläufer zu sein, wie ich sogleich registrierte.

Der Moment der Wahrheit nahte. Ich schaute sie an mit einem Mona-Lisa-Lächeln und zog den Reißverschluss an meiner rechten Seite auf, sodass das Kleid nur noch vom linken Träger gehalten wurde. Mühelos schlüpfte ich heraus, ließ es zu Boden gleiten. Nun trug ich nur noch ein kurzes orangenes Flatterhemd mit viel Bewegungsfreiheit. Ein angenehmer Windhauch umspielte meinen halbnackten Körper.

Ein dritter Augenzeuge war aus dem Haus getreten: ein Knabe von vielleicht acht Jahren, mit einem Plastikschwert in Händen. Ohne jedes Zeichen von Verwunderung starrte er herüber: Wahrscheinlich hielt er mich für dem Fernseher entsprungen, und da hatte er schon ganz anderes gesehen.

»Schämst du dich gar nicht?«, fragte das hängeschnauzbärtige Familienoberhaupt.

Das traf ins Schwarze. Die Scham erfüllte mich bereits bis zu den Haarwurzeln. Scham war zu wenig gesagt: Ich verabscheute mich. Fühlte mich im Epizentrum aller Schmach der Welt. Nicht bloß die gekränkten Hühnerbesitzer schauten auf mich, nein, ganze Himmelshierarchien, Myriaden geistiger Wesen blickten mit Wut und Verachtung aus ihren unzugänglichen Welten herüber. Ich tat die ersten Schritte vom Hühnerstall weg.

Vater und Sohn wechselten einen Blick.

»Lass das Huhn los«, sprach der Sohn und kam die Stufen herab.

Der Knabe mit dem Schwert riss den Mund auf, die Sache versprach lustig zu werden. Ich aber wusste – und das nicht mehr nur mit dem Kopf, nein, mit dem ganzen Körper, bis in die letzte Faser hinein dass es aus dem Kokon meiner unerträglichen Schande nur einen einzigen Ausweg gab: Es war der Weg, der in den Wald führte. Also drehte ich mich um und rannte los.

Altes weitere lief nach Schema F. Die ersten Schritte waren schmerzhaft wegen der Äste und Steine, die sich in die nackten Sohlen bohrten. Doch schon nach wenigen Sekunden setzte die Transformation ein. Als Erstes spürte ich, wie es mir die Finger zusammenzog. Das Huhn festzuhalten wurde schwieriger, ich musste es nun mit aller Kraft gegen die Brust pressen und dabei aufpassen, dass ich ihm nicht versehentlich die Luft abdrückte. Dann ließ der Schmerz in den Sohlen urplötzlich nach, weitere Sekunden später fegte ich schon auf drei Beinen dahin, und es machte mir überhaupt nichts aus.

Zu dem Zeitpunkt ließen sich die Veränderungen an mir nicht mehr übersehen – und sie wurden bemerkt. Hinter mir ertönte höhnendes Geschrei. Ich sah mich um mit gefletschten Zähnen. Beide Hühnerhalter, Vater und Sohn, verfolgten mich. Doch der Abstand war bereits beträchtlich. Ich bremste ab, um mich aus dem Flatterhemd herauszuwinden (was keine Mühe bereitete – mein Leib war sehnig und biegsam geworden), ließ sie ein Stück herankommen, bevor ich weiterlief.

Was bringt einen Menschen in solch einer Situation dazu, hinter einem Werfuchs herzujagen? Hier geht es natürlich längst nicht mehr darum, gestohlenes Eigentum wiederzuerlangen. Erlebt ein Werfuchs seinen supraphysikalischen Schub, bekommen seine Verfolger etwas zu sehen, das all ihre Vorstellungen von der Welt über den Haufen wirft. Von da an geht es nicht mehr um ein geklautes Huhn, sondern um dieses Wunder. Sie haschen einem Abglanz des Undenkbaren hinterher, der ihr schummriges Leben zum ersten Mal hat aufglänzen lassen. Deshalb ist es für unsereins manchmal gar nicht so einfach, den Verfolgern zu entwischen.

Zum Glück war auf dem Waldweg niemand unterwegs: während der ganzen Hatz kam uns kein Mensch entgegen. Ich wusste, dass Alexander in der Nähe war – ein knackender Ast war an mein Ohr gedrungen, das Rascheln von bewegtem Laub abseits des Weges. Doch ich sah niemanden, höchstens ein-, zweimal einen zwischen Büschen entlangwischenden Schatten.

Der ältere der beiden Hühnerbauern begann zurückzufallen. Als ihm klar wurde, dass der Abstand sich nicht mehr verkürzen ließ, winkte er ab und stieg aus der Jagd aus. Sein Sohn hielt das Tempo noch einen guten Kilometer länger durch, bevor auch er zusehends schlappmachte. Ich verfiel in einen gemütlichen Trab, so liefen wir noch an die fünfhundert Meter weiter. Dann fing mein Verfolger zu japsen an, kurz darauf ging bei ihm gar nichts mehr – wahrscheinlich war er Raucher. Die Arme auf die Knie gestemmt, blieb er stehen, starrte mir aus dunklen Augen hinterher. Sofort musste ich an den toten Sikh aus dem National denken. Doch ich unterdrückte diese privaten Gefühle, sie waren hier nicht am Platz.

Wäre mein Ziel gewesen, die Verfolger abzuschütteln, hätte das Spiel hier zu Ende sein können. (So pflegt das Wunder wieder aus dem menschlichen Leben zu entschwinden.) Doch ich wollte mehr – ich wollte den Kitzel der Jagd. Also blieb ich stehen. Die Entfernung zwischen uns betrug kaum zwanzig Meter.

Wie schon gesagt: Gibt der Werfuchs sein Huhn frei, dauert es höchstens eine Minute, bis alle supraphysischen Veränderungen wieder verschwunden sind. Dann ist natürlich auch die Fähigkeit, einem Menschen davonzulaufen, futsch. Darum war das Manöver, das ich plante, riskant – doch die Gewissheit, dass Alexander zuschaute, stachelte mich an. Ich ließ das Huhn also laufen. Es tat ein paar unsichere Schritte auf dem Asphalt und blieb dann stehen. (Während der Verfolgungsjagd geraten diese Tierchen immer in einen eigenartigen Trancezustand und verhalten sich gestört.) Ich zählte bis zehn, bevor ich es mir wieder schnappte und an mich drückte.

So viel Hohn und Spott konnte mein Verfolger nicht ertragen – er riss sich zusammen und rannte wieder los, sodass wir weitere dreihundert Meter in ansprechendem Tempo hinter uns brachten. Ich war selig. Die Jagd schien zu glücken, keine Frage.

Und da geschah das Unerwartete. Wir hatten gerade eine Wegkreuzung passiert, wo die Bäume mit allerlei roten und blauen Pfeilen markiert waren (vermutlich Orientierungszeichen für Skiläufer – aber wer weiß, welchen Reim sich Alexander darauf gemacht hätte), da hörte ich meinen Verfolger plötzlich rufen: »Hierher! Hilfe!«

Ich wandte mich um, sah ihn jemanden heranwinken. Und dann tauchten aus dem Seitenweg, an dem wir gerade vorbeigekommen waren, zwei berittene Polizisten auf.

Es fällt mir schwer, das Grauen und die Größe dieses Augenblicks in Worte zu fassen. Bei Puschkin im Ehernen Reiter ist dergleichen beschrieben, nur handelt es sich dort um einen Reiter, hier waren es zwei. Wie in der Zeitlupe eines Alptraums vollzogen sie eine Vierteldrehung, und auf einmal guckten vier Visagen in meine Richtung: zwei Pferde und zwei Polizisten. Sie nahmen die Verfolgung auf.

Woher bei uns dieser Hass auf englische Aristokraten kommt? Es dürfte genügen, für ein paar Sekunden in meine Haut zu schlüpfen (besser gesagt, mein Fell, denn zu dem Zeitpunkt hatte ich es schon – wenn auch nicht durchgehend, nur stellenweise), um diese Frage nie wieder zu stellen. Bullen sind ein tumbes und unfreies Volk, was will man von ihnen erwarten. Aber wie könnte man es hochgebildeten Menschen nachsehen, dass sie die Agonie eines fremden Wesens zu Sport und Zeitvertreib gebrauchen? Ich mag das Tun meines Schwesterleins I darum nicht verurteilen – auch wenn ich selbst natürlich nicht so weit gehen würde wie sie.

Dass ich mich das letzte Mal einer Verfolgung zu Pferde hatte erwehren müssen, war beinahe hundert Jahre her. (Während des Bürgerkriegs, nahe Melitopol in der Ukraine.) Doch als ich jetzt die schweren Hufe hinter mir trappeln hörte, fiel mir gleich alles wieder ein. Die Erinnerungen waren ungut und sehr lebendig – für einen Moment kam es mir gar so vor, als hätte ich das ganze zwanzigste Jahrhundert vor Hitze und aus Mangel an Sauerstoff nur geträumt und floh in Wirklichkeit immer noch, mit letzter Kraft, vor den besoffenen Budjonnyreitern, denen es gefiel, mich die staubige Straße lang zu Tode zu hetzen. Ein grausiges Gefühl.

Das Entsetzen verlieh mir Flügel. Außerdem sorgte die Angst dafür, dass die supraphysische Transformation viel weiter gedieh als sonst, wenn die Jagd in normalen Bahnen verlief. Zuerst schien mir das von Vorteil, da ich nun noch schneller flitzte. Dann aber begriff ich, dass dies auch mein Verderben sein konnte. Die Hand, die das Huhn gegen die Brust gedrückt hielt, wurde immer mehr zur normalen Fuchspfote, ungeeignet, etwas zu halten. Und ich konnte nichts dagegen tun. Es war wie ein unaufhaltsames Kullern gegen den Abgrund: noch ein paar Augenblicke der Agonie, und ich ließ das Huhn fahren. Es schlug in der Luft mehrere Purzelbäume und landete mit empörtem Gackern am Wegrand. Nun war ich eine stinknormale Füchsin geworden – und lief Gefahr, auch diese Existenz sehr schnell zu verlieren.

Da aber bemerkte ich etwas sehr Sonderbares.

Ich registrierte plötzlich, dass mein Schweif, von dem man hätte annehmen dürfen, dass er gerade nichts zu tun hatte, beschäftigt war. Wenn ich dies so sage, weiß ein Werfuchs sofort, was gemeint ist; es dem Menschen zu erläutern fällt schwer. Alexander erzählte mit Vorliebe einen Witz über einen Libertin mit so langem Penis, dass dieser seine eigenen Wege ging, bis in die Nachtbars hinein: »Oh, ich glaube, er hat schon wieder eine …« Lässt man alle erotischen Konnotationen beiseite, wäre die Empfindung nicht so weit von dem entfernt.

Und mehr noch: Ich begriff, dass dies offenbar ein ständiger Zustand war. Der verdeckte Strom hypnotischer Energie, den ich in meine Umwelt abstrahlte, war so stabil, dass ich ihn gar nicht mehr wahrnahm: wie man sich an das Brummen eines Kühlschranks gewöhnen kann, man hört es erst, wenn er sich plötzlich abschaltet. Ich verfolgte diesen Strahl, um zu sehen, auf wen die Aktion abzielte – und merkte auf einmal … Ich selbst war der Adressat!

Es machte BANG!, um in der Comicsprache zu reden.

Ich verlor in diesem Moment nicht die Geistesgegenwart. Nach wie vor registrierte ich klar, was vorging, in meinem Kopf ebenso wie um mich her. Eine meiner inneren Stimmen zitierte in donnerndem Bass die Worte Laertes' an Hamlet nach dem verhängnisvollen Rapierstoß: »In dir ist keine halbe Stunde Leben!« – »Wieso halbe Stunde?«, erkundigte sich die zweite. »Was war denn für ein Gift dran an dem Rapier?« – »Das hätte man Shitman, den Shakespeareologen, fragen können, wie schade, dass er nicht mehr unter uns ist …«, warf die dritte ein. »Bald wirst du ihn fragen können, paß mal auf!«, blaffte eine vierte.

Mir wurde angst und bange: Unter den Werfüchsen existiert der Glaube, dass man kurz vor dem Tod der Wahrheit ins Auge sieht, und alle inneren Stimmen beginnen durcheinanderzureden. War es so weit? Passt mir gerade überhaupt, dachte ich … Und ich hatte keine dreißig Minuten, so wie Hamlet. Dreißig Sekunden im Höchstfall, und die liefen ab wie nix.

Der Waldrand war erreicht. Hier ergingen sich wie üblich die Mütter der umliegenden Häuser mit ihren Kinderwagen. Ich wurde entdeckt; Gekreisch, Rufe. Mit letzter Kraft fegte ich zwischen den Spaziergängerinnen hindurch, sah vor mir einen anderen Schlängelweg, der in den Wald zurückführte, bog dort ein.

Doch mein Körper ließ mich mehr und mehr im Stich. Mir taten die Hände vom Laufen weh, ich richtete mich auf und lief auf den Hinterpfoten weiter, die schon keine Pfoten mehr waren, sondern ganz normale Mädchenfüße. Bis ich auf irgendeinen besonders stachligen Kienzapfen trat und quiekend auf die Knie fiel.

Die Polizisten kamen herangeritten, saßen ab. Einer von ihnen packte mich bei den Haaren und drehte mein Gesicht zu sich herum, seines verzerrte sich vor Wut. Ich erkannte ihn: einer von den Spintrien aus dem Revier, wo ich neulich den Subbotnik abgeleistet hatte. Auch er hatte mich erkannt. Einen Moment lang schauten wir einander in die Augen. Es ist müßig, einem Uneingeweihten erzählen zu wollen, was in solch einem Moment zwischen Werfuchs und Mensch abläuft. Man muss es erlebt haben.

Was bin ich blöd, dachte ich schicksalsergeben. Dabei gibt es das alte Sprichwort: Wo du wohnst, da gib dich brav und bieder, wo du f…, da lass dich niemals nieder! Das hatte ich nun davon.

»Na? So sieht man sich wieder, du Aas!«

»Kennst du sie etwa?«, fragte der andere.

»Und ob. Die hat bei uns einen Subbotnik gemacht. Seitdem hab ich Herpes am Arsch, nicht loszukriegen!«

Hiermit demonstrierte der Polizist ein selbst für seine Verhältnisse schwach ausgeprägtes Verständnis für kausale Zusammenhänge; zum Lachen fand ich das trotzdem nicht. Gleich krieg ich Dresche!, dachte ich. Alles genau wie damals vor Melitopol … Vielleicht befand ich mich tatsächlich noch dort, und die Zwischenzeit war nur ein Traum gewesen?

Plötzlich krachte in nächster Nähe ohrenbetäubend ein Schuss. Ich hob den Blick.

Auf dem Weg stand Alexander in seinem tadellos gebügelten grauen Uniformrock, mit einer rauchenden Pistole in der Hand und einem schwarzen Bündel unterm Arm. Ich hatte nicht bemerkt, wann und wie er aufgetaucht war.

»Her zu mir, alle beide!«, befahl er.

Die Polizisten tappten gehorsam zu ihm hin – sie benahmen sich wie die Kaninchen vor der Schlange. Eines der Pferde schnaubte nervös und ging auf die Hinterbeine.

»Brav, brav, hab keine Angst«, flüsterte ich. »Der beißt schon nicht.«

Dies zu behaupten war übrigens vorschnell: Ich war in Alexanders Pläne nicht eingeweiht. Als die Polizisten vor ihm standen, schob er die Pistole ins Holster zurück und sagte etwas mit leiser Stimme, das nach »Meldung machen« klang. Er hörte sie an, sagte dann selbst wieder etwas. Ich verstand nicht, was, doch die Gesten dazu waren vielsagend: Erst hielt er die rechte Handfläche nach oben und tat, als würfe er einen kleinen Gegenstand ein paarmal in die Höhe. Dann drehte er die Hand um und machte ein paar kreisförmige Bewegungen, so als striche er etwas fest. Auf die Polizisten hatte das eine geradezu magische Wirkung: Sie machten auf dem Absatz kehrt und trollten sich, vergaßen nicht nur mich, sondern auch ihre Pferde.

Neugierig musterte Alexander mich ein Weilchen, bevor er herüberkam und mir das schwarze Bündel vor die Nase hielt. Es war mein Kleid. Etwas war darin eingewickelt, ich rollte es auf. Das Huhn. Verendet. Trauer befiel mich, mir kamen die Tränen. Das hatte nichts mit Sentimentalität zu tun. Dieses Huhn und ich, wir waren eben noch eins gewesen. Den kleinen Tod starb ich zur Hälfte mit.

»Zieh dich an«, sagte Alexander.

»Wozu hast du …?« Ich deutete auf das Huhn.

»Ja, wie denn? Hätte ich es laufen lassen sollen?«

Ich nickte. Er hob ratlos die Hände.

»Dann verstehe ich überhaupt nichts mehr.«

Woher auch! Man durfte ihm keine Vorwürfe machen.

»Nein, nein, entschuldige. Vielen Dank«, sagte ich. »Für das Kleid und überhaupt.«

»Du, hör mal«, sagte er. »Mach das hier lieber nicht mehr. Am besten nie wieder.«

»Wieso?«

»Nimms mir nicht übel, aber … du siehst nicht besonders gut aus dabei. Ich meine, wenn du … Ich weiß nicht. Ich denke, das ist nicht dein Ding.«

»Was soll das heißen, ich sehe nicht besonders gut aus?«

»Na ja. Irgendwie kahl. Wenn man dich so sieht, denkt man, du wärest dreihundert Jahre alt, mindestens.«

Ich spürte, wie ich errötete.

»Aha. Verstehe«, parierte ich. »Das ist die Masche: bloß kein Frau am Steuer, wie? Jedes zweite Wort von dir strotzt vor Chauvinismus, du verdammter Macho, du!«

»Komm mir doch jetzt nicht damit. Es ist die reine Wahrheit. Hat nichts mit Männlein und Weiblein zu tun.«

Ich zog mich rasch an. Bekam es irgendwie sogar hin, den zerschnittenen Träger über der Schulter wieder zusammenzuknoten.

»Willst du das Huhn mitnehmen?«, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf.

»Dann mal los. Das Auto fährt gerade vor. Und morgen Punkt zwölf halte dich bereit für einen Ausflug. In den Norden.«

»Wozu?«

»Du hast mir gezeigt, wie du jagst. Morgen wirst du sehen, wie ich jage.«


Nie zuvor war ich mit einem Flugzeug geflogen, wie dieser Gulfstream Jet eines war. Nicht mal zu Gesicht bekommen hatte ich so etwas; auf Sonderflughäfen, wie der Upper rat sie benutzt, hatte es mich bisher nicht verschlagen. Und ich konnte kaum fassen, wie wenig Leute in der Maschine saßen – so als hinge die Flugsicherheit von der Anzahl der Passagiere ab.

Vielleicht ist das übrigens gar nicht so falsch. Jeder hat doch seinen Schutzengel dabei, und wenn sich in einem Airbus oder einer Boeing mehrere Hundert Leute drängen, dann dürften die unsichtbaren Schwärme geflügelter Leibwächter wenn schon nicht den Auftrieb der Tragflächen erhöhen, so doch einen Absturz zu verhindern wissen. Und dass viel häufiger kleine Chartermaschinen vom Absturz betroffen sind, mag umgekehrt auch daran liegen, dass in ihnen Newsmaker mit der Last des Bösen im Gepäck um den Planeten jetten.

Der Fluggastraum ähnelte einem mit weichen Ledersitzmöbeln ausgestatteten Raucherzimmer. Alexander saß neben mir. Außer uns gab es nur noch einen einzigen Fluggast im Abteil, und das war Michalytsch, der, im entferntesten Sessel sitzend, in irgendwelchen Papieren blätterte. Mit Alexander wechselte er kaum ein Wort – einmal nur hatte er eine Frage.

»Genosse Generalleutnant, hier in der Liste steht: Shaikh ul Mashaikh … Wissen Sie, was damit ist?«

Alexander dachte nach.

»Wenn ich nicht irre, fängt das bei vierzig Kilo Plastit an. Aber prüf es sicherheitshalber nach, wenn wir zurück sind.«

»Zu Befehl.«

Wir ließen Moskau hinter und unter uns, bald waren die Wolken dazwischen. Alexander wandte sich vom Fenster ab und holte ein Buch hervor.

»Was liest du?«, fragte ich. »Wieder einen Krimi?«

»Nein. Diesmal hab ich ein seriöses und gescheites Buch mitgenommen – wie du mir geraten hast. Möchtest du auch was zum Blättern haben?«

»Ja.«

»Dann schau mal in das hier rein. Damit du besser verstehst, was du nachher zu sehen bekommst. Es geht nicht exakt um unsere Angelegenheit, aber etwas sehr Ähnliches. Ich hab es extra für dich eingesteckt.«

Er legte mir ein abgegriffenes Buch auf die Knie, der Titel in roten Lettern: Russische Märchen. Ich hatte es neulich auf seinem Schreibtisch liegen sehen.

»Da liegt ein Lesezeichen drin«, sagte er.

Das Zeichen lag bei einem Märchen mit dem Titel Die kleine Chawroschetschka. Ich hatte schon viele Jahre kein Kinderbuch mehr in Händen gehabt, und mir fiel sogleich eine Merkwürdigkeit ins Auge: Der großen Schrift wegen nahm man die Wörter ganz anders zur Kenntnis als in Erwachsenenbüchern. Als wäre das, was sie besagten, von vornherein einfacher und klarer.

Das Märchen war eins von der traurigen Art. Die kleine Chawroschetschka war ein nördlicher Aschenputtel-Klon – nur dass sie sich statt von einer guten Fee von einer buntscheckigen Kuh helfen ließ. Jeden noch so schwierigen Auftrag, den die böse Stiefmutter der Kleinen auftrug, erledigte die Kuh für sie zur Zufriedenheit. Die gehässigen Schwestern bekamen heraus, auf welche Weise Chawroschetschka mit der Arbeit fertig wurde, und hintertrugen es der Stiefmutter. Die befahl daraufhin, die bunte Kuh zur Schlachtbank zu führen. Als Chawroschetschka davon hörte, erzählte sie es der Kuh. Die Kuh bat das Mädchen, nicht von ihrem Fleisch zu essen und ihre Knochen im Garten zu vergraben. Aus den Knochen wuchs dann ein Apfelbaum mit leise klingelnden goldenen Blättern, der Chawroschetschkas Schicksal zum Guten wendete: Sie schaffte es, einen Apfel zu pflücken, wofür sie mit einem Bräutigam belohnt wurde … Es fiel auf, dass am Ende weder die Stiefmutter noch die Schwestern bestraft wurden: Sie konnten keinen Apfel greifen, und so vergaß man sie einfach.

Das Märchen im anal-amphetaminfixierten Diskursrahmen zu analysieren oder in seiner »Morphologie« herumzustochern verspürte ich nicht die geringste Lust. Sowieso musste ich nicht lange herumrätseln, worum es in ihm wirklich ging – mein Herz sagte es mir. Es war die unendliche russische Geschichte, deren letzte Folge ich erst kürzlich, am Ende des vorigen Jahrhunderts, miterlebt hatte. Mir war, als kannte ich diese bunte Kuh persönlich, bei der sich die Kinder über ihren Kummer beklagen und die für sie Wunder der unkomplizierten Art organisiert und dann still unters Messer geht, um als Zauberbaum wieder aus der Erde zu wachsen – jedem Jungen und jedem Mädchen einen goldenen Apfel! …

In dem Märchen steckte die unbegreifliche Wahrheit über eine äußerst betrübliche und mysteriöse Seite des russischen Lebens. Wie viele Male war diese selbstlose Kuh schon geschlachtet worden. Und wie oft war sie zurückgekehrt – mal als Zauberapfelbaum und mal als ganzer Kirschgarten. Aber wo waren die Äpfel geblieben? Nicht aufzufinden. Sollte man bei der United Fruit Company anrufen? … Lieber nicht. United Fruit, das war voriges Jahrhundert. Inzwischen irrt jeder derartige Anruf hilflos durch die Kabel, landet erst bei irgendeiner Company auf Gibraltar, die aber nun wieder einer Firma auf den Falkland-Inseln gehört, die von einem Amsterdamer Anwalt verwaltet wird, der die Interessen eines Trusts vertritt, hinter dem ein nicht näher genannt sein wollender Schecknehmer steht. Den nun freilich kennt auf der Rubljowskoje in Moskaus Speckgürtel jeder Hund.

Ich klappte das Buch zu, sah nach Alexander. Er schlief. Behutsam nahm ich ihm das »seriöse und gescheite Buch« vom Schoß, schlug es auf.


Ein Geldbaum sieht anders aus, als die leichtsinnigen Belletristen im vorigen Jahrhundert es sich ausmalten. In keinem Wunderland steht er und trägt dort goldene Dukaten, nein, er wächst als sprudelnde Erdölfontäne durch die Eiskruste des Permafrostbodens, ein brennender Dornbusch wie jener, der einst zu Moses sprach. Doch wiewohl Mosesse in genügender Zahl sich heute um den Geldbaum scharen, hüllt Gott sich in beredtes Schweigen … Wahrscheinlich schweigt er, weil er weiß: Lange wird der Baum nicht mehr so lustig lodern. Umsichtige Menschen werden kommen, einen Feuerlöscher auf die brennende Krone richten und den Baum zwingen, mit seinem schwarzen Stamm in ein kaltes Stahlrohr hineinzuwachsen, das sich durch ganz Deppenland zieht bis zu den Containerhäfen aller Chinesen und Japaner dieser Welt – so weit, dass der Baum bald nichts mehr von seinen Wurzeln wissen wird …


Ich las noch ein paar dergleichen bemüht schleierhafte Absätze weiter und spürte, wie der Schlaf mich übermannte. Klappte das Buch zu, legte es zurück auf Alexanders Knie. Den Rest des Fluges verschlief ich.

Nicht einmal die Landung bekam ich mit. Als ich die Augen öffnete, schwamm am Bullauge der über die Rollbahn manövrierenden Gulfstream-Maschine ein verschneites Flughafengebäude vorbei, das eher an eine Bahnstation erinnerte. An seiner Fassade war ein Transparent aufgespannt: Herzlich willkommen in Petrodestillewsk!

So weit das Auge reichte, nichts als Schnee.

An der Gangway wurden wir von ein paar Militärs in Empfang genommen, die Winteruniformen ohne Rangabzeichen trugen. Michalytsch und Alexander wurden wie alte Bekannte begrüßt, während mich eher schräge und, wie mir schien, verwunderte Blicke trafen. Doch immerhin: Als Michalytsch und Alexander ihre Offiziersmäntel erhielten, wurde auch ich mit warmer Kleidung bedacht, einer Militärwattejacke mit zartblauem Webpelzkragen und einer Pelzmütze mit Ohrenklappen. Die Jacke war so groß, dass ich buchstäblich darin versank.

Drei Fahrzeuge standen für uns bereit: schwarze Geländewagen, die einen durchaus Moskauer Eindruck machten, nur dass hier Uniformierte am Steuer saßen. Der Empfang verlief wortkarg, mit ein paar Begrüßungsfloskeln und kurzen Kommentaren zum Wetter hatte es sich. Vermutlich war bekannt, zu welchem Zweck die Moskauer Gäste angereist waren.

Die Stadt, die gleich hinter dem Flugplatz anfing, wirkte bizarr. Die Häuser erinnerten an die Mittelklasse-Eigenheime im Moskauer Umland – mit dem Unterschied, dass sie, irgendwie albern, auf etwas wie Hühnerbeinen standen. Die in den Permaboden gerammten Pfähle im Zusammenspiel mit den roten Hahnenkämmen ihrer Ziegeldächer riefen die Assoziation hervor, derer ich mich nicht erwehren konnte: Die Häuser wurden zu reihenweise angetretenen, allerdings vierbeinigen Hühnern, die ihre Filetteile samt schwarzem Türbürzel in die Höhe streckten. Wahrscheinlich hatte ich die Jagderlebnisse von gestern und den dabei erlittenen Schock noch immer nicht verdaut.

Zwischen den eurogenormten Hüttchen verkauften Händler ihre Ware von Zeltbahnen, die neben einem Motorschlitten der Marke Buran auf dem Schnee ausgebreitet waren.

»Womit handeln die?«, fragte ich Alexander.

»Rentierfleisch. Frisch aus der Tundra.«

»Werden denn sonst keine Lebensmittel geliefert?«

»Doch, doch, natürlich. Rentierfleisch ist einfach in Mode. Macht was her. Und ist ökologisch unbedenklich.«

Schwer beeindruckt war ich von einer gleichfalls auf Pfählen stehenden Calvin-Klein-Boutique – genauer gesagt, von ihrer Präsenz in diesen Breiten. Gewiss der nördlichste Vorposten des sekundären Calvinismus auf der ganzen Welt.

Auffällig auch der große Kinderspielplatz, vollgestellt mit Gerüsten wie von Nomadenzelten, an denen dicke, warm eingepackte Kinder wie Faultiere hingen. Das Ganze ließ an einen im ewigen Schnee konservierten Lagerplatz vorsintflutlicher Jäger denken. Davor stand ein rustikaler Torbogen, bemalt mit Schneeflöckchen, rotnasigen Clowns und allerlei Getier sowie der lustigen Inschrift KUKIS-JUKIS-JUXI-PUX! Was das bedeuten sollte, war schwer zu entscheiden. Es konnte sich


1. um einen Abzählreim, der die Kinder bei Laune halten sollte,

2. um die Liste der Sponsoren oder

3. um einen in äsopischer Sprache (so weit sind wir schon wieder) formulierten Protest gegen die Willkür der Machthabenden handeln.


Die im russischen Leben eingetretenen Verwerfungen ließen ein klares Dafürhalten für eine der Möglichkeiten kaum noch zu. Und sowieso war keine Zeit: Wir fuhren zügig durch, sodass sich die ganze Nordlandfolklore schnell wieder im pulvrigen Weiß aufgelöst hatte. Bald war alles nur noch ein einziges, in der Abendsonne glitzerndes Schneefeld.

»Schieb mal mein Lieblingslied rein«, sagte Alexander zum Chauffeur.

Er wirkte mürrisch und konzentriert, ich traute mich nicht, ihn anzusprechen.

Ein alter Hit der Shocking Blue ertönte:


I'll follow the sun

That's what I'm gonna do

Trying to forget all about you …


Ich konnte nicht umhin, dieses Trying to forget all about you auf mich zu beziehen, so etwas macht die weibliche Psyche automatisch, ohne mit der Chefetage Rücksprache zu halten. Trotzdem, der Schwur, der Sonne zu folgen, in der Art der alten Wikinger ein zweites Mal bekräftigt, kam mir schön und erhaben vor.


I'll follow the sun

Till the end of time

No more pain and no more tears for me.


An der Stelle allerdings, wo es um das Ende aller Zeiten ging, fiel mir ein, was unter dem Wolfsbild in Alexanders Mappe gestanden hatte: FENRIS, Sohn des Loki, Riesenwolf, der die Sonne über den Himmel jagt. Holt Fenris sie ein und frisst sie, ist Ragnarök. Das ergab nun freilich ein etwas anderes Bild … Aber nein, was für ein Kindskopf er doch ist!, dachte ich mit einer mir selbst noch uneingestandenen Zärtlichkeit – was für ein komischer großer Junge!

Bald brach die Dunkelheit herein. Im Mondlicht erschien die Landschaft da draußen wie nicht von dieser Welt – man fragte sich, wozu die Menschheit zu anderen Planeten flog, wenn hier, vor ihrer Nase, solche Orte existierten. Gut möglich, dass nur ein Meter seitwärts der unsichtbaren Straße niemals je ein menschlicher Fuß, vielleicht auch keines anderen Wesens Fuß oder Tatze den Boden berührt hatte, wir wären die Ersten gewesen …

Als wir am Ziel der Reise ankamen, war es vollkommen finster. Kein Gebäude zu sehen, kein Licht, kein Mensch und nichts sonst – nur Nacht, Schnee, Mond und Sterne. Der einzige Fehler in der Monotonie der Landschaft war ein unweit gelegener Hügel.

»Wir sind da«, sagte Alexander.


Draußen war es kalt. Ich schlug den Jackenkragen hoch, zog die Mütze tiefer über die Ohren. Für ein Leben in diesen Breiten hatte die Natur mich nicht vorgesehen. Was hätte ich hier auch anfangen sollen? Rentierzüchter suchen keine Liebesabenteuer im ewigen Schnee – und wenn doch, bekäme ich meinen Schweif bei der Kälte wohl kaum ordentlich aufgeschüttelt. Er fröre augenblicklich ein und bräche wie ein Eiszapfen.

Die Autos waren so geparkt, dass ihre kräftigen Scheinwerfer den Hügel komplett ausleuchteten. Im Lichtfeld eilten Leute geschäftig hin und her, packten eine mitgebrachte Ausrüstung aus – irgendwelche Gerätschaften, für mich undurchschaubar. Ein Mann in ebensolcher Wattejacke, wie ich sie trug, mit einem länglichen Koffer in der Hand, trat auf Alexander zu.

»Kann ich aufbauen?«, fragte er.

Alexander nickte.

»Ich komme mit«, sagte er, und zu mir gewandt: »Willst du nicht auch? Du wirst sehen, der Ausblick von da oben ist hübsch.«

Wir liefen bis zur Kuppe des Hügels.

»Wann ist der Druck abgefallen?«, wollte Alexander wissen.

»Gestern Abend«, antwortete der Offizier.

»Habt ihr probiert, Wasser einzupumpen?«

Der Offizier winkte ab, als lohnte es nicht, ein Wort darüber zu verlieren.

»Der wievielte Abfall ist es an dieser Sonde?«

»Der fünfte«, sagte der Offizier. »Aus der Traum. Die Schicht ist leer gezapft. Wie Russland im Ganzen.«

Er schloss einen gedämpften Fluch an.

»Das werden wir sehen, ob im Ganzen oder nicht im Ganzen«, sagte Alexander. »Und hüte deine Zunge in Gegenwart einer Dame.«

»Die nachwachsende Generation?«, fragte der Offizier.

»Könnte man sagen.«

»Bravo! Auf Michalytsch kann man nicht mehr groß rechnen …«

Wir waren oben angelangt. Ich sah flache Gebäude in der Ferne, scharfe blaue und gelbe Lichtpunkte, gitterartige Metallkonstruktionen, hie und da Dampf- oder Rauchschwaden darüber. Der Mond beschien ein Labyrinth aus knapp über der Erde verlaufenden Rohren. Manche davon tauchten irgendwo im Schnee ab, andere reichten bis zum Horizont. Doch war dies alles viel zu weit weg, um Einzelheiten zu erkennen. Menschen konnte ich nirgends entdecken.

»Steht die Funkverbindung?«, fragte Alexander.

»Jawohl«, erwiderte der Offizier, »wenn sich was tut, melden sie sich. Wie stehen die Chancen?«

»Sehen wir mal«, sagte Alexander. »Wozu spekulieren? Lass uns die Sache lieber angehen.«

Der Offizier stellte den Koffer in den Schnee und öffnete ihn. Im Inneren befand sich ein Plastiketui, das in Form und Größe an eine üppige Honigmelone erinnerte. Schlösser klickten, die Melone klappte auf, und ein auf rotem Samt liegender Kuhschädel kam ans Licht, dem Anschein nach sehr alt, an mehreren Stellen geborsten und von Metallplatten zusammengehalten. Auch der untere Rand des Schädels war in Metall gefasst.

Als Nächstes entnahm der Offizier seinem Koffer einen zylindrischen schwarzen Gegenstand und zog ihn auseinander. Es entstand ein Teleskopstab ähnlich den gängigen Trekkingstö-cken, der oben in einer runden Verdickung endete. Der Offizier holte aus und stieß den Stock mit dem spitzen Ende in den Schnee hinein, prüfte anschließend, ob er fest genug steckte – das tat er. Sodann hob der Offizier den Schädel auf, setzte ihn mit dem Metallsockel auf den Knubbel am oberen Ende des Stabs und ließ ihn einrasten.

»Fertig?«, fragte Alexander.

Er hatte die Handgriffe des Offiziers nicht verfolgt, sondern in die Ferne gesehen, zu den Lichtern und den Rohrleitungen hin – so wie ein Feldherr das Gelände für die bevorstehende Schlacht observiert. Der Offizier richtete die leeren Augenhöhlen des Schädels auf das Erdölfeld aus. Was er mit dieser obskuren Kamera aufnehmen wollte, blieb unklar.

»Fertig.«

»Dann gehen wir.«

Wir liefen den Hügel wieder hinab zu den Leuten, die bei den Autos auf uns warteten.

»Was ist, Michalytsch«, sagte Alexander. »Willst du zuerst? Mach einen Versuch. Ich stärke dir notfalls den Rücken.«

»Bin gleich so weit«, sagte Michalytsch. »Nur noch ein paar Minuten. Ich geh so lange ins Auto, damit der Arsch mir nicht abfriert.«

»Ohne Ketamin geht's bei dir wohl gar nicht mehr?«

»Wie's beliebt, Genosse Generalleutnant«, sagte Michalytsch. »Aber ich würde lieber nach meinem System vorgehen. Bin nicht umsonst auf die intramuskuläre Methode umgestiegen.«

»Von mir aus«, brummte Alexander missmutig, »aber mach schnell. Wir werden ja sehen. Es wäre an der Zeit für dich, ohne Krücken laufen zu lernen, Michalytsch. Glaub an dich! Geh raus aus dir! Wolf-Flow! Was sollen wir machen, wenn sie deinen Dealer am Arsch kriegen? Soll das ganze Land deswegen auf dem Schlauch stehen?«

Michalytsch räusperte sich, sagte aber nichts weiter, lief hinter die parkenden Autos. Im Vorübergehen zwinkerte er mir zu. Ich übersah es geflissentlich.

»Countdown läuft!«, ertönte eine megaphonverstärkte Stimme. »Alles verlässt den Innenraum!«

Die Menschen, die sich im Lichtfeld der Scheinwerfer gedrängt hatten, verzogen sich eilig ins Dunkle hinter der Wagenfront. Nur der Offizier, der Alexander geholfen hatte, den Schädel auf dem Hügel zu installieren, blieb bei uns stehen. Da ich nicht wusste, ob der Befehl auch mich anging, schaute ich Alexander fragend an.

»Setz dich«, sagte er und deutete auf einen neben ihm stehenden Klappstuhl. »Gleich kommt Michalytschs Auftritt. Aber pass auf, dass du nicht lachen musst, er ist da empfindlich. Besonders wenn er sich gespritzt hat.«

»Ich werd dran denken«, sagte ich und setzte mich.

Alexander machte es sich auf dem Stuhl neben mir bequem und reichte mir seinen Feldstecher. Das Gehäuse war schneidend kalt.

»Wo muss ich hingucken?«, fragte ich.

Er wies mit dem Kopf in Richtung des aufgestellten Schädels, den man im Scheinwerferlicht gut erkennen konnte.

»Fünfzehn …«, tönte das Megaphon von hinter den Fahrzeugen. »Zehn … Fünf … Los!«

Ein paar Sekunden lang passierte gar nichts. Dann hörte ich ein dumpfes Fauchen, und im Lichtfeld erschien ein Wolf.

Er unterschied sich deutlich von der Kreatur, in die Alexander sich verwandelte. Man hätte ihn einer anderen biologischen Art zuordnen mögen. Kleiner von Wuchs, kurzbeinig und ganz ohne die düstere Aura des blutrünstigen Räubers. Sein länglicher, tonnenförmiger Rumpf schien viel zu schwer für ein Leben in wilder Natur, zumal unter den Bedingungen der natürlichen Auslese. Dieser feiste Körper ließ an antike Ausschweifungen denken, christliche Märtyrer und römische Imperatoren, die ihre Feinde den wilden Tieren zum Fraß vorwarfen. Aber am ehesten glich er … Am ehesten glich er einem großen, gemästeten Dackel, den sie in eine Wolfshaut gesteckt hatten. Ich fürchtete, dem Drang zu lachen doch nicht widerstehen zu können. Wodurch dieser Drang nur noch übermächtiger wurde. Ich beherrschte mich mit knapper Not.

Derweil schnürte Michalytsch den Hügel hinauf und blieb neben der Stange mit dem Schädel stehen. Einen Moment ließ er sich Zeit, dann hob er die Schnauze zum Mond und begann zu heulen, wobei er die gestreckte Rute wie einen Dirigentenstab hin und her schwang.

Mich überkam dasselbe Gefühl wie bei den Transformationen Alexanders: als wäre dieser Wolfskörper nur ein Phantom oder bestenfalls ein hohler Resonanzkörper, wie der Korpus einer Geige, und alles Geheimnis läge im Klang, der von einer unsichtbar zwischen Schweif und Schnauze gespannten Saite kam. Diese Saite und ihr wildes Appassionato schienen das einzig Reale zu sein, alles Übrige nur Gaukelei … Dieser Schöpfung fühlte ich mich verwandt: Was Michalytsch hier tat, kam dem, was Werfüchse tun, recht nahe, und wie wir gebrauchte er dazu den Schweif.

Sein Geheul fuhr mir in den Schweifansatz und von da ins Bewusstsein. Ein Resonanzzustand quälender Einsichtnahme: Im Klang steckte Sinn, und ich begriff ihn. Auch wenn er sich nicht ohne weiteres in Menschensprache ausdrücken ließ – eine große Menge Wörter schwangen darin mit, schwer zu sagen, welche davon am meisten zutrafen. Ganz grob und ohne jeden Anspruch auf Exaktheit würde ich den Inhalt so wiedergeben:


»He, bunte Kuh! Kannst du mich hören, bunte Kuh? Ich bin es, der fiese alte Wolf Michalytsch flüstert dir was ins Ohr. Weißt du, was mich zu dir führt, bunte Kuh? Mein Leben ist so düster und freudlos geworden, dass ich dem Bild Gottes abgeschworen habe, um als Wolf mein eigener Herr zu sein. Und jetzt heule ich den Mond an, den Himmel und die Erde, deinen Schädel und was sonst noch ist, damit die Erde ein Einsehen hat, sich auftut und mir Öl gibt. Es gibt keinen Grund, Mitleid mit mir zu haben, das weiß ich. Hab trotzdem Mitleid mit mir, bunte Kuh. Wer, wenn nicht du, sollte es noch haben auf dieser Welt. Und du, Erde, sieh mich an, schaudere – und gib mir Öl, damit ich es für ein bisschen Geld verkaufen kann. Denn Gottes Ebenbild zu verlieren, Wolf zu werden und kein Geld zu haben – das ist unerträglich, das ist undenkbar, das wird Gott, dem ich abschwor, doch nicht zulassen …«


Der Ruf war von einer merkwürdigen, faszinierenden Kraft und Aufrichtigkeit: Michalytsch musste man nicht bedauern, doch sein Anliegen ging nach allen Grundvorstellungen, die man vom russischen Leben hat, voll in Ordnung. Er verlangte von der Welt, wenn man so sagen darf, nichts Unmögliches, alles war logisch und im Rahmen des für Russland geltenden metaphysischen Anstands. Der Schädel, den ich durch das Fernglas beobachtete, zeigte jedoch keine Reaktion.

Michalytsch heulte noch zehn Minuten weiter, es lief immer ungefähr aufs selbe hinaus. Manchmal war sein Geheul klagend, dann wieder kippte es ins Drohende, dass selbst mir die Knie davon weich wurden. Doch alles blieb unverändert. Wobei ich übrigens gar nicht wusste, was sich hätte verändern sollen und ob überhaupt – ich wartete darauf, dass etwas passierte, weil Alexander mir durch das Fernglas auf den Schädel zu gucken befohlen hatte. Doch die paar Worte, die Alexander mit dem Offizier wechselte, machten mir klar, dass Michalytsch gescheitert war.

Möglicherweise lag es an einer gewissen chemischen Künstlichkeit, die seinem Geheul anhaftete. Sie war nicht gleich zu bemerken gewesen, doch je länger er heulte, desto mehr spürte ich sie, und gegen Ende seiner Arie saß mir bereits ein unangenehmer Kloß in der Kehle.

Das Heulen brach ab, ich ließ das Fernglas sinken und sah, dass kein Wolf mehr auf dem Hügel stand, an seiner statt kauerte dort Michalytsch auf allen vieren. Im Scheinwerferlicht erschien er überdeutlich – noch die kleinste Falte seines Uniformmantels war zu erkennen. Trotz der Kälte perlte ihm der Schweiß vom Gesicht. Er erhob sich, kam langsam herunter.

»Und?«, fragte er, bei uns angekommen.

Der Offizier hob das Funkgerät ans Ohr, horchte kurz, nahm es wieder herunter.

»Keine Veränderungen«, sagte er.

»Das kommt, weil wir die Schicht hier schon zum fünften Mal anzapfen«, sagte Michalytsch. »Das zweite Mal klappt es bei mir immer. Beim dritten meistens auch noch. Aber fünfmal … Da fragt man sich, was man eigentlich noch bezweckt mit seinem Geheul.«

»Wir müssen uns was ausdenken, Leute«, sagte der Offizier in besorgtem Ton. »In der Branche läuft an fast allen Sonden die vierte Runde. Wenn wir in der fünften nichts mehr flott kriegen, haben die Atlantisten in zwei Jahren ein Homeland aus uns gemacht. Hast du eine Idee, Alexander?«

Alexander war aufgestanden.

»Sehen wir mal«, sagte er, den Blick aus halb zugekniffenen Augen auf den Schädel gerichtet als schätzte er die Entfernung ab. Dann lief er den Hang hinauf. Auf halber Strecke warf er den Mantel von den Schultern, der mit ausgebreiteten Ärmeln in den Schnee fiel.

Er geht wie Puschkin zum Duell! kam mir der Gedanke, den ich, mit einem Blick auf den Uniformmantel im Schnee, korrigierte: vielleicht auch wie d'Anthes …

Beim Stab angekommen, legte Alexander behutsam die Hände an den Schädel und drehte ihn um hundertachtzig Grad, sodass er nun genau in meine Richtung sah – ich konnte im Fernglas die leeren Augenhöhlen sehen und über der einen die Metallklammer, die einen Riss zusammenhielt. Dann kam Alexander denselben Weg wieder heruntergelaufen. Auf Höhe seines Mantels blieb er stehen, hob den Kopf himmelwärts und heulte.

Angestimmt hatte er das Geheul noch als Mensch, im Heulen aber wurde er noch schneller zum Wolf als per geschlechtlicher Erregung. Er schwankte kurz, ging ins Hohlkreuz und fiel nach hinten auf den im Schnee liegenden Mantel. Die Transformation ging so rapide vor sich, dass er im Aufprallen schon beinahe ganz Wolf war. Ohne dass das Geheul auch nur einen Moment aussetzte, wälzte dieser Wolf sich sekundenlang im Schnee, sodass eine weiße Wolke aufstob, dann sprang er auf die Pfoten.

Im Vergleich zum fassförmig-feisten Michalytsch stach ins Auge, wie gut Alexander aussah. Er war ein edles und gefährliches Tier; eines, das die Götter des Nordens sehr wohl das Fürchten lehren konnte. Sein Geheul aber war weniger grausig als das von Michalytsch. Es klang leiser, eher traurig als drohend.


»Bunte Kuh! Kannst du mich hören, bunte Kuh? Ich weiß, man muss schon sehr schamlos sein, um dich ein neues Mal um Öl zu bitten. Ich bitte auch gar nicht. Wir haben es nicht verdient. Ich weiß, du machst dir deine Gedanken über uns. Denen kann man noch so viel geben, denkst du, Chawroschetschka kriegt doch keinen Tropfen davon ab, alles fließt in den Rachen dieser Kukis-Jukies, Juxi-Puxies und wie dieses ganze Geschmeiß sich nennt, das einem die Luft und die Sonne nimmt. Du hast Recht, bunte Kuh, so wird es kommen. Aber hör mal … Ich weiß doch, wer du bist. Du bist all die, die früher hier waren. Eltern, Großeltern, Urgroßeltern und die davor und noch davor … du bist die Seele all jener, die gestorben sind im Glauben an ein Glück, das eines künftigen Tages kommen wird. Und nun ist die Zukunft eingetreten. In der die Menschen nicht mehr für ein höheres Ziel leben, sondern nur für sich selbst. Und kannst du dir vorstellen, wie das ist, nach Erdöl riechende Sashimi zu schlingen und so zu tun, als merkten wir nicht, wie unter unseren Füßen die letzten Eisschollen tauen? So zu tun, als wäre dies hier der Ort, zu dem hin tausend Jahre lang ein Volk unterwegs war, das in uns sein Ende nimmt? Wenn man es recht bedenkt, hast du als Einzige wirklich gelebt, bunte Kuh! Denn du wusstest, für wen, im Unterschied zu uns … du hattest uns, wir haben niemanden außer uns selbst. Jetzt, aber geht es dir genauso mies wie uns, weil es dir nicht mehr gegeben ist, für deine kleine Chawroschetschka als Apfelbaum zu sprießen. Dir bleibt nur noch, an irgendwelche schändlichen Wölfe Erdöl zu verteilen, damit Kukis-Jukis-Juxi-Pux ihrem Lawyer was abdrücken, der Lawyer dem Chef vom Wachschutz was abzweigt, der Chef vom Wachschutz dem Friseur was rüber schiebt, der Friseur dem Koch, der Koch dem Chauffeur, und der Chauffeur bestellt sich deine Chawroschetschka für hundertfünfzig Dollar die Stunde ins Haus … Und erst wenn sich deine Chawroschetschka nach dem Stress beim Analsex richtig ausgeschlafen und alle ihre Bullen und sonstigen Banditen ausbezahlt hat, erst dann reicht es vielleicht auch noch für einen Apfel – der du für sie so gerne gewesen wärest, bunte Kuh …«

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