»Da unter der Decke die kleine Scheibe, sehen Sie? Das ist das Fenster. Wenn die Sonne hoch genug steht, fällt ein sehr schöner Strahl herein. Ansonsten kann ich im Dunkeln ganz gut sehen.«
Er ließ noch einen Blick herumgehen.
»In den Säcken ist dein ganzer Plunder?«
»So kann man es auch nennen.«
»Das Fahrrad gehört dir?«
»Ja. Ein gutes, nebenbei gesagt. Scheibenbremsen, Carbonfasergabel …«
»Hm. Und der Computer, ist der auch aus Carbonfaser?«
»Sie werden lachen: Das ist er tatsächlich. Ein Vaio. Seltenes Modell, baut Sony nur für den japanischen Markt. Das leichteste Notebook der Welt.«
»Alles klar. Deswegen darf es auf einem Pappkarton stehen statt auf einem Tisch, ja? Ist dir das nicht peinlich, wenn Besuch kommt?«
Sein Ton begann mir auf die Nerven zu gehen.
»Wissen Sie, Wladimir Michailowitsch, wenn ich ehrlich sein soll, kann ich gar nicht sagen, was mir gleichgültiger ist: der Anblick der Dinge oder die Meinung der Leute um mich her. Das eine wie das andere gehört viel zu schnell der Vergangenheit an, als dass ich mich darüber heißmachen könnte, wie man so schön sagt.«
»Eine Pennerhütte«, zog Michalytsch seine Bilanz. »Weiß der Revierförster von dem Loch?«
»Wollen Sies ihm stecken?«
»Kommt ganz auf dein Benehmen an. Gehen wir!«
Bis zum Auto liefen wir schweigend, außer dass Michalytsch zweimal lästerlich fluchte: einmal, als er sich durch einen Spalt zwischen zwei Sperrholzplatten zwängen musste, das zweite Mal beim Tauchen durch ein Absperrgitter.
»Könnten Sie bitte das Fluchen sein lassen?«, bat ich.
»Ich hab mir den Ärmel zerrissen! Wie kommst du hier mit deinem Fahrrad durch, sag mal?«
»Ich lasse es im Sommer draußen stehen, ganz einfach. Wer kriecht schon bis hier rein.«
»Das ist wahr«, sagte er.
Das Auto stand außerhalb des Stadiongeländes. Man durfte also hoffen, dass Michalytschs Besuch unbemerkt geblieben war. Obwohl: Was machte das aus? Die Leute in der Umgebung würden noch in hundert Jahren nichts gemerkt haben. Michalytsch und seine Firma hingegen waren nun im Bilde. Die bekam ich nicht so leicht wieder los. Werd mir wohl wieder eine neue Bleibe suchen müssen, dachte ich. Das hatten wir schon …
Wir waren schon ein Stück gefahren, da hielt Michalytsch mir plötzlich eine langstielige rote Rose hin. Ich hätte nicht sagen können, wo und wie er sie hervorgezogen hatte, so überraschend geschah es. Die Blüte hatte sich erst vor kurzem geöffnet, man sah noch die Tautropfen glänzen.
»Danke«, sagte ich und nahm die Blume entgegen. »Sehr aufmerksam. Aber lassen Sie sich gesagt sein, dass zwischen uns beiden bestimmt nichts …«
»Die ist nicht von mir«, fiel er mir ins Wort. »Der Chef bat sie zu überreichen. Damit du unterwegs drüber nachdenken kannst, was sie bedeutet, hat er gesagt.«
»Gut«, sagte ich, »wird gemacht. In was für einem Gerät haben Sie mich eigentlich gesehen?«
Er griff sich in die Jacketttasche und zog einen kleinen Apparat hervor, eine Art Zigarettenetui mit Display, wie bei einer Digitalkamera. Das Etui hatte mehrere Knöpfe, sah ansonsten eher nichtssagend aus.
»Ein Peilgerät.«
»Und was peilt es?«
»Signale. Gib mal deine Handtasche.«
Ich reichte sie ihm. An der nächsten Ampel ergriff er ihren Riemen, drehte ihn um und zeigte mir einen kleinen Kreis aus dunkler Folie, kleiner als ein Kopekenstück. Sehr dünn, mit Klebeschicht. Ich hätte ihn nie bemerkt oder für irgendein Firmenlabel gehalten.
»Wann haben Sie mir das angeklebt?«
»Wie wir ins Zimmer gingen, um Champagner zu trinken«, sagte er und grinste.
»Und wozu? Bin ich denn dermaßen interessant für euch?«
»Ach, doch«, sagte er. »Aber das ist nicht mehr mein Job. Der Chef übernimmt. Er wird dir auf die Schliche kommen, verlass dich drauf. Da haben wir schon ganz andere durchschaut. Ich hab ihm übrigens gesagt, was du so treibst.«
Was hier vor sich ging, war entschieden nicht mehr nach meinem Geschmack. Doch es war bereits zu spät, mich abzuseilen: Wir näherten uns dem Haus, das ich schon kannte. Das Auto überquerte den Hof und fuhr in das Metalltor der Garage ein, das sich umgehend wieder schloss und uns von der Außenwelt abschnitt.
»Steig aus, wir sind da.«
Als Michalytsch nach draußen gekrochen war, legte ich die Rose auf seinen Sitz: Der dicke, dornige Stiel hob sich in der Farbe kaum ab, es bestanden gute Aussichten, dass Michalytsch seinen kräftigen Hintern mit Schwung darauf niedergehen ließ.
»Schuhe ausziehen«, sagte er, als ich ausgestiegen war.
»Was denn, gehts zur Hinrichtung?«
»Das werden wir sehen«, brummte er. »Dort vorne am Fahrstuhl sind Hausschuhe.«
Ich schaute mich um. Das kreisrunde Loch in der Decke, die Eisenstange, die Wendeltreppe – es war der Ort, den ich schon kannte. Doch jetzt brannte Licht in der Garage, und ich sah die Fahrstuhltür, die ich beim letzten Mal nicht bemerkt hatte. Davor standen mehrere unterschiedliche Paar Hausschuhe. Ich wählte ein Paar blaue Latschen mit runden Pompons, weil sie einen so rührend hilflosen Eindruck machten: Wer ihre Trägerin kränkte, musste ein Unmensch sein.
Die Fahrstuhltür öffnete sich, Michalytsch ließ mir mit einer Geste den Vortritt. Am Schaltbrett zwei große dreieckige Knöpfe, zusammen bildeten sie einen Rhombus. Michalytsch drückte das obere Dreieck, und der Fahrstuhl riss uns mit mächtigem Ruck vom Erdboden los.
Als die Tür Sekunden später wieder aufging, schlug mir von allen Seiten grelles Licht in die Augen. Inmitten des Gleißens und Regenbogenflimmerns stand Alexander. Er trug Uniform, ein Gazeschleier verbarg sein Gesicht.
»Grüß dich, Ada«, sagte er. »Herzlich willkommen. Nein, entschuldige, Michalytsch – du bist nicht eingeladen. Heute würdest du stören …«
Das Penthouse war mir schon beim ersten Besuch aufgefallen, nur dass ich es nicht für ein solches gehalten hatte – von unten sah es aus wie der dunkle Druckknopf auf einem Riesenbetonbleistift. Es hätte ein Aufbau für die Fahrstuhlmotoren sein können, irgendein technischer Nebenraum, eine Boilerkammer vielleicht. Doch wie sich herausstellte, waren diese türkisfarbenen Wände von innen her durchsichtig.
Ich hatte dies noch nicht recht begriffen, da dunkelten die Wände vor meinen Augen ein, bis sie wie grünes Flaschenglas wirkten. Eben noch hatte ich in die Sonne geblinzelt, nun, binnen Sekunden, erstand vor meinen Augen eine komplette Wohnungseinrichtung, die vorher wegen des blendenden, auf eine Vielzahl von Spiegelflächen treffenden Sonnenlichts nicht zu sehen gewesen war.
Später erfuhr ich, dass es sich um eine teure technische Spielerei handelte: Die Transparenz der Wände wurde durch spezielle computergesteuerte Flüssigkristallfolien reguliert. Doch beim Eintreten glaubte ich an ein Wunder.
Wunder aber stimmen mich seit je ironisch, um nicht zu sagen: arrogant.
»Grüß dich, Alex«, sagte ich. »Was ist das denn für ein Budenzauber? Reicht dein Geld nicht für normale Gardinen?«
Er war verdutzt. Fing sich aber in kürzester Zeit und lachte.
»Alex!«, sagte er. »Das find ich gut… Na klar: Wenn du jetzt Ada bist, muss ich wohl Alex sein.«
Sein hellgrauer Uniformrock mit den zwei Knopfleisten und den Schulterklappen eines Generalleutnants, dazu die dunkelblauen Hosen mit den breiten roten Biesen – es wirkte ein bisschen operettenhaft. Im Nähertreten hob er den Gazeflor vom Gesicht, blinzelte und sog tief Luft ein. Mich interessierte, wozu er das immer machte, traute mich aber nicht zu fragen. Als er die Augen wieder öffnete, fiel sein Blick auf meine Ohrringe.
»Hübscher Einfall!«, sagte er.
»Nicht wahr? Dass die Steine verschieden sind, ist der Clou. Gefällt es dir?«
»Gefällt mir gut… Hat Michalytsch dir die Blume gegeben?«
»Hat er«, sagte ich. »Und ich soll überlegen, was die Botschaft sein könnte. Ist mir aber nichts dazu eingefallen. Vielleicht kannst du es mir selber sagen?«
Er kratzte sich am Kopf. Die Frage schien ihn verlegen zu machen.
»Kennst du das Märchen von der feuerroten Blume?«
»Welches meinst du?«, fragte ich.
»Ich denke, da gibt es nur eins.«
Er deutete mit dem Kopf in Richtung seines Schreibtischs, auf dem ein Computerflachbildschirm und eine kleine silberne Statue standen. Neben der Statue lag ein Buch mit mehreren Lesezeichen. Russische Märchen stand in verschlissenen roten Buchstaben auf dem Einband.
»Das Märchen hat der Schriftsteller Sergej Aksakow aufgeschrieben«, sagte er. »Seine Haushälterin Pelageja hat es ihm erzählt.«
»Worum geht es?«
»Um die Schöne und das Biest.«
»Und was spielt das Blümlein für eine Rolle?«
»Damit fängt alles an. Du kennst das Märchen tatsächlich nicht?«
»Nein.«
»Es ist lang, aber auf den Punkt gebracht geht es so, dass ein schönes Mädchen den Vater bittet, er soll ihr eine rote Blume bringen. Der Vater findet eine in einem Zaubergarten, ein gutes Ende weg, und pflückt sie. Aber der Garten wird von einem schrecklichen Ungeheuer bewacht. Es schnappt sich den Vater des schönen Mädchens. Damit er freigelassen wird, muss das Mädchen selbst in Gefangenschaft zu dem Ungeheuer gehen. Das Ungeheuer ist äußerlich hässlich, doch herzensgut. Das Mädchen verliebt sich in das Ungeheuer, erst wegen seiner Güte und später überhaupt. Und als sie sich zum ersten Mal küssen, wird der magische Zauber aufgehoben, und aus dem Ungeheuer wird ein schöner Prinz.«
»Ah ja«, sagte ich. »Ist dir wenigstens klar, worum es da geht?«
»Aber ja.«
»Nämlich?«
»Darum, dass die Liebe stärker als alles ist.«
Ich musste lachen. Witziger Typ! Vermutlich hat er mehrere große Gangster umgelegt, einen Bankier um die Ecke bringen lassen, nun hält er sich in typisch menschlicher Selbstüberschätzung für ein Ungeheuer. Und meint, die Liebe könnte ihn leiten.
Er nahm mich beim Arm und führte mich zu einem futuristischen Sofa, das zwischen zwei mit winzigen Lauben, Brückchen und sogar Wasserfällen ausgestatteten Bonsaibauminseln stand.
»Worüber lachst du?«, fragte er.
»Das kann ich dir erklären«, sagte ich, während ich mich im Schneidersitz auf dem Sofa niederließ.
»Da bin ich aber gespannt.«
Er setzte sich ans andere Sofaende und schlug die Beine übereinander, sodass der Rand der Revolvertasche unter dem Rocksaum hervorschaute.
»Es ist eines jener Märchen, die den Schmerz und das Erschrecken der Frau bei ihrer ersten sexuellen Erfahrung wiedergeben«, begann ich. »Solche Geschichten gibt es viele. Die du erzählt hast, scheint ein klassisches Beispiel zu sein. Eine Metapher dafür, wie die Frau das animalische Wesen des Mannes entdeckt und zugleich ihre eigene Macht über dieses Tier in ihm. Und die kleine rote Blume, die der Vater pflückt, ist ein so unverhohlenes Deflorationssymbol, noch dazu angereichert mit dem Thema Inzest, ich kann mir kaum vorstellen, dass es einer Haushälterin über die Lippen gekommen sein soll. Wahrscheinlich hat es sich ein Wiener Assistent zu Anfang des vorigen Jahrhunderts ausgedacht, um seine Diplomarbeit damit auszuschmücken. Das Märchen, die Haushälterin Pelageja, der Schriftsteller Aksakow – alles seine Erfindung. Zu der Zeit nannte man diese Pelagejas übrigens noch Beschließerinnen. Also mit Schlüsselgewalt. Und nicht nur ein Schlüssel, viele an einem Ring. Muss ich noch deutlicher werden?«
Während ich sprach, hatte sich Alexanders Miene immer mehr verdüstert.
»Wo hast du das denn aufgeschnappt?«, fragte er.
»Das sind Binsenweisheiten. Jeder kennt sie.«
»Und du glaubst das?«
»Was denn?«
»Dass dieses Märchen nicht vom Triumph der Liebe handelt, sondern davon, wie die Defäkation sich ihrer Macht über den Inzest bewusst wird?«
»Defloration«, korrigierte ich ihn.
»Egal. Dieser Meinung bist du?«
Ich überlegte.
»Ich … bin überhaupt keiner Meinung. Das ist der moderne Märchendiskurs.«
»Und deswegen denkst du, wenn du eine rote Rose geschenkt bekommst, an Defäkation und Inzest?«
»Wie kommst du darauf?«, erwiderte ich ein bisschen aus der Fassung geratend. »Wenn ich eine rote Rose geschenkt bekomme, dann … dann freue ich mich einfach.«
»Na Gott sei Dank«, sagte er. »Und was diesen modernen Diskurs anbelangt, da wird es höchste Zeit, dass man den mit einem Pfahl aus Espenholz in den verkoksten und zugepeppten Arsch zurücktreibt, der ihn ausgeschissen hat.«
Eine derart rustikale Verallgemeinerung überraschte mich.
»Wieso?«
»Wieso? Damit er die kleine rote Blume nicht besudelt.«
»Gut«, sagte ich, »das mit dem Koks kann ich noch verstehen. Anspielung auf Doktor Freud und sein kleines Laster, nehme ich an? Aber zugepeppt?«
»Das kann ich dir erklären«, äffte er mich, gleichfalls in den Schneidersitz gehend, nach.
»Da bin ich aber gespannt.«
»Die Diskurserfinder, diese ganzen französischen Papageien, sind alle auf Amphetamin. Abends fressen sie Barbiturate, um einzuschlafen, und früh fangen sie den Tag mit Amphetaminen an, um sich die Barbiturate aus dem Hirn zu sprengen. Und später fressen sie noch mal welche, um so viel Diskurse wie möglich rauszuhauen, ehe sie wieder anfangen, Barbiturate zu fressen, damit sie einschlafen können. Da hast du den ganzen Diskurs. Ist dir das etwa neu?«
»Woher stammen die Informationen?«
»Wir hatten in der FSB-Akademie eine Weiterbildung über die psychedelische Kultur der Neuzeit. Gegengehirnwäsche … Ach so: Schwul sind sie auch alle. Falls du dich fragst, wieso in den Arsch.«
Das Gespräch nahm keinen guten Verlauf, es wurde Zeit, das Thema zu wechseln. Dies tue ich am liebsten rasch und entschieden.
»Du, Alexander«, sagte ich. »Erklär mir doch bitte mal, was ich hier eigentlich soll. Willst du mich ficken oder umerziehen?«
Er zuckte zusammen, als hätte ich eine Ungeheuerlichkeit von mir gegeben, sprang vom Sofa und fing an, vor dem Fenster auf und ab zu gehen – falls man das nun wieder transparente Rechteck in der Wand so nennen wollte.
»Legst du es darauf an, mich zu schockieren?«, fragte er. »Das musst du nicht. Ich weiß, dass sich unter deinem gekünstelten Zynismus eine reine, verletzliche Seele verbirgt.«
»Gekünstelter Zynismus? Bei mir?«
»Zynismus ist nicht das richtige Wort«, sagte er und blieb stehen. »Leichtsinn. Unverständnis für die wesentlichen Dinge des Lebens, mit denen du spielst wie ein kleines Kind mit einer Granate. Lass uns offen miteinander reden. Zur Sache.«
»Von mir aus.«
»Du sprichst vom animalischen Wesen des Mannes, dem Schrecken der ersten Paarung … Das sind düstere, furchtbare Dinge. Mir selbst wird manchmal angst und bange, wenn ich in diese Abgründe schaue …«
Mir selbst. Nein, er war wirklich lustig!
»Du dagegen urteilst darüber, als wären es Peanuts. Hast du denn gar keine Angst vor dem Tier im Manne? Vor dem Mann im Tier?«
»Keine Spur«, sagte ich. »Michalytsch hat dir doch gesagt, wer ich bin. Oder nicht?«
Er nickte.
»Na also. Wenn ich solche Probleme hätte, könnte ich nicht arbeiten.«
»Und die Nähe des fremden Körpers, so groß und ungeschlacht und eigenen Gesetzen folgend – das alles schreckt dich gar nicht?«
»Ich bete es an«, sagte ich und lächelte.
Er sah herüber, schüttelte argwöhnisch den Kopf.
»Ich meine, die physische Nähe? Im profansten Sinn des Wortes?«
»Für geistige Nähe erhebe ich einhundertfünfzig Prozent Aufschlag. Wie lange wollen wir noch auf dem Thema rumkauen? Palaverst du immer so ausführlich vor dem Ficken?«
Er verzog das Gesicht.
»Ich möchte nicht, dass du mit mir redest wie mit einem Gangster. Macht das die Uniform, oder wie?«
»Könnte sein. Probier es und zieh sie aus. Die Hosen gleich mit.«
»Hör mal, wieso kannst du nicht…«
»Gefalle ich dir denn kein bisschen?«
Ich neigte den Kopf und sah ihn schmollend von unten her an: Augen etwas zusammengekniffen, Lippen leicht geschürzt. An diesem Blick habe ich mehr als tausend Jahre gefeilt, ihn beschreiben zu wollen ist müßig. Hausmarke, eine lupenreine Provokation: Unschuld und Schamlosigkeit in einem Flakon, eine panzerbrechende Melange, die den Kunden glatt durchschlägt und im Zurückprallen noch mal erwischt. Die einzige mir bekannte Möglichkeit, sich vor einem solchen Blick zu schützen, ist, woanders hinzusehen. Alexander sah mir in die Augen.
»Und ob du mir gefällst!«, sagte er, und sein Kopf zuckte nervös.
Ich merkte, dass der kritische Moment gekommen war. Wenn ein Kunde so mit dem Kopf zuckt, ist das ein Zeichen dafür, dass die Kontrollzentren in seinem Hirn zu versagen beginnen, sodass er sich jeden Moment auf dich stürzen kann.
»Ich müsste mal kurz verschwinden«, sagte ich und erhob mich. »Wo ist bei dir das Bad?«
Er zeigte auf eine runde Wand aus durchscheinendem blauem Glas. Eine Tür gab es nicht – nur einen schneckenartig nach innen sich windenden Gang.
»Bin gleich wieder da.«
Kaum war ich drinnen, holte ich tief Luft.
Es war schön hinter dieser Wand. Goldene Sterne auf tiefblauem Grund und die Wanne in Perlmutt gefasst, wie in den pompejischen Thermen – vielleicht hatte der Raumgestalter dieses Motiv bewusst zitiert. Der Hausherr wusste bestimmt nichts davon.
Ganz schön waghalsig, einen Kunden dermaßen hochkochen zu lassen!, dachte ich mir. Irgendwann nimmt das noch mal ein böses Ende. Wer weiß, vielleicht drückt sich dieser Alexander ja auch irgendwas, so wie Michalytsch, oder schluckt Pillen? Dass er die ganze Zeit so komisch in der Luft herumschnuppert, wird seinen Grund haben …
Ich zog die Jeans aus, legte sie auf den Boden, schüttelte den Schweif auf und besah mich im Spiegel. Mein Stolz glich einem japanischen Fächer, mit rotem Pinsel bemalt. Schön. Noch dazu vor diesem blaugoldenen Hintergrund, ein märchenhafter Anblick. Ich fühlte mich im Vollbesitz meiner Kräfte wie nie zuvor: Sprudelte über vor Energie, es fehlte nicht viel, und aus den Grannen meines Schweifes wären kleine Kugelblitze geschossen. Eine komische russische Redewendung fiel mir ein: den Schwanz wie eine Pistole halten – den Mut nicht sinken lassen, soll das heißen. Keine Ahnung, wer das aufgebracht hat, da dürften Werfüchse die Hand im Spiel gehabt haben. Nun denn! sagte ich mir. Attacke!
Kurz vor dem Ausgang ging ich sozusagen in den Startblock. Atmete noch ein paarmal durch, passte die einzig richtige Millisekunde ab, in der alle Fasern deines Körpers: jetzt! rufen – und schoss wie ein Tornado aus dem Badezimmer.
Von da an blieb zum Denken keine Zeit mehr. Ich bremste ab, schwenkte den Hintern in die Zielrichtung, stemmte Hände und Füße kräftig gegen den Boden und ließ den Schweif über den Kopf schnellen. In einer der Spiegelflächen konnte ich mich kurz sehen: Ich glich einem kampfbereiten, furchterregenden roten Skorpion … Alexander hob den Blick, und bevor sein Lid auch nur zucken konnte, landete mein Schweif einen kontrollierten, zielgenauen Schlag mitten ins Zentrum seines Hirns.
Er versuchte die Augen mit der Hand zu schützen wie vor der blendenden Sonne. Dann ließ er die Hand wieder sinken, unsere Blicke trafen sich. Irgendetwas stimmte nicht. Mein Schweif kam nicht an bei ihm – und dabei stand er nur ein paar Schritte entfernt von mir und blickte auf mich, als könnte er nicht glauben, dass es so etwas Schönes gibt auf der Welt.
»Adèle«, flüsterte er, »mein Liebes …«
Was nun losging, war die Hölle.
Er schwankte, gab einen grässlichen Heullaut von sich – und kam buchstäblich aus seinem Körper gefallen: wie eine Knospe in wenigen Sekunden zu einer gruseligen, zottigen Blüte aufplatzt. Wie sich herausstellte, war der Mensch mit Namen Alexander nicht mehr als eine Zeichnung an der Pforte zur Unterwelt. Jetzt ging diese Pforte auf, und der, welcher mich schon geraume Zeit durchs Schlüsselloch beobachtet hatte, sprang heraus.
Vor mir stand ein Monster zwischen Mensch und Wolf, mit aufgerissenem Rachen und stechend gelben Augen. Zuerst dachte ich, Alexanders Kleider wären verschwunden. Dann sah ich, sie hatten sich mitverwandelt: Den Rumpf bedeckte ein asch-graues Fell, die Hinterpartien waren dunkler, an den Läufen konnte man die Biesen als verschwommene Spur noch erkennen. Auf der Brust des Tieres gab es einen länglichen Fleck, einer leicht verrutschten Krawatte ähnlich. Und als ich den Blick senkte, packte mich das blanke Entsetzen. Wie es dort unten bei einem erregten Wolf ausschaut, hatte ich noch nie gesehen. Ein aulgerissener Rachen war nichts dagegen.
In dem Moment merkte ich, dass ich immer noch auf allen vieren war, mit erhobenem Schweif, den schutzlosen Po in seine Richtung reckend. Schutzlos insofern, dass meine Antenne nicht funktionierte und ich also nicht wusste, wie und womit meinem Gegenüber Einhalt zu gebieten war. Wie meine Pose bei ihm ankommen musste, ließ sich denken, doch ich war gelähmt – anstatt wegzuspringen, blickte ich wie gebannt über meine Schulter zu ihm hin. So geschieht es in manchen Träumen: Man müsste weglaufen, bleibt aber kleben, bekommt die bleiernen Füße einfach nicht vom Fleck. Nicht einmal das idiotische Grinsen vermochte ich mir vom Gesicht zu wischen – wie ein am Tatort ertappter kleiner Dieb.
»R-r-rrra-rrrrah!«, machte er. »R-r-r-r-rrau-u-uh!«
»He, Kumpel, wart mal«, stammelte ich, »ich kann dir das alles erklären …«
Knurrend machte er einen Schritt auf mich zu.
»He, untersteh dich, Alter, hörst du, lass dir das ja nicht einfallen, ich meine es ernst, halt dich zurück …«
Er fiel weich auf seine Vorderpfotenhände und tat einen weiteren Schritt. Es brauchte andere Worte, ganz andere, und zwar schnell. Woher nehmen?
»Du, hör mal … Lass uns das in Ruhe bereden, ja?«
Er fletschte die Zähne und hob seinen grauen Schweif, was der Aktivpositur meines eigenen beinahe ganz entsprach.
»Immer mit der Ruhe, mein kleiner Grauer, du musst nichts übereil-…«
Er sprang, und für einen kurzen Moment schien es mir, als zöge eine schwere, bedrohlich tiefhängende graue Gewitterwolke vor die Sonne. Im nächsten Augenblick fiel diese Wolke auf mich.
Ich lag auf dem Sofa (es war mit etwas bezogen, was die Haut eines Albinomammuts hätte sein können) und heulte ins Kissen. Ich wusste selbst nicht, wo die vielen Tränen herkamen, das Kissen war von beiden Seiten nassgeheult.
» Ada «, rief Alexander und legte mir die Hand auf die Schulter.
»Hau ab, du Scheusal«, schluchzte ich, seine Hand abschüttelnd.
»Verzeih«, sagte er zaghaft, »ich wollte dir nicht…«
»Du sollst verschwinden, hab ich gesagt! Fieser Kerl!«
Schon wieder schossen mir die Tränen aus den Augen. Es vergingen ein, zwei Minuten, ehe er es erneut wagte, mich an der Schulter zu berühren.
»Ich hatte dich dreimal gefragt«, sagte er.
»Soll das ein Witz sein?«
»Wieso. Ich hatte davon gesprochen. Vom animalischen Körper, von der physischen Nähe. Etwa nicht?«
»Wie hätte ich ahnen sollen, worum es geht?«
Er zuckte die Schultern.
»Der Geruch zum Beispiel hätte es dir sagen können.«
»Werfüchse können nicht gut riechen.«
»Ich wusste bei dir jedenfalls gleich Bescheid«, sagte er, während er mir unbeholfen die Hand streichelte. »Erstens duften Menschen nicht so. Und zweitens hat Michalytsch mir die Ohren vollgesäuselt: Genosse Generalleutnant, ich hab ein Video gesehen – mit dem Girl müssen wir was unternehmen. Die hockt da auf allen vieren mit tückischem Blick, solche ungeheuerlichen Augen hab ich im Leben noch nicht gesehen, und am Rücken eine große rote Linse, mit der hat sie unserem Fachberater ein Loch ins Hirn gebrannt! Ein gelenkter Strahl und er ist abgedreht … Erst dachte ich, dem Michalytsch ist das Blech jetzt ganz weggeflogen von seinem Ketamin. Aber dann hab ich mir den Mitschnitt angeguckt, und ich muss zugeben … Deinen Schweif hat er für eine Linse gehalten!«
»Was denn für einen Mitschnitt?«
»Dein Kunde, den du bis aufs Blut gepeitscht hast, war dabei, ein Amateurporno aufzunehmen. Versteckte Kamera.«
»Wie bitte? Sag bloß noch, an dem Tag, wo ich's ihm umsonst gemacht habe?«
»Woher soll ich das wissen? Das müsst ihr unter euch ausmachen … Kaum dass er wieder bei Bewusstsein war, kam er mit der Kassette angelaufen.«
»Scheißintelligenzija!«, konnte ich nicht an mich halten.
»Tja, die feine Art ist das nicht«, stimmte Alexander zu. »Aber so sind die Menschen. Hat Michalytsch dir denn die Fotos nicht gezeigt? Er hat einen ganzen Ordner voll davon, hat extra Abzüge machen lassen für das Gespräch mit dir.«
»Dazu ist er nicht gekommen … Heißt das, die ganzen Scheußlichkeiten, die du gerade mit mir angestellt hast, kriegt hinterher wieder Michalytsch zu sehen, ja?«
»Sei ganz beruhigt, Liebes, bei mir gibt es keine einzige Kamera.«
»Nenn mich nicht Liebes, Wolfshund, blutrünstiger!«, schluchzte ich. »Dreckiger, perverser Rüde! So was hat mir in den letzten« – mir kam die Eingebung, lieber keine Zeiträume zu nennen – »hach, in meinem ganzen Leben keiner angetan. Solche Schweinereien!«
Er zog den Kopf zwischen die Schultern, als hätte er eins mit dem nassen Lappen abbekommen. Interessant: Mein Schweif ließ ihn kalt, dafür wirkten meine Worte anscheinend umso mehr. Ich beschloss, diesen Sachverhalt zu testen.
»Ausgerechnet dort. Am Zartesten, Empfindlichsten, was ich habe!«, beklagte ich mich. »Du hast mir alles zerfetzt mit deinem riesigen Gemächt. Das werd ich wohl kaum überleben …«
Er erbleichte, knöpfte sich den Uniformrock auf und zog eine mächtige, vernickelte Pistole aus dem Holster. Ich erschrak, weil ich dachte, er wollte mich abknallen wie Robert de Niro bei Tarantino seine lästige Gesprächspartnerin – aber das war gottlob eine Fehleinschätzung.
»Wenn dir was passiert«, sprach er voller Ernst, »dann jage ich mir eine Kugel in den Kopf.«
»Steck das Ding weg. Steck es weg, sag ich. Du jagst dir eine Kugel in deinen blöden Kopf, und was dann? Was, glaubst du, hab ich davon? Ich hatte dich gebeten, Abstand zu nehmen!«
»Ich dachte, du kokettierst nur«, sagte er leise.
»Ich kokettiere?? Hat ein Ding, dreimal dicker als diese Pistole, und denkt, ich kokettiere! Hier geht's ums Überleben, Mann! … Dabei lernen das die Kinder heute schon in der Schule: Wenn ein Mädchen nein sagt, dann bedeutet es nein und nicht etwa ja oder ach, ich weiß nicht! Um den Punkt drehen sich im Westen alle Vergewaltigungsprozesse! Habt ihr das in eurer FSB-Akademie nicht erklärt bekommen?«
Er schüttelte deprimiert den Kopf und konnte nicht aufhören damit. Ein trauriger Anblick. Ich spürte, dass ich einlenken musste. Man konnte den Bogen auch überspannen. Tarantino, das war keine ganz abwegige Assoziation.
»Hast du Jod und Verbandszeug?«, fragte ich mit schwacher Stimme.
»Ich schicke Michalytsch«, sagte er und sprang auf.
»Bloß nicht! Das fehlte mir noch, dass dein Michalytsch sich über mich amüsiert… Kannst du nicht selber schnell zur Apotheke laufen?«
»Natürlich.«
»Und dein Michalytsch soll sich ja nicht hier blicken lassen in deiner Abwesenheit. Ich möchte nicht, dass er mich in dem Zustand vorfindet.«
Alexander war schon am Fahrstuhl.
»Ich beeile mich. Sei tapfer.«
Die Tür schloss sich hinter ihm, ich konnte endlich aufatmen.
Dass Werfüchse keine Geschlechtsteile haben, wie man sie von Menschen kennt, erwähnte ich bereits. Unterhalb unseres Schweifes gibt es jedoch eine rudimentäre Höhle; es handelt sich um eine dehnbare Hautfalte, die mit keinem anderen Organ zusammenhängt. Im Normalzustand nur ein winziger Schlitz, wie die Blase in einem prall aufgeblasenen Ball; doch wenn uns Angst befällt, dehnt sich die Falte und wird ein wenig feucht. Ihr kommt in unserer Anatomie ungefähr die gleiche Rolle zu, die ein gewisser Plastikhohlzylinder in der Ausrüstung eines Affenpflegers im Zoo spielt.
Bei den Primaten sind nämlich die gleichen Herrschaftstechniken üblich wie im kriminellen beziehungsweise politischen Milieu: Jene Männchen, die das Heft in der Hand haben, pflegen diejenigen, die einen ihrer Meinung nach ungerechtfertigt hohen Status beanspruchen, rituell zu erniedrigen. Manchmal finden sich unversehens auch Außenstehende: Elektriker, Laboranten (ich spreche von Affenzuchtbetrieben) usw., in dieser Rolle wieder. Um für einen solchen Zwischenfall gewappnet zu sein, tragen die Angestellten besagten Plastikhohlzylinder, an Riemen befestigt, zwischen den Beinen. »Schwanzfänger« ist die wunderbare Bezeichnung dafür. Er bietet eine gewisse Sicherheitsgarantie: Wird man von einem Männchen in einem Anfall von sozialem Gerechtigkeitsgefühl besprungen, muss man nichts weiter tun, als sich nach vorn zu beugen und geduldig die paar Minuten zu warten, bis alle Entrüstung des Primaten in den Zylinder abgeleitet ist; anschließend darf man seiner Wege gehen.
Dies durfte nun also auch ich.
Meine Wege führten mich ins Badezimmer, wo ich als Erstes eine Schadensaufnahme an meinem Körper durchführte. Davon abgesehen, dass die rudimentäre Höhle unter dem Schweif wund gerieben war, hatte ich Glück gehabt. Allerdings schmerzte mir der Hintern, als hätte ich eine Stunde auf dem Rücken eines durchgegangenen Pferdes zugebracht (dies traf es ja auch ziemlich genau); eine Verletzung konnte man das nicht nennen. Die Natur hat die Werfüchse für das Zusammentreffen mit Werwölfen ausgerüstet.
Doch ahnte ich, dass zumindest ein Bad in der Perlmuttwanne unumgänglich war – und tatsächlich: Der Schweif in seiner ganzen Länge wie auch Bauch, Rücken und Beine klebten von dem ekligen Wolfsseim, den ich mit Hilfe von Shampoo sorgfältig auswusch. Dann föhnte ich meinen Schweif rasch trocken und zog mich an. Ich hatte die Idee, dass es nicht schaden konnte, in dieser Wohnung ein bisschen herumzuschnüffeln.
Doch es gab herzlich wenig zu beschnüffeln in diesem leeren Luxushangar. Weder Schränke noch Kommoden oder Schubladen. Alle Türen in irgendwelche Nebenzimmer waren verschlossen. Nichtsdestoweniger machte ich ein paar interessante Funde.
Auf dem Schreibtisch neben dem eleganten Computerbildschirm stand ein Gegenstand aus gediegenem Silber, den ich zuerst für eine Statuette gehalten hatte. Bei näherem Hinsehen entpuppte sich das Ding als Zigarrenabschneider. Es stellte Monica Lewinsky dar, wie sie, auf der Seite liegend, ein Hebelbein in die Luft streckte; wenn man darauf drückte (ich konnte der Versuchung nicht widerstehen), wurde nicht nur die Guillotine zwischen ihren Schenkeln in Gang gesetzt, es schoss ihr auch ein blau züngelndes Flämmchen aus dem offenen Mund. Klasse Spielzeug. Nur die Stars&Stripes, die Monica in der Hand hielt, fand ich übertrieben. Manchmal genügt eine Winzigkeit, und die Erotik kippt in kitschigen Agitprop.
Die silberne Monica beschwerte einen dicken Schnellhefter. In ihm ein Stoß verschiedenster Papiere.
Obenauf lag, nach dem schweren Glanzpapier zu urteilen, eine herausgetrennte Seite aus einem Kunstbildband, von der mir ein riesiger gelbäugiger Wolf entgegenblickte, der auf seiner Brust eine F-förmige Rune trug. Es war die Reproduktion einer Skulptur aus Holz und Bernstein. (Letzterer für die Augen.) Die Bildunterschrift lautete: FENRIS, Sohn des Loki, Riesenwolf, der die Sonne über den Himmel jagt. Holt Fenris sie ein und frisst sie, ist Ragnarök. Fenris ist an Ragnarök gebunden. Zu Ragnarök tötet er Odin und wird von Vidar getötet.
Aus dem Text ging nicht hervor, wie Fenris die Sonne einholen und fressen will, wo er doch an Ragnarök gebunden ist, dieses aber erst eintritt, wenn er die Sonne eingeholt und gefressen hat. Doch es könnte gut sein, dass unsere Welt überhaupt nur solcher Fehlkopplungen wegen fortexistiert: wenn man daran denkt, wie viele sterbende Götter sie schon verflucht haben.
Wer Fenris war, das wusste ich noch. Es war das gräulichste Geschöpf im nordischen Bestiarium, Hauptfigur in der isländischen Mythologie: ein Wolf, dem es vorbehalten blieb, nach Stilllegung des nordischen Projekts – Stichwort: Götterdämmerung – die Protagonisten aufzufressen. Man konnte nur hoffen, dass Alexander sich nicht gar zu sehr mit diesem Wesen identifizierte und das gelbäugige Ungeheuer hier nur ein unerreichbares ästhetisches Idealbild war, so wie Schwarzeneggers Foto über dem Bett des Bodybuilding-Anfängers.
Es folgte eine Buchseite mit der Miniatur Ragnarök von Jorge Luis Borges. Diesen Text kannte ich, er hatte mich mit seiner traumwandlerischen Präzision beeindruckt, seiner ungeheuerlichen Zuspitzung auf das Wesentliche. Der Erzähler und sein Kollege werden Zeugen einer seltsamen Prozession: Die Götter kehren aus jahrhundertelanger Verbannung zurück. Eine Woge menschlicher Huldigung trägt sie bis auf die Bühne eines Saales. Sie sehen sonderbar aus:
Einer trug einen Zweig, der sicherlich der einfachen Botanik der Träume entsprach; ein anderer streckte mit weit ausholender Gebärde eine Hand aus, die eine Klaue war; eines der Gesichter des Janus blickte argwöhnisch auf den gekrümmten Schnabel des Thoth.
Hier hat der Faschismus im Traum seinen Widerhall. Aber nun wird es erst richtig interessant:
Vielleicht aufgestachelt durch unseren Applaus brach einer, ich weiß nicht mehr welcher, in ein siegreiches Gekräh aus, unglaublich schrill, mit einem Röcheln und Zischen darin. Von diesem Moment an veränderten sich die Dinge.
Im Weiteren war der Text dicht mit Anmerkungen versehen. Stellen waren unterstrichen, andere in Ausrufezeichen gesetzt, manche sogar umrahmt – offenbar zur emotionalen Abstufung:
Alles begann mit dem (vielleicht übertriebenen) Verdacht, die Götter seien der Sprache nicht mächtig. Das gehetzte und verwilderte Leben von Jahrhunderten hatte das Menschliche an ihnen verkümmern lassen; der Halbmond des Islam und das Kreuz Roms waren mit diesen Flüchtlingen unbarmherzig umgegangen. Sehr niedrige Stirnen, gelbe Zahnreihen, spärliche Mulatten- oder Chinesenschnurrbärte und tierische Lefzen verrieten die Entartung der olympischen Sippe. Ihre Kleidung entsprach nicht einer mit Würde und Bescheidenheit getragenen Armut, sondern dem gemeinen Luxus der Spielhöllen und Bordelle der Unterwelt. In einem Knopfloch blutete eine Nelke; unter einer eng anliegenden Jacke erriet man den Abdruck eines Dolches. Plötzlich fühlten wir, dass sie !ihre letzte Karte spielten!, dass sie !verschlagen, unwissend und grausam waren wie alte Raubtiere!, und dass sie, !WENN WIR UNS VON FURCHT ODER MITLEID ÜBERWÄLTIGEN LIESSEN, UNS SCHLIESSLICH VERNICHTEN WÜRDEN!.
Wir zogen die schweren Revolver (plötzlich gab es im Traum Revolver), UND FRÖHLICH ERSCHOSSEN WIR DIE GÖTTER.
Darauf folgten zwei Seiten aus der Älteren Edda – den Zukunftsdeutungen der Seherin, wenn ich nicht irrte. Sie mussten einer edlen Geschenkausgabe entstammen; der Text war, wenig ökonomisch, in großer roter Schrift auf Kunstdruckpapier gesetzt:
Das Meer hebt sich
Zur Himmelswölbung
Überflutet das Land
Und die Luft schwindet.
Dann kommen Schnee
Und stürmische Winde:
Dann ist's bestimmt,
dass die Götter sterben.
Letztere Zeile war mit dem Fingernagel unterkerbt. Der Text auf der nachfolgenden Seite war von ebenso düsterer Vieldeutigkeit:
Einst kommt ein andrer
mächtiger als Er;
doch ihn zu nennen
wage ich nicht.
Wenige werden
weiter blicken,
als bis Odin
den Wolf angreift.
In diesem Ton ging es weiter. Sämtliche Blätter in dem Hefter bezogen sich mehr oder weniger auf den nordischen Mythos. Den traurigsten Eindruck machte auf mich das Schwarzweißfoto eines deutschen U-Boots mit Namen Naglfar – so hieß in der skandinavischen Mythologie Lokis Schiff, gezimmert aus den Nägeln der Toten. Für ein U-Boot im Zweiten Weltkrieg kein ganz unpassender Name. Die spitzknochigen, stoppelbärtigen Besatzungsmitglieder, die da von der Brücke herunterlächelten, wirkten sympathisch, wie eine Abordnung Grüne in heutiger Zeit.
Zum Ende der Mappe hin wurden die Anmerkungen seltener – als wäre bei dem, der hier geblättert und das Material studiert hatte, das Interesse beizeiten erlahmt, vielleicht aber auch, wie es in einem anderen Text von Borges formuliert steht, eine Art großzügiger Ungeduld dazwischengekommen, die ihn daran gehindert hatte, die Mappe bis zum Ende durchzublättern. Nichtsdestoweniger schien der Mann ein Auskenner zu sein, erst recht an den Maßstäben unserer merkantilen Zeit gemessen (Beilalter, Schwertalter, wie sie eines der abgehefteten Fragmente definierte, Windzeit, Wolfszeit, eh die Welt zerstürzt…).
Ganz zuunterst in der Mappe lag ein Blatt in einer Klarsichthülle, das aus einem linierten Schulheft gerissen war. Darauf stand so etwas wie eine Widmung:
Sascha zum Andenken.
Wandle dich!
WOLF-FLOW!
Oberst Lebedenko
Ich klappte den Hefter zu, schob ihn Monica wieder unter und setzte die Wohnungsbesichtigung fort. Dass ich neben der Hi-Fi-Anlage gleich mehrere CDs mit Einspielungen ein und derselben Oper: RICHARD WAGNER. DER RING DES NIBELUNGEN. Götterdämmerung fand, konnte mich schon nicht mehr verwundern. Das nächste interessante Objekt, das mir unter die Augen kam, war ein dickes graues Heft, das zwischen Wand und Sofa auf dem Fußboden lag – als hätte jemand vor dem Einschlafen darin geblättert und es dann einfach fallen lassen. Streng geheim! Expl. No.9, stand auf dem Umschlag, darunter: Shitman-Projekt und: Zum internen Gebrauch!
Im ersten Moment kam ich nicht darauf, den seltsamen Projektnamen mit der Geschichte des verrückten Shakespeareforschers in Zusammenhang zu bringen, von dem Pawel Iwanowitsch mir erzählt hatte. Meine Gedanken preschten zunächst in ganz anderer Richtung vor: Da sieht man sie wieder, die kulturelle Dominanz Amerikas, dachte ich mir. Superman, Batman und noch ein paar solcher Filme, schon beginnt der Verstand die Wirklichkeit von ganz allein nach ihrem Vorbild zu klischieren. Was ließe sich dem entgegenstellen?, fragte ich mich. Projekt Kleines Russisches Arschloch? Ob da wirklich jemand nächtelang für wenig Geld drüber brüten und schwitzen möchte? Dieses kleine russische Arschloch im schlecht sitzenden Anzug ist schuld am Untergang des sowjetischen Imperiums. Die menschliche Seele hat eine schöne Verpackung nötig, die russische Kultur hat sie nicht eingeplant, nennt diesen Mangel duchovnost6. Alles Unglück rührt daher …
Das Heft schlug ich gar nicht erst auf. Eine Abneigung gegen Geheimdokumente habe ich mir aus Sowjetzeiten bewahrt: Sie bringen einem nichts – außer, wenn man Pech hat, Probleme bis dorthinaus.
Stattdessen wurde meine Aufmerksamkeit von ein paar seltsamen Graphiken an der Wand angezogen: Runen, entweder mit sehr breitem Pinsel oder aber mit der bloßen Hand gemalt. Sie erinnerten an chinesische Kalligraphien in ihrer gröbsten und expressivsten Form. Zwischen zweien dieser Runen hing ein Mistelzweig – wie man aus der Unterschrift erfuhr: Zu sehen war nur ein dürrer, angespitzter Stock.
Interessant war auch die Zeichnung des Teppichs, eine Schlacht zwischen Löwen und Wölfen darstellend, wohl die Kopie eines römischen Mosaiks. Auf dem einzigen Bücherbord standen fast nur gewichtige Bildbände (The Splendour of Rome, The New Revised History of the Russian Soul, Origination of Species and Homosexuality und ein paar von schlichterer Thematik: Autos, Waffen und so weiter). Wobei mir klar war, dass die Bücher auf solchen Borden nichts über die Geschmäcker der hier Wohnenden aussagen, sie werden von Innenarchitekten ausgewählt.
Nach beendetem Rundgang trat ich vor die Glastür, die auf das Dach hinausführte. Von hier bot sich ein hübscher Ausblick. Unten die dunklen Löcher der vorrevolutionären Hinterhöfe, kosmetisch behandelt. Darüber hinausragend ein paar phallische Neubauten, die weich und fließend in die historische Umgebung einzupassen man sich Mühe gegeben hatte – die Folge war, dass sie aussahen wie in Gleitmittel getaucht. Dahinter der Kreml, der seine alten Gemächte mit Goldkugelpiercing majestätisch in die Wolken ragen ließ.
O je, dieser Scheißjob ruiniert mir die Wahrnehmung der Welt!, dachte ich. Aber was heißt schon »ruiniert«. Uns Werfüchsen kann dies alles einerlei sein – wir stehen über den Dingen, gehen leicht und flüchtig wie ein asiatischer Regenschauer darüber hinweg. Der Mensch hat es dagegen schwer. Die geringste Abweichung vom gehüteten Idealbild der Nation, und dieses Land f… dich in den Arsch. Ein Theorem, das dir jedes aus der Nähe betrachtete Menschenschicksal bestätigt, da kann das tägliche Fest des Lebens noch so viele Glamourüberzüge verpasst kriegen. Ich muss es wissen, ich hab genug davon gesehen. Und warum ist das so? Man hat so seine Vermutungen, doch ich möchte mich in dieses Thema lieber nicht vertiefen. Wahrscheinlich wird man hier nicht zufällig hineingeboren, o nein … Und keiner kann dem Anderen helfen. Ob die Moskauer Sonnenuntergänge mich deshalb immer so traurig stimmen?
»Klasse Aussicht von hier oben, nicht wahr?«
Ich drehte mich um. Er stand in der Fahrstuhltür, eine pralle Tüte im Arm. Bedruckt mit einer grünen Schlange, die sich um einen Kelch windet.
»Jod gab es keins«, sagte er besorgt, »sie haben mir Fuxidin gegeben. Das wäre dasselbe, bloß in Orange, haben sie gesagt. Vielleicht ist das für unseren Fall sogar besser, dachte ich mir – fällt nicht so auf neben dem Schweif…«
Mir war nach Lachen zumute, ich wandte mich schnell ab, zum Fenster hin. Er kam näher, stellte sich neben mich. Eine Zeit lang betrachteten wir schweigend die Stadt.
»Im Sommer ist es hier schön«, sagte er. »Du legst Zemfira Ramasanowa auf, siehst nach draußen und hörst sie singen: Geliebte Stadt, wir sehn uns wieder! Wir sind dem Zauber deiner Nacht verfallen … Wer ist wir? Sind da die Alkoholiker oder die Junkies gemeint?«
»Du musst mich nicht belabern, hörst du.«
»Dir scheint es schon besser zu gehen.«
»Ich will nach Hause«, sagte ich.
»Und das hier? …« Er deutete auf die Tüte.
»Nicht nötig, vielen Dank. Vielleicht bringen sie dir Schtschors vorbei, den kannst du pflegen. Vorn das rote Banner weht, wer schleicht hinterher? Seinen Kopf trägt unterm Arm Schtschors, der Kommandeur … Ich geh dann mal.«
»Michalytsch fährt dich.«
»Dein Michalytsch kann mir gestohlen bleiben, ich finde selber nach Hause.«
Ich stand schon vorm Fahrstuhl.
»Wann kann ich dich wiedersehen?«, fragte er.
»Weiß nicht«, sagte ich. »Ruf so in drei Tagen an. Wenn ich bis dahin nicht gestorben bin.«