Im hohen und luftlosen Sternenchor
versah Gott, der Herr, sich mit lichtem Dekor …
Quelle unbekannt
Und wer ist dein Held jetzt, Dolores Haze?
Noch der Star mit den starken Armen?
Ach, die Kalmen der Bays und die Palmen an Kais
Und die Bars, mein Schwarm, meine Carmen!
Humbert Humbert
Mit dem Kunden, auf den Barkeeper Serge mich angesetzt hatte, war ich in der Alexander-Bar des Hotels National, verabredet, um halb acht. Es war zehn nach halb, das Taxi schlich, geriet von einem Stau in den nächsten. Mir war schon fast so, als hätte ich eine Seele – so einen Seelenkater spürte ich.
»I want to be forever young«, leierte Alphaville im Autoradio zum wer weiß wievielten Mal.
Deine Probleme möchte ich haben, dachte ich und war schnell mit den Gedanken bei meinen.
Eigentlich denke ich nur selten an sie. Ich weiß, dass sie irgendwo im leeren schwarzen Raum liegen und dass ich jederzeit auf sie zurückkommen kann. Um mich ein neues Mal zu vergewissern, dass es für sie keine Lösung gibt. Das ist eigenartig, wenn man es recht bedenkt.
Nehmen wir an, ich hätte eine Lösung. Was geschähe dann? Meine Probleme kämen mir abhanden – entschwebten für immer in jene Untiefen, wo sie ja doch schon die meiste Zeit gelegen haben. Die einzige praktische Folge wäre, dass mein Geist aufhörte, sie aus dem großen schwarzen Nichts ans Tageslicht zu zerren. Bestehen demnach meine unlösbaren Probleme nicht einzig und allein darin, dass ich an sie denke? Erschaffe ich sie nicht erst in dem Moment neu, wo sie mir wieder einfallen?
Das kurioseste meiner Probleme ist mein Name. Eines, das ich nur in Russland habe. Da ich aber nun einmal hier lebe, muss ich zugeben, dass es sich um ein sehr handfestes Problem handelt.
Ich heiße A Huli. Was im Russischen äußerst unanständig klingt.
Vor 1918, als wir noch die alte Orthographie hatten, konnte ich zu mindest in schriftlicher Form der Anzüglichkeit entgehen, indem ich mich mit altem »i« schrieb: А Хули. In einem Petschaft, das ich im Jahr 1913 von einem Petersburger Mäzen geschenkt bekam, der mein Geheimnis kannte, war der Name zu zwei Zeichen verschmolzen:
Das war übrigens eine lustige Geschichte. Der erste Siegelring, den er für mich machen ließ, trug das Monogramm auf einem Rubin, und alle fünf Buchstaben waren in einem Symbol vereint:
Er überreichte mir das Schmuckstück, während wir auf einer Jacht durch den Finnischen Meerbusen segelten; ich betrachtete den Ring und hatte ihn im nächsten Augenblick ins Wasser geworfen. Der Mäzen erbleichte und fragte, warum ich ihn hasse. Nicht dass er wirklich annahm, ich hasste ihn – zu jener Zeit waren theatralische Gemütsregungen einfach in Mode, was, nebenbei gesagt, auch der Grund war, weshalb der Erste Weltkrieg ausbrach und die russische Revolution.
Auf die Art könnte man getrost alle Buchstaben des Alphabets übereinander legen und auf einem kleinen Stein unterbringen, erklärte ich, das käme billig, nur dass man so nicht wisse, welches der Anfangsbuchstabe sei … Schon am übernächsten Tag wurde mir die neue, aus einem länglichen Opal gefertigte Variante präsentiert. AH., so also nun das närrische Orakel! wie der Mäzen in einem Gedicht, das der Gabe beigelegt war, fein doppelsinnig formulierte.
Da sieht man, was damals in Russland noch für Leute lebten! Allerdings vermute ich, dass er das Gedicht nicht selbst geschrieben, sondern bei dem Dichter Kusmin in Auftrag gegeben hat, denn nach der Revolution tauchten mehrfach irgendwelche bekoksten Tscheka-Tucken bei mir auf und wollten Brillanten haben. Bald darauf wurden in meiner Wohnung an der Italjanskaja Schlosser und Wäscherinnen einquartiert, und mir persönlich nahmen sie die letzte Bastion meiner Selbstachtung, das »i«. Darum mochte ich die Kommunisten von Anfang an nicht leiden, schon damals nicht, als viele helle Köpfe noch an sie glaubten.
In Wirklichkeit ist mein Name sehr schön und hat mit dem, was das Russische ihm an Bedeutung anhängen will, nicht das Geringste zu schaffen. A Huli heißt auf Chinesisch Fuchs A, Analog zu westlichen Sprachen ließe sich A als mein Vorname ansehen und Huli als Familienname. Was kann ich zu meiner Rechtfertigung anführen? Ich wurde so getauft, als es dieses Wort im Russischen noch nicht gab – wie das Russische überhaupt.
Wer hätte damals ahnen können, dass mein ehrenwerter Familienname irgendwann zum Schimpfwort werden würde? (Mit dem Vornamen hat man es übrigens auch nicht viel leichter, selbst wenn er nur aus einem Buchstaben besteht. Man geht die Straße lang, sieht plötzlich ein großes fettes A an einem Haus mit vielen entnervten Menschen davor und denkt: nanu?… Ach so. Die Alpha-Bank.) Aber hat nicht schon Ludwig Wittgenstein gesagt, dass die Welt aus nichts als Namen besteht? Also kein Grund zum Übelnehmen.
Wir Werfüchse sind glückliche Geschöpfe, weil wir ein kurzes Gedächtnis haben. Immer nur die letzten zehn, zwanzig Jahre haben wir in klarer Erinnerung; alles, was davor liegt, ruht in dem großen schwarzen Nichts, von dem schon die Rede war. Es geht aber nicht ganz verloren. Die Vergangenheit ist für uns wie ein lichtloses Depot, aus dem wir bei Begehr jede Erinnerung hervorkramen können; hierfür bedarf es allerdings einer besonderen Willensanstrengung, die ziemlich quälend sein kann. Diese Fähigkeit macht uns als Gesprächspartner interessant. Zu beinahe jedem Thema können wir parlieren; zudem beherrschen wir die wichtigsten Weltsprachen – Zeit genug zum Lernen hatten wir ja. Doch kratzen wir die Narben unseres Gedächtnisses nicht öfter auf als unbedingt nötig, der banale Strom von Gedanken im Alltag unterscheidet sich praktisch nicht von dem normaler Menschen. Selbiges trifft auf unsere gewählte Identität zu – sie macht den Werfuchs vom schwanzlosen Affen ununterscheidbar.
Viele Leute begreifen nicht, wie das sein kann. Ich versuche eine Erklärung. In allen Kulturen ist es üblich, bestimmte Äußerlichkeiten mit bestimmten Charakterzügen in Verbindung zu bringen. Die schöne Prinzessin ist herzensgut und sensibel; eine böse Hexe ist hässlich, mit einer großen Warze auf der Nase. Es gibt auch subtilere Verknüpfungen, die nicht so leicht zu beschreiben sind – die hohe Kunst der Porträtmalerei füllt diese Lücke. Im Laufe der Zeit ändern sich solche Zusammenhänge. Was in der einen Epoche als schön gilt, ruft in der nächsten Befremden hervor. Um es einfach zu sagen: Der Menschentyp, mit dem ein durchschnittlicher Zeitgenosse die äußeren Merkmale eines Fuchses assoziiert, macht die jeweilige Identität des Werfuchses aus.
Alle fünfzig Jahre ungefähr schieben wir unserem immergleichen Aussehen ein neues Seelensimulakrum unter und zeigen es der Menschheit vor. Auf diese Weise stimmt unser Inneres mit unserem Äußeren aus menschlicher Sicht zu jedem beliebigen Zeitpunkt hundertprozentig überein. Dass es nicht mit dem Eigentlichen übereinstimmt, ist eine andere Sache, aber wer weiß das schon? Die meisten Leute haben überhaupt nichts Eigentliches, nur Äußeres und Inneres, wie Kopf oder Zahl einer Münze, von der der Mensch glaubt, dass er sie tatsächlich auf seinem Konto liegen hat.
Ich weiß, es klingt merkwürdig, doch es ist so: Den jeweiligen Mitmenschen zuliebe verpassen wir unserem Lärvchen von Zeit zu Zeit ein neues Ich, wie ein nach neuester Mode geschnittenes Kleid. Die vorherigen kommen in die Kleiderkammer, und bald müssen wir uns schon sehr anstrengen, wenn wir uns erinnern wollen, wie wir zuvor gewesen sind. Wir leben von Bagatellen, Flüchtigkeiten, die Spaß und Unterhaltung bieten. Mir scheint, das ist eine Art Evolutionsmechanismus, der uns Mimikry und Maskerade erleichtern soll. Denn die beste Mimikry ist es, wenn nicht nur dein Gesicht, sondern auch dein Denken den anderen angeglichen ist. Wohlgemerkt: Nur für die Werfüchse ist es Mimikry. Für den Menschen ist es Schicksal.
Vom Aussehen her werde ich so zwischen vierzehn und siebzehn geschätzt – mehr zur Vierzehn hin. Mein physisches Erscheinungsbild ruft bei den Menschen und insbesondere den Männern starke, widersprüchliche Gefühle hervor, die zu beschreiben keinen Spaß macht und außerdem überflüssig ist – haben doch auch die Lolitas heutzutage schon ihre Lolita gelesen. Diese Gefühle sind mein Brot. Wahrscheinlich wäre es nicht falsch zu sagen, dass ich von Betrügerei lebe, denn in Wahrheit bin ich durchaus nicht minderjährig. Lassen Sie mich der Bequemlichkeit halber mein Alter mit zweitausend Jahren angeben – diesen Zeitraum vermag ich jedenfalls mehr oder weniger komplett abzurufen. Man könnte mir das als Koketterie auslegen, tatsächlich bin ich weitaus älter. Die Ursprünge meines Lebens verlieren sich in grauer Vorzeit, mich daran erinnern zu wollen, hieße, mit einer Taschenlampe in den Nachthimmel zu leuchten. Wir Werfüchse sind nicht wie Menschen auf die Welt gekommen. Wir sind aus einem Himmelsstein hervorgegangen, es besteht eine entfernte Verwandtschaft mit Sun Wukong, dem Helden aus der Reise nach dem Westen. (Im Übrigen will ich mich nicht verbürgen, dass das alles stimmt – persönliche Erinnerungen an diese legendäre Zeit habe ich keine mehr.) Damals waren wir anders. Ich meine: innerlich, nicht äußerlich. Äußerlich verändern wir uns mit zunehmendem Alter nicht – sieht man davon ab, dass in unserem Schweif alle einhundertacht Jahre ein neues silbernes Haar auftaucht.
Im Vergleich zu manch anderem Vertreter meiner Sippe habe ich in der Geschichte keine sehr sichtbare Spur hinterlassen. Immerhin finde ich Erwähnung in einem Stück Weltliteratur, das kann man sogar auf Russisch lesen; dazu muss man in die Akademische Buchhandlung gehen und das Buch Der Mann, der einen Geist verkaufte von Gan Bao kaufen; dort findet man die Geschichte, wie zur späten Han-Zeit der Statthalter der Provinz Sihai seinen entlaufenen Oberleibwächter sucht. Der Statthalter erfährt, ein böser Geist habe den Wächter entführt, und so wird ein Trupp Soldaten auf die Spur des Verschollenen geschickt. Was dann folgt, kann ich bis heute nicht ohne Rührung lesen (die betreffende Seite trage ich als Talisman bei mir):
… den Flüchtigen zu finden, ließ der Statthalter einige Dutzend Soldaten zu Fuß und zu Pferde mit mehreren Jagdhunden an ihrer Seite das Gelände vor der Stadt durchstöbern. Tatsächlich wurde Xiao in einer leeren Grabkammer entdeckt. Nicht aber das Wertier, das hatte sich, als es die Menschen und die Hunde nahen hörte, verzogen. Die von Xiang entsandten Leute brachten Xiao zurück. Äußerlich glich er gänzlich einem Fuchs, menschliche Züge waren beinahe gar nicht mehr an ihm zu entdecken; »A Ze!« war alles, was er stammeln konnte. (A Ze ist eine geläufige Bezeichnung für einen Werfuchs.) Nach etwa zehn Tagen kehrte sein Verstand allmählich zurück, und er berichtete wie folgt:
»Das erste Mal, dass der Fuchs kam, begann damit, dass in der hintersten Ecke des Hauses, zwischen den Hühnerleitern, eine Frau auftauchte, die sehr hübsch war. Sie nannte sich A Ze und versuchte mich zu sich zu locken. Und dies immer wieder, bis ich, für mich selbst überraschend, den Verlockungen nachgab. Sie wurde sogleich meine Frau, und noch am selben Abend waren wir in ihrem Hause … An ein Zusammentreffen mit Hunden kann ich mich nicht erinnern, nur, dass ich sehr, sehr froh war.«
»Das war ein böser Berggeist«, stellte ein Dao-Wahrsager fest.
In den Notizen über berühmte Berge heißt es: »Der Werfuchs war in sehr alten Zeiten ein loses Frauenzimmer, und ihr Name war A Ze. Später verwandelte sie sich in einen Fuchs.«
Deshalb werden Wertiere dieser Art heute meistenteils A Ze genannt.
Ich kann mich an den Mann entsinnen. Sein Kopf sah aus wie ein gelbes Ei, die Augen wie zwei an das Ei geklebte Papierschnipsel. Der Verlauf unserer Affäre ist nicht ganz wahrheitsgemäß wiedergegeben, außerdem irrt der Erzähler, wo er sagt, ich hätte A Ze geheißen. Der Leibwächter nannte mich bei meinem Namen A, das »Ze« war nur der Laut, den er zuletzt, als ihn die Lebensgeister verließen, zwanghaft von sich gab: Er sog beim Reden geräuschvoll Luft ein, wie um den hängenden Unterkiefer an seinen Platz zu saugen. Ferner ist unwahr, dass ich zuerst ein »loses Frauenzimmer« gewesen wäre und mich erst später in einen Werfuchs verwandelt hätte – so etwas kommt überhaupt nicht vor, soviel ich weiß. Nichtsdestoweniger spüre ich beim Wiederlesen dieser kleinen Passage altchinesischer Prosa die gleiche Aufregung wie eine gealterte Schauspielerin, wenn sie das früheste erhaltene Foto von sich betrachtet.
Woher der Name A kommt? Einem konfuzianischen Bibliophilen (der auf kleine Jungs stand und außerdem meine Bewandtnis kannte, was ihn nicht daran hinderte, meine Dienste bis an sein Lebensende in Anspruch zu nehmen) ist eine hübsche Erklärung dafür eingefallen. Dies sei der kurze Laut, den ein Mensch auszustoßen gerade noch in der Lage ist, wenn ihm die Kehlmuskeln versagen. Tatsächlich bringen manche der Männer, denen ich die Sinne verwirre, dieses gepresstes A-a… hervor. Übrigens hat mir jener Konfuzianer sogar eine kalligraphische Widmung verehrt – sie hebt an mit den Worten: A Huli, du Weide am nächtlichen Fluss …
Man könnte meinen, es müsste ein trauriges Schicksal sein, mit dem Namen A Huli in Russland zu leben. Ungefähr so wie in Amerika für einen, der Whatze Phuck heißt. Ich gebe zu, der Name verleiht meinem Leben einen bitteren Beigeschmack, und eine meiner inneren Stimmen ist in jedem Moment bereit zu fragen: Was hast du vom Leben erwartet, A Huli, Whatze Phuck? Aber das ist, wie gesagt, die geringste meiner Sorgen, eigentlich überhaupt keine, ich arbeite ja unter Pseudonym. Das Ganze hat eher etwas Humoristisches – schwarzer Humor, schon wahr.
Als Hure zu arbeiten fällt mir auch nicht weiter lästig. Dunja, meine Ablösung im Baltschug (dort unter dem Namen Adultera geführt), hat einmal definiert, was eine Hure von einer anständigen Frau unterscheidet: »Eine Hure will von dem Mann hundert Dollar dafür, dass sie es ihm ein bisschen nett macht. Eine anständige Frau will sein ganzes Geld dafür, dass sie ihm alles Blut aussaugt.« Ich mag diese radikale Ansicht nicht so ganz teilen, doch ein Körnchen Wahrheit steckt darin: Heutzutage sind die Sitten in Moskau so, dass, wenn man die Formulierung »aus Liebe« vom Hochglanz ins Juristische übersetzt, »für hunderttausend inklusive Hämorrhoiden« herauskommt. Sollte man auf die Meinung einer Öffentlichkeit, in der eine solche Moral herrscht, etwas geben?
Ich habe ernstere Probleme. Mein Gewissen zum Beispiel. Aber darüber werde ich im nächsten Stau nachdenken, wir sind gleich da.
Der Zylinder ist indirekt ein Kastenzeichen: Zugehörigkeit zur Elite unterstellend, was immer man von ihr hält. Begrüßt dich am Hoteleingang ein Mann im Zylinder und hält dir mit einem tiefen Bückling die Tür auf, so wirst du schon hierdurch auf eine soziale Stufe gehoben, die einer Schuldverschreibung gegenüber Leuten mit weniger Glück im Leben gleichkommt.
Das spiegelt sich beispielsweise auf der Getränkekarte wider. Ich setzte mich auf einen Hocker an der Bar, studierte das Angebot und versuchte meine Nische zwischen Vierzig-Dollar-Whiskey und Sechzig-Dollar-Cognac (für vierzig Gramm, wohlgemerkt) zu finden. Die Namen der Longdrinks fügten sich zu einem Hardcore-Thriller: Tequila Sunrise, Blue Lagoon, Sex on the Beach, Screwdriver, Bloody Mary, Malibu Sunset, Zombie. Ein fertiges Filmexposé.
Doch ich bestellte einen Cocktail der Rusty Nail hieß – nicht aus Anlass der bevorstehenden Begegnung, wie ein psychoanalytisch denkender Mensch vermuten könnte, sondern dieses rätselhaften Drambuies wegen, der neben Scotch zu den Ingredienzen zählte. Man soll ja nach Möglichkeit jeden Tag im Leben etwas Neues kennen lernen. Außerdem war die Getränkekarte zweisprachig, und auf Russisch hieß der Cocktail Rasti Nail1. Da wächst der liebe gute Nail heran in seinem ukrainischen Kaff Shmerinka, schmiedet große Pläne und ahnt nicht, dass sein Weg nach der Emigration vorbestimmt ist: zu den rostigen Nägeln … Schon haben wir das nächste Exposé: die Geschichte eines Russen in Amerika, aufgebrochen zu den Leuchttürmen seines großen Traums, bei Prozak gelandet. Wieso war ich eigentlich nicht im Filmgeschäft?
Zwei meiner Mitstreiterinnen saßen an der Bar: Karina, das Ex-Model, und die Transe Nelly, die aus dem Moskwa nach dessen Schließung herübergewechselt war. Obwohl Nelly vor kurzem die fünfzig überschritten hatte, florierte bei ihr das Geschäft. Auch jetzt gerade beturtelte sie wieder einen galanten Skandinavier, während Karina sich einsam an ihrer Zigarette festhielt – nicht die erste, wie der mit lippenstiftbeschmierten Kippen gefüllte Aschenbecher zeigte. Ich weiß bis heute nicht recht, wie das zuging, es war immer dasselbe: Nelly, die Schreckschraube mit ihrer Komsomolzenvergangenheit, machte mehr Kohle als das junge Gemüse mit Modeloberfläche. Die Gründe dafür konnten verschieden sein:
1. sieht sich der westliche Mann, der die Ideale weiblicher Gleichberechtigung mit der Muttermilch aufgesogen hat, nicht in der Lage, eine Frau aufgrund ihres Alters oder irgendwelcher körperlicher Makel abzuweisen, denn er sieht in ihr vorrangig den Menschen.
2. bedeutet die Entscheidung, seine sexuellen Gelüste mit Hilfe eines Fotomodels zu befriedigen, für den reflektierenden westlichen Mann nichts anderes, als den Ideologen der Konsumgesellschaft auf den Leim zu gehen, und das ist das Letzte.
3. lässt sich der westliche Mann weit mehr vom sozialen Instinkt als vom biologischen leiten, sodass er selbst in einer so intimen Angelegenheit wie dem Sex den am wenigsten konkurrenzfähigen Akteuren der Marktwirtschaft eine Chance gibt.
4. nimmt der westliche Mann an, dass die Schreckschraube ihn billiger kommt, und nach einer Stunde Peinlichkeit hat er Geld gespart, um seinen Jaguar abzuzahlen.
Wie Serge, der Barkeeper, mich geheißen hatte, riskierte ich keinen Blick in seine Richtung. Hier im National denunzierte jeder jeden, man musste vorsichtig sein. Außerdem interessierte mich Serge in diesem Moment am allerwenigsten, ich war gespannt auf den Kunden.
Zwei Anwärter für diese Rolle waren in der Bar zugegen: Ein Sikh im dunkelblauen Turban, der wie ein Schokoladenhase aussah, und ein Mann mittleren Alters im Dreiteiler, mit Goldrandbrille. Beide saßen allein – der mit der Brille trank Kaffee und sah durch den Glasgiebel auf das Hofgeviert hinaus; der Sikh las die Financial Times, seine Lackschuhspitze wippte im Takt, den die Klavierspielerin vorgab, die das kulturelle Erbe des neunzehnten Jahrhunderts meisterhaft zu akustischen Tapeten verarbeitete. Gerade spielte sie Chopin, das Regentropfen-Prélude – das der Bösewicht in Moonraker spielt, als Bond erscheint. Diese Musik fand ich himmlisch. Aus gutem Grund hatte Tolstois Witwe Sofija Andrejewna, als sie die letzten Jahre ihres Lebens an der Widerlegung der Kreutzersonate ihres Gatten arbeitete, ihr Buch Die Préludes von Chopin nennen wollen …
Hoffentlich der mit der Brille!, dachte ich. Der spart ganz bestimmt nicht für einen Jaguar, der hat ihn schon. Geld auszugeben ist für solche wie ihn das eigentliche Abenteuer, diese Transaktion erregt sie mehr als alles Übrige – das man sich mitunter ganz schenken kann, wenn man ihnen vorher genug zu trinken gibt. Dagegen kann so ein Sikh einem ernsthaft zur Last fallen.
Ich sandte dem Brillenträger ein Lächeln, er lächelte zurück. Na prima! dachte ich, aber da faltete der Sikh seine Finanzzeitung zusammen, stand auf und kam an meinen Tisch.
»Lisa?«, fragte er.
Das war mein Pseudonym für heute.
»That's right«, erwiderte ich freudig.
Was hätte ich anderes tun sollen.
Er setzte sich mir gegenüber und fing sogleich an, die russische Küche madig zu machen. Sein Englisch war sehr gut, nicht wie sonst bei den indischen Einwanderern üblich – echte Oxford-Intonation, die sich in ihrer Trockenheit manchmal wie ein russischer Akzent anhört. Statt fucking sagte er freaking, wie ein braver Boyscout; es klang komisch, weil er das Wort in jedem zweiten Satz gebrauchte. Vielleicht verbot ihm seine Religion das Fluchen; mir ist, als gäbe es im Sikhismus so einen Passus. Er arbeitete als Portfolio-Manager; die Frage, wo er denn sein Portfolio habe, konnte ich mir gerade noch verkneifen. Portfolio-Manager mögen solche Scherze nicht. Das weiß ich, weil ungefähr jeder dritte Kunde im National einer ist. Was nicht heißen soll, dass das National voll mit Portfolio-Managern wäre: Ich sehe nur eben sehr jung aus, und jeder Zweite von denen ist pädophil. Ich mag diese Leute nicht, das sage ich ganz ehrlich. Eine Berufserfahrung.
Zuerst kam er mir mit höchst altmodischen Komplimenten: Er könne sein Glück gar nicht fassen, und dass ich dem Mädchen seiner süßesten Kinderträume ähnlich sei – süßeste Kinderträume, so drückte er sich aus. Noch mehr in dieser Art. Als Nächstes wollte er meinen Ausweis sehen, um sich von meiner Volljährigkeit zu überzeugen. An derlei Nachfragen war ich gewöhnt. Ich besaß einen Pass, natürlich gefälscht, der auf den Namen Alisa Li ausgestellt war. Den hatte ich mir selbst ausgedacht – einerseits Li: ein in Korea weitverbreiteter Name, der zu meinem asiatisch anmutenden Lärvchen passte; andererseits die Füchsin Alisa im Goldenen Schlüsselchen … Der Sikh blätterte sehr ausführlich, wahrscheinlich fürchtete er um seinen guten Ruf. Dem Pass nach war ich neunzehn.
»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte er.
»Schon bestellt«, antwortete ich. »Kommt gleich. Sagen Sie das eigentlich zu allen Mädchen – das mit den süßesten Kinderträumen, meine ich?«
»Nein. Das sage ich nur zu Ihnen. Das habe ich noch zu keinem Mädchen gesagt.«
»Ah ja. Dann sage ich Ihnen auch etwas, das ich noch zu keinem anderen Mann gesagt habe. Sie sehen aus wie Captain Nemo.«
»Der aus Zwanzigtausend Meilen unterm Meer?«
Oho, ein belesener Portfolio-Manager!, dachte ich.
»Nein, aus der Liga der außergewöhnlichen Gentlemen. Das war ein amerikanischer Film, da gab es einen außergewöhnlichen Gentleman, der sah Ihnen ähnlich. Unterwasserkaratekämpfer mit Bart und blauem Turban.«
»Eine Jules-Verne-Verfilmung, oder wie?«
Der Cocktail kam. Kleinformat – sechzig Gramm, höchstens.
»Nein, eine Versammlung aller Supermänner des zwanzigsten Jahrhunderts in einem: Captain Nemo, The Invisible Man, Dorian Gray und so weiter.«
»Ach ja? Klingt originell!«
»Ist überhaupt nicht originell. Eine auf Vermittlung basierende Ökonomie gebiert eine Kultur, die es vorzieht, vorhandene Bilder fremder Urheber weiterzuverkaufen, statt neue zu kreieren.«
Diesen Satz hatte ich von einem linken französischen Filmkritiker, der mich um dreihundertfünfzig Euro beschissen hatte. Nicht dass ich ganz mit ihm einer Meinung gewesen wäre, doch jedes Mal, wenn ich den Satz im Gespräch mit einem Kunden anbrachte, kam es mir vor, als arbeitete der Filmkritiker ein paar konvertierbare Rubel von seiner Schuld ab. Für den Sikh war das zu viel.
»Wie bitte?«, fragte er mit gerunzelter Stirn.
»Na, jedenfalls sah dieser Nemo Ihnen erstaunlich ähnlich. Der Bart vor allem … Noch in seinem U-Boot hat er die Göttin Kali angebetet.«
»Dann dürften wir kaum viel gemeinsam haben«, lächelte mein Gegenüber. »Ich bete zu keiner Göttin Kali. Ich bin Sikh.«
»Ich habe großen Respekt vor dem Sikhismus«, sagte ich. »Mir scheint, er ist eine der vollkommensten Religionen auf der Welt.«
»Wissen Sie denn überhaupt, was das ist?«
»Aber ja.«
»Wahrscheinlich haben Sie gehört, das seien so Typen, die Bart und Turban tragen«, lachte er.
»Nicht die äußeren Attribute sind es, die mich am Sikhismus interessieren. Mich fasziniert die spirituelle Seite. Insbesondere der Mut, sich auf die Schrift anstatt auf lebendige Lehrmeister zu berufen.«
»Aber das trifft auf viele andere Religionen genauso zu«, sagte er. »Woanders ist es die Bibel oder der Koran, bei uns der Guru Granth Sahib.«
»Aber nirgends nimmt man das Buch so als lebendigen Mentor. Außerdem gibt es nirgends ein so revolutionäres Gotteskonzept. Zwei Eigenarten sind es vor allem, die mich verblüffen, weil sie sich von allen anderen Religionen radikal abheben.«
»Und zwar?«
»Erstens wird die Tatsache akzeptiert, dass Gott diese Welt durchaus nicht zu irgendwelchen höheren Zwecken, sondern einzig und allein zu seiner Erbauung geschaffen hat. Das zu sagen hat sich vor den Sikhs noch keiner getraut. Und zweitens sind die Sikhs Gottfinder, nicht Gottsucher wie die anderen.«
»Gottsucher, Gottfinder, was soll das sein?«
»Erinnern Sie sich an die Aporie von der öffentlichen Hinrichtung, die in den Kommentaren zu den heiligen Texten des Sikhismus des Öfteren angeführt ist? Sie geht, wenn ich nicht irre, auf den Guru Nanaku zurück, ganz sicher bin ich mir nicht.«
Dem Sikh quollen die braunen Augen hervor, sodass er nun aussah wie ein Krebs.
»Stellen Sie sich einen Marktplatz vor«, fuhr ich fort. »In seiner Mitte das Schafott, wo dem Verbrecher der Kopf abgeschlagen werden soll, die Menge drängt sich darum herum. Ein gewöhnliches Bild im mittelalterlichen Indien. Nicht anders in Russland. Nun passen Sie auf: Gottsuchertum ist, wenn die besten Köpfe der Nation das Blut an dem Beil nicht mehr mit ansehen können und deswegen anfangen, Gott zu suchen, was hundert Jahre und sechzig Millionen Tote später dazu führt, dass sich die Kreditfähigkeit des Landes um ein Geringes erhöht.«
»In der Tat«, sagte der Sikh, »das ist eine große Leistung, die Ihr Land da vollbracht hat. Ich meine, die verbesserte Kreditfähigkeit. Und was tun nun die Gottfinder?«
»Sie haben ihren Gott noch auf dem Richtplatz gefunden. So wie die Lehrer der Sikh.«
»Welchen Gott meinen Sie?«
»Gott ist in dieser Aporie sowohl der Scharfrichter, als auch sein Opfer, und damit nicht genug. Er ist die Menge rund um das Schafott, er ist das Schafott selbst, er ist das Beil, er ist das Blut, das von dem Beil trieft, er ist der Marktplatz und der Himmel über ihm und der Staub unter den Füßen. Und natürlich ist er diese Aporie, und was die Hauptsache ist: Er ist der, der sie im Augenblick vernimmt …«
Ich bin mir nicht sicher, ob der Begriff Aporie hier am Platz war, denn ein unauflösbarer Widerspruch kam nicht vor – wenn man ihn nicht darin sehen wollte, Gott inmitten von Blut und Schrecken zu finden. Jedenfalls rief der Terminus bei dem Sikh keinen Widerspruch hervor. Er riss die Augen noch etwas weiter auf und sah nun nicht bloß wie ein Krebs aus, sondern wie ein Krebs, der endlich begriffen hat, warum die vielen großen Biergläser um ihn herumstehen. Während er an meinen Worten kaute, trank ich in aller Ruhe meinen Cocktail aus – was dieser Drambuie für ein Zeug war, wurde mir dabei nicht klarer. Der Sikh war ein Anblick für die Götter, das muss man sagen. Er balancierte sozusagen auf dem Grat zur Erleuchtung, ein leichter Schubs mochte genügen, um seinen Verstand aus dem fragilen Gleichgewicht zu bringen.
Und so geschah es. Kaum hatte ich mein Glas auf dem Tisch abgestellt, kam er zu sich. Zog eine Diners-Club-Platinum-Kreditkarte mit Che-Guevara-Hologramm aus der Brieftasche und klopfte damit auf den Tisch, was ein Zeichen für den Kellner war. Dann legte er seine Hand auf meine und raunte: »Wollen wir jetzt aufs Zimmer gehen?«
Wenn ein Hotel National heißt, dann unterstellt man ihm, einen Nationalgeschmack zu repräsentieren. Dieser ist in Russland eklektisch, was die Einrichtung tatsächlich widerspiegelt: Der Läufer auf der Treppe weist die klassischen Königslilien auf, die Buntglasfenster sind Jugendstil, und bei der Auswahl der Bilder an den Wänden ist schon gar kein Prinzip zu erkennen: Kirchen, Blumensträuße, Waldstücke, alte Bäuerinnen, Alltagsszenen aus Versailles, dazwischen taucht unversehens Napoleon auf, der aussieht wie ein blauer Papagei mit goldenem Schwanz …
Aber es scheint übrigens nur auf den ersten Blick so, als hätten die Bilder nichts miteinander zu tun. Sie haben in künstlerischer Hinsicht etwas ganz Wesentliches gemeinsam: ihre Verkäuflichkeit. Hat man sich das vergegenwärtigt, sticht eine frappierende stilistische Uniformität ins Auge. Mehr noch, man gelangt zu der Erkenntnis, dass so etwas wie abstrakte Kunst gar nicht existiert, es gibt nur konkrete. Ein tiefer Gedanke, ich hätte ihn gern notiert, doch in Gegenwart des Kunden war mir das peinlich.
Vor einer Glastür mit der Nummer 319 blieben wir stehen, der Sikh führte mit laszivem Lächeln die Schlüsselchipkarte in den Türschlitz ein. Er hatte ein VIP-Zimmer; solche kosten hier an die sechshundert Dollar pro Tag.
Hinter der Doppeltür lag eine kleine Business-Lounge: gestreifter Diwan mit hoher Lehne, zwei Sessel, Drucker und Fax, Kübelpalme, kleine Vitrine mit altertümelndem Geschirr. Vom Fenster sieht man auf eine Straße, von der aus man den Kreml sieht. Das ist Kategorie B. Außerdem gibt es hier noch Kategorie C, wo man auf eine Straße sieht, von der aus man eine andere Straße sieht, von der aus man den Kreml sieht.
»Wo ist das Bad?«, fragte ich.
Der Sikh ging daran, seine Krawatte aufzubinden.
»Wir haben's wohl sehr eilig?«, fragte er anzüglich. »Da hinten.«
Ich öffnete die Tür, auf die er gezeigt hatte. Hinter ihr lag das Schlafzimmer. Das riesige Doppelbett nahm beinahe den ganzen Raum ein. Eine kleine Tür in der Ecke, die man übersehen konnte, ging ab ins Bad. Korrekt!, dachte ich: Die Dinge sollten nach ihrem Stellenwert im Leben bemessen sein. So gesehen, war dieses Hotelzimmer annähernd ideal, es war dem Leben eines VIP exakt nachgebildet. Dem Bereich Arbeit entsprach die Business-Lounge: mal ein Fax kriegen, mal eins abschicken, auf dem gestreiften Diwan sitzen, auf die Palme gucken oder, wenn man die Palme satt hat, den Kopf wenden und auf das Geschirr in der Vitrine gucken. Dem Privatleben entsprach das Schlafzimmer mit nichts als dem Bett: Schlaftablette schlucken und schlafen. Oder eben das jetzt.
Ich betrat das Badezimmer, stellte die Dusche an und rüstete mich für die Arbeit. Das war nicht weiter schwierig: Ich musste nur die Hosen ein bisschen herunterlassen und meinen Schweif befreien. Das Wasser hatte ich nur zur Tarnung angestellt.
Ich merke, dass ich an einen Punkt gekommen bin, wo einige Erklärungen vonnöten sind, sonst bekommt mein Bericht etwas Obskures. Ich unterbreche ihn also hier, um ein paar Worte über mich zu verlieren.
Wir Werfüchse haben streng genommen kein Geschlecht, und wenn ich von uns in der weiblichen Form rede, dann nur, weil wir wie Frauen aussehen. In Wirklichkeit sind wir eher wie Engel, das heißt, wir verfügen über keine Fortpflanzungsorgane. Wir pflanzen uns auch tatsächlich nicht fort, denn wir altern nicht und bleiben so lange am Leben, bis uns etwas umbringt.
Zu unserem Äußeren lässt sich sagen, dass wir schlank und grazil sind, ohne ein Gramm Fett, mit prächtig ausgebildeter Muskulatur – wie bei Jünglingen, die viel Sport treiben. Feuerrotes Fuchshaar, seidig fein und glänzend. Groß von Wuchs, was früher mitunter eine verräterische Eigenschaft war, doch inzwischen sind die Menschen größer geworden, und wir fallen diesbezüglich unter ihnen gar nicht mehr auf.
Zwar fehlen uns alle primären Geschlechtsmerkmale, nicht jedoch die sekundären: Für einen Mann würde man einen Werfuchs niemals halten. Normale Frauen sehen uns meistens als lesbisch an. Was Lesben von uns halten, lässt sich denken: Boah, ich werd nicht wieder, ich werd nicht wieder … Und das ist kein Wunder. Noch die schönsten Frauen wirken neben uns wie Rohlinge, grob zugehauene Steinbrocken neben einer fertigen Skulptur.
Unsere Brüste sind klein und perfekt geformt, mit kleinen dunkelbraunen Brustwarzen. Da, wo bei der Frau das Zentrum der Traumfabrikation sitzt, haben wir etwas äußerlich Ähnliches – eine Organimitation, auf deren Sinn und Zweck ich noch zu sprechen komme. Zum Gebären jedenfalls ungeeignet. Und hinten haben wir den Schweif, eine buschige, bewegliche, feuerrote Antenne. Der Schweif lässt sich vergrößern und verkleinern. Im Ruhezustand ähnelt er einem menschlichen Pferdeschwanz von zehn, fünfzehn Zentimeter Länge, im Funktionszustand lässt er sich bis auf einen knappen Meter ausfahren.
Bei diesem Vorgang wird auch die Behaarung dichter und länger. Wie bei einem Springbrunnen, wenn man den Wasserdruck verfielfacht hat. (Parallelen zur Erektion des Mannes würde ich hier nicht ziehen wollen.) Der Schweif spielt in unserem Leben eine besondere Rolle, nicht nur seiner außerordentlichen Schönheit wegen. Ich habe ihn nicht ohne Grund eine Antenne genannt. Der Schweif ist das Organ, mit dem wir die Sinne der Menschen betören.
Wie geschieht das?
Eben mit Hilfe des Schweifes. Mehr lässt sich dazu nicht sagen. Ich habe nicht vor, irgendetwas zu verheimlichen, ich wüsste nur nicht, was noch anzufügen wäre. Weiß denn ein Mensch, wenn er nicht gerade Wissenschaftler ist, zu sagen, wie er sieht? Oder hört? Oder denkt? Er sieht mit den Augen, hört mit den Ohren, denkt mit dem Kopf, fertig. Und wir bezirzen mit dem Schweif. Die Empfindung ist hier ebenso einfach und klar wie bei den zuvor genannten Beispielen. Die Mechanik des Ablaufs in wissenschaftliche Termini zu fassen versuche ich gar nicht erst.
Was die erzielten Sinnestäuschungen angeht, so können diese sehr verschiedener Natur sein. Hier hängt alles von den persönlichen Qualitäten des Werfuchses ab, seiner Phantasie, Einbildungskraft, den besonderen Charaktereigenschaften. Und es spielt eine große Rolle, wieviel Menschen auf einmal der Sinnestäuschung erliegen sollen.
Es gab Zeiten, da waren wir zu vielem in der Lage. Wir erweckten Illusionen von Zauberinseln, führten am Himmel tanzende Drachen vor, und das Tausenden von Leuten. Wir konnten riesige Heere vorspiegeln, wie sie auf die Stadtmauern zu rückten, und alle Stadtbewohner zugleich haben die Streitmacht bis in die Einzelheiten der Ausrüstung, bis hin zu den Aufschriften der Banner gesehen. Aber das waren die großen, die unvergleichlichen Werfüchse der Vergangenheit, die ihre Wundertätigkeit mit dem Leben bezahlten. Insgesamt ist es mit unserer Sippe seit jenen Zeiten deutlich abwärts gegangen – vermutlich wegen der beständigen Nähe zu den Menschen.
So sind meine Kräfte mit denen großer Werfüchse der Vorzeit natürlich nicht zu vergleichen. Sagen wir es so: Einem einzelnen Menschen kann ich beinahe alles vorgaukeln. Zweien, das klappt meistens auch. Bei dreien hängt es schon von den Umständen ab. Es gibt da keine festen Regeln, die Intuition ist entscheidend. Ich weiß, wie weit ich gehen kann, ungefähr so wie ein Bergsteiger, wenn er vor einer Felsspalte steht. Er weiß genau, an welcher Stelle er hinüberkommt und wo nicht. Springt er zu kurz, stürzt er in den Abgrund – das deckt sich mit unserer Art Hexerei.
Seine Grenzen sollte man nicht zu überschreiten versuchen, denn ist eine Vortäuschung nicht stark genug, um das fremde Bewusstsein vollständig einzunehmen, dann sind wir geliefert. Was genau dann abläuft, ist schwierig zu beschreiben, nur das äußerliche Resultat ist immer dasselbe: Wenn einer sich unserem hypnotischen Einfluss jäh entzieht (vom Schweif springt, wie wir sagen), erleidet er einen Anfall mit unvorhersehbaren Folgen. Meistens versucht er, den in diesem Moment vollkommen wehrlosen Werfuchs zu töten.
Dazu muss man wissen, dass unserem Sport ein pikantes Detail eigen ist. Im Ruhezustand ist unser Schweif, wie gesagt, sehr klein, weshalb wir ihn zwischen den Beinen verstecken. Damit die Antenne ihre volle Leistung erreicht, muss sie aufgeklappt werden. Zu diesem Zweck ist es erforderlich, die Hosen etwas herunterzulassen beziehungsweise den Rock zu heben und den Schweif zu einer feuerroten Schleppe zu entfalten. Die Suggestionskraft erhöht sich hierbei um ein Vieldutzendfaches, es ist der Knackpunkt des ganzen Spiels.
Die Notwendigkeit sich zu entblößen müsste in einem fort zu peinlichen und zweideutigen Situationen führen, doch glücklicherweise kommt uns hier ein Umstand zupass: Vollzieht man den Akt der Entblößung schnell genug, vergisst der Augenzeuge alles, was er gesehen hat. Es gibt hier gewissermaßen eine Dunkelphase, zehn, zwanzig Sekunden, die seinem Gedächtnis komplett entfallen; in dieser Zeit können wir das Manöver vollziehen. Man kennt das von Ohnmachten – wenn der Mensch wieder zu sich kommt, weiß er nicht mehr, was unmittelbar vor dem Anfall passiert ist.
Und ein Letztes muss hier noch gesagt sein. Unsere Ernährung ist menschengemäß (sie gleicht in vielem der Atkins-Diät). Darüber hinaus aber vermögen wir die sexuelle Energie des Menschen, die er während des Liebesaktes (ganz gleich, ob real oder eingebildet) abgibt, auf direktem Wege aufzunehmen und zu verwerten. Und während die normale Nahrung für die chemische Regulierung unseres Stoffwechsels sorgt, ist die sexuelle Energie wie eine Art Vitaminstoß für uns, ein Jungbrunnen, eine Charmespritze. Ob das mit Vampirismus zu tun hat? Ich denke nicht. Wir lesen nur auf, was der Mensch in seiner Unvernunft verschleudert. Selbst wenn ihn seine Verschwendungssucht in den Tod treibt – ist das etwa unsere Schuld?
In manchen Büchern steht über Werfüchse geschrieben, dass sie sich nicht waschen – daran könne man sie erkennen. Das hat nun nichts mit Schmuddeligkeit zu tun. Der Überschuss an sexueller Energie dringt in uns ein, tränkt uns mit des Urgrunds unsterblicher Essenz, unser Körper reinigt sich beim Einatmen dieser frischen Morgenluft selbst. Der milde Geruch, den er ausströmt, ist ausgesprochen angenehm; er erinnert an die Duftmarke Essenza di Zegna, nur leichter, transparenter, ohne den schwülen, sinnlichen Mistral im Hintergrund.
Nun, so hoffe ich, wird Ihnen mein Vorgehen verständlicher sein.
Ich hatte also das Wasser angestellt, damit der Kunde es rauschen hörte, knöpfte mir die Hose auf und ließ sie ein wenig herunter, womit der Schweif auch schon befreit war. Dann zählte ich betont gemächlich bis dreihundert (angenommene fünf Minuten) und öffnete die Tür.
In populären Abhandlungen über die Relativitätstheorie wird häufig der Vergleich bemüht, dass zwei Kameras gleichzeitig in Gang gesetzt werden: die eine im autonomen Koordinatensystem, die andere auf dem Kopf des Astronauten. In unserem Fall sollte man besser »im Kopf« sagen.
Was hätte die Kamera im Kopf des Sikhs gefilmt?
Wie die Badezimmertür aufging und das Mädchen seiner süßesten Kinderträume herauskam mit einem blendend weißen Handtuch um den Leib. Das Mädchen trat ins Zimmer, ging zum Bett, schlug die Decke zurück und schlüpfte darunter, wobei sie zart errötete wie eine Braut: Man sah, dass sie erst seit kurzem im Geschäft war und die professionelle Schamlosigkeit noch nicht beherrschte.
Dies war es, was der Sikh sah.
Ob in den Zimmern vom National Kameras existieren, die im autonomen Koordinatensystem arbeiten, entzieht sich meiner Kenntnis. Den Versicherungen des Personals zufolge nicht. Gäbe es sie, hätten sie das Folgende aufgezeichnet:
1. Kein Handtuch. Das Mädchen dachte überhaupt nicht daran, sich zu entkleiden, hatte nur die Hosen ein bisschen heruntergelassen; darüber ragte, einem Federbusch gleich, der Schweif.
2. Das Mädchen trat nicht ins Zimmer, es kam auf allen vieren gekrochen, und der wippende Schweif stand wie ein rotes Fragezeichen über dem Rücken.
3. Mehr als einer zarten Braut glich es einem wilden Tier auf dem Sprung. Seine grünen Augen blickten tückisch und gespannt, nicht die Spur eines Lächelns im Gesicht.
4. Insofern die Bezeichnung »zarte Braut« in der modernen russischen Umgangssprache etwas bedeutet, was dem Ausdruck »wildes Tier auf dem Sprung« doch sehr nahe kommt, ist die Gegenüberstellung hier gar nicht am Platz.
Meiner ansichtig geworden, zog der Sikh die Brauen hoch und schwankte. Wenn einer einen Hypnoschock erleidet, meint man den Schatten eines leisen Überdrusses über sein Gesicht gleiten zu sehen. Wie in dem Moment, wo die Kugel auf den Schädel aufschlägt – wer sich an die Dokumentaraufnahmen von Erschießungen in Vietnam erinnert weiß, wovon ich rede. Nur dass der Kunde von meiner Kugel nicht umfällt.
Ein Lächeln auf dem Gesicht, scharwenzelte der Sikh auf das leere Bett zu; auf dem Weg dorthin schüttelte er das Jackett ab. Ich wartete einen Moment, bis er halbwegs bequem lag, dann setzte ich mich auf den Stuhl daneben und öffnete meine Handtasche.
Ich arbeite an meiner sittlichen Vervollkommnung, darum vermeide ich es, zu einem Kunden hinzusehen, während die kostenwirksame Zeit läuft. Was mit einem Mann vor sich geht, wenn er ein Rendezvous mit einem Werwolf hat, schämt man sich auch nur zu erzählen. Man schämt sich vor allem für ihn, denn er sieht weiß Gott nicht gut dabei aus. Aber auch ein bisschen für sich selbst, denn was dem Mann da geschieht, kommt ja nicht von ungefähr.
Ich bin bei keiner Boulevardzeitung und werde mich darum nicht in schlüpfrigen Details ergehen; es genügt zu sagen, dass der Mann sich besonders unvorteilhaft aufführt, wenn er seine sexuellen Phantasien auszuleben beginnt. Dass er sich dabei allein in der Arena aufhält, steigert die Obszönität ins Quadrat. Trägt der Mann dann noch einen blauen Turban und ist so behaart, dass man meint, ihm wüchse der Bart am ganzen Körper, gelangen wir von der zweiten in die dritte Potenz.
Eine Sinnestäuschung aufrechtzuerhalten ist sehr viel einfacher, als sie, den fremden Geist annektierend, zu erzeugen. Die erste Sekunde ist entscheidend, der Rest Routine. Trotzdem sollte man, solange der Kunde im Reich der Illusionen weilt, lieber in der Nähe bleiben; man hat die Funktion einer Nachtschwester zu erfüllen. Dem Patienten zuzusehen ist jedoch mitunter arg, wie gesagt. Darum habe ich in der Regel ein gutes Buch dabei. So auch diesmal: Ich machte es mir neben dem Bett bequem und griff zu Stephen Hawkings Kurzer Geschichte der Zeit, aus der eine Menge Interessantes über die diversen parallel existierenden Koordinatensysteme zu erfahren ist. Ich habe das Buch schon mehrmals von vorne bis hinten durchgelesen, und es wird mir nicht zu viel, ich kann immer noch so herzlich lachen wie beim ersten Mal. Dabei vermute ich ja, dass es gar nicht ganz ernst gemeint ist, eine postmodernistische Narretei. Schon der Name Stephen Hawking klingt verdächtig nach einem anderen Horrorschriftsteller, Stephen King. Nur dass der Horror hier von anderer Art ist.
Der Sikh erwies sich als einigermaßen friedfertig; er faselte etwas in seiner Muttersprache und machte sich in der Bettmitte zu schaffen, man musste nicht fürchten, dass er herausfiel. Trotzdem warf ich gelegentlich einen Kontrollblick auf den Patienten, wie es sich für eine Nachtschwester gehört. Als er meinte, das Nichts lange genug von oben umfangen zu haben, schmiegte er sich seitlich an. Sodann bestieg er es wieder.
An diesen Anblick kann man sich nur schwer gewöhnen. Die Leute kriegen Muskelkrämpfe, und darum sieht es in diesen Phasen so aus, als läge der Kunde tatsächlich auf einem unsichtbaren Körper. Sein ganzes Gewicht ruht auf den seltsam verrenkten Händen, manchmal auch nur den Fingern. Willentlich könnte ein Mensch sich schwerlich auch nur Sekunden in solch einer Positur halten, in Trance bringt er Stunden darin zu. Doch derlei Phänomene sind in der Literatur zur Hypnose ausführlich beschrieben, da springt kein Nobelpreis für mich raus. Was soll mir auch der Menschen Ruhm! Ich brauche von den Menschen nichts weiter als ihre Liebe und ihr Geld.
Diese Methode zur Bewahrung ewiger Jugend, wie sie der allgemeine Lauf der Dinge mir eröffnete, hat mich immer ein bisschen peinlich berührt, auch wenn ich alle Bezichtigungen eines Vampirismus von mir weise. Fremde Lebenskraft zu stehlen hat mir nie irgendwelche Lust bereitet. Ich meine, moralische Befriedigung. Der physiologische Aspekt bei der Sache ist nicht von der Hand zu weisen, doch er unterliegt keiner moralischen Bewertung: Noch der tierliebste Mensch kann mit Genuss ein blutiges Steak verzehren, das ist kein Widerspruch. Außerdem habe ich – im Unterschied zu den Menschen, für die das Töten von Tieren normal ist – schon seit Jahrhunderten niemanden mehr ums Leben gebracht. Jedenfalls nicht wissentlich. Unglücksfälle mag es geben, doch eine mit mir verbrachte Nacht ist auf jeden Fall weniger gefährlich als ein Flug mit einem russischen Hubschrauber bei mittelmäßiger Sicht. Und wird bei mittelmäßiger Sicht mit Hubschraubern geflogen? Sehen Sie. So ein Hubschrauber bin auch ich.
Außerdem empfinde ich es nicht so, dass ich jemandem persönlich Energie klaue. Wenn einer einen Apfel isst, nimmt er zu diesem Apfel keine private Beziehung auf, er folgt der bestehenden Weltordnung. Ähnlich betrachte ich meine Position in der Nahrungskette. Energie, die dazu bestimmt ist, Leben zu zeugen, kann niemandem gehören. Wer sich in den Liebesakt einlässt, wird zum Kanal, verwandelt sich von einem versiegelten Gelaß in ein Rohr, das für ein paar Sekunden mit dem bodenlosen Urquell von Lebenskraft kommuniziert. Diesen Quell muss ich anzapfen, das ist alles.
»Jetzt dreh dich mal auf dein Bäuchlein, Kleines«, sagte der Sikh. »Wir wollen ein bisschen zur Sache kommen.«
Analsex ist der Lieblingssport von Portfolio-Managern. Das lässt sich psychoanalytisch einfach erklären. Nicht zufällig existiert der Ausdruck Arschvergolden in zweierlei Bedeutung. Mein Verhältnis zum Analverkehr ist positiv. Denn dabei lässt der männliche Organismus besonders viel Lebenskraft springen – Erntehochzeit für unsereins.
Ich legte das Buch beiseite, schloss die Augen und startete die übliche Visualisierung: Yin und Yang, umgeben von acht lodernden Trigrammen. Dann visualisierte ich mich selbst als die schwarze Hälfte des Zeichens, den Sikh als die weiße. In der Mitte der schwarzen Hälfte glühte ein weißer Punkt auf, in der Mitte der weißen erschien ein schwarzer. Die weiße Hälfte verdunkelte sich, die schwarze hellte auf, am Ende hatten sie ihre Plätze vertauscht. Somit war die gesamte Energie der Situation an mich gegangen.
Für einen Dilettanten wäre das der naheliegende Moment, um auszukoppeln. Ich hingegen arbeite ausschließlich nach der Methode Die Braut gibt einen Ohrring zurück – so poetisch wurde sie vor rund sechshundert Jahren im Reich der Mitte bezeichnet.
Beim Stehlen fremder Lebenskraft ist es wichtig, den Himmel und die Geister nicht durch Geiz zu erzürnen. Darum gab ich der Situation Raum zur Gegenbewegung. Der Energiestrom versiegte, und es entstand ein Rückstoß. Meine Visualisierung änderte sich dementsprechend rapide: Im Zentrum der weißen Hälfte vom Yin-Yang entstand ein kleiner schwarzer Fleck, in der schwarzen Hälfte einer in weiß. Erst als beide deutlich sichtbar waren, kappte ich die Energieverbindung und ließ die Visualisierung zu Nichts zergehen.
Ein guter Spieler wird das Casino nach einem großen Gewinn nicht gleich verlassen – lieber noch ein bisschen was verlieren, um die Missgunst der Leute zu besänftigen. So verhält es sich auch in unserem Fach. Die meisten Werfüchse im Altertum sind nur wegen ihres Geizes totgeschlagen worden. Damals begriffen wir: Teilen ist wichtig! Der Himmel grollt uns weniger, wenn wir Mitgefühl zeigen und einen Bruchteil der Lebensenergie rückerstatten. Das mag einem als Peanut erscheinen, doch es macht einen Unterschied aus – wie, sagen wir, zwischen Diebstahl und Pfandversteigerung. Formell haben die Geister hier nichts zu beanstanden. Und das Gewissen lässt sich sowieso nicht betrügen, man kann es also getrost außen vor lassen.
Der Sikh erhob sich und wankte ins Bad. Kam zurück, streckte sich auf dem Rücken aus, zündete sich eine Zigarette an und begann dem benachbarten Kopfkissen eine Geschichte aus seinem Leben zu erzählen; er klang erschöpft. Männer werden nach dem Koitus für eine halbe Stunde gütig und gesprächig, das hängt mit dem Dopaminausstoß im Hirn zusammen, eine Belohnung nach erfüllter Pflicht. Ich hörte kaum hin. Viel lieber hätte ich weitergelesen, wie das schwarze Loch sich verhält, wenn sein Durchmesser infolge eines Gravitationskollapses die Entfernung zum Ereignishorizont unterschreitet.
An diesen astrophysikalischen Modellen meinte ich einen erotischen Subtext wahrzunehmen, in mir reifte die Überzeugung, dass Stephen Hawkings Buch weniger von Physik handelt als vom Sex – nicht von den kümmerlichen Formen menschlicher Kopulation, nein, von einem grandiosen kosmischen Koitus, bei dem die Materie gezeugt wurde. Hier gibt es wiederum im Englischen eine sprachliche Übereinstimmung, die zu denken gibt: Big Bang meint den Urknall genauso wie den Großen Fick. Die verborgensten Seiten des Universums liegen im Dunkel der schwarzen Löcher verborgen, man hat keinen Einblick in die nackte Singularität, von dort dringt so wenig Licht heraus wie aus einem Schlafzimmer in dem der Kronleuchter ausgeschaltet ist. Im Grunde sind Astrophysiker auch bloß Voyeure, fiel mir ein. Letzteren gelingt es immerhin ab und zu, durch den Spalt zwischen den Vorhängen einen Blick auf den fremden Liebesakt zu erhaschen, während die Physiker vom Schicksal härter geschlagen sind, sie blicken ins Zappendustere, und alles bleibt ihrer Einbildung überlassen …
Als der Sikh mit seiner Zigarette und der Geschichte fertig war, drehte er sich auf die Seite und ging erneut und für länger ans Werk. Das rhythmische Knarren der Matratze war von einschläfernder Wirkung. Und ich beging die ärgste Dummheit, zu der ein Werfuchs im Dienst fähig sein kann: Ich schlief tatsächlich ein.
Eigentlich war ich nur kurz weggenickt und gleich wieder aufgewacht. Doch das hatte genügt. Mein Gefühl sagte mir, dass der Kontakt zu dem Sikh abgerissen war. Ich schaute auf – in seine aufgerissenen Augen. Er sah mich, und zwar so, wie ich wirklich war: auf meinem Stuhl sitzend, mit halb heruntergelassener Hose und hinter dem Rücken aufragendem Schweif. Dieser Anblick aber ist nur den Spiegeln und den Geistern gestattet – niemandem sonst.
Zuallererst dachte ich, einen Dao-Beschwörer vor mir zu haben. Aber das war ein selten dämlicher Gedanke, denn
1. lebte der letzte Dao-Mönch, der sich auf die Fuchsjagd verstand, im achtzehnten Jahrhundert; und selbst wenn sich einer in unser Jahrhundert herübergerettet hätte, wäre er
2. schwerlich darauf gekommen, sich als Sikh mit Bart und Oxford-Englisch zu tarnen – too freaking much; da ich
3. nach der Methode Die Braut gibt einen Ohrring zurück arbeite, wären Dao-Mönche formell gar nicht berechtigt, auf mich Jagd zu machen. Und
4. kommen Daoisten nie dreimal hintereinander.
Doch unsere ererbte Angst vor Beschwörern böser Geister sitzt tief, sodass wir im Augenblick der Gefahr immer an sie denken. Bei Gelegenheit werde ich einmal ein paar Geschichten über diese Typen zum Besten geben, damit meine Gefühle verständlicher werden.
Schon eine Sekunde später wusste ich, das war kein Dao-Mönch. Mein Kunde war mir vom Schweif gesprungen. Ein Anblick zum Grausen. Dem Sikh klappte der Mund auf und zu wie einem Fisch auf dem Trocknen. Im Bestreben, seinen ungehorsamen Körper unter Kontrolle zu bekommen, hob er die Arme, die Finger schlossen sich krampfhaft zur Faust und öffneten sich wieder. Dann stieß er ein paar röchelnde Laute hervor – und stand im nächsten Moment auf den Füßen.
Hier endlich löste ich mich aus meiner Starre und stürzte ins Badezimmer. Der Sikh kam hinterhergesprungen, doch es gelang mir, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Im Augenblick der Gefahr arbeitet mein Denken außerordentlich schnell; ich wusste sofort, was zu tun war.
In jedem Badezimmer vom National gibt es eine rot-weiße Schnur, die aus einem Loch in der Wand kommt. Woran sie hängt, weiß ich nicht, doch zieht man an ihr, klingelt im Zimmer nach zehn Sekunden das Telefon, und noch eine Minute später wird an die Tür geklopft. Ich riss an dieser Signalleine und stürzte zurück zur Badtür.
Die nächsten Sekunden wurden ziemlich aufregend. Die Schläge gegen die Tür gingen mir durch Mark und Bein. Ich wartete auf die Wache und zählte vor mich hin, bemühte mich, nicht zu schnell zu zählen. Der Sikh hämmerte gegen die Tür wie ein Wilder, doch mir gelang es ohne weiteres gegenzuhalten – er war ja kein Hüne.
Das Telefon klingelte in Sekunde zwanzig. Natürlich ging der Sikh nicht ran. Als das Wummern ein, zwei Minuten später aussetzte, schloss ich daraus, dass Leute im Zimmer waren. Es wurde auch höchste Zeit, die Türangeln hatten sich bereits gelockert. Ich hörte Möbel umstürzen, Glas splittern und einen unverständlichen Schrei, etwas wie »Kali ma!«. Das war der Sikh. Dann trat Stille ein, von entferntem Autohupen abgesehen.
»Scheiße, das wars«, sagte eine Männerstimme. »Der war nicht zu halten.«
» Sei froh, dass wir uns selber halten konnten«, sagte eine andere.
»Stimmt auch wieder«, erwiderte der Erste.
Es war besser, mich bemerkbar zu machen, als zu warten, bis sie mich fanden.
»Hilfe!«, rief ich in kläglichem Ton.
Die Tür ging auf.
Zwei Schränke standen auf der Schwelle. Sonnenbrillen, Anzüge, hautfarbene Kabel, die aus den Ohren kamen … Agent-Smith-Kult pur! kam mir der Gedanke. Daraus ließe sich eine vorzügliche Religion für Sicherheitsdienste bauen – die Legionäre im alten Rom hatten ja auch den Mithra angebetet.
Einer der Wachmänner murmelte etwas vor sich hin, ich verstand nur »dreihundertneunzehn« und »Notruf«. Er sprach nicht mit mir.
Soviel ich weiß, ist das Mikrofon bei ihnen unter dem Revers versteckt, darum scheint es so, als führten sie Selbstgespräche. Das wirkt manchmal sehr lustig. Einmal erlebte ich so einen Schlagetot, wie er eine öffentliche Damentoilette in Augenschein nahm. Stieß eine Kabinentür nach der anderen auf und sprach in singendem Tonfall: »Ist niemand drin … Hier auch niemand … Das Fenster ist verdeckt von einem Wandvorsprung …« Hätte ich nicht gewusst, was Sache war, ich wäre auf den Gedanken gekommen, da weinte einer einem verhinderten Rendezvous nach und kleidete seine Trauer in Jamben.
»Hast du an der Schnur gezogen?«, fragte der zweite Wachmann.
»Ja«, sagte ich. »Aber wo ist denn …«
Der Wachmann deutete mit dem Kopf auf das weit offen stehende Fenster, dessen Scheibe eingeschlagen war.
»Da draußen.«
»Was denn?« Ich machte große Augen. »Er wird doch nicht…«
»Doch«, sagte der Wachmann. »Wie ein Besessener hat er sich rausgestürzt, kaum dass er uns gesehen hat. Habt ihr Drogen genommen?«
»Was denn für Drogen? Ich arbeite schon ein Jahr hier. Alle kennen mich, es hat nie Probleme gegeben.«
»Jetzt hast du eins. Was hat er von dir gewollt?«
»Ich habs gar nicht begriffen. Er wollte, dass ich irgendwelches Fisting mache. Kann ich nicht, hab ich zu ihm gesagt, und da ist er … Na, ich hab mich mit Mühe und Not ins Bad gerettet und den Notruf gezogen. Das Übrige haben Sie gesehen.«
»Kann man wohl sagen. Hast du deinen Ausweis dabei?«
Ich schüttelte den Kopf. Wenn du so einem deinen Ausweis gibst, siehst du ihn nie wieder.
»Könnte ich jetzt vielleicht gehen? Bevor die Bullen kommen?«
»Gehen? Spinnst du? Du bist hier die Kronzeugin«, sagte der Wachmann. »Du wirst schön deine Aussagen machen, was ihr beiden hier getrieben habt.«
Das passte mir nicht in den Plan. Ich überdachte die Lage. Solange ich es nur mit zweien zu tun hatte, bestand die Chance, die Sache zu vertuschen. Sie schrumpfte mit jeder Sekunde – ich wusste, bald würde hier die Bude voll sein.
»Darf ich mal auf Toilette?«
Der Wachmann nickte, und ich kehrte ins Badezimmer zurück. Schnelles Handeln war angesagt, ich zögerte keinen Augenblick. Ließ die Hosen runter, der Schweif sprang heraus, ich beugte mich nach vorn und öffnete die Tür. All dies in heftiger Bewegung, sodass die Wachleute ihre Köpfe zu mir herumrissen.
Meiner Ansicht nach entlarvt sich der Mensch am ehesten in dem kurzen Bruchteil einer Sekunde, da er den Fuchsschweif schon sieht, aber noch nicht unter seinem Einfluss ist. Meist bleibt dem Kunden so viel Zeit, seine Haltung zu dem, was er sieht, zum Ausdruck zu bringen. Dies wiederum genügt, um zu erkennen, mit wem man es zu tun hat.
Vulgäre und beschränkte Typen verziehen das Gesicht zu einer Grimasse finsteren Unglaubens. Leuten hingegen, die das Potential haben, über sich hinauszuwachsen, kann man eine Art freudiges Staunen aus der Miene ablesen.
Der eine Wachmann furchte die Stirn. Dem anderen quollen die Augen hervor, was selbst durch die dunklen Brillengläser zu sehen war, und er stand da mit offenem Mund: wie ein kleines Kind, das das vom Fotografen verheißene Vögelchen tatsächlich gesehen hat. Es sah richtig niedlich aus.
Meinen Eindruck ganz aus ihrem Gedächtnis zu löschen war natürlich unmöglich – dazu hätte ich ihnen mit der Pistole eine Kugel in den Kopf schießen müssen. Doch wenigstens ließ sich die Erinnerung in einen anderen Kontext versetzen. So suggerierte ich ihnen, sie hätten mich auf dem Korridor getroffen, als sie auf dem Weg ins Zimmer waren. Dann hieß ich sie ins Badezimmer gehen. Kaum hatte sich die Tür hinter ihnen geschlossen, hob ich meinen Hawking vom Boden auf, stopfte ihn in die Handtasche, schloss den Hosenbund und stürzte auf den Korridor.
An der Treppe stand noch ein weiterer Wachmann. Er sah mich, gab mir ein Zeichen näher zu kommen. Kaum stand ich vor ihm, fing er an, mit der Hand über meine Gesäßbacken zu fahren, was mich zwang, den Schweif so fest wie möglich zwischen ihnen einzuklemmen. Unter anderen Umständen hätte ich ihm einen blauen Fleck zum Andenken gekniffen, das wäre das Mindeste gewesen. Jetzt aber, da ich nicht wusste, wohin das alles führte, zog ich es vor, ihm nur einen Klaps auf die Hand zu geben. Darauf drohte er mir mit dem Finger und ließ die Geste fließend in eine andere übergehen: Daumen und Zeigefinger fanden zusammen und rieben sich.
Ich verstand. Für gewöhnlich haben Mädchen wie ich ihre hundert Dollar unten am Ausgang abzulassen, hier aber wurde mir durch höhere – beziehungsweise niedere – Gewalt nahe gelegt, die Rechnung vor Ort zu begleichen. Ich zog einen Benjamin aus der Handtasche, den der Wächter mit denselben zwei Fingern an sich zupfte, die er eben noch gegeneinander gerieben hatte. Der Geste in ihrer Bündigkeit wohnte eine eigentümliche Schönheit inne: Drohen, Mahnen, Abkassieren in einem Zug. Keine Muskelanspannung zu viel. Den Meister erkennt man an der Positur, wie der japanische Schwertkünstler Minamoto Musashi zu sagen pflegte.
Ich lief die liliengeschmückte Treppe hinab und gelangte ohne weitere Abenteuer auf die Straße. Rechts vom Eingang hatte sich schon eine Menschenmenge gebildet, darunter mehrere Polizisten – dort lag vermutlich der arme Sikh. Ich ging in die Gegenrichtung und bog nach wenigen Schritten um eine Ecke. Nun musste ich mir nur noch ein Taxi winken. Es hielt beinahe sogleich.
»Bitza-Park«, sagte ich. »Pferdesportzentrum.«
»Dreihundertfünfzig Rubel«, gab der Fahrer zur Antwort.
Für ihn war es heute ein glücklicher Tag. Ich ließ mich in den Rücksitz fallen, schlug die Tür zu, und das Taxi entführte mich der Katastrophe, die noch vor fünf Minuten unausweichlich erschienen war.
Ich hatte mir nichts vorzuwerfen, doch die Laune war dahin. Nicht bloß, dass ein unschuldiger Mensch ums Leben gekommen war. Ich hatte meinen Arbeitsplatz im National verloren.
In absehbarer Zeit durfte ich mich dort nicht mehr blicken lassen. Das hieß, ich musste nach anderen Einkommensquellen Ausschau halten. Und das schon ab morgen – mein Geld ging zur Neige, der vorhin dem Wächter abgelassene Hunderter brachte mich schon ins Minus.
Ein Bekannter von mir meinte einmal, das Böse lasse sich heutzutage nur mit Geld besiegen. Eine interessante Beobachtung, wenn auch aus metaphysischer Sicht nicht ganz korrekt: Nicht von einem Sieg über das Böse kann die Rede sein, sondern von der Möglichkeit, sich vorübergehend davon loszukaufen. Ohne Geld aber hat das Böse dich binnen zwei, drei Tagen fest im Griff, das ist eine verbürgte Tatsache.
Mit Spiegelfechtereien hätte ich es leicht zu einem Vermögen bringen können. Doch ein tugendhafter Werfuchs sollte sein Geld ausschließlich als Hure verdienen und seine hypnotische Gabe keinesfalls zu anderen Zwecken gebrauchen – ein Gesetz des Himmels, das zu missachten unstatthaft ist. Manchmal muss es freilich sein. Eben erst hatte ich den beiden Wachleuten Sand in die Augen gestreut. Doch das darf man sich nur erlauben, wenn Leben und Freiheit akut in Gefahr sind. An leichtgläubige Kassierer oder Gesellschaften mit beschränkter Haftung hat ein Werfuchs keinen Gedanken zu verschwenden. Und wenn die Verlockung zu stark wird, muss man sich mit Beispielen aus der Geschichte wappnen. Jean-Jacques Rousseau hätte in Geld schwimmen können, aber was tat er sein Leben lang fürs tägliche Brot? Noten kopieren.
In einem anderen Hotel unterzukommen war nicht einfach, ich sah deshalb für die allernächste Zukunft nur zwei Möglichkeiten: die Bordsteinkante oder das Internet. Letzteres erschien attraktiver – die Magistrale des Fortschritts schlechthin! Sich auf der Glasfasermeile feilzubieten war futuristisch und hatte Stil. Komisch, dachte ich mir, da redet nun alles unentwegt über den Fortschritt, und worin besteht er? Dass die alten Gewerbe sich ein elektronisches Interface zulegen. Daran, was eigentlich abgeht, ändert der Fortschritt nicht viel.
Dem Chauffeur blieb meine düstere Stimmung nicht verborgen.
»Was ist?«, fragte er, »hat dich wer beleidigt, Herzchen?«
»Ach ja«, sagte ich.
Der Letzte in der Reihe war er selber gewesen, als er den Preis für die Fahrt festgesetzt hatte. Dreihundertfünfzig!
»Vergiss es«, meinte der Chauffeur. »Wenn du wüsstest, wie oft am Tag ich beleidigt werde! Nähme ich mir das alles zu Herzen, dann hätte ich bald einen Luftballon voll Scheiße in der Brust. Schwamm drüber, das rat ich dir. Morgen ist es vergessen. Und das Leben ist lang, weißt du.«
»Das weiß ich«, sagte ich. »Aber Schwamm drüber, wie soll das gehen?«
»Einfach so. Denk an was andres. Irgendwas Schönes.«
»Und woher nehmen?«
Der Taxifahrer äugte im Spiegel nach mir.
»Gibts denn gar nichts Schönes in deinem Leben?«
»Nein«, entgegnete ich.
»Wie kann das sein?«
»Hat sich so ergeben.«
»Ein einziges Jammertal?«
»Klar. Ist doch bei Ihnen nicht anders.«
»Mach halblang, Mädel«, lachte der Taxifahrer. »Das kannst du gar nicht wissen.«
»Doch«, sagte ich. »Sonst säßen Sie ja nicht hier drin.«
»Wieso?«
»Ach, das könnte ich Ihnen erklären, aber … ich weiß nicht, ob Sie es verstehen.«
»Pfffh!«, machte der Fahrer. »Glaubst du, ich bin doofer als du? Wenn du es verstanden hast, dann werd ichs wohl auch noch raffen.«
»Na schön. Ist Ihnen klar, dass das Leiden die Materie ist, aus der die Welt besteht?«
»Wie kommst du darauf?«
»Das ließe sich nur an einem Beispiel erklären.«
»Dann tus.«
»Kennen Sie die Geschichte vom Baron Münchhausen, der sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zieht?«
» Kenn ich«, sagte der Chauffeur. »Hab ich sogar mal im Kino gesehen.«
»Die Realität dieser Welt steht auf ähnlichen Fundamenten. Man muss sich vorstellen, dass Münchhausen im leeren Raum schwebt und sich mit aller Kraft die Eier quetscht, was höllisch wehtut, sodass er schreit wie verrückt. Einerseits bedauerlich. Andererseits ist seine Situation dadurch besonders heikel, dass er, wenn er seine Eier losließe, sich augenblicklich in Luft auflösen würde. Seiner Natur nach ist er nämlich nur ein Gefäß für den Schmerz, mit grauem Zopf. Sobald der Schmerz weg ist, verschwindet auch er.«
»Haben sie dir das in der Schule beigebracht oder zu Hause?«, fragte der Chauffeur.
»Weder noch«, sagte ich. »Auf dem Nachhauseweg von der Schule. Ich habe einen weiten Weg, da hört und sieht man so manches. Haben Sie mein Beispiel verstanden?«
»Klar«, antwortete er. »Ich bin ja nicht blöd. Und jetzt hat dein Münchhausen also Schiss, seine Eier loszulassen, oder wie?«
»Ist doch logisch. Er wäre sofort nicht mehr da, wie gesagt.«
»Aber vielleicht wäre das ja besser so? Was ist das denn für ein Leben!«
»Stimmt. Und deswegen existiert der Gesellschaftsvertrag.«
»Gesellschaftsvertrag? Was ist das nun wieder?«
»Jeder Münchhausen für sich genommen könnte beschließen, seine Eier fahren zu lassen, aber …«
Mir fielen die Kulleraugen des Sikhs wieder ein, und ich verstummte. Irgendeine von meinen lieben Schwestern hat einmal behauptet, wenn dir einer während einer verunglückten Sitzung vom Schweif springt, dann blickt er sekundenlang der Wahrheit ins Auge. Und diese Wahrheit ist für einen Menschen so unerträglich, dass er als Erstes versucht, den Werfuchs zu töten, der die aufschlussreiche Offenbarung zu verantworten hat, und anschließend sich selbst … Andere Werfüchse wiederum sind der Ansicht, der Mensch begreife schlagartig, dass das Leben in diesem Körper ein dummer, peinlicher Fehler ist. Und dann versuche er als Erstes, sich beim Werfuchs für die Offenbarung zu bedanken. Um anschließend den Fehler der eigenen Existenz zu korrigieren. Das ist natürlich alles Quatsch. Aber wie solche Gerüchte in die Welt kommen, kann man sich denken.
»Was, aber?«, fragte der Chauffeur nach.
Ich tauchte aus meinen Gedanken auf.
»Aber wenn sechs Milliarden Münchhausens einander kreuzweise bei den Eiern gepackt halten, hat die Welt nichts zu befürchten.«
»Wieso?«
»Ganz einfach. Sich selber könnte ein Münchhausen leicht loslassen, wie Sie ganz richtig bemerkten. Aber je kräftiger irgendein anderer bei ihm zudrückt, desto härter fasst er die beiden an, die er im Griff hat. Und so geschieht das sechs Milliarden Mal. Verstehen Sie?«
»Pah! So was kann sich auch bloß eine Frau ausdenken.«
»Da bin ich schon wieder anderer Meinung«, sagte ich, »es ist im Gegenteil ein extrem männliches Weltbild. Ein chauvinistisches, würde ich sagen. Die Frau kommt darin überhaupt nicht vor.«
»Wieso nicht?«
»Na. Die Frau hat nun mal keine Eier.«
Den Rest des Weges fuhren wir schweigend.
So kann es gehen: Du machst jemandem das Herz schwer, und schon wird dir leichter. Wie kommt das? Es ändert sich doch überhaupt nichts dabei – weder in deinem Leben, noch in dem anderen … Ein Geheimnis. Aber nitschewo, sollte er ruhig einmal über die wichtigen Dinge des Lebens nachdenken, das hat noch keinem geschadet.
Am nächsten Morgen stand die Sache mit dem Sikh in den Nachrichten. Nicht seinetwegen war ich ins Internet gegangen, doch irgendein dreister Wurm hatte mir das Informationsportal nachrichten.ru als Startseite definiert, und ich war noch nicht dazu gekommen, das zu ändern. Ich zwang mich, die Meldung bis zu Ende zu lesen:
GESCHÄFTSMANN AUS INDIEN BEGING SELBSTMORD VOR DEN AUGEN DER SICHERHEIT
Das Moskauer Hotel National entwickelt sich im öffentlichen Bewusstsein immer mehr zu einer Gefahrenzone. Noch ist der Terroranschlag in seinem Eingangsbereich den Moskauern in frischer Erinnerung, da ereignet sich ein neuer spektakulärer Vorfall: Ein Geschäftsmann (43) aus Indien, Bundesstaat Punjab, nahm sich durch einen Sprung aus dem Fenster im vierten Stock das Leben. So wird zumindest von zwei im Hotel angestellten Wachleuten behauptet, die zum Zeitpunkt der Tragödie bei ihm waren. Nach ihren Aussagen hatte der Gast aus Indien sie durch Betätigen der Notrufsignalleine ins Zimmer gerufen; bei ihrem Erscheinen habe der Inder Anlauf genommen und sei ohne ersichtlichen Grund aus dem Fenster gesprungen. Nach Aufschlagen auf dem Pflaster war der Geschäftsmann sofort tot. Ersten Ermittlungen zufolge hatte er kurz zuvor Besuch von einer jungen Dame aus der Halbwelt. Die Untersuchungen dauern an.
Wieso vierter Stock, fragte ich mich zunächst, er hatte doch Zimmer dreihundertneunzehn? Aber dann fiel mir ein, dass die Nummerierung nach westeuropäischer Mode eingerichtet war, Parterre und erster Stock wurden nicht gezählt, die Dreihundertneunzehn lag tatsächlich im vierten.
Von da wanderten meine Gedanken zu dem rätselhaften Wort Halbwelt. Warum eigentlich nicht Viertelwelt? Mit dieser Art Wortbildung ließe sich der moralische Niedergang einer Frau mathematisch exakt bestimmen. Da wäre bei mir in zweitausend Jahren bestimmt ein stattlicher Nenner aufgelaufen …
Endlich kam in mir doch so etwas wie Scham auf: Hatte ich denn gar kein Mitleid? Da war ein mir in gewisser Weise nahestehender Mensch gestorben – ich aber zählte Etagen und stellte Bruchrechnungen an. Auch wenn die Nähe nur zeitweilig-vorbehaltlich-halluzinatorisch gewesen war: Es gehörte sich, Mitleid zu empfinden, wenigstens in einer vagen, der Art unserer Begegnung angemessenen Form. Doch ich empfand keines – das Herz verweigerte es rundheraus. Tote Hose, wie meine jungen Mitstreiterinnen aus der Provinz dazu sagen. Stattdessen dachte ich noch einmal über die möglichen Ursachen für die Ausschreitung von gestern nach:
1. konnte es an der Astralkulisse im Hotel National gelegen haben, wo in einer Ehrengäste des Hauses betitelten Fotogalerie Isadora Duncan neben Dzierzynski hängt;
2. konnte der Vorfall die karmische Folge irgendeines dieser blutigen Geschäftsrituale gewesen sein, die sie in Asien so sehr lieben, oder
3. eine indirekte Folge der Abkehr Indiens von der Lehre Buddhas im Mittelalter;
4. hatte der Sikh insgeheim doch die Göttin Kali angebetet – sonst hätte er nicht noch im Sprung aus dem Fenster »Kali ma!« gerufen.
Zur Erläuterung sei angemerkt, dass bis zu fünf innere Stimmen in mir wohnen, von denen wiederum jede ihren eigenen inneren Dialog führt; außerdem können sie beim geringsten Anlass miteinander in Streit geraten. Ich mische mich da nicht ein, höre nur aufmerksam zu, um womöglich einen Hinweis auf des Rätsels Lösung zu erhaschen. Namen haben die einzelnen Stimmen keine. Diesbezüglich bin ich von schlichtem Gemüt – manche Werfüchse haben an die vierzig solcher Stimmen, jede heißt irgendwie, und die Namen sind klangvoll und komplex.
Die alten Werfüchse behaupten, dass diese Stimmen den Seelen gehört haben, die von uns in Zeiten der Ursuppe geschluckt worden sind: Der Legende nach haben sie sich damals in uns eingenistet, sind eine Art Symbiose mit unserem eigenen Wesen eingegangen. Aber das sind wohl eher Ammenmärchen, denn alle diese Stimmen sind meine, auch wenn jede verschieden ist. Und wollte man den Überlegungen der alten Werfüchse folgen, so ließe sich behaupten, auch ich wäre eine von irgendwem in alter Zeit verschluckte Seele. Eine sinnlose Umstellung von Summanden, bei der sich an der Summe A Huli nichts ändert.
Aufgrund dieser Stimmen jedenfalls denken Werfüchse anders als Menschen. Der Unterschied ist, dass nicht nur ein Denkprozess in unserem Bewusstsein abläuft, sondern mehrere parallel. Der Verstand geht verschiedene Wege auf einmal und kann sehen, auf welchem von ihnen zuerst die Wahrheit aufblitzt. Um diese Besonderheit meines Innenlebens zu verdeutlichen, bezeichne ich die verschiedenen Ebenen meines inneren Gedankenaustauschs mit den Ziffern 1., 2., 3. etc.
Diese Denkprozesse kommen einander nie ins Gehege, sie verlaufen absolut autonom, doch mein Bewusstsein ist in jeden einbezogen. Man kennt das von Zirkusartisten, die mit einer größeren Anzahl von Gegenständen jonglieren. Was die mit ihren Gliedmaßen zuwege bringen, das tue ich mit dem Geist, so lässt sich das sagen. Aufgrund dieser Eigenart neige ich dazu, Listen aufzustellen, alles in Punkte und Unterpunkte zu zerlegen – auch wo nach menschlichem Ermessen keine Notwendigkeit dafür besteht. Sollten derlei Register auf diesen Seiten hin und wieder auftauchen, bitte ich also um Nachsicht. Genau so spielt sich das alles in meinem Kopf ab.
Ich holte mir den toten Sikh so plastisch wie möglich vor Augen und sprach ein dreifaches Mantra für sein Seelenheil, dann wechselte ich nach reuters.com, um zu erfahren, was es Neues auf der Welt gab. Auf der Welt war alles genau so wie in den letzten zehntausend Jahren. Die Schlagzeile America Ponders Mad Cow Strategy bereitete mir Spaß. Anschließend öffnete ich mein E-Mail-Postfach.
Außer einem Angebot zur Penisverlängerung und einer verzipten Datei, die ich schon aufgrund des leidigen Betreffs (Britney Blowing a Horse) lieber nicht öffnete, gab es eine freudige Überraschung: einen Brief von meiner Schwester I Huli, von der ich schon länger nichts gehört hatte.
Schwesterlein I kannte ich seit der Zeit der Streitenden Reiche. Sie hatte es faustdick hinter den Ohren. Vor vielen Jahrhunderten war sie ganz China als kaiserliche Konkubine mit Namen Fliegende Schwalbe ein Begriff. Infolge ausgiebiger Beobachtung ihrer Flüge starb der Kaiser zwanzig Jahre vor der Zeit. Hierfür wurde I Huli von den Schutzgeistern bestraft, sie führte fortan ein Schattendasein, spezialisiert auf reiche Aristokraten, die sie in der Stille ihrer provinziellen Landgüter, unbemerkt von aller Welt, ausnahm. Die letzten paar Hundert Jahre hatte sie in England gelebt.
Der Brief war ganz kurz:
Grüß Dich, Rotschwänzchen,
wie ist die Lage? Hoffe, bei Dir ist alles o.k. Entschuldige, dass ich Dich aus nichtigem Anlass behellige, aber ich bräuchte dringend eine Auskunft von Dir Meinen Recherchen zufolge existiert in Moskau eine Kathedrale Christi Schutzmann, die sie erst bis auf den letzten Stein geschleift haben, um sie hinterher genauso wiederaufzubauen. Stimmt das? Was weißt Du darüber? Gib schnell Antwort!
Ich liebe Dich und denk an Dich
Deine I
Seltsam! dachte ich, wie kommt sie auf einmal darauf? Doch eine schnelle Antwort war erbeten. Ich klickte auf Reply.
Grüß Dich, Rotschopf!
Bei uns im Norden ist alles beim Alten. Ich schreibe demnächst ausführlicher, hier erst mal die Antwort auf Deine Frage. Ja, in Moskau gibt es eine Christi-Erlöser-Kathedrale, wie sie korrekt heißt, die nach der Revolution gesprengt wurde und Ende voriges Jahrhundert wiedererrichtet. Da war tatsächlich kein Stein auf dem anderen geblieben – an ihrer Stelle befand sich lange Zeit ein Schwimmbad. Jetzt ist das Bassin wieder zugeschüttet und die Kathedrale neugebaut. Vom kulturellen Standpunkt aus ist dieser Vorgang zwiespältig zu bewerten: Auf einer Demonstration sah ich die Losung: »Wir fordern die Wiederherstellung des von der Kleptokratie barbarisch zerstörten Schwimmbads Moskwa!« Was mich betrifft, so habe ich weder das eine noch das andere Etablissement je besucht und daher keine eigene Meinung dazu.
Ich liebe Dich und denk an Dich,
Deine A
Ich schickte den Brief ab und begab mich auf die Seite nutten.ru. Dort war allerhand los. Selbst die Werbe-PopUps hatten überwiegend einen thematischen Bezug.
Paris sehen und leben! Durex anal extra strong.
Geländekondome sozusagen. Der Markt suchte immer neue Wege und Nischen. Mir waren schon Kondome der Marke Occam's Razor untergekommen, auf denen das Bildnis des mittelalterlichen Scholastikers prangte, dazu sein Ausspruch als Slogan: Wesenheiten soll man nicht über Gebühr vermehren. William Ockham habe ich persönlich gekannt. Es war, glaube ich, im vierzehnten Jahrhundert, dass ich ihm bei einer Begegnung sagte, von seinem Rasiermesserprinzip sei es nur ein Schritt zur geistigen Kastration. Daraufhin machte er in seinem Münchner Haus ausführlich Jagd auf mich; zwei Jahrhunderte später kam die Reformation … Doch ich hatte keine Zeit, mich in Erinnerungen zu verlieren – die Annonce musste so schnell wie möglich in die Welt, und dafür wollte ich mich erst einmal mit existierenden Vorbildern vertraut machen.
Die gab es glücklicherweise in großer Zahl. Ein amüsantes Charakteristikum des Genres war, dass viele Mädchen ihre Annoncen mit ein paar lyrischen Einsprengseln schmückten, die zu den aufgelisteten Dienstleistungen in keiner Beziehung standen; eine Art Wortpiercing; ich bekam Lust, mich gleichfalls darin zu versuchen.
Nach einer Stunde war mein Text fertig. Ein strenger Kritiker hätte vermutlich eine Kompilation darin gesehen, doch ich hatte nicht vor, mir ein literarisches Renommee zuzulegen. Meine Annonce fing so an:
Ein süßer Fratz; zwar engelsgleich,
doch kundig im Intimbereich!
Dies Lächeln, dieser Gang – was willst du mehr?
Anal französisch, klassischer Verkehr!
Die zwei durch Leerzeile getrennten Doppelverse hatten in Reim und Versmaß keinerlei Beziehung zueinander – wie zwei verschiedene Ringe in einem Ohrläppchen. Das wirkte authentisch, die anderen Mädchen machten es genauso. Die Verse waren fett gesetzt, darunter folgte der informative Teil:
Ein Märchen – und das Happy End bestimmen Sie!
Kleine Brust für großes Geld. Fuchsrotes Kätzchen wartet auf den Anruf des solventen Herrn. Klassischer Sex, Fellatio (Deep throat & Königsweg), Anal Petting, Bondage, SM (z. B. Russische Peitsche), Foot fetish, Strapon, Sakura-Zweig, Lesbis, orale & anale Stimulation, Cunnilingus (auch erzwungen), Rollenspiele, Golden & Silver Shower, Fisting, Piercing, Katheder, Kopro, Klistier, Domina hard & soft, Herrin & Sklavin. Facecontrol. Hausbesuch nach Vereinbarung. Vieles geht. Beinahe alles. Steig ein und vergiss! Wenn du kannst…
Von wegen Kätzchen, dachte ich beim Überlesen des Textes. Ehrlich gesagt, wusste ich nicht recht, worum es beim Bondage ging und was sich mit einem Sakura-Zweig anfangen ließ. Auch unter Fisting konnte ich mir wenig vorstellen – danach zu urteilen, dass in anderen Annoncen orales von vaginalem unterschieden wurde, war es ebenso eine Schweinerei wie alles Übrige. Fisting … Fist bedeutet Faust – man steckte also die Faust hinein? Und das ging auch per oris? In einer Annonce hatte ich folgende Aufzählung entdeckt: Fellatio, PR, Cunnilingus. Was war gemeint? Oder: Strapon. Klang nach Kosmos, den romantischen Sechzigern des vorigen Jahrhunderts. War aber wohl etwas anderes. Zum Glück brauchte ich nicht zu wissen, was Strapon bedeutete – Hauptsache, der Kunde wusste Bescheid.
Vermutlich muss man Werfuchs sein, um zu verstehen, wie einer Strapon-Dienste leisten kann, ohne zu wissen, was das ist. Es lässt sich schwer erklären, man kann allenfalls Analogien heranziehen. Also: Ich nehme das Bewusstsein eines Kunden als warme, elastische Kugelform wahr, und um den armen Kerl ins Reich seiner Träume zu geleiten, muss ich zuvor mit meinem Schweif in diese Kugel, da wo sie am heißesten ist, eine Delle drücken. Anschließend muss ich dafür sorgen, dass diese Delle wieder ausgebeult wird, was ein Flimmern und Kräuseln auf der restlichen Kugeloberfläche bewirkt. Nichts anderes ist Strapon. Bringt man diese Delle nun noch mit sanfter Gewalt dazu, sich nach der anderen Seite zu beulen, als dünnes Häkchen hervorzuwölben, dann ist das ein Strapon, dem der Kunde noch ewig hinterhersabbern wird, so lange, bis sein Verstand im kalten Meer des Alzheimer versinkt.
Das Gleiche gilt für Fisting, Domina soft et cetera. Selbst wenn es Sie gelüsten sollte, einen alten Transvestiten mit Goldzahn und Musikhochschulabschluss unter Einsatz eines Baseballschlägers zu Tode zu prügeln, kann ich Ihnen bei diesem zweifelhaften Projekt behilflich sein. Wobei ich lieber gar nicht bis ins Letzte wissen möchte, was das fremde Bewusstsein bewegt – so kann ich meine Seele leichter rein halten.
Aus diesem Grund hatte ich keine Zweifel, meiner Liste von Offerten, welcher Art auch immer, gerecht werden zu können. Trotzdem, irgendetwas fehlte noch an dem Text. Ich überlegte ein bisschen und klemmte hinter Fuchsrotes Kätzchen wartet auf den Anruf des solventen Herrn das Folgende:
Transe, universell begabt, 26x4. Immer nur den Regeln zu folgen heißt, sich um jedes Vergnügen zu bringen! Man muss auch Dummheiten anstellen können, wie die Natur sie von uns verlangt.
Wenn die wüssten, was unsere Natur ist!, seufzte ich und strich die Transe wieder aus. Wie der Leibkoch von Großfürst Michail Alexandrowitsch zu sagen pflegte: Mit Butter kann man den Grießbrei nicht verderben – mit Brei die Butter aber schon! … Etwas anderes war gefragt. Nach einigem Nachdenken beschloss ich, Herrin und Sklavin durch Herrin, Sklavin und die Schöne Dame zu ersetzen. Das verpflichtete nicht zu mehr körperlichem Einsatz, nicht einmal im Bereich der Imagination, schuf jedoch neuen Raum für die Phantasie.
Noch einen Lacküberzug aus klassischer Dichtung vielleicht? Frei nach Alexander Block?
Glücksgefilde, ungekannt,
taten sich auf in diesen Armen …
Dann fielen die Arme klingelnd herab …
Mein Traum war dagegen zum Gotterbarmen!
Oder dasselbe doch besser in lyrischer Prosa:
In ihren geschnittenen Augen sah er ein neues, wunderbares Glück aufscheinen, und das Klingeln der Reifen an ihren Handgelenken, während sie herabsanken, war lauter als in seinen kargen Träumen …
Träume, ach … Eine Kurtisane aus meinem Bekanntenkreis in der späten Han-Zeit hatte oft und gern behauptet, die Schwachstelle des Mannes sei sein träumerischer Geist. Im vorgerückten Alter wurde sie einem Nomadenführer als Abfindung überlassen, und der kochte die Arme in Stutenmilch, weil er glaubte, so könnte er ihr zu neuer Jugend verhelfen. Auch eine Schwachstelle kann eben mitunter gewalttätig werden.
Nein, entschied ich, Block hat hier nichts zu suchen – seine Verse läutern die Seele, wecken in ihr hehre Gefühle. Und sind im Kunden erst einmal hehre Gefühle erwacht, dann ist er für uns verloren, das sagt Ihnen jeder Marktforscher. Also setzte ich anstelle des Nachtigallengartens den folgenden Zweizeiler ans Ende:
Ein tosender Strom, ohne Liebe versieg ich …
Bereut hat es nie, wer immer bestieg mich!
An solch einem Text konnte man endlos herumfummeln – bei einem wahren Dichter währt dieser Prozess bekanntlich bis zu dem Moment, da ihm der Verleger das Manuskript unter der Feder wegzieht. In diesem Fall musste ich mir das selber antun und beschloss einen Punkt zu setzen.
Mit der Website nutten.ru hatte ich bis dahin noch nie gearbeitet. Das Verfahren, wie man seinen Text dort an den Mann brachte, unterschied sich nicht von anderen Anbietern der Branche, mit Ausnahme eines leidigen Punktes: Annonce und Fotos wurden getrennt berechnet. Den puren Text zu veröffentlichen kostete hundertfünfzig Dollar, für jedes Foto kamen zwanzig hinzu. Ich hatte drei Web-Money-Karten dabei, die zur Bezahlung akzeptiert wurden: zu hundert, zu fünfzig und zu zwanzig Dollar. Wahrscheinlich richteten sich die Preise überhaupt nach diesen Stufenwerten. Ich konnte also nur ein einziges Foto beigeben – oder hätte auf die Pawelezkaja fahren müssen, um neues Internetgeld zu beschaffen. Ich beschloss, mich mit einem Foto zu begnügen, um es gleich abschicken zu können, ich wollte, dass es schon morgen im Netz hing. Dann dauerte es aber doch seine Zeit – das richtige Foto auszuwählen, brauchte ich eine Stunde.
Die Wahl fiel mir deswegen so schwer, weil jede Variante die in Aussicht gestellten Dienste auf meiner Liste in ein anderes Licht rückte, Strapon und Fisting mit immer neuen Untertönen umwitterte. Zuletzt blieb ich bei einem alten Schwarzweißfoto hängen: vor einer Bücherwand, mit einem kleinen Band Chodassewitsch in Händen. Es war die Schwere Leier. Das Foto, aufgenommen in den vierziger Jahren, wirkte schön und geheimnisvoll – man meinte einen nostalgischen Abglanz des Silbernen Zeitalters darin zu sehen, was mit dem letzten Punkt der Liste trefflich korrespondierte. Gut, dass ich die kostbarsten meiner alten Negative und Daguerreotypien inzwischen digitalisiert hatte!
Nun benötigte ich nur noch einen Künstlernamen. Ich ergoogelte eine entsprechende Liste und wählte gleich einen von ganz oben: Adèle. Klang vornehm …
Das Foto war von guter Qualität, ein Viertel Megabyte groß. Ich klickte auf Send. Mein Lärvchen lächelte ergeben und fuhr durch die Kabel in die Wand, von da in die Telefonleitung, hüpfte durch das elektrische Rückgrat der Straße, verflocht sich mit anderen Namen und Gesichtern, die Gott weiß woher und wohin trieben, und brauste einer fernen Netzschleuse entgegen, auf ein schwach am Horizont sich abhebendes Gebirge aus blau-grauen Überseeservern zu.
Der erste Anrufer meldete sich am nächsten Morgen kurz nach elf.
Der Kunde nannte sich Pawel Iwanowitsch. Angesprungen war er auf die Zeile in meiner Annonce, wo von einer »Russischen Peitsche« die Rede war. Wie sich herausstellen sollte, besaß er selbst eine – nein, ihrer fünf: vier auf einem geschnitzten Spezial-Ständer und eine in einer Tennistasche.
So viel vorweg: Liebend gern würde ich alle Erwähnungen Pawel Iwanowitschs aus meinen Aufzeichnungen tilgen, doch ohne ihn bliebe der Bericht unvollständig. Er hat in meinem Leben eine wichtige Rolle gespielt, so wie ein ranziger Fußgängertunnel sie spielen kann, durch den die Heldin der Geschichte zufällig ans andere Ufer ihres Schicksals wechselt. Deshalb muss von ihm die Rede sein, und ich bitte um Nachsicht für alle unappetitlichen Details. Bei manchen Computerspielen gibt es einen Knopf Tx2, wenn man ihn drückt, läuft das Spiel mit doppelter Geschwindigkeit. Diesen Knopf drücke ich also jetzt einmal und versuche den Mann auf ein geringstmögliches Maß einzudampfen.
Diogenes Laertios muss es gewesen sein, der von einem Philosophen erzählte, welcher sich drei Jahre lang in Gleichmut übte, indem er jedem, der ihn beleidigte, ein Geldstück schenkte. Als diese Lehrzeit vorüber war, hörte der Philosoph mit den Geldgeschenken auf, doch die Fertigkeit blieb ihm erhalten: Einmal beleidigte ihn irgendein Flegel, und er, anstatt sich mit Fäusten auf ihn zu stürzen, lachte nur. »Das gibt's ja nicht!«, sagte er, »heute kriege ich umsonst, wofür ich drei Jahre lang teuer bezahlt habe!«
Als ich zum ersten Mal davon las, empfand ich Neid, in meinem Leben keine Gelegenheit zu einem solchen Praktikum gehabt zu haben. Als ich Pawel Iwanowitsch kennen gelernt hatte, wusste ich, dass das Praktikum angelaufen war.
Pawel Iwanowitsch war ein bejahrter Geisteswissenschaftler, der aussah wie eine breitgelaufene, behaarte rosa Kerze. Früher hatte er sich als Rechtsliberalen gesehen (der Sinn dieser komischen Wortverbindung war mir immer schleierhaft), dies aber nach den bekannten Ereignissen so bitter bereut, dass er sich für das Unglück des Vaterlands persönlich verantwortlich fühlte. Um seine Seele zu befrieden, musste er sich ein-, zweimal pro Monat vom Jungen Russland geißeln lassen – das er dem Elend preisgab, indem er ihm nahe legte, sein Brot mit dem Auspeitschen perverser alter Lüstlinge zu verdienen, statt einem ordentlichen Universitätsstudium nachzugehen. Daraus entstand ein Teufelskreis, über den ich mir womöglich ernsthaft Gedanken gemacht hätte, wäre der Mann nicht die ganze Séance über immerzu am Masturbieren gewesen. Das machte das ganze Geheimnis kaputt.
Hätte er sich als Junges Russland eine reale Sexarbeiterin von irgendwo aus der Ukraine gehalten, er wäre niemals mit fünfzig Dollar für die einstündige Séance davongekommen. Auspeitschen ist Schwerstarbeit, selbst in nur vorgespiegelter Form. Doch nicht allein des Geldes wegen suchte ich Pawel Iwanowitsch immer wieder auf, sondern weil er mich unglaublich in Rage brachte, richtige Wutanfälle rief er bei mir hervor. Ich musste all meinen Willen aufbringen, mich zu beherrschen. Wäre ich nach praktischen Erwägungen vorgegangen, hätte ich mich nach reicheren Sponsoren umgesehen. Doch Charakterschulung betreibt man am besten in schwierigen Lebensphasen, wenn man keinen Sinn darin erkennen mag. Gerade dann bringt es etwas.
Damit ich meine Rolle bei dem Ganzen auch richtig verstand, ließ Pawel Iwanowitsch mich über die Gründe für seine Bußfertigkeit nicht im Unklaren. Am liebsten hätte ich für dieses Wissen noch fünfzig Dollar pro Stunde Aufschlag erhoben und wartete auf einen günstigen Moment, um den Preis mit ihm auszuhandeln. Dieser Moment ließ auf sich warten, Pawel Iwanowitschs Bericht war ungewöhnlich lang. Immerhin schöpfte ich aus seinen Darlegungen eine Menge interessanter Informationen.
»Zwischen 1940 und 1946, mein Herzchen, sank das Gesamtproduktionsvolumen in Russland um fünfundzwanzig Prozent. Alle Gräuel dieses Krieges eingedenk. Im Zeitraum von 1990 bis 1999 sank es um mehr als die Hälfte. Gravierender als Dschingis Khan und Hitler zusammengenommen! Und das ist keine böse Verleumdung der Kommunisten, das hat Joseph E. Stiglitz geschrieben, Chefökonom der Weltbank, Nobelpreisträger. Haben Sie Globalization and its Discontents gelesen? Ein Buch zum Fürchten. Und was Amerika angeht – die brauchen überhaupt keine Atombombe, solange es die WTO und den IWF gibt …«
Ich begann zu vergessen, weshalb ich eigentlich in seiner Wohnung saß, nur die zwischen uns auf dem Tisch liegende Lederpeitsche erinnerte daran. Bald stellte sich heraus, dass Pawel Iwanowitschs Reue absolut war: Sie betraf nicht nur den ökonomischen Aspekt der russischen Reformen, sondern auch die kulturelle Entwicklung der letzten Jahrzehnte.
»Wussten Sie schon«, fragte er, mir starr in die Augen sehend, »dass die CIA seinerzeit die Beatnik-Bewegung und die psychedelische Revolution finanziert hat? Ziel war es, der Jugend ein attraktives Bild des Westens vorzugaukeln. America has fun! – den Eindruck wollten sie erwecken. Und das klappte so gut, dass sie eine Zeit lang selbst daran geglaubt haben. Der Witz war, dass alle diese Kinder von LSD-Generälen, die KGB probierten und sich Mühe gaben, richtige Beatniks zu sein, in Wirklichkeit am Haken der CIA hingen, also genau die Sünde begingen, derer die Partei sie bezichtigte! Und dabei war das die Intelligenzija von morgen, das Nervensystem der Nation …«
Wenn Pawel Iwanowitsch von der Schuld der Intelligenz am Volke sprach, gebrauchte er immer zwei verschiedene Ausdrücke, die mir gleichbedeutend vorkamen: Intelligenzija und Intellektuelle. Einmal konnte ich nicht an mich halten, ihn nach dem Unterschied zu fragen.
»Der ist gravierend«, erwiderte er. »Ich könnte ihn am besten allegorisch erklären. Sie verstehen, was das ist?«
Ich nickte gnädig.
»Es gab eine Zeit, Sie waren damals noch ein kleines Kind, da lebten in dieser Stadt hunderttausend Menschen, die ihr Gehalt dafür bekamen, dass sie einem abscheulichen roten Drachen den Hintern küssten. An den Drachen können Sie sich sicherlich nicht mehr erinnern …«
Ich schüttelte den Kopf. Irgendwann in jungen Jahren hatte ich einmal einen roten Drachen zu Gesicht bekommen, aber wie der ausgesehen hatte, wusste ich nicht mehr – nur an meine Angst vor ihm erinnerte ich mich noch. Ihn konnte Pawel Iwanowitsch schwerlich meinen.
»Natürlich hassten die Hunderttausend den Drachen von Herzen und träumten davon, dass der grüne Frosch, der gegen den roten Drachen Krieg führte, eines Tages die Herrschaft übernehmen würde. Am Ende haben sie mit dem Frosch gemeinsame Sache gemacht und den Drachen mit einem von der CIA bereitgestellten Lippenstift vergiftet, worauf ein neues Leben begann.«
»Und was hat die Intelligenzija damit…«
»Warten Sie's ab!«, sagte er, die Hand hebend. »Zunächst waren alle in dem Glauben, sie hätten unter dem Frosch genau dasselbe zu tun wie vorher, nur fürs zehnfache Gehalt. Doch dann stellte sich heraus, dass statt der hunderttausend Küsser nur noch ganze drei gebraucht wurden, um dem Frosch rund um die Uhr professionell einen zu blasen – einen Achtstundentag für jeden. Und wer von den Hunderttausend zu den dreien gehören würde, das sollte eine offene und faire Ausschreibung klären, wo man nicht nur hohe professionelle Qualitäten unter Beweis zu stellen hatte, sondern auch die Fähigkeit, während der Arbeit ein optimistisches Lächeln im Mundwinkel zu tragen …«
»Ich glaube, ich hab den Faden verloren …«
»Der Faden ist der, dass man die Hunderttausend als Intelligenzija bezeichnete, und die drei dürfen sich nun Intellektuelle nennen.«
Ich habe eine Marotte, die schwer zu erklären ist: Es widert mich an, wenn jemand in meiner Gegenwart vom Blasen spricht, sofern es nicht unmittelbar den Job betrifft. Keine Ahnung, warum das so ist, aber es macht mich rasend. Zudem spielte Pawel Iwanowitschs Vergleich in meinen Augen so dreist auf meine berufliche Tätigkeit an, dass ich glatt vergaß, nach dem Aufpreis zu fragen.
»Handelt Ihre Allegorie deswegen vom Blasen, damit ich es besser verstehe? Um mir und meiner Lebenserfahrung Rechnung zu tragen?«
»Wie käme ich dazu, Herzchen!«, sagte er verächtlich. »Ich ziehe diese Termini zur Erläuterung heran, um mir selbst Klarheit zu verschaffen, worum es geht. Das hat nichts mit Ihrer Lebenserfahrung zu tun, sondern mit meiner …«
Ein anderes Mal nahm er während der Züchtigung eine Zeitschrift zur Hand und fing an zu lesen. Was für sich genommen schon eine Kränkung war. Als er dann auch noch mit dem Finger auf einen Artikel tippte und »Soll doch das Maul halten, der Hund!« brummte, ging mir die Galle über, und ich stoppte die Prozedur – das heißt, ich suggerierte ihm eine Pause.
»Was ist denn?« Er schaute verwundert auf.
»Ich frage mich, ob wir hier beim Flagellieren sind oder in einer Lesestube?«
»Pardon, Herzchen«, sagte er, »aber dieses Interview hier empört mich. Das ist doch wirklich die Höhe!«
Er schnippte mit dem Finger auf das Journal.
»Ich habe ja nichts gegen Krimis, aber wenn Krimischreiber einem erklären wollen, wie Russland umzuorganisieren wäre, da geht mir der Hut hoch!«
»Wieso denn?«
»Es wäre dasselbe, als würde die Minderjährige, die von einem Fernfahrer mitgenommen worden ist, damit sie ihm einen bläst, plötzlich den Kopf von ihrem Arbeitsplatz heben und Anweisungen erteilen, wie man einen Vergaser bei Frost zu reinigen hat.«
Anscheinend merkte Pawel Iwanowitsch nicht mal, wie nahe er mir und meinem Gewerbe damit trat. Doch gelang es mir, die anschwellende Wut zu bemerken, bevor sie mich übermannte, wodurch sich in meinem Gemüt sogleich heitere Gelassenheit breitmachte.
»Was ist denn dabei?«, fragte ich, ohne mit der Wimper zu zucken. »Vielleicht hat sie schon so viele Fernfahrer bedient, dass sie über alle Feinheiten im Bilde ist und tatsächlich einen Vortrag darüber halten könnte, wie man einen Vergaser reinigt.«
»Solche Fernfahrer können mir leidtun, Herzchen, die einen sprechenden Blasebalg als Ratgeber nötig haben. Die kommen nicht weit.«
Einen sprechenden Blasebalg, soso. Was bildete sich dieser verdammt-… Erneut spürte ich die Wut in mir hochsteigen – früh genug, um sie am Ausbruch zu hindern.
Das war großartig. Als würde man bei Sturm aufs Surfbrett springen und damit auf den Wellenkämmen destruktiver Emotionen dahinjagen, die einem doch nichts anhaben können! Wäre das gemeinhin so, dachte ich, wie viele Menschen könnten noch am Leben sein … Pawel Iwanowitsch in der Sache zu widersprechen, versuchte ich gar nicht erst. Wir Werfüchse auf den überweltlichen Wegen des Dao sollten zu diesen Dingen besser keine eigene Meinung haben. Fest stand nur: Pawel Iwanowitsch war als Sparringspartner für den Geist Gold wert.
Leider merkte ich zu spät, dass dies doch eine Überforderung für mich war. Das erste Mal, als ich die Kontrolle über mich verlor, ging es noch ohne Körperverletzung ab. Ein Satz, den er über Nabokov äußerte, ließ mich ausrasten. (Nicht zu reden davon, dass er die Xerokopie eines Aufsatzes auf dem Tisch liegen hatte, der den Titel Ein Friseur erscheint den Kellnern: Das Phänomen Nabokov in der amerikanischen Kultur trug.)
Ich liebte Nabokov seit den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als ich über hochgestellte Kundschaft vom NKWD seine Pariser Texte in die Hand bekommen hatte. Ach, welch ein frischer Wind mich von diesen Manuskriptseiten anwehte, in jener düsteren Stadt zur Stalinzeit! Eine Stelle, entsinne ich mich, gefiel mir ganz besonders, sie stand im Pariser Poem, das ich nach dem Krieg kennen lernte:
Wenn mein Leben (ein Schaustück im Jetzt und Hier,
alter Hut zwar, gleichwohl singulär,
insofern es in neuer Besetzung spielt)
ein gemusterter Teppich war…
Wenn den Teppich ich neu zu verlegen hätt,
ich verlegte ihn peinlich korrekt:
dass das flüchtige Muster der Gegenwart
mit dem klaren von einst sich deckt.
Da hatte Vladimir uns Werfüchse gemeint! Genauso ist es: Wir wohnen einer endlosen Theateraufführung bei, wo eitle Mimen sich produzieren, die meinen, sie wären die Ersten, die das auf die Bretter bringen. Unglaublich schnell sind sie abgetreten, und an ihre Stelle tritt ein neues Aufgebot, das dieselben Rollen mit demselben Pathos zu spielen anhebt.
Die Kulissen sind freilich jedes Mal neu – etwas zu neu sogar. Doch das Stück wird schon seit langem nicht mehr geändert. Und da wir uns nun einmal an glänzendere Zeiten erinnern können, nagt in uns die Sehnsucht nach der verlorenen Schönheit, dem verlorenen Sinn. Kurzum, diese Zeilen brachten ganz verschiedene Saiten in mir zum Klingen … Der Teppich aus dem Pariser Poem kam übrigens auch in Humbert Humberts Gedicht wieder aufs Tapet:
Wohin fliegst du, Dolores Haze?
Von magischem Teppich getragen?
Im Jaguar-Magen des Cabriolets?
Ach, wo parken dein Herz und dein Wagen?
Den Parkplatz kenne ich nicht, aber ich weiß, welcher Teppich. Er wurde in Paris gewebt, anno achtunddreißig, an einem Sommertag unter weißen Haufenwolken, die reglos am lasurblauen Himmel standen, und gelangte eingerollt bis nach Amerika … Die ganze Scheußlichkeit des Zweiten Weltkriegs war nötig, die ganze Monstrosität des von ihm diktierten Wahlausgangs, damit er in Humberts Empfangszimmer an die Wand kam. Und hier dieser Geisteswissenschaftler liegt da und schwätzt.
»Das Glück, mein Liebes, ist auch so eine Widersprüchlichkeit. Dostojewski hat die Frage gestellt, ob sich ein Glück denken lässt, das mit auch nur einer Kinderträne bezahlt ist. Während Nabokov umgekehrt daran zweifelt, ob ohne diese ein Glück überhaupt vorstellbar wäre.«
Wie einer hier auf das Grab des großen Schriftstellers spuckte, das hielt ich nicht aus. Ich schmiss die Peitsche weg. Genauer gesagt, ich ließ die Trugbilder der Auspeitschung abreißen, nötigte Pawel Iwanowitsch darüber hinaus mit anzusehen, wie die Peitsche auf dem Fußboden aufschlug, und zwar so heftig, dass eine Schramme im Parkett zurückblieb. Die musste ich anschließend eigenhändig reinkratzen, während er duschen war. Ich meide den Streit mit Menschen, doch diesmal ließ ich mich gehen; dabei sprach ich so ernsthaft, als hätte ich einen anderen Werfuchs vor mir:
»Es kränkt mich, Nabokov und seinen Helden in einen Topf geworfen zu sehen. Dass man ihn womöglich den Paten der amerikanischen Pädophilie nennt. Eine von Grund auf falsche Sichtweise. Nicht dort verrät Nabokov etwas von sich, wo er die verbotenen Reize des Nymphchens beschreibt, merken Sie sich das. Was einer über Seiten hingehen lässt, das sind keine Selbstbekenntnisse, das ist Fiktion. Bekenntnisse finden sich dort, wo er in aller Knappheit, geradezu andeutungsweise, Humberts finanzielle Sicherheit erwähnt, die es ihm erlaubt, mit Lolita durch Amerika zu gondeln. Was einem am Herzen liegt, bringt man nur verstohlen zur Sprache …«
Ich besann mich und verstummte. Lolitas Geschichte nahm ich sehr ernst und persönlich. Dolores Haze war für mich das Symbol für die ewig junge und lautere Seele, Humbert hingegen – ein Vorstandsvorsitzender dieser Welt. Außerdem musste man nur in jener Gedichtzeile, die auf Lolitas Alter anspielte, dreizehn Jahre durch zwanzig Jahrhunderte ersetzen, und schon war ich gemeint. Eine Erwägung, die ich Pawel Iwanowitsch natürlich nicht mitteilte.
»Reden Sie nur weiter, ich bitte Sie«, sagte er verblüfft.
»Wovon der Autor geträumt hat, war ganz bestimmt kein amerikanischer Backfisch, es war ein bescheidenes Auskommen, das es ihm erlaubt hätte, irgendwo im Schweizerischen in aller Ruhe auf Schmetterlingsjagd zu gehen. An solch einem Traum kann ich nichts Anstößiges erkennen für einen russischen Adligen, der die ganze Vergeblichkeit von Großtaten im Leben erkannt hat. Und welches Thema er für geeignet hielt, dieses Auskommen zu ermöglichen, sagt weniger über die heimlichsten Gelüste seines Herzens als darüber, wie er über seine neuen Mitbürger dachte – und wie gleichgültig ihm war, was die von ihm hielten. Dass das Buch ein Meisterwerk wurde, ist auch erklärlich: Talent lässt sich nun einmal schlecht verhehlen …«
Noch während ich meine Tirade zu Ende brachte, schalt ich mich im Stillen für das Gesagte. Und dies aus gutem Grund.
Mein professionelles Image ist das Mädchen im Grenzalter, mit Unschuld im Blick. Solche Geschöpfe formulieren keine Schachtelsätze über das Werk von Schriftstellern aus dem vorigen Jahrhundert. Sie sprechen schlicht und geradlinig, und zumeist über das, was greifbar und sichtbar ist. Wohingegen ich …
»Meine Güte, du drehst ja richtig auf!«, murmelte Pawel Iwanowitsch erstaunt. »Mit funkelnden Äuglein … Wo hast du denn das alles aufgeschnappt?«
»Halt eben so«, sagte ich mit umwölkter Stimme, »ich hab mal einen Philologen gefistet, von daher …«
Im Stillen gelobte ich mir feierlich, nie wieder kulturelle Debatten mit ihm zu führen, ihn vielmehr nur noch zum eigentlichen Zweck zu gebrauchen, als Turngerät für das geistige Training. Doch es war schon zu spät.
Es ist fatal, sich in der modernen Gesellschaft von Instinkten leiten zu lassen, die man in früheren Zeiten erworben hat, noch dazu in einer völlig anders gearteten Kultur. Das ist, als hätte man seinen Kreiselkompass auf einen untergegangenen Planeten eingestellt: Welchen Kurs er vorgäbe, möchte man lieber nicht wissen.
Im alten China lebten hochherzige Menschen. Hätte ich damals einem Gelehrten gegenüber die Kenntnis des klassischen Kanons durchblicken lassen, er hätte mir zur Belohnung das Doppelte gezahlt, und wenn er sich dafür in Schulden hätte stürzen müssen; obendrein hätte er mir ein Dankschreiben in Versen mit Pflaumenzweig ins Haus gesandt. Vielleicht, dass ich aus alter Gewohnheit auf Ähnliches gefasst war, als ich mich mit Pawel Iwanowitsch in ein Gespräch über Nabokov einließ. Das Ergebnis sah allerdings anders aus.
Bei der nächsten Séance bat Pawel Iwanowitsch darum, das Honorar schuldig bleiben zu dürfen; er habe gerade einen neuen Kühlschrank gekauft. Er äußerte sein Anliegen im Ton eines Geheimbündlers und erprobten alten Wandergefährten durch geistiges Hochland. Ein Dichter hätte so sprechen können, der den Zunftbruder um ein Fläschchen Tinte anging. Ich brachte es nicht über mich, ihm die Bitte abzuschlagen.
Der neue Kühlschrank, der die Hälfte seiner Küche einnahm, glich dem Vorsprung eines Eisbergs, der die Bordwand durchschlagen und sich in den Schiffsraum hereingeschoben hat. Trotzdem war der Kapitän besoffen und guter Dinge. Etwas, das mir schon vor längerem aufgefallen ist: Nichts kann einen Vertreter der russischen geisteswissenschaftlichen lntelligenzija (ein Intellektueller mochte Pawel Iwanowitsch nicht sein) mehr erfreuen als der Erwerb eines neuen elektrischen Haushaltgerätes.
Betrunkene kann ich nicht leiden. Darum gab ich mich ein bisschen verdrießlich. Er führte es wohl darauf zurück, dass die Züchtigung auf Pump erfolgte, und drang nicht weiter in mich. Wir kamen wortlos zur Sache, wie ein eingespieltes estnisches Seglerteam: Er händigte mir die ausgefranste Peitsche aus, die er in einer Tennistasche mit Autogramm von Boris Becker aufbewahrte, zog sich aus, machte sich auf der Pritsche lang und schlug die neueste Nummer des Wirtschaftsmagazins Expert auf.
Langsam schwante mir, dass darin weder eine Geringschätzung meiner Kunst zum Ausdruck kam, noch die übermäßige Liebe zum gedruckten Wort. Offensichtlich paarte sich in seiner Seele die Bußfertigkeit gegenüber dem Jungen Russland mit noch ganz anderen Vibrationen, von denen ich nichts wusste; nicht alle Geheimnisse seines Innenlebens hatte er mir enthüllt. Ich für mein Teil gab mir keine Mühe, tiefer dorthin vorzudringen, als das Geschäft es vorsah, und stellte daher auch keine Fragen. Alles lief wie gewohnt: Ich ließ die imaginäre Peitsche auf seinem Hintern niederklatschen und hing dabei meinen Gedanken nach, er brummelte etwas in seinen Bart, manchmal fing er zu stöhnen an, manchmal lachte er. Es war öde, ich kam mir vor wie eine Odaliske im orientalischen Harem, die mit gemessenem Fächerschwung die Fliegen vom Schmerbauch ihres Herrn wedelt. Da hörte ich ihn plötzlich etwas sagen.
»Nicht zu fassen. Wie kann ein Anwalt so einen Namen haben: Anton Drel2. Dass er daran nicht schon längst zugrunde gegangen ist… Bestimmt haben sie ihn in der Schule gehänselt deswegen … Leute mit solchen Namen wachsen mit einer psychischen Macke auf, unter Garantie. Alle Koslows3 zum Beispiel brauchen einen Psychotherapeuten, das sagt Ihnen jeder Experte.«
Natürlich hätte ich den Gesprächsfaden nicht aufnehmen dürfen – es gab keinen Grund, den geschäftlichen Rahmen der Situation zu sprengen. Namen sind für mich aber ein so wunder Punkt, dass ich mich wieder einmal nicht beherrschen konnte.
»Das ist nicht wahr«, sagte ich. »Heißen kann man sonst wie. Ich habe eine Freundin, die hat einen sehr unvorteilhaft klingenden Namen. So unvorteilhaft, dass Sie lachen würden, wenn ich ihn verriete. Man könnte ihn beinahe unflätig nennen. Sie selbst hingegen ist schön, klug und eine Seele von Mensch. Ein Name allein ist noch kein Urteil.«
»Könnte es sein, Süße, dass Sie Ihre Freundin nur nicht gut genug kennen? Wenn in ihrem Namen ein Unflat steckt, dann kriecht er im Leben unweigerlich hervor. Warten Sie es ab, sie wird sich noch entpuppen … Vom Namen hängt alles Weitere ab. Eine wissenschaftliche Hypothese besagt, der Name eines jeden Menschen sei ein suggestiver Urbefehl, der in extrem konzentrierter Form das gesamte Lebensszenario vorschreibe. Können Sie sich unter einem suggestiven Befehl etwas vorstellen? Unter Suggestion im Allgemeinen?«
»So in groben Zügen«, erwiderte ich und zog ihm in Gedanken besonders kräftig eins über.
»Uff… Folgt man dieser Sichtweise, so ist die begrenzte Anzahl von Namen darauf zurückzuführen, dass die Gesellschaft nur eine begrenze Anzahl Menschentypen benötigt. Einige wenige Typen Arbeits- und Kampfameisen, wenn man so will. Und die Psyche eines jeden Menschen wird von den assoziativsemantischen Feldern vorprogrammiert, die durch Vor- und Zuname aktiviert werden.«
»So ein Quatsch«, versetzte ich gereizt. »Nirgends auf der Welt finden Sie zwei Namensvettern, die einander gleichen.«
»Wie auch keine zwei gleichen Ameisen. Nichtsdestoweniger lassen sich Ameisen funktional klassifizieren … Nein, glauben Sie mir, ein Name ist nicht zu unterschätzen. Es gibt welche, die sind wie Zeitbomben.«
»Was meinen Sie damit?«
»Ich kann Ihnen eine Geschichte erzählen, aus dem Leben gegriffen. Am Institut für Archivwesen arbeitete ein Shakespeare-Forscher, der hieß Schitman. Er hatte promoviert zum Thema Ontologische und eigentumsrechtliche Aspekte von Sein oder nicht sein (sondern mein) oder etwas in der Art und beschloss nunmehr Englisch zu lernen, um seinen Nährvater endlich im Original zu lesen. Außerdem wollte er nach England fahren – London sehen und sterben, wie er sich ausdrückte. Er fing also an zu lernen. Und nach ein paar Lektionen kam er plötzlich drauf, dass Shit Scheiße bedeutet. Können Sie sich das vorstellen? Wäre er beispielsweise Chemielehrer gewesen – halb so schlimm! Aber bei einem Geisteswissenschaftler, wo sich alles um die Wörter dreht, wie schon Derrida bemerkte … Ein Shakespeareologe namens Schitman ist wie ein Goetheaner namens Schietmüller. Mit so einem Orden im Knopfloch kann man unmöglich dem Guten, Wahren und Schönen dienen. Schitman kam es bald schon so vor, als würde er im British Council schief angesehen … Der British Council hatte ganz andere Sorgen, die hatten die Steuerpolizei im Haus, aber Schitman bezog das alles auf sich. Sie wissen ja, meine Liebe, wenn einer sucht, womit er seine Paranoia füttern kann, dann findet er immer was. Lassen wir die traurigen Details beiseite: Einen Monat später war der Mann übergeschnappt.«
Das war der Moment, wo die Wut in mir zu schäumen anfing, ich unterstellte ihm instinktiv, dass er mich beleidigen wollte, obwohl es dafür gar keine rationalen Anzeichen gab. Aber Selbstbeherrschung ist das Wichtigste, das fiel mir auch jetzt wieder ein. Und ich beherrschte mich.
»Tatsächlich?«, fragte ich höflich nach.
»Jawohl. Im Irrenhaus sprach er mit niemandem, brüllte nur immer die ganze Klinik zusammen, entweder brüllte er: Same shit different day! oder: Same shite different night! Er hatte also nicht ganz umsonst Englisch gelernt – etwas war hängen geblieben. Zuletzt wurde dieser Schitman in einem Auto mit Armeenummernschild abtransportiert, eine geheimdienstliche Zuführung, nennen wir es so. Was aus ihm geworden ist, weiß Keiner, und wer es doch weiß, behält es für sich. Ende des Sommernachtstraums. Und da behaupten Sie, Kindchen, Namen würden keine Rolle spielen. Und was für eine! Wenn Ihre Freundin ein böses Wort im Namen hat, landet sie früher oder später in der Klapsmühle. Unweigerlich. Schitman hat übrigens noch Glück gehabt, dass der Geheimdienst ein Interesse an ihm hatte. Sie haben ja sicher schon davon gehört, was in Klapsmühlen hierzulande für Zustände herrschen. Da kriegt man für eine Zigarette einen geblasen …«
Das Training des Geistes mit Hilfe einer Reizperson gleicht einem Hasardspiel, bei dem alles auf eine Karte gesetzt wird. Der Gewinn pflegt sehr hoch zu sein. Doch wenn man kippelt und abstürzt, hat man alles verloren. Die Arbeit auf Pump hätte ich verkraftet, den Goetheaner Schietmüller und das dreckige Fluchen – wäre er nicht noch auf das Blasen für Zigaretten gekommen. Dem war ich nicht gewachsen.
»Kindchen!«, brüllte Pawel Iwanowitsch. »Was ist denn in dich gefahren? He, was tust du da! Du Biest! Hilfe! Polizei!!«
Der Ruf nach der Polizei brachte mich zur Besinnung. Doch es war zu spät: Pawel Iwanowitsch hatte drei Peitschenhiebe gefangen, für die sich selbst ein Mel Gibson nicht hätte schämen müssen. Auch wenn diese Hiebe rein hypnotisch waren – das Blut auf seinem Rücken war echt. Natürlich bereute ich, was ich getan hatte, aber das kommt ja immer eine Sekunde zu spät. Außerdem war ich im Grunde meines Herzens wieder listig gewesen: Voraussehend, dass mich gleich die Reue packen würde, geistig schon dabei, die Pose der reuigen Sünderin einzunehmen, wisperte ich noch ganz zuletzt, mit rachsüchtiger Wollust: »Da hast du eine vom Jungen Russland, du alter Bock!«
Blicke ich auf mein Leben zurück, so finde ich darin nicht wenige dunkle Punkte. Doch für diesen Moment empfinde ich eine besonders heftige Scham.
Viele Tempel in Asien erstaunen den Reisenden durch den Gegensatz zwischen der Kargheit der leeren Räume und der vielstufigen Pracht des Daches – mit geschwungenen Ecken, kostbaren geschnitzten Drachen und roten Dachziegeln. Die Symbolik, die dahintersteht, leuchtet ein: Schätze anhäufen soll man nicht auf Erden, sondern im Himmel. Die Mauern stehen für die irdische Welt, das Dach für die, die danach kommt. Betrachtet man das Gemäuer, sieht man eine Hütte. Betrachtet man das Dach, so ist es ein Palast.
Der Kontrast zwischen Pawel Iwanowitsch und dem, was man in Russland heutzutage als »Dach« bezeichnet, kam mir ebenso eindrucksvoll vor – und das ohne allen theologischen Hintergrund. Pawel Iwanowitsch war nur ein kleiner geisteswissenschaftlicher Dämon. Hingegen sein Dach … Aber der Reihe nach.
Das Telefon klingelte zwei Tage nach der Exekution, morgens um halb neun, reichlich früh selbst für einen Kunden mit Neigungen. Die Nummer im Display sagte mir gar nichts. Ich war seit vier Uhr in der Frühe auf den Beinen und hatte bis zu diesem Moment schon eine Menge erledigt, trotzdem reagierte ich – man konnte nie wissen – mit verschlafener Stimme: »Halloo …«
»Adèle?«, tönte es munter zurück. »Ich rufe wegen deiner Annonce an.«
Ich hatte die Annonce schon wieder von der Website genommen, doch jemand konnte sie sich für den Tag X heruntergeladen haben, viele Kunden verfahren so.
»Könnten Sie kleine Mädchen um die Zeit noch bisschen schlafen lassen?«
»Wieso denn schlafen? Warm anziehen und Bewegung, hopp-hopp!«
»Ich bin noch nicht wach.«
»Expresszuschlag, dreifacher Preis. Wenn du in einer Stunde hier bist.«
Dreifacher Preis? Ich hörte auf, mich zu zieren, und notierte die Adresse. Eine meiner lateinamerikanischen Schwestern erzählte gern die Geschichte, wie der panamaische General Noriega mit Vorliebe die ganze Nacht hindurch Whiskey soff und dann gegen Morgen eine der sechs Frauen, die er ständig bei sich hielt, zum Sex rief – meine Schwester wusste das deswegen so genau, weil sie eine davon war. Aber gut, das ging vielleicht in Panama: Kokain, heißes Blut und so weiter. Für die hiesigen Breiten war es ein eher obskurer Zug, so früh am Tag spitz zu sein. Irgendwie riskant kam mir die Sache aber nicht vor.
Um schneller zu sein, nahm ich die Metro und war nach ungefähr fünfzig Minuten vor Ort. Der Kunde wohnte zentral, doch in ruhiger Lage. Als ich den Hof des angegebenen Hauses – steile Betonkerze mit Anspruch auf architektonische Innovation – betrat, meinte ich zuerst falsch zu sein, denn hier sah es aus wie auf dem Hinterhof einer Bank.
Neben einem Stahltor in der Wand standen zwei Wächter, die mir mit finsterer Verwunderung entgegen blickten. Ich zeigte den Zettel mit der Adresse vor. Daraufhin nickte der eine in Richtung eines unscheinbaren Treppchens mit Tür und Wechselsprechanlage. Ich trat davor.
»Adèle?«, fragte die Stimme im Lautsprecher.
»Zu Diensten.«
»Komm in den ersten Stock, letzte Tür«, sprach die Anlage. »Du siehst schon, wo.«
Die Tür öffnete sich.
Das Innere hatte wenig von einem Wohnhaus. Es gab keinen Fahrstuhl; eine Treppe eigentlich auch nicht. Das heißt, es gab eine, doch die endete im ersten Stock, stieß auf eine schwarze Tür ohne Spion und Klingelknopf, daneben glänzte die klitzekleine Linse einer Fernsehkamera. Es sah aus, als hätte sich jemand sämtliche Wohnungen vom ersten Stock aufwärts unter den Nagel gerissen und eine Tür davor gesetzt. Was natürlich eine vulgäre Vorstellung ist, die daher rührt, dass es hierzulande keine legitime Kultur des Großkapitals gibt. Klingeln musste ich nicht. Die Tür öffnete sich, noch während ich auf sie zulief.
Auf der Schwelle stand ein kräftiger Mann um die fünfzig, gekleidet wie ein Bandit aus den Neunzigern: Jogginganzug Marke Adidas, Turnschuhe, Goldkettchen an Hals und Handgelenk.
»Komm rein«, sagte er, drehte sich um und ging mir voraus durch den Korridor.
Die Lokalität war eigentümlich, erinnerte eher an ein Büro. Eine der Türen, die vom Korridor abgingen, stand halb offen, durch den Türspalt sah ich eine vernickelte Metallstange, die in einem runden Loch im Fußboden verschwand; mehr zu sehen gelang mir nicht, da der Kunde die Tür vor meiner Nase zuzog.
»Nach ganz hinten«, sagte er und ließ mich vorausgehen.
Das Schlafzimmer am Ende des Korridors sah ganz zivil aus, nur der Geruch gefiel mir nicht – es roch nach Hund, und das irgendwie sehr konkret, wie in einem Hunde-Stundenhotel. Außer dem breiten Bett gab es noch einen flachen Clubtisch mit Schublade und zwei Sessel. Auf dem Tisch eine Flasche Champagner mit Gläsern, daneben ein Telefon mit sehr vielen Tasten und ein blauer Plastikordner.
»Wo kann ich duschen?«, fragte ich.
Der Mann nahm in einem Sessel Platz und deutete auf einen Raum nebenan.
»Das kannst du später immer noch. Beschnuppern wir uns erst mal ein bisschen.«
Er setzte ein väterliches Lächeln auf, und ich wusste, dass ich es mit einem Seelenf… zu tun hatte. So nannte ich Leute, die für ihre zweihundert Dollar nicht nur den Körper, sondern auch noch die Seele dazuhaben wollen. Solche sind besonders strapaziös. Um so einen abzuschütteln, muss man sehr mürrisch und kurz angebunden sein. Soll der Onkel ruhig denken, die Göre ist in der Pubertät. In der Phase der Ausformung ihrer Persönlichkeit sind Jugendliche schroff und ungesellig, jeder Pädophile kann ein Lied davon singen. Solche Verhaltensweisen machen den Perversen also nur juckiger, was Zeitersparnis bedeutet und höheres Entgelt verspricht. Für mich bedeutete es, dass ich den Moment nicht verpassen durfte, mich ins Bad zurückzuziehen.
Es gibt ein paar Werfüchse in Amerika und Europa, die gehen wissenschaftlich vor, um diesen Effekt auszubeuten. Besser gesagt, sie glauben wissenschaftlich vorzugehen, indem sie sich mit Büchern schlau machen, die »die Seele des Teenagers von heute durchleuchten«. Besonders geschätzt werden fünfzehnjährige Verfasserinnen und Verfasser, die vor den Lesern mit verschämter Gesichtsröte die Slips runterlassen vom Innenleben ihrer Generation. Das ist natürlich albern. Jugendliche sind innerlich auf keinen gemeinsamen Nenner zu bringen – so wenig wie Menschen in jedem anderen Alter auch. Ein jeder lebt in seinem Universum, und diese Insights in die Teenagerseele sind nur marktgängige Frischesimulationen für den Bürger, dem vom vielen Analsexvideogucken schwül geworden ist. Etwas wie Maiglöckchenduft für Toiletten. Ein Werfuchs, der das Verhalten eines modernen Jugendlichen getreu reproduzieren will, muss sich fern von solcher Literatur halten: Er wird sonst nie einem Teenager ähneln, sondern einer alten Theatertucke in der Travesty-Show.
Die richtige Technologie sieht anders aus. Wie alles, was wirklich funktioniert, ist sie extrem einfach:
1. muss man im Gespräch immer woandershin gucken, am besten auf einen Punkt auf dem Fußboden in ca. zwei Meter Entfernung.
2. sollte keine Antwort aus mehr als drei Wörtern bestehen, Präpositionen und Konjunktionen nicht inbegriffen.
3. sollte etwa jede zehnte Replik der Regel 2 zuwiderhandeln und eine leichte Provokation in sich tragen, damit der Kunde nicht das Gefühl bekommt, er hätte es mit einem Idioten zu tun.
»Wie heißt du?«, fragte er.
»Adèle«, sagte ich und schielte nach der Zimmerecke.
»Wie alt?«
»Siebzehn.«
»Ist das auch nicht geschwindelt?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Woher kommst du, Adèle?«
»Chabarowsk.«
»Und wie ist es da so, bei euch in Chabarowsk?«
Ich zuckte die Schultern. »Ganz gut.«
»Warum bist du dann hier?«
Noch mal Schulterzucken. »Nur so.«
»Bist ja nicht grad gesprächig.«
»Kann ich jetzt duschen?«
»Warte doch mal. Man muss sich doch erst einmal ein bisschen kennen lernen. Sind wir denn Tiere oder was?«
»Zweihundert Dollar die Stunde.«
»Gebongt«, sagte er. »Und ist es dir nicht zuwider, diesen Job zu machen, Adèle?«
»Essen kostet.«
Er nahm den Ordner vom Tisch, klappte ihn auf und blickte eine Zeit lang hinein, so als müsste er sich irgendwelcher Instruktionen vergewissern. Dann klappte er den Ordner wieder zu und legte ihn zurück.
»Und wo wohnst du? Zur Miete?«, fragte er.
»Klar.«
»Und zu wievielt seid ihr in eurer Wohnung, von der Mama mal abgesehen? Zu fünft? Zu zehnt?«
»Kommt drauf an.«
In diesem Stadium stünde ein Normalperverser schon knapp vorm Siedepunkt. Wie es aussah, war auch mein Arbeitgeber nicht mehr weit entfernt davon.
»Stimmt es wirklich, dass du siebzehn bist, Kind?«, fragte er.
»Klar doch, Pappi. Siebzehn Augenblicke des Frühlings.«
Das war der Titel eines Spionagefilmklassikers und darum eine gezielte Provokation. Er wieherte vor Lachen. Nun musste ich mich wieder eine Weile mit kurzen, vagen Antworten begnügen. Aber er war auch kein schlechter Provokateur, wie sich zeigte.
»Na schön«, sagte er. »Wenn wir einmal dabei sind, sollte ich mich auch gleich vorstellen.«
Vor mir auf den Tisch kam ein aufgeklapptes Ausweisbüchlein zu liegen. Ich las, was zu lesen war, glich das Foto mit dem Gesicht meines Gegenübers ab. Auf dem Foto trug er einen Uniformrock mit Schulterklappen. Er hieß Wladimir Michailowitsch und war Oberst beim FSB.
»Kannst Michalytsch zu mir sagen«, sagte er und grinste. »So nennen mich meine Freunde. Ich hoffe ja, dass wir beide auch noch Freundschaft schließen.«
»Was verschafft mir die Ehre, Michalytsch?«
»Einer unserer Fachberater hat sich über dich beschwert. Du musst ihn irgendwie beleidigt haben. Da steht also ein bisschen Sühne an. Oder sagt man Buße dazu?«
Vom Äußeren her war er ein Durchschnittstyp: energisches Kinn, stählerne Augen, flachsblondes, in die Stirn gekämmtes Fransenhaar. Doch eine gewisse Trapezförmigkeit der unedlen Proportionen rückte dieses Gesicht in die Nähe des westlichen Musterfeindbildes aus Zeiten des Kalten Krieges. Kinohelden dieser Art pflegten erst ein Glas Wodka zu kippen, sich dann das Glas einzuwerfen, und unter dem Splittern des Glases hörte man sie sagen, es handele sich um einen alten rrrussischen Brrauch.
»Ach du Scheiße«, murmelte ich. »Subbotnik oder was?«
»He-he«, fuhr er beleidigt auf, »mach mal einen Unterschied zwischen dem FSB und den Bullen. Du kriegst dein Geld.«
»Wie viel seid ihr?«, fragte ich mit müder Stimme.
»Ich bin alleine … Oder sagen wir: zu zweit, maximal.«
»Und wer ist der andere?«
»Das wirst du gleich sehen. Keine Angst, ich führ dich nicht hinters Licht.«
Er zog den Tischkasten auf und entnahm ihm eine Schachtel mit allerlei Medizinkram: Döschen, Watte, eine Packung Einwegspritzen. Eine Spritze war schon vorbereitet – wegen der grellroten Kappe auf der Nadel glich sie einer Zigarette, an der jemand so heftig gezogen hat, dass die Glut über die ganze Länge hineingefahren ist.
»Fixen kommt nicht in Frage«, sagte ich. »Nicht mal fürs Fünffache.«
»Dummchen«, sagte er und schien erheitert, »für dich ist das bestimmt nicht gedacht.«
»Und Vorkasse. Wer weiß, wie Sie in einer halben Stunde drauf sind.«
Er warf mir ein Kuvert zu. »Da hast du!«
Von Repräsentanten der russischen Mittelklasse bekommt man die Dollars oft im Briefkuvert ausgehändigt – so wie sie sie zu kriegen gewöhnt sind. Das macht Eindruck. Man kommt sich vor wie auf einen sozialen Aussichtsturm gehoben, von dem aus man Einblick ins geheime Räderwerk hat, den Wirtschaftsmechanismus des Landes … Ich öffnete das Kuvert und zählte nach. Es war der versprochene dreifache Tarif, plus fünfzig Dollar. Man konnte sagen, das Niveau vom Hotel National. Solche Kunden musste man sich warm halten – oder zumindest den Anschein erwecken. Ich setzte ein charmantes Lächeln auf.
»Also. Egal ob Sühne oder Buße. Wo ist noch mal das Bad?«
»Gedulde dich. Da kannst du noch früh genug hin.
»Ich …«
»Du sollst sitzen bleiben!« Er ging daran, seinen Ärmel aufzukrempeln.
»Sie sagten, es käme noch wer dazu. Wo ist er denn?«
»Wenn ich mich gespritzt habe, kommt er.«
Er zog ein Gummiband um den entblößten Bizeps, machte ein paarmal die Faust auf und zu.
»Was haben wir denn Feines in der Spritze?«, erkundigte ich mich missmutig.
Ich musste wissen, worauf ich mich gefasst zu machen hatte.
»Den Kitty-Ket-Express.«
»Wie??«
»Ein ganz spezielles K, mit anderen Worten«, erläuterte er.
Jetzt verstand ich, was in der Spritze war: Ketamin, lateinisch Calypsol, eins der härtesten Psychedelika; wer sich das in die Vene spritzte, musste Psychopath oder Selbstmörder sein.
»Doch nicht etwa intravenös?«, fragte ich ungläubig.
Er nickte. Ich bekam es mit der Angst. Schon die Ketamin-Junkies, die sich das Zeug intramuskulär gaben, waren gar nicht mein Fall. Nach diesen Spritzen gingen düstere Dinge mit ihnen vor. Sie taten wie Friedhofstrolle, auf denen der ewige Fluch lastet – wie aus der Armee der Toten in Herr der Ringe, letzter Teil. Und der hier wollte es sich in die Vene setzen. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass man das tat. Oder anders herum: Ich wusste, dass normale Menschen es nicht taten. Eine zweite Leiche binnen weniger als vier Wochen, das hätte mir gerade noch gefehlt. Höchste Zeit zum Rückzug.
»Hier haben Sie Ihr Geld wieder«, sagte ich. »Besser, unsere Wege trennen sich.«
»Was soll das denn jetzt?«
»Ihnen macht es nichts aus, wenn Sie tot sind. Aber mich zerren sie vor Gericht. Ich gehe.«
»Hab ich nicht gesagt, du sollst sitzen bleiben!«, fauchte Michalytsch.
Er stand auf, ging zur Tür, drehte den Schlüssel herum und steckte ihn ein.
»Wenn du noch mal zuckst, wirst du's bereuen. Kapiert?«
Ich nickte. Er kehrte zum Tisch zurück, setzte sich und entnahm seiner Medizinschachtel ein seltsames Gerät, es sah aus wie ein Locher in sowjetischer Formgestaltung. Bestehend aus zwei halbrunden Scheiben, die durch eine simple Mechanik zusammenhingen. An der unteren Scheibe saß ein großer Saugnapf, die obere hatte eine sternförmige Ausstanzung und eine Inventarnummer, wie eine Dienstpistole. Michalytsch führte die beiden Scheiben zusammen, leckte den Saugnapf gründlich feucht und presste sich die Vorrichtung gegen den Unterarm. Dann setzte er die Spritze in den Stern, führte die Nadel behutsam in die Vene ein, kontrollierte – die Flüssigkeit im Kolben färbte sich dunkelrot. Dann berührte er den kleinen Hebel an der seltsamen Vorrichtung, und selbige fing laut zu ticken an. Michalytsch legte das Gesicht in konzentrierte Falten wie kurz vor einem Sprung ins Wasser, rückte die Füße auseinander, damit sie fester auf dem Boden standen, und drückte den Kolben bis zum Anschlag in den Zylinder.
Sein im Stuhl sitzender Körper erschlaffte beinahe sogleich. Ich weiß nicht warum, aber mir schoss der Gedanke durch den Kopf: So sind die Nazibonzen im Dritten Reich aus dem Leben gegangen. Unruhig horchte ich auf das Ticken – es hörte sich an wie eine Bombe, die gleich losgehen würde. Nach einigen Sekunden ertönte ein Schnappen, der Locher mitsamt der Spritze sprang vom Arm und fiel neben dem Stuhl zu Boden. In Michalytschs Armbeuge erschien ein winziger Blutstropfen. Kluge Erfindung!, dachte ich noch, da erwischte es mich.
An dieser Stelle muss ich eines klarstellen. Ich kann keine Gedanken lesen. Keiner kann das, denn bei niemandem im Kopf gibt es so etwas wie gedruckten Text. Und jenes Gedankenflimmern, das den Geist pausenlos durchzieht, dürfte keiner zu erfassen in der Lage sein, nicht einmal an sich selbst. Fremde Gedanken lesen zu wollen wäre das Gleiche, als suchte ein Blinder mit dem Krückstock nach ungelegten Eiern. Ich spreche nicht von der technischen Schwierigkeit sondern vom praktischen Wert eines solchen Tuns.
Dank ihres Schweifes können Werfüchse jedoch mit dem fremden Bewusstsein in eigenartige Resonanz geraten – zumal dann, wenn dieses fremde Bewusstsein überraschende Haken schlägt. Es erinnert an die Reaktion des peripheren Sehens auf plötzliche Bewegungen im halbdunklen Raum. Wir erleben eine kurzzeitige Halluzination, das ist wie ein abstrakter Computerclip. Einen Nutzen bringt dieser Kontakt nicht, und die meiste Zeit filtert unser Verstand diesen Effekt einfach aus – sonst könnten wir zum Beispiel unmöglich U-Bahn fahren. Meist ist er sowieso nur schwach ausgeprägt, verstärkt sich allerdings, wenn die Menschen unter Drogeneinfluss stehen, schon deshalb sind uns Junkies so zuwider.
Bei intravenöser Injektion von Ketamin gehen mit Obersten des russischen Geheimdienstes jedenfalls seltsame Dinge vor. Der Kitty-Ket-Express war keine bloße Metapher, sondern eine ziemlich realitätsnahe Bezeichnung: Obwohl der Körper schlaff wie eine Leiche im Stuhl hing, war das Bewusstsein unterwegs, fuhr durch einen orangenen Tunnel, angefüllt mit geisterhaften Formen, denen es geschickt auswich. Ständig gab es Abzweigungen, Michalytsch konnte sich aussuchen, wo er langfuhr. Es war das reinste Bobrennen: Michalytsch steuerte die eingebildete Jagd mit winzigsten, dem Auge verborgenen Drehungen seiner Handflächen und Fußsohlen, man konnte es gar nicht Drehungen nennen, es waren mikroskopische Kontraktionen der entsprechenden Muskeln.
Soweit ich verstand, waren diese orangenen Tunnel nicht bloß räumliche Gebilde, sie waren Wille und Information zugleich. Die ganze Welt verwandelte sich in ein riesiges selbstfahrendes Programm, so wie bei einem Computer, nur dass Hardware und Software hier nicht zu trennen waren. Michalytsch selbst war Teil dieses Programms, konnte sich jedoch gegenüber den anderen Baugruppen frei bewegen. Und sein Fokus fuhr rückwärts durch das Programm, auf den Anfang zu, die Klappe, hinter der etwas Schreckliches lauerte. Michalytsch war in den letzten Tunnel eingefahren, näherte sich nun der Klappe, stieß sie entschlossen auf. Und das Schreckliche, das dahinter war, brach aus und strebte nach oben – ans Tageslicht, ins Zimmer herein.
Ich beobachtete Michalytsch. Es kam Leben in ihn, doch auf seltsame, ungute Weise. Seine Mundwinkel zuckten, aus ihnen trat Speichel hervor oder irgendwelcher anderer Schaum, der Kehle entstieg ein knurrender Ton. Dieses Knurren wurde lauter, Michalytschs Körper fing an zu zucken, krümmte sich, und ich spürte, dass diese mysteriöse, furchtbare Kraft vom Grund seiner Seele im nächsten Augenblick hervorbrechen würde. Zu zaudern blieb keine Zeit – ich packte die Champagnerflasche und hieb sie ihm mit Schwung über den Schädel.
Äußerlich hatte dies keine nennenswerten Folgen – Michalytsch war wieder im Sessel zusammengesunken, die Flasche nicht einmal zu Bruch gegangen. In seinen inneren Dimensionen jedoch, mit denen ich nach wie vor in Kontakt stand, tat sich Erstaunliches. Der Klumpen destruktiver Kraft, der sich aus seinen Tiefen befreit hatte, geriet außer Kontrolle und schlug in die subtilen Anordnungen von Denkformen ein, die den Tunnel, in dem er gerade war, füllten. Sterne pulsierten, Feuerstreifen blitzten auf, die auf den Horizont zuliefen wie die Markierung einer Endlos-Startpiste. Das war überwältigend schön und ließ mich an einen in den sechziger Jahren gesehenen Katastrophenbericht denken, in dem ein Trimaran-Schnellboot vom Wasser abhob, ein langsames, wie versonnenes Looping vollführte, wieder auf die Oberfläche des Sees aufprallte und zerschellte. Hier geschah annähernd das Gleiche, nur dass nicht das Boot, sondern der See zu Bruch ging: Die geisterhaften Konstruktionen, mit denen der orangene Tunnel angefüllt war, zerfielen, zerstoben mit melodiösem Klang, alles verebbte, schrumpfte und verschwand. Worauf der ganze Kosmos aus orangenen Tunneln erlosch und außer Sicht geriet, so als hätte einer den Strom für die Beleuchtung abgedreht. Übrig blieb ein schlaffer Mann im Sessel und dieses melodiöse Klingen, das immer von neuem einsetzte – es dauerte, bis ich begriff, dass es das Telefon war.
Ich nahm ab.
»Michalytsch?«, fragte eine männliche Stimme.
»Michalytsch kann jetzt nicht«, sagte ich. »Er ist sehr beschäf-
»Wer spricht da?«
Eine ausreichend kurze und klare Antwort auf diese Frage fiel mir nicht ein. Nach ein paar Sekunden Schweigen wurde am anderen Ende der Leitung aufgelegt.
Den KGB umzubenennen – das hätte man sich überlegen sollen, Eine solche Marke in den Wind zu schreiben! Den KGB kannte man auf der ganzen Welt. Wohingegen heute längst nicht jeder Ausländer Bescheid weiß, was FSB bedeutet. Eine amerikanische Lesbe, die mich für ein Weekend engagiert hatte, brachte FSB und FSD immerzu durcheinander. FSD sind female sexual dysfunctions, eine Krankheit, die die Pharmakonzerne sich ausgedacht haben, um ein weibliches Pendant zu Viagra auf den Markt zu drücken. Sexuelle Dysfunktionen sind natürlich ein Bluff. Bei der weiblichen Sexualität spielen weniger physische Aspekte eine Rolle als das Drumherum: Kerzen, Champagner, passende Worte. Und wenn man ganz ehrlich sein möchte, ist materieller Wohlstand immer noch die wichtigste Voraussetzung für einen modernen weiblichen Orgasmus. Da helfen freilich keine Pillen – it's the economy, stupid. Aber ich schweife ah.
Auch wenn der KGB seinen Namen geändert hatte – die Kader waren die alten. Hart im Nehmen! Ein normaler Mensch hätte nach so einem Hieb mit der Flasche für längere Zeit den Löffel abgegeben. Michalytsch kam relativ schnell wieder zu sich. Vielleicht hing es damit zusammen, dass er den Schlag in einem veränderten Bewusstseinszustand abbekommen hatte – das führt zu einer Transformation der Physis, wie jeder Alkoholiker bestätigen kann.
Dass er bei Bewusstsein war, merkte ich, als ich ihm den Zimmerschlüssel aus der Hosentasche ziehen wollte. Über ihn gebeugt, begegnete ich seinem Blick unter den halbgeschlossenen Lidern hervor. Ich sprang sofort zurück. Was nach der Injektion mit ihm vorgegangen war, flößte mir Furcht ein – dergleichen war mir noch nie begegnet. Ich mochte kein Risiko eingehen.
»Telefon«, flüsterte Michalytsch.
»Was ist mit dem Telefon?«
»Wer… wer …«
»Wer angerufen hat?«, erriet ich seine Frage. »Weiß ich nicht. Irgendein Mann.«
Er stöhnte auf. Es war phänomenal. Einen normalen Menschen bewegten nach so einem Schlag auf den Kopf allenfalls die großen und ewigen Fragen. Der hier sorgte sich um irgendwelche Anrufe. Aus solchen Männern müsst' Nägel man schmieden, dann lebten die Menschen in Russland zufrieden, wie Majakowski schrieb (letztere Zeile hat er später umgedichtet zu: … es wären die härtesten Nägel hienieden, aber in der Rohfassung stand es genau wie oben gesagt, ich habe es mit eigenen Augen gesehen).
»Geben Sie mir den Schlüssel, ich muss los«, sagte ich.
»Warten«, ächzte Michalytsch. »Reden …«
»Mit Junkies rede ich nicht.«
»Geht dich … nichts an.«
Er sprach mühsam, mit großen Pausen, als wäre jeder Satz ein hoher Berg, von dem der Sturm ihn immer wieder herunterblies.
»Klar«, sagte ich betont beleidigt, »das geht mich nichts an. Dasselbe hat Ljusja auch zu hören gekriegt: Geht dich nichts an. Aber wie der Kunde bei ihr am japanischen Kirschzweig verreckt ist, da hatte sie ein Ermittlungsverfahren am Hals. Ihr Anwalt sagt: Bauchfellentzündung, Unglücksfall. Der Staatsanwalt dagegen hängt ihr einen Darmdurchbruch an, fahrlässige Tötung. Und dafür muss man noch drei Hunderter vorbeitragen, damit es fahrlässig ist, sonst kann es leicht in die Vollen gehen. Schlüssel her, oder ich verpass Ihnen noch eine. Scheißegal, dass Sie beim FSB sind … Mir passiert schon nichts, das ist Notwehr.«
Bei diesen Worten griff ich wieder nach der Flasche.
Er stieß einen gräulichen Laut aus – wie wenn tief im Weiher der Wassergeist lacht. Dann versuchte er, etwas zu sagen, doch heraus kam nur: »Blb-bleib-blb…«
»Hören Sie, ich bitte Sie zum letzten Mal im Guten«, sagte ich, »Geben Sie den Schlüssel raus!«
»Fotze.« Das Wort kam überraschend deutlich.
Was diese Offiziere doch für Flegel sind. Haben einfach keine Manieren, wissen nicht, wie man mit Mädchen redet. Ich hob die Flasche zum Schlag, da ging hinter meinem Rücken die Tür auf.
Auf der Schwelle stand ein großer junger Mann im dunklen Regenmantel mit hochgeschlagenem Kragen. Unrasiert, finster und äußerst gut aussehend – das registrierte ich ohne jede innere Beteiligung, mit kaltem Künstlerblick.
Etwas abträglich war nur die herrisch-arrogante Mundfalte. Sie stieß nicht ab, sie hielt auf Distanz. Aber auch mit ihr sah er wirklich sehr, sehr attraktiv aus. Ein bisschen ähnelte er dem Zaren Alexander I. als junger Mann – der hatte in den ersten Jahren nach der Thronbesteigung auch diesen Wolfsblick.
Diese Physiognomie faszinierte mich. Ich weiß nicht, wie erklären. Es sah aus, als lebte dieser Mann seit vielen Jahren mit Zahnschmerzen und gab nicht mehr darauf Acht, obwohl die Schmerzen ihn tagtäglich quälten. Und dann dieser Blick: Die graugelben Augen brannten sich der fremden Netzhaut ein und schauten einem von da noch sekundenlang in die Seele. Das Entscheidende aber war, so schien mir, dass dieses Gesicht der Vergangenheit angehörte. Solche hatte man in früheren Zeiten viel um sich: als die Menschen noch an die Liebe glaubten und an Gott. Später starb dieser Menschentyp beinahe vollständig aus.
Eine Weile schauten wir einander in die Augen.
»Ich wollte ihn gerade mit Champagner kurieren«, gab ich kund und stellte die Flasche auf den Tisch zurück.
Der Gast ließ seinen Blick zu Michalytsch wandern.
»Sag bloß, du hast deine Tochter angeschleppt?«, fragte er.
»Nääh …«, röchelte Michalytsch von seinem Stuhl und schaffte es sogar, mit der Hand zu wedeln, die Anwesenheit des Gastes flößte ihm augenscheinlich neuen Mut ein. »Ne … ne Nutte …«
»Ah!«, machte der Gast und sah wieder auf mich. »Ist das die, die … unserem Fachberater zu nahe getreten ist?«
»Genau.«
»Und was ist mit dir los?«
»Chef …«, stammelte Michalytsch, »der Zahn, Chef … der Zahn! Narkose!«
Der junge Mann schnupperte in die Luft und verzog ärgerlich das Gesicht.
»Sag bloß, sie haben dich mit Ketamin narkotisiert?«
»Chef, ich …«
»Oder wolltest du dir vom Tierarzt die Ohren kupieren lassen?«
»Chef…«
»Sag, geht das jetzt wieder los? Am Objekt kann ich es noch verstehen. Aber wozu hier? Haben wir uns zu dem Thema unterhalten oder nicht?«
Michalytsch schlug die Augen nieder. Der junge Mann blickte mich an, neugierig, wie mir schien.
»Chef, ich kanns erklären«, fing Michalytsch wieder an, »Ehren-…«
Ich konnte physisch spüren, wie schwer ihm das Sprechen fiel.
»Nein, Michalytsch«, sagte der Gast, »die Erklärungen gebe ich.« Nahm die Flasche Champagner vom Tisch und schlug sie Michalytsch mit voller Wucht über den Schädel.
Diesmal platzte die Flasche. Ein weißschäumender Geysir ergoss sich über Michalytsch von Kopf bis Fuß. Ich war mir sicher, dass er sich nach einem solchen Schlag nie mehr vom Stuhl erheben würde – in der Anatomie des Menschen kenne ich mich aus. Zu meiner großen Verblüffung jedoch schüttelte Michalytsch nur heftig den Kopf wie ein Säufer, über dem man einen Eimer Wasser ausgegossen hat. Dann hob er die Hand, wischte sich die Champagnerspritzer aus dem Gesicht. Anstatt ihn zu töten, hatte der Schlag ihn zur Besinnung gebracht. So etwas hatte ich noch nie gesehen.
»Hör zu«, sagte der junge Mann. »Als Erstes nimmst du eine Dusche. Dann rufst du dir ein Taxi und fährst nach Hause. Lass dir eine kräftige Fleischbrühe kochen. Oder einen starken Tee. Und streng genommen, Michalytsch, müsstest du mit ner Ladung Val an den Tropf.«
Was das heißen sollte, war mir unklar.
»Zu Befehl«, sagte Michalytsch, der irgendwie auf die Beine gekommen war und in Richtung Bad wankte, eine Spur aus Champagnergeriesel hinterlassend. Als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, wandte der junge Mann sich zu mir um und lächelte.
»Es ist stickig hier drin«, sagte er. »Erlauben Sie, dass ich Sie an die frische Luft geleite.«
Dass er mich siezte, gefiel mir.
Wir verließen die Wohnung auf anderem Weg. Es zeigte sich, dass die stählerne Stange, die ich in einem der Zimmer gesehen hatte, bis ins Erdgeschoss durchging. Stangen dieser Art findet man in Feuerwehrhäusern und Gogo-Bars. An so einer kann man geschwind zum großen roten Auto hinunterrutschen und sich die Medaille Für Tapferkeit am Brandherd verdienen. Oder man kann Brust und Popo erotikbetont daran reiben und sich ein paar feuchte Banknoten vom Publikum verdienen. Da sieht man wieder, wie viele verschiedene Wege uns das Leben eröffnet …
Zum Glück wurde heute weder das eine noch das andere von mir verlangt. Neben der Stange gab es eine schmale Wendeltreppe – für die weniger dringenden Fälle anscheinend. Über sie gelangten wir nach unten. Dort befand sich eine schummrige Garage, in der ein schickes schwarzes Auto stand: ein Maybach, und zwar ein echter. Davon gab es in Moskau vermutlich nur wenige Exemplare.
Der junge Mann verharrte neben dem Wagen, legte den Kopf in den Nacken, so dass seine Nase auf mich zeigte, und sog kräftig Luft ein. Es sah ziemlich übertrieben aus. Doch er bekam davon einen seligen Gesichtsausdruck, beinahe etwas wie Ergriffenheit.
»Ich wollte mich für das Vorgefallene bei Ihnen entschuldigen«, sagte er, »und Sie außerdem um einen Gefallen bitten.«
»Welcherart?«
»Ich bräuchte ein Geschenk für eine junge Dame etwa Ihres Alters. Und da ich mich in Sachen Schmuck für die holde Weiblichkeit nicht auskenne, wäre ich Ihnen für einen guten Rat sehr verbunden.«
Eine Sekunde lang zögerte ich. Eigentlich gehört es sich in solchen Situationen, bei erstbester Gelegenheit das Weite zu suchen – doch aus irgendeinem Grund hatte ich Lust, die Bekanntschaft fortzusetzen. Außerdem war ich gespannt auf das Innere des Wagens.
»Gut«, sagte ich.
Kaum aber saß ich auf dem Beifahrersitz, als ich mich umzuschauen vergaß: Ein an der Windschutzscheibe steckender Ausweis nahm meine Aufmerksamkeit gefangen.
Eine Tendenz zum Kitsch bei den russischen Machthabern war mir seit längerem aufgefallen. Beständig eiferten sie danach, sich in den majestätischen Schatten imperialer Geschichte und Kultur einzuschreiben, sich selbst sozusagen eine Adelsurkunde auszustellen, die die Abkunft von den glorreichen Vorfahren bezeugt – obwohl sie mit dem Russland von einst ungefähr so viel gemein haben wie irgendwelche Langobarden, die ihre Ziegen in den Ruinen des Forums weiden lassen, mit den Flaviern. Der Passierschein an der Maybach-Scheibe war ein aktuelles Muster aus diesem Genre. Darauf zu sehen der goldene doppelköpfige Adler sowie eine dreistellige Nummer, und darunter stand dieses:
Doch weißt du, dieser schwarze Wagen
darf überall hier ungehindert fahren.
A. S. Puschkin
Was sollte man dazu sagen? Der Adler, gut. Puschkin, o ja. Aber ein Gefühl der Zugehörigkeit zum Schicksal dieses großen Landes, «auf das die Designer vom Geheimdienst aus waren, wollte sich trotzdem nicht einstellen. Wahrscheinlich lag es an der falsch gewählten Referenzepoche. Man hätte nicht auf den imperialen Adler zurückgreifen sollen, sondern auf feudale Chroniken, Igorlied und so weiter. Dort war es einfacher, Vorbilder zu finden. Fürst »Großnest« Boris, Großfürst »Rotborke« Wladimir – das hätte doch ganz anders geklungen …
»Wo sind Sie mit den Gedanken?«
»Wie? Ich?«, schrak ich auf.
»Ja«, sagte er. »Beim Nachdenken ziehen Sie Ihre Nase so niedlich kraus.«
Da fuhren wir schon auf der Straße.
»Wir haben einander übrigens noch gar nicht vorgestellt. Alexander Sery4. Sascha, wenn Sie mögen. Sie kennen sicher diesen Sascha Bely5 aus dem Fernsehen? Dasselbe in Grau, sozusagen.«
»Sascha Bely? Nie gehört. Andrej Bely, den habe ich gekannt.«
»Andrej Bely?«, fragte Alexander zurück, mit leichtem Befremden, wie mir schien. »Na, gut. Wie heißen Sie denn?«
»Adèle.«
»Adèle?« Seine Augen wurden rund vor Staunen. »Und das ist kein Scherz?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Das ist ja unglaublich. Wenn Sie wüssten, wie viel in meinem Leben mit diesem Namen in Zusammenhang steht! Unsere Begegnung kann kein Zufall sein. Und dass Sie jetzt so einfach in meinem Auto sitzen …«
»Womit füttert man eigentlich Bären?«, fragte ich.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Sie binden mir gerade einen auf.«
Er lachte.
»Sie glauben mir nicht? Das mit Adèle?«
»Nein«, sagte ich.
»Ich kann Ihnen erklären, was ich meine. Wenn es Sie interessiert.«
»Doch, doch.«
Es interessierte mich wirklich.
»Kennen Sie das Spiel Final Fantasy 8 auf der PlayStation?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich hab das seinerzeit mal fast bis zu Ende durchgespielt – und das hat gedauert. Aber kurz vorm Ende tauchte die Hexe Adèle auf. Eine Schönheit. Übermenschengröße! Und sehr sehenswert animiert: Wie sie aufwacht, die Augen aufschlägt und von einem Strahlenfächer umgeben ist, der wie das Logo vom Universal-Studio aussieht, und wie sie dann in ihrem Sarg zur Erde fliegt. «
»Von wo kommt sie her?«
»Vom Mond.«
»Ah ja. Und wie endet das Ganze?«
»Weiß ich nicht«, erwiderte er. »Das ist es ja gerade. Ich konnte sie nicht besiegen. Alle anderen habe ich gekillt, an ihr bin ich gescheitert. Drum war das Spiel für mich zu Ende … «
»Und warum hat sich Ihnen das so besonders eingeprägt?« fragte ich. »Es gibt doch einen Haufen solche Spiele.«
»Weil mir bis dahin immer alles im Leben gelungen war.«
»Alles?«
Er nickte.
»Na gut«, sagte ich. »Wird wohl so sein.«
»Sie glauben mir nicht?«
»Doch, doch. Man sieht's ja an dem Auto.«
Ein paar Sekunden fuhren wir schweigend. Ich blickte aus dem Fenster. Wir näherten uns dem Anfang des Twerskoi Bulwar.
»Ein neues Restaurant«, sagte ich. »Palazzo Ducale. Sind Sie schon mal da gewesen?«
Er nickte.
»Wen trifft man da so?«
»Die Üblichen.«
»Und wovon reden die Leute?«
Er dachte einen Moment nach. Dann sprach er mit gekünstelter Frauenstimme: »Was meinen Sie, ob der Shetschkow wohl schlechte Träume hat, wenn er jetzt in der Datscha von Volkskommissar Jeshow wohnt?« Die Antwort kam postwendend mit ebenso gekünstelter Bassstimme: »Nein, aber Volkskommissar Jeshow würde sich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, dass Shetschkow jetzt in seiner Datscha wohnt…«
»Und wer ist Shetschkow?«, fragte ich.
Er blickte mich argwöhnisch an. Anscheinend musste man diesen Shetschkow kennen. Ich nahm mir vor, im Internet nachzuschauen.
»Nur so ein Beispiel«, sagte er. »Dafür, was dort so geredet wird.«
Ich erinnerte mich an Jeshows Datscha, wie sie in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts gewesen war. Mir hatten die Gipslöwen mit den Kugeln unter den Tatzen am Eingang gefallen – die Visagen immer so ein bisschen schuldbewusst, als wüssten sie, dass sie ihren Hausherrn doch nicht bewachen konnten. Fast genau so ein Löwe hatte tausend Jahre zuvor vor dem Tempel der Huayan-Sekte gestanden – allerdings aus Gold, und mit einer Inschrift an der Seite, die ich bis heute auswendig weiß:
Wenn lebendige Geschöpfe irren, so liegt es daran, dass sie glauben, man könnte das Falsche verwerfen und die Wahrheit erkennen. Doch wer sich selbst erkennt, für den wird das Falsche wahr, und da ist keine andere Wahrheit, die man danach noch erkennen müsste.
Ach, was hatte man damals für Leute um sich! Wer wäre heute noch in der Lage, den Sinn dieser Worte zu erfassen? Alle sind sie in höhere Welten entschwunden. Nicht einmal aus Mitleid möchte einer noch in dieses Höllenlabyrinth hineingeboren werden, ich allein tappe hier durch das Dunkel… Wir stoppten an einer Kreuzung.
»Sagen Sie, Alexander, wohin fahren wir eigentlich?«, fragte ich.
»Vielleicht kennen Sie hier in der Nähe ein gutes Juweliergeschäft? Ich meine, ein wirklich gutes?«
Immer wenn ich in einer teuren Boutique erlebe, wie ein Kavalier einer jungen Dame eine Brosche im Wert eines kleinen Flugzeuges kauft, weiß ich hinterher wieder, dass menschliche Weibchen nicht schlechter als unsereins in der Lage sind, Fata Morganen zu erzeugen. Womöglich sogar besser. Dass eine Fortpflanzungsmaschine von Fleisch und Blut sich für einen zauberhaften Frühjahrsblüher auszugeben vermag, der eine kostbare Einfassung verdient – und die Illusion nicht nur wie wir minutenlang, sondern über Jahre und Jahrzehnte hinweg aufrechterhält, und dies ohne jegliche Schweifanwendungen! Das muss man erst einmal können. Wahrscheinlich hat die Frau, ähnlich wie ein Handy, eine eingebaute kleine Antenne dafür. Meine inneren Stimmen haben dazu das Folgende zu sagen:
1. spricht die Tatsache, dass die Frau als Fortpflanzungsmaschine sich für einen zauberhaften Frühjahrsblüher auszugeben imstande ist, dafür, dass man die weibliche Natur nicht aufs Gebären reduzieren darf; zumindest muss die Fähigkeit zur Gehirnwäsche einbezogen werden.
2. ist ein zauberhafter Frühjahrsblüher seiner Natur nach auch nur ein Fortpflanzungs- bzw. Gehirnwäschemechanismus, um dass das Fleisch hier grün ist, und den Bienen wird das Hirn gewaschen.
3. ist so eine kostbare Einfassung niemandem als der Frau etwas nütze, insofern lohnt es nicht, darüber nachzudenken, ob sie sie verdient oder nicht.
4. haben Handys mit eingebauter Antenne zwar ein handliches Gehäuse, aber einen miesen Empfang, insbesondere in Gebäuden aus Eisenbeton.
5. haben Aufklapphandys eine Außenantenne, ergo ein unhandliches Gehäuse, und der Empfang in Gebäuden aus Eisenbeton ist noch mieser.
Eine Frau ist ein friedliches Wesen, sie verdreht nur dem eigenen Männchen den Kopf, tut weder Vögeln noch anderen Tieren etwas zuleide. Sie tut es für ein höheres biologisches Ziel, nämlich um des eigenen Überlebens willen, was die Täuschung verzeihlich macht; sich da hineinzuhängen ist Werfuchses Sache nicht. Wenn aber ein verheirateter Mann, der sich in einem von seiner Freundin suggerierten Traum mit Horror- und Gothicelementen fest eingerichtet hat, nach einem Glas Bier plötzlich verkündet, die Frau wäre nichts weiter als ein Gebäraggregat, dann ist das mehr als lächerlich. Der Mann ahnt nicht, was für eine komische Figur er dabei macht. Ich möchte hier gar nicht auf den Grafen Tolstoi anspielen, vor dem ich mich verbeuge, ich spreche ganz allgemein.
Doch ich bin abgeschweift. Sagen wollte ich nur, dass die hypnotischen Fähigkeiten der Frau außer Frage stehen, und wer an ihnen Zweifel hat, kann diese zerstreuen, indem er ein Geschäft für teuren Schnickschnack aufsucht.
Bis zum letzten Moment hatte ich nicht geahnt, dass Alexander das Geschenk für mich kaufte. Zu einer solchen Annahme gab es einfach keinen Grund. Ich hatte gedacht, es ginge um ein Souvenir für irgendein Glamourpüppchen, und ihm allen Ernstes Ratschläge dafür gegeben. Entsprechend dämlich kam ich mir vor, als er mir die Tüte mit den zwei kleinen Etuis gleich nach dem Bezahlen überreichte. Das hatte ich nicht erwartet. Dabei sollten Werfüchse die Handlungen von Menschen voraussehen können – wenn schon nicht alle, so doch immerhin die, die uns persönlich betreffen. Davon hängt unser Überleben ab.
In zwei identischen weißen Schächtelchen lagen Ringe zu acht- und zu fünfzehntausend Dollar. Platin mit Brillanten. Der große Stein wog null Komma acht, der kleine null Komma fünf vier Karat. Tiffany & Co. Dreiundzwanzigtausend Dollar – das muss man sich vorstellen! Wie viele Male müsste ich dafür den Schweif aufstellen!, dachte ich mit beinahe so etwas wie Sozialneid. Und das Verrückteste war, dass er gar nichts von mir wollte. Nur meine Telefonnummer. Er sagte, er fliege irgendwohin in den Norden und rufe an, wenn er zurück sei, so in zwei Tagen.
Die Ringe zu kaufen war übrigens gar nicht so einfach. Die Verkäuferin konnte sich lange nicht entschließen, eine so gewichtige Transaktion allein zu vollziehen, ebenso wenig die Kassiererin. »Ohne den Manager kann ich das nicht«, sagte sie, das Fremdwort auf dem zweiten a betonend. Ich meinte eine subtile Geringschätzung darin zu erkennen. So verpackt Mutter Heimat ihre Brillanten in Klassenhass …
Erst zu Hause in Bitza merkte ich, wie müde ich war – ich hatte nicht einmal mehr die Kraft, in mein E-Mail-Postfach zu schauen. Bis zum darauffolgenden Mittag schlief ich durch. Meine Träume passten verdächtig gut in die Borgesschen Schubfächer: Verteidigung einer Festung und so weiter – es muss die Belagerung einer Stadt zur Zeit des Aufstands der Gelben Turbane gewesen sein. Ich war unter den Verteidigern und schleuderte schwere Wurfspieße von der Mauer hinab.
Symbolik muss mir keiner erklären, dagegen bin ich allergisch. In den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts machte ich mir selbst einen Spaß daraus, unseren roten Freudianern die romantischen Köpfe zu verdrehen, indem ich ihnen erfundene Träume erzählte: »Und dann fielen uns die Schweife ab, und es hieß, sie steckten nun in einer Kokosnuss, die über einem Wasserfall hängt.« Wenn ich im Traum Spieße werfe, heißt das nicht, dass ich mir über die Symbolik des Geschehens nicht im Klaren bin. Aber es heißt erst recht nicht, dass ich mir Rechenschaft darüber ablege. All diese Rechenschaftsberichte habe ich vor langer Zeit ins Archiv gegeben, es sind Staubfänger.
Nach dem Ausschlafen arbeitete mein Kopf klar und präzise, und das Erste, worüber ich nachdachte, war der finanzielle Aspekt der Geschichte. Mein persönlicher Index rückte in den zartgrünen Bereich: Wenn zwei Ringe im Laden dreiundzwanzigtausend kosten, heißt das, man kann sie für circa fünfzehntausend losschlagen.
Andererseits tat es mir um die Ringe leid – in den letzten hundert Jahren waren mir selten einmal solche hübschen Dingelchen dargebracht worden. In Sowjetrussland hatten diesbezüglich strenge Sitten geherrscht: Noch in der späten Breshnew-Zeit war es die Regel gewesen, dass wenn ein Mann mit seinem Einkaufsbeutel in einen Juwelierladen ging und eine Brosche für dreißigtausend Rubel kaufte, die ganze zentrale Presse eine Woche lang darüber herzog und die empörte Frage stellte, wo denn die zuständigen Organe ihre Augen hätten, Dreißigtausend Rubel waren in jenen Jahren der Stagnation zwar tatsächlich eine ganze Stange Geld. Doch wozu legten sie die Brosche dann überhaupt ins Schaufenster? Als Köder womöglich? So hätte man die Entrüstung der Presse noch verstehen können: Der Köder war abgefressen, der Fisch über alle Berge.
So hatte es mir jedenfalls der Chef des Jelissejewschen Feinkostladens mit heißem Lachen ins Ohr geflüstert, als er mir die Brosche schenkte. Er war ein vorsichtiger Mann; die Leidenschaft ließ einen Romantiker aus ihm werden. Der Ärmste wurde damals erschossen, er tat mir Leid. Die Brosche deswegen zu tragen brachte ich aber nun auch wieder nicht über mich. Sie war ein unübertreffliches Musterbeispiel für sowjetischen Kitsch: Smaragdgurken und Rubinrüben in einem Kranz aus Brillantähren. Zum ewigen Gedenken an die einzige von Sowjetrussland je verlorene Schlacht: die Ernteschlacht…
Als ich mich an den Ringen satt gesehen hatte, schaute ich endlich ins E-Mail-Postfach. Es gab nur einen Brief, dafür einen sehr angenehmen: von meiner Schwester E Huli, die ich eine Ewigkeit nicht gesehen hatte.
Grüß Dich, Rotfuchs!
Was macht das Leben? immer noch mit sittlicher Selbstvervollkommnung beschäftigt? Suchst einen Ausweg aus den Labyrinthen der illusorischen Welt? Schön wärs, wenn wenigstens eine aus unserer leichtlebigen Großfamilie ihn eines Tages fände.
Ich für mein Teil habe mich in diesen Labyrinthen hoffnungslos verirrt. Bin immer noch in Thailand, nur endlich von Pattaya weggezogen. Das Meer ist in den letzten dreißig Jahren vollkommen verdreckt. Außerdem hat die Konkurrenz vonseiten der einheimischen Frauen so zugenommen, dass das Werfuchsgewerbe immer schlechter geht. Hier steht alles Kopf: In den meisten Ländern ist die Freude groß, wenn ein Junge geboren wird, hier hingegen freut man sich über ein Mädchen und sagt – wortwörtlich: Wie gut, dass es ein Mädchen ist, dann brauchen wir auf die alten Tage nicht zu hungern! Wenn Konfuzius das hören könnte, er würde sich am eigenen Zopf erhängen.
Die Insel Phuket, wo ich neuerdings wohne, ist bis jetzt noch halbwegs sauber, in zehn Jahren wird es hier genau wie in Pattaya aussehen. Zu viele Touristen. Ich bin am Patong Beach untergekommen, arbeite in Christine's Massagesalon. Wir Masseusen sitzen, mit Rouge geschminkt wie böse Geister, in einem speziellen Schauraum auf der Bank. Die krebsroten Farangi (so nennen wir die Touristen aus dem Westen) kommen von der Straße herein und suchen sich eine aus. Dann gehts ins Séparée, den Rest kannst Du Dir vorstellen. Ich gelte als hervorragende Spezialistin für Thai-Massage, darum koste ich mehr als die anderen, muss aber trotzdem abends in den Bars an der Bangla Road, fünf Minuten von meinem Salon entfernt, noch was dazuverdienen. Die Arbeit am Tag schlaucht genug, und dann soll man dort noch in bunte Fähnchen steigen und auf die
Bühne rausgehen. Eigentlich gar keine Bühne, bloß ein Tresen, auf dem wir Mädchen uns mit Nummern auf der Brust langsam von Stange zu Stange schieben; unten in der Bar sitzen die Farangi, trinken kaltes Bier und können sich ewig nicht entscheiden. Wenn man auf die Art, mit zwei Jobs, fünfzig Dollar pro Tag auf die Kante legen kann, hat man Glück gehabt.
Die Lebensgrundlagen sind hier aus den Fugen geraten. Die thailändischen Mädchen sind bienenfleißig und bescheiden. Doch fliegen die Bienen in natürlicher Umgebung von Blüte zu Blüte und sammeln emsig ihren Nektar ein. Kippte man aber nun neben dem Bienenstock einen Eimer Zuckermelasse aus, würden sie sich darauf stürzen, keine Biene flöge mehr zu den Blumen auf die Wiese. Auf dieselbe Art verdirbt der Westen mit seinen Exkrementen unseren tropischen Garten, indem er Ströme von Dollarmelasse aus den Strandhotels drüberschwappen lässt. Euer Russland ist für uns, nebenbei gesagt, genauso ein Sexausbeuter wie die anderen, und dass es momentan nur ein Rohstoffanhängsel für die westlichen Länder ist, mindert nicht seine moralische Schuld. Wobei man freilich auch Thailand gewissermaßen als Rohstoffanhängsel bezeichnen könnte … Glaube nur nicht, dass ich dem Dogmatismus verfallen bin, heute war einfach ein heißer Tag, und ich bin sehr müde.
Was übrigens Russland angeht: Vor kurzem war unsere Schwester I mit Lord Kricket, ihrem neuen Gemahl, bei uns in Phuket (das Dummerchen ist ganz happy). Von ihr bekam ich eine erstaunliche Sache zu hören. Du erinnerst dich an die Weissagung vom Überwertier? I meint, der Ort, von dem in der Weissagung die Rede ist, sei Moskau. Ihre Herleitung hat etwas für sich. Die Weissagung lautet, das Überwertier sei in einer Stadt zu erwarten, wo ein Tempel geschleift und hernach in alter Form wiederaufgebaut worden sei. Jahrhundertelang war man der Meinung, es könnte sich nur um Jerusalem handeln, und die Erscheinung des Überwertiers wäre als Prophetie an das Ende aller Zeiten geknüpft, eine Art Apokalypse. I Huli hingegen ist der Meinung, dass wir da einfach nur dem Einfluss der jüdisch-christlichen Symbolik erlegen sind, dem Kurzschluss: Tempel gleich Jerusalem …
Tatsächlich ist in der Weissagung kein Hinweis auf Jerusalem zu finden. Während in Moskau vor nicht langer Zeit eine im Zuge der Kulturrevolution zerstörte Christus-Erlöser-Kathedrale wiedererrichtet worden ist (falls Schwesterchen I den Namen nicht verwechselt hat). Und zwar exakt in der ursprünglichen Form – da beruft sie sich auf Informationen von Dir. Ich denke, Du kannst in Bälde mit einem Besuch von ihr und ihrem Mann rechnen, der an den mystischen Forschungen lebhaften Anteil nimmt.
Dieser Lord Kricket ist aber beileibe nicht bloß Mystiker. Als Kunstmäzen und Sammler, der mit vielen Galerien kooperiert, hat er in London einen Namen. Außerdem ist er einer der Führer von Countryside Alliance, einer Organisation, die Dir bestens bekannt sein dürfte, da sie das Verbot von Fuchsjagden boykottiert. Ich weiß, wie schwer es einem fällt, solch eine Person ungeschoren ziehen zu lassen. Doch bitte ich Dich zu bedenken, dass Schwester I noch keine Entscheidung über seinen Nachfolger getroffen hat. Also zügele Dich, so wie ich es getan habe. Besser ist es, Du betrachtest die Dinge mit heiterer Gelassenheit: Der Lord betreibt seine Superwerwolfsuche, wo er geht und steht, mit Ausnahme des eigenen Schlafzimmers vielleicht. So sind die Menschen nun mal. Ich frage mich nur, woher dieses Interesse am Übernatürlichen bei ihm rührt? Obwohl, es ist ja nicht selten, dass die Vertreter der ausbeutenden Klassen okkulten Neigungen verfallen, um darin die Rechtfertigung für ihre eigene parasitäre Existenz zu finden.
Ich wollte Dich noch um Rat fragen: ob ich nicht vielleicht nach Russland umziehen sollte? Die russischen Touristen gefallen mir – sie sind gutmütig, geben viel Trinkgeld und schlafen schnell ein, weil sie betrunken sind. Auf der Brust von einem habe ich eine hübsche Tätowierung gesehen: Lenin, Marx, Hammer und Sichel! Dabei war er noch ganz jung. Ihm habe ich sehr gefallen. Er hat mich auf Video aufgenommen und mir geraten, nach Russland zu kommen. »Mit deiner Schönheit könntest du in Russland Karriere machen«, hat er gesagt. »Und das nicht in irgendeinem Massagesalon. Du scharwenzelst ein, zwei Jahre um unsere Elite herum, dann hast du fürs Leben ausgesorgt.« In Russland wäre jetzt alles anders, hat er gesagt, überall wären Reformen im Gange, und die Leute hätten viel Geld. Stimmt das? Was ist das für eine Elite, um die man scharwenzeln müsste? Könnte ich das hinkriegen?
Außerdem sind, wie er sagt, Eure Rubel im Vergleich zum Dollar praktisch dasselbe wie unsere Baht, ein großer Kulturschock wäre also nicht zu befürchten. Schreib mir, wie die Lage bei Euch in Moskau ist und ob dort nicht ein Plätzchen für E Huli zu finden wäre.
Ich liebe Dich und denk an Dich,
Deine E
Schwesterlein E … Ich musste lächeln, als ich sie mir vorstellte: ihr ernstes, etwas mürrisches, sehr geradliniges Wesen. Sie war wohl von uns allen die Beste – und hatte darum allzeit die schwerste Last zu tragen. Den ganzen Befreiungskrieg über war sie an der Seite des Vorsitzenden Mao gewesen, hatte verschiedene VBA-Orden erhalten; als in China der Kapitalismus wiederauferstand, verbrannte sie auf dem Tiananmen-Platz ihr Parteibuch und wanderte nach Thailand aus. Nun möchte sie nach Russland kommen – in der Annahme, es wäre immer noch das Land des Roten Oktobers … O weh, das muss ich ihr ausreden. Sonst kommt sie tatsächlich noch angeflogen und bläst Trübsal in Eis und Schnee. Oder tut sich mit irgendwelchen Nationalbolschewisten zusammen. Um dann, wenn es so weit ist, dass die Nationalbolschewisten mit der Fa. Diesel Verträge schließen, wieder mal einen »ehrlichen Schlussstrich« zu ziehen und dafür lange Jahre hinter Schloss und Riegel zu brummen – wie oft hatten wir das mit ihr schon …
Sekundenlang suchte ich nach einem Bild, das auf sie Eindruck machen würde, dann hatte ich es, wie mir schien. Ich legte die Finger an die Tasten.
Grüß Dich, Rotschwänzchen
Du kannst dir nicht vorstellen, wie angenehm es ist, in dieser tief verschneiten Einöde eine Nachricht von Dir zu bekommen. Du sagst, Thailand sei Dir über? Dann bedenke doch, dass die Leute in den Ländern der Goldenen Milliarde das ganze Jahr sparen, nur um für ein paar Wochen in Dein Kokospalmenparadies zu gelangen… Dass das Leben in den Fünf-Sterne-Hotels sich von Deinem stark unterscheidet, ist mir klar. Doch Meer und Himmel sind dieselben, und genau ihretwegen kommen sie alle aus ihren Neongruften gefahren.
Du sagst, das Leben in Thailand sei aus den Fugen, weil die unschuldigen Eingeborenen von den Fremden mit ihrem giftigen Dollarschlamm begossen und so um die Freuden einfacher Arbeit betrogen werden. Deine Ansichten in allen Ehren, aber versuche die Sache doch einmal aus einem etwas anderen Blickwinkel zu sehen: Diese Wüstlinge fahren einander das ganze Jahr in ihren Büros an die Gurgel, damit sie genügend giftigen Dollarschlamm zusammenkriegen. So ist doch eher deren Leben aus den Fugen – was hätten sie sonst in Deinem Salon zu suchen, mein Augenstern? Billigtarife – jawohl, dagegen muss man kämpfen. Doch wozu diese kosmischen Verallgemeinerungen, die doch jedes Mal mit dem Mord an fünfzig Millionen Menschen enden?
Du fragst, wie hier die Dinge stehen. Um es auf einen kurzen Nenner zu bringen: Die Hoffnung darauf, dass das braune Meer, das von allen Seiten gegen uns ansteigt, vielleicht doch nur Schokolade sein könnte, ist selbst bei den hartgesottensten Optimisten am Schmelzen. Zergeht auf der Zunge, wie die Werbefuzzis scharfsinnig zu präzisieren wüssten.
In Moskau werden Wolkenkratzer gebaut, tonnenweise Sushi gefressen und Milliardenklagen angestrengt. Doch dieser Boom hat mit der allgemeinen Wirtschaft wenig zu tun. Hier fließen einfach die Gelder aus dem ganzen Land zusammen und befeuchten kurz das städtische Leben, ehe sie in den Offshore-Hyperraum abwandern. Ich weiß noch, wie Du einmal sagtest, der Grundwiderspruch der Epoche sei der zwischen Geld und Blut. In Moskau wird er dadurch etwas abgemildert, dass das Blut einstweilen noch in weiter Ferne fließt, und das Geld hat immer gerade ein anderer. Aber das ist alles eine Frage der Zeit.
Das Leben hier ist so eigentümlich und unvergleichlich, dass es schon einen Propheten wie Oswald Spengler brauchte, um sein Wesen getreu zu erfassen. Spengler war der Ansicht, dass jeder Kultur ein verborgenes Prinzip zugrunde liegt, welches sich in einer Vielzahl äußerlich voneinander unabhängiger Phänomene artikuliert. So bestehe zum Beispiel ein tiefer innerer Zusammenhang zwischen der runden Form einer Münze und der die antike Stadt umgebenden Mauer, usw. usf. Ich denke, wenn Spengler Gelegenheit hätte, sich mit dem Russland der Gegenwart zu befassen, so würde ihn die Frage am meisten interessieren, die auch Dich beschäftigt: die regionale Elite.
Sie ist wirklich einmalig. Der junge Mann hat Dich falsch informiert. Vom Scharwenzeln um diese Klientel ist noch keiner reich geworden, im Gegenteil: Das Geld kann dabei nur weniger werden, sonst bliebe die Elite ja keine Elite. In alten Zeiten war ein jeglicher Angestellter unter dem Himmel bemüht, den allgemeinen Gang der Dinge voranzutreiben. Hier hingegen stellt jeder seinen eigenen kleinen Schlagbaum in diesen Gang und möchte ihn nur gegen Geld wieder heben. Dieses Voreinanderheben von Schlagbäumen macht den Kern des hiesigen Gesellschaftsvertrages aus.
Die Elite teilt sich hierzulande in zwei Flügel – Unternehmer (vugo: Von-Unten-Nehmer) und Apparat (Upper rat). Von-Unten-Nehmer bilden die Business Community, die vor der Macht im Dreck kniet, weil diese jedem Geschäft zu jeder Zeit einen Riegel vorschieben kann, denn jedes Geschäft hat nun einmal seine kleinkriminellen Anteile. Und »Upper rats«, das sind die Politiker, die bei jedem Geschäft abstauben. Der Endeffekt ist, dass die einen wegsehen, wenn die anderen wegschaffen, und dafür selber auch unbehelligt wegschaffen dürfen. Was denkst Du, wie vielen Leuten es gelungen ist, in diesem geschlossenen Karree auf freiem Feld unterzukommen! Wobei es zwischen den beiden Flügeln keine scharfen Abgrenzungen gibt, einer geht fließend in den anderen über, zusammen ergeben sie eine große, fette, geile Ratte, die es sich selbst besorgt. Und um diesen schmatzenden Uroboros möchtest Du herumscharwenzeln? (Uroboros, das ist ein altes alchimistisches Symbol: eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt – in unserem Fall hat das Ganze eher urologische Untertöne.)
Die Reformen, von denen man Dir erzählt hat, sind durchaus nichts Neues. Solange ich mich erinnern kann, sind sie ständig im Gange. Sie laufen darauf hinaus, dass von allen Zukunftsoptionen nach größtmöglicher Verzögerung die fieseste gewählt wird. Am Beginn jeder Reform steht die Verlautbarung, dass der Fisch vom Kopf her stinkt, worauf die Reformkräfte den gesunden Körper zerlegen und verspeisen, und der faule Kopf schwimmt weiter. Daher ist alles, was schon unter Iwan dem Schrecklichen gestunken hat, noch am Leben, während das, was vor fünf Jahren noch gesund war, aufgefressen ist. Unsere Upper rats hätten sich anstelle des Bären lieber diesen Fischkopf auf die Fahnen zeichnen sollen. Obwohl, der Bär ist auch nicht ohne: ein internationales Symbol für wirtschaftliche Stagnation, und den Phraseologismus »einen Bären aufbinden« denke man sich hinzu. Im Russischen gibt es außerdem den Ausdruck »auf die Tatze geben« – was das heißt, kannst Du Dir sicher denken. So wie es bei den Eskimos dreißig Wörter gibt, um dreißig verschiedene Sorten Schnee zu benennen, so hat das moderne Russisch ungefähr genauso viele Ausdrücke für das Bestechen von Amtspersonen.
Die Russen lieben ihr Land trotzdem, ihre Dichter und Denker vergleichen die Zustände traditionell mit einem Bleigewicht am Fuß des Märchenriesen: damit er nicht gar zu schnell durch die Welt fegt… Na, ich weiß nicht. Ich habe schon lange keinen Riesen mehr gesehen, nur Ölpipelines und Ratten, die daran kleben und sich den mystisch-autokephalen Uroboros geben. Manchmal kommt es mir so vor, als hätte das russische Dasein keinen anderen Zweck, als dieses Ensemble durch die Schneewüsten zu zerren. Man versucht einen geopolitischen Sinn darin zu erkennen und kleine Völker damit zu beeindrucken.
Nehmen wir noch zwei weitere, miteinander verflochtene Aspekte der hiesigen Kultur unter die Lupe: eine streng tabuisierte Lexik, die die Alltagskommunikation der Menschen bestimmt, und Gesetze, die die Lebensordnung des Normalbürgers kriminalisieren (was den Gesichtern der Leute ein unauslöschliches Stigma von Sünde aufdrückt), so hätten wir das Erscheinungsbild der Gesellschaft, die zu besuchen du dich anschickst, in Kurzfassung komplett. Freilich ließe sich die Liste beliebig verlängern: Man könnte die Tresortüren vor den Wohnungen hinzunehmen oder die metaphysisch getrimmten Kino-Blockbuster, wo das Böse sich vom Guten füttern lässt, weil im Gegenzug auch das Gute sich vom Bösen … und so fort. Genug davon!
Lieber möchte ich Dir noch ein paar professionell fundierte Beobachtungen mitteilen, was die Perspektiven einer karrierebewussten jungen Frau in Russland betrifft. In den Gefängnissen wird mit Vorliebe ein Spiel gespielt, das bei der Intelligenzija unter dem Namen Robinson, bei den Intellektuellen als Ultima Thule bekannt ist. Es geht folgendermaßen: Ein Mann setzt sich so in den Waschzuber, dass nur die Eichel seines Penis aus dem Wasser schaut. Dann nimmt er aus einer Streichholzschachtel eine Fliege, der man zuvor die Flügel ausgerissen hat, und setzt sie auf dem kleinen Eiland aus. Dem armen Insekt zuzuschauen, wie es verzweifelt auf der Vorhaut hin- und herirrt, darin erschöpft sich der Spielgedanke dieser polarnahen Vergnügung. Eine Meditation über die Ausweglosigkeit der Existenz, über Einsamkeit und Tod. Die Katharsis besteht darin, dass der Penis durch die beständig krabbelnde Fliege stimuliert wird. Es existiert eine Abart dieses Spiels, die bei der Intelligenzija unter dem Namen Atlantis, bei den Intellektuellen als »Geistiges Kitesch« bekannt ist. Die Details sind so finster, dass ich sie Dir hier erspare, sonst bist Du um den Schlaf gebracht.
Glaub mir, Schwesterlein, solltest Du hier anreisen. Du würdest dich sehr bald fühlen wie eine Fliege ohne Flügel, umherirrend auf den Inseln des Archipels, über den seit Solschenizyn alles Wesentliche gesagt ist. Lohnt es wirklich, Dein Meer und Deine Sonne gegen dieses harte Los einzutauschen? Geld ist hier reichlicher vorhanden, das ist wahr. Doch glaub mir, die Leute hier geben ihr ganzes Geld aus, um wenigstens andeutungsweise, wenigstens im Heroin- oder Alkoholrausch in die Nähe jenes Stromes von Glück und Freude zu gelangen, worin Dein Leben verläuft.
Und noch ein Letztes – da Du das Überwertier nun einmal erwähnt hast. Es ist meine feste Überzeugung, dass alle von ihm handelnden Legenden rein metaphorisch zu verstehen sind. Ein Überwerwesen ist das, was jede von uns durch sittliche Vervollkommnung und bestmögliche Entwicklung ihrer Fähigkeiten zu werden imstande ist. Du bist jetzt schon eins – in Potenz. Das Überwerwesen außerhalb von uns selbst zu suchen heißt, in die Irre zu gehen. I Huli oder ihren Mann (den ich mir gerne einmal ansehen würde, solange das noch geht) davon abzubringen, versuche ich gar nicht erst, dafür ist mir die Zeit zu schade. Aber Du, Schwesterlein, mit Deinem klaren Verstand und Deinem gerechten Herzen, solltest es einsehen.
Ich liebe Dich und denk an Dich,
Deine A
Es gibt da so eine chinesische Komödie aus dem siebzehnten Jahrhundert: Zwei Füchse in einer Stadt. Moskau ist eine sehr große Stadt. Hier könnte es folglich sehr große Probleme geben. Aber solche Befürchtungen bewegten mich am allerwenigsten – Ehrenwort! Mir war es einzig um das Glück meiner Schwester zu tun. Wenn ich in meinem Brief etwas dick aufgetragen hatte, so nur aus Sorge um sie – sollte sie ihr Bäuchlein doch getrost noch eine Weile länger in die Sonne halten! Geld macht nicht glücklich. Und zum Überwertier hatte ich ihr das Wesentliche geschrieben, davon war ich überzeugt. Das nächste Mal würde ich ihr nahe legen, sich an die Methode Die Braut gibt einen Ohrring zurück zu halten.
Apropos … Ich hatte plötzlich eine entzückende Idee. Stürzte zum Safe, wo ich den Schmuck und anderen teuren Kram aufbewahrte. Was ich suchte, fand sich gleich: Ein Paar silberne Ohrringe lag obenauf.
Ich klappte die winzige Flachzange aus meinem alten Leatherman (ein frühes Modell, solche stellen sie heute gar nicht mehr her) und löste vorsichtig die Häkchen von den Ringen. Wenig später hatte ich etwas Phantastisches auf meiner flachen Hand liegen: Ohrringe in Form von Fingerringen an silbernen Häkchen, die in der Farbe mit dem Platin beinahe ganz übereinstimmen. Der eine Ring mit einem größeren, der andere mit einem kleineren Brillanten. Das hatte vor mir bestimmt noch keiner versucht. Wenn ich damit ankomme, wird die Idee sofort geklaut, dachte ich. Aber was kann man dagegen tun …
Ich hängte die Ringe an und besah mich im Taschenspiegel. Es sah super aus. Man erkannte auf den ersten Blick, dass das, was ich da am Ohr hatte, eigentlich an die Finger gehörte. Und dass es teure Ringe waren, sah man auch: Die Brillanten funkelten berückend in dem staubigen Lichtstrahl, der meine Wohnung erhellte. Am schicksten aber war, dass die kostbare Angelegenheit in einer Staffage daherkam, die jede Kostbarkeit demonstrativ geringschätzte; hier trafen sich die Ideale des Finanzkapitals mit den Werten der Achtundsechziger in einem ästhetisch integren Objekt: Schaut her, verhieß es, sie hat es nicht nur mit Abramowitsch, sondern auch mit Che Guevara! Verbunden gar mit der vagen Andeutung, dass Abramowitsch nur eine vorübergehende Wahl ist, so lange bis Che wieder in Mode kommt (Che tut hier nichts zur Sache, für ihn macht keine mehr die Beine breit – das Mädchen vermutet einfach, dass Abramowitsch auf so einen Blinker besser anbeißt.) Kurzum: genau das, was der Doktor verschrieben hat, wie der Russe zu sagen pflegt.
Dieser Doktor kann mir übrigens gestohlen bleiben. Von solchen habe ich in zweitausend Jahren genug gesehen. Verschreiben irgendwas, und die liebe Menschenseele glaubt ein ums andere Mal an den gleichen Schwindel, segelt fröhlich gegen die Klippen dieser Welt, schlägt sich an ihnen den Kopf ein. Und segelt wieder los – wie beim ersten Mal. Du aber siedelst an der Küste dieses Meeres, hörst die Wellen rauschen und denkst: Bloß gut, dass jede Welle nur von sich weiß und nichts von dem, was war.
Natürlich bekomme ich solche Ringe und Broschen nicht zur Vervollkommnung meiner Seele geschenkt, die zu erfassen die Menschen von heute sowieso nicht in der Lage wären. Sie wissen ausschließlich meine körperlichen Vorzüge zu schätzen – Schönheit, die so peinsam, zwiespältig und verheerend sein kann. Was sie für eine Macht besitzt, weiß ich sehr gut, habe es über Hunderte von Jahren studiert. Doch diesmal, nach der Begegnung mit Alexander, war mir viel von meiner gewohnten Selbstsicherheit genommen. Ich kann mich nicht entsinnen, dass die Zeit sich schon einmal so quälend hingezogen hätte – zwei Tage, die ich seinem Anruf entgegenfieberte, kamen mir vor wie eine Ewigkeit. Schneckengleich krochen die Minuten aus der Zukunft in die Vergangenheit, ich saß vor dem Spiegel, betrachtete mein Konterfei und meditierte über die Schönheit.
Ein Mann denkt sich oft: Da geht dieses Mädchen durch die Stadt im Frühlingserwachen, schenkt allen ihr Lächeln und weiß gar nicht, wie schön sie ist. Ein Gedanke, der sich unweigerlich in das Bestreben kehrt, diese Schönheit, die noch nichts von sich ahnt, weit unter Marktwert zu erwerben.
Nichts könnte naiver sein. Der Mann kriegt es mit, und das Mädchen soll keine Ahnung davon haben? Das ist, wie wenn ein Bauer aus Nikolajewo seine Kuh verkauft hat und nach Moskau fährt, um sich dafür einen alten Shiguli zu kaufen. Kommt am Porsche-Salon vorbei, sieht durch die Scheibe den jugendlichen Verkäufer und denkt: Mensch, ist der aber noch jung … Vielleicht glaubt der ja noch, dass dieser orangene Boxster dort weniger als ein Shiguli kostet, weil er bloß zwei Türen hat? Ich kann ja mal reingehen und mit ihm reden, solange er grad allein bedient …
Völlig klar, dass dieser Mann sich über die Maßen lächerlich macht, und sein Bemühen ist aussichtslos. Aber man muss die Sache nicht so trübe sehen. Es gibt für den Bauern aus Nikolajewo zwei Nachrichten, eine gute und eine schlechte:
1. die schlechte: Unter dem Marktwert kriegt er gar nichts zu kaufen. Alles ist kalkuliert, alles einbedacht und abgeglichen. Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren.
2. die gute: Dieser Marktwert liegt weit niedriger, als der Mann in seinem hormonellen Überschwang, potenziert durch Minderwertigkeitskomplex und Zweifel am Erfolg, glauben mag.
Aus dem orangenen Boxster wird natürlich nichts – den kauft sich der gute alte Ministerialbeamte aus dem Referat für Sozialentwicklung. Aber für einen gebrauchten Audi könnte es durchaus reichen. Das Dumme ist nur: Der Mann bräuchte keinen Audi, sondern einen Traktor. Die Tragödie dieses Bauern (und aller übrigen Männer ebenso) besteht darin, dass sie unserer Schönheit nachlaufen, ohne deren Natur zu verstehen. Was über sie nicht schon alles gesagt worden ist: Eine unheimliche und furchtbare Sache sei sie, die noch dazu die Welt retten soll, und so weiter, und so fort. Begreiflicher wird sie dadurch nicht.
Wir Werfüchse haben mit den schönsten Frauen gemein, dass wir von den Gefühlen, die wir hervorrufen, leben. Wobei die Frau sich von ihrem Instinkt leiten lässt, ein Werfuchs vom Verstand, und wo die Frau sich blind, im lichtlosen Raum bewegt, schreitet ein Werfuchs im hellen Licht des Tages stolz einher. Man muss übrigens zugeben, dass manche Frauen mit ihrer Rolle gut zurechtkommen. Doch könnten sie, selbst wenn sie es wollten, ihre Berufsgeheimnisse nicht preisgeben, da sie sie selbst nicht rational erfassen. Während wir Werfüchse uns diese Geheimnisse bewusst vor Augen führen – und ich werde nun auf eines zu sprechen kommen, welches das einfachste und wichtigste zugleich ist.
Wer der Schönheit wahre Natur verstehen will, muss sich als Erstes die Frage stellen: Wo ist sie lokalisiert? Darf man annehmen, dass sie irgendwo in dieser Frau steckt, die einem so wunderschön erscheint? Darf man zum Beispiel sagen: Die Schönheit liegt in ihren Gesichtszügen? In der Figur?
Will man der Wissenschaft glauben, so bezieht das Hirn seinen Informationsfluss von den Sinnesorganen, im gegebenen Fall den Augen. Ohne die vom visuellen Kortex zugelieferten Interpretationen wären dies jedoch nur chaotische Farbmuster, die im Sehkanal zu Nervenimpulsen digitalisiert werden. Jeder Dummkopf sieht ein, dass an dieser Stelle von Schönheit noch keine Rede sein kann; durch die Augen kommt sie dem Menschen jedenfalls nicht ein. Technisch gesprochen, ist Schönheit pure Interpretation, wie sie im Bewusstsein des Patienten vonstatten geht. In the eye of the beholder, sozusagen.
Schönheit ist der Frau nicht im Wortsinne eigen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt ihres Lebens wird die Schönheit plötzlich von ihrem Gesicht reflektiert, wie das Licht der hinter Dächern vor uns verborgenen Sonne von einer Fensterscheibe reflektiert wird. Darum wäre es auch falsch zu sagen, weibliche Schönheit sei vergänglich – es ist die Sonne, die weiterwandert, und andere Fenster werfen ihr Licht nun zurück. Doch steckt die Sonne bekanntlich nicht in den Scheiben, auf die wir schauen. Sie steckt in uns.
Was ist das für eine Sonne? Mit Verlaub, dies wäre schon Geheimnis Nummer zwei, und für heute möchte ich es bei der Enthüllung des einen belassen. Außerdem ist die Natur der Sonne vom Standpunkt der praktischen Magie vollkommen nebensächlich. Entscheidend ist, was wir mit dem Licht anfangen, und da besteht zwischen Frauen und Werfüchsen ein gewichtiger Unterschied. Den ich aber, wie schon im Fall zuvor, nur vermittels einer Analogie zu erklären weiß.
Es gibt so kleine Leuchten, die man an einem speziellen Riemen vor der Stirn trägt. Bei Radfahrern und Höhlenforschern sehr beliebt. Wohin der Kopf sich wendet, dorthin fällt das Licht, das ist praktisch. Ich radle selbst manchmal mit so einem Ding durch den Bitza-Park. Drei kleine spitze Lämpchen stecken darin, die einen bläulich weißen Lichtfleck auf den Wegbelag werfen. So gesehen, ist Schönheit ein Effekt, der sich im Bewusstsein des Betrachters einstellt, wenn das Licht der Lampe an seinem Kopf, von etwas reflektiert, wieder in seinem eigenen Auge ankommt.
In jeder Frau nun steckt ein Spiegel, der von Geburt an in einem bestimmten Winkel angebracht ist; der Winkel lässt sich nicht ändern, da kann die Schönheitsindustrie noch so viel lügen. Wir Werfüchse hingegen vermögen den Stellwinkel unseres Spiegels in einem sehr weiten Schwenkbereich zu regulieren. So können wir uns auf praktisch jeden Radfahrer einstellen. Suggestion und Koketterie gehen hierbei Hand in Hand: Der Schweif bleibt unter der Kleidung, wir helfen mit ihm nur ein bisschen nach. Aber wie jeder Werfuchs weiß – dieses bisschen macht es aus.
Extra für diese Aufzeichnungen habe ich ein Stück aus den Erinnerungen des Grafen de Chermandois übersetzt, eines bekannten Lebemannes des 18. Jahrhunderts; darin hat er I Huli für die Nachwelt ein Denkmal gesetzt. Chermandois begegnete ihr in London, wohin er sich vor den Schrecken der Revolution in Sicherheit gebracht hatte. Zwischen ihnen entspann sich eine Affäre, doch das Ende war tragisch: Der Graf starb unter sonderbaren Umständen an Herzschlag. Hier nun beschreibt der Graf den Moment, da der Werfuchs den Spiegel so dreht, dass ein Strahl vom reflektierten Licht dem Opfer direkt ins Auge fällt:
Dass sie besonders hübsch gewesen wäre, kann ich nicht sagen. Wenn ich sie nach längerer Trennung wiedersah, wunderte ich mich jedes Mal, wie es so weit hatte kommen können, dass dieses kleine magere Geschöpf mit den tückischen Äuglein alles für mich gewesen war: Liebe, Leben, Tod, Rettung meiner Seele. Doch es genügte, ihrem Blick zu begegnen, und alles änderte sich. Zuerst erschien in ihren grünen Augen etwas wie ein erschrockener Zweifel: Werde ich geliebt? schienen sie zu fragen. Dass es eigentlich keinen Grund gab, sie zu lieben, war in diesem Moment noch offenbar, und jedes Mal überkam mich eine Welle von Mitleid, das in Zärtlichkeit überging. Diese Gefühlsanwandlungen wurden von ihr eingesogen wie Wein von einem Schwamm, und sogleich erblühte sie in einer Schönheit, die quälend war, die einen um den Verstand bringen konnte. Ein kurzer Blickwechsel, und alles war anders. Eine Minute zuvor hatte ich nicht begreifen können, wie diese im Grunde unschöne Frau mich hatte hinwegreißen können – und nun wollte mir nicht mehr in den Kopf wie ich an der magischen Kraft ihrer Züge auch nur einen Augenblick hatte zweifeln können. Und je länger ich in ihre Augen blickte, desto stärker wurde dieses Gefühl brachte mich an den Rand des Wahnsinns, des physischen Schmerzes; es war, als hätte sie einen Dolch in eine Ritze der Mauer gestoßen, hinter der ich Zuflucht gesucht hatte, und mit ein paar Bewegungen der Klinge das Mauerwerk so erschüttert, dass die Mauer einstürzte, und wieder stand ich vor ihr schutzlos und nackt wie ein Kind. Ich habe diese Metamorphose bis ins Letzte studiert, doch das Feuer; das meine Seele in Asche legte, lernte ich doch nicht zu verstehen.
O weh, so ist es: Schönheit gleicht einem Feuer, sie verbrennt, macht verrückt mit ihrer Glut, verheißt dort, wohin sie ihr Opfer treibt, Beruhigung, Abkühlung, ein neues Leben – und all dies ist pure Täuschung. Das heißt, nein, es ist wahr – nur nicht für das Opfer, sondern für jenes neue Leben, welches an die Stelle des Opfers tritt, um genauso von diesem gnadenlosen Dämon verzehrt zu werden.
Ich weiß sehr wohl, wovon ich rede. Dieser Dämon ist mir seit mehr als zwei Jahrtausenden zu Diensten, und wiewohl diese Geschäftsbeziehung schon so lange währt, fürchte ich ihn immer noch ein wenig. Der Dämon der Schönheit ist der stärkste aller Dämonen des Geistes. Er ist wie der Tod, doch er dient dem Leben. Und er wohnt nicht in mir, ich befreie ihn nur aus der Lampe an der Stirn des Betrachters, so wie Aladin den Geist aus der Wunderlampe, und wenn der Dschinn dann in seinen Kerker zurückkehrt, ziehe ich marodierend über das Schlachtfeld. Kein leichtes Los. Der Buddha des Westlichen Paradieses wird meine Taten schwerlich gutheißen. Aber was tun. Es ist der Werfüchse Schicksal.
Und nicht nur das ihre. Auch das unserer kleinen Schwester, der Menschenfrau. Doch nur ein dumpfer, gefühlskalter Chauvinist wird ihr das zum Vorwurf machen. Denn die Frau ist durchaus nicht aus einer Rippe Adams geschaffen, das hat ein Kopist in seinem Eifer durcheinander gebracht. Die Frau ist aus der Wunde gemacht, die Adam bei Entnahme der Rippe entstand. Alle Frauen wissen das, offen zugegeben haben es meines Wissens nur zwei: Die eine war Marina Zwetajewa (was auch Eva dem Baum nicht verraten hat, das Geheimste – ich sag es dir: Ich bin nur ein – von wem? – arg gemartertes, ein im Unterleib wundes Tier), die andere die Kaiserin Cixi, die es unglaublich fuchste, dem schwachen Geschlecht anzugehören. (Ihre diesbezügliche Äußerung zitiere ich hier nicht, weil sie erstens unanständig und zweitens eine idiomatische Redewendung und darum unübersetzbar ist.) Adam bekam seine Rippe zurück, und seither versucht er sie in die Wunde wieder einzusetzen – in der Hoffnung, sie könnte heilen und vernarben. Pustekuchen! Diese Wunde wächst niemals zu.
Das Bild des Grafen Chermandois von der Klinge und der Mauer trifft es sehr schön. Wir Werfüchse tun tatsächlich so etwas: ertasten des Menschen verborgenste Saiten und spielen darauf mit Vorliebe den Walkürenritt, was das ganze Persönlichkeitsgebäude zum Einsturz bringt. Heutzutage ist das übrigens halb so schlimm. Die modernen Persönlichkeitsgebäude ähneln eher Unterständen – da kann nicht viel einstürzen, und sie zu erobern kostet wenig Mühe.
Dafür ist die Beute aber auch geringfügig: Die Gefühle heutiger Augenzwinkerer sind seicht, ihre kleinen Seelenorgeln spielen den Flohwalzer und nichts sonst. Du entfesselst in diesem Menschen einen Wirbelsturm, so mächtig, dass er gerade noch hineingeht, und es bringt nichts ein als ein paar zerknitterte Hundertdollarscheine, bei denen du noch aufpassen musst, dass sie nicht bemalt, zerrissen oder – Gott behüte! – älter als Ausgabejahr 1980 sind. So sieht es aus.
Wie angekündigt, rief Alexander nach zwei Tagen an.
Ich schlief noch, als ich den Hörer abnahm, und wusste doch sofort, dass er es war.
»Hallo.«
»Ada«, sagte er, »bist dus?«
»Ada?«
So hatte ich mich noch nie genannt, dessen war ich mir sicher.
»Ich nenne dich von jetzt ab Ada«, sagte er. »Könnte doch gut die Verkleinerungsform von Adèle sein, nicht wahr?«
Ada – das klingt im Russischen nach Hölle A genauso wie nach »Ah ja«. Aufregend war das! Am meisten wunderte mich, dass ich nicht schon selbst darauf gekommen war.
»Tu das, wenn du magst«, sagte ich.
Der Übergang vom Sie zum Du geschieht besser nebenher, ohne Aufhebens, denn die zugehörigen Rituale unterscheiden sich von Kultur zu Kultur beträchtlich, und alle kann man nicht im Gedächtnis behalten. Diese Regel hatte ich für mich vor ungefähr anderthalbtausend Jahren formuliert und war immer gut damit gefahren.
»Ich möchte dich sehen«, sagte er.
»Wann?«
»Jetzt gleich.«
»Na, na …«
»Mein Auto wartet schon auf dich.«
»Wo??«
»Vor der Tribüne.«
»Wie bitte? Woher weißt du, wo ich …«
»Das war nicht schwer«, sagte er lachend. »Michalytsch fährt dich her.«
Es klopfte laut an meine Tür.
»Das ist er«, sagte Alexander im Hörer. »Ich warte auf dich, mein Röslein.«
Er legte auf. Röslein!, dachte ich, na prima. Scheint mich für ein Gartengewächs zu halten. Das Klopfen an der Tür wiederholte sich, diesmal schon penetrant. So viel Entgegenkommen grenzte an Frechheit.
»Adèle!«, ertönte die bekannte Stimme hinter der Tür. »Bist du da? Ich sehe es am Gerät, dass du da bist. He!«
Er klopfte noch mal.
»Was soll denn das Schild hier bedeuten? Betreten verboten! Lebensgefahr! … Bist du etwa …? Ist alles in Ordnung mit dir? Sag was! Sonst breche ich die Tür auf!«
Idiot, schreit hier die Leute zusammen! dachte ich. Gut, um die Tageszeit ging es noch … Aber man musste nichts unnötig riskieren. Ich trat zur Tür.
»Seien Sie leise, Wladimir Michailowitsch! Ich mach gleich auf, muss mir nur noch was anziehen.«
»Ich warte.«
Ich zog mich rasch an und ließ einen prüfenden Blick durch meine Behausung gehen – nichts Kompromittierendes schien herumzuliegen. Wie er mich bloß gefunden hatte? Beschattete er mich etwa?
»Komme schon …«
Michalytsch trat ein und zwinkerte eine Weile, um sich an das Halbdunkel zu gewöhnen. Dann äugte er umher.
»Sag bloß, hier wohnst du?«
»Na ja.«
»Im Gasverteiler?!«
»Das ist Quatsch. Steht nur draußen so dran, damit keiner auf dumme Gedanken kommt.«
»Und was ist das hier sonst?«
»Wie meinen Sie das?«
»Na, jeder Raum hat doch seine Funktion. Wozu ist er da?«
»Funktion, wenn ich das schon höre! Ich mag in keiner Funktion wohnen. Das ist ein leerer Raum unter der Tribüne, fertig. Zuerst war hier ein Lagerplatz. Dann haben sie Wände eingezogen, da kam eine kleine Trafostation rein, nur der Teil hier hat sie nicht interessiert. Natürlich musste ich ein paar Hebel in Bewegung setzen dafür…«
Ich wedelte vielsagend mit der Hand durch die Luft. Gewedelt hatte ich damals freilich nicht mit der Hand, sondern mit dem Schweif, doch wollte ich Michalytsch gewiss nicht in alle Einzelheiten meines Leidensweges einweihen.
»Hast du wenigstens Heizung?«, fragte er. »Aha, ich seh schon, elektrisch. Und wo ist die Toilette?«
»Müssen Sie mal?«
»Nein, nein, nur so aus Interesse.«
»Durch den Flur. Dort ist auch eine Dusche.«
»Und in dieser Hundehütte wohnst du?«
»Wieso Hundehütte? Im Grundriss erinnert es an die Mansarden von Anwälten oder Polittechnologen. Ein Loft, so wie es grad modern ist. Schräge Decke, da laufen die Sitzreihen drüber. Ist doch romantisch!«
»Und wie kommst du ohne Licht klar?«