8

Caramon war von dem strahlenden Licht geblendet, das sogar durch seine geschlossenen Augenlider brannte. Dann wurde er von Dunkelheit umgeben, und als er seine Augen wieder aufschlug, konnte er einen Augenblick nichts sehen und geriet in Panik. Ihm fiel plötzlich jene Zeit wieder ein, als er blind und verloren im Turm der Erzmagier gewesen war.

Aber allmählich hob sich auch die Dunkelheit, und seine Augen gewöhnten sich an das unheimliche Licht in seiner Umgebung. Es brannte in einem seltsamen rosafarbenen Glimmern, als ob die Sonne gerade untergegangen wäre, hatte Tolpan ihm erzählt. Und die Landschaft war genauso, wie der Kender sie beschrieben hatte – ein weites leeres Gebiet unter einem weiten leeren Himmel. Himmel und Land hatten die gleiche Farbe, in welche Richtung er auch schaute.

Außer in einer Richtung. Als Caramon seinen Kopf umwandte, sah er das Portal direkt hinter sich. Es war der einzige Farbklecks in dieser Ödnis. Die von den fünf Drachenköpfen eingerahmte, ovale Tür wirkte klein und weit entfernt, obwohl er wußte, daß er noch in ihrer Nähe war. Es kam Caramon vor, als wäre sie nichts weiter als ein Bild, das an einer Wand hängt. Zwar konnte er Tanis und Dalamar ziemlich deutlich erkennen, aber sie bewegten sich nicht. Sie hätten ebensogut Gemälde sein können, eingefangen in einer erstarrten Bewegung, gezwungen, ihre Ewigkeit unbeweglich ins Nichts starrend zu verbringen.

Entschlossen drehte er ihnen den Rücken zu. Er fragte sich, ob sie ihn wohl auch sehen konnten. Caramon zog sein Schwert aus der Scheide, setzte seine Füße fest auf den Boden, der sich ständig bewegte, und wartete auf seinen Zwillingsbruder.

Caramon hatte keinen Zweifel, nicht den kleinsten Zweifel, daß eine Schlacht zwischen ihm und Raistlin zu seinem eigenen Tod führen würde. Auch wenn Raistlin geschwächt war, würde seine Magie immer noch mächtig sein. Und Caramon kannte seinen Bruder genug, um zu wissen, daß Raistlin es niemals zulassen würde – solange es in seiner Macht stand —, völlig verwundbar zu werden. Es würde immer noch ein Zauber übrigbleiben oder – zumindest – der silberne Dolch an seinem Handgelenk.

Aber auch wenn ich sterbe, wird mein Ziel erreicht sein, dachte Caramon ruhig. Ich bin stark und gesund, und lediglich ein Schwertstoß durch seinen dünnen, zerbrechlichen Körper ist erforderlich.

Und er wußte auch, daß ihm das gelingen mußte, bevor die Magie seines Bruders ihn erreichen konnte, so wie er ihn einst vor langer Zeit im Turm der Erzmagier vernichtet hatte...

Tränen brannten in seinen Augen und liefen über seinen Hals. Er schluckte sie hinunter und zwang sich, an etwas anderes zu denken, um sich von seiner Angst und seinem Kummer abzulenken...

Crysania.

Arme Frau. Caramon seufzte. Er hoffte um ihretwillen, daß sie schnell gestorben war... und nicht erfahren hatte...

Caramon blinzelte, zuckte zusammen und starrte nach vorne. Was war geschehen? Wo zuvor am rosafarbenen glühenden Horizont nichts gewesen war – erkannte er jetzt einen Gegenstand. Er hob sich schwarz und deutlich gegen den rosafarbenen Himmel ab und wirkte flach, als wäre er aus Papier ausgeschnitten worden. Wieder fielen ihm Tolpans Worte ein. Aber er erkannte den Gegenstand wieder – es war ein Holzpfahl. Die Art... die Art, wie man sie in den alten Zeiten für Hexenverbrennungen verwendet hatte.

Erinnerungen stiegen in ihm hoch. Er konnte Raistlin an einem Pfahl gefesselt sehen, konnte die Holzhaufen sehen, die um seinen Bruder aufgeschichtet waren. Er sah, wie er versuchte, sich zu befreien, und trotzig diejenigen ankreischte, die er vor ihrer eigenen Torheit zu retten versucht hatte, als er einen Scharlatankleriker entlarvt hatte. Aber sie waren überzeugt gewesen, daß er ein Hexer wäre.

»Wir kamen gerade rechtzeitig, Sturm und ich«, murmelte Caramon. Auch das Schwert des Ritters fiel ihm wieder ein, wie es in der Sonne geblitzt hatte. Sein funkelnder Glanz allein vertrieb damals die abergläubischen Bauern.

Als er den Pfahl genauer betrachtete, der sich auf ihn zu zu bewegen schien, sah Caramon an dessen Fuße eine Gestalt liegen. War das Raistlin? Der Pfahl glitt näher und näher – oder schritt er selbst auf ihn zu? Caramon wandte seinen Kopf. Das Portal war weiter entfernt, aber er konnte es immer noch sehen.

Voller Sorge und Angst, daß er weggetrieben würde, zwang er sich zum Stehenbleiben, und unverzüglich konnte er einhalten. Dann vernahm er wieder die Stimme des Kenders. »Wenn du irgendwohin gehen willst, brauchst du nur daran zu denken. Wenn du etwas haben willst, brauchst du nur daran zu denken, aber nur vorsichtig, denn die Hölle kann das, was du siehst, verzerren und entstellen.«

Caramon schaute auf den Holzpfahl und stellte sich vor, dort zu sein. Und prompt stand er direkt neben ihm. Er warf einen kurzen Blick zurück auf das Portal. Es schien wie ein Miniaturgemälde zwischen Himmel und Boden zu hängen. Zufrieden, daß er jede Sekunde zurückkehren konnte, eilte Caramon auf die Gestalt zu, die unter dem Pfahl lag.

Zuerst hatte er gedacht, sie wäre in schwarze Roben gekleidet, und sein Herz machte einen Ruck. Aber jetzt erkannte er, daß sie sich nur wie eine schwarze Silhouette gegen den glühenden Boden abgehoben hatte. Die Roben waren weiß. Und dann wußte er es.

Natürlich, er hatte ja an sie gedacht...

»Crysania«, flüsterte er.

Sie öffnete ihre Augen und wandte ihren Kopf in die Richtung, aus der er gesprochen hatte, aber ihre Augen blieben nicht an ihm haften. Sie starrten an ihm vorbei, und er sah, daß sie blind war.

»Raistlin?« flüsterte sie mit einer Stimme, die von soviel Hoffnung und Sehnsucht erfüllt war, daß Caramon alles, sogar sein Leben, gegeben hätte, um diese Hoffnung bestätigen zu können.

Mit einem Kopfschütteln kniete er sich neben sie und nahm ihre Hand. »Ich bin es, Caramon, Crysania.«

Sie wandte ihre blinden Augen zu ihm hin und drückte schwach seine Hand. Verwirrt starrte sie in seine Richtung. »Caramon? Wo sind wir?«

»Ich bin auch durch das Portal gegangen, Crysania«, antwortete er.

Sie seufzte und schloß ihre Augen. »Du bist also in der Hölle, zusammen mit uns...«

»Ja.«

»Ich war eine Närrin, Caramon«, murmelte sie, »aber ich habe für meine Torheit bezahlt. Ich wünschte... ich wünschte, ich wüßte... Ist... jemand... zu Schaden gekommen... außer mir? Und er?« Das letzte Wort war kaum hörbar.

»Crysania...« Caramon wußte nicht, was er antworten sollte.

Aber Crysania unterbrach ihn. Sie hatte die Trauer in seiner Stimme wahrgenommen. Sie schloß die Augen, und Tränen liefen über ihre Wangen. Mühsam drückte sie seine Hand an ihre Lippen. »Natürlich. Ich verstehe!« flüsterte sie. »Das ist der Grund, warum du gekommen bist. Es tut mir leid, Caramon. Es tut mir so leid!«

Sie begann zu weinen. Caramon schloß sie eng in seine Arme und hielt sie fest. Besänftigend wiegte er sie wie ein Kind. Und auf einmal erkannte er, daß sie im Sterben lag. Er spürte das Leben aus ihrem Körper weichen, während er sie noch in seinen Armen hielt. Aber was sie verletzt hatte, welche Wunden sie eigentlich erlitten hatte, konnte er sich nicht vorstellen, denn an ihrer Haut war kein Mal.

»Es gibt nichts, was dir leid tun sollte«, sagte er und strich ihr dichtes, schwarzes, glänzendes Haar zurück, das über ihr leichenblasses Gesicht gefallen war. »Du hast ihn geliebt. Wenn das eine Torheit ist, dann ist es auch meine, und ich zahle freudig dafür.«

»Wenn das nur stimmen würde!« Sie stöhnte. »Aber es waren mein Stolz und mein Ehrgeiz, die mich hierher führten.«

»War es das, Crysania?« fragte Caramon. »Falls das stimmt, warum hat Paladin dann deine Gebete erhört und das Portal für dich geöffnet, während er dem Königspriester dieselbe Forderung abgelehnt hat? Warum hat er dich mit dieser Gabe gesegnet, wenn nicht aus dem Grund, daß er erkannte, was wirklich in deinem Herzen ist?«

»Paladin hat sein Gesicht von mir abgewendet!« schrie sie. Sie nahm das Medaillon und versuchte, es von ihrem Hals zu reißen. Aber sie war zu schwach. Ihre Hand schloß sich um das kleine Oval und blieb dort. Und dabei legte sich ein Ausdruck von Frieden über ihr Gesicht. »Nein«, sagte sie leise zu sich, »er ist hier. Er hält mich. Ich sehe ihn so deutlich...«

Caramon stand auf und hob sie in seine Arme. Ihr Kopf sank gegen seine Schulter, und sie entspannte sich unter seinem festen Griff. »Wir gehen zum Portal zurück«, erklärte er ihr.

Sie antwortete nicht, aber sie lächelte. Hatte sie ihn gehört, oder lauschte sie einer anderen Stimme?

Er sah das Portal an, das wie ein vielfarbener Juwel in der Feme leuchtete, und stellte sich vor, ganz in der Nähe zu stehen, und schnell bewegte er sich zu ihm hin.

Doch plötzlich splitterte und zerbarst die Luft um ihn herum. Blitze zuckten vom Himmel, Blitze, wie er sie noch nie gesehen hatte. Tausende purpurfarbene, zischende Zweige schlugen in den Boden und schlossen ihn ein, wie in ein Gefängnis, dessen Gitter den Tod bedeuteten. Vom Schock gelähmt, konnte er sich nicht rühren. Selbst als die Blitze verschwanden, wartete er noch und krümmte sich zusammen. Er glaubte, für immer von dem Dröhnen des Donners taub zu sein.

Aber dann blieb nur noch Stille zurück, und darin weit entfernt ein qualvoller durchdringender Aufschrei.

Crysania schlug die Augen auf. »Raistlin«, flüsterte sie. Ihre Hand verstärkte den Griff um das Medaillon.

»Ja«, murmelte Caramon.

Tränen strömten über ihre Wangen. Sie schloß die Augen und klammerte sich an Caramon. Er bewegte sich weiter auf das Portal zu, jetzt aber viel langsamer. Ihm war etwas Beunruhigendes, etwas Besorgniserregendes eingefallen. Crysania lag im Sterben, das stand fest. Ihr Pulsschlag war schwach und flatterte unter seinen Fingern wie das Herz eines jungen Vogels. Aber sie war nicht tot, noch nicht. Wenn er sie durch das Portal bringen würde, könnte sie vielleicht überleben.

Aber wie sollte er sie durch das Portal bringen, ohne daß er selbst gehen mußte?

Mit Crysania in den Armen kam Caramon dem Portal immer näher. Oder es kam ihm näher, denn es schien ihm entgegenzuspringen, während er voranschritt. Es wurde größer, und die Köpfe des Drachen starrten ihn mit ihren funkelnden Augen an. Ihre Mäuler waren geöffnet, um ihn zu packen und zu verschlingen.

Immer noch konnte er durch das Portal sehen. Er konnte Tanis und Dalamar sehen – der eine stand, und der andere saß da, und keiner bewegte sich, als wären sie in der Zeit eingefroren. Konnten sie ihm helfen? Konnten sie Crysania holen?

»Tanis!« rief er. »Dalamar!«

Aber falls sie ihn rufen hörten, so reagierten sie nicht darauf.

Behutsam legte Caramon Crysania vor dem Portal auf den unruhigen Boden. Er erkannte jetzt, daß es keine Hoffnung gab. Er hatte es die ganze Zeit über gewußt. Zwar würde er sie zurückbringen können, und sie würde leben. Aber das bedeutete, daß auch Raistlin leben und entkommen würde, daß er die Königin hinter sich her locken und die Welt und seine Bewohner zur Zerstörung verurteilen würde.

Er ließ sich auf den merkwürdigen Boden sinken und setzte sich neben Crysania und nahm ihre Hand. Irgendwie war er froh, daß sie hier bei ihm war. Er fühlte sich nicht so allein. Die Berührung ihrer Hand war tröstend. Wenn er sie nur retten könnte...

»Was hast du mit Raistlin vor, Caramon?« fragte Crysania nach einem Moment des Schweigens leise.

»Ich werde ihn daran hindern, die Hölle zu verlassen«, sagte Caramon. Seine Stimme war gleichmäßig und ausdruckslos.

Sie nickte verstehend, und ihre Hand hielt seine fest. Ihre blinden Augen starrten zu ihm hoch.

»Er wird dich töten, nicht wahr?«

»Ja«, antwortete Caramon sachlich. »Aber erst wird er zu Fall kommen.«

Schmerzen verzerrten Crysanias Gesicht. Sie ergriff Caramons Hand. »Ich warte auf dich!« Sie würgte, und ihre Stimme wurde schwächer. »Ich warte auf dich. Wenn es vorbei ist, wirst du mein Führer sein, weil ich nichts sehen kann. Du wirst mich zu Paladin bringen. Du wirst mich aus der Dunkelheit führen.«

Ihre Augen schlossen sich. Ihr Kopf sank langsam zurück, als ob sie auf einem Kissen ruhen würde. Aber ihre Hand hielt immer noch Caramons Finger umklammert. Ihre Brust hob und senkte sich mit jedem Atemzug. Er legte seine Finger an ihren Hals und spürte ihr Leben pulsieren.

Er war darauf vorbereitet gewesen, sich zum Tode zu verurteilen, er war darauf vorbereitet gewesen, seinen Bruder zu verurteilen. Es war alles so einfach gewesen!

Aber – konnte er sie diesem Schicksal überlassen?

Vielleicht blieb ihm noch Zeit... Vielleicht konnte er sie durch das Portal tragen und dann zurückkehren...

Voller Hoffnung erhob sich Caramon, um Crysania wieder in seine Arme zu heben. Doch plötzlich nahm er aus seinem Augenwinkel eine Bewegung wahr.

Er drehte sich um und sah Raistlin.

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