4

Auf der gegenüberliegenden Seite des Turms, eingeschlossen auf einem anderen, mehrere Treppenfluchten unter Tolpan liegenden Balkon, kämpften Tanis und Caramon um ihr Leben. Eine kleine Armee von Drakoniern und Goblins drängte sich auf den Stufen unter ihnen zusammen.

Die zwei Krieger hatten sich hinter einer großen Holzbank verbarrikadiert, die sie vor die letzte Treppenstufe gezogen hatten. Hinter ihnen war eine Tür, und es sah für Tolpan so aus, als wären sie die Stufen zu dieser Tür hochgestiegen, um zu entkommen, dann aber aufgehalten worden, bevor sie hinauskommen konnten.

Caramons Arme waren bis zu den Ellbogen mit grünem Blut überzogen. Er schlug mit einem großen Stück Holz, das er aus dem Balkon gerissen hatte, auf Köpfe ein – eine wirkungsvollere Waffe als ein Schwert im Kampf gegen diese Kreaturen, deren Körper sich zu Stein verwandeln konnten. Tanis’ Schwert war eingekerbt. Er verwendete es jetzt wie eine Keule. Durch den aufgeschlitzten Kettenpanzer blutete er an seinen Armen aus mehreren Schnittwunden, und an seinem Brustharnisch war eine große Delle. Soweit Tolpan auf den ersten aufgeregten Blick erkennen konnte, hatte sich in diesem Kampf eine Pattsituation entwickelt. Die Drakonier konnten nicht dicht genug an die Bank kommen, um sie aus dem Weg zu zerren oder über sie zu klettern. Aber sobald Caramon und Tanis ihre Stellung verlassen würden, würde sie überrollt werden.

»Tanis! Caramon!« schrie Tolpan. »Hier oben!«

Beide Männer sahen sich verblüfft nach der Stimme des Kenders um. Dann packte Caramon Tanis am Arm und zeigte in Tolpans Richtung.

»Tolpan!« rief Caramon, und seine dröhnende Stimme hallte in der Turmkammer wider. »Tolpan! Die Tür hinter uns! Sie ist verschlossen! Wir kommen nicht raus!«

»Ich bin sofort da!« kreischte Tolpan aufgeregt und kletterte auf das Geländer. Dort bereitete er sich auf einen Sprung nach unten mitten ins Geschehen vor.

»Nein!« schrie Tanis. »Schließ sie von der anderen Seite auf! Die andere Seite!« Er fuchtelte hektisch mit den Händen.

»Oh«, antwortete Tolpan enttäuscht. »Sicher, kein Problem.« Er kletterte zurück und wollte sich gerade zu seiner Tür umdrehen, als er sah, wie die Drakonier auf den Stufen unterhalb von Tanis und Caramon plötzlich den Kampf einstellten und ihre Aufmerksamkeit offensichtlich auf etwas anderes richteten. Auf einen barschen Befehl begannen die Drakonier, sich zur Seite zu schieben und zu stoßen, und auf ihren Gesichtern machte sich ein Grinsen breit, das ihre Reißzähne entblößte. Tanis und Caramon waren offensichtlich verblüfft über die Kampfpause und riskierten einen vorsichtigen Blick über die Bank, während Tolpan von seinem Balkongeländer hinunterstarrte.

Ein Drakonier in einer schwarzen, mit geheimnisvollen Runen verzierten Robe stieg die Stufen hoch. In seiner Klauenhand hielt er einen Stab – einen Stab in der Form einer zubeißenden Schlange.

Ein Bozak-Zauberkundiger! Tolpan hatte ein merkwürdiges Gefühl in seiner Magengrube, ungefähr dasselbe wie kurz zuvor, als der Drache zur Landung angesetzt hatte. Die Drakoniersoldaten steckten ihre Waffen wieder ein. Für sie war offensichtlich die Schlacht beendet. Ihr Zauberer würde diese Angelegenheit schnell und problemlos erledigen.

Tolpan sah Tanis’ Hand in seinen Gürtel gleiten... und leer hervorkommen. Tanis’ Gesicht lief unter seinem Bart weiß an. Seine Hand tastete seinen Gürtel überall ab. Nichts. Hektisch sah sich der Halb-Elf suchend auf dem Boden um.

»Weißt du«, sagte Tolpan zu sich, »ich wette, das Armband mit dem magischen Widerstand käme ihm jetzt sehr gelegen. Vielleicht sucht er es ja gerade. Vermutlich ist ihm nicht klar, daß er es verloren hat.« Er griff in einen Beutel und zog das silberne Armband hervor.

»Hier ist es, Tanis! Mach dir keine Sorgen! Du hast es fallen gelassen, aber ich habe es gefunden!« schrie er und wedelte mit dem Armband in der Luft.

Der Halb-Elf sah hoch. Sein Blick war dermaßen finster, und seine Augenbrauen zogen sich auf solch beunruhigende Weise zusammen, daß Tolpan ihm eilig das Armband zuwarf. Einen Augenblick noch wartete der Kender ab, um zu sehen, ob Tanis sich bei ihm bedanken würde, dann seufzte er tief.

»Ich bin in einer Minute da!« schrie er. Er wandte sich um und flitzte zurück durch die Tür und lief die Treppe hinunter.

»Er hat sich wahrhaftig nicht dankbar gezeigt.« Tolpan rümpfte die Nase, während er weiterhastete. »Nicht ein bißchen wie der alte Tanis, der für Späße immer zu haben war. Ich bin überzeugt, dieses Heldendasein bekommt ihm nicht.«

Durch die Mauer gedämpft, konnte er die Geräusche eines barschen Singsangs und mehrere Explosionen hören. Dann wurden Drakonierstimmen laut, die vor Zorn und Enttäuschung aufschrien.

»Das Armband wird sie eine Zeitlang abwehren«, murmelte Tolpan, »aber nicht lange. Also, wie gelange ich zu ihnen zur anderen Seite des Turmes? Vermutlich komme ich nicht darum herum, bis zur untersten Ebene zurückzugehen.«

Er raste die Stufen hinunter und erreichte wieder den Boden, lief an dem Zimmer vorbei, über das er die Zitadelle betreten hatte, und hastete weiter, bis er auf einen Korridor stieß, der im rechten Winkel zu dem verlief, in dem er gerade gewesen war. Es sah vielversprechend danach aus, daß er zu der entgegengesetzten Seite des Turmes führen könnte, wo Tanis und Caramon eingeschlossen waren.

Plötzlich dröhnte eine weitere Explosion, und dieses Mal erbebte der ganze Turm. Tolpan beschleunigte seine Geschwindigkeit. Als der Kender scharf nach rechts bog, schleuderte er gegen eine Ecke.

Peng! Er prallte in etwas Untersetztes und Dunkles, das mit einem »Wuff« umstürzte.

Der Zusammenstoß ließ Tolpan kopfüber rollen. Er lag still da und hatte den Eindruck – vom Geruch her —, daß er von einem verwesenden Abfallhaufen erschlagen worden war. Trotzdem gelang es ihm, zwar etwas benommen, auf seine Füße zu taumeln. Er zog sein kleines Messer, bereit, sich gegen diese kleine, dunkle Kreatur zu verteidigen, die auch schon wieder auf den Beinen war.

Während sie eine Hand an ihre Stirn legte, sagte die Kreatur mit schmerzerfüllter Stimme: »Ooh.« Dann schaute sie sich benommen um und sah Tolpan vor sich stehen, der grimmig und entschlossen dreinblickte. Das Fackellicht blitzte auf der Messerklinge des Kenders. Das »Ooh« verwandelte sich in ein »Aah«. Mit einem Stöhnen brach die stinkende Kreatur ohnmächtig zusammen.

»Ein Gossenzwerg!« sagte Tolpan und zog vor Abscheu seine Nase kraus. Er steckte sein Messer wieder ein und wollte seinen Weg fortsetzen. Doch dann hielt er ein. »Weißt du, trotz allem«, sagte er zu sich, »könnte das gelegen kommen.« Tolpan bückte sich, packte den Gossenzwerg an einer Handvoll Fetzen und schüttelte ihn. »He, wach auf!«

Mit einem zitternden Atemzug schlug der Gossenzwerg seine Augen auf. Als er einen Kender erblickte, der sich mit strenger Miene bedrohlich über ihn beugte, wurde er leichenblaß, schloß eilig wieder seine Augen und gab vor, ohnmächtig zu sein.

Tolpan schüttelte das Bündel noch einmal.

Mit zitterndem Seufzer öffnete der Gossenzwerg ein Auge und sah Tolpan immer noch dastehen. Es blieb ihm nur noch eins übrig – tot auszusehen. Das erreichen die Gossenzwerge, indem sie den Atem anhalten und unverzüglich steif und starr werden.

»Nun komm schon«, redete Tolpan auf ihn ein und schüttelte ihn. »Ich brauche deine Hilfe.«

»Du gehen weg«, erklärte der Gossenzwerg mit tiefer Grabesstimme. »Ich tot.«

»Du bist noch nicht tot«, widersprach Tolpan mit der schrecklichsten Stimme, die er aufbieten konnte, »aber das wirst du gleich sein, falls du mir nicht hilfst!« Er zückte sein Messer.

Der Gossenzwerg schluckte und richtete sich schnell auf. Er kratzte sich verwirrt am Kopf. Als er dann Tolpan erblickte, warf er seine Arme um den Kender. »Du heilen! Mich zurück von den Toten holen! Du großer und mächtiger Kleriker!«

»Nein, bin ich nicht!« schnappte Tolpan, über diese Reaktion einigermaßen verblüfft. »Jetzt laß mich los. Nein, du verhedderst dich mit dem Beutel. Nicht so...«

Nach einiger Zeit gelang es ihm, sich des Gossenzwergs zu entledigen. Tolpan zog die Kreatur hoch und funkelte sie streng an. »Ich versuche, auf die andere Seite des Turms zu kommen. Ist das der richtige Weg?«

Der Gossenzwerg starrte nachdenklich in beide Richtungen des Korridors, dann wandte er sich an Tolpan. »Das richtiger Weg«, sagte er schließlich und zeigte in die Richtung, auf die Tolpan zugesteuert war.

»Gut!« Tolpan wollte sich wieder in Bewegung setzen.

»Welcher Turm?« brummte der Gossenzwerg und kratzte sich am Kopf.

Tolpan hielt an. Er drehte sich um und funkelte den Gossenzwerg an. Seine Hand fuhr zu seinem Messer.

»Ich gehen mit großem Kleriker«, bot der Gossenzwerg eilig an. »Ich führen.«

»Das ist vielleicht keine schlechte Idee«, überlegte der Kender. Er packte den Gossenzwerg an einer schmuddeligen Hand und zog ihn mit sich. Sie fanden bald eine weitere Treppe, die nach oben führte. Die Kampfgeräusche waren jetzt viel lauter – als er sie hörte, riß der Gossenzwerg die Augen weit auf.

Er versuchte, seine Hand zurückzuziehen. »Ich einmal tot«, schrie der Gossenzwerg und versuchte hektisch, sich zu befreien. »Wenn du zweimal tot, stecken sie dich in Kiste, werfen dich in großes Loch. Mir nicht gefallen.«

Obgleich das ein interessanter Gedanke schien, hatte Tolpan keine Zeit, ihn weiterzu verfolgen. Er packte den Gossenzwerg noch fester mit der Hand und zerrte ihn weiter die Stufen hoch. Die Kampfgeräusche auf der anderen Seite der Mauer wurden bei jedem Schritt lauter. Wie auf der anderen Seite des Turms endete auch hier die steile Treppe an einer Tür. Dahinter konnte er Schläge und Ächzen und Caramons Flüche hören. Tolpan probierte den Türgriff aus. Aber diese Tür war verschlossen. Der Kender lächelte und rieb seine Hände.

»Gewiß eine gutgebaute Tür«, sagte er, während er sie musterte. Er bückte sich und spähte durch das Schlüsselloch. »Ich bin hier!« schrie er.

»Öffne die« – gedämpfte Schreie – »Tür!« brüllte Caramon dröhnend.

»Ich tue mein Bestes!« kreischte Tolpan verärgert. »Ich habe mein Werkzeug nicht dabei, weißt du. Nun, ich werde eben improvisieren. Du – bleib hier!« Er packte den Gossenzwerg, der sich gerade die Stufen zurückschleichen wollte. Er zückte sein Messer und hielt es ihm drohend entgegen. Der Gossenzwerg brach zu einem Häuflein zusammen.

»Ich bleiben!« wimmerte er und kauerte sich auf den Boden.

Tolpan wandte sich wieder der Tür zu, steckte die Spitze des Messers in das Schloß und begann es sorgfältig umzudrehen. Er glaubte fast zu fühlen, wie das Schloß nachgab, als plötzlich etwas gegen die Tür stieß. Das Messer sprang mit einem Ruck aus dem Schloß.

»Du hilfst mir nicht gerade!« schrie er durch die Tür. Mit einem Seufzer steckte Tolpan das Messer wieder in das Schloß.

Der Gossenzwerg kroch näher und starrte Tolpan von unten her an. »Viel du wissen. Ich vermuten, du nicht so großer Kleriker.«

»Wie meinst du das?« brummte Tolpan, der sich auf seine Arbeit konzentrierte.

»Messer öffnen keine Tür«, erklärte der Gossenzwerg mit unermeßlichem Abscheu. »Schlüssel öffnen Tür.«

»Ich weiß, daß man eine Tür mit einem Schlüssel öffnet«, sagte Tolpan und schaute sich aufgebracht um, »aber ich habe keinen – gib mir das!«

Tolpan schnappte wütend nach dem Schlüssel, den der Gossenzwerg plötzlich in seiner Hand hielt. Er steckte den Schlüssel in das Türschloß, hörte es klicken und riß die Tür auf. Tanis stolperte regelrecht über den Kender hinaus, Caramon lief hinter ihm her. Der große Mann schlug die schwere Tür zu und brach dabei noch die Schwertspitze eines Drakoniers ab, der gerade durch die Tür treten wollte. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür, sah auf Tolpan herab und atmete schwer.

»Verschließ sie!« konnte er mühsam ausstoßen.

Schnell drehte Tolpan den Schlüssel wieder um. Hinter der Tür hörte man Schreie und weitere Aufschläge und das Geräusch von splitterndem Holz.

»Sie wird wohl eine Weile halten«, sagte Tanis, als er die Tür musterte.

»Aber nicht lange«, entgegnete Caramon grimmig, »besonders nicht bei diesem Bozak-Magier. Laßt uns verschwinden.«

»Aber wohin?« fragte Tanis und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Er blutete aus einer Wunde an der Hand und zahlreichen Schnittwunden an den Armen, aber ansonsten schien er unverletzt. Caramon war mit Blut beschmiert, aber das meiste war grün, und daraus schloß Tolpan, daß es vom Feind stammte. »Wir haben immer noch nicht herausgefunden, wo die Vorrichtung ist, die dieses Ding am Fliegen hält!«

»Ich wette, er weiß es«, sagte Tolpan und zeigte auf den Gossenzwerg. »Darum habe ich ihn mitgebracht«, fügte der Kender voller Stolz auf sich hinzu.

Es krachte laut. Die Tür erbebte.

»Laßt uns zumindest von hier verschwinden«, murmelte Tanis. »Wie heißt du?« fragte er den Gossenzwerg, während sie die Stufen hinunterrannten.

»Ronnie«, antwortete der Gossenzwerg, der Tanis mit tiefem Argwohn beäugte.

»Sehr schön, Ronnie«, sagte Tanis und hielt an einem dunklen Treppenabsatz zum Verschnaufen an, »zeige uns den Raum mit der Vorrichtung, die diese Zitadelle zum Fliegen bringt.«

»Die Kreise des Windes«, fügte Caramon hinzu und funkelte den Gossenzwerg streng an. »So hat es einer der Goblins bezeichnet.«

»Das geheim!« verkündete Ronnie feierlich. »Ich nicht sagen! Mich machen versprechen!«

Caramon warf ihm einen derart finsteren Blick zu, daß Ronnie unter seinem schmutzigen Gesicht leichenblaß anlief und Tolpan befürchtete, er könnte wieder ohnmächtig werden. Eilig mischte er sich ein. »Pah! Ich wette, er weiß es nicht!« sagte Tolpan und zwinkerte Caramon zu.

»Ich wissen zu gut!« widersprach Ronnie hochmütig. »Und du versuchen Tricks, damit ich sagen. Ich fallen nicht auf dummen Trick herein.«

Tolpan ließ sich mit einem Seufzer gegen eine Mauer sacken. Caramon knurrte wieder, aber der Gossenzwerg zuckte zwar leicht zusammen, starrte ihn aber immer noch mit mutigem Trotz an. »Mürrische Kerle ziehen Geheimnis nicht aus mir heraus!« verkündete Ronnie und verschränkte seine schmuddeligen Arme über der mit Fett und Speisen besudelten Brust.

»O Ronnie«, murmelte Tanis zutraulich und hockte sich zu dem Gossenzwerg, »was genau darfst du denn nicht sagen?«

Ronnie nahm eine verschlagene Miene an. »Ich nicht dürfen sagen, daß die Kreise des Windes ganz oben im mittleren Turm sein. Das sein das, was ich nicht sagen dürfen!« Er warf Tanis einen bösartigen Blick zu und hob seine kleine, geballte Faust. »Und du bringen mich nicht dazu!«

Sie erreichten den Korridor, der zu dem Raum führte, in dem sich die Kreise des Windes nicht befanden (gemäß Ronnie, der sie den ganzen Weg geführt und ständig erklärt hatte: »Das sein nicht die Tür, die zu der Treppe führen, die zum geheimen Platz führen«). Sie traten vorsichtig ein, denn ihnen kam alles zu ruhig vor. Sie sollten recht behalten. Mitten im Korridor wurde plötzlich eine Tür aufgeschlagen. Zwanzig Drakonier, gefolgt von dem Bozak-Zauberkundigen, sprangen auf sie zu.

»Stellt euch hinter mich!« sagte Tanis und zog sein Schwert. »Ich habe immer noch das Armband...« Dann fiel ihm ein, daß Tolpan bei ihnen war, und er fügte »glaube ich« hinzu und sah eilig auf seinen Arm. Das Armband war noch da.

»Tanis«, sagte Caramon, der auch sein Schwert gezogen hatte und langsam zurückwich, während die Drakonier zögerten und auf Anweisungen des Bozaks warteten, »wir haben nicht mehr viel Zeit! Ich weiß es! Ich kann es spüren! Ich muß zum Turm der Erzmagier! Jemand muß nach oben kommen und dieses Ding fliegen!«

»Einer von uns kann so viele nicht aufhalten!« gab Tanis zurück. »Es bleibt keiner übrig, der die Kreise des Windes bedienen kann...« Die Worte erstarben auf seinen Lippen. Er starrte Caramon an. »Du, das ist doch nicht dein Ernst...«

»Uns bleibt nichts anderes übrig«, knurrte Caramon, während ein Singsang die Luft erfüllte. Er sah zurück zu Tolpan.

»Nein«, begann Tanis, »absolut nein...«

»Es gibt keine andere Möglichkeit!« erklärte Caramon fest.

Tanis seufzte und schüttelte den Kopf.

Der Kender, der beide beobachtete, blinzelte verwirrt. Dann verstand er sie plötzlich.

»O Caramon!« hauchte er und schlug seine Hände zusammen. Ganz knapp vermied er es, sich nicht mit seinem eigenen Messer aufzuspießen. »O Tanis! Wie wundervoll! Ihr werdet stolz auf mich sein! Ich bringe euch zum Turm! Macht euch keine Sorgen! Ronnie, ich werde deine Hilfe benötigen!«

Tolpan packte den Gossenzwerg am Arm und raste den Korridor hinunter auf eine Wendeltreppe zu, auf die Ronnie zeigte, während er darauf beharrte, daß »diese Treppe nicht zum geheimen Platz führen«.

Von Lord Ariakas entworfen, dem ehemaligen Oberbefehlshaber der Streitkräfte der Dunklen Königin während des Lanzenkrieges, waren die Kreise des Windes, die eine fliegende Zitadelle in Betrieb hielten, als eine der brillantesten Schöpfungen seines brillanten, wenn auch bösartigen und krankhaften Geistes in die Geschichte eingegangen.

Die Kreise des Windes sind in einem speziell für sie erbauten Raum im obersten Teil der Zitadelle untergebracht. Man steigt eine schmale Wendeltreppe und dann eine Eisenleiter hoch, bis man an eine Klapptür kommt. Nach dem Öffnen der Klapptür betritt man einen kleinen, kreisförmigen, fensterlosen Raum. In der Mitte des Raumes erhebt sich eine Plattform. Zwei Sockel mit einem Abstand von ungefähr einem Meter befinden sich auf der Plattform.

Beim Anblick der Sockel holte Tolpan – der Ronnie noch immer hinter sich herzerrte – tief Luft. Die Sockel waren aus Silber, ungefähr einen Meter zwanzig hoch, und wirklich das Wunderschönste, was er jemals gesehen hatte. In ihre Oberfläche waren komplizierte Muster und magische Symbole eingearbeitet. Jede winzige Linie war mit Gold ausgelegt und glänzte im Fackellicht, das von der Treppe nach oben flutete. Und über jedem Sockel schwebte eine riesige Kugel aus glänzendem schwarzen Kristall.

»Du nicht gehen auf Plattform«, sagte Ronnie streng.

»Ronnie«, sagte Tolpan, während er auf die Plattform kletterte, die sich ungefähr einen Meter vom Fußboden erhob, »weißt du, wie man dies zum Funktionieren bringt?«

»Nein«, antwortete Ronnie kühl, verschränkte seine Arme über der Brust und funkelte Tolpan an. »Ich niemals oft hier. Ich niemals erledigen Aufgaben für großen Zaubererboß. Mich niemals bringen in dieses Zimmer und mir niemals sagen, etwas holen, was immer Zauberer wollen. Ich nie zusehen großem Zaubererboß beim Fliegen viele Male.«

»Großer Zaubererboß?« fragte Tolpan stirnrunzelnd. Er sah sich hastig in dem kleinen Zimmer um und spähte in den Schatten. »Wo ist denn der große Zaubererboß?«

»Er bleiben nicht unten«, erklärte Ronnie, der bei seinem Leugnen blieb. »Er nicht werden fertig mit Freunden in kleine Stücke sprengen.«

»Oh, dieser große Zaubererboß«, atmete Tolpan erleichtert auf. Dann hielt der Kender inne. »Aber – wenn er nicht hier ist – wer fliegt dann dieses Ding?« Er überlegte.

»Ach so, so war das doch«, sagte Tolpan und trat in die schwarzen Kreise, die zwischen den Sockeln in den Boden eingelegt waren. Sie schienen aus dem gleichen schwarzen Kristall wie die Glaskugeln hergestellt zu sein. Vom Korridor unten hörte er eine weitere Explosion und wieder Schreie von zornigen Drakoniern. Offensichtlich wehrte Tanis’ Armband immer noch die Magie des Zauberers ab.

»Und jetzt«, sagte Ronnie, »du dürfen nicht nach oben schauen auf Kreis in der Decke.«

Als Tolpan hochschaute, stieß er vor Aufregung die Luft aus. An der Decke begann ein Kreis von ungefähr der gleichen Größe und dem gleichen Durchmesser wie die Plattform, auf der er stand, in einem unheimlichen, blauweißen Licht zu glühen.

»In Ordnung, Ronnie«, sagte Tolpan, seine Stimme war schrill vor Aufregung, »was darf ich als nächstes nicht tun?«

»Du nicht legen Hände auf schwarze Kristallkugeln. Du nicht sagen Kugeln, welchen Weg wir gehen«, erwiderte Ronnie naserümpfend. »Pah. Du niemals verstehen diese große Magie!«

»Tanis«, schrie Tolpan den Treppenaufgang hinunter, »in welcher Richtung von hier aus liegt der Turm der Erzmagier?«

Einen Augenblick konnte er lediglich das Geklapper von Schwertern und einige Schreie hören. Dann wurde Tanis’ Stimme allmählich deutlicher, weil er und Caramon im Korridor zurückwichen und langsam nach oben getrieben wurden. »Nordwesten! Fast direkt Nordwesten!«

»Gut!« Tolpan setzte seine Füße fest in die Vertiefungen aus schwarzem Kristall, holte zitternd Atem und streckte dann seine Hände aus, um sie auf die Kristallkugeln zu legen...

»Verdammt!« schrie er bestürzt und starrte hoch. »Ich bin zu klein!«

Er sah auf Ronnie hinab und winkte ihn zu sich. »Ich vermute, die Hände müssen nicht an der Kugel sein und gleichzeitig in den schwarzen Kreisen stehen?«

Tolpan hatte unglücklicherweise das Gefühl, daß er die Antwort bereits kannte, und das war genauso gut. Die Frage hatte Ronnie dermaßen in Verwirrung versetzt, daß er Tolpan lediglich mit sperrangelweitem Mund angaffen konnte.

Während er den Gossenzwerg anfunkelte – einfach weil er in seiner Enttäuschung etwas anfunkeln mußte —, entschied sich Tolpan zu dem Versuch, hochzuspringen, um die Kugeln zu berühren. Er konnte sie zwar erreichen, aber sobald seine Füße die schwarzen Kristallkreise verließen, wurde das blauweiße Licht trüb.

»Und was nun?« stöhnte er. »Caramon oder Tanis könnten sie problemlos erreichen, aber sie sind unten, und nach den Geräuschen zu urteilen werden sie auch eine Weile nicht hochkommen. Was kann ich nur tun? – Ronnie!« sagte er plötzlich, »Komm hier hoch!«

Ronnies Augen verengten sich argwöhnisch. »Mir nicht erlaubt«, sagte er und begann, langsam zurückzuweichen.

»Warte! Ronnie! Geh nicht weg!« schrie Tolpan. »Schau, du bist doch gekommen, um mir zu helfen! Wir fliegen dieses Ding gemeinsam!«

»Ich?« keuchte Ronnie. Seine Augen wurden groß wie Tassen. »Fliegen? Wie großer Zaubererboß?«

»Ja, Ronnie! Komm schon. Kletter einfach hoch und stell dich auf meine Schultern, und...«

Ein Ausdruck der Verwunderung erschien auf Ronnies Gesicht. »Ich«, hauchte er mit einem stürmischen Seufzer der Glückseligkeit, »fliegen wie großer Zaubererboß!«

»Ja, Ronnie, ja«, sagte Tolpan ungeduldig, »nun, beeil dich, bevor – bevor der große Zaubererboß uns erwischt.«

»Mich beeilen«, sagte Ronnie, krabbelte auf die Plattform und von dort auf Tolpans Schulter. »Mich beeilen. Ich immer schon fliegen wollen wie...«

»Hier, ich halte dich an den Knöcheln fest. Jetzt, autsch! Laß meine Haare los! Du ziehst daran! Ich werde dich nicht fallen lassen. Nein, richte dich auf. Steh auf, Ronnie. Richte dich einfach langsam auf. Es wird alles gut sein. Siehst du, ich habe deine Knöchel. Ich lass’ dich nicht fallen. Nein! Nein! Du mußt das Gleichgewicht...«

Kender und Gossenzwerg purzelten übereinander.

»Tolpan!« Caramons Stimme kam die Treppe hoch.

»Nur eine Minute! Hab’s fast geschafft!« schrie Tolpan, riß Ronnie auf die Füße und schüttelte ihn kräftig. »Jetzt aber, Gleichgewicht, Gleichgewicht!«

»Gleichgewicht, Gleichgewicht«, brummte Ronnie, und seine Zähne schlugen aufeinander.

Tolpan nahm wieder seinen Platz in den schwarzen Kristallkreisen ein, und Ronnie kletterte wieder auf seine Schultern. Dieses Mal gelang es dem Gossenzwerg, sich aufzurichten. Tolpan atmete auf. Ronnie streckte seine schmutzigen Hände aus, und nach einigen erfolglosen Versuchen legte er sie behutsam auf die schwarzen Kristallkugeln.

Im selben Moment fiel ein Lichtvorhang von dem leuchtenden Kreis an der Decke herab und bildete eine strahlende Wand um Tolpan und den Gossenzwerg. An der Decke erschienen Runen und glühten rot und violett.

Und mit einem Satz, der das Herz zum Stillstand brachte, begann sich die fliegende Zitadelle zu bewegen.

Unten an der Treppe, die zu den Kreisen des Windes führte, ließ der plötzliche Ruck die Drakonier und ihren Zauberkundigen auf den Boden stürzen. Tanis fiel rücklings gegen eine Mauer, und Caramon landete neben ihm.

Ohne auf Tanis und Caramon weiter zu achten, lief der Bozak-Zauberer schreiend und fluchend auf die Wendeltreppe zu, die zu den Kreisen des Windes führte, wobei er rücksichtslos auf seine eigenen Männer trampelte, die im Korridor verstreut lagen.

»Halt ihn auf!« knurrte Caramon und schob sich von der Wand, während sich die Zitadelle wie ein sinkendes Schiff zur Seite neigte.

»Ich werde es versuchen«, murmelte Tanis, dem es den Atem verschlagen hatte, »aber ich glaube, das Armband ist fast aufgebraucht.«

Er machte einen Satz auf den Bozak zu, aber die Zitadelle schlug plötzlich in die entgegengesetzte Richtung um. Tanis verfehlte seinen Gegner und purzelte auf den Boden. Der Bozak, der nur noch von dem Gedanken besessen war, die Gauner aufzuhalten, die da Hand an seine Zitadelle gelegt hatten, stolperte weiter auf die Stufen zu. Caramon zog seinen Dolch und schleuderte ihn in den Rücken des Zauberers. Aber die Waffe prallte gegen eine magische Barriere um die schwarzen Roben und fiel, ohne ihn zu erreichen, auf den Boden.

Der Bozak hatte gerade die unterste Stufe der Wendeltreppe erreicht, die anderen Drakonier hatten eben erst ihren Halt wiedergefunden, und Tanis hatte den Bozak fast eingeholt, als die Zitadelle steil nach oben in den Himmel hüpfte. Der Bozak fiel mit dem Rücken auf Tanis, Drakonier flogen in alle Richtungen, und Caramon, dem es gerade noch gelungen war, sich auf den Beinen zu halten, stürzte seinerseits über den Zauberer.

Die abrupten Drehungen der Festung schwächten die Konzentration des Magiers – und sein Schutzzauber versagte. Der Drakonier kämpfte verzweifelt mit seinen Klauenhänden, aber Caramon zerrte ihn von Tanis weg und stieß sein Schwert in den Bozak, gerade als der einen weiteren Zauber herbeirufen wollte.

Der Körper des Drakoniers löste sich sofort in eine grauenhafte gelbe Pfütze auf, aus der Schwaden eines ekelhaften, giftigen Rauches durch die Kammer zogen.

»Verschwinde hier, Caramon!« schrie Tanis und taumelte hustend auf ein offenes Fenster zu. Er lehnte sich nach draußen, atmete tief die frische Luft ein und hielt plötzlich erschreckt den Atem an.

»Tolpan!« schrie er, »wir fliegen in die falsche Richtung! Ich sagte Nordwesten!«

Er hörte die schrille Stimme des Kenders schreien: »Denk Nordwest, Ronnie! Nordwest.«

»Ronnie?« murmelte Caramon hustend und starrte Tanis voller Unruhe an.

»Wie ich an zwei Richtungen gleichzeitig denken?« wollte eine Stimme wissen. »Wollen du gehen Norden oder wollen du gehen Westen? Entscheiden dich.«

»Nordwesten!« schrie Tolpan. »Es ist eine Rich... Oh, vergiß es. Sieh mal, Ronnie, du denkst Norden, und ich denke Westen. Das könnte funktionieren.«

Caramon schloß die Augen, stieß einen verzweifelten Seufzer aus und ließ sich gegen eine Wand fallen.

»Tanis«, sagte er. »Vielleicht solltest du lieber...«

»Keine Zeit«, unterbrach ihn Tanis grimmig, das Schwert in der Hand. »Da kommen sie.«

Aber die Drakonier waren völlig verwirrt über den Tod ihres Anführers und völlig unfähig, zu begreifen, was mit ihrer Zitadelle jetzt geschah. Daher beäugten sie sich gegenseitig nur voller Mißtrauen. Im selben Moment änderte die fliegende Zitadelle wieder ihren Kurs und steuerte jetzt nordwestlich. Gleichzeitig ließ sie sich ungefähr sechs Meter fallen.

Die Drakonier wandten sich zur Flucht, strauchelten, schoben und rutschten zurück in den Korridor und verschwanden durch die Geheimtür, aus der sie gekommen waren.

»Aber die Richtung stimmt jetzt endlich«, erklärte Tanis, der aus dem Fenster gesehen hatte. Caramon trat neben ihn und sah den Turm der Erzmagier immer näher und näher rücken.

»Gut! Laß mal sehen, was oben los ist«, murmelte Caramon und begann die Stufen hochzusteigen.

»Nein, warte.« Tanis hielt ihn auf. »Tolpan kann offensichtlich nichts erkennen. Wir müssen ihn einweisen. Außerdem können diese Drakonier jeden Moment zurückkommen.«

»Da könntest du recht haben«, stimmte ihm Caramon zu und spähte voller Besorgnis die Stufen hoch.

»Wir dürften in einigen Minuten dort sein«, sagte Tanis und lehnte sich erschöpft gegen den Fensterrahmen. »Aber wir haben hoffentlich genug Zeit, daß du mir erklären kannst, was eigentlich los ist.«

»Es ist schwer zu glauben«, murmelte Tanis und sah wieder aus dem Fenster, »selbst von Raistlin.«

»Ich weiß«, sagte Caramon. In seiner Stimme lag Trauer. »Ich wollte es auch nicht glauben, sehr lange Zeit nicht. Aber als ich ihn vor dem Portal stehen sah und als er mir erzählte, was er mit Crysania vorhatte, wußte ich, daß das Böse endgültig seine Seele besetzt hält.«

»Dann hast du recht, du mußt ihn aufhalten«, sagte Tanis und legte seine Hand auf den Arm des großen Mannes. »Aber, Caramon, bedeutet es, daß du ihm in die Hölle folgen mußt? Dalamar ist im Turm und wartet am Portal. Sicherlich könnt ihr beide zusammen verhindern, daß Raistlin zurückkehrt. Dazu brauchst du doch nicht selbst das Portal zu betreten...«

»Nein, Tanis«, widersprach ihm Caramon kopfschüttelnd. »Vergiß nicht – Dalamar hat schon einmal versagt, Raistlin aufzuhalten. Irgend etwas wird dem Dunkelelf zustoßen – etwas, das ihn abhält, diese Aufgabe zu erfüllen.« Caramon griff in seinen Rucksack und zog die ledergebundenen »Chroniken« hervor.

»Vielleicht kommen wir noch rechtzeitig an, um das zu verhindern«, sagte Tanis, den ein seltsames Gefühl beschlich, als sie so über eine Zukunft redeten, die bereits beschrieben war.

Caramon schlug eine Seite auf, die er markiert hatte, und überflog sie. Dann stieß er ein leises Pfeifen aus.

»Was ist denn?« fragte Tanis und beugte sich vor, um auch lesen zu können. Caramon schlug eilig das Buch zu.

»Es stimmt, etwas wird ihm zustoßen«, murmelte der große Mann und vermied dabei, Tanis anzuschauen. »Kitiara tötet ihn.«

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