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»Ich bin froh, daß du bei mir bist, Tanis«, sagte Caramon.

Er stand vor dem Portal und studierte es aufmerksam. Keine Bewegung und keine Welle innerhalb der Leere entging ihm. Neben ihm saß Dalamar mit Kissen abgestützt auf seinem Stuhl. Sein Gesicht war blaß und abgespannt vor Schmerz, und sein Arm ruhte in einer provisorischen Schlinge. Tanis schritt unruhig im Zimmer auf und ab. Die Drachenköpfe leuchteten jetzt so hell, daß es die Augen schmerzte, hinsehen zu müssen.

»Caramon«, begann er, »bitte...«

Caramon sah zu ihm hinüber. Doch seine Miene blieb unverändert ernst und gelassen.

Tanis schwieg wieder. »In Ordnung. Aber wie willst du da überhaupt hineinkommen?« fragte er dann.

Caramon lächelte. Er wußte, was Tanis eigentlich hatte sagen wollen, und er war ihm dankbar, daß er es nicht gesagt hatte.

Mit verbittertem Blick zeigte Tanis auf die Öffnung des Portals. »Du hast mir zuvor erzählt, daß Raistlin dafür jahrelang studieren und dieser Fistandantilus werden und Crysania verführen mußte, ihn zu begleiten. Und selbst dann ist es ihm gerade eben gelungen, durch dieses Portal zu gelangen!« Tanis’ Blick glitt zu Dalamar. »Kannst du auch das Portal betreten, Dunkelelf?«

Dalamar schüttelte den Kopf. »Nein. Wie du ja erkannt hast, ist eine Person mit großer Macht erforderlich, um diese entsetzliche Schwelle zu überschreiten. Ich verfüge nicht über soviel Macht, vielleicht wird das auch nie der Fall sein. Aber mach nicht so ein finsteres Gesicht, Halb-Elf. Wir verschwenden unsere Zeit nicht. Ich bin überzeugt, daß Caramon dies alles nicht auf sich nehmen würde, wenn er nicht eine Ahnung hätte, wie er das Portal betreten kann.« Dalamar sah den großen Krieger gespannt an. »Denn betreten muß er es, sonst sind wir alle dem Untergang geweiht.«

»Wenn Raistlin in der Hölle gegen die Dunkle Königin und ihre Lakaien kämpft«, sagte Caramon mit gleichmäßiger Stimme ohne besondere Betonung, »wird er sich völlig und ausschließlich auf sie konzentrieren müssen. Ist das richtig, Dalamar?«

»Mit höchster Wahrscheinlichkeit.« Der Dunkelelf zitterte und zog mit seiner unversehrten Hand die schwarzen Roben enger um sich. »Ein Atemzug, ein Blinzeln, ein Zucken, und sie werden ihn stückchenweise zerreißen und verschlingen.«

Caramon nickte.

Wie kann er bloß so ruhig sein, fragte sich Tanis. Und eine Stimme in ihm erklärte ihm, das sei die Ruhe eines Mannes, der sein Schicksal erkannt habe und es akzeptiere.

»In Astinus’ Buch«, fuhr Caramon fort, »steht geschrieben, daß Raistlin vor der Schlacht mit der Königin wohlweislich das Portal öffnete, um notfalls seine Flucht sicherzustellen, da er seine Magie völlig auf den Kampf konzentrieren mußte. Folglich fand er das Portal bei seiner Rückkehr bereit, so daß er wieder in diese Welt zurückkommen konnte.«

»Zweifellos wußte er auch, daß er selbst zu geschwächt sein würde, um es zu öffnen«, murmelte Dalamar. »Er müßte dafür im Vollbesitz seiner Kräfte sein. Ja, du hast recht. Er wird es bald öffnen. Und wenn das geschieht, kann auch jemand anderes mit Kraft und Mut, wie es für das Überqueren der Schwelle erforderlich ist, das Portal betreten.«

Der Dunkelelf schloß seine Augen und biß sich auf die Lippe, um nicht aufzuschreien. Er hatte einen schmerzlindernden Heiltrunk abgelehnt. »Wenn du versagst«, sagte er zu Caramon, »bin ich unsere letzte Hoffnung.«

Unsere letzte Hoffnung, dachte Tanis – ein Dunkelelf. Das ist Wahnsinn! Das darf nicht passieren. Er lehnte sich gegen den Steintisch und ließ seinen Kopf in beide Hände sinken. Er war so müde! Sein Körper schmerzte, und seine Wunden brannten und stachen. Er hatte den Brustharnisch seiner Rüstung abgelegt, denn der fühlte sich so schwer an wie ein Grabstein. Aber so sehr sein Körper auch schmerzte, die Qualen in seiner Seele waren noch stärker.

Erinnerungen in ähnlicher Gestalt wie die Wächter des Turms schossen um ihn, griffen nach ihm und berührten ihn mit ihren kalten Händen: Caramon stibitzte Essen von Flints Teller, als sich der Zwerg gerade umdrehte. Raistlin beschwor herrliche und wunderbare Visionen für die Kinder in Treibgut herauf. Kitiara warf lachend ihre Arme um seinen Hals und flüsterte etwas in sein Ohr. Tanis’ Herz krampfte sich zusammen, der Schmerz trieb Tränen in seine Augen. Nein! So war das alles nicht richtig! Es sollte bestimmt nicht so enden!

Ein Buch tauchte vor seinen trüben Blicken auf – Caramons Buch, das auf dem Steintisch lag, Astinus’ letztes Buch. Oder wird es tatsächlich so enden? Plötzlich nahm er wahr, daß Caramon ihn besorgt beobachtete. Wütend wischte er sich über Augen und Gesicht und erhob sich seufzend.

Aber die Gespenster waren noch in ihm und blieben in seiner Nähe. In seiner Nähe... und in der Nähe der verbrannten, gräßlich zugerichteten Leiche, die in der Ecke unter seinem Umhang lag.

Mensch, Halb-Elf und Dunkelelf beobachteten schweigend das Portal. Eine Wasseruhr auf dem Kaminsims verriet ihnen die Zeit: Ein Tropfen nach dem anderen fiel mit der Regelmäßigkeit eines Herzschlages. Die Spannung im Raum dehnte sich, bis es ihnen schien, daß sie gleich zerspringen und platzen und mit schneidendem Zorn auf das ganze Laboratorium einpeitschen würde. Dalamar begann etwas in der Elfensprache zu murmeln. Tanis sah ihn scharf an. Er befürchtete, daß der Halb-Elf zu phantasieren begänne. Das Gesicht des Magiers war blaß und leichenhaft, und seine Augen waren von tiefen roten Schatten umgeben. Tief waren sie in ihre Höhlen eingesunken. Sie bewegten sich nicht, sondern starrten beständig in die wirbelnde Leere.

Selbst Caramons Gelassenheit schien ihm zu entgleiten. Seine kräftigen Hände öffneten und schlossen sich nervös, Schweiß lief über seinen Körper und glitzerte im Licht der fünf Köpfe des Drachen. Er begann unwillkürlich zu zittern. Die Muskeln in seinen Armen zuckten und traten vereinzelt hervor.

Und dann überwältigte Tanis plötzlich eine seltsame Empfindung. Die Luft war still. Zu still. Geräusche von dem Kampf, der außerhalb des Turms in der Stadt tobte – Geräusche, die er gehört hatte, ohne sich dessen bewußt zu sein —, waren plötzlich vollständig verstummt. Auch im Turm selbst waren alle Geräusche erstorben. Die Worte, die Dalamar murmelte, stockten auf seinen Lippen.

Das Schweigen hüllte sie ein, so dicht und erstickend wie die Dunkelheit draußen im Korridor, wie das Böse im Raum selbst. Das Tröpfeln der Wasseruhr wurde lauter und verstärkte sich.

Jeder Tropfen schien Tanis’ Knochen durchzuschütteln. Dalamar riß die Augen auf, seine Hand zuckte und klammerte sich nervös an seine schwarzen Roben.

Tanis suchte Caramons Nähe. Fast im gleichen Moment reichte der große Mann ihm die Hand.

Beide setzten gleichzeitig zum Sprechen an. »Caramon...«

»Tanis...«

Verzweifelt hielt Caramon Tanis’ Arm gepackt. »Du wirst dich statt meiner um Tika kümmern, nicht wahr?«

»Caramon, ich kann dich nicht allein dorthin gehen lassen!« Tanis hielt ihn fest. »Ich komme...«.

»Nein, Tanis.« Caramons Stimme war fest und entschlossen. »Wenn ich versage, wird Dalamar deine Hilfe brauchen. Sag Tika Lebwohl von mir und versuche es ihr zu erklären, Tanis. Sag ihr, daß ich sie sehr liebe, so sehr, daß ich...« Seine Stimme brach ab. Er konnte nicht weitersprechen. Tanis drückte noch immer seine Hand.

»Ich weiß, was ich ihr zu sagen habe, Caramon«, sagte er und dachte an seinen eigenen Abschiedsbrief.

Caramon nickte. Er schüttelte die Tränen aus seinen Augen und holte tief und zitternd Luft. »Und sage auch Tolpan Lebwohl. Ich... ich glaube nicht, daß er es jemals verstanden hat. Nicht wirklich.« Er schaffte es jetzt zu lächeln. »Und natürlich mußt du ihn aus dieser fliegenden Zitadelle herausholen.«

»Ich glaube, er wußte Bescheid, Caramon«, sagte Tanis leise.

Die Köpfe des Drachen begannen einen schrillen Ton von sich zu geben. Es klang wie ein schwacher Schrei, der aus weiter Ferne kommt.

Caramon spannte sich an.

Das Schreien wurde lauter und schriller und kam immer näher. Das Portal brannte in seinen Farben, und jeder Drachenkopf glänzte strahlendhell.

»Mach dich bereit«, warnte Dalamar, und seine Stimme schlug um.

»Auf Wiedersehen, Tanis.« Caramon drückte dem Halb-Elfen noch einmal die Hand.

»Auf Wiedersehen, Caramon.«

Tanis löste sich von seinem Freund und trat zurück.

Die Leere teilte sich. Das Portal öffnete sich.

Tanis sah hinein – er wußte, daß er hineinsehen mußte, denn er konnte sich nicht abwenden. Aber er konnte sich später niemals deutlich erinnern, was er gesehen hatte. Er träumte noch Jahre später davon. Er wußte, daß er davon träumte, weil er in den Nächten schweißgebadet aufwachte. Aber dann verschwand das Bild immer schnell aus seinem Bewußtsein, ohne daß er es im Wachzustand festhalten konnte. Und er lag noch stundenlang zitternd da und starrte in die Dunkelheit.

Aber das war später. Als er hineinsah, wußte er lediglich, daß er Caramon aufhalten mußte! Aber er konnte sich nicht rühren. Er konnte nicht schreien. Wie festgenagelt beobachtete er Caramon, der sich mit einem letzten ruhigen Blick umdrehte und auf die goldene Plattform stieg.

Die Drachen kreischten warnend, triumphierend und haßerfüllt... Tanis wußte es nicht. Sein eigener Schrei, der aus seinem Körper gepreßt wurde, verlor sich in dem schrillen, ohrenbetäubenden Lärm.

Eine blendende, aufwirbelnde, einstürzende Welle aus einem vielfarbigen Licht erschien.

Und dann war es dunkel. Caramon war verschwunden.

»Möge Paladin dir beistehen«, flüsterte Tanis, nur um voller Verlegenheit Dalamars kühle Stimme zu hören: »Takhisis, meine Königin, geht mit dir.«

»Ich sehe ihn«, sagte Dalamar nach einem Moment. Er richtete sich halb auf, um mehr erkennen zu können, während er aufmerksam in das Portal starrte. Er stöhnte auf vor Schmerz, den er in der Aufregung vergessen hatte. Fluchend sank er auf den Stuhl zurück. Sein blasses Gesicht war schweißgebadet.

Tanis hörte auf, unruhig durch das Zimmer zu schreiten, und trat zu Dalamar. »Dort«, zeigte der Dunkelelf. Seinen Atem preßte er durch die zusammengebissenen Zähne.

Widerwillig, immer noch unter den Nachwirkungen des Schocks vom ersten Mal, als er in das Portal geschaut hatte, sah Tanis wieder hinein. Zuerst konnte er außer einer düsteren, verlassenen Landschaft, die sich unter einem brennenden Himmel erstreckte, nichts erkennen. Und dann sah er, wie sich rotgefärbtes Licht in einer glänzenden Rüstung widerspiegelte. Er sah eine kleine Gestalt nahe am Portal stehen. In der Hand hielt sie ein Schwert, und das Gesicht war von ihnen abgewendet. Er wartete...

»Wie wird er es schließen?« fragte Tanis und versuchte ruhig zu sprechen, obwohl er vor Kummer fast erstickte.

»Er kann es nicht«, erwiderte Dalamar.

Tanis starrte ihn beunruhigt an. »Wie wird denn dann die Königin vom Eintreten abgehalten?«

»Sie kann nur durch das Portal gehen, wenn ein anderer es vor ihr durchschreitet, Halb-Elf«, antwortete Dalamar etwas gereizt. »Sonst wäre sie schon vor langer Zeit hergekommen. Raistlin hält es offen. Wenn er es betritt, wird sie ihm folgen. Mit seinem Tod wird es sich schließen.«

»Caramon muß ihn also töten – seinen Bruder?«

»Ja.«

»Und auch er muß sterben«, murmelte Tanis.

»Bete dafür, daß er stirbt!« Dalamar leckte über seine Lippen. Der Schmerz machte ihn schwindelig. Ihm wurde übel. »Denn er kann auch nicht durch das Portal zurückkehren. Und obwohl der Tod durch die Hände der Dunklen Königin sehr langsam und quälend sein kann, ist er, glaub mir das, Halb-Elf, dem Leben vorzuziehen!«

»Er wußte das...«

»Ja, er wußte das. Aber die Welt wird gerettet werden, Halb-Elf«, bemerkte Dalamar zynisch. Er sank auf seinen Stuhl zurück und starrte weiter in das Portal. Seine Hand zerknitterte und glättete abwechselnd die Falten seiner schwarzen, runenbestickten Roben.

»Nein, nicht die Welt, eine Seele«, wollte Tanis bitter erwidern. Im selben Moment hörte er hinter sich die Tür des Laboratoriums knarren.

Dalamar wandte seinen Blick sofort vom Portal ab. Seine Augen funkelten, und seine Hand glitt zu einer Zauberrolle, die er in seinen Gürtel gesteckt hatte.

»Niemand kann eintreten«, sagte er leise zu Tanis, der sich bei dem Geräusch umgedreht hatte. »Die Wächter...«

»Können ihn nicht aufhalten«, beendete Tanis den Satz. Sein Blick war auf die Tür mit einem Ausdruck der Angst geheftet, der einen Augenblick die erstarrte Angst auf Kitiaras totem Gesicht widerspiegelte.

Dalamar lächelte bitter und sank wieder auf seinen Stuhl zurück. Es bestand keine Notwendigkeit, sich umzuschauen. Die Eiseskälte des Todes strömte wie ein übelriechender Nebel in das Zimmer.

»Tritt ein, Lord Soth«, sagte Dalamar. »Ich habe dich erwartet.«

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