Cally stand an der Tür von 302C. Den Reißverschluss ihrer Aktentasche hatte sie geöffnet, hielt sie aber so, dass man den Inhalt nicht sehen konnte. Sie schloss kurz die Augen und schlüpfte in die Rolle der Kosmetikvertreterin. Als sie sie wieder öffnete, zeigte ihr Gesicht ein strahlendes Lächeln, und ihre Augen strahlten vor Begeisterung. Sie klingelte und wartete.
Kurz darauf hörte sie es auf der anderen Seite der Tür rascheln. Vermutlich die Freundin, die durch den Türspion lugte. Die Tür ging auf.
»Äh … Hallo?« Die Frau hatte Lockenwickler im Haar, und ihr Gesicht war ohne Make-up, so als ob sie sich gerade gewaschen hätte.
»Hi, ich bin Lisa von Pink Passion Cosmetics und wollte Sie fragen, ob Sie an unserer Gratisaktion heute Nachmittag interessiert wären? Dauert nur fünf Minuten.« Sie strahlte förmlich Hilfsbereitschaft und gute Laune aus.
»Fünf Minuten … und ich muss nichts kaufen?« Die Augen der jungen Frau hatten sich bei dem Wort »gratis« geweitet. Sie musterte nachdenklich den gepflegten Teint der Vertreterin, dem man das professionelle Make-up ansah.
»Nein, garantiert nichts. Ich mache Ihnen ein frisches Make-up, lasse Ihnen einen Katalog und meine Telefonnummer da, und wenn Sie dann etwas aus dem Katalog haben wollen, rufen Sie mich an. Wenn nicht, dann eben nicht.« Sie lächelte freundlich und ein wenig verschwörerisch.
»Fünf Minuten.« Die Frau sah auf die Uhr. »Äh, na ja, sicher. Kommen Sie rein.« Sie trat zur Seite und bedeutete der Auftragskillerin, dass sie eintreten solle.
Cally griff sich unauffällig an den Gürtel, als sie durch die Tür schritt, und legte den kleinen Schalter um. Gleich nachdem die Freundin die Tür geschlossen hatte, hatte Cally die Aktentasche fallen lassen, die Frau gepackt, sie neben der Tasche zu Boden gerissen, lag über ihr und hielt ihr das Klappmesser an die Kehle.
»Lady, Sie haben jetzt die Wahl. Entweder können Sie hier auf ziemlich unangenehme Art sterben, oder tun, was ich sage, und leben. Mir ist’s egal, wofür Sie sich entscheiden.« Sie drückte der Frau dabei das Messer leicht gegen die Kehle, um ihr klar zu machen, dass sie es ernst meinte. Es gab da einen Trick, wie man das Messer genau im richtigen Winkel hielt, damit es sich scharf genug anfühlte, um die andere Person zu beeindrucken, ohne tatsächlich die Haut zu verletzen. Mit einem einigermaßen scharfen Messer, wie dem hier, war das besonders schwierig. Aber sie hatte ja genügend Übung.
»O mein Gott, mein Gott, tun Sie mir nichts. Bitte, töten Sie mich nicht. O Gott. Was wollen Sie? Ich tue alles, was Sie verlangen, bloß, bitte, bitte, bringen Sie mich nicht um.«
»Ich brauche Sie nicht umzubringen. Ich muss mir nur für kurze Zeit Ihr Apartment ausborgen.« Sie suchte in der Tasche herum, zog den Pappbehälter mit dem Wein heraus und vergewisserte sich, dass es der rot markierte war. »Trinken Sie das. Da ist natürlich ein Schlafmittel drin. Damit Sie schlafen und mir nicht im Weg sind.« Sie reichte den Karton der verängstigten Frau.
»Woher weiß ich, dass das kein Gift ist?«
»Sie wissen es nicht. Sie wissen bloß, dass Sie jetzt und sofort hier sterben werden, wenn Sie es nicht trinken, und zwar auf recht schmerzhafte und unappetitliche Art. Das ist Ihre einzige Chance. Überlegen Sie es sich, ich habe nicht viel Zeit.«
Die andere Frau fing an, den Verschluss aufzuschrauben, hielt aber plötzlich inne.
»Charles. Sie sind hinter Charles her.« Ihr Tonfall verriet ihr wachsendes Entsetzen.
»Wem?« Callys Gesicht hätte nicht verblüffter blicken können. »Man hat mir gesagt, dass Sie hier allein leben. Wird da noch jemand kommen?«, fragte sie streng und drückte mit dem Messer etwas stärker zu, achtete aber immer noch sorgsam darauf, die Haut nicht zu verletzen.
»Äh … nein«, log die Frau schnell, »Charles ist … ist meine Katze.«
»Ist ja großartig. Und ich bin allergisch. Würden Sie jetzt bitte schnell machen und das hier trinken, ehe ich Sie töten muss?«
Die Frau starrte sie an, als versuche sie, sich ihre Gesichtszüge einzuprägen, und trank dann. Cally beobachtete sie die etwa zehn Minuten, die es dauerte, bis ihre Augen glasig wurden, und legte dann das Messer weg.
»In Ihrem Bett werden Sie bequemer schlafen. Kommen Sie, ich bringe Sie hin, damit Sie sich hinlegen können.« Sie half der Frau auf, führte sie ins Schlafzimmer, wobei sie sie stützen musste, fesselte ihr dann — sanft, aber sicher — mit den Kabelbindern Hände und Füße und knebelte sie. Unter dem Einfluss des Schlafmittels würde die Frau ihr keine Schwierigkeiten machen, und bis sie die Besinnung verlor, würde es ohnehin nicht mehr lang dauern. Cally hatte bis jetzt sorgsam darauf geachtet, so wenig wie möglich in dem Apartment zu berühren, aber den Rest des Abends würde sie Gummihandschuhe tragen müssen.
Sie zog ihren PDA heraus und sah sich auf dem Bildschirm den Stadtplan mit dem blinkenden Punkt an, der den Standort des Wagens der Zielperson anzeigte. Bis jetzt war sie recht gut im Zeitplan. Bis Petane hier eintraf, würde noch eine gute Viertelstunde vergehen.
Eigentlich war gar nicht sonderlich viel zu tun, um sich auf ihn vorzubereiten. Einer der Küchenstühle würde für die Befragung ausreichen. Sie stellte ihn hinter die Tür, wo er ihn nicht sehen konnte und deshalb beim Hereinkommen auch nicht erschrecken würde. Angewidert rümpfte sie die Nase über das nicht geleerte Katzenklo, dessen Geruch eine große Schale mit Äpfeln nicht ganz überdecken konnte, und ging dann ins Wohnzimmer zurück, um den gebrauchten Pappbecher in der Aktentasche zu verstauen. Es hatte ja wirklich keinen Sinn, irgendwelche DNA von dritten so offen herumliegen zu lassen.
Sie holte die Strumpfhosen aus ihren Verpackungen und schnitt die Beine auseinander. Die waren nicht so einfach und schnell zu benutzen wie die Kabelbinder, aber vermutlich würde die Zielperson zunächst gegen die Fesseln ankämpfen, und wenn man die Strumpfhosen richtig knotete, würden sie keine Spuren hinterlassen. Sie zog ihre Jacke aus und stopfte sich die Strumpfhosen in die Taschen. Dann war nichts mehr zu tun — außer zu warten. Sie hatte gründlich darüber nachgedacht, wie sie ihn erledigen wollte. Einerseits wollte sie mit den Chemikalien, die man bei der Autopsie in seinem Blutkreislauf finden würde, besonders vorsichtig sein. Andererseits war er ein gutes Stück schwerer als sie und auch größer, das durfte sie trotz ihrer gesteigerten Kräfte nicht vernachlässigen.
Petane war ganz offensichtlich runderneuert, also hatte er Nanniten, die möglicherweise etwaige Reste von Äther oder Chloroform wirksam beseitigen würden, ehe sie mit ihrer Befragung fertig war. Vielleicht aber auch nicht. Und dann war auch möglich, dass er immun war. In seinen Unterlagen war nichts über nennenswerte Ausbildung in Nahkampftechniken zu finden gewesen, nichts über das hinaus, was er bei der Grundausbildung mitbekommen hatte, aber man konnte das nie genau wissen. Schließlich hatte sie sich dafür entschieden, dass sie ihn festhalten und würgen musste, aber dazu würde sie eine auf Knopfdruck reagierende Injektionsspritze mit dem am wenigsten leicht nachweisbaren Betäubungsmittel für alle Fälle bereithalten, falls er sich im Nahkampf erfahrener zeigen sollte, als dies aus seinen Akten hervorging.
»Okay, Buckley, aufwachen.« Sie tippte den Bildschirm an. »Du kannst jetzt aufhören, irgendwelche Kameras zu überwachen, an denen er bereits vorbeigefahren ist. Beobachte die Kamera, die ich dort draußen auf dem Parkplatz platziert habe. Wenn er parkt, dann sag mir … äh … warte, nein, sag es mir nicht. Lass einfach den Bildschirm blau werden.« Wenn ich ihm sage, dass er mir irgendetwas sagen soll, dann wette ich darauf, dass er exakt im falschen Augenblick zu tönen beginnt und ich wieder einmal einen PDA in den Müll kippen muss. Und ich brauche ihn, um die Befragung aufzuzeichnen.
»Du hast Angst, dass ich zum falschen Augenblick etwas Falsches sage und das dann für uns beide der Tod ist, nicht wahr?«, klagte der Buckley sie an.
»Nein, ich würde es bloß vorziehen, in dieser Phase unseres Einsatzes keine unnötigen Geräusche zu haben.«
»Doch, du hast Angst. Du brauchst mich nicht anzulügen, um meine Gefühle zu schonen.«
»Halt die Klappe, Buckley.«
»Geht in Ordnung.«
Sie sah stumm zu, wie der Punkt auf der Straße näher kam. Der Bildschirm wurde blau, und sie schaltete das Gerät auf stimmaktivierte Aufzeichnung, klappte es zu, richtete sich auf, streckte sich kurz und lehnte sich dann gelockert hinter der Tür an die Wand. Für gute Aufnahmequalität musste der PDA sich in weniger als dreißig Prozent Abstand des Subjekts zum Dämpfer befinden.
Das Warten kam ihr länger vor, als es wirklich dauerte. Das Adrenalin in ihrem Kreislauf wirkte bereits und dehnte die Zeit. Sie konnte ihr Herz in der Brust schlagen spüren und verspürte bereits jenes ganz spezielle Einsatzgefühl, bei dem sie sich eine Extraportion lebendiger fühlte. Die Farben im Raum waren voller und intensiver als noch vor ein paar Minuten. In die Katzen- und Luftauffrischergerüche des Apartments mischte sich jetzt der Geruch des Tees, den die Freundin in der Küche getrunken hatte. Sie konnte den leicht hohlen Klang ihres eigenen Atems hören, während der Schalldämpfer versuchte, den Lärm zu kompensieren.
Es dauerte gar nicht lange, bis sie den Schlüssel in dem altmodischen Schloss hörte. Sie zwang sich, gelockert und völlig ruhig zu bleiben, als der Türknauf sich drehte und die Tür nach innen schwang.
Er betrat den Raum mit noch weniger Bewusstsein der Lage als ein Zweijähriger, der sich wenigstens für seine Umgebung interessiert hätte. Als er die Tür mit einer Hand hinter sich schloss, drehte er sich erwartungsvoll in Richtung Küche herum. Cally bezweifelte, dass er sie auch nur aus dem Augenwinkel sah, als sie hinter ihn trat, ihn bei den Haaren packte, ihm den Kopf nach hinten zog und ihm in die Kniekehle trat.
Als ihm die Knie einknickten und so sein Kopf tiefer war als der ihre, schlang sich ihr anderer Arm um seine Kehle und drückte gegen seine Luftröhre, während die Hand in seinem Haar nach hinten glitt und seinen Hinterkopf festhielt, sodass er keine Chance hatte, nach Luft zu schnappen.
Unglücklicherweise setzte in diesem Augenblick sein Überlebenstrieb ein, und er begann wild um sich zu schlagen und versuchte, ihren Griff zu brechen.
Die einfachste Reaktion darauf wäre gewesen, sich fallen zu lassen und ihm das Genick zu brechen. Eine zum Kampf fähige Person, und als solche war Petane marginal anzusehen, lebend zu nehmen, war immer schwieriger als eine schlichte Tötung.
Schwer zu sagen, ob er absichtlich oder instinktiv versuchte, gegen einen Beistelltisch voll zerbrechlich wirkenden Nippesgegenständen zu treten, aber es wäre definitiv schlecht, in dem Apartment Spuren eines Handgemenges zu hinterlassen. Genauso schlecht wäre es, den Kerl versehentlich zu erwürgen. Und verdammt noch mal, ich habe keine Ahnung mehr, wie viele es inzwischen sind!
Sie trat einen Schritt zurück und zerrte ihn mitten ins Zimmer, wo er beim Umsichschlagen nichts erreichen konnte; dann beobachteten sie den Sekundenzeiger der Wanduhr, um den richtigen Zeitpunkt zu erwischen, und ließ ihn ein paar Sekunden, nachdem er aufgehört hatte, um sich zu schlagen, zu Boden sinken.
Lausige Instinkte — er hat an der Schwelle nicht einmal gezögert. Sie seufzte erleichtert auf, als sie seinen Puls fand. Den Mistkerl mit Herzmassage wiederzubeleben wäre lästig gewesen.
Beeilung war angesagt, seine Hände und Füße mit den Plastikbändern zu sichern, ehe sie sich den Stuhl und die Strumpfhosen holte. Das Risiko, dass er zu sich kam, ehe sie ihn an den Stuhl gefesselt hatte, war recht groß, und so musste es natürlich auch heute kommen. Gerade hatte sie seine Handgelenke gesichert und die Plastikbänder abgenommen — die Wahrscheinlichkeit, dass sie Spuren hinterließen, war zu groß -, als er zu sich kam und wieder anfing zu brüllen und um sich zu schlagen. Dabei kippte er mit dem Stuhl um. Sie achtete nicht darauf und fesselte seine beiden Beine an das jeweilige Stuhlbein, ehe sie den Stuhl wieder aufstellte. Er brüllte immer noch. Was für ein Schwachkopf. »Jetzt hören Sie mal her, Sie Idiot«, erklärte sie. »Hören Sie dieses hohle Geräusch? Das ist ein Dämpfer. Niemand kann Sie außerhalb des Zimmers hören, Sie brüllen sich bloß heiser.«
Sie hätte sich gerne eine Zigarette angezündet und sie geraucht, während er sich allmählich beruhigte, aber es ging natürlich nicht an, abgestandenen Rauch zu hinterlassen. Also legte sie bloß den Kopf etwas zur Seite und beobachtete ihn, wartete. Gott sei Dank dauerte es nicht sehr lange, bis ihm der Dampf ausging.
»Wahrscheinlich haben Sie sich gefragt, weshalb ich diese Besprechung einberufen habe.« Sie grinste schief und seufzte dann. »Schauen Sie, Petane, wir führen eine umfassende Überprüfung der von Ihnen gelieferten Informationen durch, gehen sie Punkt für Punkt durch, inklusive dem, was Sie jetzt sagen, und vergleichen es mit Ihren Berichten in der Vergangenheit. Je früher Sie es ausspucken, desto früher können Sie dorthin zurückkehren und Ihrer Freundin ein paar Aufputschmittel geben, um sie zu wecken und dann Ihren Abend fortzusetzen.« Sie zuckte die Achseln. »Schauen Sie, mir ist das alles ziemlich egal, ich muss bloß dieses dämliche Verhör hinter mich bringen, damit ich mich wieder meiner echten Arbeit widmen kann.«
»Himmel nochmal, Ihr Typen habt mich jetzt total verbrannt, ist Ihnen das klar? Zumindest so gut wie. Warum in drei Teufels Namen sind Sie das Risiko eingegangen, sich hier mit mir zu treffen? Warum haben Sie nicht einfach über den Briefkasten ein Treffen verlangt und mir Zeit gelassen, das ordentlich vorzubereiten … oh. Spionageabwehr.« Seine Schultern sackten nach vorne. »Sind Sie Fleet Strike oder Army?« Seine Stimme hatte den hohlen, hoffnungslosen Klang eines Mannes, der nicht damit rechnete, den morgigen Tag zu erleben.
»Sehr scharfsinnig überlegt.« Sie grinste ein Raubtiergrinsen. »Aber Sie können immer noch nützlich sein, Colonel. Wir brauchen bloß einen Katalog, wie viel Schaden Sie angerichtet haben, und dann sagen wir Ihnen, was Sie denen sagen sollen. Sie können sich glücklich preisen, Mann. Wenn wir Sie genügend nützlich machen können, überleben Sie möglicherweise sogar.«
»Augenblick mal … ich … ich möchte Ihren Ausweis sehen«, sagte er.
»Oh, einen Ausweis wollen Sie. Dann haben Sie also gewusst, mit wem Sie es zu tun hatten, als Sie sich dazu entschlossen haben, ein beschissener Verräter zu werden.« Das spie sie ihm förmlich ins Gesicht.
Er wurde bleich.
»Also, Colonel, warum sind Sie zur anderen Seite übergegangen?« Das war keine Frage, sondern eine Forderung. »Ich will es aus Ihrem Mund hören, Sie minderwertiger Hurensohn.«
»Ich hatte doch keine Wahl! Die hätten mich sonst umgebracht!« Jede Spur von Gelassenheit war von dem Mann abgefallen. »Ich bin doch in diesen Schlamassel hineingeraten, indem ich euch Typen geschützt habe! Ihr habt gesagt, ihr würdet für mich sorgen, und als die dann bei mir auftauchten, wart ihr nirgends zu sehen. Was zum Teufel hätte ich denn tun sollen?«
»Ich vermute, es ist Ihnen nie in den Sinn gekommen, dass man auch wie ein Soldat einfach sterben kann«, sagte sie kalt.
»Yeah, das dürfen Sie meinetwegen mal versuchen.« Seine Stimme klang bitter und rau.
»Also, fangen wir ganz am Anfang an.« Sie setzte sich auf die Couch und machte eine beiläufige Handbewegung. »Fangen wir einfach da an, als Sie ›in diesen Schlamassel‹ geraten sind, wie Sie es formuliert haben. Fangen Sie dort an. Lassen Sie nichts weg. Das meiste wissen wir. Also brauche ich wohl kaum zu sagen, dass Sie wirklich, ganz wirklich nichts weglassen sollten. Wenn ich sauer bin, bin ich nämlich nicht besonders nett.« Sie klappte den PDA auf und tippte den Knopf, unter dem Record stand. Der Abstand zu ihm stimmte ziemlich genau.
»Okay, der Anfang also. Ich war Major, als man mich bei Kriegsbeginn aus der Reserve einberufen hat. Ich hatte ein paar Jobs bei … na ja, Chefs, die meine Leistung nicht zu würdigen wussten. Vor dem Krieg war ich bei Beförderungen übergangen worden und deshalb in den Ruhestand getreten. Aber für eine Kommandostelle stand ich auf der Verjüngungsliste nicht weit genug oben, und die Präparate dafür fingen auch an, knapp zu werden, ehe sie zu mir kamen. Aber ich stand auf der Liste, verdammt.« Er rieb sein Kinn am Hemd, weil es ihn offenbar juckte.
»Hören Sie, muss ich das wirklich noch einmal alles runterhaspeln? Ihr wisst das doch alles. Ich war in meiner Loge ziemlich weit oben. Ich war Freimaurer, mein Dad war ebenfalls Freimaurer gewesen und sein Dad auch. Und das waren anständige Leute, ich habe ihnen vertraut und sie haben mir vertraut, aber dann seid ihr Typen von der Abwehr aufgetaucht …«
»Und haben Sie gekauft.«
»Na ja, ihr habt nach Clubs und nach Verbindungen und Geheimgesellschaften und all dem gefragt, und ich wollte helfen und alles …«
»Im Austausch für …«, lieferte sie ihm das Stichwort.
»Na schön, ja, ich war euch Typen ja dankbar, dass ihr ein Unrecht ausgeglichen habt, indem ihr die Beurteilung dieses selbstgerechten Arschlochs habt verschwinden lassen, okay? Und ihr wolltet auch ständig alle möglichen Albernheiten wissen, und jeder weiß, dass dieses paranoide Gerede, die Freimaurer seien eine Geheimgesellschaft, absoluter Quatsch ist. Jedenfalls wolltet ihr dann wissen, wo denn auswärtige Logenmitglieder unterkämen, wenn sie in die Stadt kamen. Und ich wusste das nicht, bloß dass ein jüngeres Logenmitglied glaubte, ich sei bereits so weit oben, dass ich es bereits wüsste, und sich verplappert hat. Na ja, und dann war ich schon ziemlich sauer, als ich hörte, dass da in meiner eigenen Loge unsaubere Dinge im Gange waren, von denen mir keiner etwas gesagt hatte.«
»Und was, dachten Sie, dass wir mit dieser Information anfangen würden?«
»Hören Sie, ich habe darüber nicht nachgedacht, falls Sie das meinen. Ging mich ja schließlich nichts an. Was hatte die Loge denn schon für mich getan? Als ob die mir die Verjüngung für mich und meine Frau angeboten hätten, und außerdem hatten wir damals zuhause ziemlichen Ärger, und ich sollte sie ohnehin kriegen, jedenfalls war ich dankbar, dass ihr das Ganze beschleunigt habt. Aber über eure Beweggründe große Spekulationen anzustellen stand mir ja schließlich nicht zu, oder?« Einen Augenblick lang wirkte er verwirrt, und er verstummte, blinzelte ein paarmal.
»Hey, wie kommt es, dass Sie einen Buckley haben und nicht etwa ein AID?«, fragte er.
»Die Verjüngung wäre doch für dieselbe Frau, die Sie jetzt gerade betrügen,, oder?« Ihre Handbewegung bezog das ganze Apartment ein.
»Hey, ich liebe meine Frau«, protestierte er, »aber aktive, dominante Männer waren nie für Jahrhunderte der Monogamie geschaffen. Das ist etwas, was Frauen einfach nicht an uns Männern verstehen, falls Sie begreifen, was ich damit meine. Wir Männer sind schließlich das, was wir sind. Aber ich liebe meine Frau. Und Sie haben mir immer noch nicht gesagt, weshalb Sie kein AID haben.« Das sagte er mit der selbstgefälligen Miene eines Menschen, der es raffiniert geschafft hat, plötzlich die Oberhand zu bekommen.
»Sie sind schon wirklich ein armseliger Wicht, oder? Ich stelle hier die Fragen.«
»Augenblick mal, da brauchen Sie nicht gleich pampig zu werden. Ihr habt mir immer den Ausweis gezeigt, ehe …«
Sie sah, wie seine Gesichtszüge erstarrten, als schließlich der Groschen fiel und seine Lippen sich zusammenpressten. Was für ein totaler Schwachkopf. Ein ganzes Team wegen dieses Idioten verbrannt, wegen ihm und den anderen Schwachköpfen, die versucht haben, ihre Fehler im Einsatz zu vertuschen, indem sie ihn rekrutiert haben.
»Ohne Ausweis sage ich jetzt kein Wort mehr«, erklärte er.
»Natürlich werden Sie das«, erklärte Cally im Gesprächston, »denn wer auch immer ich bin, ich bin immer noch dieses verdammt unangenehme Miststück, das Sie an einen Stuhl gefesselt und einen Dämpfer aufgestellt hat.«
»Hey, Baby, es gibt Schlimmeres, als von einer schönen Frau gefesselt zu werden«, feixte er.
Cally war so schnell aufgesprungen und hatte ihm zwischen die Beine getreten, dass er es kaum wahrgenommen hatte, ehe er die Besinnung verlor.
Unglücklichweise hörte sie, gerade als er wieder zu sich kam, ganz schwach durch das Dämpfungsfeld die Türklingel und eine Stimme, die etwas rief, was möglicherweise wie »Akropolis Pizza« klang. Sie funkelte Petane an.
»Au.« Er zuckte zusammen, blickte auf die Türglocke und versuchte vor ihr wegzukriechen, so weit der Stuhl das zuließ.
»Verdammte Scheiße. Muss denn heute alles schief gehen?« Sie zog ein paar Taschentücher aus der Aktentasche und knebelte ihn schnell, zerrte den Stuhl in die Küche. Als sie schließlich die Tasche hinter der Tür versteckt, ihre Geldbörse herausgezogen hatte und zur Tür gegangen war, wusste sie nicht, ob es ein zweites Mal geklingelt hatte.
Die Augen des Pizzamannes erfassten ihr zerzaustes Haar und ihr leicht verschmiertes Make-up, und er zog sofort den falschen, wenn auch für sie jetzt durchaus bequemen Schluss; seine Augen funkelten wissend, als er auf seinen Lieferschein sah.
»Ich habe eine Pizza für ›Charles‹ an diese Adresse. Das wären dann vierundfünfzig siebenundneunzig.«
Sie zog ein paar Geldscheine heraus und gab sie ihm und lächelte leicht benommen. »Danke.«
Sie sah ihm nach, wie er vor sich hin pfeifend die Treppe hinuntereilte. Sie behielt ihr Lächeln im Gesicht, bis sie die Tür verschlossen und neu versperrt hatte.
»Okay, Arschloch, wir machen weiter.« Sie schob ihr Gesicht auf fünfzehn Zentimeter an das seine heran. »Oh, und lassen Sie sich bloß nicht in den Sinn kommen, dass ich jemals auch nur in Betracht ziehen würde, mich irgendwie mit Ihnen einzulassen. Das sollten Sie wirklich nicht. Ist das klar?«
Er nickte schnell.
»Bitte, nicht noch einmal treten. Ich … ich … und zwingen Sie mich bloß nicht zu reden und bringen Sie mich auch nicht um, ja? Diese Typen sind brutal. Freimaurer können Sie nicht sein und von der Abwehr schätze ich auch nicht, also weiß ich nicht, wer oder was in drei Teufels Namen Sie sind, aber diese Typen kennen keine Gnade. Soweit mir bekannt ist, bin ich der Einzige aus dieser Loge oder von den ursprünglichen Abwehrheinis, der noch am Leben ist. Bitte, Lady, Sie können mir zwar wehtun, aber ich kann Ihnen unmöglich etwas sagen, sonst ist das mein Tod. Bitte, bringen Sie mich nicht um.« Er fing an zu zittern.
»Ich wünsche mir sehnlich, dass sich das alles anders entwickelt hätte, aber ich kann es nun nicht mehr ändern. Über dreißig Jahre lebe ich jetzt und habe jeden Tag gehofft, den nächsten Tag noch zu erleben. Wenn Sie mir wehtun oder mich umbringen, dann kann ich Sie nicht daran hindern, aber bitte, bitte, tun Sie’s nicht.«
Ihr langsames Klatschen durchbrach die Stille, die ein paar Augenblicke, nachdem er zu Ende gesprochen hatte, eingetreten war.
»Damit sind Sie jetzt etwa dreißig Jahre zu spät dran, Colonel. Wie viele Leute haben in diesen dreißig Jahren Ihretwegen den nächsten Tag nicht mehr erlebt? Wissen Sie das überhaupt? Wie zum Teufel haben Sie je die Grundausbildung geschafft?« Sie schnitt ihm das Wort ab, ehe er etwas sagen konnte. »Nein, geben Sie keine Antwort, sonst muss ich mich vielleicht übergeben.« Sie griff in die Tasche und holte ein mit einem Reißverschluss verschlossenes Päckchen heraus.
»Schauen Sie, ich bin es leid, mit Ihnen rumzualbem — mir reicht es jetzt.« Sie holte eine Injektionsspritze heraus. »Sind Sie immun gegen Natrium-Pent, Colonel? Mal sehen.«
Sein Blick erinnerte sie an einen verängstigten Cockerspaniel, und sie seufzte, als sie ihm eine Injektion in den Arm gab.
Drei Testspritzen später fand sie ein Verhörpräparat, gegen das er nicht immun war. Es war eines der Standardpräparate, zu denen Fleet Strike Zugang hatte.
»Was denn, die hatten nie vor, Ihnen etwas wirklich Geheimes zu sagen, wie? Was für ein wichtiger Mann.«
Das Verhör dauerte drei Stunden. Normalerweise hätte sie während der Arbeit nicht gegessen, aber irgendwie musste sie die Pizza ja loswerden, und da sich im Magen der Freundin nichts davon finden würde, hatte es auch keinen Sinn, ihm welche aufzuzwingen. Die Pizza war ein Problem, aber falls davon je etwas herauskam, würde sie ohnehin an einem anderen Ort ein anderes Gesicht tragen. Manchmal konnte man da einfach nichts machen. Herrgott, dass heute auch alles schiefgehen musste.
Schließlich hatte sie aus Petane so viele Informationen herausgepresst, wie er in seinem Gehirn hatte. Wie Robertson gesagt hatte, war nichts davon von einer Größenordnung, die es gerechtfertigt hätte, einen Verräter dreißig Jahre am Leben zu lassen. Und wenn niemand im Establishment von Fleet Strike sich die Mühe gemacht hatte, ihn gegen die Verhördrogen höheren Niveaus zu immunisieren, würde man ihm auch nichts anvertrauen, was wichtig genug war, um wirklich nützlich zu sein. Er war nicht wachsam genug, um abzulehnen, als sie ihm einen der unmarkierten Weinkartons anbot, und trank durstig aus dem Glas, das sie einem der Schränke entnommen hatte.
Zeit, hier sauber zu machen. Meine Meinung über Team Hector ist jetzt wirklich auf dem Tiefpunkt. Dass die das mitgemacht haben! Eine andere Spritze in dem Päckchen enthielt eine winzige Menge eines Farbstoffs, der sich biologisch schnell abbaute, aber bei geschicktem Einsatz sehr echt wirkende Nadelspuren hinterließ.
Unglücklicherweise baute sich das Präparat nur dann richtig ab, wenn das Subjekt noch lebte, also musste sie sich sein Wimmern anhören, während sie ihm mehrfach in die Venen stach und jeweils eine winzige Menge von dem Zeug injizierte. Als sie das auf der Schule hatte üben müssen, war das alles andere als erfreulich gewesen. Ihre Nervosität gegenüber Nadeln hatte ihr das genommen, aber der Farbstoff brannte ziemlich.
Als sie genügend Stiche angebracht hatte, um überzeugend zu wirken, wartete sie fünf Minuten und fesselte ihm dann die Hände und die Füße aneinander statt an den Stuhl. Die Wirkung der Verhörpräparate ließ jetzt nach, aber er stand immer noch hinreichend unter Drogen, um wenig Widerstand zu leisten, als sie ihn sich über die Schulter legte und ihn ins Schlafzimmer trug. Für ihre aufgewertete Muskulatur stellte sein Gewicht kein Problem dar, aber seine Größe war hinderlich — insbesondere weil er nicht völlig reglos war und immer wieder zuckte.
Im Schlafzimmer tat sie die geschmacklosen, aber notwendigen Dinge, derer es bedurfte, um den Schauplatz für die Leute von der Gerichtsmedizin vorzubereiten, und gab ihm dann seine abschließende Injektion, bereitete ein zweites Glas mit den Lippenspuren der Freundin und mit Schlafmittel versetztem Wein vor und stellte die beiden Gläser auf den Nachttisch neben das Bett. Den Inhalt des zweiten Weinkartons spülte sie in den Ausguss und hatte dann zwei saubere, leere Behälter für den Küchenabfall.
Sie war dabei, den diversen Müll — gebrauchte Plastikfesseln, Knebel, Spritzen — beiseite zu schaffen, als sie plötzlich das unerwartete Bedürfnis verspürte, ins Bad zu eilen. Sie übergab sich heftig in die Toilette und fluchte halblaut vor sich hin, als sie sich nachher das Gesicht mit Toilettenpapier säuberte und sich vergewisserte, dass jeder noch so winzige Rest des unwillkommenen Beweismaterials gründlich hinuntergespült worden war. Anschließend schrubbte sie noch die Toilettenschüssel aus. Dass die Freundin für ihren Besuch ein wenig sauber gemacht hatte, würde durchaus plausibel sein und daher nicht auffallen.
Genau der richtige Zeitpunkt für eine Darmgrippe. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich das letzte Mal krank war. Und schwanger bin ich ganz sicher nicht, Gott sei Dank. Sie kehrte in die Küche zurück und setzte ihre Säuberungsarbeiten fort.
»Du kannst mit der Aufzeichnung aufhören, Buckley. Lege es unter … sagen wir mal ›Hector-Archiv‹ ab.«
»Jetzt müssen wir uns beeilen, oder? Nicht, dass es viel Sinn hätte.«
»Nein, Buckley. Ich bin hier praktisch fertig. Du kannst die KI Emulation auf Stufe zwei zurückstellen.«
»Aber … aber … aber … na schön …« Der Buckley verstummte. Wenn die Dinge gut liefen, war er nie sonderlich begeistert.
Vor elf zu Hause. Cally sah auf die Uhr und nahm sie vom Handgelenk. Für eine Solomission war das zumindest gar nicht schlecht.
Die Aktentasche mit all dem belastenden Beweismaterial wanderte mit ihr ins Motelzimmer, genau nach Vorschrift, falls keine Crew zur Verfügung stand. Sie würde sie selbst tragen, wenn sie morgen Meldung machte, und sie der Reinigungsabteilung übergeben. Äußerst gründlich hatte sie darüber nachgedacht, wie sie sich ihren Vorgesetzten gegenüber äußern würde, falls die Schwierigkeiten wegen ihres Urlaubs machen sollten, und war zu dem Entschluss gelangt, es auf die harte Tour zu machen. Sie wollte über die Prioritäten reden, die es ermöglicht hatten, dass ein Verräter, der den Tod eines ganzen Agententeams verursacht hatte, nach seinem Verrat noch jahrzehntelang am Leben geblieben war. Das sollte ein guter Anfang für das Gespräch sein.
Sie schminkte sich langsam ab und fühlte sich eigenartig müde. Nun ja, das ist absolut und endgültig und ohne Frage die letzte Position auf meiner »Besser tot«-Liste. Ich hatte eigentlich gedacht, dass Worth das wäre, aber okay, dann war es eben Petane. Halleluja. Irgendwie werde ich das feiern müssen. Sie schüttelte den Kopf, wie um Klarheit in ihre Gedanken zu bekommen, und holte sich ein sauberes Nachthemd. Keine Lust, noch mal auszugehen? Ich? Anscheinend braut sich da wirklich etwas in mir zusammen. Na ja, da ist früh zu Bett gehen wohl am besten.
Beim Umziehen betrachtete sie sich im Spiegel und fuhr sich mit der Hand durch die braunen Locken. Bis morgen um diese Zeit würden die vermutlich weg sein. Sinda Makepeace hatte so platinblondes Haar und einen derart hellen Teint, dass sie wie ein typisches schwedisches Skihäschen aussah. Es kam selten vor, dass sie eine Tarnidentität mit hellerer Farbe annahm. Jetzt fang ich gleich wieder an zu brüten. Du liebe Güte, ich muss wirklich müde sein. Auf ins Bett. Sie griff sich einen Waschlappen, ohne darüber nachzudenken, und klatschte ihn auf den Nachttisch, schaltete den Wecker und anschließend das Licht ab.
Am nächsten Morgen wäre sie gern noch ein wenig liegen geblieben. Es war ein so wunderschöner Traum gewesen. Sie hätte schwören können, tatsächlich eins der köstlichen Conch-Omelettes zu schmecken und sogar ein Stück frischen Key Lime Pie. Sie hatte auf Moms Schoß gesessen, und Dad hatte gerade ein frisches Glas Limonade hereingebracht, frisch gepresst und eiskalt.
Das Eis in der Limonade war nicht das einzig Kalte. Reflexartig griff sie nach dem Waschlappen und wühlte sich aus den verschwitzten Laken; diese stanken nach saurem Schweiß. Hastig streifte sie ihr Nachthemd ab, ließ es mit dem Laken auf dem Boden liegen und ging in die Dusche, um heiß zu duschen und dabei warm zu werden. Puh. Anscheinend war das Fieber. Ich hasse es, krank zu sein.
Dienstag, 21. Mai
Nachdem sie aus dem Motel ausgecheckt hatte, holte sie ihr Handy heraus und wählte eine Nummer. »Ich brauche ein Taxi.« Sie gab die Adresse an.
Als das Taxi kam, ließ sie ihren Koffer und den Rucksack im Kofferraum ihres Wagens und nahm nur die Aktentasche sowie ihre Handtasche mit. Der Taxifahrer redete kein Wort mit ihr, bis sie vor einer Münzwäscherei anhielten.
»Neben der Toilette hinten ist eine Feuertür. Kümmern Sie sich nicht um die Tafel wegen des Alarms. Steigen Sie hinten in den Lieferwagen«, sagte er und tippte an etwas, das neben ihm auf dem Sitz lag. Vielleicht war es der Bildschirm eines PDA.
»Danke.« Sie gab ihm ein reichliches Trinkgeld und schenkte ihm dazu ein Lächeln, obwohl die Uhr offensichtlich nicht gelaufen war.
Die einzige Person in der Münzwäscherei blickte nicht einmal auf, als sie eintrat und gleich darauf hinten wieder hinausging. Handelte sich hier wohl um ein Viertel, in dem es nicht üblich war, sich um andere Leute zu kümmern.
In der Seitengasse stand ein Lieferwagen und daneben eine stämmige Frau in einem grauen Overall, die die hintere Tür des Lieferwagens aufhielt. Sie sagte nichts zu Cally, wartete bloß, bis sie eingestiegen war, und schloss dann hinter ihr die Tür. Die Schachteln im Laderaum des Wagens, offenbar voll irgendwelcher Haushaltsgegenstände, waren alle festgezurrt, um nicht herumzurutschen, und Cally war den Unbekannten, die den Lieferwagen beladen hatten, für diese Aufmerksamkeit dankbar. Es war gerade noch genug Platz, um sich hinzusetzen.
Bei den Agenten der oberen Ränge war bekannt, dass die Bane Sidhe im Bereich Chicago einen Stützpunkt hatte, eine Art Mini-SubUrb. In diesem Fall bedeutete »bei« eine Fahrt von ungefähr zwei Stunden. Heute dauerte sie länger, und als der Lieferwagen schließlich langsamer wurde, abbog, wieder anfuhr, anhielt und dann ein paarmal vor und zurück fuhr, taten ihr alle Knochen weh, und sie war froh, dass die Tortur endlich ein Ende genommen hatte.
Als dann die Tür hinten geöffnet wurde, wäre ihr nichts lieber gewesen, als sich auf ein paar Stunden in eine heiße Badewanne zu setzen, aber zunächst suchte sie ein kleines Büro, dicht neben dem unterirdischen Parkplatz, auf. Sie reichte die Aktentasche und ihre Autoschlüssel einem Mann undefinierbaren Alters mit grauem Haar und einer riesigen Nase.
»Marty, ich brauche die volle Prozedur für Tasche und Inhalt.« Sie schnappte sich einen Stift und kritzelte eine Adresse sowie Marke und Kennzeichen ihres Wagens auf einen Block auf der Theke. »Der Wagen ist ebenfalls schmutzig und muss heute abgeholt werden — er steht auf einem Motelparkplatz. Sie können die Kleider in der Mülltüte im Koffer sauber machen, aber den Rest der Kleider und den Rucksack mit Inhalt möchte ich zurück. Wie geht’s Mary?«
»Gut, sehr gut. Was haben Sie denn getrieben! Ich wusste gar nicht, dass Sie im Einsatz sind.«
»Zufallsziel. Hatte keine Zeit für eine komplette Vorbereitung. Tut mir Leid. Ich weiß, dass die improvisierten Jobs schwieriger sind. Wie geht’s Sue und Cary?«
»Sie hat diesen Frühling ihre Abschlussprüfung gemacht. Hat sich ’nen anderen Job als ich oder ihre Mom gesucht. Ich weiß nicht, was das Mädchen an den Maschinen hat, aber alle sagen, sie sei eine Künstlerin. Und von dem Jungen habe ich diese Woche einen Brief bekommen. Anscheinend ist er dahinter gekommen, dass es wirklich eine gute Idee ist, auf das zu hören, was einem die Nonnen sagen.«
Cally erwiderte sein schiefes Grinsen.
»Ist das alles?«, fragte er und tätschelte ihr die Hand, als sie nickte. »Hier sind Sie jetzt sicher, Süße. Machen Sie sich’s bequem und versuchen Sie alles zu vergessen.«
Sie loggte sich in einer der Kurzzeit-Suiten ein und bereitete ihr Bad vor. Bis sie aus der Wanne stieg, sollte ihr Koffer mit ihren persönlichen Habseligkeiten angekommen und im Zimmer aufgestellt sein. Sie stellte das »Nicht auspacken«-Schild auf die Kommode und ging ins Bad. Die Organisation hatte Verständnis für die Gefühle von Feldagenten ohne feste Wurzeln und hielt deshalb immer ein ganzes Sortiment persönlicher Gegenstände für sie bereit. Ganze Apartments für Agenten vorzuhalten, die möglicherweise nie von einem Einsatz zurückkehren würden, verbot sich aus Kostengründen, und deshalb wurden die persönlichen Habseligkeiten in einer Art modernem Äquivalent von Übersee-Koffern aufbewahrt, die in die Suite der Agenten gebracht wurden, wenn diese auf dem Stützpunkt eintrafen, und anschließend wieder in die Lagerräume zurückgebracht.
Cally wusste es zu schätzen, auf dem Stützpunkt ihre eigenen Kleider und Habseligkeiten zur Verfügung zu haben, zog es aber vor, sie selbst auszupacken oder auch im »Koffer« zu lassen anstatt sie wiederholt von Fremden, geschweige denn von Freunden oder Bekannten anfassen zu lassen.
Sie ließ sich ihr Mittagessen aufs Zimmer bringen. Wenn sie die Cafeteria aufsuchte, würde sie zweifellos auf Bekannte stoßen und mit ihnen reden müssen. Genauer gesagt, sie würde Cally O’Neal sein müssen, und dazu war sie noch nicht ganz bereit. Und das war ein untrüglicher Hinweis darauf, dass sie dabei war, irgendetwas auszubrüten und deshalb nur für alle Fälle dem Arzt eine Visite abstatten sollte. Bloß dass ihr eigentlich gar nicht danach war. Vielleicht würde ein langes, heißes Bad und anschließend eine Stunde im Fitnessstudio und früh zu Bett gehen alles wieder in Ordnung bringen. Es hatte ja schließlich keinen Sinn, einen Arzt wegen etwas so Trivialem wie einer Magenverstimmung zu belästigen, und möglicherweise waren diese nächtlichen Schweißausbrüche ja bloß ein harmloses Fieber. Und im Augenblick hatte sie schließlich kein Fieber, bloß ein wenig müde war sie.
Im Bad goss sie etwas Badesalz aus einem Glas unter der Theke ins Wasser. Natürlich unparfümiertes Badesalz, da die Verwaltung ja nie wusste, ob der betreffende Agent im Zimmer männlichen oder weiblichen Geschlechts war, aber jedenfalls gut für die Entspannung. Die echte Dekadenz würde warten müssen, bis ihre eigenen Sachen eintrafen.
Sie nahm die braunen Kontaktlinsen heraus, sodass ihr aus dem Spiegel ihre eigenen blauen Augen entgegenblickten, als sie sich das Haar feststeckte und dabei etwas wehmütig eine Locke musterte. Nach der Dauerwelle und der Farbe würde sie jetzt nicht auch noch eine Blondierung anwenden, dann würde sie nämlich die nächsten paar Tage wirklich so aussehen, als hätte sie einen strohblonden Besen auf dem Kopf. Das würde warten müssen, bis sie ihr auf der Platte ihre neue Tarnung verpassten.
Voller Vorfreude griff sie sich den voluminösen weißen Frotteebademantel von dem Regal vor dem Badezimmer und hängte ihn innen an die Tür, ließ ihre Kleider einfach fallen und tauchte bis zum Kinn ins heiße Wasser ein.
Levon Martin sah in den Spiegel und musterte seine dunklere Haut und die dunklen Kontaktlinsen, fuhr sich mit der Hand über die in sein Haar einrasierten Muster und zuckte die Achseln. Er leckte sich die dünnen Lippen und holte einen Lippenbalsam heraus. Da das Wetter sich erwärmt hatte, sollte das bald kein Problem mehr sein. Er freute sich darauf, wieder seine eigene Haut zurückzubekommen, aber sein Erkundungsgang am Nachmittag in der Stadt hatte eine Tarnung notwendig gemacht. Das Gespräch, das ihm bevorstand, würde nicht viel Spaß machen. Er zog sich sein Golfhemd zurecht und vergewisserte sich, dass es ordentlich in seiner Hose steckte, ehe er das Zimmer verließ, hörte, wie das elektronische Schloss leise hinter ihm klickte, als er in den Flur der Basis Chicago trat. Der Expresslift am Ende des Flurs brauchte nicht lange, um ihn in den Verwaltungsoktanten der Urb zu bringen, wo er nur ein kurzes Stück durch einen Korridor gehen musste, bis er ein Vorzimmer betrat.
Der Mann hinter der Empfangstheke befand sich nicht dort, weil man ihn brauchte, um Termine oder Formulare zu koordinieren, obwohl er beides tat, sondern weil die Zeit seines Vorgesetzten wertvoll war und er sich als dafür talentiert erwiesen hatte, diese Zeit vor unnötigen Störungen zu schützen.
»Martin, Team Hector. Ich bin zu früh dran.«
»Stimmt. Warten Sie einen Augenblick.« Der Mann stand auf, öffnete die Tür einen Spalt und murmelte etwas so leise, dass nur die Person auf der anderen Seite es verstehen konnte. Martin hätte es dank seines verstärkten Gehörs dennoch verstehen können, wenn er gewollt hätte. So wie die Dinge lagen, verzichtete er jedoch darauf.
»Sie können reingehen«, sagte der Mann. »Wir hatten gerade schon eine Unterbrechung, und da macht es nichts aus.«
Martin betrat das Büro, setzte sich und wartete, bis der jung aussehende Mann, der einer einigermaßen exzentrischen Neigung folgend immer noch einen Priesterkragen trug, von seinem AID aufblickte. Von seiner Seite des Schreibtischs aus war das Hologramm verschwommen.
Father Nathan O’Reilly galt offiziell als nicht verjüngt, sodass sein unglaublich guter Gesundheitszustand allmählich nicht mehr glaubwürdig geworden war, und hatte deshalb seinen Platz »innen« in der Erdbürokratie, die sich unvermeidbar entwickelt hatte, nachdem die Bane Sidhe den Kontakt mit ihren menschlichen Verbündeten wieder aufgenommen hatte.
Ihn »hereinzunehmen« hatte sorgfältige Planung erfordert und war recht riskant gewesen. Auf Gewaltanwendung zurückzuführende Todesfälle waren bei katholischen Priestern einigermaßen selten, und damals war es aus verschiedenen Gründen notwendig gewesen, dass mehrere Leute seinen Tod tatsächlich hatten bezeugen können. Das benutzte Präparat war das Produkt einer aufwändigen Kooperation zwischen den Indowy und den Krabben, eine Variante von Hiberzine ohne die äußerlichen Symptome dieses Präparats. Das Hauptproblem damit bestand darin, dass die Dosierung recht kompliziert war und sehr genaue Kenntnis des physischen Zustands des Patienten erforderte. Darüber hinaus hatten die Veränderungen, die die sichtbaren Symptome reduzierten, auch nachteilige Auswirkungen auf die Schlafeffizienz. Wenn die Dosis auch nur in geringem Maße nicht stimmte oder das Gegenmittel nicht innerhalb von zwölf Stunden gereicht wurde, war es möglich, dass der simulierte Tod in einem Ausmaß Wirklichkeit wurde, um selbst der Platte keine Änderungsmöglichkeiten zu lassen.
Das Präparat war so geheim, dass es nicht einmal einen Namen hatte, und wurde gewöhnlich in einer wasserunlöslichen Kapsel verpackt, die die Zielperson zerbeißen und schlucken musste. Die Zeitverzögerung erfüllte einen doppelten Zweck. Zum einen ließ sie der Magensäure des Patienten genügend Zeit, das Kapselmaterial völlig aufzulösen, zum anderen schloss sie jede Möglichkeit aus, dass ein genau hinsehender Beobachter etwa sah, wie der Patient die Pille nahm und gleich darauf »tot« umkippte.
Trotzdem hatte ihm das zehnprozentige Risiko, überhaupt nicht mehr aufzuwachen, ein hohes Maß an Vertrauen abverlangt, und auch die Nachwirkungen des Präparats waren nicht zu unterschätzen. Unter all diesen Umständen war er recht froh, dass er das Präparat nie wieder würde einnehmen müssen.
Gerade in Anbetracht der dezentralen Struktur der Bane Sidhe erforderte ein funktionierendes planetarisches Zellensystem ein gewisses Maß an zentraler Organisation. Basis Chicago erfüllte dieses Bedürfnis. Der Priester hatte das Kommando über den Stützpunkt gleich nach seiner Einrichtung übernommen. Die Bauarbeiten waren in einem zehn Jahre dauernden Projekt unter größter Diskretion abgelaufen und hatten es erforderlich gemacht, den Himmit dafür ein paar ausnehmend gute Storys zu liefern, um sie zu ihrer Unterstützung zu … ermuntern.
»Bildschirm aus«, wies er sein AID an. »Also, Levon, was haben Sie auf dem Herzen?«
»Einer meiner Agenten ist heute Morgen einem Herzanfall erlegen«, begann er.
»Oh, das tut mir aber Leid. Wusste man, dass er krank war?«
»Nein, im Gegenteil. Man hat ihn tot im Bett seiner Freundin gefunden. Eine vorläufige Untersuchung hat ergeben, dass der Herzanfall auf eine Drogenüberdosis zurückzuführen ist, die im Einklang mit dem Drogenproblem des Agenten steht.«
»Wussten wir von seiner Drogenabhängigkeit?«
»Nein, Sir. Tatsächlich hatte er offenbar auch der Freundin Drogen verschafft, und auch ihre Drogenabhängigkeit war nicht bekannt. Sie erinnert sich an gar nichts. Die Ermittler sind übereinstimmend der Ansicht, dass er an ihr sexuelle Handlungen vornehmen wollte, denen sie bei vollem Bewusstsein vermutlich nicht zugestimmt hätte, und ihr deshalb Drogen verabreicht hat und selbst welche genommen hat, die seine Empfindungen verstärken sollten und die ihn getötet haben, ehe er diese Handlungen vollziehen konnte.«
»Davon glauben Sie selbst doch kein Wort.« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Der Priester winkte Martin aufmunternd zu.
»Interessiert es Sie, dass der Tote ein gewisser Colonel Charles Petane war und dass heute kurz nach elf Miss O’Neal hier eingecheckt und eine Tasche für die Reinigungsabteilung mitgebracht hat?«
Der Priester blieb einen Augenblick lang stumm und erwiderte dann würdevoll: »Angehörige der Priesterschaft der Heiligen Mutter Kirche enthalten sich unflätiger Sprache.«
»Das ist mir bewusst, Father.«
»Das galt auch nicht Ihnen. Raus damit. Was haben Sie sonst noch?«
»Eine Person, die der Beschreibung von Miss O’Neal bei ihrem Eintreffen auf der Basis entspricht, hat heute Morgen ein Motel in Chicago verlassen. Dasselbe Motel, wo Miss O’Neals Taxi sie auf dem Weg hierher abgeholt hat. Dasselbe Motel, von dessen Parkplatz die Reinigungsabteilung auf ihren Wunsch hin ein Fahrzeug und diverse persönliche Gegenstände abholen und reinigen soll. Der Name im Hotelregister lautete übrigens Marilyn Grant. Miss Grant war seit Freitagabend Gast des Motels. Solange sich dafür keine diskrete Gelegenheit bietet, werde ich das nicht mit Sicherheit wissen, vermute aber, dass ich beim Überprüfen von Bäumen und anderen wahrscheinlichen Stellen in der Umgebung des Hauses des verblichenen Colonel und des Apartments seiner Freundin Spuren des Klebstoffs finden werde, den wir üblicherweise dazu benutzen, um provisorische Überwachungskameras zu befestigen.«
»Lassen Sie es bleiben. Wenn sie damit durchgekommen ist, möchte ich keinen Verdacht erwecken, bei verspäteten Säuberungsarbeiten erwischt zu werden.« Er rief auf seinem AID die Petane-Akte auf und überflog sie kurz. »Falls sich herausstellt, dass da ein unsauberes Spiel gelaufen ist, war Petane hinreichend unbedeutend, dass eine Ermittlung nicht weiterführen wird. Wir wollen einfach hoffen, dass es als Überdosis und nicht etwa als ungelöster Mord in den Büchern bleibt.« Er kniff sich in den Nasenrücken und schloss kurz die Augen. »Ich bezweifle, dass sie die leiseste Ahnung hat, was für chaotische Folgen das wahrscheinlich bei unseren Indowy-Freunden haben wird.«
Er stand auf, ging um seinen Schreibtisch herum und schüttelte dem Jüngeren die Hand, als dieser sich erhob. »Vielen Dank, Levon. Das Weitere übernehme ich.«
Als der Agent das Büro verließ, hörte er, wie sein Vorgesetzter in knappen Worten seinem AID Anweisungen erteilte.
»Schaff mir schnellstmöglich Mike O’Neal senior her. Auch wenn du dafür eigens einen Shuttle schicken musst. Wenn möglich, sollte der Rest vom Team Isaac mitkommen, aber das darf seine Abreise um maximal zwei Stunden verzögern.«