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Das beliebteste Auto war in jenem Jahr ein kupferfarbener Ford Peregrine in Coupé-Ausführung. Danach kam der CM Smoker in Silber. Sie brauchte etwa eine Stunde, um bei einem Gebrauchtwagenhändler ein einigermaßen unauffälliges.45er-Modell des Letzteren mit Zulassung zu finden. Der Wagen roch ein wenig nach abgestandenen Pommes und Keksbröseln, und das erinnerte sie flüchtig an Hitze und eine grüne, großzügige Stadtlandschaft mit höheren Bäumen, hohen Fichten und Pappeln zwischen den Eichen, und sie griff sich, ohne sich dessen bewusst zu sein, an den Hals, weil sie ein seltsames Gefühl der Enge verspürte. Aber vielleicht lag das auch an dem Smog in der Stadt. Sie ließ es sich zusätzliche zehn Prozent in FedCreds kosten, dass der Verkäufer ein schlechtes Gedächtnis hatte und übersah, ihr provisorische Nummernschilder zu geben und stattdessen die alten dranließ. Gemächlich fuhr sie auf den Parkplatz eines Bürogebäudes und nahm sich die Zeit, sich in das Netz der Zulassungsbehörde zu hacken und die alte Nummer zu reaktivieren, ehe sie auf die 74 nach Indianapolis einbog. Gleich nach dem Tal ging die Stadt in Hügellandschaft mit Bäumen über, und man konnte grauweißes Sedimentgestein sehen, bei dem nicht ganz klar war, ob es sich um Ton oder weiches Felsgestein handelte. Formal gesehen hätten es auch Berge sein können, sie wusste es nicht. Jedenfalls kamen ihr die Hügel nach den Smokies entlang der I-40 nicht sonderlich hoch vor. Sie fuhr durch die Vororte von Cincinnati und rollte bald darauf durch die flachen Hügel von Ohio, wo gerade das erste Frühlingslaub herauskam.

Am Himmel waren fast keine Wolken zu sehen, und so hatte sie das Gefühl, unter einer gewaltigen blauen Kuppel dahinzurollen, die nur am Horizont etwas blasser wurde.

Selbst nach fast vierzig Jahren, die ich jetzt nicht mehr in Rabun Gap war, kommt mir das hier draußen alles so flach und eben vor. Kein Wunder, dass die Leute früher immer dachten, sie könnten über den Rand fallen. Vor der Stadt zerteilte die Straße endlose Meilen von Maisfeldern in große Quadrate dunklerer, grüner Pflanzen mit irgendwelchem flachem Zeug mit lächerlich kleinen Blättern dazwischen. Sie runzelte ein paar Minuten lang verblüfft die Stirn, ehe sie schließlich zu dem Schluss gelangte, dass es sich wahrscheinlich um Sojabohnen handelte.

Indianapolis wirkte beinahe surrealistisch, wie etwas aus der Twilight Zone, als hätte Tom Sawyer hier gelebt oder so, bloß ohne die weißen Staketenzäune — kleinstädtisches Amerika, wie Disney versucht hatte, es zu kopieren, was ihm aber nicht ganz gelungen war. Alles schien so rein und sauber, dass sie ständig damit rechnete, gleich an einer Reihe kleiner, sauberer Holzhäuser vorbeizufahren und dann beim Blick in den Rückspiegel zu erkennen, dass es sich um die falsche Fassade einer Filmkulisse handelte. Sie duckte sich unwillkürlich beim Fahren über das Steuer, als ob sie, wenn es wirklich einen solchen Ort gab, hier nichts verloren hätte.

Sie aß unterwegs etwas und hielt schließlich vier Stunden später an einem kleinen Hotel neben der US 30 an. Ein leicht metallischer Geschmack lag in der Luft, der vertraute Geruch von Sand, der aber einen Augenblick lang fremdartig wirkte, weil ihm sowohl die Salzluft von Charleston wie auch die schwüle Hitze jener Stadt fehlten und weil da buschige Bäume mit silbernem Blattwerk standen, die sie seit Kentucky immer wieder gesehen hatte. Mehr Busch als Baum, fand sie. Sie checkte ein und stellte den Wecker auf ihrem PDA, um früh genug wach zu werden, um am nächsten Morgen nach Chicago zu kommen und dort mit den ersten Ermittlungen zu beginnen.


Freitag, 17. Mai


Es war vier Uhr morgens, als sie elektronisch ihre Maut bezahlte, was eigenartigerweise anonymer war, als beim Barbezahlen an einem der Mauthäuschen fotografiert zu werden — was dazu geführt hätte, dass ihr Gesicht geradewegs ins Netz wanderte — und rollte auf die 80/94 nach Chicago. Sie hatte einmal gehört, dass das Vorkriegs-Chicago mautfreie Straßen gehabt habe. Heute waren alle wichtigen Verkehrsadern mautpflichtig, es sei denn, man hatte Diplomaten- oder Behördennummernschilder.

Selbst um diese frühe Stunde herrschte Verkehr, wenn auch nicht sonderlich dicht. Der dunstige Himmel ließ die Morgendämmerung flach und grau erscheinen. Sie konnte die Feuchtigkeit des Michigan-Sees riechen, obwohl die Lärmbarrieren und die Unfallschutzwälle den größten Teil der Umgebung verdeckten, sodass man eigentlich nur die Straße selbst sowie Heide und Binsen sehen konnte.

Das Profil sah vor, dass sie sich an der Ecke der Delaware/Michigan im Fleet Strike Tower einquartierte. Die meisten Geschäfte hatten noch nicht geöffnet, nicht einmal in der Innenstadt, aber in einem rund um die Uhr geöffneten Lebensmittelladen konnte sie sich ein Notizheft mit dem Aufdruck Art Institute of Chicago, einen Bleistiftspitzer sowie eine Schachtel Bleistifte kaufen. Sie brauchte keine Viertelstunde auf dem Parkplatz, um das Heft ein wenig zu zerfleddern, damit es einigermaßen benutzt aussah. Heutzutage konnte man sich sämtliche Lehrbücher downloaden, und ihr Skizzenblock wurde im ganzen Land verkauft — also konnte er von jeder beliebigen Kunstakademie stammen. Es dauert nicht lange, um sich elektronisch das augenblicklich gültige Buch über Kunstgeschichte zu besorgen, und damit war Marilyns Übertritt in das Art Institute nur umso realistischer.

Um sechs Uhr hatte sie den Wagen in einer Selbstparkergarage untergebracht und saß bei einer Tasse Kaffee an einem Tisch im Hof gegenüber dem Haupteingang des Fleet Strike Tower; sie beobachtete die Leute, die dort aus- und eingingen, und skizzierte gelegentlich eine der Personen in kubistischer Manier. Es gibt keine unauffälligere Art, Leute zu beobachten, als wenn man Künstler ist. Man erwartet von uns, dass wir Leute beobachten. Wer hätte gedacht, dass Schwester Theodosias Hobby sich im Laufe der fahre als so nützlich erweisen würde?

Aus Sicherheitsgründen war der Eingang am Nordteil des Tower der einzige, der ständig in Benutzung war. Da sie so früh dran war, war die Plaza fast leer, wenn man einmal von einem Sergeant von Fleet Strike absah, der sich eine Tasse Kaffee und eine Zigarette genehmigte und sein AID vor sich auf dem Tisch stehen hatte, vermutlich mit der Morgenzeitung. Gelegentlich forderte er es auf, umzublättern oder einen anderen Artikel zu suchen.

In den Geruch von frischem Kaffee und Gebäck mischten sich Auspuffgase, kalter Beton, Asphalt und der von morgendlicher Kühle. Das Rauschen des Springbrunnens überdeckte die Verkehrsgeräusche, aber jetzt, am Morgen, war es noch ruhig genug, dass sie das Schaben ihres Bleistifts hören konnte, während ihre Hände automatisch Schattierungen einfügten. Irisierende graue Tauben flatterten hoffnungsfroh auf den Granitfliesen vor dem Café herum, wichen gelegentlich einem Fußgänger aus und warteten auf die unvermeidlichen Brotkrumen, die sich mit der Frühstückskundschaft einstellen würden. Eine Hand voll Spatzen hüpften zwischen den Blumenbeeten rings um den Brunnen herum und huschten hie und da zwischen die Tische, um nach heruntergefallenen Brotkrumen zu picken, ehe sie sich wieder im dichten Grün versteckten.

Als er die Treppe herunterkam, war er trotz der Entfernung leicht zu identifizieren, seine US-Army-Uniform hob ihn deutlich von all den Fleet-Strike-Leuten ab, die das Gebäude betraten. Sie war bedacht, nicht direkt hinzusehen, um nicht auf sich aufmerksam zu machen. Petane war früh dran. Viertel nach sechs, und darüber hatte sie sich gewundert, als sie seine morgendlichen Bewegungsmuster überprüft hatte, bis er dann wieder in Joggingkleidung zur Tür herauskam und neben der Imbissbude auf der anderen Seite der Plaza die Treppe hinaufging. Sie gab sich Mühe, nicht gehetzt zu wirken, als sie ihre Abfälle vom Tisch aufhob — bezahlt hatte sie schon vorher drinnen — und die ihr näher gelegene Treppe hinaufstieg, dabei ihren Skizzenblock in den Rucksack steckte und auf der Seite des Drake-Hotels wieder die Straße betrat und dort an beiden Schuhen die Räder anklickte. Vor dem Krieg waren Rollsneakers eine Modeerscheinung gewesen. Sie hatte damals keine gehabt, erinnerte sich aber an sie — ganz vage freilich. Primitives Zeug mit langsamen Rädern. Jetzt konnte man das besser — diese Räder waren genauso gut wie die Standard Vierradschuhe, die man in den Läden kaufen konnte.

Sie war schnell genug, um ihm um den Block herum zu folgen, nicht zu nahe und nicht zu weit entfernt. Es konnte doch nicht sein, dass er zum Seeufer wollte. Das wäre zu einfach gewesen. Ein Jogger. Überleg mal. Er war tatsächlich einer. Vorbei an einem kleinen Baseball- und Tennisplatz, noch ein Stück weiter hinunter, die Treppe hinauf und über die Fußgängerbrücke. Da der See die weiteren Möglichkeiten einschränkte, konnte sie es sich leisten, auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu bleiben. Jetzt holte sie einen Helm und eine dunkle Brille aus ihrem Rucksack. Sofortige Anonymität. Ein Kaugummi aus einer Seitentasche des Rucksacks. Ohrstöpsel und ihr PDA am Gürtel erzeugten sofort die Illusion eines ganz in seiner eigenen kleinen Musikwelt aufgehenden Rollerblade-Babys.

Etwa nach einem Kilometer kam er über eine weitere Fußgängerbrücke zurück und bewegte sich allmählich über die Straßen wieder Richtung Turm.

Sie beschattete ihn aus den engen Straßen heraus und merkte sich seinen Weg. Er wird ja sicherlich jeden Tag eine andere Route nehmen … aber vielleicht auch nicht. Jogging ist für Idioten. Jogging, wenn man gefährliche Feinde hat, sogar für ganz gewaltige Idioten. Dies wäre der ideale Ort für eine Herzattacke, wenn ich ihn bloß umbringen müsste. Unglücklicherweise kann ich Robertsons Einschätzung, dass er eigentlich wertlos ist, nur dann bestätigen, wenn ich ihn vorher verhöre. Wenn ich ihn einfach auf der Straße umlege, wird man ihn vermissen. Muss mir was Besseres einfallen lassen.

Sie huschte rückwärts an ihm vorbei, auf den Weg, den er vermutlich einschlagen würde. Seltsam, aber die Leute hielten einen nie für einen Beschatter, wenn man vor ihnen war. Und wenn ihr Vorsprung zu groß wurde, wurde sie einfach am Schaufenster einer Boutique langsamer, sah sich die ausgestellte Ware an, ließ ihren Bubblegum knallen und Petane ein Stück aufholen. Einmal kamen sie an einem Parkhaus mit Parkhelfern vorbei, in dem Fahrzeuge mit Regierungsnummernschildern standen und aus dem Leute in Fleet-Strike-Uniformen kamen. Mutmaßlicher Parkplatz der Zielperson gefunden.

Als es sieben Uhr wurde, hatte er einen weiten Bogen geschlagen und war wieder an der Nordfassade des Tower eingetroffen. Sie ließ ihn an sich vorbeigehen und tauchte in der Menge hinter ihm unter, fuhr die Räder ein, stopfte Helm und Sonnenbrille in den Rucksack zurück, veränderte ihre Haltung ein wenig, schob die Ohrstöpsel in die Tasche und schluckte den Kaugummi runter. Schluss mit Rollerblade, Baby.

Die Bedienung des Coffeeshop war erfreut, ihr einen großen Cranberry-Saft und einen Apfelstrudel zu verkaufen, worauf sie sich wieder mit ihrem Skizzenblock beschäftigte. Sie plauderte ein wenig mit dem jungen Mann, der sie bediente und der gelegentlich herauskam, um irgendwelche Abfälle von den Tischen zu räumen, aber nur dann, wenn sie nicht gerade so tat, als sei sie mit ihrer Zeichnung beschäftigt. Die Zielperson verließ das Gebäude nicht zum Mittagessen. Entweder gab es in dem Gebäude eine Kantine oder dergleichen, oder er ließ das Mittagessen ausfallen oder besorgte es sich aus einem Automaten. Eine der drei Möglichkeiten traf wohl zu. Nicht, dass es ihr etwas ausgemacht hätte, sitzen zu bleiben und die anderen Uniformierten zu beobachten. Fleet Strike legte entweder großen Wert auf körperliche Fitness oder sie hatten Ärzte, die auf den Grundumsatz der Schreibtischtäter achteten. Eine ganze Menge dieser jungen — na ja, jung aussehenden — Männer hatten wirklich knackige Hintern.

Gegen zwei brachte sie ihren Wagen in das Parkhaus, das unmittelbar neben dem von Fleet Strike lag. Wenn es nicht Freitagnachmittag gewesen wäre, hätte sie nicht die geringste Chance gehabt, einen Platz in der Nähe der Treppe und des Ausgangs zu ergattern, aber an den Freitagen gab es immer Leute, die früher Feierabend machten. Zum Glück war die Halle praktisch leer, trotzdem sah sie sich sorgfältig um, als sie den Gitterzaun aufschnitt, der die beiden Parkdecks voneinander abgrenzte, und dann über die niedrige Betonmauer kletterte. Ein einzelner Agent würde unmöglich einen Wagen ohne irgendwelche elektronischen Hilfsmittel durch die Straßen Chicagos beschatten können. Wenn man nicht so nahe dranblieb, dass man auch leicht entdeckt werden konnte, würde einen der Verfolgte nach zwei Blocks verlieren, ohne sich auch nur Mühe geben zu müssen. Sie musste sich dreimal vor Parkhausangestellten verstecken, bis sie schließlich den Wagen fand, den ihr die Zulassungsbehörde von Illinois freundlicherweise als den auf ihre Zielperson zugelassenen benannt hatte.

Petane gehörte offenbar zu den Leuten, die an diesem Freitagnachmittag früher Schluss machten. Es war noch nicht ganz halb fünf, als er mit einer Sporttasche in der Hand herauskam und auf das Parkdeck zuging. Für sie hatte das den Vorteil, dass so früh am Nachmittag die Bürgersteige noch einigermaßen frei waren, was es ihr ermöglichte, ihre Räder wieder auszufahren und zwischen den Fußgängern durchzurollen, dabei hie und da auf eine Feuerwehrspur zu gehen und dort langsame Fußgänger zu überholen und wieder zu ihrem Parkdeck zurückzukehren, ohne durch zu auffällige Hast seine Aufmerksamkeit zu erwecken, ehe er das seine erreichte.

Sie zahlte am Automaten an der Ausfahrt und fuhr hinaus, aber jemanden solo zu beschatten war immer eine knifflige Sache. Manchmal hatte man gar keine andere Wahl als das Zielobjekt aus den Augen zu lassen, und manchmal verlor man es auch ganz. In dem Fall gab man sich natürlich dann alle Mühe, die Zielperson wieder einzufangen. Bei einem Einsatz wie diesem war es besser, ihn eine Weile zu verlieren als zu nahe an ihn heranzukommen und dabei zu riskieren, dass er einen entdeckte. Und im Übrigen hatte sie ja notfalls Hilfe zu erwarten. Sie sah auf ihren PDA, dessen Bildschirm einen großen roten Knopf zeigte. Wenn sie ihn verlor, brauchte sie bloß diesen Knopf zu drücken, dann würde seine Barke angepeilt werden. Sein Standort würde dann auf dem Stadtplan von Chicago angezeigt werden, den sie sich heruntergeladen hatte. So wie die Straße und das Garagengebäude angeordnet waren, war sie ohnehin auf Vermutungen angewiesen. Wahrscheinlich führte der Weg zu Standort B am besten westlich über den Lakeshore Drive, während sein Zuhause am besten auf östlicher Richtung über die 94 zu erreichen war. An einem Freitag war Standort B wahrscheinlicher. Sie hatte die Sonnenbrille wieder aufgesetzt und konnte das Gesicht daher leicht von der Ausfahrt des anderen Parkhauses abwenden, dabei aber weiterhin die herauskommenden Fahrzeuge nach Petanes Ford Arabian absuchen. Ihr Atem wurde ruhiger, als er am Steuer des feuerroten Sportwagens auftauchte. Das Logo mit dem sich aufbäumenden Pferd am Kühlergrill war nicht zu übersehen.

Die Verfolgung war nicht einfach, sie musste weit genug zurückbleiben, um von ihm nicht bemerkt zu werden, aber doch nahe genug, um ihn nicht zu oft aus den Augen zu verlieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Peilsignal entdeckt wurde, war zwar gering, aber nicht ganz zu vernachlassigen. Dass sie wusste, wohin ihn sein Weg führte, half natürlich. Die von Petane gewählte Route war offenkundig und direkt, eben das Verhalten eines Mannes mit festen Angewohnheiten, der sich sicher fühlt. Das Apartment. zu dem er fuhr, befand sich in einem Gebäudekomplex einer Vorstadt, in dem Angehörige der unteren Mittelklasse wohnten. Nachdem er das Gebäude betreten hatte, beobachtete sie es sorgfältig und wartete darauf, dass irgendwo Licht eingeschaltet wurde. Das war nicht unproblematisch, da es ja noch Tag war, aber eine andere Möglichkeit hatte sie nicht. Glücklicherweise schalteten die meisten Leute die Innenbeleuchtung schon ein, wenn das Tageslicht noch ausgereicht hätte, und Petane und die Person, mit der er sich traf, bildeten da keine Ausnahme. Nun ja, wahrscheinlich war das jedenfalls die richtige Wohnung. Ein guter Anfang. Der abendliche Stoßverkehr hatte noch nicht eingesetzt, und so konnte Cally den verlassenen Parkplatz nutzen, konnte unauffällig zum Gebäudeeingang hinübergehen und mit dem Körper den Türknopf abdecken, während sie das altmodische, noch mit einem Schlüssel zu sperrende Schloss knackte. Um die Wohnungsnummern in den richtigen Zusammenhang zu bringen, musste sie die Apartments im Erdgeschoss und im ersten Stock betrachten.

Als sie dann die Adresse hatte, war es ein Kinderspiel, durch die Hintertür bei der Telefongesellschaft die Telefone in Apartment 302 C ausfindig zu machen, die in Benutzung waren, und sie binnen Sekunden zu verwanzen. Trifft der Kerl denn überhaupt keine Vorsichtsmaßnahmen? Sie schaltete ihren PDA so, dass die Audioaufnahme auf einem Würfel gespeichert und in Echtzeit abgespielt wurde. Den Geräuschen nach zu schließen und da Petanes Vorname »Charles« war, hatte sie das richtige Apartment für seine Freundin. Sie rief ihre Notizen von der Kamerasuche auf. Es hat immer etwas leicht Obszönes an sich, einer Zielperson beim Vögeln zuzuhören. Okay, wie es aussieht, besucht er seine Freundin Montag, Mittwoch und Freitag. Vielleicht nicht so regelmäßig, aber jedenfalls scheint er ein Gewohnheitstier zu sein. Wenn ich die Freundin betäube und einen Geräuschdämpfer mitbringe, kann ich ihn hier verhören — offiziell wird man ihn erst dann vermissen, wenn seine Frau unruhig wird, und Fleet Strike bemerkt möglicherweise erst am nächsten Morgen etwas. Wenn ich noch mal nachsehe, nachdem ich nach dem Job sauber gemacht habe, verwandle ich mich in Sinda und bleibe auf dem Radar. Also Montag. Herzanfall. Freundin wacht etwas benommen auf, kann sich nicht richtig erinnern und findet neben sich eine Leiche. Kein schöner Tagesbeginn für sie, aber ein sauberer Hit, bei dem sie am Leben bleibt. Flunitrazepam und Alkohol für sie, ein Cocktail aus Viagra, Insulin und Koks für ihn, eine richtig nette, kleine Party. Zuerst werde ich mit dem Kotzbrocken sanft umgehen müssen, auf die freilich sehr geringe Chance hin, dass an dem Burschen mehr dran, ist als man auf den ersten Blick erkennen kann und er sich als der große Treffer erweist. Na ja, wir werden sehen.


Als er das Apartment verließ und nach Hause fuhr, folgte sie ihm, um sich seine Adresse aufzuschreiben, fand in der Nähe ein billiges Motel und zahlte dort im Voraus für drei Nächte bar. Sie richtete sich in dem Motelzimmer ein, stellte den Wecker auf vier Uhr früh und legte sich ihre Kleidung in Reichweite bereit. Einerseits hatte es wenig Sinn, ihn am Samstag zu beobachten, weil der Job bis Donnerstag erledigt sein musste. Wochenendmuster waren demnach nutzlos. Andererseits würde sie auf die Weise vielleicht zusätzliche Informationen gewinnen, die dabei halfen, seinen Wert als Informationsquelle zu beurteilen, und wenn es möglich war, konnte es ja auch nicht schaden, am Montag Zugang zu seinem Haus zu haben.

New Orleans. Mardi-Gras-Umzug, kein Krieg, keine Ausbildung, ein langes, freies Wochenende. Billige Plastikperlen, Hurrikane und ein jung aussehender Soldat von den Zehntausend, der so aussieht, als würde er viel Zeit an den Trainingsmaschinen verbringen. An dem Abend ist sie Lilly und lacht ihm ins Gesicht, versucht diesmal, nicht mitzugehen, aber das tut sie immer, und jetzt ist es Morgen, und er erzählt ihr schon wieder von seiner Frau, und versucht immer wieder aus dem Bett zu kommen und den Dreckskerl in die Eier zu treten, aber sie kann sich nicht bewegen und ist wieder im Überlebenstraining in Minnesota, und der Schnee fällt und fällt und fällt.


Samstag, 18. Mai


Sie hieb auf den Knopf, damit das lästige Piepsen aufhörte, und wälzte sich aus dem Bett, ließ das Licht ausgeschaltet, um ihre Nachtsicht nicht zu verlieren. So früh am Morgen war ihr Gesicht feucht und verklebt, aber noch nicht richtig nass. Eigenartigerweise konnte sie sich überhaupt nicht erinnern, wovon sie geträumt hatte. Aber das konnte sie nie, wenn sie mitten in der Nacht rausmusste. Die zu weiten Jeans, das T-Shirt und die Windjacke waren alle in mittleren Grautönen. Das Baumwollhalstuch, das sie sich in die Tasche steckte, war einmal schwarz und weiß gemustert gewesen, aber seit sie es ein paarmal mit dunkler Kleidung gewaschen hatte, in ein schmieriges Graubraun übergegangen. Die Rollsneakers mit dem Segeltuchoberteil hatten ihr Dasein hellblau begonnen, waren aber inzwischen eingelaufen und hatten sich einen soliden Überzug aus Schmutz und Staub zugelegt. Der Saum der Windjacke bedeckte den schwarzen Nylonriemen der grauen Gürteltasche aus Segeltuch, den sie sich um die Hüften schnallte.

Zuerst fuhr sie zu seinem Haus, parkte ein Stück entfernt auf. der Straße und joggte das letzte Stück. Die Kamera zu platzieren bedeutete eigentlich nur, die kleinen grauen Punkte, halb so groß wie ein Zehncentstück, auf Infrarotsendung über kurze Distanz zu stellen. Sie benutzte das Display ihres PDA, um sie anzuordnen, und befestigte sie mit Klebemasse. Als sie dann auf das Ziel eingestellt waren, genügte ein leichter Druck auf einen Button, um sie auf Aufzeichnung zu schalten. Ein halbes Dutzend von den Dingern waren auf die Garage der Zielperson sowie auf strategische Punkte an Bäumen und Verkehrszeichen eingestellt. Gleich darauf saß sie wieder im Wagen und war zum Apartment seiner Freundin unterwegs. Inzwischen zeigte die Uhr halb sechs, und allmählich ging das Grau des frühen Morgens in Rosa über, als sie auf dem Parkplatz des Wohnblocks ein paar Kameras an Bäumen und Stangen anbrachte und sich dabei sorgfältig nach Frühaufstehern umsah — so etwas konnte man selbst an einem Samstag nicht ausschließen. Irgendjemand musste immer arbeiten, und einmal war sie gezwungen, abzubrechen und ans Ende der Gebäudereihe zu joggen und wieder zurück, ehe sie zwei Kameras auf die Tür und eine auf die Fenster des Apartments eingestellt hatte.

Ihre graue Kleidung passte zu einem morgendlichen Jogger, und darüber hinaus war sie natürlich ideal, um in der Dunkelheit oder im Zwielicht nicht aufzufallen, aber sobald es heller geworden war, würde sie mit solcher Kleidung auffallen, die für eine Studentin mit einem Funken Selbstachtung einfach zu düster war. Glücklicherweise hatte sie ihre Arbeit jetzt verrichtet und somit ein paar Stunden Zeit, um zum Motel zurückzukehren und dort zu schlafen. Schließlich hatte es ja keinen Sinn, sich zu überanstrengen, solange das nicht erforderlich war.


Nach einem späten Frühstück fuhr sie zur East Chicago SubUrb, fuhr unter einem tiefblauen Himmel dahin, der sich in endlose Weiten zu dehnen schien und mit kleinen Wattewölkchen betupft war. Zwischen den gelegentlich auftauchenden zerbröckelnden Gebäuden am Straßenrand wuchsen Bäume und Unkraut. Im Krieg waren viele Gebäude verlassen worden, als die jungen Männer zum Militär und die alten Männer, die Jungs und die Frauen in die SubUrbs gingen und nie von dort zurückkehrten. Denn für jede Familie der nächsten Generation, die mutig genug war, um sich wieder an der Oberfläche anzusiedeln, entschied sich eine zweite für die Sterne und die Chance der Verjüngung.

Als sie sich der eigentlichen SubUrb näherte, drängten sich billige vorfabrizierte GalPlas-Häuser mit gepflegten Vorgärten und hie und da einem kleinen Gemüsefeld dazwischen um ein paar große Fabrikanlagen, wo die Angestellten und Arbeiter, die auf ihren zweimal täglichen Busfahrten aus der Urb und zurück die Oberfläche gesehen hatten und sie allmählich neu kolonisierten, stets auf der Suche nach Sonnenschein und frischer Luft waren.

Jede SubUrb hatte ihre »Straßen«-Korridore, wenn man wusste, wie man sie fand. Die Wartungsdatenspeicher lieferten einem die Information. Man brauchte bloß die heruntergekommenen Viertel zu suchen, in die sich die Leute vom Wartungspersonal nur ungern allein trauten. Aufgesprühte Graffiti bedeckten die Mauern, und die meisten Beleuchtungskörper waren herausgerissen, abgesehen von einigen wenigen, die man einfach brauchte, um nicht über die Müllberge in den Ecken zu stolpern. Öffentliche Komm-Stationen waren Vandalismus zum Opfer gefallen, nicht zuletzt auch, um Verirrte davon abzuhalten, Hilfe anzufordern. Wenn Marilyn Grant wirklich allein hierher gekommen wäre, hätte man sie sicherlich auch als eine jener Verirrten betrachtet. So reichte ein einziger Blick auf Cally O’Neals Gesicht, um anderes Raubgelichter einen weiten Bogen um sie machen zu lassen, und dies in einer Umgebung, in der sich dank Darwin die Fähigkeit, Räuber und Beute voneinander zu unterscheiden, zu einer Kunst entwickelt hatte. Als sie an ein kleines Stück Korridor kam, dessen perfekte Beleuchtung wie ein Leuchtturm durch die Dunkelheit drang, wusste sie, dass sie gefunden hatte, was sie brauchte. Ein vielleicht zwölfjähriger Junge war völlig darauf konzentriert, ein Graffiti-Gemälde über das vorbehandelte GalPlas zu malen. Cally sah das Bild einer freundlichen Mutter, die auf einem roten Knautschsack saß und ihr Baby stillte, und ihre Augen wurden unwillkürlich feucht.

»Ist das jemand, den du kennst?«, fragte sie leise.

»Meine Mama und das Baby, ehe letztes Jahr die Grippeepidemie kam.« Er erschrak nicht, als Cally ihn ansprach, hielt es aber auch nicht für nötig, sich von seinem Kunstwerk abzuwenden. »Ich kenne dich nicht.«

»Nein, du kennst mich nicht. Ich bin von … draußen. Ich bin hier, um … einzukaufen.«

»Ein seltsamer Ort zum Einkaufen.«

»Da du hier wohnst, hatte ich gehofft, du könntest mir vielleicht sagen, mit wem man reden muss, wenn man ein paar Sachen kaufen will.«

Jetzt drehte er sich zu ihr um, und sie konnte das Kruzifix und eine Christophorus-Medaille sehen, die ihm über sein farbverschmiertes Hemd hingen. Vielleicht bildete sie es sich nur ein, dass er ein wenig enttäuscht wirkte, als er meinte: »Und bist du auch sicher, dass du hier einkaufen willst? Da gibt es anderswo bestimmt bessere Orte und auch bessere Sachen.«

»Ja, wahrscheinlich schon«, erwiderte sie und nickte, »aber ich habe da eine Liste, was ich kaufen soll.«

»Ich kümmere mich drum, Tony.« Ein ordentlich gekleideter junger Mann trat aus dem Schatten, und Cally sah ihn mit einem leichten Lächeln an. »Ich habe so das Gefühl, dass Sie vielleicht jemand kennen, der mir beim Einkaufen behilflich sein kann.«

»Könnte schon sein. Kommt ganz darauf an, was Sie wollen und wie es bei Ihnen mit Geld aussieht.«

Sie zog ein abgegriffenes Bündel FedCreds und Dollars heraus und zeigte es ihm, ehe sie es wortlos wieder in die linke vordere Tasche steckte.

»Yeah, wir können reden.« Er bedeutete ihr mit einer Handbewegung, ihm in das Zwielicht des Korridors hinter dem Wandgemälde zu folgen. »Überrascht mich eigentlich, dass Sie es ohne Schwierigkeiten bis hierher geschafft haben, noch dazu mit so viel Geld.«

»Ich habe gewöhnlich keinen Ärger, zumindest sucht er mich nicht.« Sie zuckte die Achseln, und ihr Blick schien in die Ferne zu wandern. »Das liegt wohl an meinem Gesicht.«

»Soll mir recht sein. Was wollen Sie denn kaufen?«

Sie verließ den jungen Mann mit wesentlich weniger Geld, dafür aber den nötigen Präparaten und Spritzen, einer kleinen Flasche Äther und ihrer teuersten Erwerbung, einem guten Luftreiniger — glücklicherweise inzwischen ein ziemlich alltäglicher Gegenstand für all diejenigen, die in einer Urb etwas … Sensitives brauchten. In der normalen Einkaufszone fand sie noch eine billige Heizplatte, ein paar Markerstifte, einen kleinen Mörser mit dazugehörigem Pistill, Salz- und Pfefferstreuergarnitur mit Schraubdeckel, ein paar Trinkgläser, eine Flasche Scheibenreiniger sowie eine Schachtel mit langen, hölzernen Partyzahnstochern. Damit war genügend gut versorgt, um zu ihrem Motel zurückzukehren und dort etwas zu kochen.


Es kostete ein wenig Fantasie und Geschick, um ihren Koffer, den Hotelwecker und die Gideons-Bibel aus der Nachttischschublade so anzuordnen, dass sie den Luftreiniger über der Heizplatte positionieren konnte. Sie zermahlte die verschiedenen Feststoffe, bis sie die entsprechende Konsistenz angenommen hatten, um sich in dem warmen Äther aufzulösen. Das erforderte einige Geduld. Ein paar weitere Flaschen aus ihrem Koffer lieferten einige Stoffe, die man in Petanes Kreislauf finden musste. Voilà. Sofortiger Hinweis auf Missbrauch. Gut für etwa zweiundsiebzig Stunden in Lösung. Wenn am Montag irgendetwas schiefgeht, werde ich frisch ansetzen müssen. Sie goss die Lösungen in einen der Salzstreuer, verklebte die Löcher im Deckel mit Isolierband und markierte beide — rot für sie, blau für ihn — stellte sie in den kleinen Kühlschrank und hängte anschließend das »Nicht-stören-Schild« draußen an den Türknopf. Zimmerservice konnte sie jetzt wirklich nicht gebrauchen, nicht wahr?

Sie machte sauber, verstaute die Sachen in der untersten Schublade der Kommode und stellte das Uhrenradio des Hotels neu ein, nachdem sie es wieder dort eingestöpselt hatte, wo es hingehörte. Erstaunlich eigentlich, dass es erst vier Uhr am Nachmittag war. Gerade genug Zeit, um einen Happen zu essen und sich ein schickes, neues Outfit zu kaufen — sie rümpfte die Nase angesichts der Falten, die ihre Kleider im Koffer bekommen hatten — ehe sie ausging. So, und wo kann ein Mädchen jetzt am Samstagabend in Chicago ein wenig Unterhaltung finden?

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