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Wilson, sein Assistent, hatte das Mobiliar erneut verändert. Um den niedrigen Tisch standen jetzt vier Sessel, zwei für Indowy und zwei für Menschen. Im Augenblick waren drei davon besetzt, und Wilson hatte gerade ein Tablett mit Kaffee und mineralisiertem Wasser hereingebracht. O’Reilly sah Aelool mit hochgeschobener Augenbraue an.

»Sollten wir auf Roolnai warten oder anfangen?«, fragte er.

»Ich denke, es wäre besser, wenn wir beginnen. Clanhäuptling Roolnai ist indisponiert. Ich werde ihn später über unser Gespräch informieren.« Seine grünen Pelzfasern — in Wirklichkeit ein photosynthetischer Symbiont — fächelten schwach im Luftstrom der Klimaanlage.

Vitapetroni und O’Reilly wechselten Blicke. Dann sah der Psychiater zu Boden und schüttelte leicht den Kopf.

»Also, Doktor, womit genau haben wir es hier zu tun?« Der Priester nippte vorsichtig an seiner Tasse. Wilson war in vielen Dingen ausgesprochen tüchtig und verlässlich, aber Kaffee gelang ihm unterschiedlich. Manchmal war er zu kalt, manchmal kochend heiß. Wenn man zu hastig trank, konnte einem leicht passieren, dass man sich die Zunge verbrannte.

»Sie ist normal. Nun ja, für das, was wir aus ihr gemacht haben, so normal wie das eben möglich ist. Sie ist überarbeitet und konzentriert sich zu stark auf ihre Aufgabe. Sie braucht dringend einen längeren Urlaub, um zu heiraten und Kinder zu kriegen. Aber davon abgesehen hat sie völlig im Einklang mit ihrer Ausbildung und ihrem Training gehandelt. Als Sie damals die Entscheidung über Petanes Sicherstellung getroffen haben, habe ich Ihnen gesagt, dass das zu Schwierigkeiten führen könnte. Miss O’Neal ist das, was wir aus ihr gemacht haben; sie hat nach den Regeln ihres Jobs gehandelt.« Der Doktor sah erst seine Hände an, blickte dann zu dem Priester auf und sah schließlich zu dem Aelool hinüber. Er zuckte die Achseln.

»Ich fürchte, dass dieses Beispiel eines erwartungsgemäß handelnden Menschen für meine Leute ein Problem sein könnte.« Aelools Augen blickten, wie es für seine Spezies charakteristisch, für ihn aber ungewöhnlich war, starr zu Boden.

»Miss O’Neal sagt, sie hätte den Mann nicht getötet, wenn sein Name entweder von der Zieleliste entfernt und nicht etwa nur wegen eines registrierten Todes deaktiviert worden wäre oder wenn er mehr als nur eine minimal wertvolle Informationsquelle gewesen wäre oder zumindest die Wahrscheinlichkeit hätte erkennen lassen, in Zukunft mehr als nur eine minimal wertvolle Informationsquelle zu sein. Ich neige dazu, ihr Glauben zu schenken«, gab Vitapetroni zu bedenken.

»Ja, Al, aber Tatsache ist und bleibt doch, dass sie ihn getötet hat, obwohl sie hinreichend Grund zu der Annahme haben musste, dass wir seine Tötung nicht wollten«, sagte O’Reilly.

»Die Wünsche und Bedürfnisse der Organisation sind für sie kein Regulativ. Das war eine sehr bewusste Entscheidung für alle Feldagenten ihrer Spezialität, mit der Zielsetzung, nicht dadurch die Effizienz von Agenten zu beeinträchtigen. Mit anderen Worten, wenn die Bane Sidhe eine Tötung anordnet und darüber unterschiedliche Ansichten herrschen, sollten diese unterschiedlichen Ansichten die Effizienz des Agenten nicht beeinträchtigen. Sie hat festgestellt, dass er nicht tot war, sie hat die Liste der Ermessensziele überprüft, sein Name befand sich auf ihr, und sie hat ihn getötet. Ebenso gut hätte sie eine Lenkwaffe sein können. Wir haben sie dazu ausgebildet, gewisse Befehle zu befolgen. Sie hat sie befolgt. Ohne ihre persönlichen Gefühle hätte sie sich um Klärung bemühen können. Das hätte sie wahrscheinlich auch getan. Aber ich kann nicht nachdrücklich genug darauf hinweisen, dass man unseren Auftragskillern einfach nicht sagen darf, dass sie jemanden töten sollen, wenn Sie diese Tötung nicht wollen«, erklärte der Doktor.

»Bei euch Menschen gibt es einen Satz, der hier möglicherweise zutrifft. Etwas von Anwälten, die Häuser schützen?« Aelool sah die beiden Menschen ernst, beinahe würdevoll an.

»Winkeladvokaten. Sie glaubt wahrscheinlich, glaubt tatsächlich, dass sie sich wie einer verhalten hat. Aber sie ist ausdrücklich dafür ausgebildet, einige der psychologischen Aspekte eben dieser Ausbildung nicht wahrzunehmen. Beispielsweise die Unterdrückung des traumatischen Traumzyklus. Sie stellt sich nie ernsthaft die Frage, weshalb sie keine Albträume hat. Ihr freier Wille, jemanden auf der Zielliste nicht zu töten, dem sie begegnete oder der zu ihrer Kenntnis gelangte und den sie töten konnte, ohne ihren Einsatz zu gefährden … nun, ich will nicht gerade sagen, dass dieser freie Wille nicht existiert hätte. Aber er war jedenfalls wesentlich weniger stark ausgeprägt, als sie das annimmt und er das auch offenbar nach ihrer Einschätzung war. Ich sage es noch einmal, meine Herren, man darf einem dieser Auftragskiller einfach nicht sagen, dass jemand Zielperson ist, wenn man nicht will, dass diese Person getötet wird«, betonte Vitapetroni.

»Team Hector wusste zwei Jahrzehnte lang über Petane Bescheid. Team Hector konnte offenbar der Versuchung widerstehen, ihn zu töten«, gab der Priester zu bedenken.

»Dem Auftragskiller von Team Hector hat man gesagt, dass Petane am Leben ist, und man hat ihm befohlen, ihn nicht zu töten«, erklärte der Doktor.

»Wenn ich mich richtig entsinne, hatten Sie uns gesagt, wir dürften nicht verlässlich erwarten, dass Miss O’Neal einen solchen Befehl befolgen würde und dass man sie vor der Kenntnis seines Status schützen musste«, erklärte Aelool.

»Ja, das habe ich. Sie hatte das Gefühl, gegenüber Team Conyers in einer Ehrenschuld zu stehen oder glaubte das jedenfalls, nachdem Team Conyers versucht hatte, ihr Leben zu retten, als sie das Ziel eines Attentatsversuchs war; und nachdem das Team auf der Seite der O’Neals gekämpft hatte, als die Posleen das O’Neal-Haus angegriffen hatten. Ich war nicht sicher, dass sie dem Befehl nicht gehorchen würde, aber ich war sicher, dass die Belastung, die seine Befolgung für sie bedeuten würde, eine erhebliche Gefahr für ihre mentale Stabilität sein würde.«

»Wir sind uns zwar stets bewusst, wie tief unsere Leute in der Schuld des O’Neal-Clans stehen, andererseits erfüllt es uns mit Besorgnis, dass dieses ganz spezielle Problem in jenem Clan schon früher aufgetreten ist. Obwohl es bis jetzt erst zwei solcher Vorkommnisse gegeben hat, ist der Clan doch so groß, im nicht menschlichen Teil der Bane Sidhe Besorgnis aufkommen zu lassen, dass wir hier möglicherweise den Anfang eines Musters erleben könnten. So sehr es uns mit Bedauern erfüllt, das Thema auch nur andeutungsweise anzusprechen, müssen wir uns doch fragen, ob wir nicht möglicherweise den Anfang einer Schwachstelle vor uns haben.« Aelools Augen blickten jetzt noch konzentrierter auf den Boden.

»Was interpretieren Ihre Leute denn als mögliche Schwachstelle? Es wäre hilfreich für uns, wenn wir nach Hinweisen suchen könnten, die diese Interpretation entweder bestätigen oder widerlegen. Wir müssten dazu zusätzliche Details über das Ausmaß Ihrer Besorgnis kennen.« Father O’Reilly sah Aelools Gesichtsausdruck und hatte alle Mühe, seine unbewegte Miene zu bewahren. »Bitte, Aelool, ich sage ja nicht, dass es keinen Grund zur Besorgnis gibt oder dass wir Ihre Besorgnis nicht in gewissem Maße nachempfinden können. Ich sage nur, dass es hilfreich wäre, wenn Sie die Besorgnis Ihrer Leute etwas detaillierter schildern könnten, damit wir auch ganz sicher sein können, nicht irgendwelche Feinheiten zu übersehen. Nur auf die Weise können wir gemeinsam daran gehen, Abhilfe zu finden und die Probleme zur Zufriedenheit aller Clans in der Bane-Sidhe-Allianz zu lösen.«

»Es ist sehr schwer, das in menschlichen Begriffen zu erklären. Es ist nicht etwa so, dass die Handlung eines Individuums oder einer kleinen Gruppe von Individuen zum eigenen Nutzen, aber gegen die Interessen des Clans als Ganzem meinen Leuten als unehrenhaft und illoyal erscheinen würde, obwohl es davon gewisse Untertöne gibt, und zwar in solchem Maße, dass uns das … ich glaube, das beste Wort in Ihrer Sprache wäre dafür geistesgestört vorkommt. Uns erscheint das so, als hätten wir gewalttätige, verrückte, unkontrollierbare Fleischfresser ans Herdfeuer des Clans selbst geholt.« Er hob beschwichtigend die Hand. »Es ist nicht etwa so, als würde ich die Menschen so sehen, aber Sie müssen begreifen, dass … bei Ihnen gibt es ein Sprichwort, das etwa so lautet, dass ›Knöpfe gedrückt werden‹. Es wäre nicht übertrieben, wenn man sagte, dass diese eine Handlung so ziemlich jeden Knopf drückt, den meine Spezies bezüglich des Umgangs mit Fleischfressern hat.«

»Okay, in Anbetracht der Kultur, der Biologie und der gesellschaftlichen Struktur Ihrer Spezies kann ich einigermaßen begreifen, dass Sie das so empfinden«, sagte Vitapetroni, »aber ich würde doch gern ein paar Feststellungen treffen, die wir vielleicht alle hier beachten sollten. Zum Ersten ist sie nicht unkontrollierbar. In diesem Fall haben die Kontrollsysteme versagt, weil sie nicht befolgt wurden. Zum Zweiten ist ihre Bereitschaft zu töten kein natürliches menschliches Verhalten. Jeder einzelne unserer Attentatsspezialisten ist sehr sorgfältig manipuliert worden mit dem Ziel, einen Menschen zu schaffen, der bei voller Zurechnungsfähigkeit imstande ist, auf Anweisung zu töten. Diese Manipulation muss mit größter Präzision geschehen. Zum Dritten hatte sie einen rationalen Grund, ihre Handlung als nicht gegen die tatsächlichen Interessen der Bane Sidhe als Ganzes gerichtet wahrzunehmen. Der einzige tatsächliche Schaden, der dabei angerichtet wurde: dass es die Leute in Verlegenheit gebracht hat, die es unterlassen haben, neuerdings die Entscheidung, Petane am Leben zu lassen, zu überprüfen. Zum Vierten handelt sie immer noch völlig im Einklang mit den festgelegten Kontrollparametern und hat im Laufe von über dreißig Jahren der Bane Sidhe viel mehr Nutzen als Schaden gebracht. Wenn die Bane Sidhe willens war, aus pragmatischen Gründen Petane zu halten und weiterhin zu nutzen, dann sollte sie in viel höherem Maße willens sein, weiterhin Cally O’Neals Ausbildung und Talente zu nutzen.«

»Diese letzte Feststellung kann ich dazu benutzen, um meine Leute davon zu überzeugen, dass es richtig ist, den nächsten planmäßigen Einsatz durchzuführen, insbesondere in Anbetracht seiner Bedeutung und unter der Voraussetzung, dass Sie mir versichern, es ist hochgradig unwahrscheinlich, Miss O’Neal werde bei diesem Einsatz die falsche Person oder falsche Personen töten. Das übergeordnete Thema der Loyalitätsstandards spricht Ihre Feststellung allerdings nicht an«, erklärte der Indowy.

»Bei allem Respekt, Aelool, wir werden das nicht genauso sehen wie Ihre Leute, weil wir, nun ja, weil wir nicht Sie sind. Wenn Ihre Leute von uns erwarten, dass wir, nun ja, Indowy sind, die man für gewaltorientierte Einsätze verwenden kann, werden Sie enttäuscht sein. Jede Lösung, die wir hier finden, wird die Unterschiede zwischen der Psychologie unserer beiden Spezies in Betracht ziehen müssen«, sagte Vitapetroni.

»Al, Sie sollen uns hier helfen.« O’Reilly seufzte.

»Das will ich auch. Ich bin kein Fachmann für Xeno-Psychologie, aber mir ist wohl bewusst und ich weiß auch zu schätzen, dass Loyalität für die Indowy so etwas wie eine Einbahnstraße ist. Hundertprozentig. Vom individuellen Clanmitglied für den Clan. Bei Menschen funktioniert das nicht so. Wenn die Indowy mit dieser menschlichen Eigenschaft nicht klarkommen können, wird diese Allianz nicht funktionieren. Sie dürfen einfach menschliche Mitglieder der Bane Sidhe nicht als Mitglieder Ihres Clans betrachten. Das würde zu … unrealistischen Erwartungen führen«, beharrte er.

»Uns ist sehr wohl bewusst, dass Menschen keine Indowy sind, vielen Dank.«

»Aber nicht bewusst genug. Andernfalls hätten Ihre Leute verstanden, dass es sich bei der Loyalität ›von oben nach unten‹, also der von der Organisation zum Individuum, nicht etwa um irgendein exzentrisches Detail der Etikette handelt, sondern um etwas beim Umgang mit Menschen in einer Organisation entscheidend Wichtiges. Man hätte dann Petanes Status überprüft. Dafür, dass das nicht geschehen ist, nehme ich einen Teil der Schuld auf mich. Ich hätte nicht von einem höheren Maß an wechselseitigem Verständnis ausgehen dürfen, als tatsächlich vorhanden war. Ich hätte Sie ausdrücklich über die organisatorischen Gefahren informieren sollen, die die Petane-Entscheidung mit sich brachte, konkret gesagt, die Gefahren, die darin lagen, die Entscheidung nicht periodisch zu überprüfen, um festzustellen, ob es immer noch gerechtfertigt war, den Mann weiterleben zu lassen. Dieser Teil, mich also nicht zu vergewissern, dass Sie diese Notwendigkeit begreifen oder dass unser Stützpunktkommandant hier sich nicht darüber im Klaren war, dies unbedingt thematisieren zu müssen, ist meine Schuld.« Der Psychiater klopfte sich mit der Hand auf die Brust.

»Und würden Sie dann sagen, dass es unsere Schuld war, Sie nicht zu verstehen?« Aelools Hand, die das Glas hielt, spannte sich.

»Keineswegs. Ich würde sagen, dass wir gelernt haben, einander besser zu verstehen. Wie wir das herausgefunden haben, war nicht gerade angenehm.« Er verzog das Gesicht. »Ich will ja nicht wie ein Gehirnklempner klingen, aber ich denke, beide Seiten müssen ein wenig darüber nachdenken, wie diese Erkenntnis künftig unser Verhalten beeinflussen soll.«

»Oder die Übereinkunft selbst«, seufzte der Alien.

»Das haben wir verstanden. Zugleich ist es aber möglich, dass wir diese Erkenntnis dazu nutzen können, um künftig unsere gemeinsamen Ziele besser zu verfolgen, ohne dass sich ein solcher Vorgang wiederholt«, gab der Priester zu bedenken.

»Ja, das ist möglich. Ich hätte gerne die Unterstützung des Doktors, um sämtliche Einzelheiten und Verästelungen zu erforschen und sicherzustellen, dass wir auch nicht die kleinste Kleinigkeit übersehen haben. Unterdessen glaube ich, dass ich den Fall angemessen präsentieren kann, insbesondere wenn man bedenkt, wie dringend dieser ganz spezielle Einsatz ist und wie gut die Typenübereinstimmung zwischen Miss O’Neal und Miss Makepeace ist, um diesen Einsatz weiterzuführen. Anschließend …« Er sprach nicht zu Ende.

»Ich bin Ihrer Ansicht. Die anderen Themen können wir besprechen, nachdem Team Isaac in Einsatz ist.« O’Reilly nickte.

»Ich denke, wir müssen alle unsere Hoffnung darauf setzen, dass dieser Einsatz gut verläuft.« Der Gesichtsausdruck des Aliens war das Indowy-Äquivalent einer besorgt gerunzelten Stirn.


Mittwochmorgen, 22. Mai


Als ein Klopfen an der Tür ihr das Frühstück ankündigte, sah sie auf ihren Wecker. Halb acht? Puh. Sie schlüpfte in ihren Morgenrock, trottete zur Tür und rieb sich die Augen. Mit gründlich ausschlafen wird wohl nichts. Die wollen mir klar machen, dass ich in Verschiss bin. Mir egal. Der Mistkerl hat den Tod verdient — selbst wenn er bloß ein armseliger Wicht war.

Sie öffnete die Tür und trat verblüfft zurück, als ihr Großvater mit dem Tablett ins Zimmer trat. Es enthielt ein Gedeck für zwei, mit Pfannkuchen, Spiegeleiern, gebratenen Würstchen, Orangensaft und Kaffee. Es duftete himmlisch, besonders nach einem Abendessen, das aus zu schwach gesalzenen Pintobohnen und Mais-Tortillas bestanden hatte.

»Okay, vielen Dank. Aber … warum? Gestern hatte ich den Eindruck, du bist echt sauer«, sagte sie.

»Bin ich auch. Ich bin echt sauer darüber, dass du dich von diesem Job auffressen lässt. Der Kerl, den du umgebracht hast, war ein Arschloch ohne jeden Wert. Dass er gestorben ist, ist vermutlich völlig ohne Belang, ganz gleich, wie man es auch sieht. Ja, er hat es verdient zu sterben, aber wahrscheinlich hätte es auch niemandem geschadet, ihn leben zu lassen.« Er klopfte auf seine Tasche und wollte schon den Tabak herausziehen, sah dann aber auf das Tablett und schüttete stattdessen Sirup über seine Pfannkuchen.

»Ich kann’s einfach nicht glauben, dass du so etwas sagst. Team Conyers hat schließlich auch deinen Hintern gerettet, als die Posleen den Pass heraufkamen. Bedeutet dir das denn gar nichtsHerrgott, das klang ja richtig schrill. Ich bin doch nie schrill.

»Na klar. Ich finde, die hatten beschissenes Pech, dass sie so jung gestorben sind …«

»Umgebracht wurden!«, fiel sie ihm ins Wort.

»Yeah, das kommt in diesem Geschäft über kurz oder lang immer mal vor. Und ich kann dir jetzt gleich sagen, dass ich nicht möchte, wenn mich mal irgend so ein Mistkerl oder auch ein Rudel Mistkerle erwischt, dass du jemanden umbringst, den man dir nicht ausdrücklich zu töten befohlen hat, bloß weil du glaubst, das mir schuldig zu sein. Du hast durchaus meinen Segen, dafür zu plädieren, dass jemand, der daran beteiligt war, kalt gemacht gehört, und kannst meinetwegen auch den Einsatz übernehmen, wenn er befohlen wird, aber ich möchte nicht, dass du so etwas noch einmal tust. Ich glaube auch nicht, dass Team Conyers das gewollt hätte«, fügte er hinzu.

»Das willst du. Wir werden nie wissen, was die gewollt hätten, weil die nämlich tot sind und das wegen eines beschissenen Verräters, der jetzt selbst tot ist.« Sie konnte immer noch wütend darüber werden.

»Du wirst jemandem, der in der Hierarchie über dir steht, die Entscheidung darüber überlassen, wer tot sein soll, sonst frisst dein Job dich bei lebendigem Leib auf. Du brauchst ein eigenes Leben, sonst frisst dein Job dich bei lebendigem Leib auf. Du hast kein eigenes Leben außerhalb deines Jobs, Cally, und das macht mir mehr als Sorge. Es bedrückt mich. Ich bin schon lange Zeit Profi, ich habe andere Profis erlebt, ich habe erlebt, wie dieser Job Menschen in Stücke reißt und dann einfach ausspuckt, und wenn du es nicht schaffst, dir irgendwie ein sinnvolles Leben außerhalb deiner Arbeit aufzubauen — und das bald! -, wird es dir genauso ergehen.« Er rieb sich die Stirn, als ob er Kopfschmerzen hätte.

»Hör mal, wie wär’s, wenn wir jetzt essen würden, ehe der Kaffee kalt wird?« Sie nippte an ihrer Tasse, verzog das Gesicht und rührte Maissirup und Sahne hinein.

»Schon gut. Schau mal, ich bin nicht nur deshalb hierher gekommen, um dir die Hölle heiß zu machen. Der Einsatz läuft, und das bedeutet, dass wir morgen unsere Einsatzbesprechung abhalten müssen. Du kannst mich jetzt entweder sofort ins Bild setzen, und dann übernehme ich die Information des Teams, oder du kannst das selbst übernehmen. Dein Stubenarrest ist aufgehoben und logischerweise hast du auch wieder Computerzugang«, erklärte er.

»Was, einfach so?« Sie musterte ihn ungläubig.

»Oh, es wird natürlich irgendeine formale Entscheidung oder einen Abschluss oder so etwas geben, wenn wir zurückkommen, aber für den Augenblick haben die entschieden, dass dieser Einsatz viel zu kritisch ist, um ihn abzubrechen, und es ist auch viel zu spät, ihn jemand anderem zuzuteilen.«

»Okay«, nickte sie.

»Okay? Hattest du vor, dich auf die Ersatzbank setzen zu lassen, oder was sollte das?« Er wirkte wütend.

»Du weißt doch, was das sollte, verdammt! Komm mir jetzt nicht mit Psychogebrabbel, Grandpa.« Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee.

»Ich spreche nicht davon, dass du Petane getötet hast. Ich spreche davon, wie du das getan hast — ohne eine Überprüfung anzufordern. Wolltest du denn auf die Ersatzbank?«, fragte er erneut.

»Oh, selbstverständlich nicht.« Sie fuhr sich mit den Fingern durch die braunen Locken und verzog das Gesicht. »Schau mal, der letzte Einsatz war ziemlich stressig, und vielleicht hast du ja mit dem Recht, was du da von wegen eigenes Leben redest. Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen, okay? Und sobald wir zurück sind, ich meine, wenn die Bosse mich dann nicht erschießen oder so, werde ich richtigen Urlaub nehmen. Einen echten, meine ich, einen, in dem ich keinen töte, okay?«

»Und dich nicht gerade in einer Bar nach einem Mann umsehen?«, fragte er.

»Hey, ich habe versprochen, Urlaub zu nehmen, aber nicht, dass ich mit der großen Liebe meines Lebens sesshaft werden und sechs Kinder auf die Welt bringen will, klar?« Sie sah erneut auf die Flasche mit dem Sirup, schüttelte dann aber den Kopf und aß ihre Pfannkuchen, ohne Sirup darüber zu schütten. Der Geschmack von Ahornsirup ging ihr im Augenblick auf die Nerven.


Vitapetroni trug sein Tablett mit dem Mittagessen in das kleine Nebenzimmer und schloss die Tür. Die Wände waren mit Werbeplakaten für berühmte Städte geschmückt, Plakaten aus der Vorkriegszeit. Er setzte sich so hin, dass er Paris den Rücken zukehrte, und ließ seine Augen über das Panorama von Venedig wandern, ehe er den jungen alten Mann auf der anderen Seite des Tisches ansah.

»Lisel, Wanzensuche, bitte.«

»Sehr gerne.« Die rauchige Stimme aus dem PDA des Doktors entsprach nicht gerade den Vorstellungen, die man von einem würdevollen Psychiater hatte.

»Die einzigen Wanzen hier sind ich und Mister O’Neals AID, und Susan würde uns sicherlich nicht belauschen«, meldete der PDA dann.

»Susan, hör nicht zu, bis ich wieder deinen Namen nenne«, befahl Papa O’Neal.

»Geht klar, Mike, wie wär’s, wenn wir beide uns auf die Bahamas verdrücken und du dort eine ehrliche Frau aus mir machen würdest? Schalte ab.« Dann herrschte Stille.

»Lisel, bitte abschalten.« Vitapetroni setzte sich.

»Aber sicher, Doktor«, schnurrte sie. »Wiedersehen.«

»Sie haben eine Lisel auf Ihren Buckley geladen? Führt das nicht häufig zu Abstürzen?«, fragte Papa O’Neal.

»Ich hab die Emulation ganz runtergeschaltet. Hab einfach kein Vertrauen zu künstlicher Intelligenz. Ich weiß, dass unsere AIDs und Buckleys sauber sind, es ist nur … wissen Sie, Xeno-Geschichte ist eines meiner Hobbys, und ich habe für die Betrachtungsweise der Indowy durchaus Verständnis.« Er aß ein Stück seines Taco und schien sogar Geschmack daran zu finden.

»Aber auf Papier sind Sie nicht zurückgegangen?«, witzelte O’Neal.

»Ich habe gesagt, dass ich misstrauisch bin, nicht etwa Luddit.« Der Doktor holte ein kleines Fläschchen mit scharfer Soße aus einer Tasche und träufelte etwas davon auf sein Essen.

»Wissen Sie, Habanera Soße ist eigentlich Schwindel. Okay, Doc, es ist Ihr Groschen«, sagte er.

»Groschen? Jetzt weiß ich also endlich, wie alt Sie sind, Sie alter Knackerkollege.« Er kniff sich in den Nasenrücken. »Was Cally betrifft … und zuallererst möchte ich klarstellen, dass ich mit Ihnen als Callys Teamleiter spreche, nicht etwa ihrem Großvater. Die Vertraulichkeitsregeln lassen das eine zu, aber nicht das andere.«

»Ja, ich weiß Bescheid. Nur zu, sagen Sie, was Sie sagen müssen.« Er griff nach dem Fläschchen und goss ein wenig in seine Chili-Schale.

»Es gibt da schon einiges, was ich nicht weitergegeben habe. Sie ließ nach dieser Tötung physische Anzeichen von Schuldgefühl erkennen.« Er schluckte und warf einen schnellen Blick auf die Tür. »Das könnte gut sein oder schlecht, je nachdem wie sie damit umgeht. Für den Einsatz ist sie wahrscheinlich okay, sonst hätte ich es erwähnt, aber … ich möchte, dass Sie ein Auge auf sie haben.«

»Ist das alles?« Er strich sich Butter auf einen Mais-Muffin, führte ihn halb zum Mund und blickte auf, wartete.

»Yeah, das ist es. Es hat wahrscheinlich nicht viel zu sagen, aber falls Sie vor Ort eingreifen müssen, psychologisch meine ich, sollten Sie das wissen.« Der Doktor gab etwas Pfeffer auf sein Maispüree.

»Und für welches Team sind Sie? Ich mag Charleston.« Papa O’Neal nahm einen Löffel Chili, überlegte einen Augenblick und goss dann noch mehr Soße drauf.

»Das ist reiner Lokalpatriotismus. Ich sage, Indianapolis wird die fertig machen.«

»Soll das ein Witz sein? Die Braves haben seit dem Krieg erst ein einziges Mal den Wimpel nach Hause getragen. Selbst meine arthritische Großmutter könnte die schlagen.« Er grinste.


Mittwochnachmittag, 22. Mai


Als Tommy Sunday in seiner Geburtsstadt Fredericksburg herangewachsen war, hatte er gerne Tacos gegessen. Dann kamen die Posleen, Fredericksburg ging unter, und Tommy wurde einer der Zehntausend und trat anschließend in die Gepanzerten Kampfanzüge ein — auch als GKA bekannt. Als Verpflegung hatte den Zehntausend gedient, was sie sich eben hatten beschaffen können, wobei die Auswahl vorzugsweise nach dem Nährwert und erst in zweiter Linie nach dem Geschmack erfolgt war. Später, bei den GKA, waren die Anzugrationen ordentlich gewesen, aber an Tacos kamen sie nicht heran.

Bevor er und Wendy »starben«, hatten sie es geschafft, einen beachtlichen Anteil ihrer FedCreds zu verstecken und später auf diskreten Konten zu investieren. Damit waren echte Tacos und eine ganze Menge anderer Dinge erschwinglich geworden, obwohl die Bane Sidhe nicht gerade großzügige Gehälter zahlte.

Er versuchte den Anflug von Enttäuschung zu verbergen, als er auf seinen Teller blickte. Das hier entsprach nicht ganz seiner Vorstellung von echten Tacos. Die Maistortilla war echt, ebenso auch die Bohnen, der Käse und das Gemüse. Aber Tofu mit der Struktur und dem Geschmack von Rindfleisch ließ einiges zu wünschen übrig. Unglücklicherweise war die Alternative Hühnchen, und nach Tommys fachmännischer Ansicht waren Hühnchen-Tacos noch schlimmer als Tofu-Tacos. Und seine Fleischration aß er dann lieber als gebratenes Hühnchen, statt es gehackt in seinem Taco zu sich zu nehmen und sich dann über den unvermeidlichen Tofu zu ärgern. Aber er hatte begriffen: Dass er und Wendy sich einiges leisten konnten, lag an den nach allgemeinen Maßstäben exorbitanten Gehältern, die die GKA im Posleen-Krieg bezahlt hatten und die seine Frau klug angelegt hatte. Dass sie außerdem beträchtliches Geschick im An- und Verkauf von Antiquitäten entwickelt hatte, tat dem nicht gerade einen Abbruch.

Nach der Posleen-Landung war in Fredericksburg das alte Hobby seiner damaligen Freundin, Recherchen in örtlicher Geschichte anzustellen … nicht mehr zu halten gewesen. Sie war in die Franklin-SubUrb umgezogen und hatte dort erfolglos versucht, in der Feuerwehr einen Beitrag zur Kriegsführung zu leisten. Dann war die SubUrb aufgefressen worden. Nachdem Wendy auch diesem Schicksal hatte entkommen können, war ihr Zutrauen zur Stabilität jeder beliebigen Stadt oder Ortschaft ernsthaft erschüttert gewesen. Als der Krieg dann zu Ende gegangen war und sie geheiratet hatten und sesshaft geworden waren, hatte sie ihr Interesse an der Geschichte auf Gegenstände konzentriert, die man leicht befördern konnte.

Nach der Rückkehr der Flotte hatte sie den organisierten Widerstand der Posleen durch gezielten Beschuss aus dem Orbit niedergekämpft. Und anschließend hatte es unendlich viel aufzuräumen gegeben.

Tommy hatte der Bravo-Kompanie des 555th unter Iron Mike O’Neal angehört — dem einzigen Sohn von Papa O’Neal. Und in den heißesten Schlachten des Krieges war die Bravo-Kompanie immer dort gewesen, wo es am heißesten hergegangen war.

In der Säuberungsphase war die Kompanie dank der überlegenen Beweglichkeit und Robustheit der Anzüge zu so etwas wie einer Dampfwalze geworden, die jeden überlebenden Gottkönig überrollt hatte, der auch nur den Versuch unternahm, eine Technologiebasis zu errichten.

So war Tommy schließlich nach fünf Jahren globaler Säuberungseinsätze entlassen worden, um zu seiner Überraschung festzustellen, dass das Geld, das er seit der Rückkehr der Flotte Wendy nach Hause geschickt hatte — hauptsächlich, um es ihr zu ermöglichen, nicht wieder in eine SubUrb ziehen zu müssen -, nicht nur angewachsen war, sondern sich effektiv verdoppelt hatte.

Nach dem Krieg hatte er sich als Programmierer betätigt, als die Erfahrung von Kriegsteilnehmern, die sich mit AIDs auskannten, eine wahre Modewelle ständig neuer und komplizierterer PDAs ausgelöst hatte. Das Gehalt war nur ein Bruchteil dessen gewesen, was er bei den GKA verdient hatte, aber trotzdem hatten er und Wendy nicht gerade von Hot Dogs und Erdnussbutter leben müssen. Bis ihn dann die Cyberpunks rekrutiert und die Bane Sidhe seinen und Wendys »Tod« arrangiert hatten und sie beide der Bane Sidhe beigetreten waren.

Seitdem hatten sie sein Gehalt mit sorgfältig ausgewählten Investitionen vermehrt. Die meisten Agenten hatten es da nicht so gut getroffen. Medizinische und zahnärztliche Versorgung waren unübertroffen, dagegen ließ die Verpflegung so manches zu wünschen übrig. Womit er wieder bei den lausigen Tacos angelangt war.

Tommy richtete sich auf, sah sich in der Cafeteria nach vertrauten Gesichtern um und grinste, als er Martin und Schmidt an einem etwas wackeligen runden Tisch in der Nähe der Kletterfeige in der Ecke sitzen sah. Zu Anfang seiner Tätigkeit hatte er gemeinsam mit Martin ein paar Ausbildungskurse absolviert, und die beiden hatten bald eine gemeinsame Vorliebe für Chili-Hot-Dogs und eine ziemlich obskure Filmkomödie aus der Vorkriegszeit entdeckt. Er hätte sich liebend gern an den äußerst durchschnittlich aussehenden Schwarzen angeschlichen und etwas Schlaues gesagt, aber es überraschte ihn überhaupt nicht, dass er nur die Hälfte des Weges unentdeckt schaffte.

»Was sind das für Leute, die im Film Strumpfhosen tragen?« Der Kopf des Mannes blieb nach vorne gerichtet, aber seine laute Tenorstimme hallte durch den ganzen Saal.

»Hey, Lips, Mann, ich weiß doch, was du magst.« Tommy grinste und trug sein Tablett zu dem runden Tisch, stellte es ab und schnappte sich vom Nebentisch einen Stuhl.

»Ihr werdet doch jetzt nicht irgendwelche verrückten Dinge mit euren Ellbogen machen, oder?« Schmidt war klein. Mit seinem einen Meter achtundsechzig und dem glatten, blonden Haar, das so aussah, als ob ihm jemand einfach zwei Hand voll Stroh auf den Kopf geklebt hätte, sah Schmidt nach der Verjüngung wie etwa vierzehn aus. In mancher Umgebung fiel ein Junge in einer Jeansjacke und einem ausgefransten Rucksack bei weitem nicht so auf wie ein Erwachsener.

»Bloß, weil du keinen Sinn für das klassische Kino hast, George …«

Levon hatte sich auf seinem Stuhl herumgedreht und Tommy die Hand hingestreckt, als der jetzt Platz nahm. »Hey, Sunday, wie geht’s denn?«

»Gar nicht übel. Tut wirklich gut, mal auf ein oder zwei Wochen aus dem Haus zu kommen«, räumte Tommy ein.

»Oh? Dabei hatte ich immer gedacht, du und Wendy wärt die typischen Jungvermählten«, sagte Martin.

»Wendy ist meine große Liebe, aber in dieser Phase ist sie immer ein wenig nervig. Sie wird froh sein, mich eine Weile los zu sein, und bis ich dann wieder zurück bin, ist sie wieder ganz die Alte«, sagte er.

»Mann, ihr beiden habt offensichtlich die reinste Wissenschaft daraus gemacht.« Schmidt blickte auf den wie ein T-Bone-Steak geformten Brocken Tofu. Er runzelte die Stirn, griff sich den Pfeffer und streute genügend darüber, um die unechten Spuren des Grillrosts zuzudecken, ehe er sich ein Stück abschnitt und dann mürrisch darauf herumkaute. »Verdammt, ich kann’s gar nicht erwarten, wieder ins Feld zu kommen.«


»Also anscheinend lassen die jetzt hier jeden rein.« Jay stellte sein Tablett ab und zog sich mit dem ausgestreckten Fuß einen freien Stuhl heran.

»Säbelmann! Dich habe ich ja ’ne Ewigkeit nicht mehr gesehen.« George grinste und streckte dem anderen die Hand hin.

»Säbelmann?«, fragte Tommy. »Weiß ich, was das soll?«

»Oh, auf der High School war Jay beim Borna Warrior unschlagbar. Ich habe nie kapiert, wie er das gemacht hat, aber damals, in der Unterstufe, war das, glaube ich, das coolste Spiel, das es in der Bibliothek gab.« George schüttete Maissoße über das Tofu-Steak.

»Ich kenne einen Typen, der daran gearbeitet hat. Du weißt schon, im sechsten Level, wo man um eine Ecke geht und einen plötzlich ein ganzes Rudel Fleisch fressender Mini-Lops überfällt? Das habe ich ihm empfohlen.« Tommy goss ein wenig Tabasco auf sein Taco, biss davon ab und würzte nach.

»Du warst das? Saucool fand ich das, aber hie und da hatte eines von diesen Biestern ein Klappmesser und war einfach nicht umzubringen …« Schmidt spießte mit der Gabel ein Stück Tofu auf. »Mann, ich kann’s nicht erwarten, wieder in den Feldeinsatz zu kommen.«

»Was? Ich wusste gar nicht, dass du so scharf darauf bist?« Jay schmunzelte ungläubig.

»Nicht das, Jay. Du musst doch zugeben, dass das Essen besser ist. Und was das andere betrifft, na ja, einer muss ja schließlich die Dreckarbeit machen. Die Bullen schaffen ja nicht weg, was die verdammten Elfen hinterlassen. Also bin ich so eine Art kosmischer Hausmeister.« Er grinste. »Du hast kein Problem, wenn Shari jemanden aus der Arbeiterklasse heiratet, oder, Alter?« Er sah Martin mit einer hochgeschobenen Augenbraue durch die Haarsträhne an, die ihm wieder über die Augen gefallen war.

»Dafür wär’s jetzt wohl ein wenig spät. Und trag mal von wegen ›alt‹ nicht so dick auf, wenn’s dir nichts ausmacht.« Levon nahm einen großen Bissen von seinem Cheeseburger und sah mannhaft darüber hinweg, dass er fast überhaupt kein Fleisch enthielt.

»Übrigens, tut mir Leid, wenn ich damit vielleicht jemanden auf die Zehen trete, aber wie sieht’s denn mit Cally aus? Ist ja unglaublich, was da für Gerüchte in Umlauf sind«, meinte George und sah dabei Tommy an.

»Keine Ahnung, Mann. Du weißt wahrscheinlich mehr als ich. Uns haben die bloß gesagt, wir sollten uns unsere Sachen schnappen und zusehen, dass wir den Shuttle erwischen.« Er schüttelte leicht den Kopf. »Ich habe sie nicht gesehen, und Papa O’Neal hat gesagt, wir sollten keine Fragen stellen. Und als er das sagte, hatte er seinen ›Kommt mir bloß nicht blöd‹-Blick.«

»Ah, irgendwie wird er das schon hinkriegen. Ich meine, sie ist schließlich eine O’Neal, weißt du?« Jay grinste, und wenn das Grinsen eine Spur unecht ausfiel — nun ja, schließlich machten sie sich alle Sorgen um ihre Teamkollegin. Und nicht nur, weil sie vielleicht diejenige im ganzen Verein war, die von allen am besten schoss.

Tommy wandte den Blick von seinen Teamkollegen und sah zu Martin hinüber. Er atmete tief durch.

»Ich habe gehört, dass du vielleicht eine ganze Menge darüber weißt, aber nicht damit rausrückst, Levon«, meinte er.

»Ja, das stimmt, und ich wünschte, es wäre nicht so. Seht mal, ich mag Cally. Ich respektiere sie. Ich würde sie jederzeit gern in meinem eigenen Team haben. Aber die letzten paar Jahre … ich weiß nicht, vielleicht arbeitet sie einfach zu viel. Schließlich haben wir das ja alle irgendwie kommen sehen.« Er schüttelte den Kopf.

»Entschuldigung? Was kommen sehen?« Tommys Stimme klang jetzt schärfer.

»Sunday, jetzt spiel du mir nicht den großen Bruder. Das Mindeste, was ich für sie tun kann, ist, es ihr zu überlassen, dir das selbst zu erklären. So viel bin ich ihr schuldig, und du übrigens auch«, sagte er.

»Dann bist du also ziemlich sicher, dass sie in ein paar Tagen wieder im aktiven Dienst ist und alles das?«, fragte Jay beiläufig mit vollem Mund.

Martin blieb eine ganze Weile stumm.

»Wenn sie das nicht ist, könnt ihr mich ja noch einmal fragen«, sagte er.


Donnerstagmorgen, 23. Mai


Tommy warf sich zur Seite, als der Typ im grauen Anzug auf ihn zielte und dann das volle Magazin seiner Pistole auf ihn verfeuerte. Er hatte Zeit, den Splint zu ziehen und eine Handgranate zu werfen — die Munition war ihm ausgegangen -, ehe der schnell absinkende Gesundheitsindikator ihm zeigte, dass er getroffen und am Verbluten war. Er erwischte den anderen, aber das war bereits in den »zehn Sekunden des toten Mannes« gewesen. Trotzdem schrieb der Computer ihm den Treffer gut, und, was noch wichtiger war, der Überfall war genauso erfolgt wie er das sollte, nachdem sein Hackfehler zuvor zu seiner Entdeckung geführt hatte. Die holographische Projektion des Spiels verblasste.

»Du bist tot, Mann.« Er spürte, wie Jay ihm auf den Rücken klopfte.

»Hübsche Sonnenbrille. Und ich soll das auch sein.« Bei einer Größe von zwei Metern und hundertvierzig Kilo Gewicht war Tommy Sunday nicht gerade klein. Trotzdem sah er, von seiner Größe einmal abgesehen, für einen Runderneuerten im ersten Jahrhundert ziemlich typisch aus. Das heißt, er sah aus wie zwanzig und das, obwohl er inzwischen erwachsene Enkelkinder hatte, die als Babysitter für seine und Wendys kleine Kinder fungieren konnten.

»Spielen wir noch ein Szenario durch?« Jay grinste vergnügt, als er sich neben seinem Teamkollegen auf einen Stuhl plumpsen ließ und die Füße neben Tommy auf den Tisch legte.

»Jo. Und nach dem grandiosen Mist, den ich vorher beim Hacken eines Systems gebaut habe, nun ja, da hatte ich zwar theoretisch noch eine kleine Chance, zu überleben, aber eigentlich hätte es meinen Hintern rösten müssen. Was ja auch der Fall war.« Tommy seufzte.

»Ah, was für Opfer man doch manchmal für die Qualitätskontrolle bringen muss.« Papa O’Neal holte sich einen Styroporbecher von dem Stapel neben der Kaffeekanne, zog einen kleinen Beutel aus der Tasche und biss einen frischen Priem ab.

»Ich habe das schon real durchgespielt. Und mehrere Male interaktiv. Jetzt will ich sehen, ob ich es knacken kann.« Der ehemalige GKA-Soldat zuckte die Achseln und beendete das Spiel, schob einen frischen Würfel in den Leseschlitz, als Cally hereinkam, um mit ihrer Unterweisung zu beginnen. Die braunen Locken verblüfften ihn nicht. Er hatte sie im Laufe der Jahre so ziemlich mit jeder vorstellbaren Haarfarbe und Frisur gesehen und fragte sich jetzt lediglich, ob die braunen Locken kamen oder gingen.

»Okay, Leute, das ist ein Anti-Spionageeinsatz vom Standardtyp. Wir haben Grund zu der Annahme, dass Fleet Strike über uns Bescheid weiß und dass man unsere Tarnung geknackt hat. Sie haben einen Mann eingeschleust. Deshalb ist dies eine Lagebesprechung in elfter Stunde, und weder ihr noch ich werden irgendwelche unüberwachte Kommunikation aufnehmen, und keiner von uns wird außerhalb dieses Raums oder mit irgendjemandem außer den hier Anwesenden über diesen Einsatz sprechen. Die Zahl der Personen in der Bane-Sidhe-Hierarchie, die Details über diesen Einsatz kennen, ist auf absolutem Minimum gehalten. Unser Auftrag besteht darin, die Identität des Lecks zu finden und es zu stopfen.« Sie drückte einen Knopf auf dem Bildschirm ihres PDA und rief damit ein Hologramm eines Mannes, scheinbar Anfang dreißig, in einer Generalsuniform von Fleet Strike auf — was bedeutete, dass er wahrscheinlich bereits seine zweiten hundert Jahre bekommen hatte.

»Dies ist General Bernhard Beed. General Beed ist mit der Aufgabe betraut worden, im Grunde genommen alles über uns in Erfahrung zu bringen, was ihm möglich ist. Er ist dabei, sein Hauptquartier auf der Titan Basis zu errichten, um dort die von Fleet Strike entwickelten und noch zu entwickelnden Abwehraktivitäten zu koordinieren. Nach außen hin ist sein Büro dort mit Kriminalermittlungen und der Leitung der Militärpolizei auf der Basis Titan betraut.« Sie tippte wieder an den Bildschirm, und das Hologramm wechselte und zeigte jetzt eine junge Göttin in der Uniform eines Captain.

»Und meine Tarnung, Sinda Makepeace.«

Scheiße, wirklich ein sagenhafter Busen. Und dann diese Gewichtsheberschenkel. Ich bin richtig froh, dass Wendy Cally nicht so zu sehen bekommt.

»Captain Makepeace befindet sich augenblicklich auf der Erde und soll diesen Sonntag um null acht eins fünf in Chicago O’Hare an Bord eines Shuttle zum Titan gehen. Nach der vorläufigen Planung soll der Austausch am Flughafen stattfinden. Ich gehe in einer Stunde auf die Platte.« Sie warf jedem von ihnen einen Würfel zu.

»Hier ist der Rest von dem, was die Oberen mir gegeben haben und was ich daraus entwickeln konnte. Tommy und Jay, ihr beiden müsst mir ein komplettes Profil über sämtliche Leute in diesem Büro beschaffen, einschließlich Stimm- und Bewegungsmuster für Makepeace. Grandpa, du solltest dich bitte um den Flughafen und die Titan-Basis kümmern, den Austausch planen sowie unseren Abgang, nachdem ich die Daten beschafft habe. Deine Tarnidentität ist ein Mannschaftsmitglied auf einem Systemfrachter, der Industriegüter zu den Läden im Geschäftsviertel bringt. Die örtliche Tong wird dich decken, weil du eine inoffizielle Ladung Verjüngungspräparate mitnehmen wirst. Wie es scheint, gibt es genügend Soldaten, die es sich so ziemlich jede Summe kosten lassen, Abnutzungserscheinungen von Verwandten etwas abzubauen. Selbstverständlich werden sie dich für die Präparate bezahlen — sie bekommen lediglich einen besonders guten Preis. Sie wissen nicht, weshalb du dich in der Umgebung der Titan-Basis aufhalten möchtest und wollen das auch nicht wissen.« Sie bemerkte, dass alle immer noch das Hologramm anstarrten, deshalb tippte sie den Bildschirm des PDA erneut an und sah, wie sie beim Verschwinden des Bildes blinzelten.

»Hat noch jemand Fragen? Nein? Sehr gut. Ich gehe jetzt in die medizinische Abteilung, wir sehen uns dann hier in drei Stunden wieder.« Sie griff sich ihren PDA und ging zur Tür.

»Äh … kleinen Augenblick, Cally«, rief Jay ihr nach und sah Tommy und Papa dabei an. »Ich wollte bloß sagen, und ich glaube, damit spreche ich für jeden hier: Wir alle sind froh, dass du mit uns auf diesen Einsatz kommst. Und ich bin auch sicher, dass ich für uns alle spreche, wenn ich sage, ich bin sicher, dass, nun ja, dass alles gut ausgehen wird.«

»Äh … vielen Dank, Jay.« Ihre Stirn hatte sich leicht gerunzelt, aber ihr Blick wurde wärmer, als sie sich umwandte und hinausging.

»Wirst du eine namenlose Pille bei dir haben?« Papas Stimme klang, als ob er das für eine sehr gute Idee hielte.

»Nein. Das Geheimnis dieser Pille ist mehr wert als ich. Und wenn die mich schnappen, könnten sie sie finden, und selbst wenn das nicht der Fall wäre, wäre die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass du innerhalb der Zeitgrenze an mich herankommst. Für meinen Geschmack ist das zu sehr wie eine Selbstmordpille. Ich habe nicht vor, mich erwischen zu lassen, aber wenn es dazu kommt, werde ich alles tun, was die Nonnen uns beim Survival-Training beigebracht haben. Außerdem würde die Zeit vermutlich gar nicht ausreichen, um eine Pille nach meinen neuen Werten herzustellen. Und offen gestanden, ich habe nicht vor, sie zu brauchen.«

»Wenn das nicht die kürzeste Einsatzbesprechung war, die ich je erlebt habe, müsste ich mich schwer täuschen.« Tommy starrte noch einen Augenblick auf die Tür, ehe er den Würfel nahm, den Cally ihm hingeworfen hatte, und ihn in den Leseschlitz seines AID steckte.

»Wollen wir doch zur Sache kommen«, meinte O’Neal und spuckte zielsicher in seinen Becher, während er eine Karte des Flug- und Raumhafens Chicago aufrief.

»Okay, ich fühle mich jetzt besser, seit ich sehe, was sie vorbereitet und uns übergeben hat. Cally hatte immer ein gutes Gefühl dafür, mit wie viel Hacken sie durchkommt.« Er ging zur Maschine und holte sich einen frischen Kaffee.

»Jay, du übernimmst die Deckung, ich besorge mir die Personalakten des restlichen Stabes.«

»Ich hätte das ungern vor Cally gesagt, aber der Captain ist schon verdammt gut gebaut«, meinte Jay beeindruckt.

»Ja, das schon, aber die Nase ist eine Spur schief, und sie wird immer Make-up brauchen, um ihre Augenbrauen dunkler zu machen und so«, bemerkte Tommy.

»Du hast tatsächlich auf Nase und Augenbrauen geachtet?«, fragte Jay ungläubig. Papa O’Neal schüttelte bloß den Kopf.

»Kurz. Ganz kurz«, grinste Tommy.

»Macht weiter, Leute. Ich muss noch etwas erledigen. Bin gleich wieder da.« Papas Blick war finster.


Silverton, Texas

Samstag, 25. Mai


Johnny Stuart war kein Morgenmensch. Unglücklicherweise hatte das Coburn-Mädchen den Vormittag frei, weil sie zum Zahnarzt musste, und Mary Lynn war wie die meisten Kinder Frühaufsteher. Deshalb saß er jetzt in einem zerwühlten Bett und rieb sich die Augen, während ihm eine Fünfjährige auf den Schoß kletterte.

Mary Lynn hatte dunkelbraune Locken wie ihre Mutter, aber Johnnys Gesichtszüge. Bloß dass sie an ihr besser aussahen. Nachdem seine Frau vor drei Jahren an Krebs gestorben war, hatten die Ärzte ihm gesagt, dass dieser Umstand das Risiko für Mary Lynn erheblich erhöhte. Mit Beziehungen hätte er es vielleicht geschafft, sich die neuen Präparate zu besorgen, um sie zu retten, aber Sue hatte nicht viel von Beziehungen gehalten, und der Krebs hatte sich plötzlich eingestellt, und ehe er etwas hätte tun können, war Sue tot, und ihm blieb nichts übrig, als sich um Mary Lynn alle Mühe zu geben. Er verstand nicht viel von den Zahlen, die der Doktor erwähnt hatte, schließlich war er auf der Schule nur bis zu Algebra gekommen, aber dass er es Sue schuldig war, nie in eine Lage zu kommen, in denen der den Seinen nicht helfen konnte, wenn sie krank waren, ganz besonders, wenn es um seine Tochter ging, war ihm sehr wohl klar.

Also war er daran gegangen, für die Leute mit den meisten Beziehungen zu arbeiten, die er finden konnte, und hatte sich bei ihnen den Ruf erworben, ein findiger Mensch zu sein, der bereit war, alles für sie zu tun, ganz gleich, was das erforderte. Häufig waren das Dinge gewesen, die außerhalb der normalen Regeln gelegen hatten. Aber ein Mann, der für die Seinen nicht ein paar Regeln brach, war kein richtiger Mann. Das war das Beste an seiner kürzlichen Beförderung. Wenn er es schaffte, das durchzuziehen und die verdammten Aliens dabei glücklich machte, würden er und Mary Lynn sich nie mehr Sorgen zu machen brauchen.

»Wie geht’s meinem Sonnenschein heute?« Er fing an, sie gnadenlos zu kitzeln, bis sie sich ihm schließlich entwand und vom Bett kletterte.

»Du bist albern, Daddy«, sagte sie. »Ich habe Hunger. Wo ist Traci?«

»Traci musste zum Zahnarzt, Sonnenschein. Heute Morgen sind bloß wir beide da, du und ich. Ich will uns Kaffee machen und nachsehen, ob ich irgendwo Cornflakes finde.« Er gähnte.

»Lucky Charms!« Sie rannte kichernd in Richtung Küche davon.

»Okay, ich glaube, wir haben noch welche«, rief er ihr nach und zog sich die schon ein wenig fadenscheinige Pyjamahose ein wenig höher, als er aus dem Bett stieg. Vielleicht sollte er sich mal einen neuen Schlafanzug kaufen. Er trottete in die Küche, machte Kaffee und holte zwei kleine Schüsseln heraus, während die braune Brühe aus der Kaffeemaschine tropfte. Er war eigentlich bloß nach Silverton zurückgekehrt, um seine Angelegenheiten dort abzuschließen und in Ordnung zu bringen. Die Beförderung bedeutete, dass sie nach Chicago ziehen mussten, und künftig würde er häufig reisen müssen. Das bedeutete, dass er Mary Lynn häufig allein lassen musste, und passte ihm gar nicht, aber schließlich war seine neue Tätigkeit zu ihrem Vorteil, und er würde sie künftig besser beschützen können. Das war hart, aber wenn sie älter war, würde sie das verstehen.

Mehrmals hatte er versucht, Traci Coburn dazu zu bewegen, mitzukommen, damit Mary Lynn sich nicht an einen neuen Babysitter zu gewöhnen brauchte, aber Traci hatte sich nicht von ihrer Familie trennen wollen. Das konnte er verstehen. Man musste schon recht kosmopolitisch eingestellt sein, um ebenso gut mit Stadtleuten wie mit solchen vom Lande zurechtzukommen. Und das musste man Johnny lassen, er kam wirklich gut mit Leuten zurecht. Der Trick bestand darin, ihnen das zu sagen, was sie hören wollten, mit möglichst wenig echten Lügen darunter. Das Talent dafür hatte er immer gehabt, aber in den Jahren nach Sues Tod hatte er sich wirklich Mühe gegeben und seine Fähigkeit zu einer echten Kunst entwickelt.

Er stellte Mary Lynn die Schüssel hin, setzte sich ebenfalls an den Tisch und rief auf seinem AID seine Vormittags-E-Mails auf. Auf Anhieb konnte er sehen, dass es heute ein wenig schwierig werden würde. Die Sekretärin des Tir wollte wissen, was er hinsichtlich von Worth’ Tod in Erfahrung gebracht hatte, und die nackte Wahrheit war, dass er sich darum zwar über eine Woche bemüht, aber praktisch nichts zu bieten hatte. Also würde er sich heute etwas einfallen lassen müssen, das vielleicht nicht exakt den Tatsachen entsprach, aber doch überzeugend genug war, um auszureichen, bis er wirkliche Erkenntnisse zu bieten hatte. Er schickte ihr kurz eine E-Mail und versprach, gleich Montag früh einen Bericht zu schicken. Sie länger hinzuhalten würde nicht gut sein.

Johnny war sich ziemlich sicher, dass es ein Auftragsmord gewesen war, aber er würde seinen neuen Job nicht damit beibehalten, dass er Offensichtliches wiederholte. Er brauchte etwas Greifbares, und zwar schnell. Vielleicht half es, sie ein wenig in die Irre zu führen. Schließlich starben die ganze Zeit Menschen. Wenn er nichts über Worth’ Tod finden konnte, dann vielleicht etwas über irgendjemand anderen, der auch tot war. Und dann würde er einfach behaupten, dass es eine Verbindung gab. Ob das wirklich zutraf oder nicht, war ziemlich egal. Paranoia zog immer, und wenn man sich nur genügend Mühe gab, konnte man alles mit allem in Verbindung bringen. Einige seiner besten Gerüchte hatte er nach diesem Prinzip aufgebaut. Außerdem, wenn er später auf etwas stieß, das dazu im Widerspruch stand, dann war das ja vielleicht eine echte Erkenntnis über diese Worth-Geschichte, und er würde dann einfach nur gute Arbeit tun. Und wenn er nichts Widersprüchliches fand, nun ja, dann würde das ja der Geschichte keinen Abbruch tun, oder?


Als Mary Lynn genügend von der großen rosa-schwarzen Hummel und den vielen lächelnden Kindern in Beschlag genommen war, die den ganzen Bildschirm einnahmen, klappte Johnny ein Tablett auf und ließ sein AID eine virtuelle Tastatur sowie einen Holoschirm projizieren. Er brauchte jetzt bloß jemanden zu finden, der einmal für die Darhel tätig gewesen und jetzt nicht mehr am Leben war, vorzugsweise jemand, der seit Worth’ Hinscheiden gestorben war, aber im Notfall auch vorher.

»Leanne, durchsuche die Datenbanken bitte nach Leuten, die für unsere Organisation gearbeitet haben, und nenne mir alle, die zwischen dem 9. Mai dieses Jahres und dem heutigen Tag gestorben oder verschwunden sind«, sagte er.

»Worth, Charles. Seit 13. Mai als verschwunden gemeldet, wahrscheinlich tot. Fiek, Samuel. Seit 13. Mai verschwunden, wahrscheinlich tot. Greer, Michael. Seit 15. Mai tot, absichtliche Liquidierung nach Kontrakt. Samuels, Vernard. Tot seit 19. Mai, Autounfall. Petane, Charles. Tot seit 21. Mai, Rauschgiftüberdosis. Liste komplett«, rezitierte das AID.

Okay, Fiek und Worth standen fast mit Sicherheit in Verbindung, und das bedeutete, dass sie nach achtzehn Uhr fünfundvierzig am 10. Mai verschwunden waren, wo ein Junge sich erinnerte, einem Mann in Fieks Apartment eine Pizza geliefert zu haben. Der Pizza-Junge hatte Fieks Gesicht aus einer Anzahl von Bildern herausgepickt, nachdem er ihm ein halbes Dutzend Zwanziger gegeben hatte.

Es gab für Fiek keine bekannten Gründe für Abneigung gegenüber Worth, und das galt auch umgekehrt. Genauer gesagt, die Darhel hatten ihre örtlichen Bankkonten überprüft und auch ihre persönlichen Nummernkonten, die jeder insgeheim in diskreten Ländern eröffnet hatte, und ihr Geld war unangetastet, seit Worth am Vormittag des Zehnten einen bescheidenen Betrag abgehoben hatte. Es war fast nicht vorstellbar, dass jemand, der für die Darhel arbeitete, kein Geld von ihnen hatte.

Wenn er raten müsste, hätte er gesagt, dass das, was auch immer geschehen war, im Chicagoer Apartment von Worth abgelaufen war. Fiek wohnte in demselben Gebäude, und obwohl Worth die meiste Zeit nicht dort lebte, benutzte er die Wohnung doch häufig, wenn er in der Stadt war. Er hatte die beiden Apartments persönlich zusammen mit einem Cousin durchsucht, der früher im Sheriffsbüro in Silverton tätig gewesen war. Bobby hatte gesagt, für ihn sähe Worth’ Apartment ein wenig zu sauber aus, und hatte darauf hingewiesen, dass es dort keinerlei Staub oder irgendwelche Flusen gab, auch nicht unter der Wand, wo das seltsame Zeug angeschraubt war. Johnny hoffte, dass er nie erfahren würde, was sein toter Chef damit angestellt hatte. Zumindest so lange nicht, bis er sich beruflich damit befassen musste.

Seinen Cousin ins Geschäft zu bringen war einer der Gründe für ihn gewesen, diesen Job anzunehmen, und er war stolz darauf. Ein Mann musste sich schließlich um seine Angehörigen kümmern. Und nachdem man Bobby rausgeschmissen hatte, weil er bei der Arbeit high gewesen war, hatte Johnny die Chance erkannt, die sich ihm damit bot, und war Bobby behilflich gewesen, hatte sich die Nanodrogen beschafft, um den Affen von seinem Rücken zu holen und ihm ein Einkommen verschafft, an das seine Ex-Frau nicht rankonnte. Es machte ihm richtig Spaß, diese Situation in Ordnung zu bringen. Brenda war eine billige Hure, und sie war Jimmy Simms’ Kind, nicht etwa Bobbys, und das wusste jeder in der Stadt. Der Richter wusste leider außerdem noch, dass Jimmy ein nutzloser Säufer war, der nach wie vor bei seiner Mama lebte, und deshalb hatte er dem armen Bobby die Rechnung angehängt, sodass der für den Bankert der Schlampe sorgen musste. Johnny hatte viel für Kinder übrig, für Mary Lynn würde er alles tun und hatte das auch fast getan, aber so etwas war einfach nicht in Ordnung.

Also, Worth und Fiek hatte man irgendwann am Wochenende des Zehnten in seinem Apartment alle gemacht. Mehr hatte er nicht in der Hand. Worth hatte sein Aussehen verändert und seine Verhaltensmuster so oft gewechselt, dass normale Suchtechniken bei ihm einfach nicht funktionieren würden. Und deshalb würde Johnny, wenn er sich nicht ganz schnell eine verdammt gute Geschichte einfallen ließ, ziemlich in der Scheiße sitzen.

»Okay, Leanne, ich brauche Akten über alle, gedruckt, soweit du rankannst, auf meiner Arbeitsfläche, und darüber hinaus alles, was wir über den Tod jedes einzelnen Kandidaten wissen.« Keine Frauen. Das war seltsam, aber eine ganze Menge ihrer Leute im Feld waren Kerle, also konnte das auch reiner Zufall sein. Nun gut, ehe er sich um die Kleinigkeiten kümmerte, würde er versuchen, sich ein Gesamtbild zu machen.

»Leanne, eine Weltkarte, etwa so groß.« Er breitete die Arme aus und sah zu, wie die holographische Illusion eines großen Flachbildschirms vor ihm in die Luft projiziert wurde.

»Steck eine Nadel dorthin, wo jeder gestorben ist. Moment mal, sind das drei? Chicago vergrößern. Wer ist diese dritte Nadel?«

»Welche dritte Nadel?« Das AID klang verwirrt. Die Dinger waren ziemlich schlau, aber manchmal tickten sie trotzdem nicht ganz richtig.

»Welcher von den Toten, die du außer Fiek und Worth gerade genannt hast, war in Chicago?«

»Petane, Charles.«

»Was du nicht sagst. Danke, Leanne. Geh auf Standby.« Es gab da einen Trick, um mit den AIDs umzugehen, ein paar alte Veteranen hatten ihn aus dem Krieg mitgebracht. Das Entscheidende war, dass man seine Gedanken für sich behielt, wenn man irgendetwas vorhatte oder plante. Sie zeichneten ständig alles auf, aber dass sie Gedanken lesen konnten, war bis jetzt noch nicht bekannt geworden. Der Trick in einer solchen Situation bestand daher darin, dass man seine Gedanken für sich behielt, alles in die Datei eingab und die einzelnen Punkte miteinander verband, auch wenn sie nicht genau zueinander passten, und dann dem AID seine Interpretation vortrug, so, als würde man laut denken. Wenn man eine ganze Menge aufzeichnen konnte, war es leicht, die Dinge zu vergessen, die man nicht aufzeichnen konnte. Und außerdem, wer weiß, vielleicht würde er etwas finden.

Okay, Petane — die Überdosis. Das war gut. Aus einer Rauschgiftüberdosis konnte man immer etwas Verdächtiges machen. Das Schlimme war, dass es nicht auch ein Fall von Verschwinden war, aber er würde das so hinstellen, dass »sie« raffiniert genug waren, ihre Methoden zu ändern. Die Gerichtsmedizin hatte es als Unfall eingestuft, aber das hatte nichts zu besagen. Zuallererst würde er dafür sorgen müssen, dass seine eigenen Leute irgendwelche gespeicherten Gewebeproben in die Hand bekamen und sie durch die Mangel drehten. Im Bett seiner Freundin gefunden. Musste hart für die Frau sein. Die Freundin stand unter Rauschgift, die Bullen nahmen an, dass er es ihr verpasst hatte, und war nicht bei Bewusstsein, als er neben ihr starb. Und nicht um dem zu viel Bedeutung beizumessen, aber die Gerichtsmedizin hatte erklärt, dass er nicht gekommen war. Wenn das nicht zum Himmel stank. Gut. Keine Ahnung, wer den geilen Kotzbrocken wirklich alle gemacht hatte. Vielleicht die Frau. Höchst unwahrscheinlich, dass es etwas mit den Darhel zu tun hatte. Er hatte nur einmal etwas Nützliches getan, und das lag jetzt dreißig Jahre zurück. Trotzdem, wenn er die Story gut genug machte, war das wesentlich besser, als letztlich mit leeren Händen dazustehen.


Unter einem Kornfeld in Indiana

Sonntag, 26. Mai, 04:00


Für die letzte Besprechung vor dem Einsatz waren sie in demselben Konferenzraum wie am vorhergehenden Donnerstag versammelt. Der billige klappbare Konferenztisch und die nackten GalPlas-Wände sahen auch nicht besser aus, wenn man sie ein paarmal gesehen hatte, aber der Kaffee war gut, und die Maisbrötchen waren … na ja, zumindest waren sie vorhersehbar.

»Okay, Leute, noch einmal. Cally, du zuerst.« Papa O’Neal, mit hellbraunem Haar und ohne seinen üblichen Kautabak ein recht seltsamer Anblick — aber immerhin spuckte er dennoch abwesend in einen Becher.

»Gepäckaufgabe um sechs, Sicherheit gegen sechs fünfundvierzig, im Frauenbereich gegenüber dem Gate Sierra Six in der Abfluglounge bis sieben null fünf. Sobald ich dort bin, werde ich, falls ich Grandpa und Tommy nicht sehe, eine ›Angekommen‹-SMS schicken, damit ihr wisst, dass ich an Ort und Stelle bin. Ich warte, bis mein PDA mir sagt, dass die Zielperson in Bewegung ist. Wenn sie dann reinkommt, verpasse ich ihr eine Tranquilizer-Spritze, tausche mit Tommys Hilfe mit ihr die Kleidung, gehe wieder raus und nehme den Shuttle zur Basis Titan et cetera«, sagte sie und deutete auf Jay. Ihr platinblondes Haar war ungekämmt, und die weißen Sweat Pants und das zu weite Männersweatshirt mit waagerechten blauen und weißen Streifen brachten ihre Figur bestens zur Geltung, wobei bestens wirklich das richtige Wort war. Kontaktlinsen ließen Sindas kornblumenblaue Augen in einem unauffälligen Graubraun erscheinen. Eine billige Brille mit null Wirkung saß schlecht genug, dass sie ihr dauernd über die Nase herunterrutschte, und sie schob sie nervös zurück und knabberte hie und da verstohlen an einem Schokoriegel.

»Hey, wieso kriegt sie Schokolade und wir bloß das hier?«, fragte Tommy und starrte leicht angewidert auf einen Muffin.

»Gehört zu meiner Ausstattung«, erwiderte sie herablassend, räusperte sich und wackelte dann ein wenig, als würde sie in neue Kleider schlüpfen, als sie wieder in ihre Rolle zurückkehrte. »Weiter, Jay.« Dabei schob sie Tommy verstohlen einen Schokoriegel aus ihrer Handtasche zu.

»Um fünf fünfundvierzig gehe ich durch die Gepäckausgabe und gebe eine Tasche ab. Bis sechs fünfzehn bin ich durch die Sicherheit. Um sieben bin ich in der Abflughalle S-6 und sitze mit einem Becher Eiswasser aus einer der Imbissbuden dort. Wenn Makepeace die Lounge betritt und Platz nimmt, begebe ich mich in ihre Nähe. Ich nehme ein kurzes Video der Zielperson und ihres Standorts auf und leite es an das Team weiter, damit Cally weiß, wo sie sitzen soll und welche Sachen ›ihr‹ gehören. Wenn die Zielperson bis sieben dreizehn nicht von sich aus in die Damentoilette geht, stelle ich mich dämlich an und kippe ihr den Inhalt meines Glases in den Schoß. Ich entschuldige mich überschwänglich, und sobald sie zur Toilette geht, drücke ich den Knopf auf meinem PDA, der euch drei alarmiert. Wenn Cally als Makepeace wieder herauskommt, greift sie sich ans linke Ohr, um zu bestätigen, dass der Wechsel stattgefunden hat. Ich gehe mit Tommy und O’Neal zum Treffpunkt und treffe dort spätestens um acht Uhr dreißig ein. Ich ziehe mich um, wir kehren über den Frachteingang zum Hafen zurück, gehen an Bord des Frachters und starten um elf fünfzig zum Titan. Tommy?«

»Papa und ich treffen um null sechs fünfundvierzig in Crewkleidung dort ein und haben Jays Kleider und die Uniformen der Säuberungscrew im Kofferraum. Wir ziehen uns im Frachter um und holen den Karren der Säuberungsmannschaft, der dort verstaut ist. Dann haben wir bis null siebenhundert Zeit, um zur Damentoilette in der Abflughalle S-6 zu kommen. Ich schicke Cally eine ›Eingetroffen‹-SMS. Wir hängen ein ›Defekt, Wartungsarbeiten‹-Schild auf, lassen aber Cally ein. Sobald wir Nachricht erhalten haben, dass die Zielperson in Bewegung ist, entfernen wir das Schild und rollen den Karren beiseite in Richtung Herrentoilette. Alle anderen, mit Ausnahme der Zielperson, weisen wir höflich ab. Wenn die Zielperson die Toilette betritt, kehren wir mit dem Schild zurück und warten auf Callys Signal. Dann schiebe ich den Karren hinein, helfe nach Bedarf beim Kleiderwechsel, verstaue Makepeace im Abfallbehälter und decke sie mit entsprechenden Abfällen zu. Wir bringen Makepeace zum Wagen, setzen ihr die Perücke aus dem Handschuhkasten auf, verpassen ihr das billige Bier und die Whiskeyproben, die dort bereitliegen, fahren sie zu Treffpunkt eins, spritzen ihr Hiberzine und übergeben sie der Reinigungscrew. Treffpunkt zwei erreichen wir spätestens um null acht dreißig und machen dann so weiter, wie Jay es gesagt hat. Papa?« Er leckte sich Schokoladereste von den Fingern, ehe er die Hülle zusammenknüllte und sie mit einem wohl gezielten Wurf in den Papierkorb in der Ecke beförderte.

»Ich habe den leichten Vortrag. Genau wie Tommy, bloß dass ich vor der Toilette warte, während du beim Kleiderwechsel hilfst. Abbruchcode?«

»Toledo«, tönten sie wie aus einem Mund.

»Richtig. Wenn euer PDA oder AID Toledo ruft, verschwindet ihr und haltet euch mindestens zwei Tage versteckt, ehe ihr zum Stützpunkt zurückkehrt, oder ihr schickt der Bane Sidhe einen Würfel, eure Entscheidung. Wir sind alle erfahrene Agenten. Wenn ihr nach bestem Ermessen an irgendeinem Punkt ›Abbruch‹ sagen wollt, dann tut es. In diesem Geschäft ist kein Platz für Heldentaten. Jay, es passt überhaupt nicht zu ihrem Profil, aber falls Makepeace erst in letzter Sekunde ans Gate gerannt kommt und sich überhaupt nicht hinsetzt, dann rufst du einfach Toledo. Ein Austausch, der nicht sauber ist, wäre schlimmer als ein Abbruch, ganz besonders bei diesem Einsatz. Also gut. Wir verduften jetzt hier.« Er betrachtete den Muffin, den er in der Hand hielt, mit einem schiefen Grinsen, blieb an der Tür stehen und überlegte offenbar, ob er ihn unangetastet wegwerfen sollte. Dann nahm er einen Bissen davon und ging hinaus.

»Was ist denn los, Grandpa? Magst du keine Maismuffins? Wir haben das so selten«, sagte sie und grinste.

»Du Miststück, ich kann zu jeder Mahlzeit Maisbrot essen. Selbst wenn die Yankees darauf bestehen, Zucker hineinzutun.«


Sonntagmorgen, 26. Mai


Callys unechter Koffer passte gut zu ihrer Person. In ihren Papieren stand, dass sie Irene Grzybowski war. Irene war die Art von Frau, für die an einem überfüllten Ort wie einem Flughafen niemand einen zweiten Blick übrig hatte: zwischen vierzig und fünfzig, unförmige Figur, die meiste Zeit zu Boden blickend, den Sicherheitsbeamten gegenüber höflich, aber nicht freundlich. Und deshalb würdigte sie auch niemand eines zweiten Blickes. Niemand sah sie an, als sie den abgewetzten Stoffkoffer, der so aussah, als ob man ihn aus dem Sofa einer College-Studentin gemacht hatte, auf die Theke hievte. Niemand sah sie an, als sie, die Plastikspritze mit dem Tranquilizer mit Heftpflaster im Elastikband ihres Büstenhalters festgeklebt, durch die Sicherheitssperre ging. Einem Büstenhalter übrigens, der viel dazu beitrug, sie fett und unförmig und nicht etwa gut gebaut erscheinen zu lassen. Niemand sah sie an, als zu Gate S-6 ging, die Damentoilette gegenüber der Abflughalle aufsuchte und in der zweiten Kabine von hinten eine für diese Räumlichkeit natürlich wirkende Sitzhaltung einnahm. Sie war Grandpa und Tommy zuvorgekommen und hatte sich nicht nach Jay umgesehen. Das wäre unprofessionell gewesen.

Sie holte ihren PDA aus der Handtasche, klappte ihn auf und stellte ihn auf den Behälter mit dem Toilettenpapier. Der Stimmzugang des Buckley war natürlich abgeschaltet. Sofern der Abbruchcode hereinkam, würde der PDA zu vibrieren beginnen. Sie hoffte, dass das nicht notwendig sein würde.

Ein Blick auf das Uhren-Icon auf dem Bildschirm: null sechs dreiundfünfzig. Gut im Zeitplan. Nachdem sie Tommy die SMS geschickt, die Spritze herausgeholt und vorbereitet und sich das Haar gebürstet hatte, gab es eigentlich nichts mehr für sie zu tun, außer sich zu beeilen und zu warten. Der Trick bei solchen Einsätzen war es, sich auf den Bildschirm des PDA zu konzentrieren, ohne davon in eine Art Hypnose zu geraten. Callys Lösung dafür war, den Bildschirm zu teilen und die kleinen Icons mit der Bezeichnung »in motion« und »Video« in die obere Hälfte zu platzieren und auf der unteren Hälfte ein uraltes Minensuchspiel aufzurufen.

Um sechs achtundfünfzig blinkte das Nachrichtenicon: Tommy und Grandpa waren eingetroffen.

Das Blinken des Videoicons fiel ihr um sieben null fünf ins Auge. Sie legte das Bild auf die untere Bildschirmhälfte und hatte gerade die Zielperson zum ersten Mal zu sehen bekommen, als das »In motion«-Icon zu blinken begann. Okay, Zeit genug, mir den Film anzusehen, nachdem ich mit ihr fertig bin. Wenn sie aus freien Stücken kommt, muss sie hierher kommen. Am besten schnappe ich sie mir, wenn sie die Kabine verlässt. Sie atmete gleichmäßig, als die Tür sich öffnete, alle ihre Sinne waren hellwach. Etwas stimmte hier nicht. Der Schritt war zu schwer, und das waren auch nicht die Schuhe einer Frau. Ihre Muskeln spannten sich.

»Cally?«, flüsterte eine Stimme.

Das könnte Tommy sein. Oder nicht. »Äh … die Kabine ist besetzt.«

»Sie hat sich einen Donut gekauft und sich wieder hingesetzt. Mach einen Reset und warte, dass er sich erneut meldet«, sagte er.

»Geht klar.« Die Stimme war eindeutig Tommy. Sie hörte, wie er den Raum wieder verließ, als sie die Reset-Schaltung vornahm und sich dabei beeilte, um zu wissen, wann die Zielperson wieder ihren Platz verließ. Ganz gleich, wie der Auftrag auch aussah, es gab immer etwas, das nicht ganz nach Plan lief. Trotzdem wünsche ich mir von ganzem Herzen, dass das nicht wieder so ein Tag aus der Hölle wird. Du liebe Güte, unter dem verdammten Bett!

Sie betrachtete das Video, registrierte den Sitzplatz der Zielperson und dass sie ein Notebook bei sich hatte. Das war durchaus logisch, schließlich übte sie einen Verwaltungsjob aus. Normale Bildschirme waren immer noch die geringste Belastung für die Augen.

Während sie so wartete, konnte sie gelegentlich Männerstimmen hören, wenn Tommy und Grandpa weibliche Reisende zur nächsten Toilette weiterschickten. Um sieben vierzehn blinkte das »In motion«-Icon erneut.

Sie schaltete ab, steckte den PDA ein, nahm die Spritze in die Hand und stand auf. Als die Tür aufging, betätigte sie die Spülung, damit ja alles echt wirkte, öffnete die Tür ihrer Kabine und ging zum Waschbecken, als die Zielperson zur Tür hereinkam, an ihrer Fleet-Seide herunterblickte und leise Verwünschungen vor sich hin murmelte.

Als Cally das Waschbecken erreicht hatte, hatte sich die andere Frau eine Hand voll Papiertaschentücher gegriffen und wischte an dem feuchten Flecken herum. Sie blickte nicht einmal auf, als die Attentäterin hinter sie glitt, ihr die Hand über den Mund presste und mit geübtem Blick den richtigen Punkt für eine Halsinjektion fand. Makepeace hatte keine Zeit, sich lange zu wehren, als das starke Präparat sich in ihrem Kreislauf verbreitete und sie erschlaffte, gleichmäßig atmend, während Cally sie zu Boden sinken ließ.

Du hast Glück, dass ich dich leben lassen kann. Sie ging zur Tür, öffnete sie einen Spalt und winkte Tommy mit dem Karren herein. Grandpa nickte ihr kurz zu, ehe er sich wieder umdrehte und nach irgendwelchen Bedrohungen Ausschau hielt. Als Tommy hereinkam, stand sie bereits wieder bei den Waschbecken und hatte damit begonnen, die Verschlüsse am Oberteil der grauen Seidenuniform der Zielperson zu lösen.

»Ich mach das, zieh du dich aus.« Tommy winkte sie von der bewusstlosen Frau weg.

Sie zog sich schnell bis auf den Schlüpfer aus und ließ ihre Kleider ordentlich und in der Reihenfolge auf dem Boden liegen, wie sie sie für die andere Frau brauchen würden. Dann schlüpfte sie in den erfreulicherweise gut gearbeiteten BH der Frau und deren Seide, fand in ihrer Handtasche genügend Kosmetikartikel, um eine passable Kopie ihres Make-ups herzustellen, und steckte sich ihr platinblondes Haar in einen Knoten. Gott sei Dank trägt sie keinen Nagellack. Die richtige Farbe auf die Schnelle hinzukriegen, wäre lästig gewesen.

Socken und Halbstiefel, die zum Glück nicht vorschriftsmäßig waren — mit Stützsohlen — und sie war fast fertig. Den Buckley auf ihrem PDA und den Speicher hatte ein Spezialist am Abend zuvor gereinigt und äußerlich Marke und Modell dem PDA der anderen Frau angeglichen. Aus der Sicht des Buckley war sie bereits Captain Sinda Makepeace. Der Würfel im Leseschlitz hatte die einzige wichtige Information. Sie reichte Tommy ihren PDA und den von Makepeace und fuhr fort, die Zielperson anzukleiden, während Tommy den anderen PDA dazu überredete, seine Dateien dem ihren zu übergeben. Dann öffnete er die Flasche mit »Reinigungsflüssigkeit«, ließ den Würfel hineinfallen und reichte ihr ihren PDA zurück.

»Und jetzt, denk dran, um Zugang zu dem Transmitter zu bekommen, musst du auf dein ›Photopak‹-Icon gehen, es öffnen, Hilfe aufrufen und dann ein Foto übertragen. Die Anwendung lässt dich dann alles übermitteln, was auf deinem PDA oder im Würfelschlitz steckt«, sagte er.

Sie war ihm behilflich, den Tatort schnell zu säubern und die jetzt namenlose Frau auf dem Karren unter Abfällen zu verstecken. Dabei musste sie vorsichtig vorgehen, um nicht weitere Flecken auf die Uniform zu bekommen. Die feuchte Stelle würde, bis sie getrocknet war, schlimm genug aussehen. Und sie fühlte sich klebrig an. Igitt. Wahrscheinlich wird das erst trocken sein, wenn wir oben im Schiff sind. Ich muss ganz sicher mein Quartier aufsuchen und mich umziehen, ehe ich sonst etwas weiter tue.

»Wir sehen uns auf Titan.« Sie drückte Tommy schnell die Hand und eilte hinaus.

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