Basis Titan, Militärgefängnis Fleet Strike
Donnerstag, 20. Juni, 00:01
Die ersten Stadien des sensorischen Entzugs waren nie besonders schlimm. An sich festzuhalten war relativ einfach, besonders wenn man die entsprechende Ausbildung durchgemacht hatte. In Null g freilich war das hart. Der traditionelle Wassertank bot immerhin noch ein gewisses definierbares Gefühl von unten, so gering es auch sein mochte. Die Bahre half da sogar; ohne sie wäre es schlimmer gewesen. Sie konnte Hände und Füße gegen die Fesseln pressen und den Schmerz spüren. Wenigstens hatten sie darauf verzichtet, ihr die Ohren mit weißem Lärm zu blockieren und sie auch nicht geknebelt. Sie konnte mit der Zunge über ihre Zähne fahren und die Kanten spüren. Sie konnte ihren Herzschlag hören. Bei ihrem gesteigerten Hörvermögen konnte sie ihn sogar ganz gut hören und ihren Atemrhythmus darauf abstellen. Das erlaubte es ihr, ein gewisses Gefühl für den Zeitablauf zu behalten.
Es muss jetzt gegen drei oder vier Uhr morgens sein. Die Sekunden zu zählen ist ein ganz gutes Gegenmittel, wenn man nicht schlafen kann, denke ich. Aber die Versuchung ist zu groß, einfach zuzusehen, wie die Farben an einem vorbeiziehen. Rot, Neonblau, Chartreuse. Was zum Teufel ist Chartreuse denn eigentlich? Ups, schon wieder aus dem Zählen gekommen. Lub-dub, lub-dub, lub-dub, lub-dub … eins, zwei, drei, vier, Männer rennen durch die Tür, sieben, acht, neun, zehn, jetzt müssen sie wieder gehen …
Irland. Ein amerikanischer Beamter im Urlaub. Anscheinend ist der Tourismus nie ganz untergegangen. Keine Zeugen, aber er ist ganz in Schwarz, ein Spieler? Sein Genick bricht so leicht, und beim Fallen rollt er ein Stück zur Seite, und es ist weiß, dabei sollte es gar nicht weiß sein. Warum war er hier? Herrgott, nein. Nein.
Scheiße, das ist verdammt seltsam. So ist es doch gar nicht gelaufen. Das waren doch zwei Hits. Der Beamte war gar nicht in Irland. Er war auf einem Golfplatz in Arkansas. Der Priester war in Irland, aber das war ein ganz junger Bursche, ein Idealist, der von wegen »Infiltration« der Kirche an die Öffentlichkeit gehen wollte. Wie lange ist das jetzt her, zwölf, dreizehn Jahre? Ein wirklich trauriger Fall. Aber es hat mich seit Jahren nicht mehr geplagt … oder doch? Ach, verflucht, jetzt habe ich wieder zu zählen aufgehört und den Sinn für die Zeit verloren.
Aber warum dieser Typ auf dem Golfplatz? Putt-putt und unten raus aus der Windmühle, aus dem Tunnel ins French Quarter … Mardi Gras Parade, kein Krieg, keine Ausbildung, Freiheit, Urlaub, ein langes Wochenende. Ketten mit billigen Plastikperlen und Hurrikane und ein jung aussehender Soldat von den Zehntausend, der so aussieht, als würde er oft mit Gewichten trainieren. Heute Abend ist sie Lilly und lacht ihm ins Gesicht und versucht, diesmal nicht mitzugehen, aber das tut sie immer, und jetzt ist es Morgen und er sagt ihr — mir — schon wieder, dass er eine Frau hat, und sie versucht immer wieder, aus dem Bett zu steigen und den Mistkerl in die Eier zu treten, aber sie kann sich nicht bewegen, und sie ist … ah — ich bin — wieder im Überlebenstraining in Minnesota, und der Schnee fällt vom Himmel, und was soll der Scheiß?
Oh, ich erinnere mich an das Ekel. Scheiße, so entjungfert zu werden, aber ich habe ihn auch angelogen. Das war einfach zu verrückt. Sensorischer Entzug im Überlebenstraining bei den Schwestern war nie so. Aber damals hatte ich vermutlich auch nicht so viele schreckliche Erinnerungen, so viele Gespenster, die mich jagten. Aber jetzt habe ich keine Gespenster. Ich schlafe wie ein Baby — oder nicht?
Florida. Mit Delfinen schwimmen. Mom ist bei mir. Sie ist stolz auf mich. Und das Wasser ist kühl und die Sonne heiß. Der alberne Herrn — warum steht Doc Vita P am Strand? Und was hält er da in der Hand? An diesem Traum ist etwas verdammt seltsam. Irgendwas stimmt nicht.
Okay, Moment mal. Ich schlafe ja nicht einmal. Meine diversen Knochenbrüche tun weh, und ich bin auf eine Bahre geschnallt, in Null g, das ist das Fleet Strike Gefängnis, verdammt. Selbst wenn die Dreckskerle, die die da auf mich angesetzt haben, Fleet sind. Der Ort ist Fleet Strike und die Leute, die hier eigentlich das Sagen haben, sind auch Fleet Strike. Eigentlich eine verdammte Ironie. Was hatte ich mir beim letzten Mal ausgerechnet? Gegen drei Uhr früh? Dann ist’s jetzt sicher etwa vier. Lub-dub, lub-dub, lub-dub … Wie lange ist es jetzt her, dass ich das letzte Mal gebeichtet habe? Kann mich nicht mal erinnern, warum ich damit aufgehört habe. Nicht dass Father O’Reilly mir nicht mit Freuden die Beichte abnehmen würde und das ohne jedes Risiko für die Sicherheit. Weißt du, es ist ja morbid, aber wenn ich je hier rauskomme, muss ich das unbedingt tun. Vielleicht könnte ich in Anbetracht meiner augenblicklich reichlichen Freizeit anfangen, eine Liste zu machen. Ah, vielleicht besser nicht. Schlecht für die Moral. Besser, ich tue das, nachdem die mich rausgeholt haben, falls sie das tun. Gott versteht. Das hat Schwester Mary Francis immer gesagt. Zurück zu meinem Anker. Selbst wenn ich nicht auf dem Boden tanzen kann, dann kann ich immerhin im Kopf tanzen. Los geht’s … Augenblick mal … das hier ist locker — oh, vorher war es das wahrscheinlich nicht, aber mit dem Bruch und wo Blut doch schlüpfrig ist — wahrscheinlich war ich eine Weile weggetreten — ein richtig fester Ruck …
Basis Titan, Militärgefängnis Fleet Strike
Donnerstag, 20. Juni, 08:00
»Sir, ich empfehle, dass wir die Schwerkraft wieder auf Titan Umwelt schalten, wenn wir Licht machen. Wäre doch schlecht, wenn sie auf den Kopf fallen oder sonst einen vorzeitigen tödlichen Unfall hätte.« Ob Senior Chief Yi Chang Ho damit zu seinem Lieutenant oder zu General Stewart selbst sprach, war schwer zu erkennen. Der Lieutenant nickte ihm jedenfalls für den Bruchteil einer Sekunde zu.
»Tun Sie’s«, befahl der General. Der Chief war eine unangenehme Type, und Stewart würde ihn nicht noch einmal auf Cally loslassen, wenn er das vermeiden konnte. Cally. Das passte zu ihr.
Die Lichter flammten auf, und Cally und die Bahre plumpsten sanft auf den Boden. Sie rollte sich sofort ab, kam auf die Füße zu stehen und nahm Kampfhaltung ein.
»Du große Scheiße, wie ist die denn rausgekommen?«, hauchte Keally, einer der MPs.
»Ich denke, ich könnte sie vielleicht brechen. Ich würde das gern versuchen, ehe ihr wieder anfangt. Bestenfalls fängt sie zu reden an, und wir sparen uns etwas Zeit. Im schlimmsten Fall macht sie das … etwas aufnahmefähiger für Ihre Bemühungen.« Stewart blickte auf sie hinab. Dass sie von ihren Fesseln frei war, könnte das alles ein wenig erleichtern. Wenn sie ihn nicht einfach aus Prinzip sofort umbrachte.
»Sie war Ihre Geliebte, nicht wahr?«, sagte Yi. Von einem Unteroffiziersdienstgrad war das eine grobe Unverschämtheit, aber er hatte nicht vor, beleidigt zu sein.
»Ich war ihrer. Am Ende hat sie das demaskiert.« Er zuckte die Achseln. »Schade, ich hätte euch Boys einen Blow Job von ihr gegönnt.« Er grinste schief, als die Männer zu schmunzeln begannen.
»General, ich mache mir große Sorgen, dass sie Sie verletzen könnte. Besonders in Anbetracht Ihrer vorangegangenen Verletzungen …«, begann der Arzt.
»Richtig. Sie haben Recht. Keally, Baker, kommen Sie mit. Keine Waffen — wir dürfen schließlich nicht riskieren, dass sie sie uns wegnimmt, oder?« Er drehte seinen Rollstuhl herum in Richtung Serviceaufzug. »Oh, das sollte nicht lange dauern. Entweder klappt es und sie fängt zu reden an, oder es klappt eben nicht. Ich versuch’s zuerst auf die Tour ›guter Cop‹, und wenn sie nicht redet, werde ich eine Weile mit ihrem Kopf spielen, ehe ich sie Ihnen zurückgebe.«
Er stand jetzt an der Tür und winkte seine Männer zurück.
»Ich brauche kein Kindermädchen, mein Sohn. Ich sitze heute nur auf dem Stuhl, um die verdammten Weißkittel zu befriedigen. Und in ein paar Minuten sitze ich wieder drauf.« Er räusperte sich, hielt sich eine Hand über den Mund. »Hören Sie zu. Wenn wir zur Tür reingehen, bleibe ich zuerst mit Ihnen zusammen zurück. Ich werde erst dann weitergehen, wenn ich mir einigermaßen sicher bin, dass das ungefährlich ist, aber wenn ich auf die Gefangene zugehe, müssen Sie an der Tür bleiben.«
»General Stewart, Sir, ich fühle mich bei diesem Plan höchst unbehaglich«, sagte Baker.
»Zur Kenntnis genommen. Wenn sie uns angreift, können Sie meinen Rückzug decken.« Er legte die Hand auf die Sensorplatte der Tür, die sofort den Brigade-CO erkannte und gehorsam zur Seite glitt.
Als sie drinnen waren, traten Baker und Keally links und rechts neben ihn, und Cally musterte sie argwöhnisch. Er trat zwei Schritte vor, winkte den Männern, zurückzubleiben, und bemühte sich nicht zusammenzuzucken, als er die rotbraunen Flecken sah, die sich so deutlich von dem weißen Fußboden abhoben. Der Raum roch nach Schweiß, Rost und irgendwelchen Chemikalien.
Die fahrbare Bahre lag auf der von der Beobachtungstribüne abgewandten Seite des Raums umgekippt auf dem Boden. Er drehte den Kopf halb zu Cally hinüber und kniff kurz ein Auge zu. Baker und Keally konnten das nicht sehen. Aus dem Beobachtungsraum oben, falls es dort jemand bemerkt hatte, würde es wie ein normaler Lidschlag ausgesehen haben. Nur Cally konnte beide Augen sehen. Falls sie es bemerkt hatte, ließ sie sich nichts anmerken.
»Sind! Bitte, Honey, lass nicht zu, dass die dir das antun. Wenn du nicht redest, kann ich dich nicht beschützen. Wenn du denen alles sagst, Honey, ich bin schließlich ein Major General — ich kann einen Deal mit denen machen, damit dein Teil an der ganzen Geschichte verschwindet.« Er ging einen Schritt auf sie zu.
Eine ihrer Augenbrauen über ihrem schwarz und gelb angeschwollenen Auge zuckte skeptisch nach oben. Sie rührte sich nicht von der Stelle.
»Honey, die wollen nicht dich, die wollen bloß die Rädelsführer. All diese schrecklichen Dinge sind so unnötig — aber wenn du nicht redest, kann ich dich nicht beschützen.« Er stand jetzt dicht vor ihr und strich mit einer Hand über eine unverletzte Stelle ihrer Wange und betete im Stillen darum, dass sie nicht ihm für das, was sie ihr bereits angetan hatten, die Schuld gab. Nun ja, jedenfalls brachte sie ihn nicht sofort um. Gutes Zeichen.
Er beugte sich vor und küsste sie, legte ganz sanft die Arme um sie. Keiner der Beobachter konnte die Pille sehen, die dabei von seinem Mund in den ihren wanderte. Sie würde sie zerdrücken müssen, ehe sie schluckte, aber Tommy hatte ihm gesagt, dass sie das ahnen würde.
»Bitte, Liebes, wie ist dein richtiger Name?«, fragte er für die Kameras.
Sie erstarrte in seinen Armen, und er konnte nicht erkennen, ob sie zugebissen hatte oder nicht. Offenbar. Sie schluckte hart.
»Nein«, sagte sie.
Er stieß sie unsanft von sich und ging zur Tür zurück und drehte sich dort um.
»Was, du hast dir wirklich eingebildet, ich würde dich bloß wegen ein paarmal bumsen hier rauslassen, ohne dass du uns sagst, was du weißt? Tut mir Leid, Honey. Oh, du hast dir wirklich Mühe gegeben, aber ich hab schon Bessere gehabt.« Er musterte ihren nackten, misshandelten Körper von oben bis unten. »Oh, und Schluss mit den Spielchen mit den Männern. Wenn du genügend angeturnt bist, um zu reden, kannst du ja vielleicht einen zurückkriegen. Aber nicht mich. Ich halte nicht viel von beschädigter Ware.«
Baker und Keally schafften es gerade noch, ihn aus dem Raum zu reißen und die Tür zu schließen, ehe sie sich dagegenwarf und ein paar so kreative Verwünschungen ausstieß, dass der Private dazu einen bewundernden Pfiff ausstieß.
Wenn sie nicht fast eine Sekunde lang mit herunterhängendem Unterkiefer dagestanden hätte, hätten sie es nie geschafft.
»Ich glaube, Sie haben sie verärgert, Sir.« Der MP half ihm auf seinen Rollstuhl.
»Yeah, Keally, sieht so aus. Wieder nach oben.« Er rollte zum Lift und hoffte, dass sie begreifen würde, warum er so schlimme Dinge hatte sagen müssen. Er sah sich nicht um.
Basis Titan, Militärgefängnis Fleet Strike
Donnerstag, 20. Juni, 12:32
Die Wirkung der Pille setzte etwa vier bis fünf Stunden später ein, so wie Stewart es versprochen hatte. Der Mistkerl von Fleet bearbeitete gerade ihre Fingernägel, als sie plötzlich in Schockzustand geriet. Ihr Zustand verschlechterte sich rapide, so sehr sich der Arzt auch bemühte, sie wiederzubeleben. Er hätte das nicht gewusst, aber Mikes Dad hatte ihm gesagt, dass diese ganz spezielle Pille ziemlich exakt den Folterfällen entsprach, wo eine bisher nicht bekannte Herzschwäche das Opfer dazu veranlasst, einfach abzuschalten.
Der Arzt war offensichtlich verzweifelt. Und das mit gutem Grund. Dass er die »Herzschwäche« nicht entdeckt hatte, würde man mit Sicherheit ihm zur Last legen. Der Mann konnte einem wirklich Leid tun.
Sie versuchten sie in die Intensivstation zu verlegen, einem Raum aus grünem GalPlas und Chirurgenstahl. Die Station enthielt jegliches GalTech-Gerät, das ein Arzt sich wünschen konnte, roch aber dennoch nach Desinfektionsmittel. Als sie dort eintraf, waren ihre Lebenszeichen erloschen. Flatline. Wenn es einmal so weit war, half nicht einmal mehr GalTech.
Der behandelnde Arzt schüttelte den Kopf und winkte zwei Helfer herbei, die sie in die Leichenhalle bringen sollten. Er war sich nicht sicher, aber der Rothaarige war anscheinend neu. Der andere, der Große mit dem dämlichen Blick, war ganz sicherlich nicht der Typ, der körperliche Arbeit als Belastung empfand.
Nachdem sie sie um die nächste Ecke gerollt hatten, bemerkte niemand, dass der Rothaarige ihr eine Spritze mit Hiberzinegegenmittel ins Bein verpasste.
Die Leichenhalle war einen Korridor von einer Notschleuse entfernt. Das Beige der GalPlas-Wände bildete einen scharfen Kontrast zu dem grellen Weiß der auf Hochglanz polierten Fußbodenkacheln. Der beißende Geruch der Intensivstation hatte sich abgeschwächt und wurde von dem schwachen, aber unverkennbaren, an verbranntes Schweinefleisch erinnernden Geruch des Krematoriums überlagert.
Jay hatten sie am Morgen eingeäschert. Die Systemakten wurden nicht nur unzureichend geschützt, sondern ließen auch erkennen, dass die Leichenhalle nur selten benutzt wurde — Tommy hatte sich da vergewissert. Gleich nachdem er sie hinuntergebracht hatte, änderte er die Zeit jener Einäscherung auf den augenblicklichen Zeitpunkt ab. Anschließend holte er die ordentlich etikettierte Schachtel mit Jays Asche hinter dem Tisch hervor und stellte sie auf das Regal, wo ihre Asche hingekommen wäre, wenn sie wirklich tot gewesen wäre.
Als sie anfing, zu sich zu kommen, hatten sie sie bereits in einen schwarzen Schiffsoverall und dick isolierte Stiefel gesteckt. Dann gab Papa ihnen lange genug Rückendeckung, um zur Schleuse zu kommen, Schutzhelme und Anoraks anzulegen, auf den wartenden Motorschlitten zu klettern und anschließend den vorprogrammierten Befehl auszusenden, der sicherstellte, die Schleuse vergessen zu lassen, dass sie je hier gewesen waren. Und dann waren sie weg.
Eine der guten Seiten des extremen Faschismus der Darhel war dessen Auswirkung auf die Verfahrensregeln der meisten interstellaren Raumhäfen. Die Regel sah vor, dass man sich seine Slots für den Abflug gleich nach dem Eintreffen geben ließ und dann wartete, bis man dran war. Anschließend konnten diese Startzeitpunkte nach Belieben des Slot-Besitzers verkauft werden. In der Praxis bedeutete das, dass die Landung gratis war, während der Start Geld kostete. Außerdem bedeutete es, dass Darhel nie auf einen Start-Slot warten mussten noch in irgendeiner Weise durch fixierte Startzeiten beeinträchtigt waren.
Heute passte das Tommy ganz hervorragend. Wie angewiesen, hatte die Crew des echten Frachters das Schiff nach dem Beladen startbereit gemacht, und es gab einen weiteren Frachtshuttle, dessen Eigner nur zu gern bereit war, aus der Ungeduld eines anderen Verkehrsteilnehmers Gewinn zu schlagen.
Eine Stunde nach Verlassen der Gefängnisluftschleuse hatten sie abgehoben.
Zweieinhalb Stunden später lag Cally auf der Platte in der Indowy-Sektion des Frachters in einem Raum, in dem sechs Indowy Crewmitglieder untergebracht gewesen waren, ehe der Frachter für diese Reise gechartert worden war. Die menschlichen Eigner des Frachters wussten nichts von der Existenz des Raumes. Ebenso wenig die Darhel-Besitzer der Holdinggesellschaft. Nach dem nächsten Anlegen des Frachters würde das Gerät entfernt werden und verschwinden, bis es irgendwo anders wieder gebraucht wurde, sechs Indowy würden das Schiff verlassen, und niemand, der nicht schon vorher von der Existenz des Raumes gewusst hatte, würde je davon erfahren.
Nach zwei Stunden auf der Platte konnte Cally sich in ihrem Raum bewegen. Unglücklicherweise musste sie den Rest der Reise alleine in der Kabine verbringen, und Papa brachte ihr die Mahlzeiten. Das war nicht zu vermeiden. Die Crew des Frachters hatte sie kurz zu sehen bekommen, als sie in den Shuttle taumelte, und für ihre schnelle Heilung gab es keine akzeptable Erklärung. Er hatte ihren Zustand als Folge eines brutalen Überfalls hingestellt, aber wenn sie am Ende der Reise auf dem Mond auf Basis Selene von Bord gingen, würden sie Schienen, Bandagen, Make-up und sorgfältige Planung brauchen, um sie vom Schiff zu bekommen, wenn die Mannschaft nicht neugierig werden sollte.
Wahrscheinlich war das auch ganz gut so. Er hatte festgestellt, dass Cally nach einem harten Einsatz nicht übermäßig freundlich auf Fremde reagierte.
Titan Orbit
Donnerstag, 20. Juni, 20:00
Cally blickte mit strahlender Miene auf, als Tommy hereinkam, um ihr das Abendessen zu bringen, und setzte ihr bestes Lächeln auf. Der Inhalt der Einkaufstüte mit Kosmetik- und Toiletteartikeln und anderem Mädchenkram, die er vor der Extraktion zusammengestellt hatte, in dem Wissen, dass sie diese altmodischen Werkzeuge weiblicher Tarnung brauchen würde, nicht aber welche und wie viel, war über ihre Pritsche verstreut. Ihre Miene wirkte zugleich erfreut und schuldbewusst, wie ein Kind, das man beim Auspacken der Weihnachtsgeschenke einen Tag vor dem Fest ertappt hat. Sie wischte sie in die Tüte zurück, als bedeuteten sie nichts, aber ihre Augen strahlten.
»Hey, Held. Ihr Jungs habt mich da aus der Hölle geholt«, sagte sie. »Oh, und vielen Dank noch für die Sachen.«
»Jo. Haben wir. Papa wird gleich kommen. Die Crew weiß natürlich nicht, dass ihr beide verwandt seid. Er hat sich also offiziell auf eine Runde Black Jack eingelassen.« Er sah ihren Ausdruck. »Nein, wirklich. Wenn er weggerannt wäre, um hierher zu kommen, hätte das verdächtig gewirkt. Die halten dich für meine Freundin.«
»Was?« Sie sah gefährlich aus, wie sie so dastand, ihre Pritsche in die Wand zurückklappte und anschließend den normalerweise unter der Pritsche verstauten Hocker herausholte und aufklappte.
»Hey! Augenblick mal! Meine Idee war das nicht — und Papa wäre sich wirklich komisch vorgekommen, wenn er vor der Crew so tun würde, als wäre er auf die eigene Enkeltochter heiß.« Er stellte das Tablett auf den Tisch, klappte den Gästehocker aus der Wand und hob dabei in einer Geste, die besänftigen sollte, die Hände.
»Er wäre nicht das erste Mal, dass er bei einem Einsatz so tut, als wäre ich seine Freundin.« Ihre Stimme ließ einen Hauch von Verärgerung erkennen. »Ich meine okay — puh — aber das hat er eben!«
»Für einen Tag hier oder einen Abend dort, aber du hast doch sicher bemerkt, dass es … ihn ziemlich anstrengt«, schloss Tommy taktvoll.
»Okay, okay. Wahrscheinlich fehlt er mir einfach trotzdem. Die Jungs, die mich gefoltert haben, waren echte Amateure, aber ich war trotzdem sicher, dass ich da nicht mehr lebend rauskomme.« Sie schauderte.
»Wo du jetzt endlich etwas hattest, wofür es sich zu leben lohnt?«, bohrte er.
»Ja, das hat geholfen. Werden — wann werden wir ihn rausholen?« In ihren Augen funkelte etwas, was er bisher nie an ihr bemerkt hatte. Auch ihre Wangen waren gerötet.
»Oh, ja. Expresslieferung.« Er grinste und reichte ihr einen Nachrichtenwürfel.
»Ist das von — warum hast du nicht? Schon gut.« Sie sah sich nach ihrem PDA um und erinnerte sich dann. »Buckley. Ich habe Buckley verloren.«
Tommy war überrascht, echtes Bedauern in ihrer Stimme zu hören. Eigentlich sollte man keine Zuneigung zur Persönlichkeit eines PDA entwickeln, so wie das bei echten AIDs der Fall war. Aber er kannte niemanden, der nicht eine Persönlichkeitsmaske darüber legte. Und insbesondere niemanden, der die Grundpersönlichkeit so häufig verwendet hatte wie sie. Vielleicht ging einem das nach einer Weile nahe.
»Da, nimm mein AID«, bot er an. »Sarah, hilf ihr, okay?« Da saubere AIDs nicht ganz so pingelig waren wie die Originale, konnte er sich darauf verlassen, dass sie sich benehmen würde.
»Danke.« Cally schob den Würfel in den Leseschlitz, und das AID zeigte sofort an. Oh, mein Gott, die haben ihn in einen Rollstuhl gesetzt? Die Ärzte von Fleet Strike können das doch besser. Oh, das muss gestern gemacht worden sein. Yeah, ich schätze, wenn die ihn rausgelassen haben statt seinen Regenerationsschlaf zu absolvieren, musste er natürlich aufpassen. Dieser Mistkerl Beed.
»Cally, meine Liebe. Dein Name passt zu dir. Wenn du das siehst, haben wir es geschafft. Wir haben dich rausgeholt. Gut. Wenn ja, dann hoffe ich, bald bei dir zu sein. Ohne Gefangenen bin ich nur so lange hier, um den XO zu befördern, und dann geht es zurück zur Erde. Tommy und dein Großvater haben mir erklärt, wie diese ganze Geschichte funktioniert. Sobald ich meine Angelegenheiten abgeschlossen habe, werden die mich reinholen, so bald wie möglich. Irgendwann werden die Darhel sich fragen, selbst wenn Fleet Strike das nicht tut, ob ich dir eine Selbstmordpille zugesteckt habe. Also werde ich dich bald sehen, Liebes — und hoffe, du freust dich darauf genauso wie ich. Sag Tommy, dass es schon in Ordnung geht, wenn er über mich redet. Vaya con Dios, Cally.« Das Hologramm verschwand.
»Wir bleiben noch zwei oder drei Tage im Orbit, um die Information über seine Reisepläne mitnehmen zu können«, sagte Tommy.
»Gut. Du kennst ihn? Von wo? Bei der Einsatzbesprechung hast du das nicht erwähnt«, sagte sie.
»Cally, es tut mir Leid. Ich habe Mist gebaut. Ich kannte ihn vor vierzig Jahren, bei den GKA, und als ich ›Lieutenant‹ hörte, bin ich einfach nicht draufgekommen. Erst als wir nach deiner Festnahme sahen, wer der neue CO ist.« Er richtete sich auf den Sturm ein, der gleich kommen würde.
»Okay. Wie war er damals?«, fragte sie.
»Was?« Okay? Ich habe Mist gebaut und bin schuld, dass man sie gefangen genommen und gefoltert hat, und das Einzige, was sie dazu zu sagen hat, ist »Okay«? Verdammt, die ist verliebt. »Oh. Also, zuerst einmal, er hieß nicht immer James Stewart. Jetzt ist das sein richtiger Name, und damals war es das auch, aber seine Mutter hat ihn Manuel genannt …«
Basis Titan
Donnerstag, 20. Juni, 20:00
Mary’s Diner war entschieden kein Lokal, das man irgendwie mit den Tongs oder etwas anderem als billigen Mahlzeiten für sparsame Kolonisten in Verbindung bringen konnte, die auf ihr Emigrantenschiff wanderten. Das Publikum dort war jedenfalls rund um die Uhr sehr gemischt. Es gab einen Pausenraum für die Angestellten — überflüssig, weil Mary und ihr Mann das gesamte Personal darstellten. Mary war eine Klatschbase — sie klatschte über alles Unwichtige. Und außerdem kochte sie ordentlichen Tee.
Und alles das waren Gründe, weshalb James Stewart bei einer Tasse Tee in ihrem Pausenraum saß und mit dem dai dai lo der Schwarze-Drachen-Tong redete.
»Sie wissen natürlich, dass das, was Sie haben möchten, sehr teuer ist, nicht wahr?« Der andere nippte genüsslich an seinem Tee. Sein Gastgeber hatte ausgezeichneten Geschmack. Er trank importierten Oolong am liebsten sehr heiß. Der Raum war recht sympathisch eingerichtet, mit einem Miniaturspringbrunnen, der vor sich hin gurgelte, und einem Zweig Kirschblüten, natürlich Seide, in einer Kristallvase auf dem Tisch. Ein guter Ort, um Geschäfte zu machen.
»Ach, kommen Sie schon. Ich weiß, wie so etwas funktioniert. Wie sollen Sie denn sonst Profit daraus schlagen? Glauben Sie denn nicht, dass ich es wert bin?«, grinste Stewart.
»Vielleicht. Ich will gar nichts versprechen, aber ich werde meinen Großvater fragen«, sagte er.
»Mehr verlange ich ja auch nicht. Wann meinen Sie denn, dass Sie mir Bescheid geben können?« Der ehemalige Gangleader und heutige General nippte an seinem Tee.
»Morgen. Morgen werde ich es wissen«, sagte er.
»Dann sehen wir uns morgen.« Stewart verabschiedete sich höflich und ging hinaus. Er musste eine Beförderung bekannt geben.
Basis Titan
Freitag, 21. Juni, 10:15
Nachdem Mary ihnen den Kaffee eingegossen und den Raum verlassen hatte, reichte ihm der dai dai lo ein Ticket und warf dabei einen Blick auf das AID auf dem Tisch.
»Ihre Passage zur Erde ist auf unserem Schiff Kick ’em Jenny von Dulain bestätigt. Es werden keinerlei Passagiere an Bord gehen oder sich ausschiffen, nur der Lieblingsneffe von Onkel, der einen Urlaub antritt. Wenn er nicht auftaucht, sollten Sie sich keine Gedanken machen. Der Junge ist ein wenig wirr im Kopf. Ihr Shuttle startet heute Abend um acht Uhr fünfunddreißig«, sagte er.
»Vielen Dank. Ich bin Ihnen sehr dankbar. Das war eine anstrengende Reise, und ich freue mich darauf, so bald wie möglich wieder zur Erde zurückkehren und dort wieder meine Arbeit aufnehmen zu können.« Der General stand auf und nahm sein Ticket und das AID vom Tisch.
»Ja, natürlich. Falls wir Ihnen jemals wieder in irgendeiner Weise zu Diensten sein können, sollten Sie nicht zögern, mit uns Verbindung aufzunehmen. Ich wünsche eine angenehme Reise.« Er schüttelte dem anderen die Hand, wobei ein Datenwürfel den Besitzer wechselte.
Als der General hinausging, sagte er zu dem Gerät, das nicht viel größer als eine Packung Zigaretten war:
»Diana, bitte gebe meine Reisedaten an General Vanderberg durch. Herrgott, ich kann’s nicht erwarten, wieder nach Hause zu kommen.« Er ging hinaus, und der dai dai lo konnte gerade noch die melodische Frauenstimme hören, als die Tür sich hinter ihm schloss.
»Ja, James. Sendung abgeschlossen«, sagte sie.
Titan Orbit
Freitag, 21. Juni, 13:20
Wirklich jammerschade, dass Cally nicht hier sein konnte. Der Aufenthaltsraum für die Crew war vermutlich der bequemste Raum, den das ganze Schiff zu bieten hatte. Die Sessel waren mit wirklich gutem braunem Lederimitat gepolstert, und an einer Wand knisterte in einem offenen Kamin ein holografisches Feuer. Ein diskreter Luftauffrischer in der unteren Ecke des Bildschirms des Kamins verbreitete den Duft verbrennender Buchenscheite. Ein paar kleine Tische standen herum, die man in Gruppen zusammenstellen konnte, wenn man das wollte, und es gab sogar tatsächlich eine ordentliche Bar. Die Kaffeedose für Trinkgelder und ihre Abneigung gegen Alkohol nahm dem zwar ein wenig das Vergnügen, aber man konnte schließlich nicht alles haben.
Tommy blickte von seinem Backgammon-Spiel mit Papa O’Neal auf, als der Navigator hereinkam und auf ihn zuging.
»Sir, wir haben gerade eine verschlüsselte Nachricht von einem benachbarten Schiff empfangen. In der Adresse sind Sie genannt.« Er reichte Tommy einen Datenwürfel.
»Danke.« Er legte ihn neben das Spielbrett, ignorierte das Zögern des Mannes, bis dieser offenbar bemerkt hatte, dass es hier nichts zu schnüffeln gab, und sich in Richtung auf die Brücke entfernte.
»Ich denke, ich werde mal nach Felicia sehen, wenn es dir nichts ausmacht, dass wir das Spiel kurz unterbrechen.« Sie würde ihn umbringen, wenn sie diese Nachricht nicht sofort nach dem Entschlüsseln zu sehen bekam. Man konnte es ihr auch nicht verübeln. Wenn er Wendy dort unten wüsste, würde er jetzt auch an seinen Fingernägeln kauen.
Basis Titan
Freitag, 21. Juni, 20:25
Das Zugangsrohr zum Laderaum des Shuttle, das er statt des Passagiergangs zur Hauptkabine benutzen musste, war eiskalt. Er hatte sich mit Ausnahme von Gesicht und Nase völlig vermummt, aber es war trotzdem verdammt kalt. Weniger abgewetzte Stellen in dem grauen Rohr ließen vermuten, dass es früher einmal blau gewesen sein musste. Vermutlich war es fünfzig Jahre alt und stank nach Kohlenwasserstoff, der von draußen eindrang. Zum Glück musste er das bloß höchstens eine Minute lang ertragen.
»Diana, ich werde dich jetzt in meinen Koffer stecken, bis wir oben auf dem Schiff sind. Ich habe bei weitem nicht so gut geschlafen, wie die Ärzte das gern hätten, und ich glaube, ein kleines ungestörtes Nickerchen würde mir auf dem Flug in den Orbit mächtig gut tun.« Er stopfte das AID zu seinen Uniformen in den Koffer.
»Geht in Ordnung, James. Wenn es dir gut tut. Wir sehen uns dann an Bord.« Sie klang fast wie eine Mutter, die ihr Kind zu Bett bringt.
»Gute Nacht, Diana.«
»Gute Nacht, James.«
Er klappte den Koffer zu und verstaute ihn im Laderaum des Shuttles.
Titan Orbit
Freitag, 21. Juni, 20:25
»Okay, da bin ich wieder, wie versprochen.« Tommy trat durch die Tür und balancierte dabei zwei Tabletts mit Essen — und kein einziges Maisprodukt dabei.
Cally hatte die Kosmetikartikel, die er ihr besorgt hatte, offenbar gut genutzt und saß jetzt mit Wattebäuschen zwischen den Zehen und offenkundig frischem grellrotem Nagellack auf Fingern und Zehen auf ihrem Bett. Wenigstens hatte sie nicht die grüne Pampe im Gesicht, mit der Wendy sich gelegentlich beschmierte.
»Ich hatte gedacht, du würdest beim Abendessen heute gern ein wenig Gesellschaft haben«, sagte er. »Sollte ich Sarah ein Spiel für zwei Personen aufrufen lassen? Sie versteht sich recht gut auf Space Invaders.«
»Ja, das wäre nett. Ehrlich gesagt bekomme ich allmählich eine Art Budenkoller.« Callys Grinsen wirkte ansteckend. »Wenn ich zurückkomme, gibt es eine Menge zu tun, um meine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen und, na ja, du weißt schon, mit Planen anzufangen.« Einen Augenblick wirkte sie unsicher.
»Du glaubst doch, dass er heiraten möchte, nicht wahr?«, fragte sie besorgt.
»Damals, bei den GKA, war er ebenso katholisch wie du, und wenn er etwas wollte, konnte er verdammt stur sein. Für mich gibt es keine Zweifel, dass er ernste Absichten hat und heiraten will, verdammt, bei den Verwandten, die du hast, Mädchen? Und du selbst bist ja auch nicht gerade ohne.« Er lachte. »Wendy und Shari werden begeistert sein, euch bei der Planung zu helfen.«
Mitten im dritten Spiel erstarrten die Figuren.
»Tommy, ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten«, unterbrach das AID.
»Was?«, fragte er. Cally presste sich die geballte Faust gegen den Mund.
»Die Schiffsinstrumente haben eine Explosion in der Atmosphäre von Titan festgestellt. Die Verkehrskontrolle bestätigt, dass es die FS-688 mit Kurs auf die Kick ’em Jenny ist. Bergungsteams sind ausgeschickt worden, aber … es sieht nicht gut aus. Ich habe gewartet, bis ich mir sicher war. Tut mir schrecklich Leid«, schloss es bedrückt.
»Cally?« Tommy sah zu ihr hinüber. Ihre Hand war auf den Tisch gesunken, und ihr Gesicht war fleckig grau geworden. Er versuchte ungeschickt, sie an sich zu drücken, aber sie hätte ebenso gut ein Stück Holz sein können.
»Cally?«, versuchte er es noch einmal. »Komm schon, Honey, du machst mir Angst. Wir wissen noch gar nichts Sicheres. Komm schon, reiß dich zusammen.« Keine Reaktion. Er tat das Einzige, was er tun konnte — rannte aus der Kabine, um Papa O’Neal zu holen, und erwischte ihn schließlich mit seinem PDA in der Hand, auf dem er sich einen alten Film ansah.
»Tommy? Was ist denn los? Du siehst ja aus, als …« Er verstummte.
»Es hat einen Unfall gegeben. Ca — Felicia braucht dich. Jetzt gleich«, sagte der Jüngere.
Als sie zu ihrer Kabine zurückkamen, hatte sie die Tabletts vor die Tür gestellt und lag auf ihrer Koje, das Gesicht zur Wand gewandt und nichts, was sie tun oder sagen konnten, löste bei ihr eine Reaktion aus.
Über die nächsten paar Tage wechselten sie sich neben ihrem Bett ab und bemühten sich, sie nie allein zu lassen. Sie redete nicht. Mit äußerster Mühe konnten sie sie gerade noch dazu bewegen, ein paar Bissen zu essen und Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Sie brachten ihr das Beste, was die Kombüse zu bieten hatte, aber ihrer Reaktion nach zu schließen hätte es ebenso gut Sägemehl sein können.
Am dritten Tag schließlich nahm sie sich ein Handtuch und Kleidung zum Wechseln. Papa O’Neal stellte sicher, dass der Weg zur Toilette frei war, und hielt davor Wache, während sie sich wusch und frische Kleidung anzog.
Er wertete das als hoffnungsvolles Indiz und versuchte, mit ihr zu reden, aber sie schüttelte bloß den Kopf.
Als Tommy ihn am Nachmittag auf eine Weile ablöste, ging er auf die Brücke und bestach den KommTech, ihn die Erde anrufen zu lassen und sich einen Download ihrer Lieblingsmusik zu holen. In komprimierter Form kostete das nicht die Welt. Na ja, jedenfalls nicht, wenn man es sich leisten konnte.
Den restlichen Nachmittag und Abend ließ er seinen PDA alles abspielen, was ihr nach seiner Erinnerung gefiel. Sie redete immer noch nicht, aber er glaubte sich nicht bloß einzubilden, dass sie nicht mehr so völlig verspannt wirkte. Zumindest nicht, bis diese Urb-Band aus dem Krieg spielte. Als deren Nummer kam, hörte er sie schniefen. Sein Blick zuckte zu ihr hinüber, wo sie mit geschlossenen Augen auf dem Rücken dalag. Unter ihrem Augenlid rann langsam eine Träne heraus. Dann noch eine. Und noch eine. Als sie dann lauthals zu schluchzen anfing, ging er neben ihrer Koje auf die Knie und drückte sie an sich, bis sie sich ausgeweint hatte. Es dauerte eine kleine Ewigkeit. Aber schließlich hatte sich seine Enkeltochter auch eine ganze Menge Tränen aufgespart.
Als sie sich ausgeweint hatte, wollte sie immer noch nicht reden. Er schnappte sich eine Schachtel Papiertücher, die er mehr aus Hoffnung denn aus Überzeugung bereitgehalten hatte, und sah zu, wie sie sich die Tränen abwischte.
Als dann das Wochenende näher rückte, hatte sie wieder etwas Appetit, beinahe wieder mehr oder weniger normal.
Sie redete immer noch nicht, aber immerhin hatte er es geschafft, sie für ein paar alte Filme und Holos zu interessieren, einfach, indem er eine Weile verschwand und seinen PDA neben ihrer Koje stehen ließ.
Am Anfang der darauf folgenden Woche sah sie sich praktisch ununterbrochen Filme an. Ein weiterer umfangreicher Download hatte ihm das komplette Werk von Fred Astaire und Ginger Rogers geliefert und erstaunlicherweise dazwischen ein paar Episoden der Three Stooges. Aber in drei Teufels Namen, wenn sie Soap Operas aus den Siebzigern gewollt hätte, hätte er ihr selbst die besorgt, und zum Teufel mit den Kosten.
Orbit um den Erdmond
Mittwoch, 3. Juli, 06:30
Grandpas PDA sagte, sie hätten den Mond erreicht. Dem Flugplan nach würden sie ein paar Tage hier bleiben und Ladung von den gemeinsam von Menschen und Indowy betriebenen Fabriken aufnehmen und auch welche abliefern. Grandpa schnarchte auf dem Boden ihrer Kabine. Er sollte dringend Enthaarungsschaum benutzen. Es war wirklich dringend! Die roten Stoppeln wirkten nach all den Jahren, in denen sie sich an ein glatt rasiertes Kinn gewöhnt hatte, äußerst seltsam.
Der Geruch in der Kabine war, wenn sie es richtig überlegte, auch nicht mehr der beste. Unterwegs hatten sie einmal versucht, ihr Fisch zu essen zu geben, und der Geruch war hängen geblieben. Ihre Bettlaken rochen ebenfalls. Den stets vertrauten Geruch nach Red Man hätte sie in der Mischung wahrscheinlich gar nicht bemerkt, bloß dass er ein wenig abgestanden war. Aber das Ganze wirkte auch vertraut und tat ihr damit zusätzlich gut.
Das helle Blau des GalPlas der Kabinenwände wäre vermutlich in Ordnung gewesen, wenn sie es nicht während der ganzen Reise angestarrt hätte. Jemand hatte einen grünen Fetzen Teppichboden aufgetrieben und ihn auf den Boden geklebt. Sie konnte die Stücke davon sehen, die nicht von Grandpa bedeckt waren. Die Farbe biss sich schrecklich mit seinem Haar, aber vermutlich war es trotzdem besser als nacktes GalPlas.
Sie verspürte leichte Schuldgefühle. Sie hatte eine Weile Trübsal geblasen, aber Tommy und Grandpa hatten sich offenbar gewaltige Sorgen gemacht. Sie würde zumindest wieder reden müssen und all das, damit die beiden zu ihrem Schlaf kamen und tun konnten, was sie tun mussten.
Schließlich hatte sie ja noch ein langes Leben vor sich. Welche Freude. Sie gab sich alle Mühe, ihr Selbstmitleid zu verdrängen. Eines nach dem anderen.
Sie spähte zur Tür hinaus. Die Crew sollte sie ja nicht sehen, aber für den Augenblick war ihr das egal. Zum Glück war weit und breit niemand zu sehen. Sie schnappte sich einen frischen Overall, ein sauberes Handtuch und ein paar von den Toilettensachen, die Tommy ihr besorgt hatte. Als sie ihren eigenen Körpergeruch wahrnahm, rümpfte sie die Nase. Sie brauchte dringend eine Dusche. Sehr dringend.
Zum Glück waren Frachtercrews, die nicht für die Nachtschicht eingeteilt waren, nicht gerade Frühaufsteher. Also jedenfalls diese Crew war das nicht. Gut. Keine Unterwäsche, aber da war eben nichts zu machen. Auf dem Stützpunkt Selene konnte sie sich ja dann etwas kaufen. Wenn sie keine frische Unterwäsche bekam, würde sie jemanden umbringen. Okay, nicht im Wortsinn. Sie seufzte. Der Weg zurück würde höllisch lang sein.
Grandpa wachte erst gegen halb zehn auf. Sie konnte ihn nur mit dem feierlichen Versprechen, nachher mehr als zwei Worte pro Tag zu reden, dazu bringen, sich in seine eigene Kabine zu begeben, »Ich … das wird schon wieder, Grandpa. Na ja, zum größten Teil jedenfalls. Aber noch nicht gleich. Im Augenblick schaffe ich das noch nicht. Geh jetzt schlafen. Ich muss den Shuttle nach unten erwischen und mir ein paar Sachen kaufen.«
»Ich komme mit«, erklärte er.
»Grandpa, ich will beim Einkaufen alleine sein. Nenne es meinetwegen Einkaufstherapie, falls du dich dann wohler fühlst. Hör zu, ich verspreche dir, dass ich mir als Allererstes einen PDA kaufe und dich anrufe und dir die Nummer durchgebe, okay?«
»Wenn du das wirklich brauchst. Aber, Cally, das verspreche ich dir, wenn du Mist baust oder irgendwas Gefährliches anstellst, kannst du was von mir erleben.«
»Ich … denke nicht einmal an etwas so Dummes. Ich brauche bloß ein wenig Zeit für mich. Äh, Grandpa?«
»Ja?«
»Könntest du mir eine Kreditkarte leihen?«
Basis Selene, Erdmond
Mittwoch, 3. Juli, 20:15
Es war ein anstrengender Shopping-Ausflug gewesen. Den größten Teil ihrer Schachteln und Tüten hatte sie im Frachtbereich abgegeben. Der Shuttle-Pilot hatte sich nach ihren Verletzungen erkundigt. Zum Glück hatte sie sie als Folgen des Überfalls erklären können — hauptsächlich Verstauchungen und Prellungen, die schlimmer ausgesehen hatten, als sie wirklich waren. Die Crew hatte sie über eine Woche lang überhaupt nicht zu Gesicht bekommen, also lag das durchaus im Bereich des Möglichen.
Grandpa hatte aufgehört, sich Sorgen zu machen, sobald sie sich bei ihm gemeldet hatte und er sie per E-Mail erreichen konnte und ihre Pläne kannte.
Für diesen Abend hatte sie sich Hausaufgaben vorgenommen. In ihrem ganzen Leben war ihr noch nie weniger nach Feiern zumute gewesen, aber weiß Gott, sie würde sich in eine Bar setzen und sich einen Drink genehmigen, ehe sie sich eine Bleibe für die Nacht suchte. Der Frachtshuttle würde erst morgen Nachmittag mit der nächsten Ladung hinauffliegen.
Ach was, vielleicht würde sie sogar ein paar Tage hier bleiben. Oder auch nicht. Eines nach dem anderen.
Sie stand vor einer Bar, von der der neue Buckley behauptete, dort würden hauptsächlich Frachtercrews und andere auf dem Weg von hier nach dort verkehren. Ihr schwarzer Catsuit war nicht gerade unauffällig, aber sie hatte ihn im Laden entdeckt und aus sentimentalen Gründen einfach nicht widerstehen können. Dieser hier saß ein wenig besser als der letzte — in den vergangenen zwei Wochen hatte sie aus den verschiedensten Gründen ein wenig abgenommen. Eines nach dem anderen. Ich werde jetzt da hineingehen und mir einen Drink bestellen. Einen Drink in einem Lokal, wo Menschen sind. Und dann kann ich mir irgendwo eine Bleibe suchen und mich dort für den Rest der Nacht verkriechen.
Sie konnte sich erinnern, schon in besserer Stimmung gewesen zu sein. Im Augenblick musste sie hie und da Männer abwimmeln, die versuchten, sie anzubaggern, und dann wieder mürrisch an der Erdbeer-Margarita nuckeln, die vor ihr stand und dabei der Versuchung widerstehen, das Glas mit einem Zug zu leeren, um weggehen zu können. Ich hätte wissen sollen, dass es so sein würde. Nein, verdammt. Eines nach dem anderen. Sie hörte, wie sich wieder Schritte näherten, und seufzte.
»Ist der Platz frei?«, fragte er.
»Nein, es sei denn, Sie können sich die eigenen Augenbrauen lecken!« O Gott. Dass ich auch gerade das sagen musste.
»Wie glauben Sie denn, dass ich mir den Scheitel ziehe?«
Der Griff, mit dem sie seine Hand packte, ließ ein paar Augenblicke lang ihre Knöchel weiß hervortreten, ehe er sich lockerte. Dafür musste es einen guten Grund gegeben haben. Den gab es schließlich für so etwas immer.