Basis Titan, Fleet Strike Militärgefängnis
Dienstag, 18. Juni, 21:30
Der Verhörraum war mit in einer Richtung durchsichtigem Glas versehen und nahm zwei Etagen ein. Sam Baker erinnerte das an ein Aquarium. Er hatte die Militärpolizisten hinausgeschickt; sie wussten nicht, wer die Gefangene war, und sie hatte bis jetzt zu keinem seiner Leute auch nur ein Wort gesagt. Er hoffte, sie würden, wenn er sie allein beobachtete, vielleicht eine Akte aufbauen können, die schließlich zu einer positiven Identifizierung führen würde.
Im Augenblick tanzte die Gefangene, und zwar mit vollem Einsatz. Das war ein unglaublich seltsames Verhalten, insbesondere in dem ziemlich hässlichen orangefarbenen Gefängnisoverall, aber auch das würde in die Akte kommen. Es war natürlich durchaus möglich, dass sie diese Akte später gar nicht brauchen würden. Wahrscheinlich würden sie bis zum nächsten Morgen alles über sie wissen, auch was sie zum Frühstück gegessen hatte.
Die Abteilung der Sicherheitspolizei war vor ein paar Minuten eingetroffen. Ein Lieutenant Wong Yan-Feng in Begleitung eines Sanitäters und eines Senior Chief mit uralten Augen. Seine Anwesenheit stellte eine gezielte Beleidigung von Fleet Strike dar, und Baker sträubten sich dabei die Nackenhaare. Trotzdem, mit modernen Verhördrogen konnten sie eine Menge Zeit sparen, und der Sanitäter hatte davon offenbar ein komplettes Sortiment bei sich, darunter auch einige Präparate, die nach den Vorschriften von Fleet Strike für die Anwendung an Gefangenen nicht zugelassen waren. Aber wenn der Mann von Fleet damit die ganze Geschichte schnell erledigte und er selbst sich dann wieder seinen eigenen Fällen zuwenden konnte, hatte er dagegen nichts einzuwenden.
So viel Personal kam ihm für eine einzige Gefangene maßlos übertrieben vor und vermittelte ihm ein Gefühl von Unbehagen, aber sobald sie die Frau einmal mit Drogen voll gepumpt hatten, würde alles ohnehin vorbei sein, also hatte sich da wahrscheinlich bloß jemand ausgetobt, um die Rivalität zwischen den Waffengattungen wieder einmal auf die Spitze zu treiben.
Die Abteilung hatte ihren eigenen Tee mitgebracht und der Lieutenant saß jetzt mit einer frischen Tasse da, während der Senior Chief und die SPs eine fahrbare Bahre heranrollten, um die Gefangene darauf für den Arzt anzuschnallen. Baker revidierte seine Meinung hinsichtlich der Notwendigkeit für so viele Leute, denn bis sie sie schließlich festgeschnallt hatten, lagen vier Männer auf dem Boden und zwei weitere wirkten ziemlich mitgenommen, und das, obwohl sie sie alle gleichzeitig angegriffen hatten. Er hätte niemals geglaubt, dass eine Frau, selbst eine mit Nahkampfausbildung, so stark sein könnte. Offen gestanden hätte er das nicht einmal von den meisten Männern erwartet, und dabei hatte er wochenlang neben ihr gearbeitet. Was zum Teufel war diese Frau?
Ihre Reaktion auf die Verhördrogen, selbst die wirklich hässlichen, wirkte gelangweilt. Du lieber Gott. Vielleicht war das Team wirklich nicht zu groß. Schließlich verpasste ihr der Arzt eine letzte Injektion und machte sich nicht einmal die Mühe, auf deren Wirkung oder das Ausbleiben einer solchen zu warten, ehe er den Raum verließ und es den SPs überließ — denen, die noch auf den Beinen waren, und dem, der sich schließlich wieder aufgerappelt hatte -, ihre außer Gefecht gesetzten Kameraden hinauszuschleifen.
Es verging beinahe eine Stunde, bis der Arzt wieder mit dem Chief und einer gemischten Gruppe SPs zurückkehrte. Der Chief nahm vor dem Lieutenant Haltung an.
»Wir werden weitere fünf Männer brauchen, Sir. Zwei davon dauernd.« Das Gesicht von Senior Chief Yi Chang Ho war eine Studie der Teilnahmslosigkeit.
»Die werden Sie bekommen.« Der einzige Hinweis auf irgendwelche Emotionen im Gesicht des Offiziers war ein leichtes Zucken in den Augenwinkeln, dann wurde es wieder starr.
»Was haben Sie ihr als Letztes gegeben?« Baker musste das einfach wissen.
»Ein wenig Provigil-C. Wenn Sie Superagenten bauen müssten, würden Sie sie dagegen immun machen? Teilen Sie Leute ein, um sie in der Nacht zu überwachen. Wenn sie nicht schläft, können wir weiter Schlafunterdrücker einsetzen, ohne ihre Wachsamkeit zu steigern. Vielleicht wirkt das. Jemand wird hineingehen müssen und sie losbinden. Das steigert die Genauigkeit der Beobachtung, ob sie schläft oder nicht.« Auf seinem Namensschild stand »PO1 Liao Chien«.
Baker war danach, kräftig zu schlucken, aber er wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass Fleet Strike vor diesen selbstgefälligen Mistkerlen von der Flotte und dem Darhel-VIP schlecht aussah. Er forderte ein Platoon Militärpolizei an, um die Fesseln der Gefangenen zu lockern und gegebenenfalls mit der fahrbaren Bahre einen taktischen Rückzug einzuleiten.
Glücklicherweise schien sie nicht so sehr daran interessiert, Männern Schaden zuzufügen, die sie von ihren Fesseln befreiten, wie sie dies gegenüber Männern war, die sie festschnallten. Keine zusätzlichen Opfer. Sie fing nur sofort wieder an zu tanzen. Allmählich erkannte er den Tanz. Offenbar waren es immer wieder dieselben Bewegungen. Tartaglia war neben ihn an die Glaswand getreten und nahm jetzt nachdenklich einen Schluck aus seinem Kaffeebecher.
»Ich frage mich, zu welcher Musik sie tanzt?«, sagte er.
Basis Titan, Fleet Strike Militärgefängnis
Dienstag, 18. Juni, 21:30
Sie werden mich nicht rausholen. Sie werden es wahrscheinlich nicht einmal versuchen. Ich werde hier sterben, unter der Folter. Die Erholungskräfte sind stark … gewöhnlich. Das Einzige, was ich nicht steuern kann, ist, wie lange es dauert — zumindest nicht, solange die so dämlich sind, mich hier drinnen loszulassen. Zu guter Letzt werden die Kraftreserven meines Körtiers nachlassen, und ich werde sterben. Je geringer die Reserven sind, desto früher wird das der Fall sein. Früher ist gut. Damit wären wir hier wieder bei Schwester Dorcas und dem Überlebenstraining. Verdammt, was habe ich dieses sadistische Miststück gehasst. Ich muss einen Anker finden. Er lebt, als was auch immer er sich erwiesen hat, er lebt. Das ist einer. Das letzte Lied, bei dem wir uns geliebt haben. Das ist ein guter Anker. Ich kenne es auswendig. Ich könnte ewig dazu tanzen, und ganz gleich, was die mir auch antun, es erinnert mich an Anker Nummer eins. Er lebt. Okay, etwas, woran ich mich festhalten kann und ein Plan. Abgehakt.
Und ich könnte wirklich ewig dazu tanzen. Wie hat sie das wissen können, wo es doch so lange her ist, dass sie das gesungen hat. Einfach so. Aber seitdem fühle ich mich nicht mehr so taub und abgestumpft. Und bis jetzt ist mir das nie klar gewesen. Welche Ironie. Erst jetzt lebe ich richtig, jetzt, wo ich bald sterben werde.
Ewig werden die mit mir ja nicht Abklatschen spielen. Am besten erledige ich schnell so viel ich kann, ehe die dahinterkommen. Und ich war im Herzen wie erstarrt, wie eingefroren. So kalt. Aber zumindest … zumindest hatte ich eine Weile ihn.
Ups. Hier kommen die Mistkerle und mit einer fahrbaren Bahre und Typen von Fleet, die meinen es ernst. Darhel-Büttel anstelle von ehrlichen Soldaten, schätze ich. Die haben da etwas manipuliert, um die Flotte hineinzuziehen. Eigentlich gibt es keinen Grund, nicht ein paar von denen zu erledigen, einfach aus Prinzip. Vielleicht habe ich sogar Glück, und einer vergisst sich und tötet mich.
Basis Titan, Frachthafen
Dienstag, 18. Juni, 23:00
Die Übertragungszeitspanne zwischen der Erde und dem Titan, besonders wenn das Signal verschlüsselt, in einem anderen Signal versteckt und dann um sechs Ecken geschickt werden musste, um sowohl den Sender wie auch den Empfänger zu tarnen, war schon unter normalen Umständen recht lästig.
So drückte sich Papa O’Neal den Finger ans Ohr, als könne er nicht glauben, was er gerade gehört hatte, und Tommy hatte schon Angst, er würde jetzt eine Kostprobe der legendären Wutausbrüche erleben, die man Rothaarigen gewöhnlich zuschrieb.
»Wollen Sie tatsächlich sagen, dass diese Organisation, der ich mehr als dreißig Jahre meiner nicht unbeträchtlichen Berufserfahrung gewidmet habe, sich weigert, auch nur in Erwägung zu ziehen, ob es praktisch möglich ist, meine Enkeltochter rauszuholen, die übrigens eben dieser Organisation ebenfalls gerade mehr als dreißig Jahre ihrer beträchtlichen Erfahrung gewidmet hat? Bitte, sagen Sie mir, dass ich Sie missverstanden habe, O’Reilly.« Die Augen seines Teamkollegen und Mentors waren kalt, eiskalt, kälter als Tommy sie je gesehen hatte.
Der Zeitverzug war endlos. Unglücklicherweise verschaffte das beiden reichlich Zeit, richtig in Fahrt zu kommen. Glücklicherweise verschaffte es ihnen auch reichlich Zeit, über mögliche Antworten und Reaktionen darauf nachzudenken und diejenigen davon auszuwählen, die mit größter Wahrscheinlichkeit wirksam und mit geringster Wahrscheinlichkeit kontraproduktiv und hetzerisch sein würden. Jede Sekunde war notwendig.
»Mike, für das, was es wert ist, und vielleicht ist es eine ganze Menge wert, bin ich natürlich Ihrer Ansicht. Das ist noch nicht vorbei. Keineswegs. Ich werde mich morgen mit Aelool treffen und sehen, was ich tun kann. Mike, Sie und Sunday sind erstklassige Agenten. Es gibt keine besseren. Ich will Ihnen was sagen — vielleicht können Sie, solange noch Diskussionen im Gange sind, ein paar Analysen und Eventualpläne machen. Es hat ja keinen Sinn, Ihre wertvolle Zeit zu vergeuden, während wir hier die einzelnen Prozesse durchlaufen.« Father Nathans Augen schienen um Verständnis und Zeit zu flehen. Tommy konnte spüren, wie sich in ihm kalte Wut aufbaute und seinen ganzen Körper erfasste. Herrgott, das war schließlich Iron Mikes Tochter.
»Nathan, ich würde mit allem Nachdruck empfehlen, dass Sie unsere kleinen, grünen Freunde daran erinnern, dass Menschen keine Indowy sind und dass wir ebenso wenig geneigt sind, ihnen künftig die Kastanien aus dem Feuer zu holen wie auch den Darhel. Ich würde vorschlagen, dass Sie das denen mit dem größten Nachdruck klar machen. Loyalität nach unten an der Befehlskette, Loyalität an das Andenken verstorbener Agenten ist eine Sache. Aber die Loyalität nach unten an der Befehlskette für lebende und atmende Agenten sollte auf deren Prioritätenliste ganz oben stehen. Und dieses Prinzip hat mit meiner persönlichen Beziehung zu dieser Agentin überhaupt nichts zu tun. Wenn die auch nur in Betracht ziehen sollten, dass es für die menschlichen Angehörigen der Organisation akzeptabel sein könnte, eine Extraktion zu verweigern, ohne auch nur über deren Durchführbarkeit nachzudenken, um damit auf Dauer loyale Agenten loszuwerden, mit denen sie vielleicht ein Problem haben, dann sollten sie wissen, dass sie wahrscheinlich keine zwei Agenten in Nordamerika mehr haben werden, die unter diesen Umständen bereit sind, für sie zu arbeiten. Sorgen Sie dafür, dass das denen ganz klar ist und dass es von mir kommt.« Er sprach klar und deutlich, betonte jedes Wort mit großer Sorgfalt.
»Mike, alles, was ich zu diesem Zeitpunkt tun kann, ist, Sie zu autorisieren, an diesen Eventualplänen zu arbeiten und Sie zu bitten, mir zu vertrauen. Ich kann nur hoffen, dass ich mir das in all den Jahren verdient habe«, sagte er.
»Für den Augenblick komme ich damit klar, Nathan. Aber Sie müssen sich bald mit uns in Verbindung setzen und sagen, wie es weitergehen soll. Bald, Sir. O’Neal Ende.« Als er in den Kaffeebecher spuckte, den er für diesen Zweck im Stützpunkt gekauft hatte, war sein Gesicht so verbittert wie Tommy es noch nie an ihm erlebt hatte.
Basis Titan, Fleet Strike Militärgefängnis
Mittwoch, 19. Juni, 03:00
Offenbar war die letzte Spritze Provigil-C gewesen. Fühlte sich an wie eine Vierteldosis. Sie wusste, was als Nächstes kommen würde. Ihr Überlebenstraining bei den Nonnen ließ endlich seinen Nutzen erkennen. Gewaltsamer Schlafentzug, um Halluzinationen und Schlafentzugspsychosen herbeizuführen. Kein Problem. Freilich, sie würde dann leicht bekloppt sein wie jeder, den man so behandelte, aber Informationen würde sie keine preisgeben. Was sie freilich sonst noch tun würde, ahnten die nicht. Jedenfalls wäre sie nicht gern der arme Teufel, der einen Raum betrat, in dem sie sich in einem solchen Zustand befand.
Unterdessen hatten sie ihr, ohne dies zu wollen, einen gewaltigen Gefallen getan, indem sie ihr eine Nacht ohne Belästigungen und dazu die Energie gegeben hatten, sie wirksam zu nutzen. Yeah, Baby, weck mich nur. Eins-zwei-drei-vier-fünf-sechs-sieben-acht! Sauberer, hübscher Jazz, und strecken und drehen und wieder runter und in die Höhe und die Hüften kreisen und ein Salto rückwärts, eine Drehung, ein Sprung, wieder zurück, mitten auf die Bühne, drehen, die Hände nach hinten, den Kopf nach links, nach rechts und drehen, drehen, drehen und stehen bleiben und abstoßen … Es würde eine lange Nacht werden, aber sie war darauf vorbereitet.
Unter einem Kornfeld in Indiana
Mittwoch, 19. Juni, 09:30
»Dann haben wir hier ein Patt?« Nathan O’Reilly sprach ganz offensichtlich nicht von dem Schachbrett, auf dem es bis zum Matt wenigstens noch fünf Züge waren, falls der Indowy ihm gegenüber einen bestimmten Fehler machte. Und dies war eine der kürzeren Optionen.
»Ich weiß nicht. Vielleicht. Und das zuzugeben bedrückt mich. Ihr Menschen könnt nicht oder wollt nicht anders sein, als ihr seid. Und ich habe genügend Menschen beobachtet und genug menschliche Geschichte gelesen, um zu wissen, dass menschliche Organisationen nicht ohne das funktionieren, was ihr Loyalität nach unten an der Befehlskette nennt.« Seine Hände kreuzten sich kurz im Äquivalent eines Achselzuckens.
»Ich verstehe, wieso bei den Indowy eine nur nach oben wirkende Loyalität funktioniert, Euer Loolnieth. Aber, gibt es denn zwischen Ihren Clans keine echten wechselseitigen Verpflichtungen? Kann man Ihre Leute denn nicht dazu überreden, die Analogie zu erkennen?«
»Ich bin wirklich nicht der Ansicht, dass die Beziehungen zwischen den Indowy der Bane Sidhe und unseren menschlichen Freunden so weiterlaufen können, wie das bisher der Fall war. Aber Ihre Analogie interessiert mich. Dürfte ich Sie vielleicht ohne Sie damit zu beleidigen um etwas Zeit bitten, um darüber nachzudenken? Ich weiß nicht, was man damit anfangen kann, aber es gibt da ein Blatt, gerade außer Reichweite meiner Hand. Alleine können meine Gedanken vielleicht den Baum erklimmen.« Er stand auf und hätte sich fast umgedreht, hielt aber dann inne und legte O’Reilly die Hand auf den Arm.
»Ihnen ist doch bewusst, dass ich mich nicht von Ihnen oder Ihrer Spezies abwende, dass mein Bedürfnis nach Kontemplation echt ist, nicht wahr?« Die leichte seitliche Neigung seines Kopfes verriet Besorgnis.
»Mir brauchen Sie sich nicht zu beweisen, alter Freund. Ich vertraue Ihnen.« Der Priester zog sich zurück und war gleich darauf verschwunden.
Basis Titan, Fleet Strike Militärgefängnis
Mittwoch, 19. Juni, 10:00
Die Ärzte von General James Stewart waren nicht sonderlich erbaut darüber, dass er bereits am Morgen, nachdem er einen Bauchschuss abbekommen hatte, wieder auf den Beinen war. Aber er hatte ihnen keine Wahl gelassen. Als sie ihn kurz geweckt hatten, um ihm während seiner Regeneration ein paar wichtige Fragen zu stellen, hatte er ihnen stattdessen befohlen, zusammenzunähen, was genäht werden konnte, und für den Rest chirurgische Synthese einzusetzen. Die Regeneration der genähten Teile konnte man zwar mit Injektionen weiterführen, aber die synthetischen Komponenten würden anschließend wieder entfernt werden müssen, und demzufolge würde der Regenerationsprozess doppelt so lang dauern.
Noch weniger erbaut waren die Ärzte gewesen, als General Vanderberg ihnen nicht erlaubt hatte, sich aus ärztlicher Notwendigkeit über seine Anweisungen hinwegzusetzen. Aber darüber, dass Generäle nie besonders angenehme Patienten waren, herrschte bei den Militärärzten aller Waffengattungen ohnehin Einigkeit.
Und da stand er also jetzt, an diesem Vormittag und blickte auf Sind … Irgendwann im Laufe der Nacht hatten die Beobachter Mata Hari auf Mahri abgekürzt. Vermutlich lag dem eine gewisse Logik zugrunde, vermutlich war es für sie notwendig, einen Namen für sie zu haben. Für ihn verstärkte es nur den Schmerz, nicht einmal ihren Namen zu kennen.
Zwei hoch gewachsene Gestalten in Umhängen, gefolgt von ein paar Indowy — seltsam eigentlich, wie schnell die Menschheit sich an kleine, grüne Männchen gewöhnt hatte -, kamen auf ihn zu, oder besser gesagt auf die Sitzreihe neben ihm. Offenbar waren sie an ihm interessiert, denn sie blieben an seinem Rollstuhl stehen und ignorierten dabei den Arzt, der mit ein paar Spritzen voll medizinischer Nanniten hinter ihm stand.
Der Tir Dol Ron und der Tir Dad Lin, wie ihm sein AID mitteilte. Er wusste genug, um nicht zu lachen, zu schmunzeln oder auch nur Überraschung über den Darhel mit dem komischen Namen zu zeigen. Einer war der Handelsminister, der andere der Erziehungsminister und als solcher für Propaganda und Public Relations zuständig. In Wirklichkeit waren sie Beamte von Kabinettsrang einer galaktischen Föderation, wo das Kabinett das Sagen hatte. Oder, um es mit den Worten von Sergeant Franks auszudrücken, bei dem er sich zumindest in Gedanken entschuldigen sollte, very important VIPs.
»Wir möchten unsere Anerkennung und Billigung für die Festnahme dieser Person zum Ausdruck bringen. Wir möchten Ihnen versichern, dass Sie in hohem Maße die Interessen galaktischer Sicherheit gefördert haben. Wir sind sicher, dass Ihnen eine große Zukunft in der Fleet-Strike-Organisation bevorsteht.« Die Stimme war so schön, dass er dem Drang, sich zu übergeben, kaum widerstehen konnte. Die Tirs schienen auf eine Reaktion von ihm zu warten. Als er nur stumm nickte, setzte der Tir Dol Ron dazu an, eine Seite seiner Oberlippe etwas hochzuschieben, sodass man ein paar sehr spitze Zähne sehen konnte, aber dann huschte sein Blick zu Stewarts Verletzungen, und er schien sich zu entspannen. Die beiden machten abrupt kehrt, schritten bedächtig zu zwei Sesseln und zögerten dort einen Augenblick, während die Indowy ihrer Begleitung die Sessel näher ans Glas schoben.
Unten tanzte »Mahri« immer noch wie besessen und ohne Unterlass in dem fluoreszierend orangefarbenen Overall, den sie anstelle ihrer grauen Seide trug. Es schmerzte ihn tief in der Brust.
Als das Fleet-Team wieder in den Raum marschierte, beobachtete Stewart sie mit seinem besten Pokergesicht — und sein bestes Pokergesicht war wirklich sehr gut. Tartaglia, der vielleicht die vermutlichen Wünsche seines neuen Vorgesetzten ahnte, hatte Baker gegen null einhundert zum Schlafen nach Hause geschickt und sich selbst dafür entschieden, für den Rest der Nacht das Kommando über die Beobachtung der Gefangenen zu übernehmen. Als der Arzt Stewart am Morgen hereingerollt hatte, war Baker demzufolge hier gewesen, munter, wach und bereit, ihm persönlich den Lagebericht zu erstatten. Bakers Beispiel folgend, hatte Stewart dem Arzt sein AID gereicht und dem sich sichtlich unbehaglich fühlenden Mann befohlen, einen kleinen Spaziergang zu machen.
Auf die Weise hatte Baker Stewart im Detail über das Personal von Fleet, die Darhel-Delegation und die Ereignisse der vergangenen Nacht informieren können. Und das bedeutete, dass er, als jetzt Fleet mit frischem Fleisch und Dr. Mengele einmarschiert kam, genau wusste, mit wem er es zu tun hatte.
Baker war Mitte vierzig. Alt genug, um zu glauben, er habe die Welt gesehen und sei meistens im Recht, aber in mancher Hinsicht war er bemerkenswert »eingeengt«. In Bakers Welt waren die MPs und die guten Soldaten die Guten und die Tongs und die Kotzbrocken die Bösen. Man verfolgte die einen und die anderen halfen einem dabei. Na ja, mehr oder weniger.
Ohne jeden Zweifel hatte Baker keine Ahnung, was jetzt kommen würde. Oder wenn er eine Ahnung gehabt hätte, dann allenfalls ganz schwach und schemenhaft, etwas, das man mit einem Achselzucken abtun konnte. Stewart, der ein wesentlich komplexeres Verständnis von der Welt und ihren Schattenseiten besaß, wusste genau, was geschehen würde; er wusste auch ganz genau, wie wenig er dagegen unternehmen konnte.
Außerdem würde er auf Baker aufpassen müssen und ihn schützen. Unter der rauen Schale des Agenten war Baker in Wirklichkeit genau der Pfadfinder, als den Pryce sich ausgegeben hatte. In seiner Arbeit mit den Tongs war das von großem Vorteil gewesen und hatte ihn völlig unbestechlich gemacht. In der augenblicklichen Situation war die Wahrscheinlichkeit groß, dass ihn das umbringen oder zumindest seine Karriere vernichten würde, falls er zu dem Schluss kommen sollte, etwas tun zu müssen.
Zu verhindern, dass dies geschah, war eine jener kleinen Extrakomplikationen, die ihm das Leben so gerne servierte. In diesem Fall war er freilich dafür dankbar, weil es ihn immerhin ablenkte. Man hatte ihn ausgesandt, um den Spion zu fangen, und er hatte sie gefangen. Womit er nicht gerechnet hatte war, dass ihn das persönlich betreffen würde. Andererseits war es auch verdammt dumm gewesen, sich unter den vorliegenden Umständen mit jemandem im Büro einzulassen, und was er im Augenblick empfand, war seine eigene Schuld. Seine ganz persönlichen Schuldgefühle mit eingeschlossen. Das Mädchen hatte sich geopfert, um seine Haut zu retten! Damit würde er leben müssen.
Er musste heftig schlucken, als die Folterknechte in der Liftkabine verschwanden, um gleich darauf in dem Raum unter ihm wieder aufzutauchen. Da wusste er sofort, weshalb die SPs einen im Lazarett und zwei bereits in der Leichenhalle hatten. Ob sie sie nun kommen gehört hatte oder sich bloß in einer günstigen Position befunden hatte, jedenfalls beendete sie ihren Tanz so fließend und übergangslos, dass zwei SPs auf dem Boden lagen, ehe Stewarts Gehirn auch nur Zeit gehabt hatte, zu registrieren, dass sie zu tanzen aufgehört hatte. Nun, sozusagen aufgehört hatte.
Diesmal war einer von den SPs entweder ein wenig intelligenter oder ein wenig schneller und schaffte es, ihr einen gut gezielten Schlag mit seinem Gummiknüppel zu versetzen, sodass sie sie auf die Bahre schnallen konnten, solange sie von dem KO-Schlag noch benommen war.
Dem Mann mit dem Gummiknüppel trug das freilich ein paar sehr scharfe Worte des Chief ein, vermutlich weil er damit ihr Leben gefährdet hatte.
Stewart bemerkte nicht, als seine Hand sich so um die Armlehne seines Rollstuhls krallte, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten, bis er spürte, wie sein Babysitter ihm die Spritze einstach.
»General Stewart, Sir, wenn Sie mir nicht sagen, wenn Sie Schmerzen haben, kann ich Ihnen nicht helfen. Bitte, sagen Sie es mir das nächste Mal, ehe es so schlimm wird«, sagte der Mann.
»Haben Sie in Ihrer Tasche etwas gegen meine Benommenheit? Hoffentlich.« Na großartig. Fehlt ja gerade noch, dass ich in diesem politischen Minenfeld irgendetwas Indiskretes, Dummes und völlig der Wahrheit Entsprechendes sage. Die Schmerzen in seinem Bauch verschwanden. Die in seiner Brust nicht, aber die hatten ja auch nichts mit seinen körperlichen Verletzungen zu tun.
Der Arzt jagte ihm etwas anderes in den Arm, und sein Kopf wurde plötzlich wieder klar.
»Danke. Freundchen, wenn Sie mir jemals wieder irgendwo bei Bewusstsein eine bewusstseinsverändernde Droge reinjagen, ohne dass ich das erlaubt habe, dürfen Sie sich darauf einstellen, dass Sie Ihre eigene Spritze als Einlauf bekommen. Quer. Ist das klar?«
Die Lippen des Mannes pressten sich zusammen, und er gab sich alle Mühe, nicht mit den Augen zu rollen, sagte aber »Yes, Sir« und senkte den Blick, ehe Stewart wegsah.
Als er bemerkte, dass sie ihr die Beine an den beiden äußersten Ecken der Bahre angeschnallt und den Gefängnisoverall abgeschnitten und unter den Anschnallgurten weggezogen hatten, brach ihm der kalte Schweiß aus.
Der Arzt beugte sich dicht an ihr Ohr, aber die Mikrofone im Raum fingen seine Stimme klar und deutlich auf und ließen sie aus den Lautsprechern im Beobachtungsraum tönen.
»Warum sparen wir uns das nicht? Wie heißen Sie?«
Sie drehte den Kopf leicht zur Seite und starrte zur Decke. Sie wirkte … gelangweilt.
Ihr Ausdruck veränderte sich nicht, als der Chief den ersten Mann zu ihr hin winkte. Über sie.
Stewart fing an, sich eine Liste der Leute zu machen, die er umbringen musste. Der Erste schien irgendwie Probleme zu haben. Jedenfalls fluchte er in einer asiatischen Sprache. Die automatische wörtliche Übersetzung, die die AIDs lieferten, war ziemlich farbenprächtig. Etwas von wegen Affenkotze.
Der Arzt winkte ihn schließlich weg und trat zwischen ihre Beine, überprüfte dort etwas, ehe er ihr etwas in den Oberschenkel injizierte, auf die Uhr sah, ein paar Augenblicke wartete und dann zwischen ihre Beine griff.
»Miss, Sie sind offenbar nicht immun gegen ein Muskelrelaxans. Wie heißen Sie?«, fragte er.
Nach ein paar Sekunden des Schweigens winkte er den Matrosen wieder herein.
Die Gefangene stellte Augenkontakt mit ihm her und sprach.
»Tut mir Leid, für dich wird das ungefähr so aufregend sein, wie wenn man einen nassen Waschlappen bumst«, sagte sie.
»Ich mag Blondinen.« Er packte brutal ihre Brust.
»Wenn du nach deinem Kimtschi starke Pfefferminzgelatine essen würdest, würdest du vielleicht mehr Frauen kennen lernen.« Sie wirkte ungemein gelangweilt. Er hielt plötzlich in seinen Bewegungen inne, fluchte erneut und schlug ihr dann mit dem Handrücken ins Gesicht, zog den Reißverschluss zu und wandte sich ab. Ihre Wange rötete sich, aber ihr Kopf hatte sich keinen Millimeter bewegt.
Sie lachte.
»Oh, schade! Der Nächste?« Wenn ihre Stimme flüssig gewesen wäre, hätte sie sich wie Säure ein Loch in den Boden gebrannt.
Zu behaupten, dass der nächste Matrose, den der Chief sich aussuchte, nicht gerade begeistert wirkte, wäre stark untertrieben gewesen.
»Du wirst nachher Therapie brauchen. So etwas gibt es für Vergewaltigungsopfer. Die Tongs können dir jemand Diskreten nennen.« Ihre Stimme klang kühl und klinisch.
»Chief, die soll aufhören!« Er sah den Unteroffizier mit einem Ausdruck verlegener Verzweiflung an.
Oben prustete Baker in seinen Kaffee. Stewart hatte es bisher geschafft, ihn unter Kontrolle zu halten, indem er ihn mit der Hand am Arm gepackt hielt und jedes Mal zudrückte, wenn er den Eindruck hatte, er würde jetzt die Fassung verlieren.
Die Darhel an der Glasscheibe hechelten wie die Hunde. Stewart war froh, dass er keine Waffe trug.
Der Chief packte sie am Kinn und riss es herum. »Du wirst hier vergewaltigt, du blöde Schlampe, kapierst du das nicht?! Wie heißt du?«
»Ich werde nicht vergewaltigt. Er wird das. Ich liege doch bloß hier und sehe mir die Amateurnacht an.«
In der Halle oben zuckte einer der Darhel plötzlich in Richtung auf die Glaswand, ehe er aufstand und sich in einer fließenden Bewegung aus dem Raum entfernte.
Unten zog sich der Bütteltrupp aus dem Raum zurück und ließ »Mahri« liegen, wo sie war. Offenbar wollten sie sich eine neue Taktik überlegen. Die armen Teufel. Sie taten ihm richtig Leid!
Basis Titan, Frachthafen
Mittwoch, 19. Juni, 12:00
Tommy schlug sich mehrmals hintereinander mit der flachen Hand gegen die Stirn, als Papa O’Neal von den Plänen des Militärgefängnisses aufblickte.
»Sunday, was ist denn los?« Der Ältere klopfte seine Taschen ab und fand schließlich einen leeren Beutel, seufzte und fing an, seinen Rucksack zu durchwühlen.
»Papa, ich habe Mist gebaut. Ganz großen Mist. Das ist jetzt so lange her, dass ich ihn einfach nicht erkannt habe.« Seine Gesichtsfarbe war ganz grau geworden, er sah krank aus.
»Wen erkannt? Vielleicht tust du mir den Gefallen und fängst von vorne an, ich komm da nämlich nicht mit.« Er fand einen frischen Beutel und schnitt sich geistesabwesend einen Priem ab, drehte sich dann um und sah seinen Teamkollegen mit geduldiger Miene an.
»Ich hätte wissen müssen, dass das eine Falle war. Und wenn ich aufgepasst hätte, hätten wir das auch. Mein Gott, hab ich Scheiß gebaut!«
»Tommy, wenn du jetzt nicht von vorne anfängst, kriegst du es ernsthaft mit mir zu tun. Komm schon, tief durchatmen, und dann sag es mir.«
»Von Anfang an. Okay. Sarah, Hologramm von Lieutenant Joshua Pryce aus der ersten Einsatzbesprechung zeigen.« Das AID baute gehorsam das verlangte Bild vor ihnen in der Luft auf.
»Na und?« O’Neal machte eine ungeduldige Handbewegung.
»Und? Ich kenne den Mistkerl. Vor gut vierzig Jahren habe ich mit ihm zusammen bei den GKA gedient. Ja, vierzig Jahre ist das her … wir waren damals beide bei der Triple-Nickle, zusammen mit Mike junior. Er war der S-2 des Bataillons in Rabun. Wenn ich ihn erkannt hätte, hätten wir Cally nicht verloren.«
Papa O’Neal blieb ein paar Augenblicke lang stumm.
»Das ist ja ein dicker Hund.« Er verstummte erneut. »Aber nach vierzig Jahren … und außerdem, wenn du ihn erkannt hättest, hätten wir Jay nicht erwischt. Dann hätten wir wer weiß wie viele andere Leute verloren, vielleicht sogar alle, je nachdem, wen Jay noch verraten hätte«, gab er mit ruhiger Stimme zu bedenken. »Also, wer zum Teufel ist das wirklich? Ein Runderneuerter ganz offensichtlich.«
»Jetzt ist er Major General James Stewart. Er hat gerade das Kommando über die Dritte MP-Brigade übernommen. Das ist der Mistkerl, der sie geschnappt hat, der Mistkerl, der für alles das zuständig ist, was die ihr gerade antun. Und Mike ist für ihn so etwas Ähnliches wie ein Vater!«
O’Neal starrte zwei, drei Minuten lang stumm ins Leere, und seine Kinnmuskeln arbeiteten. Dann atmete er tief ein und ließ die Luft langsam wieder entweichen.
»Das stimmt im Großen und Ganzen. Sag mir bloß nicht, du wüsstest inzwischen nicht, dass die Darhel das Sagen darüber haben, was die ihr antun. Stewart erlebt wahrscheinlich jetzt gerade zum allerersten Mal, wie kurz die Zügel sind, an denen die ihn führen. Ich meine, er muss es gewusst haben. Aber es zu wissen und es am eigenen Leib zu erleben, sind zwei Paar Stiefel.« Er spuckte in seinen Becher und legte dann den Kopf etwas zur Seite, als wäre ihm gerade etwas eingefallen.
»Mach dir keine Vorwürfe, Sunday. Vielleicht hast du uns gerade den Hebel geliefert, den wir brauchen, um sie dort rauszuholen. Lass mir … lass mir einfach ein paar Minuten Zeit, ja? Und hör gefälligst auf, dir Vorwürfe zu machen.«
Der Ältere stand auf, ging nach hinten und fing an auf und ab zu gehen, Tommy konnte sogar hören, wie er leise vor sich hin summte, ohne dass eine Melodie zu erkennen gewesen wäre.
Basis Titan, Militärgefängnis, Sektion Fleet Strike
Mittwoch, 19. Juni, 18:30
James Stewart war schon lange gegen all das abgestumpft, was man Sinda antat. Dazu trugen zu gleichen Teilen seine Wut, das Entsetzen und ganz besonders die Notwendigkeit bei, sein Pokergesicht zu wahren, falls er je Gelegenheit bekommen sollte, Sinda zu retten. Er war nicht bereit, sie »Mahri« zu nennen — das war der Name, den die benutzten. Sinda hieß sie auch nicht, aber so hatte sie sich ihm gegenüber genannt, und einen anderen Namen kannte er nicht.
Als GKA-Soldat hatte er unbeschreiblich schreckliche Dinge erlebt, die die Posleen Menschen und die umgekehrt auch Menschen Posleen angetan hatten. Und noch früher, in seiner Gang, hatte er wahrscheinlich auch recht schlimme Dinge gesehen, die Menschen anderen Menschen angetan hatten. Jedenfalls ein paar Morde.
Aber er hatte noch nie erlebt, wie eine Gruppe von Menschen einem anderen menschlichen Wesen so etwas antat. Dabei hatte er geglaubt, es gebe nichts, was ihn noch erschüttern könnte. Damit hatte er Unrecht gehabt. Trotzdem, wenn er nicht die Fähigkeit besäße, abzuschalten und sein Bewusstsein an jenen kalten, effizienten Ort zu verlagern, wo es Barrieren gegen all das Schreckliche gab, dann befände er sich jetzt vermutlich in einer Zelle oder man hätte ihn erschossen — na schön, erneut auf ihn geschossen — und würde niemandem nutzen können.
Der Chief, Yi, lieferte gerade seinen Tagesbericht über den Zustand der Gefangenen. Die Liste von Verletzungen — zerquetschte und »lediglich« gebrochene Knochen, Schnitte, Prellungen und Verbrennungen — ließ vor seinem inneren Auge schreckliche Bilder entstehen. Zuallererst hatten sie die Serie von Vergewaltigungen fortgesetzt, ihr aber vorher einen Knebel in den Mund gesteckt. Das machte es ihr zwar unmöglich, Informationen zu liefern, aber offenbar hatten diese Mistkerle entschieden, dass sie ihr einfach den Triumph nicht gönnen durften, jene psychologische Schlacht zu gewinnen. Und wenn er sich in die Gedankengänge dieser Dreckskerle hineinversetzte, konnte er das sogar begreifen. Trotzdem würde er jeden Einzelnen von ihnen umbringen, auch wenn er begriff, weshalb sie es getan hatten.
Das Schlimmste, was ihm seit Jahren widerfahren war, abgesehen davon natürlich, dass er zuallererst die MPs auf sie hatte ansetzen müssen, war, am Ende des Tages nach Hause gehen zu müssen und dabei völlig normal zu wirken. Er hatte ihnen zugesehen, wie sie das Licht ausschalteten, die Schwerkraft für die Nacht auf null herunterfuhren und sie auf ihrer fahrbaren Trage festgeschnallt ließen. Sie hatten ihr galaktisches Decameth injiziert — das C von Provigil-C minus Provigil. Und dann hatte er kehrtmachen und mit seinem Rollstuhl durch die Tür hinausfahren müssen, gefolgt von seinem eigenen Arzt, der neben dem Monstrum von Fleet wie ein Heiliger aussah.
Basis Titan
Mittwoch, 19. Juni, 19:00
Tommy saß in dem kleinen Raum auf dem Bett und wartete. Er hielt einen kleinen weißen, an einer Seite offenen Behälter von der Größe einer Zigarrenschachtel in der Hand. An seinem Gürtel hing ein sauberes AID, es sah aus wie jedes andere AID. Heute war das seine wichtigste Aufgabe. Er trug graue Seide mit den Rangabzeichen und den Bezeichnungen seiner Einheit, der er vor langer Zeit angehört hatte. Wenn ihn überlebende Angehörige der Triple-Nickel-GKA sahen, würde das auf sie wirken, als sähen sie ein Gespenst. Er hatte seine damalige Haar- und Augenfarbe wiederhergestellt, wobei er ohnehin nicht so viele Änderungen im Gesicht gebraucht hatte wie Cally oder Papa. Oh, er war anders — aber nicht so anders, wenn er das nicht sein wollte. Und sein Körperbau war ohnehin ziemlich schwer zu tarnen.
Von den beiden leer stehenden Räumen am Flur, wo früher Lieutenant Pryce und jetzt ein General wohnten, dem das System bis zur Stunde noch keine neuen Räume hatte zuweisen können, hatten er und Papa den gewählt, der am nächsten bei der Transitstation lag. Nicht, dass es viel zu bedeuten gehabt hätte. Einer war so gut wie der andere. Oben am Türstock klebte eine winzige Kamera.
Papa O’Neal saß auf dem Stuhl und beobachtete den Flur auf dem Bildschirm seines PDA. Tatsächlich sah er die letzten fünf Minuten im Schnellvorlauf, da die Kamera ihre verschlüsselte Sendung nur dann durchgab, wenn sie etwas erfasste und sie auch keine besonders hohe Auflösung brauchten.
»Scheiße.«
»Was?« Tommys Augen suchten die des Älteren.
»Er sitzt in einem Rollstuhl und hat jemanden bei sich. Einen Arzt, wie es scheint.« Er betastete abwesend seine Taschen, runzelte dann die Stirn und rieb sich das Kinn.
»Äh … wenn Cally ihm das angetan hat, könnte das sein Mitgefühl etwas beeinträchtigen.« Tommy sah über seine Schulter und zuckte zusammen. »Besonders gut sieht der nicht aus.«
»Wenn du einen besseren Tipp hast, kannst du es ja sagen«, knurrte Papa O’Neal und legte den PDA einen Augenblick auf den Tisch, stand auf und ging wieder unruhig auf und ab. »Vielleicht kommen wir heute Abend gar nicht an ihn heran.«
»Er hatte nie viel für Ärzte übrig«, erinnerte sich Tommy. »Vielleicht schmeißt er ihn raus. Ich sehe keinen Grund, nicht wenigstens bis Mitternacht zu warten.«
»Einverstanden.« Er setzte sich wieder hin, wippte freilich in für ihn ungewöhnlicher Nervosität mit dem Fuß.
Sie brauchten nicht lange zu warten, denn der Arzt ließ Stewart allein und verschwand durch die Tür der Transitbahn.
»Tommy?«
»Mhm?«
»Ich hätte nie vermutet, dass er Ärzte nicht mag. Gehen wir.« Der Rothaarige schob seinen PDA ein und ging weg, ohne sich umzusehen.
»Ja. Das wird verrückt.« Tommy rieb sich die Hände an seinem Seidenzeug, räusperte sich und folgte dem Älteren nach draußen. Dies war das erste Mal seit fünfundzwanzig Jahren, dass er einen alten Freund ansprechen würde, der fest davon überzeugt war, dass er tot war. Denk dir nicht zu viel dabei. Tu es einfach.
Er drückte den Klingelknopf und wartete, bis das Licht der Sprechanlage aufleuchtete, räusperte sich erneut. »Triple-Nickel-Pizzadienst. Eine große Pizza Fajita mit gebackenen Bohnen für Manuel«, sagte er.
»Was?«
Die Tür schob sich auf, und Tommy nahm sein AID vom Gürtel, hielt es über die Box, sah Stewart an, legte es hinein und reichte die Box dann Stewart. Sein alter Kumpel wurde blass, dann verzog sich sein Gesicht in einer seltsamen Mischung aus Verblüffung und Schock, aber er nahm die Box entgegen, legte sein eigenes AID hinein und drückte den Deckel zu. Er gab Tommy die Box nicht zurück.
»Wir müssen miteinander reden, Stewart. Unter uns. Dürfen wir reinkommen?«
»Ja, das solltet ihr wohl.« Er seufzte, rollte von der Tür weg, ließ sie ein und wartete, während die Tür sich wieder hinter ihnen schloss.
»Ich habe noch nie einen Toten gesehen, der so gesund aussieht wie du. Und dein Gesicht hat jemand offenbar so weit geändert, dass man damit einen Softwarescann täuschen kann. So. Würdet ihr mir wohl sagen, was da gespielt wird?« Er rollte zu einem Tisch, nahm ein Päckchen Zigaretten, das dort lag, bot an und zündete sich dann selbst eine an.
»Das wird eine lange Geschichte. Zuerst wollen wir uns vorstellen. Stewart, Mike O’Neal senior, Papa O’Neal, General James Stewart. Wie du weißt, haben wir im Krieg beide unter deinem Sohn gedient«, sagte er.
»Da nimmst du den Mund ganz schön voll. Und selbst, wenn das stimmt, würdest du eine verdammt gute Erklärung dafür brauchen, Mike so lange in dem Glauben zu lassen, dass sein Dad tot sei. Ich halte das nicht für möglich.« Er nahm einen langen Zug an seiner Zigarette und wartete.
»Oh, ich habe mich natürlich runderneuern lassen. Und kosmetisch wesentlich aufwändiger behandeln lassen als Tommy. Bei jemandem, der so groß ist wie er, hat das ja wenig Sinn — man sorgt einfach dafür, dass ihn nicht zu viele zu sehen bekommen, und setzt ihn anderweitig ein. Und was das andere betrifft, würde Mike, wenn er es wüsste, sofort bestätigen, dass das notwendig war.«
»Hör zu, ich habe einen schweren Tag hinter mir, also erspar mir all das verdrehte Gerede. Geht das?«
»Okay, ich kenne O’Neal senior jetzt seit fünfundzwanzig Jahren. Es gibt dafür verdammt gute Gründe, aber ob du die zu hören bekommst, hängt davon ab, wie sich dieses Gespräch weiter entwickelt. Vertrau mir einen Augenblick lang, ja? Du hast eine Gefangene in deinem Gefängniskomplex.« Er wies auf den Rollstuhl und Stewarts nicht übersehbare Verletzungen. »Hat sie das getan?«
»Nein. Was weißt du über sie?« Er beugte sich eine Spur zu schnell vor und zuckte zusammen, griff sich mit der Hand an den Bauch.
»Sie ist die Tochter von Iron Mike.« Tommy war froh, dass Papa ihn reden ließ. Er würde Stewart einiges mehr sagen müssen, ehe der ihnen vertraute, und das konnten sie erst tun, wenn sie eine bessere Vorstellung von seiner Reaktion hatten.
»Verdammte Scheiße! Wollt ihr mich verarschen?« Das war offensichtlich ein weiterer Schock. Tommy hoffte, dass Stewarts Zustand stabil genug war, um der Belastung gewachsen zu sein. Andererseits — der Arzt hätte ihn wohl nicht allein gelassen, wenn das nicht der Fall gewesen wäre.
»Cally O’Neal. Sie ist ebenfalls nicht tot.« Papa hatte sich gegen die Wand zurückgelehnt und gab sich offenbar alle Mühe, geduldig zu warten.
»Cally. Augenblick mal, ihr wollt mir beide weismachen, dass der Dad des Alten und seine Tochter ihn vierzig Jahre in dem Glauben gelassen hätten, sie sei tot? Also, du solltest jetzt schleunigst damit aufhören, hier Blödsinn zu verzapfen und Klartext reden, meine Geduld geht nämlich jetzt ziemlich schnell zu Ende«, sagte er.
»Also gut, weißt du, es gibt nämlich ein Problem mit den Darhel …«
Basis Titan
Mittwoch, 19. Juni, 21:30
Nachdem sie gegangen waren, saß Stewart auf dem Rollstuhl und starrte die Wand an. Ihm war einigermaßen klar, dass er sich in einer Art Schockzustand befand.
Gewöhnlich hatte er den Bildschirm eingeschaltet, auch wenn er nur irgendein Holo zeigte. Das war meistens sein erster Griff, wenn er zur Tür hereinkam.
Aber jetzt war er völlig aus dem Gleichgewicht geraten und saß einfach da und starrte vor sich hin. Die nackte Wand mit dem grauen Rechteck des ausgeschalteten Bildschirms vermittelte ihm den Eindruck, in einer der Zellen drüben im Gefängnis zu sitzen.
Herrgott, Cally, was für ein schrecklicher Schlamassel! Okay, Tommy war ein Ersatzmann, aber verdammt noch mal, er war einer von uns! Selbst wenn die zivile Kontrolle ganz oben an der Befehlskette zu der Zeit beim Teufel war, wie konnte ich — er — sich zum Verräter machen? Schön, es war eine schwere Entscheidung. Vielleicht hatte er sogar Recht. Es gibt tatsächlich keine wirksame Kontrolle mehr über das Militär — jedenfalls nicht menschlicherseits. Ich hatte gedacht, wenn man im System arbeitet … auch dann noch, als es beim Teufel war. Aber, du lieber Gott, wir haben den Krieg verloren und den Frieden auch, und das lässt sich nicht wieder herstellen. Scheiße. Vielleicht hat er Recht.
Nein! Wie zum Teufel konnte er den Alten in dem Glauben lassen, seine Tochter sei tot? Und sein Vater? Unvorstellbar! Cally konnte ja nichts unternehmen, sie war damals ja noch ein Kind. Okay, also musste sie einfach mitmachen. Verdammt, sie war doch noch ein Kind. Was in drei Teufels Namen hätte sie denn tun solle? Aber sein eigener Vater. Sein eigener, verdammter Vater!
Und jetzt soll ich das Gleiche tun. Zum Verräter werden, bei denen einsteigen, keine Fragen stellen. Yeah, genau das.
Aber was zum Teufel bleibt mir denn übrig? Ich kenne doch bloß das Militär, verstehe nur davon etwas — es sei denn, man zählt meine Erfahrung als Anführer einer Gang mit. Yeah, genau. Beides ist außerhalb des Einflussbereichs dieser beschissenen Darhel-Föderation nicht gefragt. Na, meinetwegen. Nicht, dass der andere Verein viel besser aussehen würde.
Aber kann ich das? Ein Verräter sein, meine ich? Wie schafft man es nur, die Menschen, die einen am liebsten haben, in dem Glauben zu lassen, man sei tot?
Was für ein beschissener Schlamassel! Cally, was in drei Teufels Namen soll ich tun?
Die Wände hatten keine Antwort auf seine Frage.
Basis Titan
Mittwoch, 19. Juni, 23:00
»Wir haben etwas.« Papa O’Neals Gesicht wirkte ungewöhnlich verschlossen, wie er so zu seinem alten Freund sprach.
»Will ich die Einzelheiten wissen?« Father O’Reilly hatte nicht so lange gelebt, um nicht zu wissen, dass man nicht zu viele Fragen stellen darf. Der Indowy Aelool stand stumm neben ihm.
»Wahrscheinlich nicht.« O’Neals Kinnlade arbeitete, er sah sich einen Augenblick lang nach einem Becher um und nickte dann dankbar, als Tommy ihm einen in die Hand drückte. Er spuckte zielsicher.
»Wäre es vielleicht möglich, dass wir die groben Umrisse dieses Planes erfahren?« Der Gesichtsausdruck des Indowy war ernst.
»Wir haben jemanden gefunden, der uns helfen kann, aber wir wollen ihn nicht in Gefahr bringen, auch nicht über einen vermutlich sicheren Kanal.« Seine Betonung war ein Versuch, an die traditionelle Indowy-Paranoia zu appellieren. Schließlich hielten die kleinen grünen Männer auch nichts davon, Informationen anders als im persönlichen Gespräch auszutauschen.
»Ja. Gute Kommunikationsdisziplin. Das können wir gut verstehen. Können Sie uns einen Schätzwert für Ihre Erfolgschancen liefern? Ganz grob würde genügen.« Der kleine, grüne Mann wirkte geradezu glücklich, was in Anbetracht ihres vorangegangenen Gesprächs mit O’Reilly recht seltsam war.
»Grob. Na schön.« O’Neal kratzte sich kurz am Kinn. »Sagen wir: vernünftig bis hoch.«
»Und wie würden Sie die Erfolgsaussichten beurteilen, wenn Sie beispielsweise noch einen weiteren Tag warten müssten, um diesen Plan in die Tat umzusetzen?« Aelool sah ihn mit seltsamer Miene an, gerade als hoffte er …
»Es würde die Erfolgschancen wesentlich reduzieren.« Habe ich richtig geraten?
»Und würde Ihr Plan es erfordern, dass Sie zusätzliche Ressourcen der Organisation einsetzen, ich meine über die hinaus, die bereits mit Ihnen im Feldeinsatz sind?«, fragte Father O’Reilly im Gesprächston, »Nein, das würde er nicht«, sagte er.
»Da Sie sagen, dass dies der Fall ist, kann eine Entscheidung durch uns im Hauptquartier sicherlich nicht bis morgen warten. Father O’Reilly, schließen Sie sich meiner Meinung an?«
»Oh, ganz sicherlich.« Die Augen des alten Priesters funkelten.
»Ich empfehle, dass dieser Einsatz gebilligt wird. Einverstanden, Father?« Nur jemand, der sehr gut mit Indowy vertraut war, hätte seinen Tonfall als formell, ja geschäftsmäßig erkannt.
»Das scheint mir klug. Ich stimme zu, Indowy Aelool.« Er nickte. »Der Einsatz erfordert nicht die Bereitstellung weiterer Ressourcen und ist angesichts des kritischen Zeitfaktors genehmigt. Wenn Sie uns jetzt bitte entschuldigen würden …« Er beendete die Verbindung, ohne O’Neal oder Sunday Gelegenheit zu lassen, noch etwas zu sagen.
»Habe ich mir dieses Gespräch jetzt gerade eingebildet?« Tommy rieb sich müde die Augen.
»Nee.« O’Neal spuckte erneut, diesmal sichtlich genussvoll. »Aber es deutet mit Sicherheit darauf hin, dass zuhause manche Dinge weniger und manche mehr beschissen sind, als wir gedacht haben. Nicht, dass mir das schlaflose Nächte bereiten würde. Morgen wird ein langer Tag.«