IV. DIE BEUTE

7. Tag, 0.12 Uhr

»Jack.«

Julia kam durch den Korridor auf mich zugestürzt. Im Licht der Deckenbeleuchtung sah ihr Gesicht schön aus, schlank und elegant. Sie war tatsächlich noch schöner, als ich sie in Erinnerung hatte. Am Fußknöchel trug sie einen Verband, und ihr Handgelenk war in Gips. Sie schlang die Arme um mich und vergrub das Gesicht an meiner Schulter. Ihr Haar roch nach Lavendel. »Oh Jack, Jack. Gott sei Dank ist dir nichts passiert.«

»Nein«, sagte ich heiser. »Mir ist nichts passiert.«

»Ich bin ja so froh ... so froh.«

Ich stand einfach nur da, spürte, wie sie mich umarmte. Dann umarmte auch ich sie. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Sie war so voller Energie, aber ich war erschöpft, matt.

»Ist alles in Ordnung mit dir, Jack?«, fragte sie, noch immer fest die Arme um mich gelegt.

»Ja, Julia«, erwiderte ich, kaum mehr als ein Flüstern. »Alles in Ordnung.«

»Was ist denn mit deiner Stimme?«, sagte sie, wich auf Armeslänge zurück und sah mich an. Sie musterte mein Gesicht. »Was hast du?«

»Wahrscheinlich hat er sich die Stimmbänder verätzt«, sagte Mae. Auch sie war heiser. Ihr Gesicht war rußgeschwärzt. Sie hatte einen Riss in der Wange und einen weiteren an der Stirn.

Julia umarmte mich erneut, ihre Finger berührten mein Hemd. »Schatz, du bist verletzt ...«

»Bloß mein Hemd.«

»Jack, bist du wirklich nicht verletzt? Ich glaube, du bist verletzt .«

»Nein, mir fehlt nichts.« Ich trat verlegen von ihr zurück.

»Ich kann dir gar nicht sagen«, sagte sie, »wie dankbar ich dir bin für das, was du heute Nacht getan hast, Jack. Was ihr alle getan habt«, fügte sie hinzu und wandte sich an die anderen. »Du, Mae, und auch du, Bobby. Es tut mir nur Leid, dass ich nicht da war, um euch zu helfen. Ich weiß, das ist alles meine Schuld. Aber wir sind euch dankbar, die Firma ist euch dankbar.«

Ich dachte: Die Firma? Aber ich sagte bloß: »Schon gut, es musste ja gemacht werden.«

»Und ob, ja, allerdings. Rasch und gründlich. Und ihr habt es geschafft, Jack. Gott sei Dank.«

Ricky stand im Hintergrund, sein Kopf bewegte sich auf und ab, wie einer von diesen mechanischen Vögeln, die aus einem Wasserglas trinken. Auf und ab. Das alles kam mir unwirklich vor, als wäre ich in einem Theaterstück.

»Ich finde, darauf sollten wir zusammen einen trinken«, sagte Julia jetzt, während wir den Korridor hinuntergingen. »Hier muss doch irgendwo noch eine Flasche Champagner sein. Ricky? Hab ich Recht? Ja? Ich möchte mit euch feiern.«

»Ich will bloß noch schlafen«, sagte ich.

»Ach, nun komm schon, bloß ein Gläschen.«

Das war typisch Julia, dachte ich. Ganz in ihrer Welt, ohne zu merken, wie anderen zu Mute war. Uns stand jetzt wirklich nicht der Sinn nach Champagner.

»Nein, aber vielen Dank«, sagte Mae und schüttelte den Kopf.

»Wirklich nicht? Das wäre doch schön. Was ist mit dir, Bob-by?«

»Vielleicht morgen«, sagte Bobby.

»Na gut, schade, aber ihr seid ja schließlich die siegreichen Helden! Dann aber morgen.«

Mir fiel auf, wie schnell sie redete, wie rasch ihre Bewegungen waren. Ich musste daran denken, was Ellen über Drogen gesagt hatte. Ich hatte wirklich den Eindruck, dass sie was genommen hatte. Aber ich war so müde, es war mir einfach egal.

»Ich hab Larry Handler schon informiert, den Oberboss«, sagte sie, »und er ist euch allen sehr dankbar.«

»Das freut mich«, sagte ich. »Verständigt er die Armee?«

»Die Armee verständigen? Weswegen?«

»Wegen der außer Kontrolle geratenen Schwärme.«

»Aber, Jack, die Sache ist doch jetzt aus der Welt geschafft. Ihr habt sie aus der Welt geschafft.«

»Ganz sicher bin ich mir da nicht«, sagte ich. »Könnte sein, dass ein paar Schwärme entwischt sind. Oder vielleicht ist irgendwo da draußen noch ein Nest. Ich denke, wir sollten sicherheitshalber die Armee einschalten.« Ich glaubte zwar eigentlich nicht, dass uns einer entkommen war, aber ich wollte jemanden von draußen hier haben. Ich war müde. Andere sollten die Sache in die Hand nehmen.

»Die Armee?« Julias Blick huschte zu Ricky hinüber, dann wieder zu mir. »Jack, du hast völlig Recht«, sagte sie bestimmt. »Die Lage ist extrem ernst. Wenn auch nur die geringste Möglichkeit besteht, dass nicht alle Schwärme vernichtet worden sind, müssen wir umgehend die Armee einschalten.«

»Ich meine, noch heute Nacht.«

»Ja, völlig klar, Jack. Noch heute Nacht. Am besten mache ich das jetzt sofort.«

Ich warf einen Blick über die Schulter auf Ricky. Er kam hinter uns her, nickte noch immer so mechanisch vor sich hin. Ich verstand das nicht. Wo war Rickys Panik geblieben? Seine Angst, die Sache mit den Schwärmen könnte publik werden? Jetzt schien ihm das gleichgültig zu sein.

Julia sagte: »Ihr drei legt euch aufs Ohr, und ich rufe meine Bekannten im Pentagon an.«

»Ich komme mit«, sagte ich.

»Das ist wirklich nicht nötig.«

»Ich möchte aber«, sagte ich.

Sie warf mir einen Blick zu und lächelte. »Traust du mir nicht?«

»Wie kommst du denn darauf?«, erwiderte ich. »Aber es könnte doch sein, dass sie Fragen haben, die du nicht beantworten kannst.«

»Ja, richtig. Gute Idee. Ausgezeichnete Idee.«

Ich war sicher, dass irgendetwas nicht stimmte. Ich kam mir immer mehr so vor, als wäre ich in einem Theaterstück, und jeder spielte seine Rolle. Nur wusste ich nicht, was das für ein Stück war. Ich blickte zu Mae hinüber. Sie hatte die Stirn leicht in Falten gelegt. Auch sie musste es gespürt haben.

Wir passierten die Luftschleusen und kamen in den Wohnbereich. Hier empfand ich die Luft als unangenehm kalt; mich fröstelte. Wir gingen in die Küche, und Julia griff nach dem Telefon.

»Rufen wir direkt an, Jack«, sagte sie.

Ich ging zum Kühlschrank und nahm mir ein Gingerale. Mae trank einen Eistee. Bobby ein Bier. Wir waren alle durstig. Ich sah, dass im Kühlschrank eine Flasche Champagner bereitstand. Ich berührte sie; sie war kalt. Ich sah auch sechs Gläser, die vorgekühlt wurden. Julia hatte die Party bereits geplant.

Julia drückte die Mithörtaste. Wir hörten den Wählton. Sie tippte eine Nummer ein. Aber der Anruf ging nicht durch. Die Leitung wurde einfach unterbrochen.

»Mhm«, sagte sie. »Ich versuch's noch mal ...«

Sie wählte ein zweites Mal. Wieder ging der Anruf nicht durch.

»Komisch. Ricky, ich krieg keine Verbindung nach draußen.«

»Versuch's noch mal«, sagte Ricky.

Ich trank von meinem Gingerale und beobachtete sie. Kein Zweifel, alles war nur Theater, das sie uns vorspielten. Julia wählte brav ein drittes Mal. Ich fragte mich, was für eine Nummer sie da anrief. Oder kannte sie die Nummer vom Pentagon auswendig?

»Mhm«, sagte sie. »Nichts.«

Ricky nahm das Telefon hoch, schaute sich die Unterseite an, stellte es wieder hin. »Müsste in Ordnung sein«, sagte er und tat verwundert.

»Ach, Herrgott«, sagte ich. »Lasst mich raten. Irgendwas ist passiert, und wir können nicht nach draußen telefonieren.«

»Nein, nein, es geht«, sagte Ricky.

»Ich habe vorhin noch telefoniert«, sagte Julia. »Kurz bevor ihr zurückgekommen seid.«

Ricky stieß sich vom Tisch ab. »Ich überprüf mal die Leitungen.«

»Ja genau, tu das«, sagte ich mit finsterem Blick.

Julia starrte mich an. »Jack«, sagte sie, »du machst mir Sorgen.«

»Ach nee.«

»Du bist wütend.«

»Ich werde verarscht.«

»Das wirst du nicht«, sagte sie und blickte mir in die Augen. »Ich schwöre.«

Mae stand vom Tisch auf und sagte, dass sie unter die Dusche wolle. Bobby ging in den Freizeitraum, um ein Videospiel zu spielen, wie immer, wenn er Entspannung brauchte. Wenig später hörte ich das Knattern eines Maschinengewehrfeuers und die Schreie der tödlich getroffenen bösen Buben. Julia und ich waren allein in der Küche.

Sie beugte sich über den Tisch zu mir. Sie sprach mit leiser, ernster Stimme. »Jack«, sagte sie, »ich glaube, ich schulde dir eine Erklärung.«

»Nein«, sagte ich. »Tust du nicht.«

»Ich meine, für mein Verhalten. Meine Entscheidungen in den vergangenen Tagen.«

»Ist nicht wichtig.«

»Aber mir ist es wichtig.«

»Vielleicht später, Julia.«

»Ich muss es dir jetzt sagen. Weißt du, es ist so, ich wollte unbedingt die Firma retten, Jack. Das ist alles. Die Kamera hat nicht funktioniert, und wir haben es nicht hingekriegt, wir haben unseren Vertrag verloren, und die Firma ging den Bach runter. Ich hab noch nie eine Firma verloren. Ich hab noch nie erlebt, dass eine Firma, für die ich arbeite, zusammenbricht, und Xymos sollte nicht die erste sein. Ich hing da mit drin, es stand was für mich auf dem Spiel, und ich hatte wohl auch meinen Stolz. Ich wollte sie retten. Ich weiß, es war nicht sehr klug von mir. Ich war verzweifelt. Es war allein meine Verantwortung. Alle wollten mich bremsen. Ich hab sie gedrängt, weiterzumachen. Es war . mein persönlicher Kampf.« Sie zuckte die Achseln. »Und es war alles für die Katz. Die Firma geht in wenigen Tagen endgültig baden. Ich hab sie verloren.« Sie beugte sich noch näher zu mir. »Aber ich will dich nicht auch noch verlieren. Ich will meine Familie nicht verlieren. Ich will uns nicht verlieren.«

Sie senkte die Stimme, streckte die Hand über den Tisch aus und legte sie auf meine. »Jack, ich hab einiges wieder gutzumachen, und das möchte ich auch. Ich möchte, dass es wieder läuft, auch mit uns.« Sie hielt inne. »Ich hoffe, du willst das auch.«

Ich sagte: »Ich weiß nicht genau, was ich will.«

»Du bist müde.«

»Ja. Aber ich bin mir nicht sicher, nicht mehr.«

»Du meinst, wegen uns?«

Ich sagte: »Dieses blöde Gespräch geht mir auf die Nerven.« Und das stimmte. Ausgerechnet jetzt musste sie damit anfangen, ich war fix und fertig, ich hatte gerade erst die Hölle durchgemacht und wäre fast ums Leben gekommen, was im Grunde auf ihr Konto ging. Und es nervte mich, dass sie nur so eine banale Entschuldigung zu bieten hatte wie »Es war nicht sehr klug von mir«, obwohl ihr Zutun weitaus schlimmer gewesen war.

»Ach, Jack, lass uns wieder so werden, wie wir waren«, sagte sie, und plötzlich beugte sie sich ganz über den Tisch und wollte mich auf den Mund küssen. Ich wich zurück, drehte den Kopf zur Seite. Sie blickte mich mit flehenden Augen an. »Jack, bitte.«

»Das ist jetzt weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort, Julia«, sagte ich.

Pause. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Schließlich: »Die Kinder vermissen dich.«

»Das glaub ich gern. Ich vermisse sie auch.«

Sie brach in Tränen aus. »Und mich vermissen sie nicht ...«, schluchzte sie. »Ich bin ihnen doch schon völlig egal ... ihre Mutter ... « Wieder ergriff sie meine Hand. Ich ließ es zu. Ich versuchte, mir über meine Gefühle klar zu werden. Ich war einfach müde, und mir war sehr unwohl zu Mute. Ich wollte, dass sie mit dem Weinen aufhörte.

»Julia .«

Die interne Sprechanlage klickte. Ich hörte Rickys Stimme, verstärkt. »He, Leute? Wir haben ein Problem mit den Kommunikationsleitungen. Am besten, ihr kommt sofort her.«

Die Telekommunikationstechnik befand sich in einer großen Kammer, die von einer Ecke des Wartungsraumes abging. Gesichert war sie durch eine dicke Stahltür mit einem kleinen Hartglasfenster in der oberen Hälfte. Das Fenster gab den Blick frei auf sämtliche Kabel und Schalter für die Telekommunikation im gesamten Betrieb. Ich sah, dass dicke Kabelbündel herausgerissen waren. Und ich sah in einer Ecke zusammengesackt Charley Davenport. Er war offensichtlich tot. Sein Mund stand offen, die Augen starrten ins Leere. Seine Haut war lilagrau. Ein schwarzer, summender Schwarm wirbelte um seinen Kopf herum.

»Ich kann mir absolut nicht erklären, was passiert ist«, sagte Ricky. »Er schlief tief und fest, als ich nach ihm gesehen hab .«

»Wann war das?«, fragte ich.

»Etwa vor einer halben Stunde.«

»Und der Schwarm? Wie ist der da reingekommen?«

»Das kann ich mir absolut nicht erklären«, sagte Ricky. »Er muss ihn mitgebracht haben, von draußen.«

»Wie denn?«, sagte ich. »Er ist doch durch die Luftschleusen gegangen.«

»Ich weiß, aber .«

»Aber was, Ricky? Wie ist das möglich?«

»Vielleicht . ich weiß nicht, vielleicht hatte er ihn hinten im Hals oder so.«

»Im Hals?«, sagte ich. »Du meinst, die haben ihm einfach so zwischen den Mandeln gehangen? Die Biester töten, weißt du.«

»Ja, ich weiß. Klar weiß ich das.« Er zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.«

Ich starrte Ricky an, versuchte, aus seinem Verhalten schlau zu werden. Er hatte gerade festgestellt, dass ein tödlicher Nanoschwarm in sein Labor eingedrungen war, und das schien ihn keineswegs zu beunruhigen. Er nahm es ganz gelassen hin.

Mae kam in den Raum geeilt. Sie erfasste die Situation mit einem Blick. »Hat sich jemand das Überwachungsvideo angesehen?«

»Das geht nicht«, sagte Ricky. Er deutete auf die Kammer. »Alles lahm gelegt - da drin.«

»Dann wisst ihr also nicht, wie er da reingekommen ist?«

»Nein. Aber offenbar wollte er verhindern, dass wir nach draußen anrufen. Zumindest sieht es ganz danach aus ...«

Mae sagte: »Wieso sollte Charley da reingehen?«

Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte keine Ahnung.

Julia sagte: »Die Kammer ist luftdicht. Vielleicht wusste er, dass er befallen war, und wollte uns vor sich schützen. Ich meine, er hat die Tür von innen abgeschlossen.«

Ich sagte: »Ach ja? Woher weißt du das?«

Julia sagte: »Äh ... das hab ich angenommen ... äh ...« Sie spähte durch die Scheibe. »Und, äh, das Schloss spiegelt sich in dem Chromteil da . siehst du das da?«

Ich schaute gar nicht erst hin. Aber Mae tat es, und ich hörte sie sagen: »Oh ja, Julia, du hast Recht. Gut beobachtet. Wäre mir niemals aufgefallen.« Es klang völlig gekünstelt, aber Julia reagierte gar nicht.

Also spielten jetzt alle Theater. Alles war inszeniert. Und ich verstand nicht, warum. Aber als ich Mae mit Julia beobachtete, fiel mir auf, dass sie äußerst vorsichtig mit meiner Frau umging. Fast so, als hätte sie Angst vor ihr, zumindest Angst, sie zu reizen.

Das war eigenartig.

Und ein wenig beunruhigend.

Ich fragte Ricky: »Kriegen wir die Tür irgendwie auf?«

»Ich denke schon. Vince hat einen Dietrich. Aber vorläufig öffnet keiner die Tür, Jack. Nicht, solange der Schwarm da drin ist.«

»Dann können wir also nirgendwo anrufen?«, sagte ich. »Wir stecken hier fest? Von der Außenwelt abgeschnitten?«

»Bis morgen, ja. Der Hubschrauber kommt morgen früh, turnusmäßig.« Ricky sah sich durch die Scheibe die Zerstörung an. »Gottogott. Charley hat bei den Schalttafeln wirklich ganze Arbeit geleistet.«

Ich sagte: »Was glaubst du, warum hat er das getan?«

Ricky schüttelte den Kopf. »Charley war ein bisschen verrückt. Ich meine, er war ein interessanter Typ. Aber dieses ständige Gefurze und Gesumme . Er hatte nicht alle Tassen im Schrank, Jack.«

»Das finde ich nicht.«

»Nur meine Meinung«, sagte er.

Ich stand neben Ricky und blickte durch die Scheibe. Der Schwarm schwirrte um Charleys Kopf herum, und ich sah bereits, wie sich die milchige Schicht auf seinem Körper bildete. Das übliche Muster.

Ich sagte: »Wir könnten doch Flüssigstickstoff reinpumpen? Den Schwarm einfrieren?«

»Wäre wahrscheinlich möglich«, sagte Ricky, »aber es könnte sein, dass die Technik Schaden nimmt.«

»Können wir die Lüftung nicht so weit aufdrehen, dass die Partikel rausgesogen werden?«

»Die Lüftung läuft schon auf vollen Touren.«

»Und einen Feuerlöscher hältst du wohl auch nicht für so geeignet .«

Er schüttelte den Kopf. »Feuerlöscher enthalten Halon. Kann den Partikeln nichts anhaben.«

»Dann sind wir also regelrecht aus diesem Raum ausgesperrt.«

»Würde ich so sehen, ja.«

»Handys?«

Er schüttelte den Kopf. »Die Antennen führen durch den Raum. Jede Kommunikationsform, die wir haben - Handys, Internet, Turbodatenübertragung -, alles läuft durch den Raum.«

Julia sagte: »Charley hat gewusst, dass der Raum luftdicht ist. Ich wette, er ist da rein, um uns Übrige zu schützen. Das war selbstlos, richtig mutig.«

Sie entwickelte eine Theorie über Charley, schmückte sie aus, fantasievoll. Es war ein wenig störend, denn schließlich waren wir mit dem eigentlichen Problem noch keinen Schritt weiter - wie wir die Tür öffnen und den Schwarm außer Gefecht setzen konnten. Ich sagte: »Gibt es in dem Raum noch ein Fenster?«

»Nein.«

»Nur das Fenster in der Tür?«

»Ja.«

»Okay«, sagte ich, »dann verdunkeln wir es und machen da drin das Licht aus. Und warten ein paar Stunden, bis der Schwarm Energie verliert.«

»Tja, ich weiß nicht«, sagte Ricky skeptisch.

»Was soll das heißen, Ricky?«, fragte Julia. »Ich finde die Idee super. Es ist auf jeden Fall einen Versuch wert. Fangen wir gleich an.«

»Also schön«, sagte Ricky und gab sofort klein bei. »Aber ihr müsst sechs Stunden abwarten.«

Ich erwiderte: »Ich dachte, drei Stunden.«

»Eigentlich ja, aber ich möchte drei zusätzliche Stunden, bevor ich die Tür öffne. Wenn der Schwarm entwischt, sind wir alle erledigt.«

So wurde es letzten Endes dann auch gemacht. Wir besorgten schwarzen Stoff, klebten ihn vor das Fenster und darüber noch ein Stück schwarze Pappe. Wir löschten das Licht und klebten den Lichtschalter in der Aus-Position fest. Als wir fertig waren, überkam mich erneut Erschöpfung. Ich sah auf meine Uhr. Es war ein Uhr. Ich sagte: »Ich muss ins Bett.«

»Wir sollten alle etwas schlafen«, sagte Julia. »Es reicht, wenn wir morgen früh wiederkommen.«

Wir machten uns alle auf den Weg zum Wohnmodul. Mae ging plötzlich neben mir. »Wie fühlst du dich?«, fragte sie.

»Einigermaßen. Der Rücken tut mir ein bisschen weh.«

Sie nickte. »Ich seh mir das besser an.«

»Wieso?«

»Lass mich einfach einen Blick draufwerfen, bevor du ins Bett gehst.«

»Ach, Jack, Schatz«, rief Julia. »Du Armer.«

»Was ist denn?«

Ich saß am Küchentisch und hatte das Hemd ausgezogen. Julia und Mae standen hinter mir und schnalzten besorgt mit der Zunge.

»Was ist denn?«, fragte ich wieder.

»Du hast ein paar Brandblasen«, sagte Mae.

»Ein paar?«, sagte Julia. »Sein ganzer Rücken ist voller ...«

»Ich glaube, wir haben Verbandszeug für Brandverletzungen«, sagte Mae und griff nach dem Erste-Hilfe-Kasten unter der Spüle.

»Ja, das hoffe ich doch.« Julia lächelte mich an. »Jack, es tut mir so entsetzlich Leid, was du alles hast durchmachen müssen.«

»Jetzt brennt es vielleicht ein bisschen«, sagte Mae.

Ich wusste, dass Mae allein mit mir sprechen wollte, aber es gab keine Gelegenheit dazu. Julia würde uns nicht eine Sekunde allein lassen. Sie war schon immer auf Mae eifersüchtig gewesen, schon vor Jahren, als ich Mae in mein Team geholt hatte, und jetzt kämpfte sie mit ihr um meine Aufmerksamkeit.

Das schmeichelte mir ganz und gar nicht.

Der Verband kühlte zuerst, als Mae ihn anlegte, doch gleich darauf brannte es schmerzhaft. Ich verzog das Gesicht.

»Ich weiß nicht, was für Schmerztabletten wir dahaben«, sagte Mae. »Du hast eine recht großflächige Verbrennung zweiten Grades.«

Julia kramte hektisch im Erste-Hilfe-Kasten, nahm Sachen heraus und warf sie nach links und rechts. Tuben und Döschen schepperten zu Boden. »Hier ist Morphium«, sagte sie schließlich und hielt ein Fläschchen hoch. Sie strahlte mich an. »Das müsste helfen!«

»Ich will kein Morphium«, sagte ich. Im Grunde wollte ich nur, dass sie ins Bett verschwand. Julia war mir lästig. Ihre Aufgekratztheit ging mir auf die Nerven. Und ich wollte allein mit Mae sprechen.

»Sonst ist nichts da«, sagte Julia, »außer Aspirin.«

»Aspirin reicht.«

»Ich fürchte, das wird nicht .«

»Aspirin reicht.« »Du musst mir nicht gleich den Kopf abreißen.«

»Tut mir Leid. Mir geht's nicht gut.«

»Ich versuche bloß, dir zu helfen.« Julia machte einen Schritt zurück. »Ich meine, wenn ihr zwei allein sein wollt, braucht ihr es nur zu sagen.«

»Nein«, sagte ich, »wir wollen nicht allein sein.«

»Wie gesagt, ich versuche bloß zu helfen.« Sie wandte sich wieder dem Erste-Hilfe-Kasten zu. »Vielleicht finde ich ja noch was -« Pflasterpackungen und Plastikfläschchen mit Antibiotika fielen zu Boden.

»Julia«, sagte ich. »Bitte lass das.«

»Was mache ich denn? Was mache ich denn so Schreckliches?«

»Lass es einfach.«

»Ich versuche bloß zu helfen.«

»Das weiß ich.«

Hinter mir sagte Mae: »So. Fertig. Das müsste bis morgen halten.« Sie gähnte. »Und wenn ihr nichts dagegen habt, gehe ich jetzt ins Bett.«

Ich dankte ihr und sah ihr nach, wie sie den Raum verließ. Als ich mich wieder umdrehte, hatte Julia ein Glas Wasser und zwei Aspirin für mich in der Hand.

»Danke«, sagte ich.

»Ich konnte die Frau noch nie leiden«, sagte sie.

»Gehen wir schlafen«, sagte ich.

»Hier gibt es nur Einzelbetten.«

»Ich weiß.«

Sie kam näher. »Ich möchte mit dir zusammen sein, Jack.«

»Ich bin hundemüde. Wir sehen uns morgen, Julia.«

Ich ging in mein Zimmer und torkelte zum Bett. Ich machte mir nicht mal die Mühe, mich auszuziehen.

Ich weiß nicht mehr, wie mein Kopf das Kissen berührte.

7. Tag, 4.42 Uhr

Ich schlief unruhig, hatte einen schrecklichen Traum nach dem anderen. Ich träumte, dass ich in Monterey war und Julia erneut heiratete. Ich stand vor dem Pfarrer, als sie in ihrem Brautkleid neben mich trat, und als sie den Schleier lüftete, war ich schockiert, wie schön und jung und schlank sie war. Sie lächelte mich an, und ich lächelte zurück, versuchte, mein Unbehagen zu verbergen. Denn jetzt sah ich, dass sie mehr als nur schlank war, dass ihr Gesicht dünn, fast ausgemergelt war. Einem Totenschädel ähnlich.

Dann wandte ich mich dem Geistlichen vor uns zu, aber auf einmal war er Mae, und sie schüttete farbige Flüssigkeiten von einem Reagenzröhrchen ins andere. Als ich Julia wieder ansah, war sie außer sich vor Wut und sagte, sie habe die Frau noch nie leiden können. Irgendwie war es mein Fehler. Ich war schuld.

Ich wachte kurz auf, verschwitzt. Das Kopfkissen war nass. Ich drehte es um und schlief wieder ein. Ich sah mich selbst schlafend im Bett liegen, und als ich aufblickte, bemerkte ich, dass die Tür zu meinem Zimmer offen stand. Licht drang aus dem Flur herein. Ein Schatten fiel über mein Bett. Ricky trat ein und blickte auf mich hinunter. Sein Gesicht war dunkel im Gegenlicht, ich konnte seinen Ausdruck nicht erkennen, aber er sagte: »Ich habe dich immer geliebt, Jack.« Er beugte sich hinab, um mir etwas ins Ohr zu flüstern, und als sein Kopf näher kam, merkte ich, dass er mich stattdessen küssen wollte. Auf den Mund, leidenschaftlich. Er hatte ihn geöffnet. Seine Zunge leckte seine Lippen. Ich war völlig durcheinander, ich wusste nicht, was ich machen sollte, doch in diesem Augenblick kam Julia herein und fragte: »Was ist hier los?«, und Ricky wich hastig zurück und machte irgendeine ausweichende Bemerkung. Julia war sehr zornig und sagte: »Nicht jetzt, du Idiot«, woraufhin Ricky erneut etwas Ausweichendes erwiderte. Und dann sagte Julia: »Das ist völlig unnötig, das erledigt sich von ganz allein.« Und Ricky sagte: »Bei intervallgesteuerter globaler Optimierung gibt es Konstriktionskoeffizienten für deterministische Algorithmen.« Und sie sagte: »Er wird dir nicht wehtun, wenn du dich nicht wehrst.« Sie schaltete das Licht im Zimmer an und ging hinaus.

Dann war ich plötzlich wieder auf meiner Monterey-Hochzeit; Julia stand in Weiß neben mir, und ich drehte mich zum Publikum um, und ich erblickte meine drei Kinder in der ersten Reihe, lächelnd und glücklich. Und während ich sie ansah, bildeten sich um ihre Münder schwarze Linien und breiteten sich nach unten über ihre Körper aus, bis sie ganz in Schwarz gehüllt waren. Sie lächelten weiter, aber ich war entsetzt. Ich lief zu ihnen, doch ich konnte den schwarzen Umhang nicht abreiben. Und Nicole sagte seelenruhig: »Vergiss die Rasensprenger nicht, Dad.«

Ich wachte auf. Ich hatte die Laken zerwühlt und war in Schweiß gebadet. Die Tür meines Zimmers stand offen. Ein Lichtrechteck fiel vom Flur auf mein Bett. Ich schaute zum PC-Monitor. Er zeigte »4.55«. Ich schloss die Augen und blieb einen Moment liegen, aber ich konnte nicht wieder einschlafen. Ich war schweißnass und fühlte mich unwohl. Ich beschloss, unter die Dusche zu gehen.

Kurz vor fünf Uhr morgens stand ich auf.

Im Flur war alles still. Ich ging Richtung Waschräume. Die Türen zu allen Schlafzimmern waren offen, was ich seltsam fand. Im Vorbeigehen konnte ich sie alle schlafen sehen. Außerdem brannte in jedem Zimmer Licht. Ich sah Ricky schlafen, und ich sah Bobby und Julia und Vince. Maes Bett war leer. Und natürlich war Charleys Bett leer.

Ich ging kurz in die Küche, um mir ein Gingerale aus dem Kühlschrank zu nehmen. Ich war unglaublich durstig, die Kehle tat mir weh, so ausgetrocknet war sie. Und im Magen hatte ich ein flaues Gefühl. Ich blickte auf die Champagnerflasche. Plötzlich hatte ich das komische Gefühl, dass sich vielleicht jemand an der Flasche zu schaffen gemacht hatte. Ich nahm sie heraus und sah mir den Verschluss genau an, die Metallfolie, die den Korken verdeckte. Sie kam mir ganz normal vor. Keine Auffälligkeit, keine Nadelstiche, rein gar nichts.

Bloß eine Flasche Champagner.

Ich stellte sie zurück und schloss den Kühlschrank.

Ich fragte mich, ob ich Julia unrecht getan hatte. Vielleicht glaubte sie ja wirklich, dass sie einen Fehler gemacht hatte, und wollte manches wieder gutmachen. Vielleicht wollte sie auch bloß ihre Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. Vielleicht war ich zu hart zu ihr. Zu nachtragend.

Denn was hatte sie schon Verdächtiges oder Falsches getan, wenn man mal richtig drüber nachdachte? Sie hatte sich gefreut, mich zu sehen, wenn auch etwas übertrieben. Sie hatte die Verantwortung für das Experiment übernommen, und sie hatte sich dafür entschuldigt. Sie hatte sich unverzüglich bereit erklärt, das Pentagon anzurufen. Sie hatte meinem Plan zugestimmt, den Schwarm im Technikraum zu vernichten. Sie hatte mir so gut sie konnte gezeigt, dass sie mich unterstützte und auf meiner Seite stand.

Trotzdem hatte ich ein ungutes Gefühl.

Und natürlich war da noch die Sache mit Charley und dem Schwarm. Rickys Erklärung, dass Charley den Schwarm irgendwo im oder am Körper gehabt hatte, im Mund oder in den Achselhöhlen oder sonst wo, fand ich nicht gerade einleuchtend. Diese Schwärme töteten in Sekundenschnelle. Also blieb die Frage offen: Wie war der Schwarm denn nun in den Technikraum zu Charley gelangt? War er von draußen reingekommen? Wieso hatte er nicht Julia und Ricky und Vince angegriffen?

Ich vergaß, dass ich duschen wollte.

Ich beschloss, zum Wartungsbereich zu gehen und mir die Tür des Technikraumes noch einmal genauer anzusehen. Vielleicht hatte ich irgendetwas übersehen. Julia hatte viel geredet, meine Konzentration gestört. Fast so, als hätte sie verhindern wollen, dass ich einen klaren Gedanken fasste ...

Da, schon wieder unterstellte ich Julia Böses.

Ich ging durch die Luftschleuse, den Korridor hinunter, wieder durch eine Luftschleuse. In müdem Zustand war es ausgesprochen unangenehm, von diesem Wind angeblasen zu werden. Ich gelangte in den Wartungsbereich und ging zur Tür des Technikraumes. Mir fiel nichts Ungewöhnliches auf.

Ich hörte das Klicken einer Tastatur und schaute ins Biologielabor. Mae saß an ihrem Computer.

Ich sagte: »Was machst du?«

»Ich seh mir das Videoband von den Überwachungskameras an.«

»Ich dachte, das geht nicht, weil Charley die Drähte rausgerissen hat.«

»Das hat Ricky gesagt. Aber es stimmt nicht.«

Ich wollte um den großen Arbeitstisch herum zu ihr gehen und ihr über die Schulter blicken. Sie hielt eine Hand hoch.

»Jack«, sagte sie. »Vielleicht ist es besser, du schaust dir das nicht an.«

»Was? Wieso nicht?«

»Tja, ähm ... Vielleicht solltest du dir das jetzt nicht zumuten. Jedenfalls im Moment noch nicht. Vielleicht morgen.«

Aber natürlich kam ich nach dieser Äußerung praktisch um den Tisch herumgelaufen, ich wollte doch wissen, was es auf dem Monitor zu sehen gab. Und ich blieb abrupt stehen. Der Bildschirm zeigte einen leeren Korridor. Mit der Zeitangabe am unteren Bildrand. »Das ist alles?«, sagte ich. »Und das sollte ich mir nicht zumuten?« »Nein.« Sie drehte sich auf dem Stuhl um. »Es ist so, Jack, man muss alle Überwachungskameras der Reihe nach durchgehen, und jede nimmt immer nur zehn Bilder pro Minute auf, daher kann man nie so genau sagen, was .«

»Zeig's mir einfach, Mae.«

»Ich muss ein Stück zurückgehen ...« Sie drückte mehrmals die Zurück-Taste. Wie viele moderne Überwachungsanlagen arbeitete die Xymos-Anlage nach dem Prinzip der InternetBrowser-Technologie. Man konnte die eigene Arbeit somit Schritt für Schritt verfolgen.

Die Bilder sprangen zurück, bis Mae die gesuchte Stelle fand. Dann ließ sie die Aufnahme laufen, und die Bilder der einzelnen Kameras kamen in rascher Folge. Ein Korridor. Die Fertigungshalle. Ein anderer Blick in die Fertigungshalle. Eine Luftschleuse. Wieder ein Korridor. Der Wartungsbereich. Ein Korridor. Die Küche. Der Freizeitraum. Der Flur des Wohntrakts. Eine Außenaufnahme vom Dach, mit Blick auf die in Flutlicht getauchte Wüste. Korridor. Energieraum. Außenaufnahme, ebenerdig. Wieder ein Korridor.

Ich blinzelte. »Wie lange guckst du dir das schon an?«

»Eine knappe Stunde.«

»Meine Güte.«

Als Nächstes sah ich einen Korridor. Ricky ging ihn hinunter. Energiestation. Außenaufnahme von oben, Julia, die in das Flutlicht trat. Ein Korridor. Julia und Ricky zusammen, sie umarmten sich, und dann ein Korridor, und .

»Moment«, sagte ich.

Mae drückte eine Taste. Sie sah mich an, sagte nichts. Sie drückte eine andere Taste, ließ die Bilder langsam vorlaufen. Sie stoppte bei der Kamera, die Ricky und Julia zeigte.

»Zehn Bilder.«

Die Bewegung war unscharf und ruckartig. Ricky und Julia gingen aufeinander zu. Sie umarmten sich. Die Unbefangenheit, Vertrautheit zwischen ihnen war deutlich zu spüren. Und dann küssten sie sich leidenschaftlich.

»Ach, Scheiße«, sagte ich und wandte mich vom Bildschirm ab. »Scheiße, Scheiße, Scheiße.«

»Tut mir Leid, Jack«, sagte Mae. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

Mir wurde kurz schwindelig, fast so, als würde ich gleich ohnmächtig. Ich setzte mich auf den Arbeitstisch, den Körper vom Bildschirm weggedreht. Ich konnte einfach nicht hinsehen. Ich holte tief Luft. Mae sagte noch etwas, aber ich hörte ihre Worte nicht. Ich holte wieder Luft. Ich fuhr mir mit einer Hand durchs Haar.

Ich sagte: »Hast du davon gewusst?«

»Nein. Bis vor ein paar Minuten hatte ich keine Ahnung.«

»Weiß es sonst jemand?«

»Nein. Wir haben manchmal drüber gewitzelt, dass sie was miteinander hätten, aber keiner von uns hat dran geglaubt.«

»Gott.« Ich fuhr mir wieder durchs Haar. »Sag mir die Wahrheit, Mae. Ich muss die Wahrheit wissen. Hast du davon gewusst oder nicht?«

»Nein, Jack. Hab ich nicht.«

Schweigen. Ich holte Luft. Ich versuchte, mir über meine Gefühle klar zu werden. »Weißt du, was komisch ist?«, sagte ich. »Komisch ist, dass ich schon eine Weile den Verdacht hatte. Ich meine, ich war mir ziemlich sicher, dass da irgendwas lief, ich wusste bloß nicht, mit wem . Ich meine . Ich hab es mir zwar gedacht, aber es ist trotzdem ein ganz schöner Schock.«

»Das kann ich mir vorstellen.«

»Auf Ricky wäre ich nie gekommen«, sagte ich. »Er ist so ein ... wie soll ich sagen ... schleimiger Typ. Und so eine große Nummer ist er auch nicht. Irgendwie hätte ich gedacht, sie sucht sich einen, der mehr Einfluss hat.« Während ich das sagte, musste ich an mein Gespräch mit Ellen nach dem Abendessen denken.

Weißt du so genau, was Julias Stil ist?

Das war, nachdem ich den Typen in ihrem Wagen gesehen hatte. Der Typ, dessen Gesicht ich nicht genau hatte erkennen können ...

Ellen: Das nennt man Verleugnung der Realität, Jack.

»Herrgott«, sagte ich kopfschüttelnd. Ich war zornig, beschämt, verwirrt, wütend. Es wechselte im Sekundentakt.

Mae wartete. Sie rührte sich nicht, und sie sagte nichts. Sie war völlig still. Schließlich fragte sie: »Willst du noch mehr sehen?«

»Gibt's denn noch mehr?«

»Ja.«

»Ich weiß nicht, ob ich, ähm . Nein, ich möchte nicht noch mehr sehen.«

»Wäre aber vielleicht besser.«

»Nein.«

»Ich meine, vielleicht fühlst du dich dann besser.«

»Ich glaube nicht«, sagte ich. »Ich glaube, das verkrafte ich nicht.«

Sie sagte: »Vielleicht ist es ja nicht so, wie du denkst, Jack. Es ist zumindest möglich, dass es nicht genau so ist, wie du denkst.«

Das nennt man Verleugnung der Realität, Jack.

»Tut mir Leid, Mae«, sagte ich. »Aber ich will mir nichts mehr vormachen. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Ich weiß, was es bedeutet.«

Ich hatte geglaubt, ich würde für immer mit Julia zusammen sein. Ich hatte geglaubt, wir würden beide die Kinder lieben, wir wären eine Familie, hätten ein Haus, ein gemeinsames Leben. Und Ricky hatte selbst ein Baby zu Hause. Es war einfach verrückt. Es ergab für mich keinen Sinn. Aber andererseits laufen die Dinge nie so, wie man denkt.

Ich hörte Mae rasch auf der Tastatur tippen. Ich drehte mich um, sodass ich sie sehen konnte, aber nicht den Bildschirm. »Was machst du da?«

»Ich suche Charley. Vielleicht finde ich ja raus, was in den letzten paar Stunden mit ihm passiert ist.«

Sie tippte weiter. Ich holte Luft. Sie hatte Recht. Was immer da in meinem Privatleben im Gange war, es war schon ziemlich weit fortgeschritten. Dagegen konnte ich nichts tun, zumindest nicht jetzt.

»Okay«, sagte ich. »Suchen wir nach Charley.«

Es war verwirrend, die Bilder vorbeiblitzen zu sehen, die die Kameras in immer derselben Reihenfolge einblendeten. Ständig tauchten Personen auf und waren gleich wieder verschwunden. Ich sah Julia in der Küche. Danach sie und Ricky in der Küche. Die Kühlschranktür war auf, dann zu. Ich sah Vince in der Fertigungshalle, dann war er weg. Vince im Korridor, schwups war er nicht mehr da.

»Charley sehe ich nirgends.«

»Vielleicht schläft er noch«, sagte Mae.

»Kannst du in die Schlafzimmer gucken?«

»Ja, da sind Kameras angebracht, aber dann muss ich in eine andere Überwachungsschleife. Die Schlafzimmer gehören nicht in die normale Schleife.«

»Ist es aufwändig, die Überwachungsschleife zu wechseln?«

»Keine Ahnung. Das ist Rickys Ressort. Das System ist ziemlich kompliziert. Ricky ist der Einzige, der sich richtig damit auskennt. Aber vielleicht finden wir Charley ja doch noch in der regulären Schleife.«

Also warteten wir ab, ob er auf einem der Kamerabilder auftauchte. Gut zehn Minuten hielten wir nach ihm Ausschau. Hin und wieder musste ich den Blick von den Bildern abwenden, Mae dagegen schien es nichts auszumachen. Und plötzlich sahen wir Charley im Wohntrakt, er ging den Korridor hinunter und rieb sich die Augen. Er war gerade aufgewacht.

»Okay«, sagte Mae. »Wir haben ihn.«

»Wie spät war das?«

Sie fror das Bild ein, damit wir die Zeit ablesen konnten. Es war 0.10 Uhr.

Ich sagte: »Das ist nur etwa eine halbe Stunde, bevor wir zurückgekommen sind.«

»Ja.« Sie ließ die Bilder vorlaufen. Charley verschwand aus dem Flur, aber wir sahen ihn kurz, wie er gerade Richtung Bad ging. Dann erschienen Ricky und Julia in der Küche. Ich spürte, dass sich mein ganzer Körper verkrampfte. Aber sie unterhielten sich bloß. Dann stellte Julia den Champagner in den Kühlschrank, und Ricky reichte ihr Gläser, die sie neben die Flasche stellte.

Aufgrund der Bildfrequenz war schwer zu erkennen, was als Nächstes passierte. Zehn Videostandbilder pro Minute, das bedeutete, dass wir nur alle sechs Sekunden ein Bild hatten, schnelle Bewegungen waren also unscharf und ruckartig, weil zwischen den Einzelbildern zu viel passierte.

Aber ich nahm an, es war Folgendes geschehen:

Charley trat ein und unterhielt sich mit den beiden. Er lächelte gut gelaunt. Er deutete auf die Gläser. Julia und Ricky stellten die Gläser in den Kühlschrank, während sie mit ihm sprachen. Dann hob er eine Hand, um Julia aufzuhalten.

Er deutete auf das Glas, das Julia in der Hand hatte und gerade in den Kühlschrank stellen wollte. Er sagte etwas.

Julia schüttelte den Kopf und stellte das Glas in den Kühlschrank.

Charley wirkte verwirrt. Er deutete auf ein anderes Glas. Julia schüttelte den Kopf. Dann zog Charley die Schultern hoch und schob das Kinn vor, als ob er wütend würde. Er klopfte mehrmals mit dem Finger auf den Tisch, sagte irgendwas mit Nachdruck.

Ricky trat zwischen Julia und Charley. Er verhielt sich wie jemand, der einen Streit beenden will. Er hielt beschwichtigend die Hände vor Charley hoch: Reg dich ab.

Charley regte sich nicht ab. Er deutete auf die Spüle, in der sich schmutziges Geschirr türmte.

Ricky schüttelte den Kopf und legte Charley eine Hand auf die Schulter.

Charley fegte sie runter.

Die beiden Männer begannen zu streiten. Julia stellte derweil seelenruhig die restlichen Gläser in den Kühlschrank. Sie machte den Eindruck, als würde sie der Streit direkt neben ihr gleichgültig lassen, fast so, als würde sie ihn gar nicht mitkriegen. Charley versuchte, an Ricky vorbei zum Kühlschrank zu gelangen, aber Ricky stellte sich ihm immer wieder in den Weg und hob jedes Mal die Hände.

Rickys ganzes Verhalten suggerierte, dass er Charley für nicht ganz zurechnungsfähig hielt. Er behandelte Charley behutsam, wie man mit jemandem umgeht, der völlig die Beherrschung verloren hat.

Mae sagte: »Ist Charley schon vom Schwarm befallen? Führt er sich deshalb so auf?«

»Kann ich nicht sagen.« Ich sah genauer hin. »Ich sehe keinen Schwarm.«

»Nein«, sagte sie. »Aber er ist ganz schön wütend.«

»Was will er wohl von ihnen?«, sagte ich.

Mae schüttelte den Kopf. »Dass sie die Gläser zurückstellen? Sie spülen? Andere Gläser nehmen? Ich weiß nicht.«

Ich sagte: »So was ist Charley doch total egal. Der isst doch von einem schmutzigen Teller, den schon jemand anders benutzt hat.« Ich lächelte. »Hab ich selbst gesehen.«

Plötzlich trat Charley einige Schritte zurück. Einen Augenblick lang war er völlig regungslos, als hätte er etwas entdeckt, das ihm die Sprache verschlug. Ricky redete auf ihn ein. Charley fing an, auf die beiden zu zeigen und sie anzuschreien. Ricky wollte auf ihn zugehen.

Charley wich noch weiter zurück, und dann drehte er sich zum Telefon um, das an der Wand befestigt war. Er hob den Hörer ab. Ricky trat vor, sehr schnell, sein Körper war ganz verschwommen, und knallte den Hörer wieder auf. Er stieß Charley zurück, und zwar heftig. Ricky war verblüffend stark. Charley war ein stämmiger Kerl, aber er fiel hin und rutschte ein Stück über den Boden. Er stand wieder auf, schrie noch etwas, drehte sich dann um und lief aus dem Raum.

Julia und Ricky wechselten einen Blick. Julia sagte etwas zu ihm.

Sofort rannte Ricky hinter Charley her.

Julia rannte hinter Ricky her.

»Wo sind sie hin?«, sagte ich.

Mae ließ den Bildlaufregler los, auf dem Bildschirm erschien »Zeitaktualisierung«, und dann sahen wir erneut Bilder von allen Kameras, der Reihe nach. Wir sahen Charley einen Korridor hinunterlaufen, und wir sahen Ricky, der ihn verfolgte. Wir warteten ungeduldig auf die nächste Runde. Aber dort war niemand zu sehen.

Eine weitere Runde. Dann sahen wir Charley im Wartungsraum, wo er am Telefon eine Nummer wählte. Er warf einen Blick über die Schulter. Ricky kam herein, und Charley legte auf. Sie stritten sich, umkreisten einander.

Charley nahm eine Schaufel und schlug damit nach Ricky. Das erste Mal konnte Ricky ausweichen. Dann erwischte es ihn an der Schulter, und er fiel zu Boden. Charley hob die Schaufel hoch über den Kopf und ließ sie herabsausen, er wollte Rickys Kopf treffen. Der Schlag war brutal und in eindeutig mörderischer Absicht. Ricky konnte sich gerade noch nach hinten werfen, da krachte die Schaufel auch schon auf den Beton.

»Mein Gott ...«, sagte Mae.

Ricky kam wieder auf die Beine, als Charley sich nach Julia umdrehte, die in den Raum trat. Julia streckte eine Hand aus, flehte Charley an (die Schaufel wegzulegen?), Charley blickte von Ricky zu Julia. Und dann kam auch noch Vince herein. Jetzt, da alle im Raum waren, verlor Charley anscheinend die Kampfeslust. Die anderen umzingelten ihn, kamen näher.

Plötzlich hastete Charley zum Technikraum, lief hinein und versuchte, die Tür zuzuschlagen. Ricky hatte ihn blitzschnell eingeholt, schob einen Fuß in den Spalt, und Charley konnte sie nicht schließen. Charleys Gesicht hinter der Scheibe sah wütend aus. Vince trat neben Ricky. Da beide nun an der Tür standen, konnte ich nicht sehen, was passierte. Julia schien Anweisungen zu geben. Ich meinte zu erkennen, dass sie eine Hand durch den Türspalt steckte, aber sicher war ich mir nicht.

Jedenfalls öffnete sich die Tür, und Vince und Ricky betraten den Raum. Was als Nächstes geschah, lief so schnell ab, dass es auf dem Video verschwamm, aber anscheinend kämpften die drei Männer; Ricky gelang es, hinter Charley zu kommen und ihn in einen Klammergriff zu nehmen, Vince drehte Charley den Arm auf den Rücken, und schließlich hatten die beiden Charley überwältigt. Er kämpfte nicht mehr. Die Bilder wurden wieder klarer.

»Was passiert denn da?«, sagte Mae. »Davon haben sie uns kein Wort erzählt.«

Ricky und Vince hielten Charley von hinten fest. Charley keuchte, seine Brust hob und senkte sich, aber er wehrte sich nicht mehr. Julia kam in den Raum. Sie blickte Charley an und unterhielt sich kurz mit ihm.

Und dann trat Julia dicht an Charley heran und küsste ihn voll und lange auf den Mund.

Charley sträubte sich, wollte sich losreißen. Vince packte mit der Faust in Charleys Haare und versuchte, seinen Kopf ruhig zu halten. Julia küsste ihn weiter. Dann trat sie zurück, und ich sah einen schwarzen Fluss zwischen ihrem Mund und dem von Charley. Nur ganz kurz, dann war er wieder verblasst.

»Oh mein Gott«, sagte Mae.

Julia wischte sich über die Lippen und lächelte.

Charley sackte zusammen, fiel zu Boden. Er wirkte benommen. Eine schwarze Wolke kam aus seinem Mund und schwirrte um seinen Kopf herum. Vince tätschelte ihm den Kopf und verließ den Raum.

Ricky ging zu den Schalttafeln - und zerrte ganze Leitungsstränge heraus. Er riss die Schalttafeln buchstäblich in Stücke. Dann drehte er sich wieder zu Charley um, sagte etwas und ging aus dem Technikraum.

Sofort sprang Charley auf, schloss die Tür und verriegelte sie. Aber Ricky und Julia lachten bloß, als wäre Charleys Anstrengung völlig sinnlos. Charley sank erneut zu Boden, und von da an war er nicht mehr zu sehen.

Ricky legte einen Arm um Julias Schultern, und gemeinsam gingen sie aus dem Raum.

»Na, ihr zwei seid ja richtige Frühaufsteher!«

Ich drehte mich um.

Julia stand in der Tür.

7. Tag, 5.12 Uhr

Sie kam lächelnd näher. »Weißt du, Jack«, sagte sie, »wenn ich nicht völliges Vertrauen zu dir hätte, würde ich denken, ihr beide führt irgendwas im Schilde.«

»Ach ja?«, sagte ich. Ich trat ein Stück von Mae weg, die rasch tippte. Mir war äußerst mulmig zu Mute. »Wie kommst du denn darauf?«

»Na ja, ihr hattet verschwörerisch die Köpfe zusammengesteckt«, sagte sie, während sie auf uns zukam. »Richtig gebannt habt ihr auf den Bildschirm gestarrt. Was habt ihr euch denn da angeguckt?«

»Ach nichts, was Technisches.«

»Darf ich mal sehen? Ich interessiere mich ja auch für die technischen Details. Hat Ricky dir nicht erzählt, dass ich mich neuerdings auch für die technische Seite interessiere? Im Ernst. Diese ganze Technologie hier fasziniert mich. Es ist eine neue Welt, oder nicht? Das einundzwanzigste Jahrhundert ist da. Bleib ruhig sitzen, Mae. Ich guck dir über die Schulter.«

Inzwischen stand sie hinter Mae und schaute auf den Bildschirm. Mit gerunzelter Stirn betrachtete sie das Bild, das Bakterienkulturen auf einem roten Nährboden zeigte. Weiße Kreise innerhalb von roten Kreisen. »Was ist das?«

Mae sagte: »Bakterienkolonien. Unser Coli-Material ist zum Teil kontaminiert. Ich musste einen Tank aus der Produktion nehmen. Wir suchen noch nach der Ursache.«

»Wahrscheinlich Phagen, meinst du nicht?«, sagte Julia. »Ein Virus - das ist doch meistens das Problem bei Bakterienstämmen?« Sie seufzte. »Die molekulare Herstellung ist so anfällig. Es geht so leicht was schief, und so häufig. Man muss höllisch aufpassen.« Sie warf mir einen Blick zu, dann Mae. »Aber das da habt ihr euch doch bestimmt nicht die ganze Zeit angeguckt

»Doch«, sagte ich.

»Was? Bilder von Schimmel?«

»Bakterien.«

»Ja, Bakterien. Das hast du dir die ganze Zeit angesehen, Mae?«

Sie zuckte die Achseln, nickte. »Ja, Julia. Das ist mein Job.«

»Und ich zweifle keine Sekunde an deinem beruflichen Engagement«, sagte Julia. »Aber darf ich mal kurz?« Ihre Hand schoss vor und drückte die Zurück-Taste am Rand der Tastatur.

Die Bilder davor erschienen, ebenfalls Aufnahmen von Bakteriennährböden.

Das nächste Bild zeigte eine Elektronenmikroskopaufnahme von einem Virus.

Und dann kam eine Tabelle mit den Wachstumsdaten der letzten zwölf Stunden.

Julia drückte die Taste noch ein paarmal, doch sie sah nichts als Bakterien und Viren und Datentabellen. Sie nahm die Hand von der Tastatur. »Du scheinst ja ziemlich viel Zeit dafür aufzuwenden. Ist das wirklich so wichtig?«

»Na ja, es ist ein Kontaminant«, sagte Mae. »Wenn wir das Problem nicht in den Griff kriegen, müssen wir die gesamte Anlage abstellen.«

»Dann mach bloß weiter.« Sie wandte sich mir zu. »Möchtest du frühstücken? Du musst doch völlig ausgehungert sein.«

»Klingt gut«, sagte ich.

»Komm mit«, sagte Julia. »Wir machen zusammen Frühstück.«

»Schön«, sagte ich. Ich warf Mae einen Blick zu. »Bis später dann. Sag mir, wenn du Hilfe brauchst.«

Ich folgte Julia aus dem Raum. Wir gingen den Korridor hinunter in Richtung Wohntrakt.

»Ich weiß nicht, warum«, sagte Julia, »aber die Frau ist für mich ein rotes Tuch.« »Ich weiß auch nicht, warum. Sie ist sehr gut. Sehr umsichtig, sehr gewissenhaft.«

»Und sehr hübsch.«

»Julia .«

»Willst du mich deshalb nicht küssen? Weil du was mit ihr hast?«

»Julia, jetzt reicht's aber.«

Sie blickte mich abwartend an.

»Hör zu«, sagte ich. »Die letzten Wochen waren für alle ziemlich hart. Ehrlich gesagt, war es nicht leicht mit dir.«

»Das glaube ich.«

»Und ehrlich gesagt, ich war ganz schön sauer auf dich.«

»Und du hattest auch allen Grund dazu. Tut mir Leid, was ich dir alles zugemutet habe.« Sie beugte sich zu mir, küsste mich auf die Wange. »Aber wir sind so distanziert. Ich mag diese Spannung zwischen uns nicht. Komm, wir küssen uns und vertragen uns wieder.«

»Vielleicht später«, sagte ich. »Wir haben noch viel zu tun.«

Sie gab sich verspielt, machte einen Kussmund, küsste in die Luft. »Oooch, komm schon, Schatz, nur ein kleines Küsschen ... bitte, bitte, davon stirbst du schon nicht ...«

»Später«, sagte ich.

Sie seufzte und gab auf. Wir gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. Dann sagte sie mit ernster Stimme: »Du weichst mir aus, Jack. Und ich will wissen, warum.«

Ich antwortete nicht, stieß nur einen geduldigen Seufzer aus und ging weiter, tat so, als hätte sie darauf keine Antwort verdient. In Wirklichkeit war ich zutiefst verstört.

Ich konnte mich nicht auf Dauer weigern, sie zu küssen. Früher oder später würde sie sich denken können, was ich wusste. Vielleicht jetzt schon. Denn auch wenn Julia sich kleinmädchenhaft gab, kam sie mir aufmerksamer und wachsamer vor denn je. Ich hatte das Gefühl, dass ihr nichts entging.

Und ich hatte das gleiche Gefühl bei Ricky. Sie kamen mir beide wie auf Hochtouren vor, hyperwach.

Und was ich auf Maes Monitor gesehen hatte, war verstörend. Die schwarze Wolke, die offenbar aus Julias Mund gekommen war. War sie wirklich da gewesen, auf dem Video? Denn soweit ich wusste, töteten die Schwärme ihre Beute auf der Stelle. Sie waren gnadenlos. Und jetzt schien Julia einen Schwarm in sich zu haben. Wie war das möglich? War sie irgendwie immun? Oder tolerierte der Schwarm sie und brachte sie aus irgendeinem Grund nicht um? Und was war mit Ricky und Vince? Waren sie auch immun?

Eines stand fest: Julia und Ricky wollten nicht, dass wir ir-gendwen anriefen. Sie hatten uns absichtlich in der Wüste von der Außenwelt abgeschnitten, und sie wussten, dass nur noch wenige Stunden blieben, bis der Hubschrauber kam. Also genügte ihnen dieser Zeitraum offenbar. Um was zu tun? Uns umzubringen? Oder bloß, um uns zu infizieren? Was?

Während ich so mit meiner Frau den Korridor hinunterging, hatte ich das Gefühl, neben einer Fremden herzugehen. Neben jemandem, den ich nicht mehr kannte. Jemand, der ungeheuer gefährlich war.

Ich sah auf die Uhr. Keine zwei Stunden mehr, bis der Hubschrauber kam.

Julia lächelte. »Hast du einen Termin?«

»Nein. Ich hab nur gedacht, es ist Zeit fürs Frühstück.«

»Jack«, sagte sie. »Warum bist du nicht ehrlich zu mir?«

»Ich bin ehrlich ...«

»Nein. Du hast dich gefragt, wie lange es noch dauert, bis der Hubschrauber kommt.«

Ich zuckte die Achseln.

»Zwei Stunden«, sagte sie. Und sie fügte hinzu: »Ich wette, du kannst es kaum erwarten, hier wegzukommen, was?«

»Ja«, sagte ich. »Aber ich gehe erst, wenn alles erledigt ist.«

»Wieso? Was gibt's denn noch zu erledigen?«

Inzwischen waren wir im Wohntrakt. Es roch nach brutzelndem Schinken mit Eiern. Ricky kam um die Ecke. Er lächelte herzlich, als er mich sah. »He, Jack. Wie hast du geschlafen?«

»Ganz gut.«

»Ehrlich? Du siehst aber ein bisschen müde aus.«

»Ich hab schlecht geträumt«, sagte ich.

»Ach ja? Schlecht geträumt? Schade.«

»Kommt vor«, sagte ich.

Wir gingen alle in die Küche. Bobby machte das Frühstück. »Zum Schinken wird Rührei mit Schnittlauch und Käse gereicht«, sagte er fröhlich. »Was für Brot wollt ihr?«

Julia wollte Weizentoast, Ricky Muffins. Ich sagte, ich wolle gar nichts. Ich blickte Ricky an, registrierte erneut, wie kräftig er aussah. Unter seinem T-Shirt zeichneten sich die Muskeln deutlich ab. Er merkte, dass ich ihn anstarrte. »Stimmt was nicht?«

»Nein. Ich bewundere nur deinen Traumkörper.« Ich versuchte, mich locker zu geben, aber in Wahrheit fühlte ich mich in der Küche mit all den anderen um mich herum unglaublich unwohl. Ich musste dauernd an Charley denken und daran, wie schnell sie ihn angegriffen hatten. Ich war nicht hungrig, ich wollte nur raus hier. Aber ich wusste nicht, wie ich das anstellen sollte, ohne Verdacht zu erregen.

Julia ging zum Kühlschrank, öffnete ihn. Der Champagner stand noch drin. »Habt ihr jetzt Lust auf ein Gläschen?«

»Klar«, sagte Bobby. »Klingt toll, ein kleiner Muntermacher am Morgen .«

»Kommt nicht infrage«, sagte ich. »Julia, ich erwarte, dass du unsere Lage ernst nimmst. Wir sind noch lange nicht aus dem Schneider. Wir müssen die Armee verständigen, und wir können nicht telefonieren. Weiß Gott nicht der richtige Zeitpunkt für Champagner.«

Sie machte einen Schmollmund. »Ach, du bist ein alter Spielverderber .«

»Spielverderber, Quatsch. Du bist albern.«

»Oooch, Schatz, sei nicht böse, komm, küss mich, küss mich.« Sie spitzte wieder die Lippen und beugte sich über den Tisch.

Ich sah meine einzige Chance in einem Wutanfall. »Verdammt noch mal, Julia«, sagte ich mit lauter Stimme, »wir stecken doch nur deshalb in diesem Schlamassel, weil ihr die Sache von Anfang an nicht ernst genommen habt. Ihr hattet da draußen in der Wüste einen entwischten Schwarm, und das wie lange - zwei Wochen? Und statt ihn zu vernichten, habt ihr mit ihm rumgespielt. So lange, bis er außer Kontrolle geraten ist, mit dem Ergebnis, dass jetzt drei Menschen tot sind. Das ist weiß Gott kein Anlass zum Feiern, Julia. Es ist eine Katastrophe. Und ich trinke, solange ich hier bin, keinen Scheißchampagner, und auch sonst keiner.« Ich ging mit der Flasche zur Spüle und zerschlug sie. »Kapiert?«

Mit versteinertem Gesicht sagte sie: »Das war absolut überflüssig.«

Ich sah, dass Ricky mich nachdenklich anblickte. Als wäre er damit beschäftigt, eine Entscheidung zu treffen. Bobby drehte uns am Herd den Rücken zu, als ob ihm der Ehekrach peinlich wäre. Hatten sie Bobby auch schon? Ich meinte, eine dünne, schwarze Linie in seinem Nacken zu sehen, aber vielleicht täuschte ich mich, und ich traute mich auch nicht, darauf zu starren.

»Überflüssig?«, sagte ich voller Empörung. »Das waren meine Freunde. Und es waren deine Freunde, Ricky. Und deine, Bobby. Und ich möchte kein Wort mehr von dieser beschissenen Feierei hören!« Ich drehte mich um und stürmte aus der Küche. Als ich ging, kam Vince herein.

»Immer mit der Ruhe, Kumpel«, sagte Vince. »Sonst kriegen Sie noch 'nen Schlaganfall.«

»Leck mich doch«, sagte ich.

Vince hob die Augenbrauen. Ich fegte an ihm vorbei.

»Du machst hier keinem was vor, Jack!«, rief Julia mir nach. »Ich Weiß, worum es dir wirklich geht!« Mir drehte sich der Magen um. Aber ich ging weiter. »Ich hab dich durchschaut, Jack. Ich weiß, dass du zu ihr gehst.« »Und ob!«, sagte ich.

Dachte Julia das wirklich? Ich kaufte ihr das nicht ab. Sie wollte mich bloß täuschen, mich in Sicherheit wiegen, bis . was? Was hatten sie vor?

Sie waren zu viert. Und wir nur zu zweit - das heißt, wenn sie Mae nicht auch schon hatten.

Mae war nicht im Biologielabor. Ich schaute mich um und sah, dass eine Seitentür angelehnt war. Sie führte nach unten in den unterirdischen Bereich, wo die Fermentierkessel standen. Aus der Nähe waren sie viel größer, als ich gedacht hatte, riesige Stahlkugeln von fast zwei Metern Durchmesser. Drum herum ein Gewirr von Rohren und Ventilen und Temperaturreglern. Es war warm hier und sehr laut.

Mae stand an der dritten Einheit, machte sich auf einem Klemmbrett Notizen und schloss ein Ventil. Vor ihren Füßen stand ein Gestell mit Reagenzröhrchen. Ich stieg nach unten und stellte mich neben sie. Sie sah mich an, warf dann einen Blick zur Decke, wo eine Überwachungskamera montiert war. Sie ging auf die andere Seite des Tanks, und ich folgte ihr. Hier konnte uns die Kamera nicht erfassen.

Sie sagte: »Alle haben bei eingeschaltetem Licht geschlafen.«

Ich nickte. Ich wusste jetzt, was das bedeutete.

»Sie sind alle befallen«, sagte sie.

»Ja.«

»Und es bringt sie nicht um.«

»Nein«, stimmte ich ihr zu, »aber ich verstehe nicht, war-um.«

»Der Schwarm muss sich entwickelt haben«, sagte sie, »er toleriert sie jetzt.«

»So schnell?«

»Evolution kann schnell gehen«, bemerkte sie. »Du kennst die Ewald-Studien.«

Allerdings. Paul Ewald hatte über die Cholera geforscht. Er fand heraus, dass das Cholera-Bakterium sich rasch veränderte, um eine Epidemie in Gang zu halten. Dort, wo schlechte sanitäre Bedingungen herrschten, wo es vielleicht im Dorf nur einen Graben gab, war die Cholera extrem virulent. Sie streckte ihr Opfer nieder und tötete es rasch durch massiven Durchfall, der Millionen von Cholera-Bakterien enthielt, die in den Wassergraben gelangten und andere Dorfbewohner ansteckten. Auf diese Weise verbreitete sich die Cholera, und die Epidemie dauerte lange an.

Doch bei guten hygienischen Bedingungen konnte sich der aktive Stamm nicht vermehren. Das Opfer starb zwar rasch, aber sein Durchfall gelangte nicht ins Trinkwasser. Andere wurden nicht infiziert, und die Epidemie klang ab. Unter solchen Bedingungen brachte die Epidemie eine mildere Form hervor, bei der das Opfer den Erreger in sich trug, aber noch herumlaufen konnte, sodass die Bakterien sich über Hautkontakt, schmutzige Bettwäsche und so weiter verbreiteten.

Mae hielt es für möglich, dass das Gleiche mit den Schwärmen passiert war. Sie hatten sich zu einer milderen Form entwickelt, die von einer Person zur nächsten übertragen werden konnte.

»Das ist unheimlich«, sagte ich.

Sie nickte. »Aber was können wir machen?«

Und dann begann sie lautlos zu weinen, Tränen liefen ihr über die Wangen. Mae war immer so stark. Es entmutigte mich, sie jetzt so aufgelöst zu sehen. Sie schüttelte den Kopf. »Jack, wir sind machtlos. Sie sind zu viert. Sie sind stärker als wir. Sie werden uns umbringen, so wie sie Charley umgebracht haben.«

Sie drückte ihren Kopf an meine Schulter. Ich legte den Arm um sie. Aber ich konnte sie nicht trösten. Ich wusste, dass sie Recht hatte.

Es gab keinen Ausweg.

Winston Churchill sagte einmal sinngemäß, beschossen zu werden steigere die Konzentrationsfähigkeit ins Unermessliche. Mein Verstand arbeitete jetzt sehr schnell. Ich dachte, dass ich einen Fehler begangen hatte und dass ich ihn beheben musste. Obgleich es ein typisch menschlicher Fehler war.

Zwar ist der Begriff Evolution heutzutage groß in Mode -Evolutionsbiologie, Evolutionsmedizin, Evolutionsökologie, Evolutionspsychologie, Evolutionsökonomie, Evolutionsrechner -, doch überraschend wenige Leute denken in evolutionären Kategorien. Das ist sozusagen ein blinder Fleck auf der menschlichen Netzhaut. Wir sehen die Welt um uns herum als Schnappschuss, wo sie doch eigentlich ein Film ist und sich ständig verändert. Natürlich wissen wir, dass sie nicht gleich bleibt, aber wir tun so, als wäre das nicht der Fall. Wir leugnen die Realität der Veränderung. Daher sind wir stets verwundert, wenn sich etwas wandelt. Eltern sind überrascht, wenn ihre Kinder groß werden. Sie behandeln sie jedoch weiterhin, als wären sie jünger - ganz entgegen der Wirklichkeit.

Und mich hatte die Veränderung in der Evolution der Schwärme überrascht. Es gab keinen Grund, warum die Schwärme sich nicht gleichzeitig in zwei Richtungen entwik-keln sollten. Oder auch in drei oder vier oder zehn verschiedene Richtungen. Das hätte ich voraussehen müssen. Ich hätte es erwarten, damit rechnen müssen. Denn dann wäre ich besser auf die jetzige Situation vorbereitet gewesen.

Doch stattdessen hatte ich die Schwärme als ein einziges Problem behandelt - ein Problem da draußen, in der Wüste -, und ich hatte andere Möglichkeiten außer Acht gelassen.

Das nennt man Verleugnung der Realität, Jack.

Allmählich fragte ich mich, was ich noch alles verleugnete. Was hatte ich noch alles nicht wahrgenommen? Wo lag mein Fehler? Was hatte ich als Erstes übersehen? Wahrscheinlich die Tatsache, dass mein erster Kontakt mit einem Schwarm eine allergische Reaktion ausgelöst hatte - eine Reaktion, die mich fast umgebracht hätte. Mae hatte von einer Coliform-Reaktion gesprochen. Verursacht durch ein Toxin von den Bakterien im Schwarm. Das Toxin war offenbar das Resultat einer evolutionären Veränderung in den E. coli, aus denen der Schwarm bestand. Tja, genau genommen war allein schon das Vorhandensein von Phagen im Tank eine evolutionäre Veränderung, eine viröse Reaktion auf die Bakterien, die .

»Mae«, sagte ich. »Moment mal.«

»Was?«

Ich sagte: »Vielleicht gibt es ja doch eine Möglichkeit, sie aufzuhalten.«

Sie war skeptisch, das las ich in ihrem Gesicht. Doch sie wischte sich über die Augen und hörte zu.

Ich sagte: »Der Schwarm besteht aus Partikeln und Bakterien, richtig?«

»Ja .«

»Die Bakterien liefern die Rohzutaten für die Partikel, damit sie sich vermehren können. Ja? Okay. Also, wenn die Bakterien sterben, stirbt der Schwarm dann auch?«

»Wahrscheinlich.« Ihre Miene verfinsterte sich. »Denkst du an ein Antibiotikum? Willst du allen ein Antibiotikum geben? Um eine E. coli-Infektion zu stoppen, brauchst du einen Haufen Antibiotika, sie müssten mehrere Tage Tabletten einnehmen, und ich weiß nicht .«

»Nein. Ich denke nicht an Antibiotika.« Ich klopfte auf den Tank vor mir. »Ich denke da dran.«

»Phagen?«

»Wieso nicht?«

»Ich weiß nicht, ob das funktioniert«, sagte sie. Sie runzelte die Stirn. »Könnte klappen. Bloß ... wie willst du die Phagen in sie reinkriegen? Sie werden sie bestimmt nicht einfach trinken.«

»Über die Luft«, sagte ich. »Sie atmen sie ein, ohne es zu merken.«

»Aha. Und wie willst du das anstellen?«

»Ganz einfach. Schalt den Tank hier nicht ab. Füttere das System mit den Bakterien. Ich möchte, dass die Anlage Viren produziert - haufenweise Viren. Dann geben wir sie in die Luft.«

Mae seufzte. »Das funktioniert nicht, Jack«, sagte sie.

»Wieso nicht?«

»Weil die Anlage nicht haufenweise Viren produzieren wird.«

»Wieso nicht?«

»Wegen der Art und Weise, wie Viren sich vermehren. Du weißt doch - das Virus schwimmt herum, verbindet sich mit einer Zellwand und dringt in die Zelle ein. Dann übernimmt es die RNS der Zelle und wandelt sie um zur Erzeugung von noch mehr Viren. Die Zelle stellt ihre normalen Stoffwechselfunktionen ein und produziert nur noch Viren wie am Fließband. Es dauert nicht lange, und die Zelle ist voller Viren und platzt wie ein Ballon. Sämtliche Viren werden freigesetzt, sie schwimmen zu anderen Zellen, und das Ganze fängt von vorn an.«

»Ja . und?«

»Wenn du Phagen in die Produktionskette gibst, wird sich das Virus rasch vermehren - eine Weile. Doch es wird jede Menge Zellmembrane aufbrechen, und von diesen Membranen bleibt ein Brei aus Lipiden übrig, also aus Fetten. Der Brei wird die Zwischenfilter verstopfen. Nach ein bis zwei Stunden wird sich die Anlage überhitzen, und die Sicherheitssysteme schalten alles ab. Die ganze Produktion steht still. Keine Viren.«

»Lassen sich die Sicherheitssysteme nicht ausschalten?«

»Ja. Aber ich weiß nicht, wie.«

»Wer weiß das?«

»Nur Ricky.«

Ich schüttelte den Kopf. »Das nützt uns auch nichts. Meinst du nicht, du kannst das rauskriegen ...«

»Es gibt einen Code«, sagte sie. »Und den kennt nur Ricky.«

»Oh.«

»Überhaupt, Jack, es wäre zu gefährlich, die Sicherheitssysteme abzuschalten. Die Anlage arbeitet teilweise mit hohen Temperaturen und mit Hochspannung. Und in den Armen werden jede Menge Ketone und Methan produziert. Das Methan wird ständig überwacht und abgezapft, damit es eine bestimmte Konzentration nicht übersteigt. Aber wenn es nicht abgezapft wird und durch die Hochspannung Funken entstehen .« Sie brach ab, zuckte die Achseln.

»Was heißt das? Dass sie explodieren könnte?«

»Nein, Jack. Ich will damit sagen, dass sie explodieren wird. Und zwar wenige Minuten, nachdem die Sicherheitssysteme abgeschaltet wurden. Sechs, höchstens acht Minuten danach. Und wenn das passiert, wärst du bestimmt nicht gerne dabei. Also kannst du von der Anlage nicht haufenweise Viren produzieren lassen. Sicherheitssysteme an oder aus, es geht einfach nicht.«?

Schweigen.

Ratlosigkeit.

Ich schaute mich im Raum um. Ich erblickte den Stahltank, der sich über meinem Kopf wölbte, und das Gestell mit Rea-genzröhrchen zu Maes Füßen. Ich blickte in die Ecke, wo ich einen Mopp, einen Eimer und einen Plastikkanister Wasser sah. Und ich sah Mae an, die noch immer den Tränen nah war, sich aber irgendwie zusammenriss.

Und ich hatte einen Plan.

»Schön. Tu's trotzdem. Gib das Virus in die Anlage.«

»Was soll das bringen?«

»Tu's einfach.«

»Jack«, sagte sie. »Warum machen wir das hier? Ich fürchte, sie wissen, dass wir es wissen. Wir können sie nicht täuschen. Sie sind zu clever. Wenn wir das machen, ist denen doch sofort klar, dass wir es waren.«

»Ja«, sagte ich. »Sehr wahrscheinlich.«

»Und es funktioniert ohnehin nicht. Die Anlage produziert keine Viren. Also wozu, Jack? Was soll das bringen?«

Mae hatte sich die ganze Zeit hindurch als verlässliche Freundin erwiesen, und jetzt hatte ich einen Plan, und ich würde ihn ihr nicht verraten. Das gefiel mir zwar nicht, aber ich musste die anderen irgendwie ablenken. Ich musste sie an der Nase herumführen. Und Mae sollte mir dabei helfen - was bedeutete, dass sie an einen anderen Plan glauben musste.

Ich sagte: »Mae, wir müssen sie ablenken, sie reinlegen. Ich möchte, dass du das Virus in die Produktionsanlage gibst. Sie sollen sich darauf konzentrieren. Sie sollen sich deswegen Sorgen machen. In der Zwischenzeit gehe ich mit dem Virus in den Wartungsbereich unter dem Dach und kippe es in den Sprinklertank.«

»Und dann löst du die Sprinkleranlage aus?«

»Ja.«

Sie nickte. »Und sie werden mit Viren durchtränkt. Alle in diesen Gebäuden. Bis auf die Haut durchtränkt.«

»Genau.«

Sie sagte: »Es könnte vielleicht sogar klappen, Jack.«

»Was Besseres fällt mir nicht ein«, sagte ich. »Also, öffne eins von den Ventilen, und dann zapfen wir ein paar Reagenz-röhrchen Viren ab. Und dann füllst du sie in den Plastikkanister da drüben.«

Sie zögerte. »Das Ventil ist auf der anderen Seite des Tanks. Die Überwachungskamera wird uns sehen.«

»Nicht schlimm«, sagte ich. »Lässt sich nun mal nicht ändern. Du musst nur ein bisschen Zeit für mich rausschlagen.« »Und wie soll ich das machen?«

Ich sagte es ihr. Sie verzog das Gesicht. »Du machst Witze! Das machen die nie!« »Natürlich nicht. Ich brauche bloß ein bisschen Zeit.«

Wir gingen um den Tank herum. Sie füllte die Reagenzgläschen. Die Flüssigkeit, die herauskam, war eine dicke, braune Brühe. Sie roch nach Fäkalien. Sie sah auch so aus. Mae sagte zu mir: »Ist das wirklich dein Ernst?« »Es muss sein«, sagte ich. »Wir haben keine andere Wahl.« »Du zuerst.«

Ich nahm das Reagenzröhrchen, holte tief Luft und schluckte den ganzen Inhalt. Es war widerlich. Mir hob sich der Magen. Ich dachte, ich müsse mich übergeben, aber es ging dann doch ohne. Ich holte noch einmal Luft, trank etwas Wasser aus dem Kanister und blickte Mae an. »Ekelhaft, was?«, sagte sie. »Ekelhaft.«

Sie nahm ein Röhrchen, hielt sich die Nase zu und trank. Ich wartete, dass ihr Hustenanfall sich wieder legte. Es gelang ihr, sich nicht zu erbrechen. Ich gab ihr den Kanister, sie trank und goss den Rest auf den Boden. Dann füllte sie ihn mit der braunen Brühe.

Als Letztes drehte sie den Griff eines großes Durchflussventils auf. »So«, sagte sie. »Jetzt läuft es in die Anlage.«

»Gut«, sagte ich. Ich nahm zwei Reagenzgläschen und steckte sie mir in die Hemdtasche. Ich nahm den Plastikkanister. Auf dem Etikett stand »Arrowhead Pure Water«. »Bis später.« Und ich lief los. Als ich den Flur entlangeilte, dachte ich, dass ich eine Chan-ce von eins zu hundert hatte. Vielleicht nur eine von eins zu tausend.

Aber eine Chance hatte ich.

Später sah ich mir die ganze Szene auf der Überwachungskamera an, daher wusste ich, was mit Mae passierte. Sie ging in die Küche, ihr Gestell mit braunen Reagenzröhrchen in der Hand. Die anderen waren alle da und aßen. Julia warf ihr einen frostigen Blick zu. Vince achtete nicht auf sie. Ricky sagte: »Was hast du denn da, Mae?«

»Phagen«, erwiderte sie.

»Wozu?«

Jetzt blickte Julia auf. Mae sagte: »Die hab ich aus dem Fermentationstank.«

»Igitt, deshalb stinkt das so.«

»Jack hat gerade eins ausgetrunken. Ich musste auch eins trinken.«

Ricky schnaubte: »Wozu denn das? Himmel, und du hast nicht gekotzt?«

»Beinahe. Jack will, dass ihr alle auch eins trinkt.«

Bobby lachte. »Ach ja? Warum das?«

»Um sicherzustellen, dass keiner von euch infiziert ist.«

Ricky runzelte die Stirn. »Infiziert? Was meinst du mit infiziert?«

»Jack sagt, dass Charley den Schwarm in seinem Körper hatte, ihr daher möglicherweise auch. Oder der eine oder andere von euch. Wenn ihr das Virus hier trinkt, tötet es die Bakterien in euch und damit auch den Schwarm.«

Bobby sagte: »Ist das dein Ernst? Wir sollen die Brühe da trinken? Nie im Leben, Mae!«

Sie wandte sich an Vince.

»Riecht wie Scheiße«, sagte Vince. »Jemand anders soll anfangen.«

Mae sagte: »Ricky? Willst du anfangen?«

Ricky schüttelte den Kopf. »Ich trink das Zeug nicht. Wieso sollte ich?«

»Na, erstens, damit du beruhigt sein kannst, dass du nicht infiziert bist. Und zweitens, damit wir das auch sein können.«

»Willst du damit sagen, das ist ein Test?«

Mae zuckte die Achseln. »Jack sieht das so.«

Julia kniff die Augen zusammen. Sie sagte zu Mae: »Wo ist Jack?«

»Keine Ahnung. Zuletzt hab ich ihn an den Fermentierkesseln gesehen. Ich weiß nicht, wo er jetzt ist.«

»Doch, du weißt es«, sagte Julia kalt. »Du weißt genau, wo er ist.«

»Weiß ich nicht. Er hat es mir nicht erzählt.«

»Und ob er es dir erzählt hat. Er erzählt dir doch sonst alles«, sagte Julia. »Ihr habt doch dieses kleine Spielchen hier geplant, nicht? Ihr habt doch nicht ernsthaft geglaubt, dass wir das Zeug da trinken. Wo ist Jack, Mae?«

»Ich sag doch, ich weiß es nicht.«

Julia sagte zu Bobby: »Such ihn auf den Monitoren. Finde ihn.« Sie kam um den Tisch herum. »Jetzt hör mal gut zu, Mae.« Ihre Stimme war ruhig, aber durch und durch bedrohlich. »Ich will eine Antwort von dir. Und ich will die Wahrheit hören.«

Mae wich zurück. Ricky und Vince kamen von den Seiten auf sie zu. Dann stand Mae mit dem Rücken zur Wand.

Julia trat langsam auf sie zu. »Raus mit der Sprache, Mae«, sagte sie. »Es ist sehr viel besser für dich, wenn du kooperierst.«

Von der anderen Seite des Raumes sagte Bobby: »Ich hab ihn. Er geht durch die Fertigungshalle. Er hat einen Kanister dabei, mit dieser braunen Brühe drin, wies aussieht.«

»Jetzt red schon, Mae«, sagte Julia und beugte sich dicht zu Mae vor. Sie war ihr so nah, dass ihrer beider Lippen sich fast berührten. Mae presste Augen und Mund fest zu. Ihr Körper begann vor Furcht zu zittern. Julia streichelte ihr übers Haar. »Keine Angst. Es gibt nichts, wovor du Angst haben musst. Sag mir einfach, was er mit dem Kanister vorhat«, sagte Julia.

Mae schluchzte hysterisch. »Ich hab gewusst, dass es nicht funktioniert. Ich hab ihm gesagt, dass ihr dahinter kommt.«

»Aber ja«, sagte Julia leise. »Natürlich mussten wir dahinter kommen. Und jetzt sag mir, was er vorhat.«

»In dem Kanister ist das Virus«, sagte Mae, »und er will es in den Sprinklertank schütten.«

»Will er das?«, sagte Julia. »Wirklich sehr schlau von ihm. Danke, Kleines.«

Und sie küsste Mae auf den Mund. Mae wand sich, aber sie hatte die Wand im Rücken, und Julia hielt ihr den Kopf fest. Als Julia schließlich zurücktrat, sagte sie: »Bleib ganz ruhig. Denk dran, er wird dir nichts tun, wenn du dich nicht gegen ihn wehrst.« Und sie ging aus dem Raum.

7. Tag, 6.12 Uhr

Alles geschah schneller, als ich gedacht hatte. Ich hörte sie den Korridor in meine Richtung laufen. Rasch versteckte ich den Kanister, lief dann zurück, weiter durch die Werkshalle. Plötzlich waren sie da. Ich rannte los. Vince holte mich ein, sprang mich an. Ich schlug hart auf den Boden auf. Ricky warf sich auf mich, mir blieb die Luft weg. Dann trat Vince mir in die Rippen, und zusammen zogen sie mich auf die Beine, vor Julia.

»Hi, Jack«, sagte sie lächelnd. »Wie geht's?«

»Es ging schon mal besser.«

»Wir hatten eine nette Unterhaltung mit Mae«, sagte Julia. »Also reden wir nicht lange um den heißen Brei.« Sie suchte den Boden in der Nähe ab. »Wo ist der Kanister?«

»Was für ein Kanister?«

»Jack.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Das bringt doch nichts. Wo ist der Kanister mit den Phagen, die du in die Sprinkleranlage füllen wolltest?«

»Ich hab keinen Kanister.«

Sie trat ganz dicht an mich heran. Ich konnte ihren Atem im Gesicht spüren. »Jack ... ich kenne diesen Ausdruck in deinem Gesicht. Du hast einen Plan, nicht? Jetzt sag mir endlich, wo der Kanister ist.«

»Was für ein Kanister?«

Ihre Lippen streiften meine. Ich stand einfach da, reglos wie eine Statue. »Jack, Schatz«, flüsterte sie, »du wirst doch nicht so dumm sein, mit dem Feuer zu spielen. Ich will den Kanister.«

Ich stand nur da.

»Jack ... nur ein Kuss ...« Sie war nah, verführerisch.

Ricky sagte: »Lass gut sein, Julia. Er hat keine Angst vor dir.

Er hat das Virus getrunken, und er glaubt, er ist dadurch geschützt.«

»Ist er das denn?«, sagte Julia und trat zurück.

»Vielleicht«, sagte Ricky, »aber ich wette, er hat Angst zu sterben.«

Und dann packten er und Vince mich und schleppten mich durch die Halle. Sie brachten mich zu dem Raum, in dem der Hochfeldmagnet stand. Ich fing an, mich zu wehren.

»Du hast es erfasst«, sagte Ricky. »Du weißt, was jetzt kommt, nicht?«

Das war nicht mein Plan gewesen. Damit hatte ich nicht gerechnet; ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wehrte mich mit aller Kraft, trat und wand mich. Aber sie waren beide ungemein stark. Sie schleppten mich einfach weiter. Julia öffnete die dicke Stahltür zum Magnetraum. Drinnen sah ich die kreisrunde Trommel des Magneten, fast zwei Meter im Durchmesser.

Sie stießen mich grob hinein. Ich fiel der Länge nach hin. Mit dem Kopf schlug ich gegen die Stahlummantelung. Ich hörte, wie die Tür zufiel und verriegelt wurde.

Ich stand auf.

Ich hörte das Dröhnen der anspringenden Kühlpumpen. Die Gegensprechanlage klickte. Rickys Stimme erklang. »Hast du dich schon mal gefragt, warum die Wände aus Stahl sind, Jack? Pulsfeldmagneten sind gefährlich. Wenn sie ständig laufen, explodieren sie. Das Feld, das sie erzeugen, reißt sie in Stücke. Wir haben eine Minute Ladezeit. Du hast also eine Minute zum Nachdenken.«

Ich war schon einmal in diesem Raum gewesen, als Ricky mir alles gezeigt hatte. Ich erinnerte mich, dass es einen Notknopf in Kniehöhe gab. Ich drückte ihn mit dem Knie.

»Funktioniert nicht, Jack«, sagte Ricky lakonisch. »Ich hab die Schaltung umgekehrt. Jetzt wird der Magnet eingeschaltet statt ausgeschaltet. Dachte, es interessiert dich vielleicht.«

Das Dröhnen wurde lauter. Der Raum fing leicht an zu vibrieren. Die Luft kühlte sich rasch ab. Gleich darauf konnte ich meinen Atem sehen.

»Tut mir Leid, wenn du es ungemütlich hast, aber das ist nur vorübergehend«, sagte Ricky. »Sobald die Pulse richtig auf Touren kommen, heizt sich der Raum schnell auf. Äh, Moment. Siebenundvierzig Sekunden.«

Das Geräusch war ein rasches Klonk-Klonk-Klonk, wie ein gedämpfter Presslufthammer. Es war laut und wurde lauter. Ich konnte Ricky über die Sprechanlage kaum noch hören.

»Nun hör mal, Jack«, sagte er. »Du hast eine Familie. Eine Familie, die dich braucht. Also denk gründlich über deine Möglichkeiten nach.«

Ich sagte: »Lass mich mit Julia sprechen.«

»Nein, Jack. Sie will jetzt nicht mit dir sprechen. Sie ist sehr enttäuscht von dir, Jack.«

»Lass mich mit ihr sprechen.«

»Jack, hörst du nicht, was ich sage? Sie will nicht. Nicht, solange du ihr nicht sagst, wo das Virus ist.«

Klonk-klonk-klonk. Der Raum wurde wärmer. Ich konnte das Gurgeln des Kühlmittels hören, das durch die Leitungen floss. Ich drückte den Notknopf mit dem Knie.

»Wie oft soll ich es dir noch sagen, Jack. Der Knopf schaltet den Magneten bloß an. Hast du Probleme, mich zu verstehen?«

»Ja«, brüllte ich. »Die hab ich.«

»So ein Jammer«, sagte Ricky. »Tut mir Leid, das zu hören.«

Jedenfalls glaubte ich, dass er das sagte. Das Klonk-klonk-klonk schien inzwischen den ganzen Raum zu füllen, brachte selbst die Luft zum Vibrieren. Sie klangen wie ein gewaltiger Kernspintomograf, diese riesigen Pumpen. Der Kopf tat mir weh. Ich betrachtete den Magneten, die dicken Schrauben, die die Platten zusammenhielten. Die Schrauben würden bald zu Geschossen werden.

»Das hier ist kein Spiel, Jack«, sagte Ricky. »Wir würden dich nur sehr ungern verlieren. Zwanzig Sekunden.«

Die Ladezeit war die Zeit zum Aufladen der Magnetfeldspeicher, damit Millisekunden-Strompulse abgegeben werden konnten. Ich fragte mich, wie lange es nach dem Laden dauern würde, bis die Pulse den Magneten in Stücke rissen. Wahrscheinlich höchstens ein paar Sekunden. Mir lief also die Zeit davon. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Alles war fürchterlich schief gelaufen. Und das Schlimmste war, dass ich den einzigen Vorteil verspielt hatte, den ich überhaupt je gehabt hatte, denn jetzt waren sie sich bewusst, wie wichtig das Virus war. Zuvor hatten sie darin keine Gefahr gesehen. Aber jetzt wussten sie Bescheid und verlangten, dass ich das Virus aushändigte. Bald würden sie auf die Idee kommen, den Fermentationstank zu zerstören. Sie würden das Virus sehr gründlich vernichten, da war ich mir sicher.

Und ich konnte nichts dagegen unternehmen. Jetzt nicht mehr.

Ich fragte mich, wie es Mae ging und ob man ihr was getan hatte. War sie noch am Leben? Ich fühlte mich distanziert, teilnahmslos. Ich hockte hier in einem übergroßen Kernspin-tomografen, mehr nicht. Das laute, beängstigende Geräusch, so musste es Amanda ergangen sein, als sie darin lag . Meine Gedanken schweiften ab, gleichgültig.

»Zehn Sekunden«, sagte Ricky. »Mensch, Jack. Spiel nicht den Helden. Das ist nicht dein Stil. Sag uns, wo der Kanister ist. Zehn Sekunden. Fünf. Jack, los ...«

Das Klonk-klonk-klonk hörte auf, und es ertönte ein Wumm! und das Kreischen von berstendem Metall. Der Magnet war angesprungen, für ein paar Millisekunden.

»Erster Impuls«, sagte Ricky. »Sei kein Idiot, Jack.«

Wieder ein Wumm! Wumm! Wumm! Die Pulse kamen jetzt immer schneller. Ich sah, wie sich die Ummantelung an der Kühlung mit jedem Puls einbeulte. Sie kamen zu schnell.

Wumm! Wumm!

Ich hielt es nicht mehr aus. Ich rief: »Okay! Ricky! Ich sag's euch!«

Wumm! »Schieß los, Jack!« Wumm! »Ich warte.«

»Nein. Erst abschalten. Und ich sage es nur Julia.«

Wumm! Wumm! »Sehr unvernünftig von dir, Jack. Du bist wirklich nicht in der Position, Forderungen zu stellen.« Wumm!

»Wollt ihr das Virus, oder wollt ihr euch lieber überraschen lassen?«

Wumm! Wumm! Wumm!

Und dann auf einmal Stille. Nur das leise Zischen der Kühlflüssigkeit, die durch die Ummantelung floss. Der Magnet war zu heiß, um ihn anzufassen. Aber wenigstens hatte das Geräusch des Kernspintomografen aufgehört.

Der Kernspintomograf ...

Ich stand im Raum und wartete, dass Julia hereinkam. Und dann überlegte ich es mir anders und setzte mich hin.

Ich hörte, wie die Tür entriegelt wurde. Julia trat ein.

»Jack. Du bist doch nicht verletzt, oder?«

»Nein«, sagte ich. »Bloß mit den Nerven am Ende.«

»Ich versteh nicht, warum du dir das selbst angetan hast«, sagte sie. »Es war völlig unnötig. Aber weißt du, was? Ich habe eine gute Nachricht. Der Hubschrauber ist gerade gekommen.«

»Ach ja?«

»Ja, er ist heute früher dran als sonst. Denk doch mal nach, wäre es nicht schön, jetzt im Hubschrauber zu sitzen, auf dem Weg nach Hause? Zurück zu deinen Kindern? Wäre das nicht toll?«

Ich saß da, mit dem Rücken gegen die Wand, und blickte zu ihr hoch. »Soll das heißen, ich kann gehen?«

»Natürlich, Jack. Warum solltest du länger hier bleiben? Gib mir einfach den Virus-Kanister und ab nach Hause.«

Ich glaubte ihr keine Sekunde. Ich sah die freundliche Julia, die verführerische Julia. Aber ich glaubte ihr nicht. »Wo ist Mae?«

»Sie ruht sich aus.«

»Du hast ihr was angetan.«

»Nein. Nein, nein, nein. Wieso sollte ich?« Sie schüttelte den Kopf. »Du willst es einfach nicht verstehen, was? Ich will dir nichts tun, Jack. Dir nicht, Mae nicht, niemandem. Vor allem dir will ich nichts tun.«

»Erzähl das mal Ricky.«

»Jack. Bitte. Lassen wir die Gefühle mal einen Moment aus dem Spiel, und seien wir logisch. Du hast dich selbst hier reingeritten. Warum kannst du die neue Situation nicht akzeptieren?« Sie streckte mir die Hand entgegen. Ich ergriff sie, und Julia zog mich hoch. Sie war stark. Stärker, als ich sie je erlebt hatte. »Schließlich«, sagte sie, »bist du doch ein integraler Bestandteil von all dem hier. Du hast für uns den wilden Typ vernichtet, Jack.«

»Damit der gutartige Typ blühen und gedeihen kann .«

»Genau, Jack. Damit der gutartige blühen und gedeihen kann. Und eine neue Synergie mit den Menschen schaffen kann.«

»Die Synergie, die du jetzt hast, zum Beispiel.«

»Stimmt, Jack.« Sie lächelte. Es war ein schauerliches Lächeln.

»Wie nennt man das zwischen euch? Koexistenz? Koevoluti-on?«

»Symbiose.« Sie lächelte noch immer.

»Julia, das ist ausgemachter Schwachsinn«, sagte ich. »Es ist eine Krankheit.«

»Klar, dass du das sagst. Weil du es nicht besser weißt, noch nicht. Du hast es nicht erlebt.« Sie trat auf mich zu und umarmte mich. Ich ließ sie gewähren. »Du hast ja keine Ahnung, was dich alles erwartet.«

»Den Zustand kenn ich«, sagte ich.

»Sei doch mal zur Abwechslung nicht so stur. Lass dich einfach treiben. Du siehst müde aus, Jack.«

Ich seufzte. »Ich bin müde«, sagte ich. Und das stimmte. Ich fühlte mich ausgesprochen schwach in ihren Armen. Ich war sicher, dass sie das spürte.

»Dann entspann dich doch einfach. Umarm mich, Jack.«

»Ich weiß nicht. Vielleicht hast du Recht.«

»Ja, bestimmt.« Sie lächelte wieder, fuhr mir mit der Hand durchs Haar. »Ach, Jack ... ich hab dich wirklich vermisst.«

»Ich dich auch«, sagte ich. »Ich hab dich auch vermisst.« Ich umarmte sie, zog sie näher an mich, hielt sie ganz fest. Unsere Gesichter waren einander nah. Sie sah wunderschön aus, ihre Lippen waren leicht geöffnet, die Augen blickten zu mir hoch, sanft, einladend. Ich spürte, wie sie sich entspannte. Dann sagte ich: »Eins musst du mir verraten, Julia. Das geht mir schon die ganze Zeit durch den Kopf.«

»Gern, Jack.«

»Wieso hast du dich im Krankenhaus geweigert, ein Kernspintomogramm machen zu lassen?«

Sie zog die Stirn kraus, lehnte den Oberkörper zurück und sah mich an. »Was? Was meinst du?«

»Bist du wie Amanda?«

»Amanda?«

»Unsere kleine Tochter . erinnerst du dich? Die Kernspin-tomografie hat sie geheilt. Von einer Sekunde auf die andere.«

»Wovon redest du?«

»Julia, hat der Schwarm vielleicht Probleme mit Magnetfeldern?«

Ihre Augen wurden groß. Sie versuchte, sich aus meiner Umarmung zu befreien. »Lass mich los! Ricky! Ricky!«

»Tut mir Leid, Schatz«, sagte ich. Ich rammte mein Knie gegen den Knopf. Und es machte laut Wumm!, als der Magnet pulste.

Julia schrie.

Ihr Mund war offen, als sie schrie, ein steter, kontinuierlicher Ton, das Gesicht vor Anspannung ganz starr. Ich hielt sie mit aller Kraft fest. Die Haut ihres Gesichts fing an zu beben, vibrierte rasch. Und dann schienen ihre Gesichtszüge größer zu werden, schwollen an, während sie weiter schrie. Ich dachte, dass ihre Augen verängstigt blickten. Das Anschwellen hielt an und zerfiel in Rinnsale und Bäche.

Und dann, urplötzlich, löste Julia sich vor meinen Augen förmlich auf. Die Haut ihres angeschwollenen Gesichts und Körpers flog in Partikelströmen von ihr ab, wie Sand, der von einer Düne geweht wird. Die Partikel schossen im Bogen des Magnetfeldes zu den Wänden des Raumes hin.

Ich spürte, wie Julias Körper in meinen Armen leichter wurde. Noch immer rauschten die Partikel mit einem zischenden Geräusch in alle Ecken des Raumes. Und als es vorbei war, hielt ich nur noch eine blasse und ausgezehrte Gestalt in den Armen. Julias Augen waren tief in die Höhlen gesunken. Ihre Lippen waren dünn und rissig, ihre Haut fast durchscheinend, ihr Haar farblos, spröde. Das Schlüsselbein trat an ihrem knochigen Hals hervor. Sie sah aus wie eine im Sterben liegende Krebskranke. Ihr Mund bewegte sich. Ich hörte schwache Worte, kaum mehr als ein Hauchen. Ich beugte mich vor, hielt mein Ohr dicht an ihren Mund.

»Jack«, flüsterte sie. »Er frisst mich auf.«

Ich sagte: »Ich weiß.«

Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. »Du musst was tun.«

»Ich weiß.«

»Jack ... die Kinder.«

»Ja.«

Sie flüsterte: »Ich ... hab sie ... geküsst ...«

Ich sagte nichts. Ich schloss bloß die Augen.

»Jack . Rette meine Kleinen . Jack .«

»Ja«, sagte ich.

Ich blickte zu den Wänden auf und sah überall um mich her-um Julias Gesicht und Körper, überdehnt und dem Raum angepasst. Die Partikel behielten Julias Äußeres bei, waren aber jetzt flach an die Wände gepresst. Und sie bewegten sich nach wie vor, im Einklang mit den Bewegungen ihrer Lippen, dem Blinzeln ihrer Augen. Während ich hinsah, trieben sie plötzlich zu ihr zurück, wie ein Nebel in der Farbe von Julias Haut.

Von draußen hörte ich Ricky rufen: »Julia! Julia!« Er trat zweimal gegen die Tür, aber er kam nicht herein. Ich wusste, er würde sich nicht trauen. Ich hatte eine ganze Minute gewartet, sodass die Kondensatoren geladen waren. Er konnte mich jetzt nicht daran hindern, den Magnet wieder einzuschalten. Ich konnte es jederzeit tun - zumindest bis die Kondensatoren entladen waren. Ich wusste nicht, wie lange das dauern würde.

»Jack .«

Ich blickte sie an. Ihre Augen waren traurig, flehend.

»Jack«, sagte sie. »Ich wusste nicht ...«

»Schon gut«, sagte ich. Die Partikel kamen zurück, setzten ihr Gesicht vor meinen Augen erneut zusammen. Julia nahm wieder eine feste Form an und wurde schön.

Ich rammte das Knie gegen den Knopf.

Wumm!

Die Partikel schossen weg, flogen wieder an die Wände, doch diesmal nicht so schnell. Und ich hatte erneut die ausgezehrte Julia in den Armen, ihre tief liegenden Augen flehten mich an.

Ich griff in meine Tasche und zog eins von den Phagen-Röhrchen hervor. »Trink das hier«, sagte ich.

»Nein ... nein ...« Sie war aufgewühlt. »Zu spät ... für ...«

»Trink«, bat ich. Ich hielt ihr das Röhrchen an die Lippen. »Komm, Schatz. Bitte versuch es.«

»Nein . bitte . Nicht wichtig .«

Ricky schrie: »Julia! Julia!« Er hämmerte gegen die Tür. »Julia, ist alles in Ordnung?«

Die Leichenaugen drehten sich in Richtung Tür. Ihr Mund bewegte sich. Ihre Skelettfinger zogen an meinem Hemd, kratzten am Stoff. Sie wollte mir etwas sagen. Ich drehte den Kopf, damit ich sie hören konnte.

Sie atmete flach, schwach. Ich konnte die Worte nicht verstehen. Und dann plötzlich waren sie ganz deutlich.

Sie sagte: »Sie müssen dich jetzt töten.«

»Ich weiß«, sagte ich.

»Lass das nicht zu . Kinder .«

»Das werde ich nicht.«

Ihre knochige Hand berührte meine Wange. Sie flüsterte. »Ich habe dich immer geliebt, Jack. Ich würde dir niemals wehtun.«

»Ich weiß, Julia. Ich weiß.«

Die Partikel lösten sich erneut von den Wänden. Jetzt schienen sie zusammenzugleiten, um dann zu Julias Gesicht und Körper zurückzukehren. Wieder drückte ich den Notknopf, wollte noch mehr Zeit mit ihr haben, doch es kam nur ein träges, mechanisches Klonk.

Die Kondensatoren waren leer.

Und mit einem Wuusch kehrten alle Partikel zurück, und Julia war wieder so kräftig und schön und stark wie zuvor, und sie stieß mich mit einem verächtlichen Blick von sich weg und sagte mit lauter, fester Stimme: »Tut mir Leid, dass du das sehen musstest, Jack.«

»Mir auch«, sagte ich.

»Aber das ist nun mal nicht zu ändern. Wir verschwenden hier unsere Zeit. Ich will den Virus-Kanister, Jack. Und zwar auf der Stelle.«

In gewisser Weise machte es mir die Sache einfacher. Denn jetzt wusste ich, dass ich es nicht mehr mit Julia zu tun hatte. Ich musste mir keine Gedanken mehr darum machen, was ihr zustoßen könnte. Ich musste mir nur noch um Mae Gedanken machen - vorausgesetzt, sie lebte noch - und um mich.

Und vorausgesetzt, dass es mir gelang, die nächsten paar Minuten zu überleben.

7. Tag, 7.18 Uhr

»Okay«, sagte ich zu ihr. »Okay. Ich hol dir das Virus.«

Sie runzelte die Stirn. »Du schaust wieder so ...«

»Nein«, sagte ich. »Ich kann nicht mehr. Ich bring dich hin.«

»Schön. Wir fangen mit den Röhrchen in deiner Tasche an.«

»Was, die hier?«, sagte ich. Ich griff in meine Tasche, um sie herauszuholen, als ich durch die Tür ging. Draußen warteten Ricky und Vince auf mich.

»Wirklich sehr komisch«, sagte Ricky. »Du hättest sie beinahe umgebracht. Du hättest beinahe deine eigene Frau umgebracht.«

»Was sagt man dazu«, sagte ich.

Ich tastete noch immer in meiner Tasche herum, als hätten die Röhrchen sich im Stoff verfangen. Sie wussten nicht, was ich da tat, und packten mich erneut, Vince auf der einen Seite und Ricky auf der anderen.

»Jungs«, sagte ich, »das geht so nicht, wenn ihr mich .«

»Lasst ihn los«, sagte Julia, die hinter mir herkam.

»Von wegen«, sagte Vince, »der will uns reinlegen.«

Ich mühte mich noch immer ab, die Röhrchen aus der Tasche zu ziehen. Schließlich hatte ich sie in der Hand. Bei unserem Gerangel ließ ich eins fallen. Es zerplatzte auf dem Betonboden, und braune Brühe spritzte hoch.

»Gott!« Sie sprangen alle drei zurück, ließen mich los. Sie starrten zu Boden und blickten auf ihre Füße, um sicherzugehen, dass sie nichts abbekommen hatten.

Und in diesem Augenblick rannte ich los.

Ich zog den Kanister aus seinem Versteck und lief weiter. Ich musste die ganze Produktionshalle durchqueren, um zu dem Aufzug zu gelangen, der mich bis unter die Decke bringen würde, wo sich sämtliche Versorgungssysteme befanden. Wo die Entlüftung und die elektrischen Verteilerkästen waren -und der Tank der Sprinkleranlage. Wenn ich den Aufzug erreichte und zwei, zweieinhalb Meter in der Luft wäre, konnten sie mir nichts mehr anhaben.

Wenn ich das schaffte, würde mein Plan funktionieren.

Der Aufzug war gut fünfzig Meter entfernt.

Ich rannte, so schnell ich konnte, sprang über die tiefsten Arme des Kraken, duckte mich unter den brusthohen Teilen hindurch. Ich sah nach hinten und konnte sie durch das Gewirr von Armen und Maschinen nicht sehen. Aber ich hörte die drei rufen, und ich hörte sie rennen. Ich hörte Julia: »Er will zu den Sprinklern!« Weiter vorn sah ich die offene Kabine des Aufzugs.

Ich würde es schaffen, bestimmt.

Im selben Moment stolperte ich über einen der Arme und schlug der Länge nach hin. Der Kanister rutschte über den Boden, kam an einem Stützbalken zum Stehen. Ich rappelte mich rasch wieder auf und griff nach ihm. Ich wusste, dass sie mir dicht auf den Fersen waren. Ich traute mich nicht, nach hinten zu schauen.

Ich rannte auf den Aufzug zu, zog an einem letzten Rohr den Kopf ein, doch als ich nach vorn schaute, war Vince bereits da. Er musste eine Abkürzung durch die Krakenarme gekannt haben; er war mir zuvorgekommen. Jetzt stand er in der offenen Kabine und grinste. Ich blickte nach hinten und sah, dass auch Ricky mich bald eingeholt haben würde.

Julia rief: »Gib auf, Jack! Es ist vorbei.«

Und es sah wirklich ganz danach aus. Ich konnte nicht an Vince vorbei. Und ich konnte Ricky nicht mehr davonlaufen, er war schon viel zu nahe. Ich sprang über ein Rohr, schob mich hinter einen stehenden Stromkasten und ging in die Hocke. Als Ricky über das Rohr sprang, rammte ich ihm meinen Ellbogen zwischen die Beine. Er brüllte auf und fiel zu Boden, wälzte sich vor Schmerzen. Ich ging zu ihm und trat ihm, so fest ich konnte, gegen den Kopf. Das war für Charley.

Ich rannte weiter.

Am Aufzug wartete Vince schon, halb geduckt, die Fäuste geballt. Er freute sich auf einen Kampf. Ich lief schnurstracks auf ihn zu, und er grinste erwartungsfroh.

Und im letzten Moment schwenkte ich nach links ab. Ich sprang.

Und kletterte die Leiter an der Wand hoch.

Julia schrie: »Haltet ihn! Haltet ihn!«

Das Klettern war schwierig, weil ich den Kanister an einem Daumen hängen hatte und er mir schmerzhaft auf den rechten Handrücken schlug. Ich konzentrierte mich auf den Schmerz. Ich hatte Höhenangst, und ich wollte nicht nach unten schauen. Und daher konnte ich nicht sehen, was an meinen Beinen zog, mich nach unten zerrte. Ich trat, aber was immer es war, es ließ mich nicht los.

Schließlich blickte ich hin. Ich war gut drei Meter über dem Boden, und zwei Sprossen unter mir hatte Ricky seinen freien Arm um meine Beine geschlungen, mit der Hand meinen Knöchel gepackt. Er zerrte an meinen Füßen und zog sie von der Sprosse. Ich rutschte ein Stück und spürte dann einen brennenden Schmerz in den Händen. Aber ich hielt mich fest.

Ricky lächelte grimmig. Ich trat mit den Beinen nach hinten, versuchte, sein Gesicht zu treffen, aber vergeblich, er hielt sie fest umklammert an seiner Brust. Er war unglaublich stark. Ich versuchte es immer wieder, bis ich auf den Gedanken kam, ein Bein nach oben zu reißen, um es freizubekommen. Das klappte, und ich trat ihm mit voller Kraft auf die Hand, mit der er sich an der Sprosse festhielt. Er schrie auf und ließ meine Beine los, um sich mit der anderen Hand an der Leiter festzuhalten. Ich trat noch einmal, ließ das Bein zurückschnellen und erwischte ihn genau unter dem Kinn. Er rutschte fünf Sprossen tiefer, hielt sich dann aber fest. Er hing dort, kurz über dem unteren Ende der Leiter.

Ich kletterte weiter.

Julia kam näher. »Haltet ihn!«

Ich hörte den Aufzug knirschen, als Vince an mir vorbeifuhr. Er würde mich oben erwarten.

Ich kletterte.

Ich war fünf Meter über dem Boden, dann sechs. Ich blickte nach unten und sah, dass Ricky mir folgte, aber er war noch weit unter mir und würde mich kaum einholen können, und plötzlich kam Julia durch die Luft auf mich zugeflogen, spiralförmig wie ein Korkenzieher - und packte die Leiter direkt neben mir. Nur, dass es nicht Julia war, es war der Schwarm, und einen Augenblick lang war der Schwarm so desorganisiert, dass ich stellenweise durch Julia hindurchschauen konnte. Ich konnte die wirbelnden Partikel sehen, die sie zusammensetzten. Ich blickte nach unten und sah die wirkliche Julia, die leichenblass dastand und zu mir hochblickte, das Gesicht ein Totenschädel. Der Schwarm neben mir nahm inzwischen ein festes Äußeres an, so wie ich das zuvor schon gesehen hatte. Er sah jetzt aus wie Julia. Der Mund bewegte sich, und ich hörte eine fremde Stimme »Verzeih mir, Jack« sagen. Und dann schrumpfte der Schwarm, wurde noch dichter, sank zu einer kleinen Julia zusammen, knapp über einen Meter groß.

Ich wandte mich um und wollte weiterklettern.

Die kleine Julia holte Schwung und warf sich dann fest gegen meinen Körper. Ich hatte das Gefühl, von einem Sack Zement getroffen worden zu sein, und mir blieb die Luft weg. Ich verlor fast den Halt an der Leiter, und ich hätte beinahe losgelassen, als der Julia-Schwarm erneut gegen mich prallte. Ich duckte mich und wich aus, stöhnte vor Schmerz und kletterte weiter, obwohl der Schwarm sich immer wieder gegen mich warf. Der Schwarm hatte genug Masse, um mir wehzutun, aber nicht genug, um mich von der Leiter zu stoßen.

Offenbar wurde dem Schwarm das ebenfalls klar, denn jetzt verdichtete der kleine Julia-Schwarm sich zu einer Kugel, schwebte einfach nach oben und hüllte meinen Kopf in eine schwirrende Wolke. Ich war völlig blind. Ich konnte nicht das Geringste sehen. Ich kam mir vor wie in einem Sandsturm. Ich tastete nach der nächsten Sprosse und dann weiter nach der nächsten. Nadelstiche brannten mir auf Gesicht und Händen, der Schmerz wurde stärker, stechender. Anscheinend lernte der Schwarm jetzt, Schmerz zu bündeln. Aber zumindest hatte er nicht gelernt, wie man jemanden erstickte. Er tat nichts, um mich am Atmen zu hindern.

Ich kletterte weiter.

Im Dunkeln.

Und dann spürte ich, wie Ricky wieder an meinen Beinen zog. Und in dem Augenblick, letztendlich, sah ich kein Weiterkommen mehr.

Ich war fast acht Meter über dem Boden, hielt mich krampfhaft an einer Leiter fest und schleppte einen Kanister mit brauner Brühe mit, während Vince über mir lauerte und Ricky unter mir zog und zerrte und mir ein Schwarm um den Kopf schwirrte, der mir die Sicht nahm und mich wie wahnsinnig stach. Ich war ausgepumpt und konnte nicht mehr, und ich spürte förmlich, wie mich alle Kraft verließ. Meine Finger um die Sprossen fühlten sich zittrig an. Ich konnte mich nicht länger festhalten. Ich wusste, ich brauchte nur loszulassen, und alles wäre in einer Sekunde vorbei. Ich war ohnehin am Ende.

Ich tastete nach der nächsten Sprosse, packte sie und zog meinen Körper hoch. Aber ich spürte ein Reißen in den Schultern. Ricky zog mit aller Kraft von unten. Ich wusste, dass er gewinnen würde. Sie würden alle gewinnen. Sie würden immer gewinnen.

Und dann dachte ich an Julia, gespenstisch bleich und papierdünn, wie sie »Rette meine Kleinen« flüsterte. Ich dachte an die Kinder, die zu Hause auf mich warteten. Ich sah sie am Tisch sitzen und auf das Abendessen warten. Und ich wusste, ich musste durchhalten, um jeden Preis. Also hielt ich durch.

Ich weiß nicht genau, was mit Ricky passierte. Irgendwie schaffte er es, meine Beine von der Sprosse zu ziehen, und ich hing an den Armen in der Luft und trat wild um mich, und sehr wahrscheinlich traf ich ihn mitten ins Gesicht und brach ihm die Nase.

Denn gleich darauf ließ Ricky mich los, und ich hörte ein Klong-klong-klong, als sein Körper die Leiter hinunterrutschte und er verzweifelt versuchte, im Fallen die Sprossen zu pakken. Ich hörte: »Ricky, nein!«, und die Wolke verschwand von meinem Kopf, und ich war wieder völlig frei. Ich blickte nach unten und sah den Julia-Schwarm in Höhe von Ricky, der sich gut drei Meter über dem Boden hatte abfangen können. Er starrte wütend hoch. Aus seinem Mund und der Nase sprudelte Blut. Er wollte wieder hochklettern, aber der Julia-Schwarm sagte: »Nein, Ricky. Nein, das schaffst du nicht! Lass Vince das machen.«

Und dann kletterte Ricky halb fallend nach unten, und der Schwarm nahm wieder Julias blassen Körper in Besitz, und die beiden standen da und beobachteten mich.

Ich wandte den Blick von ihnen ab und schaute nach oben.

Vince stand knapp anderthalb Meter über mir.

Seine Füße waren auf den obersten Sprossen, und er beugte sich vor und versperrte mir den Weg. Ich hatte keine Chance, an ihm vorbeizukommen. Ich hielt inne und überlegte, verlagerte mein Gewicht auf der Leiter, hob ein Bein zur nächsten Sprosse, hakte meinen freien Arm um die Sprosse vor meinem Gesicht. Doch als ich das Bein anzog, spürte ich einen Gegenstand in meiner Tasche. Ich hielt inne.

Ich hatte noch ein Phagen-Röhrchen.

Ich griff in die Tasche, holte das Röhrchen hervor und zeigte es ihm. Ich zog den Korken mit den Zähnen heraus. »He, Vince«, sagte ich. »Wie wär's mit einer Fäkaldusche?«

Er rührte sich nicht. Aber seine Augen verengten sich.

Ich stieg eine Sprosse höher.

»Mach lieber, dass du wegkommst, Vince«, sagte ich. Ich musste so heftig keuchen, dass meine Stimme nicht so richtig bedrohlich klang. »Verschwinde, bevor du nass wirst ...«

Eine Sprosse weiter. Ich war nur noch drei Sprossen unter ihm.

»Deine Entscheidung, Vince.« Ich hielt das Röhrchen in der Hand. »Von hier aus kann ich zwar dein Gesicht nicht treffen. Aber deine Beine und Schuhe garantiert. Macht dir das nichts aus?«

Eine Sprosse weiter.

Vince blieb, wo er war.

»Offenbar nicht«, sagte ich. »Du lebst gern gefährlich?«

Ich hielt inne. Wenn ich noch eine Sprosse höher stieg, konnte er mich gegen den Kopf treten. Wenn ich blieb, wo ich war, würde er schon zu mir kommen müssen, und ich könnte ihn packen. Also rührte ich mich nicht von der Stelle.

»Was ist nun, Vince? Bleibst du, oder gehst du?«

Er runzelte die Stirn. Seine Augen huschten hin und her, von meinem Gesicht zu dem Röhrchen und wieder zurück.

Und dann trat er von der Leiter zurück.

»So ist es brav, Vince.«

Ich stieg eine Sprosse höher.

Er war so weit zurückgewichen, dass ich nicht mehr sehen konnte, wo er war. Wahrscheinlich hatte er vor, mich oben zu überrumpeln. Also stellte ich mich darauf ein, den Kopf einzuziehen und zur Seite zu schwingen.

Letzte Sprosse.

Und jetzt sah ich ihn. Er wollte mir nichts. Vince zitterte vor Panik, ein in die Enge getriebenes Tier, das sich in die Dunkel-heit des Laufganges verkrochen hatte. Ich konnte seine Augen nicht erkennen, aber ich sah, dass sein Körper bebte.

»Okay, Vince«, sagte ich. »Ich komme hoch.«

Ich trat auf die Gitterplattform. Jetzt stand ich direkt oben an der Leiter, umgeben von dröhnenden Maschinen. Keine zwanzig Schritte entfernt sah ich die beiden Stahltanks für die Sprinkleranlage. Ich blickte nach unten und sah Ricky und Julia, die zu mir hochschauten. Ich fragte mich, ob ihnen klar war, wie nah ich meinem Ziel war.

Ich blickte wieder zurück zu Vince und sah gerade noch, wie er von einem Kasten in der Ecke eine halb durchsichtige, weiße Plastikplane zog. Er wickelte sie um sich wie einen Schild und griff dann mit einem gutturalen Schrei an. Ich stand am Rand der Leiter. Mir blieb keine Zeit auszuweichen. Ich drehte mich bloß seitlich und stemmte mich gegen ein gut einen Meter dickes Rohr, um die Wucht des Aufpralls abzufangen.

Vince krachte in mich hinein.

Das Röhrchen flog mir aus der Hand, zersplitterte auf dem Gitterrost. Der Kanister wurde mir aus der anderen Hand geschlagen, rollte über den Laufsteg und blieb genau am Rand liegen. Ein paar Zentimeter mehr, und er würde hinunterfallen. Ich bewegte mich auf ihn zu.

Noch immer durch die Plane geschützt, krachte Vince wieder in mich hinein. Ich wurde zurück gegen das Rohr geschleudert. Mein Kopf knallte gegen Stahl. Ich rutschte auf der braunen Brühe aus, die jetzt durch die Maschen des Gitterrostes tropfte, konnte gerade noch das Gleichgewicht halten. Vince warf sich wieder gegen mich.

In seiner Panik merkte er gar nicht, dass ich meine Waffe verloren hatte. Oder vielleicht konnte er es durch die Plane nicht sehen. Er warf sich einfach immer weiter mit dem ganzen Körper gegen mich, und schließlich rutschte ich wieder auf der Brühe aus und fiel auf die Knie. Sogleich kroch ich auf den Kanister zu, der rund drei Meter entfernt lag. Das sonderbare Verhalten ließ Vince einen Augenblick stutzen; er zog sich die Plane vom Gesicht, sah den Kanister und hechtete darauf zu, katapultierte seinen ganzen Körper nach vorn durch die Luft.

Aber er kam zu spät. Ich hatte den Kanister schon in der Hand und riss ihn just in dem Moment weg, als Vince landete, mit der Plane, genau an der Stelle, wo der Kanister gelegen hatte. Sein Kopf schlug fest auf der Kante des Laufstegs auf. Er war kurz benommen, schüttelte den Kopf, um ihn wieder klar zu bekommen.

Und ich packte die Plane am Rand und riss sie mit aller Kraft hoch.

Vince schrie und rollte über den Rand.

Ich sah, wie er auf dem Boden aufschlug. Sein Körper rührte sich nicht mehr. Dann löste sich der Schwarm von ihm, schwebte in die Luft wie ein Geist. Der Geist gesellte sich zu Ricky und Julia, die zu mir hochschauten. Dann drehten sie sich um und eilten durch die Werkshalle davon, sprangen im Laufen über die Krakenarme. Es war ihnen anzusehen, dass sie es sehr eilig hatten. Man hätte sogar meinen können, sie hätten Angst.

Gut, dachte ich.

Ich rappelte mich hoch und ging zu den Sprinklertanks. Die Bedienungsanleitung stand auf dem unteren Tank. Die Ventile waren leicht zu unterscheiden. Ich drehte den Zufluss auf, schraubte den Einfülldeckel ab, wartete, bis der Druck des Stickstoffs zischend entwichen war, und schüttete dann den Inhalt des Phagen-Kanisters hinein. Ich hörte, wie er in den Tank gluckerte. Dann schraubte ich den Deckel zu, drehte das Stickstoffventil wieder auf, um das System erneut unter Druck zu setzen.

Und fertig war ich.

Ich holte tief Luft.

Ich würde doch noch gewinnen.

Ich fuhr mit dem Aufzug nach unten und fühlte mich zum ersten Mal an dem Tag gut.

7. Tag, 8.12 Uhr

Sie standen alle zusammengedrängt auf der anderen Seite der Halle - Julia, Ricky und jetzt auch Bobby. Auch Vince war da, etwas im Hintergrund. Doch ich konnte ab und zu durch ihn hindurchsehen, denn sein Schwarm war leicht transparent. Ich fragte mich, wer von den anderen jetzt auch nur noch ein Schwarm war. Das war nicht eindeutig zu sagen. Aber es spielte ohnehin keine Rolle mehr.

Sie standen vor einer Reihe Computermonitore, auf denen jeder Parameter des Herstellungsprozesses zu erkennen war: Temperaturkurven, Produktionsmengen, Gott weiß was sonst noch alles. Aber sie hatten den Monitoren den Rücken zugedreht. Sie sahen mich an.

Ich ging ruhig auf sie zu, gemessenen Schritts. Ich hatte keine Eile. Im Gegenteil. Es dauerte bestimmt zwei volle Minuten, bis ich die Halle durchquert hatte und bei ihnen war. Sie betrachteten mich zunächst verwundert und dann mit zunehmend unverhohlener Belustigung.

»Na, Jack«, sagte Julia schließlich. »Wie läuft's denn heute so bei dir?«

»Nicht schlecht«, erwiderte ich. »Es geht bergauf.«

»Du wirkst ja sehr zuversichtlich.«

Ich zuckte die Achseln.

»Hast du alles unter Kontrolle?«, fragte Julia.

Ich zuckte wieder die Achseln.

»Übrigens, wo ist Mae?«

»Ich weiß nicht. Wieso?«

»Bobby hat sie gesucht. Er kann sie nirgends finden.«

»Ich hab keine Ahnung«, sagte ich. »Wieso habt ihr sie gesucht?«

»Wir dachten, wir sollten alle zusammen sein«, sagte Julia, »wenn wir die Sache hier zu Ende bringen.«

»Aha«, sagte ich. »Und das passiert jetzt? Das große Finale?«

Sie nickte bedächtig. »Ja, Jack. Ganz genau.«

Ich konnte es nicht riskieren, auf meine Uhr zu blicken, ich musste einfach schätzen, wie viel Zeit vergangen war. Ich vermutete, etwa drei oder vier Minuten. Ich sagte: »Und, was schwebt dir so vor?«

Julia fing an, auf und ab zu gehen. »Tja, Jack, ich bin sehr enttäuscht von dir. Schwer enttäuscht. Du weißt, wie viel du mir bedeutest. Ich hätte nie gewollt, dass dir etwas zustößt. Aber du bekämpfst uns, Jack. Und du wirst uns weiter bekämpfen. Und das können wir nicht hinnehmen.«

»Verstehe«, sagte ich.

»Das geht einfach nicht, Jack.«

Ich griff in meine Tasche und holte ein Plastikfeuerzeug heraus. Falls Julia oder die anderen das mitbekamen, so ließen sie es sich jedenfalls nicht anmerken.

Julia schritt weiter auf und ab. »Jack, du bringst mich in eine schwierige Lage.«

»Wie das?«

»Du hattest das Privileg, hier die Geburt von etwas wahrhaft Neuem zu erleben. Etwas Neuem und Wunderbarem. Aber du bringst kein Verständnis auf, Jack.«

»Nein, stimmt.«

»Eine Geburt ist schmerzhaft.«

»Der Tod auch«, erwiderte ich.

Sie ging weiter auf und ab. »Ja«, sagte sie. »Der Tod auch.« Sie blickte mich finster an.

»Ist was?«

»Wo ist Mae?«, fragte sie erneut.

»Ich weiß es nicht. Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«

Sie blickte weiter finster. »Wir müssen sie finden, Jack.«

»Das werdet ihr bestimmt.« »Ja, mit Sicherheit.«

»Dann braucht ihr mich ja nicht«, sagte ich. »Macht euren Kram allein. Ich meine, ihr seid die Zukunft, wenn ich mich recht entsinne. Überlegen und unaufhaltsam. Ich bin bloß ein einfacher Mensch.«

Julia ging jetzt um mich herum, betrachtete mich von allen Seiten. Ich sah, dass mein Verhalten sie verunsicherte. Oder sie taxierte mich. Vielleicht hatte ich es übertrieben. War zu weit gegangen. Sie witterte etwas. Sie ahnte etwas. Und das machte mich sehr nervös.

Ich drehte das Feuerzeug in den Händen, fahrig.

»Jack«, sagte sie. »Du enttäuschst mich.«

»Das hast du bereits gesagt.«

»Ja«, sagte sie. »Aber ich bin mir noch immer nicht sicher ...«

Wie auf ein lautloses Stichwort hin fingen auch die Männer an, im Kreis zu gehen. Sie bewegten sich in konzentrischen Kreisen um mich herum. War das so eine Art ScannerVerfahren? Oder bedeutete es irgendetwas anderes?

Ich überlegte, wie viel Zeit vergangen war. Ich schätzte, fünf Minuten.

»Komm mit, Jack. Ich will dir was zeigen.«

Sie legte mir einen Arm um die Schultern und führte mich zu einer der großen Krakenröhren. Sie hatte einen Durchmesser von gut und gern einem Meter achtzig, und die Oberfläche war verspiegelt. Ich konnte Julia neben mir stehen sehen. Einen Arm um meine Schultern.

»Sind wir nicht ein hübsches Paar? Es ist ein Jammer. Wir könnten so eine schöne Zukunft haben.«

Ich sagte: »Tja ...«

Und als ich das sagte, löste sich ein Fluss blasser Partikel von Julia, strömte im Bogen durch die Luft und senkte sich dann wie ein Schauer über meinen Körper und in meinen Mund. Ich presste die Lippen aufeinander, aber es spielte keine Rolle, denn im Spiegel schien sich mein Körper aufzulösen, um von Julias Körper ersetzt zu werden. Es war, als hätte sich ihre Haut von ihr gelöst, wäre durch die Luft geschwebt und hätte sich über mich gestülpt. Jetzt standen zwei Julias nebeneinander vor dem Spiegel.

Ich sagte: »Lass den Quatsch, Julia.«

Sie lachte. »Wieso? Macht doch Spaß.«

»Hör auf damit«, entgegnete ich. Ich klang wie ich selbst, obwohl ich wie Julia aussah. »Hör auf.«

»Magst du das nicht? Ich finde es lustig. Du kannst eine Weile ich sein.«

»Ich hab gesagt, hör auf!«

»Jack, du verstehst einfach keinen Spaß mehr.«

Ich zog an dem Julia-Abbild auf meinem Gesicht, wollte es wie eine Maske abreißen. Aber ich spürte nur meine eigene Haut unter den Fingerspitzen. Als ich an meiner Wange kratzte, zeigte das Julia-Abbild im Spiegel Striemen. Ich griff nach hinten und berührte mein Haar. Ich war so panisch, dass ich das Feuerzeug fallen ließ. Es klapperte auf den Betonboden.

»Ich will das weghaben«, sagte ich. »Mach es weg.«

Es rauschte in meinen Ohren, und die Julia-Haut verschwand, zischte in die Luft, senkte sich dann auf Julia hinab. Nun sah sie aus wie ich. Jetzt standen zwei Jacks Seite an Seite im Spiegel.

»So besser?«, sagte sie.

»Ich weiß nicht, was du damit beweisen willst.« Ich holte tief Luft.

Ich bückte mich und hob das Feuerzeug auf.

»Ich will gar nichts damit beweisen«, entgegnete sie. »Ich fühle dir bloß auf den Zahn, Jack. Und weißt du, was ich herausgefunden habe? Du hast ein Geheimnis, Jack. Und du hast gedacht, ich würde nicht dahinter kommen.«

»Ach ja?«

»Aber ich bin dahinter gekommen«, sagte sie.

Ich wusste nicht, wie ich ihre Worte verstehen sollte, wusste nicht mehr, wo ich war. Und das ständige Verändern des Äußeren hatte mich so zermürbt, dass ich jedes Zeitgefühl verloren hatte.

»Du machst dir Gedanken wegen der Zeit, nicht wahr, Jack?«, sagte sie. »Brauchst du nicht. Wir haben jede Menge Zeit. Wir haben hier alles unter Kontrolle. Erzählst du mir jetzt dein Geheimnis? Oder müssen wir nachhelfen?«

Hinter ihr konnte ich die aufgereihten Monitore des Kontrollsystems sehen. Bei den Bildschirmen, die am äußeren Rand montiert waren, blinkte oben ein Balken, in dem etwas geschrieben stand, ich konnte es jedoch nicht lesen. Ich erkannte, dass auf einigen Diagrammen die Kurven steil anstiegen und von Blau über Gelb zu Rot wechselten, je höher sie kletterten.

Ich tat nichts.

Julia drehte sich zu den Männern um. »Okay«, sagte sie. »Bringt ihn zum Reden.«

Die drei Männer näherten sich mir. Es war Zeit, es ihnen zu zeigen. Es war Zeit, meine Falle zuschnappen zu lassen.

»Kein Problem«, sagte ich. Ich hob das Feuerzeug, entzündete es und hielt die Flamme unter den nächsten Sprinklerkopf.

Die Männer verharrten auf der Stelle. Sie beobachteten mich.

Ich hielt das Feuerzeug ganz ruhig. Der Sprinklerkopf wurde schwarz vor Ruß.

Und nichts tat sich.

Die Flamme brachte das dünne Blech, das den Sprinklerkopf schützte, zum Schmelzen. Silberkleckse tropften auf den Boden zu meinen Füßen. Und es tat sich noch immer nichts. Die Sprinkler sprangen nicht an.

»Scheiße«, sagte ich.

Julia beobachtete mich nachdenklich. »Kein schlechter Trick. Sehr einfallsreich, Jack. Gute Idee. Aber du hast eines vergessen.«

»Was denn?«

»Es gibt hier ein Sicherheitssystem. Und als wir gesehen haben, dass du die Sprinkler erreicht hast, hat Ricky das System abgeschaltet. System aus, Sprinkler aus.« Sie zuckte die Achseln. »Deine Glückssträhne ist wohl zu Ende, Jack.«

Ich machte das Feuerzeug aus. Ich konnte nichts tun. Ich stand einfach da und kam mir blöd vor. Ich glaubte, einen schwachen Geruch wahrzunehmen. Einen süßlichen, widerwärtigen Geruch. Aber ich war mir nicht sicher.

»Zugegeben, wirklich kein schlechter Trick«, sagte Julia. »Aber jetzt reicht's.«

Sie sah die Männer an und machte eine ruckartige Kopfbewegung. Die drei kamen auf mich zu. Ich sagte: »He, Jungs, macht keinen Blödsinn ...« Sie reagierten nicht. Ihre Gesichter waren teilnahmslos. Sie packten mich und wollten mich niederringen. »He, hört doch auf .« Ich riss mich los. »He!«

Ricky sagte: »Mach es uns nicht noch schwerer, Jack«, und ich sagte: »Leck mich, Ricky«, und ich spuckte ihm ins Gesicht, als sie mich zu Boden warfen. Ich hoffte, das Virus würde ihm in den Mund dringen. Ich hoffte, ich könnte ihn aufhalten, hoffte, dass wir richtig kämpfen würden. Hauptsache, ich gewann Zeit. Aber sie warfen mich zu Boden und fielen dann über mich her und fingen an, mich zu würgen. Ich spürte ihre Hände am Hals. Bobby drückte mir seine Hände auf Mund und Nase. Ich versuchte, ihn zu beißen. Aber er hielt seine Hände einfach fest an Ort und Stelle und starrte mich nur an. Ricky lächelte kühl. Als würde er mich nicht kennen, als hätte er keine Gefühle für mich. Sie waren Fremde, die mich entschlossen und rasch töteten. Ich schlug mit Fäusten auf sie ein, bis Ricky mir sein Knie auf einen Arm schob und ihn auf den Boden presste und Bobby den anderen Arm fest hielt. Jetzt konnte ich mich nicht mehr rühren. Ich wollte nach ihnen treten, aber Julia saß auf meinen Beinen. Half ihnen. Schon begann die Welt, vor meinen Augen zu verschwimmen. Wurde zu einem schwachen und diesigen Grau.

Dann ertönte ein leises Knallen, fast wie Popcorn oder springendes Glas, und Julia schrie: »Was ist das?«

Die drei Männer ließen von mir ab und standen auf. Sie gingen von mir weg. Ich lag auf dem Boden und hustete. Ich versuchte nicht mal aufzustehen.

»Was ist das?«, brüllte Julia.

Die erste Krakenröhre zerplatzte hoch über mir. Brauner, flüssiger Dampf zischte heraus. Eine weitere Röhre brach mit einem Knall auf, dann noch eine. Es fauchte überall in der Halle. Die Luft nahm ein dunkles, nebeliges Braun an, ein wogendes Braun.

Julia schrie: »Was ist denn das?«

»Die Produktionsanlage ist überhitzt«, sagte Ricky. »Und sie fliegt in die Luft.«

»Wieso? Wie ist das möglich?«

Ich setzte mich auf, noch immer hustend, und kam dann auf die Beine. Ich sagte: »Kein Sicherheitssystem, erinnerst du dich? Ihr habt es abgeschaltet. Jetzt wird das Virus durch die ganze Halle geblasen.«

»Nicht mehr lange«, sagte Julia. »In zwei Sekunden haben wir das Sicherheitssystem wieder an.« Ricky stand schon an der Steuerungstafel und drückte hektisch irgendwelche Tasten.

»Gute Idee, Julia«, sagte ich. Ich zündete mein Feuerzeug an und hielt es unter den Sprinklerkopf.

Julia kreischte: »Halt! Ricky, halt!«

Ricky gehorchte.

Ich sagte: »So ist das manchmal, wie man's macht, macht man's verkehrt.«

Julia drehte sich wutentbrannt um und zischte: »Ich hasse dich.« Ihr Körper wurde bereits grau, verblasste wie bei einem schwarzweißen Bild. Auch aus Ricky verschwand die Farbe. Das Virus in der Luft setzte den Schwärmen zu.

Ein kurzes Funkenprasseln, von hoch oben in den Krakenarmen. Dann noch ein schneller Blitzbogen. Ricky sah es und schrie:

»Vergiss es, Julia! Wir müssen es riskieren!« Er drückte die Tasten und schaltete das Sicherheitssystem wieder ein. Ein Alarm ertönte. Die Bildschirme blinkten rot von der übermäßigen Konzentration von Methan und anderen Gasen. Der Hauptbildschirm zeigte: »sicherheitssystem an.«

Und aus den Sprinklern sprühten plötzlich braune Wasserkegel.

Sie schrien, als das Wasser sie berührte. Sie wanden sich und schrumpften, schrumpelten vor meinen Augen. Julias Gesicht war verzerrt. Sie starrte mich mit blankem Hass an. Aber sie löste sich bereits auf. Sie fiel auf die Knie und dann auf den Rücken. Die anderen wälzten sich auf dem Boden, brüllten vor Schmerz.

»Komm, Jack.« Jemand zog mich am Ärmel. Es war Mae. »Schnell«, sagte sie. »Die Halle ist voller Methan. Wir müssen hier raus.«

Ich zögerte, blickte noch immer auf Julia. Dann drehten wir uns um und liefen los.

7. Tag, 9.11 Uhr

Der Hubschrauberpilot stieß die Türen auf, als wir angerannt kamen. Wir sprangen hinein. Mae sagte: »Los, weg hier!«

Er sagte: »Ich muss Sie bitten, sich vorher anzuschnallen ...«

»Fliegen Sie schon los!«, brüllte ich.

»Tut mir Leid, so sind die Vorschriften, und es ist zu gefährlich .«

Schwarzer Rauch quoll aus der Tür der Energiestation, aus der wir soeben gekommen waren. Er stieg in Schwaden in den blauen Wüstenhimmel.

Der Pilot sah das und sagte: »Festhalten!«

Wir hoben ab und flogen Richtung Norden, in einem weiten Bogen weg vom Gebäude. Jetzt drang schon Rauch aus allen Abluftschlitzen am Dach. Ein schwarzer Schleier trieb in der Luft.

Mae sagte: »Das Feuer verbrennt die Nanopartikel und auch die Bakterien. Keine Sorge.«

Der Pilot fragte: »Wo soll's denn hingehen?«

»Nach Hause.«

Er flog nach Westen, und binnen Minuten hatten wir das Gebäude weit hinter uns gelassen. Es verschwand hinter dem Horizont. Mae hatte sich zurückgelehnt, die Augen geschlossen. Ich sagte zu ihr: »Ich hab gedacht, es würde in die Luft fliegen. Aber sie haben das Sicherheitssystem wieder eingeschaltet. Also wird das wohl nicht passieren.«

Sie sagte nichts.

Ich sagte: »Wieso hatten wir es denn dann so eilig, da rauszukommen? Und wo warst du überhaupt? Keiner konnte dich finden.«

Sie sagte: »Ich war draußen, im Depot.«

»Was hast du da gemacht?«

»Nach Thermit gesucht.« »Noch welches gefunden?«

Es gab kein Geräusch. Bloß einen gelben Lichtblitz, der sich kurz über den Wüstenhorizont ausbreitete und dann verblasste. Man hätte fast meinen können, es wäre nichts geschehen. Aber der Hubschrauber tat einen Satz, als die Druckwelle uns einholte.

Der Pilot sagte: »Heiliger Strohsack, was war denn das?« »Betriebsunfall«, erwiderte ich. »Sehr bedauerlich.« Er griff nach seinem Funkgerät. »Ich mach lieber mal Meldung.«

»Ja«, sagte ich. »Unbedingt.«

Wir kamen weiter nach Westen, und ich sah die grüne Linie des Waldes und die sanften Ausläufer der Sierra, als wir die Grenze nach Kalifornien überflogen.

7. Tag, 23.57 Uhr

Es ist spät.

Fast Mitternacht. Im Haus ist es vollkommen still. Ich weiß nicht, wie alles ausgehen wird. Den Kindern ist fürchterlich schlecht, seit ich ihnen das Virus verabreicht habe, und sie übergeben sich. Ich höre, wie mein Sohn und meine Tochter in verschiedenen Badezimmern würgen. Vor einigen Minuten war ich bei ihnen, um zu überprüfen, was da hochkommt. Sie sind totenbleich im Gesicht. Ich sehe, dass sie Angst haben, weil sie wissen, dass ich Angst habe. Das mit Julia habe ich ihnen noch nicht erzählt. Sie haben nicht gefragt. Es geht ihnen zu schlecht, um zu fragen.

Am meisten Sorgen mache ich mir um Amanda, weil ich auch ihr das Virus geben musste. Es war ihre einzige Chance. Ellen ist jetzt bei ihr, aber auch Ellen muss sich übergeben. Amanda hat noch nicht richtig erbrochen. Ich weiß nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist. Kleine Kinder reagieren anders.

Mir geht es einigermaßen, zumindest im Moment noch. Ich bin hundemüde. Ich glaube, ich bin den ganzen Abend über immer wieder eingenickt. Jetzt sitze ich hier, schaue zum Fenster hinaus in den Garten und warte auf Mae. Sie ist hinten über den Gartenzaun gesprungen und kriecht jetzt wahrscheinlich durch das Gebüsch an dem kleinen Hang hinter dem Grundstück, wo die Rasensprenger sind. Sie meinte, irgendwo dort ein schwaches, grünes Licht gesehen zu haben. Ich wollte nicht, dass sie allein hinausgeht, aber ich bin zu müde, um ihr zu helfen. Wenn sie bis morgen wartet, kann die Armee mit Flammenwerfern alles abfackeln, was sich da verstecken mag.

Die Armee stellt sich in der ganzen Sache taub, aber ich habe Julias Computer zu Hause, und die E-Mails auf der Festplatte beweisen einiges. Ich habe die Festplatte vorsichtshalber ausgebaut, eine andere eingebaut und das Original in einem Schließfach in der Stadt deponiert. Wegen der Armee mache ich mir eigentlich keine Sorgen. Sorgen mache ich mir wegen Larry Handler und den anderen bei Xymos. Die wissen, dass sie mit einer schier unermesslichen Flut von Gerichtsverfahren rechnen müssen. Die Firma wird diese Woche Konkurs anmelden, aber ihr droht dennoch ein Strafverfahren. Vor allem Larry. Ich würde ihm keine Träne nachweinen, wenn er ins Gefängnis müsste.

Mae und ich haben die Ereignisse der vergangenen Tage noch einmal Revue passieren lassen und für die meisten eine einleuchtende Erklärung gefunden. Den Hautausschlag meiner Tochter hatten Gamma-Assembler ausgelöst - die Mikromaschinen, die aus Komponentenfragmenten Moleküle zusammenbauten. Sehr wahrscheinlich hafteten die Gammas an Julias Kleidung, wenn sie im Werksgebäude in Nevada gewesen war. Julia hatte das befürchtet, deshalb hatte sie sich immer als Erstes geduscht, wenn sie nach Hause kam. Das Werk hatte zwar ein gutes Dekontaminationssystem, aber Julia hatte auch außerhalb der Halle mit den Schwärmen Kontakt gehabt. Sie wusste, dass die Gefahr bestand. An dem betreffenden Abend jedenfalls hatte sie die Gamma-Assembler ins Kinderzimmer getragen. Die Gamma-Assembler sind dazu da, Mikrofragmente aus Silikon zu zerschneiden, doch eine geschmeidige Substanz wie menschliche Haut können sie nur zwicken. Es tut weh, und es verursacht ein Mikrotrauma, wie niemand es zuvor erlebt hat. Oder es für möglich gehalten hätte. Kein Wunder, dass Amanda kein Fieber hatte. Sie hatte keine Infektion. Sie hatte eine Schicht beißender Partikel auf der Haut. Das Magnetfeld des Kernspintomografen heilte sie binnen einer Sekunde; sämtliche Assembler wurden beim ersten Puls von ihr weggerissen. (Bei dem Biologen in der Wüste war es anscheinend genauso. Er war irgendwie mit Assemblern in Berührung gekommen. Er hatte nicht weit vom Xymos-Werk kampiert.)

Julia wusste, was mit Amanda nicht in Ordnung war, aber sie behielt es für sich. Stattdessen rief sie den Reinigungstrupp von Xymos, und der kreuzte mitten in der Nacht bei uns zu Hause auf, als ich mit Amanda im Krankenhaus war. Nur Eric bekam das mit, und jetzt weiß ich auch, was er gesehen hat. Denn derselbe Trupp war vor einigen Stunden hier, um mein Haus zu säubern. Es waren dieselben Männer, die ich in der Nacht von Julias Unfall in dem Van auf der Straße stehen sah.

Zuerst kommt ein Mann in einem silbernen, antimagnetischen Schutzanzug, und er sieht richtig gespenstisch aus. Durch die versilberte Maske wirkt er gesichtslos. Er überprüft zunächst die Umgebung. Dann folgen vier andere Männer in Overalls mit Staubsaugern und machen alles sauber. Ich hab Eric gesagt, er habe das nur geträumt, aber es war kein Traum. Der Trupp hatte einen Sensorwürfel zurückgelassen, unter Amandas Bett, für den Fall, dass noch nicht alle Gammas beseitigt waren. Das Gerät war gar kein Überspannungsschutz; es sollte nur so aussehen.

Sobald ich mir das alles zusammengereimt hatte, war ich wütend auf Julia, weil sie mir nicht erzählt hatte, was los war. Und ich mir deshalb so große Sorgen gemacht hatte. Aber natürlich war sie da schon krank gewesen. Und deshalb kann ich ihr auch nicht wirklich böse sein.

Erics MP3-Player war von Gamma-Assemblern zerstört worden, genau wie die Autos in der Wüste. Und auch der Kernspintomograf. Aus irgendeinem Grund zerstörten die Gamma-Assembler Speicherchips und ließen Zentralprozessoren in Ruhe. Warum, hat mir bisher noch keiner erklären können.

An dem Abend, als Julia den Unfall hatte, war ein Schwarm in ihrem Kabrio. Sie hatte ihn aus der Wüste mitgebracht, ob mit Absicht oder nicht, kann ich nicht sagen. Der Schwarm konnte sich ganz klein machen, weshalb Eric auch nichts sehen konnte, als er draußen nachschauen ging. Und ich war mir ja auch nicht sicher gewesen, ob da etwas war, als Julia mit ihrem Wagen in der Einfahrt zurücksetzte, kein Wunder. Der Schwarm fing vermutlich das Licht auf seltsame Weise ein. In meiner Erinnerung sah er ein bisschen wie Ricky aus, aber wahrscheinlich konnte der Schwarm das Äußere eines Menschen zu dem Zeitpunkt noch gar nicht annehmen. So weit entwickelt war er da noch gar nicht. Es kann auch sein, dass ich nur eine undeutliche Gestalt erkannt hatte, die ich in meiner Eifersucht für eine Person hielt. Ich glaube nicht, dass ich mir etwas zusammenfantasiert hatte, aber vielleicht doch. Ellen hält das für möglich.

Nach ihrem Unfall verständigte Julia den Reinigungstrupp. Deshalb stand der Van auch am späten Abend auf der Straße. Der Trupp wollte warten, bis alle weg waren, um dann unten an der Unfallstelle alles sauber zu machen. Ich weiß nicht, weshalb Julia von der Straße abgekommen war, ob der Schwarm damit zu tun hatte oder ob es bloß ein Unfall war. Es ist niemand mehr da, den ich fragen könnte.

Die Gebäude in der Wüste wurden restlos zerstört. Die Menge Methan in der Produktionshalle war so groß, dass der Feuerball eine Temperatur von weit über tausend Grad hatte. Mit Sicherheit sind alle biologischen Materialien verbrannt. Aber ich mache mir dennoch Sorgen. In den Trümmern wurden keine Leichen gefunden, nicht einmal Skelette.

Mae hat den Bakteriophagen zu ihrem alten Labor in Palo Alto gebracht. Ich hoffe, sie konnte den Mitarbeitern dort klarmachen, wie bedrohlich die Lage ist. Wie sie reagieren, darüber hält sie sich ziemlich bedeckt. Ich finde, der Phage sollte ins öffentliche Trinkwasser gemischt werden, aber Mae meint, das Chlor würde ihn wieder beseitigen. Massenimpfungen wären auch eine Möglichkeit. Soweit wir wissen, tötet der Phage die Schwärme.

Manchmal habe ich ein Klingeln in den Ohren, das ist ein Besorgnis erregendes Zeichen. Und in Brust und Bauch spüre ich ein Vibrieren. Ich weiß nicht, ob ich nur paranoid bin oder ob tatsächlich irgendetwas mit mir nicht stimmt. Ich bemühe mich, vor den Kindern tapfer zu bleiben, aber Kinder lassen sich nun mal nichts vormachen. Sie wissen, dass ich Angst habe.

Fast bis zuletzt blieb ungeklärt, warum die Schwärme immer wieder zu der Anlage zurückkamen. Darauf konnte ich mir einfach keinen Reim machen. Es beschäftigte mich, weil das Ziel so wenig einleuchtete. Es stimmte nicht mit den predprey-Formulierungen überein. Warum sollte ein Räuber ständig zu einem bestimmten Ort zurückkehren?

Rückblickend betrachtet, gab es dafür natürlich nur eine mögliche Antwort. Die Schwärme waren absichtlich so programmiert worden, dass sie immer zurückkehrten. Die Programmierer selbst hatten das Ziel ausdrücklich so festgelegt.

Aber warum sollte jemand so ein Ziel vorgeben?

Das wurde mir erst vor ein paar Stunden klar.

Der Code, den Ricky mir gezeigt hatte, war nicht der Code, der tatsächlich für die Partikel verwendet worden war. Er konnte mir den richtigen Code gar nicht zeigen, weil ich sofort gemerkt hätte, was sie getan hatten. Ricky hatte es mir nicht erzählt. Keiner hatte es mir erzählt.

Ein großer Schock für mich war eine E-Mail, die ich heute auf Julias Festplatte entdeckt habe. Sie hatte sie an Ricky Morse geschrieben, mit einer Kopie an Larry Handler, den Chef von Xymos, und sie beschreibt darin das Verfahren, wie der Kameraschwarm dazu gebracht werden könnte, bei heftigem Wind zu funktionieren. Laut Plan sollte ein Schwarm absichtlich nach draußen entlassen werden.

Und genau das haben sie getan.

Sie behaupteten, es sei versehentlich passiert, aufgrund fehlender Luftfilter. Deshalb hatte Ricky auch mit mir diese ausführliche Besichtigungstour durchs Werk unternommen und mir das Märchen von der Wartungsfirma und der Entlüftungsanlage aufgetischt. Aber nichts davon war wahr. Die Freilassung des Schwarms war Absicht gewesen.

Sie war von Anfang an geplant gewesen.

Als sie merkten, dass der Schwarm bei starkem Wind nicht funktionierte, suchten sie erfolglos nach einer Lösung. Die Partikel waren einfach zu klein und zu leicht - und auch zu dumm. Sie hatten von Anfang an Designfehler, die nicht zu beheben waren. Das ganze Multimillionen-Dollar-Projekt fürs Militär drohte zu scheitern, und es war einfach keine Lösung in Sicht.

Deshalb beschlossen sie, den Schwarm dazu zu bringen, selbst eine Lösung zu finden.

Sie rekonfigurierten die Nanopartikel und versahen sie mit Sonnenenergie und Speicherkapazität. Sie schrieben das Partikelprogramm neu, um einen genetischen Algorithmus hinzuzufügen. Und sie ließen die Partikel frei, damit sie sich vermehren und entwickeln konnten und um zu sehen, ob sie allein überlebensfähig waren.

Und sie hatten Erfolg.

Es war so dumm, dass einem die Luft wegblieb. Ich begreife einfach nicht, wie man so etwas aushecken konnte, ohne sich die Folgen klarzumachen. Wie alles, was ich bei Xymos gesehen habe, war es ein schlampiger, unausgegorener Plan, hektisch zusammengeschustert, um aktuelle Probleme zu lösen, ohne einen Gedanken an die Zukunft zu verschwenden. So etwas kommt wahrscheinlich häufiger vor, wenn eine Firma auf dem Spiel steht, doch bei Technologien wie dieser war es unverantwortlich.

Aber natürlich ist die eigentliche Wahrheit noch komplizierter. Die Technologie selbst lädt praktisch zu diesem Verhalten ein. Verteilte-Agenten-Systeme laufen von selbst. So funktionieren sie nun mal. Das war ja gerade der Sinn der Sache: Man installiert sie und lässt sie arbeiten. Man gewöhnt sich an diese Methode. Man gewöhnt sich daran, Agentennetzwerke so zu behandeln. Autonomie ist der springende Punkt.

Aber es ist eine Sache, eine Population virtueller Agenten innerhalb eines Computerspeichers freizulassen, um ein Problem zu lösen. Es ist jedoch eine andere, dies mit realen Agenten in der wirklichen Welt zu tun.

Den Unterschied hatten sie einfach nicht gesehen. Oder nicht sehen wollen.

Und so ließen sie den Schwarm frei.

Der Fachbegriff dafür lautet »Selbstoptimierung«. Der Schwarm entwickelt sich von allein weiter, die weniger erfolgreichen Agenten sterben ab, und die erfolgreicheren bringen die nächste Generation hervor. Nach zehn oder hundert Generationen findet der Schwarm die beste Lösung. Die optimale Lösung.

Dergleichen geschieht ständig innerhalb eines Computers. Es wird sogar zur Entwicklung neuer Computeralgorithmen angewendet. Danny Hillis versuchte vor Jahren als einer der Ersten auf diesem Wege, einen Sortieralgorithmus zu optimieren. Er wollte herausfinden, ob der Computer selbst ausknobeln konnte, wie er besser arbeitete. Das Programm fand eine neue Methode. Schon bald folgten andere Hillis' Beispiel.

Doch mit autonomen Robotern in der realen Welt ist so etwas noch nicht gemacht worden. Soweit ich weiß, war es das erste Mal. Vielleicht ist es schon vorher einmal passiert, und wir haben nur noch nichts davon gehört. Jedenfalls bin ich über-zeugt, dass es wieder passieren wird.

Wahrscheinlich bald.

Es ist zwei Uhr morgens. Die Kinder haben endlich aufgehört zu brechen. Sie schlafen jetzt. Offenbar friedlich. Das Baby schläft. Ellen fühlt sich noch immer ziemlich elend. Ich muss wieder eingedöst sein. Ich weiß nicht, wovon ich aufgewacht bin. Ich sehe Mae den Hang hinter meinem Haus hochkommen. Bei ihr sind der Typ in dem Schutzanzug und der Rest vom SSVT-Team. Sie geht mir entgegen. Ich sehe, dass sie lächelt. Ich hoffe, sie hat eine gute Nachricht.

Ich könnte jetzt eine gute Nachricht gebrauchen.

In Julias E-Mail heißt es: »Wir haben nichts zu verlieren.« Aber am Ende haben sie alles verloren - ihre Firma, ihr Leben, alles. Und die Ironie des Ganzen ist, dass das Verfahren funktioniert hat. Der Schwarm hat das Problem, das er für sie lösen sollte, tatsächlich gelöst.

Aber dann hat er weitergemacht, sich immer weiter entwik-kelt.

Und sie haben ihn gelassen.

Sie wussten nicht, was sie taten.

Ich fürchte, das wird irgendwann auf dem Grabstein der Menschheit stehen.

Ich hoffe, nicht.

Vielleicht haben wir ja Glück.

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