II. IN DER WÜSTE

6. Tag, 7.12 Uhr

Das Vibrieren des Hubschraubers hatte mich schläfrig gemacht, und ich war wohl eingenickt. Ich wachte auf und gähnte, hörte Stimmen in meinem Kopfhörer, lauter Männerstimmen:

»Und, was genau ist das Problem?« Eine brummige Stimme.

»Anscheinend ist aus dem Werk Material in die Umwelt entwichen. Es war ein Unfall. Und nun sind in der Wüste etliche tote Tiere gefunden worden. In der Nähe des Werks.« Eine vernünftige, sachliche Stimme.

»Wer hat sie gefunden?« Brummbär.

»Ein paar neugierige Umweltschützer. Sie haben die Betre-ten-verboten-Schilder ignoriert und sich in der Nähe des Gebäudes herumgetrieben. Sie haben sich bei der Firma beschwert und verlangen, das Werk überprüfen zu dürfen.«

»Was wir nicht erlauben können.«

»Auf keinen Fall.«

»Wie lösen wir das Problem?«, fragte eine zaghafte Stimme.

»Ich schlage vor, wir spielen die Größenordnung der Kontamination herunter und veröffentlichen Daten, die belegen, dass jede Gefährdung auszuschließen ist.« Sachliche Stimme.

»Nee, verdammt, so würd ich das nicht machen«, sagte die brummige Stimme. »Wir fahren besser, wenn wir es einfach abstreiten. Es wurde nichts freigesetzt. Ich meine, gibt es denn überhaupt Beweise dafür, dass was freigesetzt wurde?«

»Na, die toten Tiere. Ein Kojote, ein paar Wüstenratten. Vielleicht ein paar Vögel.«

»Mein Gott, in der Natur sterben dauernd irgendwelche Tiere. Ich meine, erinnert ihr euch noch an die Geschichte mit den aufgeschlitzten Kühen? Angeblich waren Aliens mit UFOs gelandet und hatten die Viecher aufgeschlitzt. Schließlich kam raus, dass die Kühe eines natürlichen Todes gestorben und die Kadaver durch das Verwesungsgas aufgeplatzt waren. Wisst ihr noch?«

»Vage.«

Zaghafte Stimme: »Wir können doch nicht so einfach dementieren ...«

»Quatsch, klar können wir das.«

»Und was ist mit den Fotos? Die Umweltschützer haben doch Fotos gemacht, soweit ich weiß.«

»Na und? Was wird auf den Fotos schon zu sehen sein, ein toter Kojote? Niemand regt sich über einen toten Kojoten auf. Glaubt mir. Pilot? Pilot, wo zum Teufel sind wir?«

Ich öffnete die Augen. Ich saß vorn im Hubschrauber, neben dem Piloten. Wir flogen nach Osten, mitten hinein in das grelle Licht einer tief stehenden Morgensonne. Unter meinen Füßen sah ich meist flaches Gelände, mit niedrigen Kakteen, Wacholderbüschen und vereinzelten, dürren Joshua-Bäumen.

Der Pilot flog an den Stromleitungsmasten entlang, die in einer Reihe durch die Wüste marschierten, eine Stahlarmee mit ausgestreckten Armen. Die Masten warfen lange Schatten im Morgenlicht.

Ein korpulenter Mann beugte sich vom Rücksitz vor. Er trug Anzug und Krawatte. »Pilot? Wann sind wir endlich da?«

»Wir haben gerade die Grenze zu Nevada überquert. Noch zehn Minuten.«

Der Korpulente knurrte und lehnte sich zurück. Wir hatten uns einander vorgestellt, als wir losflogen, aber ich konnte mich nicht mehr an seinen Namen erinnern. Ich warf einen Blick nach hinten auf die drei anderen Passagiere, alle in Anzug und Krawatte. Sie waren PR-Berater, die für Xymos arbeiteten. Von ihrem Äußeren konnte ich darauf schließen, wem welche Stimme gehörte. Ein schlanker, nervöser Mann, der die Hände rang. Dann ein Mann im mittleren Alter, mit einer Aktentasche quer über den Knien. Und der Dicke, älter und brummig, der offensichtlich der Chef war.

»Wieso haben die das Ding überhaupt in Nevada gebaut?«

»Weniger Vorschriften, laschere Überprüfungen. Kalifornien legt neuen Branchen heutzutage schwere Steine in den Weg. Es hätte ein Jahr Verzögerung gegeben allein schon wegen der Umweltschutzbestimmungen. Und das Genehmigungsverfahren ist um einiges schwieriger. Also sind sie hierher gegangen.«

Brummbär blickte zum Fenster hinaus auf die Wüste. »Was für ein gottverlassenes Loch«, sagte er. »Ist mir doch scheißegal, was hier draußen passiert, nicht mein Problem.« Er wandte sich an mich. »Was machen Sie?«

»Ich bin Computerprogrammierer.«

»Haben Sie Schweigepflicht?« Er wollte sich vergewissern, dass ich auch nichts von dem ausplaudern würde, was ich soeben gehört hatte.

»Ja«, sagte ich.

»Werden Sie im Fertigungswerk arbeiten?«

»Als Berater«, sagte ich. »Ja.«

»Beraten ist eine feine Sache«, stellte er fest und nickte, als wäre ich ein Verbündeter. »Keine Verantwortung. Keine Haftung. Man gibt einfach seine Meinung von sich und schaut zu, wie sich keiner drum schert.«

Mit einem Knistern meldete sich die Stimme des Piloten in den Headsets. »Xymos-Molekularproduktion liegt direkt vor uns«, sagte er. »Sie können die Anlage schon erkennen.«

Zwanzig Meilen vor uns sah ich eine einsame Ansammlung von niedrigen Gebäuden, die sich gegen den Horizont abhoben. Die PR-Leute auf den Rücksitzen beugten sich vor.

»Das ist alles?«, fragte Brummbär. »Mehr ist da nicht?«

»Es ist größer, als es von hier aussieht«, entgegnete der Pilot.

Als wir näher kamen, sah ich, dass die Häuser miteinander verbunden waren. Nichts sagende Betonklötze, alle weiß gestrichen. Die PR-Leute waren so erfreut, dass sie fast ap-plaudiert hätten. »He, das macht ja richtig was her.«

»Sieht aus wie ein verdammtes Krankenhaus.«

»Tolle Architektur.«

»Das gibt ein prima Foto.«?

Ich fragte: »Wieso gibt das ein prima Foto?«

»Weil es keine aufragenden Teile gibt«, erwiderte der Mann mit der Aktentasche. »Keine Antennen, keine Spitzen, nichts, was irgendwie absteht. Die Leute haben Angst vor Spitzen und Antennen. Darüber gibt's Untersuchungen. Aber ein Gebäude, das schlicht und gleichmäßig ist wie dieses da, und weiß -ausgezeichnete Farbwahl, man assoziiert jungfräulich, Krankenhaus, Heilung, Reinheit -, bei so einem Gebäude sind alle gleich beruhigt.«

»Diese Umweltschützer können jetzt schon einpacken«, sagte Brummbär mit Genugtuung. »Die führen hier doch medizinische Forschung durch, nicht wahr?«

»Eigentlich nein .«

»Werden sie aber, wenn ich hier fertig bin, glauben Sie mir. Medizinische Forschung, das ist in dem Fall die richtige Strategie.«

Der Pilot zeigte auf die verschiedenen Gebäude, während er sie umkreiste. »Der erste Betonblock da, das ist die Energieversorgung. Dort, der Weg zu dem niedrigen Haus, da ist der Wohntrakt. Daneben Produktionszubehör, Labors und so weiter. Und dann das quadratische, fensterlose, dreistöckige Gebäude, das ist die eigentliche Fertigungshalle. Ich hab gehört, das ist die Außenhülle, da drin ist noch ein Gebäude. Dann weiter rechts, der niedrige, flache Schuppen, das ist das externe Depot und eine Art offene Garage. Die Autos müssen hier im Schatten stehen, sonst verbiegen sich die Armaturenbretter. Man holt sich eine Verbrennung ersten Grades, wenn man das Lenkrad anfasst.«

Ich sagte: »Es gibt einen Wohnbereich?«

Der Pilot nickte. »Ja. Zwangsläufig. Das nächste Hotel ist hunderteinundsechzig Meilen entfernt. In der Nähe von Reno.«

»Wie viele Leute wohnen denn in der Anlage?«, wollte Brummbär wissen.

»Es gibt Platz für zwölf«, erwiderte der Pilot. »Aber im Schnitt sind fünf bis acht Mitarbeiter da. Man braucht nicht viele Leute. Läuft alles automatisch, nach dem, was ich gehört habe.«

»Was haben Sie denn sonst noch so gehört?«

»Nicht sehr viel«, sagte der Pilot. »Die sind hier alle ziemlich schweigsam, was die Anlage betrifft. Und drinnen bin ich noch nie gewesen.«

»Gut«, sagte Brummbär. »Sorgen wir dafür, dass es so bleibt.«

Der Pilot drehte am Steuerknüppel. Der Hubschrauber legte sich in die Kurve und setzte zur Landung an.

Ich öffnete die Plastiktür im kugelförmigen Cockpit und stieg aus. Es war, als hätte ich einen Ofen betreten. Die Hitze, die mir entgegenschlug, ließ mich aufkeuchen.

»Und das ist noch gar nichts!«, rief der Pilot über den Lärm der Rotorblätter hinweg. »Wir haben fast Winter! Kann nicht viel mehr als vierzig Grad sein!«

»Da bin ich aber froh«, sagte ich und atmete heiße Luft ein. Ich griff nach hinten, um meine Reisetasche und meinen Laptop zu nehmen, den ich unter dem Sitz des zaghaften Mannes verstaut hatte.

»Ich muss mal pinkeln«, sagte Brummbär und öffnete seinen Sicherheitsgurt.

»Dave . «, sagte der Mann mit der Aktentasche in einem warnenden Tonfall.

»Verdammt, bin doch gleich wieder da.«

»Dave ...«, ein verlegener Blick in meine Richtung. Dann mit gesenkter Stimme: »Die haben gesagt, wir sollen nicht aus dem Hubschrauber steigen, vergessen?«

»Ach, scheiß drauf. Ich halte keine Stunde mehr durch. Und überhaupt, was soll's?« Er deutete auf die Wüste drum herum. »Hier draußen ist doch nichts als eine Million Meilen Sand.«

»Aber Dave ...«

»Ihr nervt mich. Ich geh jetzt pinkeln, verdammt.« Er wuchtete seine Leibesfülle hoch und bewegte sich zur Tür.

Den Rest der Unterhaltung bekam ich nicht mehr mit, weil ich inzwischen meinen Kopfhörer abgenommen hatte. Brummbär kletterte raus. Ich nahm meine Taschen, drehte mich um und ging geduckt unter den Rotorblättern her. Sie warfen einen flackernden Schatten auf den Landeplatz. Am Rande des Platzes hörte der Beton abrupt auf, und es fing ein schmaler Pfad an, der sich zwischen Feigenkakteen hindurch zu dem klobigen, weißen Energiegebäude in fünfzig Metern Entfernung schlängelte. Es war niemand da, der mich erwartete -nirgendwo eine Menschenseele in Sicht.

Als ich einen Blick zurückwarf, sah ich, wie Brummbär sich gerade die Hose zumachte und wieder in den Hubschrauber stieg. Der Pilot zog die Tür zu und hob ab, winkte noch einmal, als er in die Luft stieg. Ich winkte zurück, duckte mich dann gegen den aufgewirbelten, beißenden Sand. Der Hubschrauber beschrieb einen Kreis und flog in westlicher Richtung davon. Das Dröhnen verklang.

Die Wüste war still bis auf das Summen der Stromleitungen einige hundert Meter entfernt. Der Wind zerrte an meinem Hemd, ließ meine Hosenbeine flattern. Ich drehte mich in einem langsamen Kreis, fragte mich, was ich machen sollte. Und dachte an die Worte des PR-Mannes: Die haben gesagt, wir sollen nicht aus dem Hubschrauber steigen, vergessen?

»He! He, Sie da!«

Ich drehte mich um. Eine Tür in dem weißen Energiegebäude hatte sich einen Spaltbreit geöffnet. Ein Mann streckte den Kopf hinaus. Er rief: »Sind Sie Jack Forman?«

»Ja«, erwiderte ich.

»Na, worauf warten Sie denn noch, eine schriftliche Einladung? Rein mit Ihnen, verdammt noch mal.«

Und er knallte die Tür wieder zu.

Das war meine Begrüßung in der Produktionsanlage von Xymos. Mit meinen Taschen beladen, stapfte ich den Pfad hinunter auf die Tür zu.

Es kommt immer anders, als man denkt.

Ich trat in einen kleinen Raum, mit dunkelgrauen Wänden auf drei Seiten. Die Wände waren aus einem glatten Material wie Resopal. Meine Augen brauchten einen Moment, um sich an die relative Dunkelheit zu gewöhnen. Dann sah ich, dass die vierte Wand direkt vor mir ganz aus Glas bestand und zu einer kleinen Kabine und einer zweiten Glaswand führte. Die Glaswände waren mit ausklappbaren Armen ausgestattet, Druckkissen aus Metall waren an den Enden angebracht. Es sah ein bisschen so aus, wie man sich einen Banktresor vorstellte.

Hinter der zweiten Glaswand konnte ich einen stämmigen Mann in blauer Hose und blauem Arbeitshemd sehen, das Xymos-Logo auf der Brusttasche. Er war zweifellos der Wartungsmonteur des Werkes. Er machte eine Geste in meine Richtung.

»Das ist eine Luftschleuse. Die Tür funktioniert automatisch. Treten Sie vor.«

Ich tat wie geheißen, und die erste Glastür öffnete sich zischend. Ein rotes Lämpchen ging an. In der Kabine vor mir sah ich einen Gitterrost auf dem Boden, an der Decke und an beiden Wänden. Ich zögerte.

»Sieht aus wie ein Toaster, nicht?«, sagte der Mann grinsend. Ihm fehlten ein paar Zähne. »Aber keine Angst, Sie werden bloß ein bisschen durchgepustet. Rein mit Ihnen.«

Ich trat in die Glaskabine und stellte meine Tasche auf den Boden.

»Nein, nein. Halten Sie die Tasche in der Hand.«

Ich hob sie wieder auf. Sogleich fiel zischend die Glastür hinter mir zu, die Stahlarme entfalteten sich sanft. Die Druckkissen schlossen sich mit einem Plopp. Ich hatte ein leicht unangenehmes Gefühl in den Ohren, als sich der Druck in der Luftschleuse erhöhte. Der Mann in Blau sagte: »Machen Sie besser die Augen zu.«

Ich schloss die Augen und spürte sogleich, wie mein Gesicht und der ganze Körper von allen Seiten mit etwas Kühlern angesprüht wurden. Meine Kleidung wurde durchtränkt. Es roch beißend nach Aceton oder Nagellackentferner. Mich fröstelte, die Flüssigkeit war richtig kalt.

Die Luft wurde zuerst von oben auf mich heruntergeblasen, ein Brausen, das rasch so laut wie ein Orkan wurde. Ich spannte die Muskeln an, um das Gleichgewicht zu halten. Meine Kleidung flatterte und wurde dann wieder platt an den Körper gepresst. Der Wind wurde stärker, drohte, mir die Tasche aus der Hand zu reißen. Er hörte kurz auf, und dann blies es vom Boden nach oben. Es war verwirrend, aber es dauerte nur ein paar Sekunden. Mit einem Wuuusch sprangen die Vakuumpumpen an, und ich spürte einen schwachen Schmerz in den Ohren, als der Druck fiel, wie bei der Landung eines Flugzeugs. Dann Stille.

Eine Stimme sagte: »Das war's. Treten Sie vor.«

Ich öffnete die Augen. Die Flüssigkeit, mit der sie mich besprüht hatten, war verdunstet; meine Kleidung war trocken. Die Türen vor mir gingen zischend auf. Ich trat aus der Kabine, und der Mann in Blau sah mich schmunzelnd an. »Alles in Ordnung?«

»Ja, ich glaube schon.«

»Kein Jucken?«

»Nein .«

»Gut. Ein paar Leute haben schon allergisch auf das Zeug reagiert. Aber wir müssen das machen, damit die Räume sauber bleiben.«

Ich nickte. Mit dieser Methode wurden offenbar Staub und andere Kontaminanten entfernt. Die Sprühflüssigkeit war extrem volatil, verdunstete bei Raumtemperatur und zog dabei Mikropartikel von Körper und Kleidung. Das Gebläse schloss den Reinigungsprozess dann ab; alle losen Partikel am Körper wurden weggepustet und abgesaugt.

»Ich bin Vince Reynolds«, sagte der Mann, jedoch ohne mir die Hand entgegenzustrecken. »Nennen Sie mich Vince. Und Sie sind Jack?«

Ich bejahte.

»Okay, Jack«, sagte er. »Die warten schon auf Sie, also gehen wir. Wir müssen einige Vorsichtsmaßnahmen treffen, weil wir hier in einem Bereich mit einem Hochfeldmagneten sind, über 33 Tesla, deshalb . « Er nahm einen Karton. »Nehmen Sie also besser die Uhr ab.«

Ich legte die Uhr in den Karton.

»Und den Gürtel.«

Ich schnallte den Gürtel ab, legte auch ihn hinein.

»Sonst irgendwelchen Schmuck? Armband? Halskette? Piercings? Schmucknadeln oder Orden? Medizinisches WarnArmband?«

»Nein.«

»Wie steht's mit Metall im Körper? Alte Verwundungen, Kugeln, Granatsplitter? Nein? Nägel von Arm- oder Beinbrüchen, künstliche Hüfte, künstliches Knie? Nein? Künstliche Herzklappen, künstlicher Meniskus, Gefäßpumpen oder Implantate?«

Ich sagte, ich hätte nichts dergleichen.

»Na, Sie sind ja auch noch jung«, sagte er. »Kommen wir zum Inhalt Ihrer Tasche.« Ich musste alles herausnehmen und auf dem Tisch ausbreiten, damit er es durchsehen konnte. Es gab jede Menge Metall: noch ein Gürtel mit Metallschnalle, eine Nagelschere, eine Dose Rasiercreme, Rasiermesser und Klingen, ein Taschenmesser, Blue Jeans mit Nieten .

Er nahm das Messer, die Jeans und den Gürtel weg und ließ den Rest liegen. »Sie können Ihre Sachen wieder einpacken«, sagte er. »Also, jetzt das Wichtigste. Sie dürfen mit Ihrer Tasche nur bis in den Wohntrakt, nicht weiter. Okay? An der Tür zum Wohntrakt ist eine Alarmanlage, die ausgelöst wird, sobald Sie mit Metall durchgehen. Aber tun Sie mir den Gefallen, lösen Sie den Alarm nicht aus, ja? Dann werden nämlich zur Sicherheit die Magnete automatisch abgeschaltet, und es dauert zwei Minuten, die wieder hochzufahren. Die Techniker sind dann immer stinksauer, erst recht, wenn gerade die Produktion läuft. Dann ist die ganze Arbeit im Eimer.«

Ich sagte, ich würde versuchen, daran zu denken.

»Der Rest von Ihrem Kram bleibt hier.« Er deutete mit einem Nicken auf die Wand hinter sich; ich sah etliche kleine Safes, alle mit einem elektronischen Tastenfeld. »Sie geben die Kombination ein und schließen es selbst ab.« Er wandte sich zur Seite, damit ich es machen konnte.

»Brauche ich keine Uhr?«

Er schüttelte den Kopf. »Sie kriegen eine von uns.«

»Und einen Gürtel?«

»Kriegen Sie auch von uns.«

»Und mein Laptop?«, sagte ich.

»Der kommt in den Safe«, erwiderte er. »Es sei denn, Sie wollen Ihre Festplatte mit dem Magnetfeld löschen.«

Ich verstaute den Laptop mit meinen übrigen Sachen im Safe und verschloss die Tür. Ich fühlte mich seltsam nackt, wie ein Mann, der eine Gefängnisstrafe antritt. »Wollen Sie nicht auch noch meine Schnürsenkel haben?«, sagte ich im Scherz.

»Nee. Die behalten Sie mal schön. Dann können Sie sich dran aufhängen, wenn Sie merken, dass es nötig ist.«

»Warum sollte das nötig werden?«

»Was weiß ich.« Vince zuckte die Achseln. »Aber die Typen, die hier arbeiten ... Ich sag Ihnen, die spinnen alle. Die fabrizieren diese winzig kleinen Sachen, die kein Mensch sehen kann, schieben Moleküle hin und her, setzen sie zusammen. Die Arbeit ist ganz schön stressig und kompliziert, und irgendwann drehen sie durch. Alle, wie sie da sind. Völlig bekloppt. Hier geht's lang.«

Wir mussten noch einmal durch zwei Glastüren hintereinander. Doch diesmal wurde ich nicht besprüht.

Wir betraten das Kraftwerk. Unter blauen Halogenlampen sah ich riesige, gut drei Meter hohe Metallbottiche und Isolatoren aus Keramik, so dick wie ein Männerbein. Alles summte. Ich spürte deutlich den Fußboden vibrieren. Überall hingen Schilder mit zackigen roten Blitzen und der Warnung: »Vorsicht Starkstrom! Lebensgefahr!«

»Ihr verbraucht hier aber viel Energie«, sagte ich.

»Würde für eine Kleinstadt reichen«, entgegnete Vince. Er deutete auf eines der Schilder. »Nehmen Sie die Warnungen da ernst. Wir hatten Probleme mit Feuer, vor einiger Zeit.«

»Ach ja?«

»Ja. Wir hatten ein Rattennest im Gebäude. Die Viecher sind ständig gegrillt worden. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich kann den Geruch von verbranntem Rattenfell nicht ab, Sie etwa?«

»Ich hatte nie das Vergnügen«, sagte ich.

»Riecht so, wie Sie es sich vorstellen.«

»Verstehe«, sagte ich. »Wie sind die Ratten reingekommen?«

»Durch die Kloschüssel.« Ich machte wohl ein verblüfftes Gesicht, denn Vince sagte: »Oh, wussten Sie das noch nicht? Das machen Ratten mit Vorliebe, ein bisschen schwimmen, und drin sind sie. Wenn man grad auf dem Klo sitzt, ist das natürlich eine unangenehme Überraschung.« Er lachte kurz auf. »Das Problem war, dass der Bauunternehmer die Sickergrube nicht tief genug ausgehoben hatte. Jedenfalls, die Ratten sind reingekommen. Wir hatten ein paar Unfälle dieser Art, seit ich hier bin.«

»Tatsächlich? Was denn für Unfälle?«

Er zuckte die Achseln. »Die haben versucht, die Gebäude hier perfekt zu machen. Weil sie mit so Minidingern arbeiten. Aber die Welt ist nun mal nicht perfekt, Jack. War sie noch nie. Wird sie nie sein.«

Ich fragte noch mal: »Was denn für Unfälle?«

Inzwischen waren wir an der hinteren Tür angelangt, die wieder ein Tastenfeld hatte, und Vince tippte rasch Zahlen ein. Die Tür wurde mit einem Klick entriegelt. »Alle Türen haben dieselbe Zahlenkombination. Null sechs, null vier, null zwei.«

Vince drückte die Tür weit auf, und wir traten in einen überdachten Gang, der das Kraftwerk mit den anderen Gebäuden verband. Es war brütend heiß hier drin, trotz der dröhnenden Klimaanlage.

»Das Gebläse ist nie richtig eingestellt«, erklärte Vince. »Wir haben die Wartungsfirma schon fünfmal kommen lassen, aber der Gang hier ist immer noch der reinste Ofen.«

Am Ende des Korridors war eine weitere Tür, und Vince ließ mich die Kombination eintippen. Die Tür ging mit einem Klick auf.

Wieder stand ich vor einer Luftschleuse: eine Wand aus dik-kem Glas, knapp einen Meter dahinter noch eine Wand. Und hinter der zweiten Wand sah ich Ricky Morse in Jeans und T-Shirt, der grinste und mir fröhlich zuwinkte.

Auf seinem T-Shirt stand: »Gehorcht mir, ich bin Root.«

Das war ein Insiderwitz. Im UNIT-Betriebssystem bedeutete Root so viel wie Boss.

Über eine Sprechanlage sagte Ricky: »Ab hier übernehme ich, Vince.«

Vince winkte. »Alles klar.«

»Haben Sie den Überdruck eingestellt?«

»Vor einer Stunde. Wieso?«!

»Könnte sein, dass er im Hauptlabor nicht reicht.«

»Ich überprüf das noch mal«, sagte Vince. »Vielleicht ist wieder irgendwo ein Leck.« Er klopfte mir auf den Rücken, zeigte mit seinem Daumen in Richtung des Gebäudeinneren. »Viel Glück da drin.« Dann drehte er sich um und ging den Weg zurück, den er gekommen war.

»Schön, dich zu sehen«, sagte Ricky. »Kennst du den Code, um reinzukommen?«

Ich bejahte. Er deutete auf ein Tastenfeld. Ich tippte die Ziffern ein. Die Glaswand glitt zur Seite. Ich trat wieder in einen schmalen, knapp einen Meter zwanzig breiten Raum, an allen vier Seiten Metallgitter. Die Wand schloss sich hinter mir.

Ein heftiger Windstoß schoss vom Boden hoch, blähte meine Hosenbeine auf, riss an meiner Kleidung. Gleich darauf kam Luft von beiden Seiten, dann von oben, blies mir auf Haare und Schultern. Mit einem Wuusch wurde die Luft abgesaugt. Die Scheibe vor mir glitt zur Seite. Ich strich mir die Haare glatt und trat hinaus.

»Tut mir Leid wegen der Unannehmlichkeiten.« Ricky schüttelte mir energisch die Hand. »Aber so müssen wir wenigstens keine Schutzanzüge tragen«, sagte er. Mir fiel auf, dass er kräftig aussah, gesund. Die Muskeln seiner Unterarme zeichneten sich deutlich ab.

Ich sagte: »Du siehst gut aus, Ricky. Machst du viel Sport?«

»Ach, na ja. Eigentlich nicht.«

»Nette Muskeln«, sagte ich. Ich boxte ihn gegen die Schulter.

Er grinste. »Bloß die Anspannung im Job. Hat Vince dir Angst eingejagt?«

»Nicht direkt .«

»Er ist ein bisschen merkwürdig«, sagte Ricky. »Vince ist in der Wüste aufgewachsen, allein bei seiner Mutter. Sie starb, als er fünf war. Der Körper war schon ziemlich verwest, als man sie schließlich fand. Der arme Junge, er hat einfach nicht gewusst, was er machen sollte. Ich schätze, ich wäre genauso merkwürdig geworden.« Obwohl Ricky unübersehbar körper-lich fit war, fiel mir jetzt auf, dass er nervös wirkte, gereizt. Er führte mich flott einen kurzen Gang hinunter. »Also, wie geht's Julia?«

»Hat sich den Arm gebrochen und böse den Kopf geprellt. Sie ist im Krankenhaus zur Beobachtung. Aber sie kommt bald wieder auf die Beine.«

»Gut. Das ist gut.« Er nickte schnell, ging weiter einen Korridor entlang. »Wer kümmert sich um die Kinder?«

Ich erzählte ihm, dass meine Schwester zu Besuch gekommen war.

»Dann kannst du eine Weile bleiben? Ein paar Tage?«

Ich sagte: »Klar. Wenn ihr mich so lange braucht.« Normalerweise halten sich Software-Berater nicht lange vor Ort auf. Einen Tag, vielleicht zwei. Länger nie.

Ricky warf mir einen Blick über die Schulter zu. »Hat Julia dir, ähm, erklärt, was hier läuft?«

»Eigentlich nicht, nein.«

»Aber du hast gewusst, dass sie ziemlich viel hier ist.«

Ich sagte: »Ja sicher. Klar.«

»In den letzten Wochen ist sie fast jeden Tag mit dem Hubschrauber hergekommen. Hat auch mal hier übernachtet.«

Ich sagte: »Ich wusste gar nicht, dass sie sich neuerdings so für die Produktion interessiert.«

Ricky schien einen Moment zu zögern. Dann sagte er: »Tja, Jack, was wir hier machen, ist wirklich etwas völlig Neues ...« Er runzelte die Stirn. »Sie hat dir wirklich nichts erzählt?«

»Nein. Wirklich nicht. Wieso?«

Er antwortete nicht.

Er öffnete die Tür am Ende des Ganges und winkte mich durch. »Das hier ist unser Wohnmodul, wo wir alle schlafen und essen.«

Nach dem Durchgang war die Luft hier kühl. Die Wände bestanden aus dem gleichen glatten Resopalmaterial. Ich hörte das leise, ununterbrochene Zischen des Gebläses. Von einem Flur gingen mehrere Türen ab. An einer stand mein Name, mit Filzstift auf ein Stück Klebeband geschrieben. Ricky öffnete die Tür. »Dein trautes Heim, Jack.«

Der Raum war spartanisch eingerichtet - ein kleines Bett, ein winziger Schreibtisch, auf den gerade mal ein PC-Monitor mit Tastatur passte. Über dem Bett ein Regal für Bücher und Kleidung. Alle Möbel waren mit einer glatten, weißen Plastikschicht überzogen. Es gab keine Nischen oder Ecken, wo sich irgendwelche Schmutzpartikel ablagern konnten. Es gab auch kein Fenster, aber ein Flüssigkristallbildschirm zeigte einen Blick auf die Wüste draußen.

Ricky sagte: »Stell dein Gepäck ab, und ich zeig dir alles.«

Noch immer mit flottem Schritt führte er mich in einen mittelgroßen Gemeinschaftsraum mit einem Sofa und Stühlen um einen Couchtisch und einem schwarzen Brett an der Wand. Alle Möbel hier hatten die gleiche, glatte Plastikbeschichtung. »Rechts ist die Küche und der Freizeitraum mit Fernseher, Videospielen und so weiter.«

Wir betraten die kleine Küche. Zwei Leute waren darin, ein Mann und eine Frau, die im Stehen ein Sandwich aßen. »Die beiden muss ich dir ja wohl nicht vorstellen«, sagte Ricky grinsend. Und er hatte Recht. Sie waren in meinem Team bei MediaTronics gewesen.

Rosie Castro war dunkel, dünn, exotisch und sarkastisch; sie trug weite Cargoshorts und ein T-Shirt, das sich über ihren großen Brüsten spannte und die Aufschrift trug: »Träum weiter.« Rosie war unabhängig und rebellisch, und sie hatte in Harvard über Shakespeare geforscht, bis sie zu dem Schluss kam, dass Shakespeare, wie sie es ausdrückte, »mausetot ist. Seit einer halben Ewigkeit. Es gibt nichts Neues mehr zu sagen. Also wozu das Ganze?« Sie wechselte zum Massachusetts Institute of Technology, wurde Schülerin von Robert Kim und entwickelte natürliche Programmiersprachen. Auch auf diesem Gebiet war sie hervorragend. Und inzwischen arbeiteten die ersten Programme, die mit natürlicher Sprache geschrieben werden, mit verteilter Verarbeitung. Man hatte nämlich festgestellt, dass Menschen einen Satz, noch während er gesprochen wird, gleichzeitig nach mehreren Kriterien beurteilen. Sie warten nicht, bis er beendet ist, sondern formen vorher schon Erwartungen über das Nachfolgende. Insofern bietet sich damit ein ideales Feld für verteilte Verarbeitung an, die ein Problem gleichzeitig an mehreren Punkten angehen kann.

Ich sagte: »Du trägst ja noch immer diese T-Shirts, Rosie.« Bei MediaTronics brachte ihre Art, sich zu kleiden, manchmal Probleme mit sich.

»He. Hält die Jungs wach«, sagte sie achselzuckend.

»Ehrlich gesagt, wir gucken gar nicht mehr hin.« Ich sah David Brooks an, steif, förmlich, immer wie aus dem Ei gepellt und mit achtundzwanzig fast kahlköpfig. Er blinzelte hinter dicken Brillengläsern. »So gut sind sie ohnehin nicht«, sagte er.

Rosie streckte ihm die Zunge raus.

David war Ingenieur, und er hatte die für viele Ingenieure typische schroffe Art und mangelnde Sensibilität im Umgang mit anderen. Außerdem steckte er voller Widersprüche. Einerseits war er, was seine Arbeit und sein Äußeres anging, hyperpenibel, andererseits fuhr er am Wochenende Motocross-Rennen und kam häufig völlig verdreckt zurück. Er schüttelte mir enthusiastisch die Hand. »Ich bin sehr froh, dass du da bist, Jack.«

Ich sagte: »Kann mir mal einer verraten, warum ihr alle so froh seid, mich zu sehen?«

Rosie sagte: »Na, weil du mehr von den Multi-Agenten-Algorithmen verstehst, die .«

»Ich führe ihn erst mal rum«, fiel Ricky ihr ins Wort. »Dann reden wir.«

»Wieso?«, sagte Rosie. »Soll es eine Überraschung werden?«

»Schöne Überraschung«, sagte David.

»Nein, absolut nicht«, erwiderte Ricky und blickte sie warnend an. »Ich möchte bloß, dass Jack vorher ein paar Hintergrundinformationen bekommt. Ich möchte ihm erst noch was erklären.«

David sah auf seine Uhr. »Und, wie lange wird das dauern? Weil, ich denke, wir haben noch .«

»Ich hab gesagt, ich will ihn vorher rumführen, verdammt noch mal!« Ricky fauchte fast. Ich war überrascht; ich hatte noch nie erlebt, dass er die Beherrschung verlor. Aber die anderen offenbar.

»Okay, okay, Ricky.«

»He, du bist der Boss, Ricky.«

»Ganz genau, ich bin der Boss«, sagte Ricky, noch sichtlich verärgert. »Und übrigens, eure Pause ist seit zehn Minuten zu Ende. Also zurück an die Arbeit.« Er warf einen Blick in den Spieleraum nebenan. »Wo sind die anderen?«

»Die reparieren die Außensensoren.«

»Soll das heißen, sie sind draußen?«

»Nein, nein. Sie sind im Technikraum. Bobby meint, mit der Kalibrierung der Sensoreinheiten stimmt was nicht.«

»Na toll. Hat jemand Vince Bescheid gesagt?«

»Nein. Es ist ein Software-Problem. Bobby kümmert sich drum.«

Plötzlich piepte mein Handy. Ich war überrascht, nahm es aus meiner Tasche. Ich wandte mich an die anderen. »Handys funktionieren hier?«

»Ja«, sagte Ricky, »wir haben hier Antennen.« Dann stritt er sich weiter mit David und Rosie.

Ich trat in den Korridor und rief die Mailbox an. Ich hatte nur eine Nachricht, und zwar vom Krankenhaus, wegen Julia. »Mr. Forman, es geht um Ihre Frau, bitte rufen Sie uns so bald wie möglich an . « Dann die Durchwahl von einem gewissen Dr. Rana. Ich wählte sie sofort.

Die Zentrale stellte mich durch. »Intensivstation.«

Ich bat darum, Dr. Rana zu sprechen, und wartete, bis er sich meldete. Ich sagte: »Hier spricht Jack Forman. Der Mann von Julia Forman.«

»Ah ja, Mr. Forman.« Eine angenehme, melodische Stimme. »Danke, dass Sie anrufen. Wie ich höre, haben Sie Ihre Frau gestern Abend ins Krankenhaus begleitet. Ja? Na, dann wissen Sie ja, wie ernst ihre Verletzungen sind, oder besser gesagt, ihre potenziellen Verletzungen. Wir halten genauere Untersuchungen für dringend erforderlich, um eine Nackenwirbelfraktur, subdurale Hämatome und einen möglichen Beckenbruch auszuschließen.«

»Ja«, sagte ich, »das hat man mir gestern Abend schon gesagt. Gibt es ein Problem?«

»Allerdings. Ihre Frau lehnt jede weitere Untersuchung ab.«

»Im Ernst?«

»Gestern Abend durften wir Röntgenaufnahmen machen und das gebrochene Handgelenk richten. Wir haben ihr erklärt, dass die Röntgenaufnahmen uns nur begrenzt Aufschluss über ihren Zustand geben können und dass wir unbedingt eine Kernspin-tomografie machen müssen, aber sie weigert sich.«

Ich sagte: »Warum?«

»Sie sagt, das sei nicht erforderlich.«

»Natürlich ist es erforderlich«, erwiderte ich.

»Ja, absolut, Mr. Forman«, sagte Rana. »Ich will Sie nicht beunruhigen, aber bei einer Beckenfraktur besteht die Gefahr starker Blutungen im Unterleib, sodass letztlich sogar, na ja, Verbluten droht. Das kann sehr schnell gehen und ...«

»Was soll ich tun?«

»Wir möchten, dass Sie mit ihr reden.«

»Selbstverständlich. Verbinden Sie mich mit ihr.«

»Leider wird sie im Augenblick wieder geröntgt. Können wir Sie telefonisch erreichen? Übers Handy? Alles klar. Noch was, Mr. Forman, wir konnten mit Ihrer Frau keine psychiatrische Anamnese machen .«

»Wieso nicht?«

»Sie weigert sich, darüber zu sprechen. Ich meine Drogen, irgendwelche Verhaltensstörungen in der Vergangenheit und dergleichen. Können Sie uns vielleicht ein wenig Aufschluss darüber geben?«

»Ich kann's versuchen ...«

»Ich will Sie nicht beunruhigen, aber Ihre Frau hat sich, na ja, ein wenig seltsam verhalten, irrational. Mitunter fast wie im Wahn.«

»Sie hatte in letzter Zeit viel Stress«, sagte ich.

»Ja, das trägt sicherlich mit dazu bei«, sagte Dr. Rana beschwichtigend. »Und sie hat eine schwere Kopfverletzung, die wir näher untersuchen müssen. Ich will Sie nicht beunruhigen, aber offen gesagt, meine Kollegin von der Psychiatrie ist zu der Ansicht gelangt, dass Ihre Frau manisch-depressiv ist oder an einer drogenbedingten Störung leidet oder an beidem.«

»Verstehe .«

»Und bei einem Verkehrsunfall ohne fremdes Einwirken drängen sich solche Fragen natürlich auf .«

Damit meinte er, dass der Unfall ein Selbstmordversuch gewesen sein könnte. Ich hielt das für unwahrscheinlich. »Mir ist nicht bekannt, dass meine Frau Drogen nimmt«, sagte ich. »Aber ich bin auch, ähm, seit ein paar Wochen besorgt wegen ihres Verhaltens.«

Ricky kam zu mir und stellte sich ungeduldig neben mich. Ich legte eine Hand auf die Sprechmuschel. »Es geht um Julia.« Er nickte und sah auf seine Uhr. Zog die Augenbrauen hoch. Ich fand es ziemlich seltsam, dass er mich drängte, obwohl ich doch mit dem Krankenhaus über meine Frau sprach - seine unmittelbare Vorgesetzte.

Der Arzt schwafelte noch eine Weile, und ich beantwortete seine Fragen, so gut ich konnte, aber im Grunde konnte ich ihm nicht weiterhelfen. Er sagte, er werde Julia ausrichten, dass sie mich anrufen solle, sobald sie zurück sei, und ich sagte, ich würde auf ihren Anruf warten. Ich klappte das Handy zu.

Ricky sagte: »Okay, los geht's. Tut mir Leid, dass ich so dränge, Jack, aber ... ich muss dir nun mal allerhand zeigen.«

»Gibt es ein Zeitproblem?«, fragte ich.

»Ich weiß nicht. Vielleicht.«

Ich wollte nachfragen, was er damit meinte, doch er ging bereits voraus, mit schnellem Schritt. Wir verließen den Wohnbereich durch eine weitere Glastür und gingen dann noch einen Korridor hinunter.

Dieser Gang, so fiel mir auf, war hermetisch abgedichtet. Wir schritten über einen gläsernen Laufsteg, der über dem Boden schwebte. Das Glas hatte kleine Löcher, und darunter befand sich eine Reihe von Vakuumleitungen zum Absaugen. Langsam gewöhnte ich mich an das ständige Zischen des Gebläses.

In der Mitte des Korridors waren wieder zwei Glastüren. Wir mussten einzeln durch sie hindurchgehen. Sie teilten sich, als wir sie durchschritten, und schlossen sich hinter uns. Als wir unseren Weg fortsetzten, hatte ich erneut das starke Gefühl, in einem Gefängnis zu sein, ein Gittertor folgte dem nächsten, es ging immer tiefer in etwas hinein.

Um mich herum war zwar alles Hightech und glänzende Glaswände - aber es war trotzdem ein Gefängnis.

6. Tag, 8.12 Uhr

Wir gelangten in einen großen Raum mit der Aufschrift »technik« und darunter stand »MolMat/FabMat/NährMat«. Wände und Decke waren mit dem üblichen glatten Plastik bedeckt. Große beschichtete Container stapelten sich auf dem Boden. Rechts sah ich eine Reihe wuchtiger Stahlkessel, die in den Boden eingelassen und von einem wahren Labyrinth aus Rohren und Ventilen umgeben waren, die wiederum hochragten. Es sah aus wie eine Mikrobrauerei, und ich wollte Ricky schon danach fragen, als er sagte: »Also hier seid ihr. Ich hab euch schon gesucht.«

An einem Klemmkasten unter einem Monitorbildschirm sah ich drei weitere Leute aus meinem damaligen Team. Sie blickten ein wenig schuldbewusst, als wir näher kamen, wie Kinder, die beim Kekseklauen erwischt wurden. Natürlich war Bobby Lembeck ihr Anführer. Mit fünfunddreißig überwachte Bobby mittlerweile mehr Codes, als er schrieb, aber er konnte sie nach wie vor schreiben, wenn er wollte. Wie immer trug er eine verwaschene Jeans und ein Ghost-in-the-Shell-T-Shirt, und seinen allgegenwärtigen Walkman hatte er am Hosenbund festgemacht.

Dann war da Mae Chang, wunderschön und zart, ein Gegensatz zu Rosie Castro, wie er stärker nicht sein könnte. Mae hatte als Biologin in Sichuan Feldstudien über Stumpfnasenaffen betrieben, ehe sie sich mit Mitte zwanzig dem Programmieren zuwandte. Durch ihre Forschungen in der Natur und aufgrund ihrer natürlichen Veranlagung schien sie fast geräuschlos. Mae sagte nur sehr wenig, bewegte sich kaum hörbar und hob nie die Stimme - allerdings verlor sie auch niemals ein Streitgespräch. Wie viele Feldbiologen hatte sie die unheimliche Fähigkeit entwickelt, mit ihrer Umwelt zu ver-schmelzen, unauffällig, fast unsichtbar zu werden.

Und schließlich Charley Davenport, mürrisch, zerknautscht und schon mit dreißig übergewichtig. Er war langsam und schwerfällig und sah aus, als hätte er in seinen Klamotten geschlafen, was er tatsächlich nach Marathonprogrammiersitzungen häufig tat. Charley hatte unter John Holland in Chicago gearbeitet und unter Doyne Farmer in Los Alamos. Er war Experte für genetische Algorithmen, für Programme, die die natürliche Selektion simulierten, um Antworten zu präzisieren. Doch er war eine Nervensäge - er summte, schnaufte, er redete mit sich selbst und furzte mit hemmungsloser Lautstärke. Die Gruppe ertrug ihn nur, weil er so talentiert war.

»Sind dafür wirklich drei Leute nötig?«, fragte Ricky, nachdem ich allen die Hand gegeben hatte.

»Ja«, sagte Bobby, »dafür sind drei Leute nötig, El Rooto, weil es kompliziert ist.«

»Wieso? Und nenn mich nicht El Rooto.«

»Zu Befehl, Mr. Root.«

»Nun red schon .«

»Also«, sagte Bobby, »nach der Episode heute Morgen hab ich als Erstes die Sensoren überprüft, und mir scheint, dass sie falsch kalibriert sind. Da aber keiner nach draußen geht, ist die Frage, ob wir sie falsch ablesen oder ob die Sensoren selbst defekt sind oder ob die Anzeige hier an der Anlage falsch ist. Mae kennt die Sensoren, sie hat sie in China benutzt. Ich nehme gerade eine Code-Überprüfung vor. Und Charley ist hier, weil er nicht gehen und uns in Ruhe lassen will.«

»Mann, ich hab weiß Gott was Besseres zu tun«, sagte Char-ley. »Aber ich hab den Algorithmus geschrieben, der die Sensoren steuert, und wir müssen den Sensorcode optimieren, sobald die beiden fertig sind. Ich warte nur, bis sie aufhören herumzufummeln. Dann optimiere ich.« Er blickte Bobby scharf an. »Keiner von den beiden hat auch nur einen Schimmer vom Optimieren.«

Mae sagte: »Bobby schon.«

»Klar, wenn man ihm sechs Monate Zeit gibt, vielleicht.«

»Kinder, Kinder«, sagte Ricky. »Wir wollen doch vor unserem Gast keine Szene machen.«

Ich lächelte höflich. In Wahrheit hatte ich gar nicht darauf geachtet, was sie sagten. Ich beobachtete sie bloß. Das waren drei meiner besten Programmierer - und als sie für mich arbeiteten, waren sie so selbstbewusst gewesen, dass es schon fast an Arroganz grenzte. Aber jetzt fiel mir auf, wie nervös die Gruppe war. Sie waren alle gereizt, zänkisch, schreckhaft. Und im Nachhinein erkannte ich, dass auch Rosie und David nervös gewesen waren.

Charley fing auf seine nervige Art an zu summen.

»Oh, nein«, sagte Bobby Lembeck. »Würdest du ihm bitte sagen, er soll damit aufhören?«

Ricky sagte: »Charley, wir haben doch über deine Summerei gesprochen.«

Charley summte weiter.

»Charley ...«

Charley stieß einen langen, theatralischen Seufzer aus. Er hörte auf zu summen.

»Verbindlichsten Dank«, sagte Bobby.

Charley verdrehte die Augen und sah zur Decke.

»Also schön«, sagte Ricky. »Seht zu, dass ihr hier fertig werdet, und dann geht zurück auf eure Posten.«

»Alles klar.«

»Ich möchte, dass jeder so schnell wie möglich wieder da ist, wo er hingehört.«

»In Ordnung«, sagte Bobby.

»Ich meine es ernst. Auf eure Posten.«

»Herrgott noch mal, Ricky, wir haben verstanden. Hältst du jetzt bitte den Mund und lässt uns wieder arbeiten?«

Wir gingen weiter, und Ricky brachte mich zu einem kleinen Raum am anderen Ende des Korridors. Ich sagte: »Ricky, die drei haben sich aber ganz schön verändert, seit sie für mich gearbeitet haben.«

»Ich weiß. Bei uns liegen im Augenblick die Nerven blank.«

»Und weshalb?«

»Wegen dem, was hier los ist.«

»Und was ist hier los?«

Er blieb vor einem Büro auf der anderen Seite des Raumes stehen. »Julia konnte es dir nicht sagen, weil es geheim ist.« Er öffnete die Tür mit einer Schlüsselkarte.

Ich sagte: »Geheim? Medizinische Aufnahmen sind geheim?«

Der Türriegel öffnete sich klickend, und wir gingen hinein. Die Tür schloss sich hinter uns. Ich sah einen Tisch, zwei Stühle, einen Computermonitor und eine Tastatur. Ricky setzte sich und fing augenblicklich an zu tippen.

»Das Projekt mit den medizinischen Aufnahmen war bloß ein nachträglicher Einfall«, sagte er, »eine kleinere kommerzielle Anwendung der Technologie, an deren Entwicklung wir arbeiten.«

»Aha. Und die wäre?«

»Eine militärische.«

»Xymos arbeitet fürs Militär?«

»Ja. Vertraglich abgesegnet.« Er hielt inne. »Vor zwei Jahren hat das Verteidigungsministerium durch die Erfahrung in Bosnien den enormen Wert von Roboterfluggeräten erkannt, die über Schlachtfelder fliegen und Bilder in Echtzeit übermitteln können. Das Pentagon wusste, dass es in zukünftigen Kriegen immer komplexere Einsatzmöglichkeiten für diese fliegenden Kameras geben würde. Man konnte mit ihnen die Standorte feindlicher Truppen ausfindig machen, sogar wenn sie im Dschungel oder in Gebäuden versteckt waren; man konnte lasergelenkte Raketen damit steuern oder den Standort befreundeter Truppen bestimmen und so weiter. Kommandeure auf dem Boden konnten die Bilder, die sie brauchten, in den gewünschten Spektren aufrufen - normal, infrarot, UV, egal was. Echtzeitaufnahmen werden ein ungemein wirkungsvolles Instrument bei der zukünftigen Kriegsführung werden.«

»Okay ...«

»Aber«, sagte Ricky, »diese Roboterkameras waren offenbar anfällig. Man konnte sie wie Tauben abschießen. Das Pentagon wollte eine Kamera, die man nicht abschießen konnte. Sie hatten sich etwas sehr Kleines vorgestellt, vielleicht von der Größe einer Libelle - ein Ziel, das zu klein war, um getroffen werden zu können. Doch problematisch waren die Energieversorgung, die kleinen Steuerflächen und die Auflösung bei so kleinen Linsen. Sie brauchten größere Linsen.«

Ich nickte. »Und da seid ihr auf einen Schwarm von Nano-komponenten gekommen.«

»Ganz genau.« Ricky deutete auf den Bildschirm, wo ein Schwarm schwarzer Punkte in der Luft kreiste und tanzte, wie Vögel. »Mit einer Komponentenwolke könnte man eine Kamera mit einer beliebig großen Linse bauen. Die kann man dann nicht abschießen, weil eine Kugel einfach durch die Wolke hindurchgeht. Außerdem könnte man die Wolke zerstreuen, so wie sich ein Vogelschwarm nach einem Schuss zerstreut. Dann wäre die Kamera unsichtbar, bis sie sich neu formiert. Die Lösung schien einfach ideal. Das Pentagon hat uns die Finanzierung der Entwicklung für drei Jahre garantiert.«

»Und?«

»Wir haben angefangen, die Kamera zu bauen. Und gleich von Anfang an wurde klar, dass wir Probleme mit der verteilten Intelligenz haben.«

Ich kannte das Problem. Die Nanopartikel in der Wolke mussten mit rudimentärer Intelligenz ausgestattet werden, damit sie interagieren konnten, um einen Schwarm zu bilden, der sich in der Luft bewegte. Derart koordiniertes Handeln mochte ja einigermaßen intelligent scheinen, doch es erfolgte auch dann, wenn die Individuen, aus denen der Schwarm bestand, ziemlich dumm waren. Schließlich konnten Vögel und Fische das auch, und die zählten nicht gerade zu den hellsten Geschöpfen auf Erden.

Die meisten Menschen, die einen Vogel- oder einen Fisch-schwarm beobachteten, gingen davon aus, dass es einen Anführer gab, dem die Übrigen folgten. Der Grund für die Annahme war der, dass Menschengruppen, wie die meisten sozialen Säugetiere, so strukturiert waren.

Aber Vögel und Fische hatten keine Anführer. Ihre Gruppen waren anders organisiert. Wissenschaftliche Untersuchungen über Schwarmverhalten - mit einer Bild-für-Bild-Videoanalyse - erbrachten den Nachweis, dass es keinen Anführer gab. Vögel und Fische reagierten auf einige einfache Stimuli untereinander, und das Ergebnis war koordiniertes Verhalten. Aber niemand steuerte es. Niemand führte es an. Niemand dirigierte es.

Ebenso wenig waren einzelne Vögel für Schwarmverhalten genetisch programmiert. Das Schwarmbilden war ihnen nicht fest eingeimpft. Es gab nichts im Vogelgehirn, was sagte: »Wenn das und das passiert, bilde einen Schwarm.« Im Gegenteil, das Schwarmbilden ergab sich innerhalb der Gruppe einfach aufgrund viel simplerer, primitiverer Regeln. Regeln wie: »Bleib möglichst nah bei den Vögeln, die dir am nächsten sind, aber stoß nicht mit ihnen zusammen.« Aufgrund solcher Regeln bildete die ganze Gruppe in fließender Koordination einen Schwarm.

Weil Schwarmbilden aus solchen einfachen Regeln resultierte, wurde es emergentes Verhalten genannt. Es war demnach ein Verhalten, das innerhalb einer Gruppe auftrat, aber nicht in die einzelnen Mitglieder der Gruppe einprogrammiert war. Es konnte in jeder Population auftreten, auch in einer ComputerPopulation. Oder in einer Roboter-Population. Oder in einem Nanoschwarm.

Ich sagte zu Ricky: »Euer Problem war emergentes Verhalten im Schwarm?«

»Genau.«

»Es war nicht vorhersehbar?«

»Gelinde gesagt.«

In den vergangenen Jahrzehnten hatte die Idee des emergen-ten Verhaltens in der Informatik eine kleine Revolution ausgelöst. Für Programmierer bedeutete sie nämlich, dass man für einzelne Agenten Verhaltensregeln festlegen konnte, nicht aber für die Agenten als Gruppe.

Einzelne Agenten - ob nun Programm-Module oder Prozessoren oder, wie in diesem Fall, richtige Mikroroboter - konnten so programmiert werden, dass sie unter bestimmten Umständen kooperierten und unter anderen konkurrierten. Man konnte ihnen Ziele einimpfen. Sie konnten angewiesen werden, diese rücksichtslos zu verfolgen oder gegebenenfalls anderen Agenten zu helfen. Doch das Ergebnis dieser Interaktionen ließ sich nicht programmieren. Es emergierte einfach, häufig mit überraschenden Folgen.

In gewisser Weise war das Ganze ungemein spannend; zum ersten Mal konnte ein Programm Ergebnisse erzielen, die der Programmierer absolut nicht vorhersagen konnte. Die Programme verhielten sich eher wie lebende Organismen denn wie von Menschen geschaffene Roboter. Das fanden Programmierer aufregend - aber es frustrierte sie auch.

Das emergente Verhalten des Programms war nämlich regellos. Manchmal bekämpften sich konkurrierende Agenten so heftig, dass gar nichts mehr lief und das Programm nichts zu Stande brachte. Manchmal beeinflussten sich Agenten gegenseitig so stark, dass sie ihr Ziel aus den Augen verloren und stattdessen irgendetwas anderes taten. In dieser Hinsicht war das Programm ausgesprochen kindlich - unberechenbar und leicht abzulenken. Wie es einmal ein Programmierer ausdrückte: »Verteilte Intelligenz zu entwickeln ist genauso, als würde man einem fünfjährigen Kind sagen, es soll in sein Zimmer gehen und sich umziehen. Es kann sein, dass das Kind sich tatsächlich umzieht, es kann aber genauso gut sein, dass es etwas anderes macht und nicht wiederkommt.«

Weil diese Programme sich lebensecht verhielten, fingen Programmierer an, Parallelen zum Verhalten realer Organismen in der realen Welt zu ziehen. Sie bildeten sogar das Verhalten von tatsächlichen Organismen nach, um so eine gewisse Kontrolle über die Resultate zu erlangen.

So kam es, dass Programmierer auf einmal Ameisenkolonien und Termitenhügel und den Bienentanz studierten, um Programme für die Steuerung von Flugzeuglandeplänen oder die Paketbeförderung oder das Übersetzen von Sprachen zu schreiben. Diese Programme funktionierten oft wunderbar, aber sie konnten sich dennoch verrennen, vor allem, wenn sich die Umstände drastisch veränderten. Dann verloren sie ihre Ziele.

Aus diesem Grund begann ich vor fünf Jahren mit der Simulation von Räuber-Beute-Beziehungen, um Ziele zu fixieren. Hungrige Räuber ließen sich nämlich nicht ablenken. Es konnte sein, dass sie durch die Umstände gezwungen wurden, ihre Methoden abzuwandeln, und dass bis zum Erfolg viele Versuche erforderlich waren - aber sie verloren ihr Ziel nicht aus den Augen.

So wurde ich Experte für Räuber-Beute-Beziehungen. Ich kannte mich aus mit Rudeln von Hyänen, afrikanischen Jagdhunden, sich anpirschenden Löwinnen und angreifenden Kolonnen von Wanderameisen. Mein Team hatte die Fachliteratur der Feldbiologie gelesen, wir hatten die Erkenntnisse verallgemeinert und in ein Programm-Modul namens predprey eingebaut, das Agentensysteme steuern und deren Verhalten auf ein Ziel lenken konnte. Es konnte das Programm dazu bringen, ein Ziel zu suchen.

Als ich jetzt auf Rickys Bildschirm sah, wie die koordinierten Einheiten sich fließend bewegten, während sie durch die Luft kreisten, sagte ich: »Ihr habt predprey eingesetzt, um eure individuellen Einheiten zu programmieren?«

»Genau. Wir haben diese Regeln verwendet.«

»Tja, das Verhalten macht auf mich einen ganz guten Eindruck«, sagte ich mit Blick auf den Bildschirm. »Wieso gibt es ein Problem?«

»Wir wissen es nicht genau.«

»Was heißt das?«

»Das heißt, wir wissen, dass es ein Problem gibt, aber wir wissen nicht genau, was die Ursache dafür ist. Ob es ein Programmproblem ist - oder was anderes.«

»Was anderes? Was denn zum Beispiel?« Ich runzelte die Stirn. »Ich kann dir nicht ganz folgen, Ricky. Das da ist bloß ein Schwarm Nanoroboter. Die machen doch genau das, was ihr wollt. Wenn die Programmierung nicht stimmt, dann ändert ihr sie eben. Oder verstehe ich da was nicht?«

Ricky sah mich bedrückt an. Er schob seinen Stuhl vom Schreibtisch weg und stand auf. »Ich zeig dir, wie wir die Agenten herstellen«, sagte er. »Dann verstehst du die Situation besser.«

Da ich Julias Präsentation auf Band gesehen hatte, war ich ungemein neugierig auf das, was er mir als Nächstes zeigen würde. Viele Leute, die ich sehr ernst nahm, hielten nämlich molekulare Herstellung für unmöglich. Einer der stärksten theoretischen Einwände war die Zeit, die es dauern würde, ein funktionierendes Molekül zu bauen. Damit es überhaupt möglich war, musste das Fließband, das die Nanoteilchen herstellte, bedeutend effizienter sein als alles, was die mensch-liche Produktion bisher gekannt hatte. Im Grunde liefen alle vom Menschen geschaffenen Fließbänder in etwa mit der gleichen Geschwindigkeit: Sie konnten ein Teil pro Sekunde hinzufügen. Ein Auto zum Beispiel bestand aus ein paar Tausend Teilen. Und man konnte ein Auto in wenigen Stunden zusammenbauen. Ein Passagierflugzeug hatte sechs Millionen Teile, und es dauerte mehrere Monate, bis es fertig war. Doch ein hergestelltes Molekül bestand im Durchschnitt aus 1025 Teilen. Das waren 10 000 000 000 000 000 000 000 000 Teile. Eine unvorstellbar große Zahl. Das menschliche Gehirn konnte sie nicht erfassen. Berechnungen hatten jedoch ergeben, dass es, selbst wenn man pro Sekunde eine Million Teile zusammenbauen könnte, immer noch dreitausend Billionen Jahre dauern würde - länger als das bekannte Alter des Universums -, um ein einziges Molekül fertig zu stellen. Und das war ein Problem. Es war bekannt als das Bau-Zeit-Problem.

Ich sagte zu Ricky: »Wenn ihr industriell produziert ...«

»Tun wir.«

»Dann müsst ihr das Bau-Zeit-Problem gelöst haben.«

»Haben wir.«

»Wie?«

»Wart's ab.«

Die meisten Wissenschaftler sahen die Lösung des Problems darin, mit größeren Untereinheiten zu bauen, also mit Molekularfragmenten, die aus Milliarden Atomen bestanden. Dadurch würde sich die Montagezeit auf zwei Jahre reduzieren. Dann, mit teilweiser Selbstmontage, könnte man die erforderliche Zeit auf einige Stunden runterdrücken, vielleicht sogar auf nur eine Stunde. Doch selbst mit weiteren Verbesserungen blieb es eine große theoretische Herausforderung, Produkte in großen Mengen zu erzeugen. Das Ziel bestand nämlich nicht darin, ein einziges Molekül in einer Stunde zu produzieren. Das Ziel bestand darin, mehrere Pfund Moleküle in einer Stunde herzustellen.

Niemand hatte bisher einen Weg gefunden, das möglich zu machen.

Wir kamen an einigen Labors vorbei, darunter eins, das aussah wie ein herkömmliches Mikrobiologielabor. Ich sah Mae darin herumwerkeln. Ich fragte Ricky, warum er hier ein mikrobiologisches Labor habe, doch er ging nicht auf meine Frage ein. Er war jetzt ungeduldig, in Eile. Ich sah, wie er verstohlen auf seine Uhr schaute. Direkt vor uns war eine letzte gläserne Luftschleuse. Auf der Glastür stand: »mikroproduktion«. Ricky winkte mich hinein. »Immer nur einzeln«, sagte er. »Mehr lässt das System nicht zu.«

Ich ging hinein. Die Türen schlossen sich zischend hinter mir, die Druckkissen rasteten ein. Wieder kam Wind: von unten, von den Seiten, von oben. Aber inzwischen war ich daran gewöhnt. Die zweite Tür öffnete sich, und ich ging wieder einen kurzen Korridor hinunter, der in einen großen Raum dahinter führte. Ich sah strahlend helles, weißes Licht -so hell, dass mir die Augen wehtaten.

Ricky kam mir nach, redete, während wir weitergingen, aber ich weiß nicht mehr, was er sagte. Ich konnte mich nicht auf seine Worte konzentrieren. Ich starrte bloß. Denn jetzt war ich in der Hauptmontagehalle - ein gewaltiger, fensterloser Raum, wie ein riesiger, drei Stockwerke hoher Hangar. Und in diesem Hangar befand sich ein ungeheuer komplexes Gebilde, das in der Luft zu hängen schien und wie ein Edelstein funkelte.

6. Tag, 9.12 Uhr

Zuerst begriff ich gar nicht, was ich da vor mir hatte - es sah aus wie ein riesiger, glühender Krake, der sich über mir erhob, mit glitzernden, geschliffenen Armen, die sich in alle Richtungen ausstreckten und vielfältige Spiegelungen und Farbbänder auf die Wände warfen. Doch dieser Krake hatte gleich mehrere Armschichten. Eine Schicht war weit unten, knapp dreißig Zentimeter über dem Boden. Eine zweite befand sich in Brusthöhe; die dritte und die vierte Schicht waren höher, über meinem Kopf. Und sie alle glühten, funkelten hell.

Ich blinzelte, war geblendet. Langsam erkannte ich die Einzelheiten. Der Krake befand sich in einer unregelmäßigen, dreigeschossigen Rahmenkonstruktion, die gänzlich aus modularen Glaswürfeln bestand. Böden, Wände, Decken, Treppenaufgänge - alles aus Würfeln. Doch es wirkte alles willkürlich, als hätte jemand einen Berg riesiger, transparenter Zuckerwürfel mitten im Raum abgeladen. Innerhalb dieser Anhäufung von Würfeln schlängelten sich die Arme des Kraken in alle Richtungen. Das Ganze wurde von einem Netz eloxierter Streben und Verbindungsstücke gestützt, aber sie waren wegen der Spiegelungen kaum zu erkennen, es sah deshalb aus, als würde der Krake in der Luft hängen.

Ricky grinste. »Konvergente Montage. Die Architektur ist fraktal. Nicht schlecht, was?«

Ich nickte langsam. Allmählich realisierte ich mehr Details. Was ich als Krake gesehen hatte, war in Wahrheit eine sich verästelnde Baumstruktur. Eine zentrale viereckige Leitung ragte mitten im Raum auf, und von allen Seiten zweigten kleinere Rohre ab. Von diesen »Ästen« gingen wiederum noch kleinere Rohre weg und davon noch kleinere. Die kleinsten waren bleistiftdünn. Alles glänzte, als wäre es verspiegelt.

»Warum ist es so hell?«

»Das Glas hat eine Diamantbeschichtung«, sagte er. »Auf der molekularen Ebene ist Glas wie Schweizer Käse, voller Löcher. Und natürlich ist es flüssig, die Atome gehen einfach durch.«

»Also beschichtet ihr das Glas.«

»Genau. Geht nicht anders.«

In diesem strahlenden Wald aus Glaszweigen bewegten sich David und Rosie, machten Notizen, stellten Ventile ein, schauten auf ihre Handhelds. Ich begriff, dass ich ein höchst parallel arbeitendes Fließband vor Augen hatte. Kleine Molekülfragmente wurden in die kleinsten Rohre eingeführt und Atome hinzugefügt. Wenn das erledigt war, ging es weiter in die nächstgrößeren Rohre, wo noch mehr Atome beigegeben wurden. Auf diese Weise bewegten sich Moleküle nach und nach zum Zentrum des Gebildes, bis die Montage fertig war, und das Endprodukt wurde in das Rohr in der Mitte ausgestoßen.

»Ganz genau«, sagte Ricky. »Es funktioniert nach dem gleichen Prinzip wie ein Fließband in der Automobilherstellung, nur eben in molekularer Größenordnung. Die Moleküle fangen an den Seiten an und werden mit dem Band zur Mitte befördert. Wir fügen hier eine Proteinsequenz, da eine Methylgruppe hinzu, genau wie Türen und Räder an ein Auto montiert werden. Am Ende rollt eine neue, maßgefertigte Molekülstruktur vom Band. Genau wie wir sie haben wollen.«

»Und die verschiedenen Arme?«

»Bauen verschiedene Moleküle. Deshalb sehen sie auch unterschiedlich aus.« An mehreren Stellen reichten die Krakenarme durch einen Stahltunnel, der mit dicken Bolzen verstärkt war, zur Ableitung des Unterdrucks. An anderen Stellen war ein Würfel mit mehrschichtigem Silbermaterial isoliert, und in der Nähe sah ich Tanks mit Flüssignitrogen; in dem Abschnitt wurden extrem niedrige Temperaturen erzeugt.

»Das sind unsere Kryogenikräume«, sagte Ricky. »Wir gehen nicht sehr niedrig, bis höchstens minus siebzig Grad etwa. Komm, ich zeig's dir.« Er führte mich durch den Komplex, über gläserne Laufstege, die sich zwischen diesen Ästen hindurchwanden. An manchen Stellen führten kurze Treppen über die untersten Äste.

Ricky plapperte ununterbrochen über technische Details: vakuumumhüllte Schläuche, Metallphasentrenner, KugelRückschlagventile. Als wir den isolierten Würfel erreichten, öffnete er die dicke Tür, und zum Vorschein kam ein kleiner Raum, an den ein zweiter Raum grenzte. Sie sahen aus wie zwei Kühlräume für Fleisch. Jede Tür hatte ein kleines Glasfenster. Im Augenblick herrschte Raumtemperatur. »Man kann hier gleichzeitig zwei verschiedene Temperaturen erzeugen. Einen Raum vom anderen aus steuern, wenn man will, aber normalerweise läuft alles automatisch.«

Ricky führte mich wieder nach draußen und blickte dabei auf die Uhr. Ich sagte: »Haben wir noch einen Termin?«

»Was? Nein, nein. Nichts dergleichen.« Ganz in der Nähe waren zwei Würfel, bei denen es sich eigentlich um wuchtige Metallräume handelte, in die dicke Elektrokabel liefen. Ich sagte: »Sind das eure Magneträume?«

»Richtig«, sagte Ricky. »Wir haben Pulsfeldmagnete, die im Kern sechzig Tesla erzeugen. Das ist etwa eine Million Mal so viel wie das Magnetfeld der Erde.«

Mit einem Ächzen drückte er die Stahltür des ersten Magnetraumes auf. Ich sah ein großes donutförmiges Objekt von gut einem Meter achtzig Durchmesser, mit einem zweieinhalb Zentimeter breiten Loch in der Mitte. Dieser »Donut« war völlig mit Rohrleitungen und einer Kunststoffisolierung umhüllt. Die Ummantelung war von oben bis unten mit dicken Stahlschrauben befestigt.

»Unser Schätzchen hier braucht jede Menge Kühlung, das kann ich dir sagen. Und jede Menge Strom: fünfzehn Kilovolt.

Die Ladezeit der Kondensatoren beträgt eine volle Minute. Und natürlich können wir ihn nur takten. Wenn wir ihn auf Dauer anmachen würden, würde er explodieren - von dem Feld in Stücke gerissen, das er erzeugt.« Er deutete auf den unteren Teil des Magneten, wo in Kniehöhe ein runder Druckknopf war. »Das ist die Notabschaltung«, sagte er. »Für alle Fälle. Mit dem Knie draufdrücken, wenn du die Hände voll hast.«

Ich sagte: »Ihr verwendet also hohe Magnetfelder für einen Teil eurer Fertig«

Aber Ricky hatte sich bereits abgewandt und strebte zur Tür hinaus, schaute wieder auf seine Uhr. Ich eilte hinterher.

»Ricky ...«

»Ich muss dir noch was zeigen«, sagte er. »Wir haben es gleich geschafft.«

»Ricky, das ist alles sehr eindrucksvoll«, sagte ich und deutete mit einer Handbewegung auf die leuchtenden Arme. »Aber eure Montage läuft überwiegend bei Raumtemperatur - kein Unterdruck, keine Tiefsttemperaturen, kein Magnetfeld.«

»Richtig. Keine besonderen Bedingungen.«

»Wie ist das möglich?«

Er zuckte die Achseln. »Die Assembler brauchen das nicht.«

»Die Assembler?«, fragte ich. »Willst du damit sagen, ihr habt molekulare Assembler an diesem Fließband?«

»Ja. Natürlich.«

»Assembler machen die Montage für euch?«

»Natürlich. Ich dachte, das wäre dir klar.«

»Nein, Ricky«, sagte ich, »das war mir ganz und gar nicht klar. Und ich lasse mich nicht gern anlügen.«

Er setzte eine gekränkte Miene auf. »Ich lüge nicht.«

Aber ich war mir ganz sicher, dass er log.

Als Wissenschaftler anfingen, sich mit molekularer Herstellung zu beschäftigen, erkannten sie schon zu Anfang, wie unglaub-lich schwer die Verwirklichung sein würde. Im Jahre 1990 schoben IBM-Forscher Xenonatome auf einem Nickelkristall hin und her, bis sie die Buchstaben »IBM« in Form des Firmenlogos ergaben. Das ganze Logo war ein Milliardstel von einem Millimeter lang und nur durch ein Elektronenmikroskop zu sehen. Es machte optisch einiges her und erhielt großes Medieninteresse. IBM erweckte die Vorstellung, es wäre der Beweis für eine Idee, als wäre damit die Tür zur molekularen Fertigung aufgestoßen worden. Aber es war im Grunde nicht mehr als ein hübsches Bravourstück.

Einzelne Atome in eine bestimmte Anordnung zu bringen war nämlich eine langsame, mühselige und teure Angelegenheit. Die IBM-Forscher benötigten einen ganzen Tag, um fünfunddreißig Atome zu bewegen. Kein Mensch glaubte, dass man auf diesem Wege eine völlig neue Technologie schaffen konnte. Stattdessen gingen die meisten davon aus, dass es den Nanotechnologen irgendwann gelingen würde, »Assembler« zu bauen - winzige molekulare Maschinen, die bestimmte Moleküle produzierten, so wie Kugellagermaschinen Kugellager. Die neue Technologie würde molekulare Maschinen benötigen, um molekulare Produkte herzustellen.

Es war eine ansprechende Idee, die praktischen Probleme waren jedoch entmutigend. Da Assembler um ein Vielfaches komplizierter waren als die Moleküle, die sie fertigten, gestaltete es sich von Anfang an sehr schwierig, sie zu entwickeln und zu bauen. Meines Wissens war es noch keinem Labor irgendwo auf der Welt tatsächlich gelungen. Aber jetzt erzählte Ricky mir, so ganz nebenbei, dass Xymos molekulare Assembler bauen konnte, die jetzt Moleküle für die Firma herstellten.

Und ich glaubte ihm nicht.

Ich arbeitete seit einer Ewigkeit in der Technologiebranche, und ich hatte ein Gespür dafür entwickelt, was möglich war. Einen solch gigantischen Sprung nach vorn gab es einfach nicht. Hatte es noch nie gegeben. Technologien waren eine Form von Wissen, und sie wuchsen, evolvierten, reiften heran, wie jedes Wissen. Wer das anders sah, konnte genauso gut glauben, dass die Brüder Wright in der Lage gewesen wären, eine Rakete zu bauen und zum Mond zu fliegen statt nur die hundert Meter über die Sanddünen von Kitty Hawk.

Die Nanotechnologie befand sich noch immer im Kitty-Hawk-Stadium.

»Komm schon, Ricky«, sagte ich. »Wie macht ihr das wirklich?«

»Die technischen Einzelheiten sind nicht so wichtig, Jack.«

»Was redest du für einen Stuss? Natürlich sind sie wichtig.«

»Jack«, sagte er und schenkte mir sein gewinnendstes Lächeln. »Glaubst du wirklich, ich lüge dich an?«

»Ja, Ricky«, erwiderte ich. »Das glaube ich.«

Ich blickte hoch zu den Krakenarmen um mich herum. Ich war umgeben von Glas und sah mein Spiegelbild Dutzende Male in den Flächen. Es war verwirrend, desorientierend. Um meine Gedanken zu sammeln, sah ich nach unten auf meine Füße.

Und mir fiel auf, dass nicht nur die Laufstege, auf denen wir gegangen waren, sondern auch Teile des eigentlichen Bodens gläsern waren. Ein Abschnitt aus Glas war ganz in der Nähe. Ich ging darauf zu. Durch das Glas konnte ich sehen, dass auch darunter Stahlrohre und -leitungen verliefen. Eine Reihe von Leitungen weckte meine Aufmerksamkeit, weil sie vom Lagerraum zu einem Glaswürfel in der Nähe verliefen, wo sie dann aus dem Boden auftauchten und nach oben strebten, um in die kleineren Röhrchen überzugehen.

Das, so nahm ich an, war die Materialzufuhr - der Brei aus organischem Rohmaterial, der auf dem Fließband in fertige Moleküle verwandelt würde.

Ich blickte wieder nach unten und folgte den Rohren zurück zu der Stelle, wo sie vom angrenzenden Raum hereinkamen. Auch diese Anschlussstelle war aus Glas. Ich konnte die geschwungenen Stahlbäuche der großen Kessel sehen, die mir zuvor aufgefallen waren. Die Tanks, die ich für eine Mikrobrauerei gehalten hatte. Denn so hatte es wirklich ausgesehen, eine kleine Brauerei. Maschinen für kontrollierte Gärung, für kontrolliertes Mikrobenwachstum.

Und dann begriff ich, was es wirklich war.

Ich sagte: »Du verdammter Mistkerl.«

Ricky lächelte wieder und zuckte die Achseln. »Was willst du«, sagte er. »Hauptsache, die Arbeit wird gemacht.«

Die Kessel im nächsten Raum waren tatsächlich Tanks für kontrolliertes Mikrobenwachstum. Aber Ricky stellte kein Bier her - er stellte Mikroben her, und ich hatte keinen Zweifel an dem Grund dafür. Da Xymos nicht fähig war, echte Nanoas-sembler zu bauen, erzeugten sie ihre Moleküle mithilfe von Bakterien. Das war Gentechnologie, nicht Nanotechnologie.

»Na ja, nicht direkt«, erwiderte Ricky, nachdem ich ihm gesagt hatte, was ich dachte. »Aber ich gebe zu, dass wir eine hybride Technologie anwenden. Aber das ist doch wohl keine große Überraschung, oder?«

Das stimmte. Seit mindestens zehn Jahren prophezeiten Experten, dass Gentechnologie, Informatik und Nanotechnologie irgendwann miteinander verschmelzen würden. Alle drei beschäftigten sich mit ähnlichen - und miteinander verzahnten - Dingen. Es war kein allzu großer Unterschied, ob per Computer Teile eines bakteriellen Genoms decodiert wurden oder ob ein Computer dabei half, neue Gene in die Bakterien einzuführen, um neue Proteine herzustellen. Und es war auch kein großer Unterschied, ob neue Bakterien erzeugt wurden, um beispielsweise Insulinmoleküle zu gewinnen, oder ob ein künstlicher, mikromechanischer Assembler hergestellt wurde, um Moleküle zusammenzufügen. Es geschah alles auf molekularer Ebene. Die Herausforderung war in jedem Fall gleich: Menschliches Design sollte äußerst komplexen Systemen aufgezwungen werden. Und Molekulardesign war ungeheuer kompliziert.

Man konnte sich ein Molekül als eine Reihe von Atomen vorstellen, die wie Legosteine eines nach dem anderen zusammengesteckt wurden. Aber das Bild hinkte. Denn anders als beim Lego ließen sich Atome nicht in jeder beliebigen Reihenfolge verbinden. Ein eingefügtes Atom war starken lokalen Einflüssen ausgesetzt - magnetischen und chemischen - mit häufig unerwünschten Folgen. Es konnte passieren, dass das Atom aus seiner Position befördert wurde, es konnte sein, dass es blieb, wo es war, aber irgendwie schief. Es konnte sogar sein, dass es das gesamte Molekül zu Knoten verhedderte.

Demzufolge war molekulare Herstellung eine Übung in der Kunst des Möglichen, in der Kunst, Atome und Gruppen von Atomen zu ersetzen, um äquivalente Strukturen zu produzieren, die auf die gewünschte Weise funktionieren würden. Angesichts der großen Schwierigkeiten konnte man jedoch unmöglich darüber hinwegsehen, dass bereits erprobte Molekularfabriken existierten, die in der Lage waren, Moleküle in großen Mengen zu fertigen: Sie wurden Zellen genannt.

»Leider kann uns die zellulare Herstellung nur bis zu einem gewissen Punkt weiterhelfen«, sagte Ricky. »Wir ernten die Substratmoleküle - das Rohmaterial - und verwenden sie dann für die anschließenden nanotechnologischen Verfahren. Wir nutzen also von beidem etwas.«

Ich deutete auf die Tanks. »Was für Zellen züchtet ihr?«

»Theta-d 5972«, sagte er.

»Und das ist was?«

»Ein E. coli-Stamm.«

E. coli war ein herkömmliches Bakterium, das ziemlich häufig in der natürlichen Umgebung vorkam, sogar im menschlichen Darm. Ich sagte: »Ist denn keiner mal auf den Gedanken gekommen, dass es vielleicht nicht ganz so gut ist, Zellen zu verwenden, die im menschlichen Körper leben können?«

»Eigentlich nicht«, sagte er. »Offen gestanden, hat das keine Rolle gespielt. Wir wollten einfach eine Zelle, die hinreichend erforscht und in der Fachliteratur ausführlich behandelt ist. Wir haben einen Industriestandard ausgesucht.«

»Aha ...«

»Jedenfalls«, fuhr Ricky fort, »glaube ich nicht, dass es ein Problem ist, Jack. Es wird nicht im menschlichen Darm blühen und gedeihen. Theta-d ist für verschiedene Nährstoffquellen optimiert worden - damit es preiswert im Labor gezüchtet werden kann. Ich glaube, es kann sogar auf Abfall wachsen.«

»So kriegt ihr also eure Moleküle. Bakterien machen sie.«

»Ja«, sagte er, »so kriegen wie die Primärmoleküle. Wir ernten siebenundzwanzig Primärmoleküle. Sie fügen sich in relativ hoch temperierten Umgebungen zusammen, wo die Atome aktiver sind und sich schnell vermischen.«

»Ist es deshalb hier so heiß?«

»Ja. Die maximale Reaktionseffizienz liegt bei vierundsechzig Grad Celsius, also arbeiten wir mit der Temperatur. So erreichen wir die schnellste Kombinationsgeschwindigkeit. Aber die Moleküle hier verbinden sich auch bei erheblich niedrigeren Temperaturen. Schon bei zwei bis fünf Grad Celsius ist ein gewisses Maß an Molekularverbindung möglich.«

»Und andere Bedingungen braucht ihr nicht?«, sagte ich. »Vakuum? Druck? Hohe Magnetfelder?«

Ricky schüttelte den Kopf. »Nein, Jack. Wir halten diese Bedingungen aufrecht, um die Produktion zu beschleunigen, aber es ist nicht zwingend erforderlich. Das Design ist recht elegant. Die Komponentenmoleküle fügen sich ganz problemlos zusammen.«

»Und die verbinden sich dann, um euren endgültigen Assembler zu bilden?«

»Der dann die Moleküle zusammensetzt, die wir haben wollen. Ja.«

Es war eine clevere Lösung, die Assembler mithilfe von Bakterien zu schaffen. Aber Ricky erzählte mir, dass die Komponenten sich fast automatisch selbst zusammensetzten und dass dazu lediglich eine hohe Temperatur erforderlich war. Wozu diente dann diese komplizierte Glaskonstruktion?

»Effizienz und Arbeitsteilung«, sagte Ricky. »In den verschiedenen Armen können wir bis zu neun Assembler gleichzeitig bauen.«

»Und wo fertigen die Assembler die endgültigen Moleküle?«

»Auch in diesem Gebilde da. Aber vorher setzen wir sie neu an.«

Ich schüttelte den Kopf. Der Ausdruck sagte mir nichts. »Ihr setzt sie neu an?«

»Das ist eine kleine Verbesserung, die wir hier entwickelt haben. Wir lassen sie patentieren. Also, unser System lief von Anfang an einwandfrei - aber unsere Erträge waren unglaublich niedrig. Wir haben ein halbes Gramm fertiger Moleküle pro Stunde geerntet. Bei dem Tempo hätte es mehrere Tage gedauert, eine einzige Kamera zu bauen. Wir kamen nicht dahinter, wo das Problem lag. Die Schlussmontage in den Armen erfolgt in der Gasphase. Wir fanden heraus, dass die Molekularassembler schwer waren und zu Boden sanken. Die Bakterien lagerten sich auf einer Schicht über ihnen ab und setzten Komponentenmoleküle frei, die noch leichter waren und höher schwebten. Die Assembler hatten daher sehr wenig Kontakt zu den Molekülen, die sie zusammenbauen sollten. Wir haben es mit einer Technologiemischung versucht, aber das hat nichts gebracht.«

»Was habt ihr also gemacht?«

»Wir haben das Assemblerdesign verändert, um eine lipo-trophe Basis zu erhalten, die an der Oberfläche der Bakterien haftet. So kamen die Assembler besser mit den Komponentenmolekülen in Kontakt, und unsere Erträge schnellten sofort in die Höhe.«

»Und jetzt sitzen eure Assembler auf den Bakterien?«

»Genau. Sie haften an der äußeren Zellmembran.«

An einem Computer in der Nähe drückte Ricky ein paar Tasten und holte das Assemblerdesign auf den Flachbildschirm. Der Assembler sah aus wie eine Art Windrädchen für Kinder, eine Reihe von Spiralarmen ragte in verschiedene Richtungen, und in der Mitte war ein dichter Knoten Atome. »Es ist fraktal, wie ich gesagt habe«, bemerkte er. »Es sieht also ganz ähnlich aus, nur um einiges kleiner.« Er lachte. »Wie die Puppe in der Puppe in der Puppe.« Er tippte wieder. »Jedenfalls, das hier ist die verbundene Konfiguration.«

Der Bildschirm zeigte jetzt den Assembler, der an einem erheblich größeren, pillenförmigen Objekt klebte, wie ein Windrad an einem Unterseeboot. »Das da ist das Theta-d-Bakterium«, sagte Ricky. »Mit dem Assembler dran.«

Während ich auf den Bildschirm starrte, gesellten sich noch ein paar Windrädchen mehr hinzu. »Und diese Assembler bauen die eigentlichen Kameraeinheiten?«

»Richtig.« Er tippte wieder. Ich sah ein neues Bild. »Das ist die Mikromaschine, die wir geplant haben, die endgültige Kamera. Du hast ja die Blutstromversion gesehen. Das da ist die Pentagonversion, um einiges größer und als Fluggerät geplant. Was du da siehst, ist im Grunde ein molekularer Hubschrauber.«

»Wo ist der Propeller?«, fragte ich.

»Hat keinen. Die Maschine benutzt diese kleinen, runden vorstehenden Teile, die du da siehst, die in verschiedenen Winkeln abstehen. Das sind die Motoren. Die Maschinen manövrieren dann, indem sie an der Viskosität der Luft hochsteigen.«

»An der was?«

»Viskosität. Der Luft.« Er lächelte. »Wir befinden uns auf der Ebene der Mikromaschinen, vergiss das nicht. Das ist eine ganz neue Welt, Jack.«

So innovativ das Design auch war, Ricky war noch immer an die technischen Vorgaben des Pentagons gebunden, und das Produkt leistete nicht das, was von ihm verlangt wurde. Ja, sie hatten eine Kamera gebaut, die nicht abgeschossen werden konnte, und sie übertrug Bilder ohne Fehl und Tadel. Ricky erklärte, dass sie bei den Tests in geschlossenen Räumen ausgezeichnet funktionierte. Aber draußen wurde sie selbst bei einer schwachen Brise weggeweht wie die Staubwolke, die sie nun mal war.

Das Technikteam bei Xymos war dabei, die Einheiten zu verändern, was größere Beweglichkeit mit sich bringen sollte, doch bislang ohne Erfolg. Unterdessen war das Verteidigungsministerium zu dem Schluss gelangt, dass diese Designschwächen nicht zu beheben waren, und hatte von dem ganzen Nanokonzept Abstand genommen; der Vertrag mit Xymos war gekündigt worden; in spätestens sechs Wochen würde das Pentagon den Geldhahn zudrehen.

Ich sagte: »War Julia deshalb in den letzten Wochen so verzweifelt dahinter her, Investorenkapital aufzutreiben?«

»Genau«, sagte Ricky. »Um ehrlich zu sein, es ist möglich, dass die Firma noch vor Weihnachten den Bach runtergeht.«

»Es sei denn, ihr kriegt die Einheiten so hin, dass sie auch bei Wind funktionieren.«

»Du hast es erfasst.«

Ich sagte: »Ricky, ich bin Programmierer. Ich kann euch nicht bei den Problemen helfen, die ihr mit der Agentenbeweglichkeit habt. Das fällt in den Bereich Molekulardesign. Das ist Technik. Das ist nicht mein Gebiet.«

»Mm, das weiß ich.« Er stockte, runzelte die Stirn. »Aber, ehrlich gesagt, wir glauben, der Programmcode könnte vielleicht die Lösung sein.«

»Der Code? Die Lösung wofür?«

»Jack, ich muss offen zu dir sein. Wir haben einen Fehler gemacht«, sagte er. »Aber es ist nicht unsere Schuld. Ich schwöre. Wir können nichts dafür. Es waren die von der Wartungsfirma.« Er ging die Treppe hinunter. »Komm, ich zeig's dir.«

Eilig ging er vor mir her zur anderen Seite der Montagehalle, wo ich eine offene, gelbe Aufzugskabine sah, die an der Wand montiert war. Es war ein kleiner Aufzug, und mir war mulmig zu Mute, weil er offen war, und ich konnte nicht runterschauen. Ricky sagte: »Höhenangst?« »Bin nicht schwindelfrei.«

»Tja, ist aber immer noch besser als zu Fuß.« Er deutete zu einer Seite, wo eine Eisenleiter an der Wand bis zur Decke hochführte. »Wenn der Aufzug streikt, müssen wir die hochklettern.«

Mich schauderte. »Ohne mich.«

Wir fuhren mit dem Aufzug bis ganz nach oben, drei Stockwerke über dem Boden. Unter der Decke hing ein Gewirr aus Leitungen und Rohren sowie ein Netzwerk aus Gitterrostlaufstegen, damit alles gewartet werden konnte. Ich fand die Roste fürchterlich, weil ich durch sie hindurch in die Tiefe schauen konnte. Ich bemühte mich, nicht nach unten zu sehen. Wegen der tief hängenden Rohre mussten wir immer wieder den Kopf einziehen. Ricky schrie über den Maschinenlärm hinweg.

»Hier oben ist alles untergebracht!«, brüllte er und zeigte in verschiedene Richtungen. »Gebläse da drüben! Da der Wassertank für die Brandschutzsprinkleranlage! Stromverteilerkästen da vorn! Hier ist wirklich das eigentliche Herz!« Ricky ging weiter den Steg entlang, blieb schließlich neben einem großen Entlüftungsrohr stehen, das fast einen Meter Durchmesser hatte und in die Außenwand führte.

»Das ist Entlüftung drei«, sagte er, dicht zu meinem Ohr gebeugt. »Insgesamt haben wir vier Hauptentlüftungsrohre, die Luft nach draußen pusten. So. Siehst du die Schlitze da entlang des Rohrs und die quadratischen Kästen in den Schlitzen? Das sind die Filter. Wir haben in mehreren Schichten übereinander Mikrofilter installiert, die verhindern, dass irgendwelche Schadstoffe nach draußen entweichen.«

»Ich sehe sie ...«

»Du siehst sie jetzt«, sagte Ricky. »Leider haben die Wartungsleute vergessen, die Filter in dem Rohr da einzubauen. Die haben nicht mal die Schlitze reingeschnitten, sodass bei der Gebäudeabnahme keiner gemerkt hat, dass was fehlt. Es wurde abgenommen; wir haben mit der Arbeit losgelegt. Und wir haben ungefilterte Luft in die Umwelt gepustet.«

»Wie lange?«

Ricky biss sich auf die Lippe. »Drei Wochen.«

»Und die Produktion lief auf vollen Touren?«

Er nickte. »Wir schätzen, wir haben rund fünfundzwanzig Kilo Schadstoffe rausgepustet.«

»Und was für Schadstoffe?«

»Ein bisschen von allem. Was genau, wissen wir nicht.«

»Ihr habt also E. coli, Assembler, fertige Moleküle, alles nach draußen geblasen?«

»Genau. Aber wir wissen nicht, in welchem Verhältnis.«

»Spielt es eine Rolle, in welchem Verhältnis?«

»Könnte sein. Ja.«

Ricky wurde immer fahriger, während er mir das alles erzählte, biss sich auf die Lippe, kratzte sich am Kopf, wich meinem Blick aus. Ich verstand das nicht. In den Annalen der industriellen Luftverpestung waren fünfzig Pfund Schadstoffe eine Bagatelle. Fünfzig Pfund Material würden bequem in eine Sporttasche passen. Eine derart geringe Menge fiel einfach nicht ins Gewicht, wenn sie nicht hochtoxisch oder radioaktiv war - und das war nicht der Fall.

Ich sagte: »Ricky, was soll's? Die Partikel hat der Wind inzwischen über Hunderte Meilen in der Wüste verstreut. Durch das Sonnenlicht und die kosmische Strahlung werden sie zerfallen. Sie lösen sich auf, zersetzen sich. Nach ein paar Stunden oder Tagen ist nichts mehr von ihnen übrig. Richtig?«

Ricky zuckte die Achseln. »Ehrlich gesagt, Jack, genau das ist nicht .«

Und in diesem Augenblick ging der Alarm los.

Es war ein ruhiger Alarm, nur ein leises, hartnäckiges Klingeln, aber Ricky schreckte zusammen. Er lief den Steg entlang, seine Füße klapperten auf dem Metall, bis zu einem Computerterminal, das an der Wand befestigt war. In der Ecke des Monitors war ein Statusfenster. Es blinkte rot: »PV-90 entry«. Ich sagte: »Was bedeutet das?«

»Etwas hat den Peripheriealarm ausgelöst.« Er nahm sein Funkgerät vom Gürtel und sagte: »Vince, alles dicht machen.«

Das Funkgerät knisterte. »Schon geschehen, Ricky.«

»Überdruck erhöhen.«

»Er liegt bei fünf Pfund über normal. Wollen Sie mehr?«

»Nein. So lassen. Haben wir Sicht?«

»Noch nicht.«

»Scheiße.« Ricky steckte das Funkgerät wieder an seinen Gürtel, fing an, schnell zu tippen. Der Computerbildschirm teilte sich in ein halbes Dutzend Bilder von Sicherheitskameras, die überall draußen auf dem Gelände verteilt waren. Einige zeigten die Wüste von oben, von den Gebäudedächern. Andere waren Aufnahmen vom Boden aus. Die Kameras schwenkten langsam.

Ich sah nichts. Nur Wüstengestrüpp und ab und zu ein paar Kakteen.

»Falscher Alarm?«, fragte ich.

Ricky schüttelte den Kopf. »Schön wär's.«

Ich sagte: »Ich seh nichts.«

»Es dauert ein Weilchen, bis man es entdeckt.«

»Was entdeckt?«

»Das.«

Er zeigte auf den Monitor und biss sich auf die Lippe.

Ich sah etwas, das aussah wie eine kleine, wirbelnde Wolke aus dunklen Partikeln. Wie ein Sandteufel, diese kleinen Sandhosen, die sich über den Boden bewegten, aufgewirbelt von Konvektionsströmungen, die aus der heißen Wüste aufstiegen. Nur dass diese Wolke schwarz war und einigermaßen kontu-riert - es schien, als wäre sie in der Mitte eingedrückt, ein wenig so wie eine altmodische Cola-Flasche. Aber sie behielt die Form nicht ständig bei. Die Umrisse verwandelten sich ständig, gestalteten sich immer wieder neu.

»Ricky«, sagte ich. »Was ist das da?«

»Ich hatte gehofft, das könntest du mir sagen.«

»Es sieht aus wie ein Agentenschwarm. Ist das euer Kamera-schwarm?«

»Nein. Es ist was anderes.«

»Woher weißt du das?«

»Weil wir die Wolke nicht kontrollieren können. Sie reagiert nicht auf unsere Funksignale.«

»Habt ihr's versucht?«

»Ja. Seit fast zwei Wochen versuchen wir, Kontakt zu ihr herzustellen, aber aus irgendeinem Grund können wir nicht mit ihr interagieren.«

»Dann habt ihr also einen Schwarm, der sich selbstständig gemacht hat.«

»Ja.«

»Der autonom handelt.«

»Ja.«

»Und das geht so seit .«

»Tagen. Seit etwa zehn Tagen.«

»Zehn Tage?« Ich runzelte die Stirn. »Wie ist das möglich, Ricky? Der Schwarm ist eine Ansammlung von Mikrorobotern. Wieso haben sie sich nicht aufgelöst? Oder wieso ist ihnen nicht die Energie ausgegangen? Und warum könnt ihr sie nicht kontrollieren? Wenn sie nämlich die Fähigkeit haben, einen Schwarm zu bilden, dann gibt es irgendeine elektrisch vermittelte Interaktion zwischen ihnen. Also müsstet ihr doch eigentlich in der Lage sein, den Schwarm zu kontrollieren - oder ihn wenigstens auseinander zu reißen.«

»Alles richtig«, sagte Ricky. »Aber es klappt nicht. Und wir haben alles Erdenkliche versucht.« Er blickte konzentriert auf den Bildschirm. »Die Wolke ist von uns unabhängig. Basta.«

»Und deshalb habt ihr mich hergeholt .«

»Damit du uns hilfst, das verdammte Ding da wieder einzu-fangen«, sagte Ricky.

6. Tag, 9.32 Uhr

Das war, so dachte ich, ein Problem, das sich noch nie ein Mensch hatte träumen lassen. In all den Jahren, in denen ich Agenten programmiert hatte, war es in erster Linie darum gegangen, sie zu einer Interaktion zu bewegen, die nützliche Ergebnisse hervorbrachte. Wir waren nie auf den Gedanken gekommen, dass es ein ernstes Kontrollproblem geben könnte oder dass die Agenten sich unabhängig machen könnten. Weil das einfach nicht wahrscheinlich war. Einzelne Agenten waren zu klein, um sich selbst mit Energie zu versorgen; sie waren auf irgendeine externe Energiequelle angewiesen, auf beispielsweise ein Elektro- oder Mikrowellenfeld. Man brauchte das Feld nur abzuschalten, und die Agenten starben. Der Schwarm war nicht schwerer zu kontrollieren als ein Küchengerät, ein Mixer zum Beispiel. Strom abschalten, und aus war er.

Aber jetzt erzählte Ricky mir, dass diese Wolke seit Tagen autonom existierte. Das war mir einfach unerklärlich. »Woher kriegt sie die Energie?«

Ricky seufzte. »Wir haben die Einheiten mit kleinen Piezo-Scheiben ausgestattet, um Strom aus Photonen zu erzeugen. Nur als Zusatz - ist uns erst nachträglich eingefallen -, aber das reicht ihnen offenbar aus.«

»Dann laufen die Einheiten mit Solarenergie«, sagte ich.

»Genau.«

»Wessen Idee war das?«

»Das Pentagon wollte es so.«

»Und habt ihr auch Speicherkapazität eingebaut?«

»Ja. Für drei Stunden.«

»Okay, schön«, sagte ich. Jetzt kamen wir der Sache ein Stück näher. »Sie haben also Energie für drei Stunden. Was passiert abends?«

»Abends geht ihnen nach drei Stunden Dunkelheit vermutlich die Energie aus.«

»Und dann löst sich die Wolke auf?«

»Ja.«

»Und die einzelnen Einheiten fallen zu Boden?«

»Vermutlich, ja.«

»Könnt ihr sie dann nicht kontrollieren?«

»Könnten wir«, sagte Ricky, »wenn wir sie finden würden. Wir machen uns jeden Abend auf die Suche. Aber wir finden sie einfach nicht.«

»Habt ihr Markierungen eingebaut?«

»Ja, klar. Jede Einheit hat ein fluoreszierendes Modul in der Außenhaut. Bei UV-Licht leuchtet es blaugrün.«

»Ihr sucht also abends im Dunkeln nach einem Fleckchen Wüste, das blaugrün leuchtet.«

»Genau. Und bisher haben wir es nicht gefunden.«

Das überraschte mich eigentlich nicht. Falls die Wolke dicht in sich zusammenfiel, würde sie auf dem Wüstenboden ein Häufchen von fünfzehn Zentimeter Durchmesser bilden. Und da draußen war eine große Wüste. Wo etwas so Kleines leicht zu übersehen war. Kein Wunder, dass sie nicht fündig wurden, Nacht für Nacht.

Doch als ich weiter über das Problem nachdachte, fiel mir noch ein Aspekt ein, aus dem ich nicht schlau wurde. Sobald die Wolke zu Boden sank - sobald die einzelnen Einheiten keine Energie hatten -, dann war die Wolke kein organisiertes Ganzes mehr. Sie konnte vom Wind zerstreut werden, wie ganz gewöhnliche Staubpartikel, ohne eine Chance, sich wieder neu zu formieren. Aber das passierte offenbar nicht. Die Einheiten zerstreuten sich nicht. Stattdessen kam die Wolke jeden Tag wieder. Wieso?

»Wir glauben«, sagte Ricky, »sie versteckt sich nachts.«

»Sie versteckt sich?«

»Ja. Wir glauben, sie sucht sich irgendeinen geschützten Bereich, vielleicht einen Überhang oder ein Loch in der Erde, irgendwas in der Art.«

Ich deutete auf die Wolke, die auf uns zugewirbelt kam. »Du glaubst, der Schwarm da ist in der Lage, sich zu verstecken?«

»Ich glaube, er ist anpassungsfähig. Genauer gesagt, ich weiß es.« Er seufzte. »Und überhaupt, es gibt nicht nur einen Schwarm, Jack.«

»Nicht nur einen?«

»Mindestens drei. Vielleicht mehr, inzwischen.«

Im ersten Moment war mein Kopf wie leer, und eine Art träge, graue Fassungslosigkeit spülte über mich hinweg. Ich konnte plötzlich nicht mehr denken, verstand gar nichts mehr. »Was willst du damit sagen?«

»Ich will damit sagen, dass er sich vermehrt, Jack«, erwiderte er. »Der verdammte Schwarm vermehrt sich.«

Die Kamera zeigte jetzt ein ebenerdiges Bild von der Staubwolke, die wirbelnd auf uns zukam. Doch bei genauerem Hinsehen merkte ich, dass sie gar nicht wie ein Sandteufel wirbelte. Stattdessen drehten sich die Partikel in einer schlängelnden Bewegung mal zur einen, mal zur anderen Seite.

Sie schwärmten eindeutig.

»Schwärmen« nannte man das Verhalten bestimmter Staaten bildender Insekten wie Ameisen oder Bienen, die immer dann schwärmten, wenn sie sich einen neuen Stock suchten. Eine Wolke Bienen flog immer wellenförmig zuerst in die eine, dann in die andere Richtung, wie ein dunkler Fluss in der Luft. Wenn der Schwarm Pause machte, hängte er sich wie eine Traube an einen Baum, für eine Stunde, vielleicht auch über Nacht, und setzte dann seinen Weg fort. Und sobald die Bienen einen neuen Platz für ihr Volk gefunden hatten, hörten sie auf zu schwärmen.

Seit einigen Jahren schrieben Informatiker Programme, die dieses Insektenverhalten simulierten. Schwarmintelligenz-Algorithmen waren ein wichtiges Werkzeug bei der Computerprogrammierung geworden. Für Programmierer war ein Schwarm eine Population von Computeragenten, die mithilfe verteilter Intelligenz gemeinsam an der Lösung eines Problems arbeiteten. Schwärmen wurde eine verbreitete Methode, Agenten so zu organisieren, dass sie interagierten. Wissenschaftliche Gesellschaften und Kongresse widmeten sich diesem Thema. In jüngster Zeit war es gar eine Art Verlegenheitslösung geworden - wer nichts Originelles codieren konnte, ließ eben seine Agenten schwärmen.

Doch jetzt sah ich auf dem Bildschirm, dass die Wolke nicht im üblichen Sinne schwärmte. Das Schlängeln, das Hin und Her, war offenbar nur ein Teil der Fortbewegung. Ich erkannte auch ein rhythmisches Ausdehnen und Zusammenziehen, ein Pulsieren, fast wie Atmung. Und es gab auch vertikale Bewegungen. Die Wolke schien dünner zu werden und höher zu steigen, dann zusammenzufallen, sodass sie gedrungener war. Diese Veränderungen geschahen kontinuierlich und rhythmisch - oder besser gesagt, in einer Reihe sich überlagernder Rhythmen.

»Scheiße«, sagte Ricky. »Ich seh die anderen nicht. Und ich weiß, dass er nicht allein ist.« Wieder schaltete er das Funkgerät ein. »Vince? Sehen Sie einen von den anderen?«

»Nein, Ricky.«

»Wo sind die anderen? Leute? Ich will was hören!«

Funkgeräte knisterten in der gesamten Anlage. Bobby Lembeck: »Ricky, er ist allein.«

»Er kann nicht allein sein.«

Mae Chang: »Ricky, da draußen ist sonst nichts zu entdek-ken.«

»Nur ein Schwarm, Ricky.« Das kam von David Brooks.

»Er kann nicht allein sein!« Ricky umklammerte das Funkge-rät so fest, dass seine Finger weiß wurden. Er drückte den Knopf. »Vince? Den Überdruck rauf auf sieben.«

»Im Ernst?«

»Machen Sie schon.«

»Na schön, wenn Sie wirklich meinen ...«

»Sparen Sie sich die blöden Bemerkungen und tun Sie, was ich sage!«

Ricky wollte den Überdruck innerhalb des Gebäudes auf sieben Pfund pro Quadratzoll erhöhen lassen. In allen Betriebsanlagen, in denen extreme Sauberkeit erforderlich war, musste stets ein Überdruck herrschen, damit kein Staub von draußen eindringen konnte, falls es mal eine undichte Stelle gab; die Partikel würden durch die entweichende Luft nach außen geblasen. Aber dafür reichten ein oder zwei Pfund Überdruck. Sieben Pfund waren sehr viel. Völlig unnötig, um passive Teilchen fern zu halten.

Aber diese Partikel waren natürlich nicht passiv.

Als ich die Wolke beobachtete, die wirbelnd und schlängelnd näher kam, sah ich, dass Teile von ihr hin und wieder das Sonnenlicht auffingen, sie glänzten und schillerten silbrig. Dann verblasste die Farbe, und der Schwarm wurde wieder schwarz. Das mussten die Piezo-Plättchen sein, die die Sonne spiegelten. Aber es zeigte deutlich, dass die einzelnen Mikroeinheiten enorm beweglich waren, denn nie wurde die ganze Wolke gleichzeitig silbern, immer nur teilweise oder in Streifen.

»Ich dachte, das Pentagon hätte den Vertrag mit euch gekündigt, weil ihr den Schwarm bei Wind nicht steuern könnt.«

»Richtig. Haben wir nicht hingekriegt.«

»Aber ihr müsst in den letzten Tagen doch starken Wind gehabt haben.«

»Natürlich. Kommt meist am späten Nachmittag auf. Gestern hatten wir zehn Knoten.«

»Wieso ist der Schwarm dann nicht weggeweht worden?«

»Weil er den Dreh rausgekriegt hat«, sagte Ricky düster. »Er hat sich angepasst.«

»Wie?«

»Schau genau hin, dann siehst du's. Immer, wenn eine Bö kommt, sinkt der Schwarm ab, schwebt dicht am Boden. Und er steigt wieder auf, sobald der Wind sich legt.«

»Ist das emergentes Verhalten?«

»Genau. Niemand hat es programmiert.« Er biss sich auf die Lippe. War das wieder gelogen?

»Du willst also damit sagen, dass er gelernt hat .«

»Ganz genau.«

»Wie kann er lernen? Die Agenten haben keinen Speicher.«

»Äh ... tja, das ist eine lange Geschichte«, sagte Ricky.

»Sie haben Speicher?«

»Ja, sie haben Speicher. Begrenzt. Wir haben ihn eingebaut.« Ricky drückte den Knopf an seinem Funkgerät. »Irgendwer was gehört?«

Die Antworten kamen, knisterten in seinem Gerät.

»Noch nicht.«

»Nichts.«

»Keine Geräusche?«

»Bisher nicht.«

Ich sagte zu Ricky: »Er macht Geräusche?«

»Wir sind nicht ganz sicher. Manchmal hört es sich so an. Wir haben versucht, es aufzunehmen . « Er tippte auf der Computertastatur, wechselte rasch zwischen den Monitorbildern hin und her, vergrößerte sie nacheinander. Er schüttelte den Kopf. »Das gefällt mir nicht. Er kann nicht allein sein«, sagte er. »Ich will wissen, wo die anderen sind.«

»Woher weißt du, dass es noch andere gibt?«

»Weil sie immer dabei sind.« Er kaute angespannt auf seiner Lippe, während er auf den Monitor blickte. »Ich frag mich, was er nun wieder vorhat .«

Wir mussten nicht lange warten. Augenblicke später war der schwarze Schwarm bis auf wenige Meter an das Gebäude herangekommen. Urplötzlich halbierte er sich, und einer halbierte sich dann noch einmal. Jetzt waren es drei Schwärme, die nebeneinander wirbelten.

»Sauerei«, sagte Ricky. »Er hat die anderen in sich drin versteckt.« Er drückte wieder den Knopf seines Funkgeräts. »Leute, wir haben alle drei. Und sie sind ganz nah.«

Sie waren sogar so nah, dass die Bodenkamera sie nicht erfassen konnte. Ricky schaltete auf die Dachkameras um. Ich sah drei schwarze Wolken, die sich alle seitwärts an dem Gebäude entlangbewegten. Ihr Verhalten wirkte ausgesprochen zielbewusst.

»Was haben die vor?«, fragte ich.

»Die wollen ins Gebäude«, sagte Ricky.

»Wieso?«

»Das musst du sie schon selbst fragen. Gestern hat einer von ihnen .«

Plötzlich kam aus einer Gruppe Kakteen nicht weit vom Gebäude ein Wildkaninchen geschossen und flitzte über den Wüstensand. Sofort machten die drei Schwärme kehrt und nahmen die Verfolgung auf.

Ricky wechselte zu einer anderen Kamera. Wir hatten jetzt die ebenerdige Perspektive. Die drei Wolken näherten sich dem verängstigten Kaninchen, das jetzt noch schneller lief, ein unscharfer weißlicher Fleck auf dem Bildschirm. Die Wolken rauschten mit verblüffender Geschwindigkeit hinter ihm her. Das Verhalten war eindeutig: Sie jagten.

Einen kurzen Moment lang spürte ich einen irrationalen Stolz. predprey funktionierte einwandfrei! Die Schwärme dort hätten genauso gut Löwinnen sein können, die eine Gazelle hetzten, so zielgerichtet war ihr Verhalten. Die Schwärme machten einen jähen Schwenk, teilten sich dann auf und schnitten dem Kaninchen links und rechts den Fluchtweg ab.

Das Verhalten der drei Wolken wirkte eindeutig koordiniert. Jetzt umzingelten sie ihre Beute und waren ganz nah.

Und plötzlich stieß einer der Schwärme herab und hüllte das Kaninchen ein. Die anderen beiden stürzten sich Sekunden später auf das Tier. Die entstandene Partikelwolke war jetzt so dicht, dass das Kaninchen kaum noch zu erkennen war. Offenbar hatte es sich auf den Rücken gedreht, denn ich sah, wie die Hinterläufe krampfhaft in die Luft traten, oberhalb der Wolke.

Ich sagte: »Sie töten es ...«

»Ja«, sagte Ricky und nickte. »Stimmt.«

»Ich dachte, es wäre ein Kameraschwarm.«

»Ja, klar.«

»Wie töten sie es dann?«

»Das wissen wir nicht, Jack. Aber es geht schnell.«

Ich zog die Augenbrauen hoch. »Dann hast du das schon mal gesehen?«

Ricky zögerte, biss sich auf die Lippe. Antwortete nicht, starrte bloß auf den Bildschirm.

Ich sagte: »Ricky, hast du das schon mal gesehen?«

Er stieß einen langen Seufzer aus. »Ja. Gestern das erste Mal. Gestern haben sie eine Klapperschlange getötet.«

Ich dachte, gestern haben sie eine Klapperschlange getötet. Ich sagte: »Herrgott, Ricky.« Ich dachte an die Männer im Hubschrauber, die über die vielen toten Tiere gesprochen hatten. Ich fragte mich, ob Ricky mir alles erzählte, was er wusste.

»Ja.«

Das Kaninchen trat nicht mehr mit den Hinterläufen. Eine einzelne vorstehende Pfote erbebte mit kleinen Zuckungen und blieb dann reglos. Die Wolke wirbelte tief über dem Boden um das Tier herum, hob und senkte sich leicht. So ging es fast eine Minute.

Ich sagte: »Was machen die da?«

Ricky schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Aber das haben sie gestern auch schon gemacht.«

»Sieht fast so aus, als würden sie das Kaninchen fressen.«

»Ich weiß«, sagte Ricky.

Natürlich war es absurd. predprey war doch bloß eine biologische Analogie. Während ich der pulsierenden Wolke zuschaute, kam mir der Gedanke, dass dieses Verhalten vielleicht ein Programmhänger war. Ich erinnerte mich nicht genau, welche Regeln wir für einzelne Einheiten geschrieben hatten, was sie tun sollten, nachdem das Ziel erreicht war. Reale Raubtiere würden ihre Beute natürlich fressen, aber für diese Mikroroboter gab es kein analoges Verhalten. Es konnte also durchaus sein, dass die Wolke einfach nur verwirrt herumwirbelte. Falls dem so war, müsste sie bald wieder weiterziehen.

Wenn ein Programm für verteilte Intelligenz hängen blieb, war das zumeist ein vorübergehendes Phänomen. Früher oder später würden willkürliche Umwelteinflüsse so viele Einheiten aktivieren, dass die wiederum alle anderen zum Handeln anstießen. Dann würde das Programm weiterlaufen. Die Einheiten würden die Zielsuche wieder aufnehmen.

Ein ähnliches Verhalten konnte man in einem Saal im An-schluss an einen Vortrag beobachten. Die Zuhörer standen eine Weile herum, streckten sich, unterhielten sich mit den Leuten drum herum oder begrüßten Freunde, nahmen ihre Mäntel und sonstigen Sachen. Nur ein paar gingen sofort, und der Großteil der Zuhörer achtete nicht auf sie. Doch sobald ein gewisser Prozentsatz des Publikums verschwunden war, hatten die Übrigen es plötzlich ebenfalls eilig. Eine Art Fokuswechsel vollzog sich.

Falls ich Recht hatte, dann würde sich etwas Ähnliches am Verhalten der Wolke beobachten lassen. Die Wirbel müssten ihre koordinierte Form verlieren; einzelne Partikelfetzen müssten sich lösen und in die Luft aufsteigen. Erst dann würde sich die Hauptwolke bewegen.

Ich blickte auf die Uhr in der Ecke des Monitors. »Wie lang geht das jetzt schon?«

»Etwa zwei Minuten.«

Das war nicht besonders lang für einen Hänger, dachte ich. Irgendwann während der Arbeit an predprey simulierten wir koordiniertes Agentenverhalten am Computer. Nach jedem Hänger starteten wir den Computer neu, doch schließlich beschlossen wir, einfach abzuwarten, ob das Programm tatsächlich abgestürzt war. Wir stellten fest, dass es manchmal bis zu zwölf Stunden lang hängen blieb und plötzlich wieder zum Leben erwachte. Das Verhalten interessierte sogar die Neurowissenschaftler, weil ...

»Sie starten wieder«, sagte Ricky.

Und tatsächlich. Die Schwärme erhoben sich vom toten Kaninchen. Ich sah sofort, dass meine Theorie falsch war. Es gab keine losen, vereinzelten Fetzen. Die drei Wolken stiegen zusammen auf, fließend. Das Verhalten wirkte völlig gezielt und kontrolliert. Die Wolken drehten sich einen Moment lang einzeln, verschmolzen dann wieder zu einer. Sonnenlicht blitzte auf schimmerndem Silber. Das Kaninchen lag reglos auf der Seite.

Und dann machte sich der Schwarm rasch davon, flirrte hinein in die Wüste. Er wurde zum Horizont hin immer kleiner. Bald darauf war er verschwunden.

Ricky sah mich an. »Was meinst du?«

»Ihr habt einen selbstständigen Roboter-Nanoschwarm am Hals. Der sich dank irgendeines Idioten selbst mit Energie versorgen und erhalten kann.«

»Meinst du, wir kriegen ihn zurück?«

»Nein«, sagte ich. »Nach dem, was ich gesehen hab, ist das völlig ausgeschlossen.«

Ricky seufzte und schüttelte den Kopf.

»Aber ihr könnt ihn euch auf jeden Fall vom Hals schaffen«, sagte ich. »Ihr könnt ihn töten.«

»Im Ernst?«

»Natürlich.«

»Wirklich?« Seine Miene hellte sich auf.

»Mit Sicherheit.« Und das war mein voller Ernst. Ich war überzeugt, dass Ricky das Problem übertrieb, mit dem er es zu tun hatte. Er hatte es nicht richtig durchdacht. Er hatte nicht alles getan, was er tun konnte.

Ich war überzeugt, dass ich den flüchtigen Schwarm vernichten könnte. Ich ging davon aus, dass die Sache am nächsten Morgen bei Tagesanbruch erledigt sein würde - spätestens.

Aber da ahnte ich ja noch nicht, mit was für einem Gegner ich es zu tun hatte.

6. Tag, 10.11 Uhr

Rückblickend hatte ich in einem Punkt tatsächlich Recht: Es war von entscheidender Bedeutung herauszufinden, wie das Kaninchen gestorben war. Natürlich weiß ich das inzwischen. Ich weiß auch, warum das Kaninchen angegriffen wurde. Aber an jenem ersten Tag im Labor hatte ich nicht die leiseste Ahnung, was geschehen war. Und die Wahrheit hätte ich niemals erraten können.

Keiner hätte das gekonnt, zu diesem Zeitpunkt.

Nicht einmal Ricky.

Nicht einmal Julia.

Zehn Minuten waren vergangen, seit die Schwärme verschwunden waren, und wir standen alle im Lagerraum. Die ganze Gruppe hatte sich dort versammelt, angespannt und nervös. Sie sahen zu, wie ich mir einen Funksender an den Gürtel steckte und ein Headset aufsetzte. Zum Headset gehörte eine Videokamera, die links in Augenhöhe befestigt war. Es dauerte ein Weilchen, bis der Videosender richtig funktionierte.

Ricky sagte: »Du willst wirklich da raus?«

»Ja«, sagte ich. »Ich will wissen, was mit diesem Kaninchen passiert ist.« Ich blickte in die Runde. »Wer kommt mit?«

Niemand rührte sich. Bobby Lembeck blickte zu Boden, die Hände in den Taschen. David Brooks blinzelte rasch und schaute weg. Ricky inspizierte seine Fingernägel. Ich fing Rosie Castros Blick auf. Sie schüttelte den Kopf. »Ich denk nicht dran, Jack.«

»Wieso nicht, Rosie?«

»Du hast es doch selbst gesehen. Die jagen.« »Meinst du?«

»Es sah jedenfalls verflucht danach aus.«

»Rosie«, sagte ich, »das kannst du doch nicht ernsthaft denken nach dem, was ich dir beigebracht hab. Wie sollte es denn möglich sein, dass die Schwärme jagen?«

»Wir haben es alle gesehen.« Sie schob störrisch das Kinn vor. »Alle drei Schwärme haben gejagt, koordiniert.«

»Aber wie?«, fragte ich.

Jetzt runzelte sie die Stirn, sah verwirrt aus. »Was soll die Frage? Das ist doch wohl klar. Die Agenten können kommunizieren. Sie können jeder ein elektrisches Signal erzeugen.«

»Richtig«, sagte ich. »Wie stark ist das Signal?«

»Tja ...« Sie zuckte die Achseln.

»Wie stark, Rosie? Sehr stark kann es nicht sein, jeder Agent misst bloß ein Hundertstel von der Dicke eines Menschenhaars. Da kann er ja wohl kaum ein starkes Signal erzeugen, richtig?«

»Ja, schon .«

»Und elektrische Strahlung nimmt proportional zum Quadrat des Radius ab, richtig?« Das lernten schließlich schon Schulkinder im Physikunterricht in der High School. Wenn man sich von der elektromagnetischen Quelle entfernte, ließ die Intensität schnell nach - sehr schnell.

Und das bedeutete, dass die einzelnen Agenten nur mit ihren unmittelbaren Nachbarn kommunizieren konnten, mit Agenten ganz in ihrer Nähe. Nicht mit anderen Schwärmen, die zwanzig oder dreißig Meter entfernt waren.

Rosie blickte noch skeptischer. Die ganze Gruppe blickte jetzt skeptisch, alle sahen einander beklommen an.

David Brooks hustete. »Was haben wir denn dann gesehen, Jack?«

»Das war eine Illusion«, sagte ich mit Bestimmtheit. »Ihr habt drei Schwärme gesehen, die unabhängig voneinander agiert haben, und ihr habt gedacht, sie wären koordiniert. Aber das sind sie nicht. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass auch alles andere, was ihr den Schwärmen unterstellt, nicht stimmt.«

Es gab vieles im Hinblick auf die Schwärme, was ich nicht verstand - und vieles glaubte ich einfach nicht. So konnte ich mir zum Beispiel nicht vorstellen, dass die Schwärme sich reproduzierten. Dass Ricky und die anderen sich das einbildeten, war für mich nur ein Zeichen dafür, dass ihre Nerven ziemlich blank lagen. Schließlich reichten die freigesetzten fünfzig Pfund Material ohne weiteres für die drei Schwärme, die ich gesehen hatte - und noch für Dutzende mehr. (Ich schätzte, dass jeder aus drei Pfund Nanopartikeln bestand. Das war in etwa das Gewicht eines großen Bienenschwarms.)

Dass die Schwärme ein zielgerichtetes Verhalten an den Tag legten, fand ich keineswegs beängstigend; das war das beabsichtigte Resultat des Programmierens auf unterster Ebene. Und ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Schwärme koordiniert waren. Das war einfach nicht möglich, weil die Felder zu schwach waren.

Außerdem glaubte ich nicht, dass die Schwärme anpassungsfähig waren, wie Ricky meinte. Ich hatte schon zu viele Demoaufnahmen von Robotern gesehen, die irgendeine Aufgabe ausführten - zum Beispiel gemeinsam eine Schachtel durch den Raum schieben -, was Beobachter als intelligentes Verhalten interpretierten, obwohl die Roboter in Wahrheit dumm waren, minimal programmiert und per Zufall kooperierten. Viele Verhaltensweisen wirkten intelligenter, als sie es waren. (Wie Charley Davenport immer sagte: »Ricky sollte Gott dafür danken.«)

Und schließlich glaubte ich eigentlich nicht, dass die Schwärme gefährlich waren. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine drei Pfund schwere Wolke Nanopartikel eine besondere Bedrohung für irgendetwas darstellen konnte, nicht mal für ein Kaninchen. Ich war beileibe nicht davon überzeugt, dass es getötet worden war. Ich meinte, mich zu erinnern, dass Kaninchen ängstliche Geschöpfe waren, die auch vor lauter Panik sterben konnten. Es war ebenfalls denkbar, dass die Partikel in Nase und Mund eingedrungen waren, die Atemwege verstopft hatten und das Tier erstickt war. Falls das stimmte, war der Tod ein Unfall und nicht absichtlich herbeigeführt worden. Tod durch Unfall schien mir einleuchtender.

Kurzum, ich war fest davon überzeugt, dass Ricky und die anderen das Gesehene ausnahmslos falsch gedeutet hatten. Sie hatten sich selbst Angst eingejagt.

Andererseits musste ich zugeben, dass mir etliche unbeantwortete Fragen keine Ruhe ließen.

Die erste und offensichtlichste war die, warum der Schwarm überhaupt außer Kontrolle geraten war. Der ursprüngliche Kameraschwarm sollte von einem auf ihn eingestellten HF-Sender gesteuert werden. Jetzt ignorierte der Schwarm offenbar gesendete Funkbefehle, und ich verstand nicht, warum das so war. Ich tippte auf einen Produktionsfehler. Die Partikel waren vermutlich fehlerhaft.

Zweitens wunderte mich die Langlebigkeit des Schwarms. Die einzelnen Partikel waren ungeheuer klein, sodass sie durch kosmische Strahlung, fotochemische Zersetzung, Dehydration ihrer Proteinketten und andere Umweltfaktoren Schaden nehmen mussten. In der rauen Wüste hätten alle Schwärme schon vor vielen Tagen geschrumpft und an »Altersschwäche« gestorben sein müssen. Aber das war nicht geschehen. Warum nicht?

Das dritte Problem war das offensichtliche Ziel des Schwarms. Laut Ricky kamen die Schwärme immer wieder zum Hauptgebäude. Ricky glaubte, sie wollten sich Einlass verschaffen. Aber das kam mir nicht wie ein vernünftiges Agentenziel vor, und ich wollte einen Blick auf den Programmcode werfen, um zu sehen, was der Grund dafür war. Ehrlich gesagt, ich vermutete einen Fehler im Code.

Und schließlich wollte ich herausfinden, warum sie das Ka-ninchen verfolgt hatten. predprey machte aus Einheiten nämlich nicht richtige Raubtiere. Das Räuber-Modell sorgte nur dafür, dass die Agenten fokussiert und ziel orientiert blieben. Irgendwie hatte sich das geändert, und die Schwärme schienen jetzt tatsächlich zu jagen.

Auch dafür war vermutlich ein Fehler im Code verantwortlich.

Meiner Ansicht nach liefen all diese Ungewissheiten auf eine einzige zentrale Frage hinaus - wie war das Kaninchen gestorben? Ich glaubte nicht, dass es getötet worden war. Ich ging von einem Unfall aus, nicht von Absicht.

Aber das mussten wir herausfinden.

Ich rückte mein Funk-Headset zurecht, mit der Sonnenbrille und der Videokamera in Augenhöhe. Ich nahm den Plastikbeutel für das tote Kaninchen und wandte mich den anderen zu. »Kommt jemand mit?«

Betretenes Schweigen.

Ricky sagte: »Was willst du mit dem Beutel?«

»Das Kaninchen holen.«

»Kommt nicht infrage«, sagte Ricky. »Du kannst von mir aus da rausgehen, das ist deine Sache. Aber du bringst das Kaninchen nicht hier rein.«

»Du machst wohl Witze«, sagte ich.

»Absolut nicht. Hier drin gilt allerhöchste Sauberkeitsstufe, Jack. Das Kaninchen ist dreckig. Es kommt mir nicht hier rein.«

»Also schön, dann bringen wir es in Maes Labor und ...«

»Ausgeschlossen, Jack. Tut mir Leid. Es kommt nicht durch die erste Luftschleuse.«

Ich blickte die anderen an. Sie nickten alle zustimmend.

»Na gut. Dann untersuche ich es eben draußen.«

»Du willst wirklich da raus?«

»Ja, klar.« Ich blickte die anderen nacheinander an. »Hört zu, Leute, ich glaube, ihr macht euch grundlos ins Hemd. Die Wolke ist nicht gefährlich. Und ja, ich gehe da raus.« Ich wandte mich an Mae. »Hast du vielleicht ein Sezierbesteck ...«

»Ich komme mit«, sagte sie rasch.

»Schön. Danke.« Ich war überrascht, dass Mae sich als Erste meiner Überzeugung anzuschließen schien. Aber als Feldbiologin konnte sie die Risiken der realen Welt wahrscheinlich besser abschätzen. Jedenfalls löste ihre Entscheidung ein wenig die Anspannung im Raum; die anderen wurden sichtlich lockerer. Mae ging, um das Sezierbesteck und ein paar Laborgeräte zu holen. In diesem Moment klingelte das Telefon. Vince ging dran und wandte sich dann an mich. »Kennen Sie eine Dr. Ellen Forman?«

»Ja.« Es war meine Schwester.

»Sie ist in der Leitung.« Vince reichte mir den Hörer und trat zur Seite. Ich war plötzlich nervös. Ich sah auf meine Uhr. Es war elf Uhr vormittags, Zeit für Amandas Schläfchen. Eigentlich müsste sie jetzt schon in ihrem Bett liegen. Dann fiel mir ein, dass ich meiner Schwester versprochen hatte, sie um elf anzurufen, um zu hören, ob sie klarkam.

Ich sagte: »Hallo? Ellen? Ist alles in Ordnung?«

»Klar. Sicher.« Ein langer, langer Seufzer. »Alles bestens. Ich weiß bloß nicht, wie du das alles schaffst.«

»Müde?«

»Ungefähr so müde wie noch nie in meinem Leben.«

»Die Kinder gut in die Schule gekommen?«

Wieder ein Seufzen. »Ja. Im Wagen hat Eric Nicole auf den Rücken gehauen und sie hat ihm eins aufs Ohr gegeben.«

»Du musst dazwischengehen, wenn sie mit so was anfangen, Ellen.«

»Ich lerne ja noch«, erwiderte sie matt.

»Und die Kleine? Was macht ihr Ausschlag?«

»Besser. Ich nehm die Salbe.«

»Das Geschäft erledigt?« »Geschäft? Sollte ich was erledigen?«

»Nein, nein«, sagte ich. Ich wandte mich von der Gruppe ab, senkte die Stimme. »Ich meine, hat sie Aa gemacht?«

Hinter mir hörte ich Charley Davenport kichern.

»Ergiebig«, sagte Ellen. »Sie schläft jetzt. Ich war mit ihr auf dem Spielplatz. Das hat sie schön müde gemacht. Im Haus ist alles in Ordnung. Nur der Boiler ist kaputt, aber ich hab schon den Handwerker bestellt.«

»Schön, schön ... Äh, Ellen, ich hab jetzt gar keine Zeit ...«

»Jack? Julia hat vor ein paar Minuten aus dem Krankenhaus angerufen. Sie wollte dich sprechen.«

»Ja .«

»Als ich ihr gesagt hab, du bist in Nevada, hat sie sich ziemlich aufgeregt.«

»Ach ja?«

»Sie hat gesagt, du würdest das nicht verstehen. Und du würdest alles nur schlimmer machen. So ungefähr. Ich glaube, du rufst sie besser an. Sie klang aufgebracht.«

»Gut. Ich ruf sie an.«

»Wie läuft's denn bei dir? Kommst du heute Abend zurück?«

»Heute Abend noch nicht«, sagte ich. »Irgendwann morgen Vormittag. Ellen, ich muss jetzt Schluss machen ...«

»Ruf die Kinder heute Abend an, wenn du kannst, so zur Abendessenszeit. Sie würden sich freuen. Tante Ellen ist ja ganz nett, aber sie ist nun mal nicht Dad. Du weißt schon.«

»In Ordnung. Ihr esst um sechs?«

»Um den Dreh.«

Ich sagte, ich würde versuchen anzurufen, und legte auf.

Mae und ich befanden uns vor den Doppelglaswänden der äußeren Luftschleuse, direkt am Eingang des Gebäudes. Durch das Glas hindurch konnte ich die dicke, stählerne Brandschutztür erkennen, die nach draußen führte. Ricky stand neben uns, finster und nervös, und sah zu, wie wir die letzten Vorbereitun-gen trafen.

»Ist das denn wirklich nötig? Dass ihr nach draußen geht?«

»Es ist unbedingt nötig.«

»Wartet doch lieber, bis es dunkel wird.«

»Dann ist das Kaninchen nicht mehr da«, erwiderte ich. »Bis es dunkel wird, haben sich längst Kojoten oder Bussarde den Kadaver geschnappt.«

»Das glaub ich kaum«, sagte Ricky. »Wir haben hier schon eine ganze Weile keine Kojoten mehr gesehen.«

»Ach, was soll's«, sagte ich ungeduldig und schaltete mein Funk-Headset an. »In der Zeit, die wir hier debattieren, könnten wir längst draußen und wieder zurück sein. Bis gleich, Ricky.«

Ich ging durch die Glastür und stellte mich in die Schleuse. Die Tür schloss sich zischend hinter mir. Das Gebläse brauste wie inzwischen gewohnt kurz auf, und dann glitt das äußere Glas auf. Ich ging weiter bis zur Stahltür. Als ich nach hinten blickte, trat Mae gerade in die Luftschleuse.

Ich öffnete die Tür einen Spalt. Gleißendes Sonnenlicht warf einen brennenden Streifen auf den Boden. Ich spürte heiße Luft im Gesicht. Über die Sprechanlage sagte Ricky: »Viel Glück, ihr beiden.«

Ich atmete einmal durch, drückte die Tür weiter auf und schritt hinaus in die Wüste.

Der Wind hatte sich gelegt, und die Vormittagshitze war drückend. Irgendwo zwitscherte ein Vogel; ansonsten war es still. An der Tür stehend, blinzelte ich in das grelle Sonnenlicht. Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter. Ich holte noch einmal tief Luft.

Ich war mir sicher, dass die Schwärme nicht gefährlich waren. Aber jetzt, hier draußen, verlor meine Theorie irgendwie an Überzeugungskraft. Bestimmt hatte Ricky mich mit seiner Nervosität angesteckt, denn mir war ausgesprochen mulmig zu Mute. Außerdem schien der Kaninchenkadaver viel weiter entfernt, als ich gedacht hatte. Es waren etwa fünfzig Schritte von der Tür aus, die halbe Länge eines Footballfeldes. Die Wüste drum herum wirkte kahl und nackt. Ich suchte den flirrenden Horizont ab, hielt nach schwarzen Formationen Ausschau. Ich sah keine.

Die Brandschutztür ging hinter mir auf, und Mae sagte: »Von mir aus kann's losgehen, Jack.«

»Dann wollen wir mal.«

Wir machten uns auf den Weg, die Füße knirschten im Wüstensand. Wir entfernten uns vom Gebäude. Fast im selben Moment fing mein Herz an zu hämmern, und mir brach der Schweiß aus. Ich zwang mich, tief und langsam zu atmen, bemühte mich, Ruhe zu bewahren. Die Sonne brannte mir ins Gesicht. Mir war klar, dass Ricky mir diese Angst eingejagt hatte, aber ich konnte nichts dagegen tun. Dauernd blickte ich zum Horizont.

Mae war zwei Schritte hinter mir. Ich sagte: »Alles klar?«

»Ich bin froh, wenn es vorbei ist.«

Wir durchquerten ein Feld kniehoher Feigenkakteen. Ihre Stacheln leuchteten in der Sonne. Hier und da ragte ein großer Kugelkaktus vom Boden auf, wie ein stoppeliger, grüner Daumen.

Ein paar kleine, lautlose Vögel hüpften über den Sand, unter den Feigenkakteen. Als wir näher kamen, flogen sie auf, kreisende Flecken vor dem Blau. Sie landeten hundert Meter weiter.

Endlich waren wir bei dem Kaninchen, das von einer summenden schwarzen Wolke umgeben war. Erschreckt stockte ich kurz.

»Das sind bloß Fliegen«, sagte Mae. Sie trat vor und kniete sich neben den Kadaver, ohne sich um die Fliegen zu scheren. Sie zog Gummihandschuhe an und reichte auch mir ein Paar. Sie breitete ein quadratisches Stück Plastikfolie auf dem Boden aus, beschwerte es an jeder Ecke mit einem Stein. Sie hob das Kaninchen hoch und legte es mitten auf die Folie. Sie öffnete ein kleines Etui mit ihrem Sezierbesteck und klappte es auf. Ich sah Stahlinstrumente in der Sonne funkeln: Pinzette, Skalpell, mehrere unterschiedliche Scheren. Daneben legte sie ordentlich aufgereiht eine Spritze und einige Teströhrchen mit Gummipfropfen. Ihre Bewegungen waren schnell, routiniert. Sie machte das nicht zum ersten Mal.

Ich kniete mich neben sie. Der Kadaver hatte keinen Geruch. Äußerlich konnte ich kein Anzeichen für eine mögliche Todesursache erkennen. Das starre Auge sah rosa und gesund aus.

Mae sagte: »Bobby? Aufnahmebereit?«

Über das Headset hörte ich Bobby Lembeck sagen: »Schwenk deine Kamera nach unten.«

Mae berührte die Kamera, die an ihrer Sonnenbrille befestigt war.

»Noch ein bisschen . noch ein bisschen. Gut so. Das genügt.«

»Okay«, sagte Mae. Sie drehte den Körper des Kaninchens mit den Händen, nahm ihn von allen Seiten in Augenschein. Sie diktierte rasch: »Äußerlich macht das Tier einen ganz normalen Eindruck. Keine angeborene Missbildung oder Erkrankung feststellbar, das Fell ist dicht und sieht gesund aus. Die Nasenluftwege scheinen teilweise oder gänzlich verstopft. Ich sehe etwas Kot am Anus, vermute aber, dass es sich um eine normale Entleerung bei Eintritt des Todes handelt.«

Sie drehte das Tier auf den Rücken und spreizte die Vorderläufe mit den Händen auseinander. »Du musst mir helfen, Jack.« Ich sollte die Pfoten für sie festhalten. Der Kadaver war noch warm und nicht steif.

Sie nahm das Skalpell und schnitt rasch den Bauch auf. Ein roter Spalt klaffte auf, Blut floss. Ich sah Rippen und rosa Darmwindungen. Mae sprach ununterbrochen, während sie schnitt, kommentierte Gewebefarbe und -textur. Sie wies mich an: »Halt das mal«, und ich bewegte eine Hand nach unten, um die glitschigen Eingeweide beiseite zu drücken. Mit einem einzigen Skalpellschnitt trennte sie den Magen auf. Trübe, grüne Flüssigkeit quoll hervor, und eine breiige Masse, offenbar unverdaute Fasern. Die Innenwand des Magens sah aufge-raut aus, aber Mae meinte, das sei normal. Sie fuhr mit einem Finger gekonnt an der Magenwand entlang, hielt dann inne.

»Mmm. Sieh mal«, sagte sie.

»Was ist?«

»Dort.« Sie zeigte. An mehreren Stellen war der Magen rötlich, blutete leicht, als wäre er wund gerieben worden. Ich sah schwarze Flecken in der Mitte der Blutung. »Das ist nicht normal«, sagte Mae. »Das ist pathologisch.« Sie nahm ein Vergrößerungsglas und sah genauer hin, diktierte dann: »Ich sehe dunkle Bereiche von zirka vier bis acht Millimeter Durchmesser, bei denen es sich vermutlich um Ansammlungen von Nanopartikeln in der Magenwand handelt«, sagte sie. »Im Zusammenhang mit den Ansammlungen ist eine leichte Blutung der Magenschleimhaut festzustellen.«

»Im Magen sind Nanopartikel?«, sagte ich. »Wie sind die da reingekommen? Hat das Kaninchen sie gegessen? Sie unabsichtlich geschluckt?«

»Das bezweifle ich. Ich würde vermuten, sie sind aktiv eingedrungen.«

Ich runzelte die Stirn. »Du meinst, sie sind runter durch die ...«

»Speiseröhre. Ja. Zumindest glaube ich das.«

»Wieso sollten sie so was tun?«

»Ich weiß nicht.«

Die ganze Zeit über sezierte sie zügig weiter. Sie nahm die Schere und schnitt das Brustbein der Länge nach durch, drückte dann den Brustkorb mit den Fingern auseinander. »Jetzt hier festhalten.« Mit einer Hand zog ich die Rippen auseinander, wie sie es getan hatte. Die Knochenränder waren scharf. Mit der anderen spreizte ich die Hinterläufe. Mae arbeitete zwischen meinen Händen.

»Die Lunge ist hell rosa und fest, äußerlich normal.« Sie schnitt einen Lungenlappen mit dem Skalpell auf, machte dann noch einen Schnitt und noch einen. Schließlich legte sie die Bronchien frei und schnitt sie auf. Sie waren innen dunkel.

»Die Bronchien sind stark von Nanopartikeln befallen, die offenbar inhaliert wurden«, sagte sie diktierend. »Hast du alles, Bobby?«

»Ich hab alles. Videoauflösung gut.«

Sie schnitt weiter nach oben. »Ich folge jetzt dem Bronchialbaum hoch zur Kehle .«

Und sie schnitt weiter, in die Kehle, und dann von der Nase aus quer über die Wange, öffnete dann das Maul . Ich musste mich kurz abwenden. Aber Mae diktierte seelenruhig weiter. »Ich stelle einen starken Nanopartikelbefall aller Nasenluftwege und des Rachens fest. Das lässt auf eine teilweise oder vollständige Atemwegsverstopfung schließen, was wiederum den Tod herbeigeführt haben könnte.«

Ich sah wieder hin. »Was?«

Der Kopf des Kaninchens war kaum noch zu erkennen, Mae hatte den Kiefer aufgeschnitten und blickte jetzt in den Rachen hinein. »Überzeug dich selbst«, sagte sie, »es sieht aus, als würde eine dichte Masse Partikel den Schlund verstopfen, und es ist eine Reaktion zu erkennen, entweder allergisch oder .«

Dann Ricky: »He, ihr beiden, wollt ihr noch lange draußen bleiben?«

»So lange wie nötig«, sagte ich. Ich fragte Mae: »Was für eine allergische Reaktion?«

»Tja«, sagte sie, »siehst du den Gewebebereich da und wie geschwollen er ist, und siehst du, wie grau er geworden ist, was darauf hindeutet .«

»Ist euch klar«, sagte Ricky, »dass ihr schon vier Minuten draußen seid?« »Wir sind nur hier, weil wir das Kaninchen nicht mit reinbringen dürfen«, sagte ich.

»Stimmt, das dürft ihr nicht.«

Mae schüttelte den Kopf, als sie das hörte. »Ricky, du hältst uns nur auf .«

Bobby sagte: »Nicht den Kopf schütteln, Mae. Dabei schwenkst du die Kamera hin und her.«

»Tschuldigung.«

Aber ich sah, dass sie den Kopf hob, als würde sie zum Horizont blicken, und währenddessen entkorkte sie ein Teströhr-chen und steckte ein Stück Magenwand in das Glas. Sie schob es in ihre Tasche. Dann senkte sie wieder den Blick. Niemand, der am Monitor zuschaute, hätte sehen können, was sie getan hatte. Sie sagte: »Schön, jetzt nehmen wir Blutproben.«

»Blut ist aber auch das Einzige, was ihr hier reinbringt«, sagte Ricky.

»Ja, Ricky. Wissen wir.«

Mae nahm die Spritze, stach die Nadel in eine Arterie, zog etwas Blut auf, drückte es in ein Plastikröhrchen, entfernte die Nadel mit einer Hand, steckte eine neue auf und nahm eine zweite Probe. Alles im selben zügigen Tempo.

Ich sagte: »Ich hab den Eindruck, du hast so was schon mal gemacht.«

»Das hier ist noch gar nichts. In Sichuan haben wir immer in schweren Schneestürmen gearbeitet, da sieht man nicht, was man macht, die Hände sind eiskalt, das Tier ist hart gefroren, man kriegt keine Nadel rein ...« Sie legte die Röhrchen mit Blut beiseite. »Jetzt nehmen wir nur noch ein paar Kulturen, dann sind wir fertig ... « Sie drehte ihr Etui um, suchte. »So ein Pech.«

»Was ist denn?«, fragte ich.

»Die Tupfer für die Kulturen sind nicht da.«

»Aber drinnen hattest du sie?«

»Ja, ganz sicher.«

Ich sagte: »Ricky, siehst du die Tupfer irgendwo?«

»Ja. Die liegen hier an der Luftschleuse.«

»Bringst du sie uns bitte?«

»Ja klar, Leute.« Er lachte rau. »Mich kriegen keine zehn Pferde da raus. Die müsst ihr euch schon selbst holen.«

Mae sagte zu mir: »Willst du gehen?«

»Nein«, sagte ich. Ich hielt bereits das Tier auf; meine Hände waren an der richtigen Position. »Ich warte hier. Geh du.«

»Okay.« Sie stand auf. »Versuch, die Fliegen fern zu halten. Wir müssen jede überflüssige Verunreinigung vermeiden. Ich bin gleich wieder da.« Sie joggte los Richtung Tür.

Ich hörte ihre Schritte leiser werden, dann das Klappern der Metalltür, die sich hinter ihr schloss. Danach Stille. Angelockt vom aufgeschlitzten Kadaver kamen die Fliegen massenhaft zurück, schwirrten mir um den Kopf herum, versuchten, auf den freigelegten Gedärmen zu landen. Ich ließ die Hinterläufe des Kaninchens los und verscheuchte sie mit einer Hand. Ich beschäftigte mich mit den Fliegen, um nicht daran denken zu müssen, dass ich hier draußen allein war.

Ich blickte immer wieder in die Ferne, aber ich sah nichts. Während ich weiter nach den Fliegen schlug, berührte ich ab und zu das Fell des Kaninchens, und auf einmal bemerkte ich, dass die Haut unter dem Fell leuchtend rot war.

Leuchtend rot - genau wie ein schlimmer Sonnenbrand. Schon bei dem Anblick überlief es mich kalt.

Ich sprach in mein Headset. »Bobby?«

Knistern. »Ja, Jack.«

»Kannst du das Kaninchen sehen?«

»Ja, Jack.«

»Kannst du erkennen, dass die Haut gerötet ist? Kriegst du das drauf?«

»Ah, Moment.«

Ich hörte ein leises Surren an meiner Schläfe. Bobby steuerte die Kamera per Fernbedienung, zoomte. Das Surren hörte auf.

Ich sagte: »Kannst du es sehen? Durch meine Kamera?«

Keine Antwort.

»Bobby?«

Ich hörte Gemurmel, Flüstern. Oder war es vielleicht nur statisches Rauschen?

»Bobby, bist du da?«

Stille. Ich hörte Atmen.

»Äh, Jack?« Jetzt war es die Stimme von David Brooks. »Du kommst besser zurück.«

»Mae ist noch nicht wieder da. Wo bleibt sie denn?«

»Mae ist hier.«

»Aber ich muss noch warten, sie will noch Kulturen nehmen .«

»Nein. Komm sofort zurück, Jack.«

Ich ließ das Kaninchen los und stand auf. Ich sah mich um, suchte den Horizont ab. »Ich seh nichts.«

»Sie sind auf der anderen Seite des Gebäudes, Jack.«

Seine Stimme war ruhig, aber ich spürte ein Frösteln. »Im Ernst?«

»Komm sofort rein, Jack.«

Ich bückte mich, nahm Maes Proben, ihr Sezieretui, das neben dem Kaninchenkadaver lag. Das schwarze Leder des Etuis war heiß von der Sonne.

»Jack?«

»Ja, gleich .«

»Jack. Verdammt noch mal, beeil dich.«

Ich ging los Richtung Stahltür. Meine Füße knirschten auf dem Wüstenboden. Ich sah nicht das Geringste.

Aber ich hörte etwas.

Es war ein merkwürdiges, leise trommelndes Geräusch. Zuerst dachte ich an eine Maschine, aber das Geräusch hob und senkte sich, pulsierte wie ein Herzschlag. Weitere Rhythmen kamen hinzu, dann eine Art Zischen, das irgendwie seltsam, unirdisch klang - etwas Vergleichbares hatte ich noch nie gehört.

Wenn ich jetzt daran zurückdenke, so ist unverkennbar, dass mich vor allem das Geräusch erschreckte.

Ich ging schneller. Ich sagte: »Wo sind sie?« »Sie kommen.« »Wo?«

»Jack? Lauf los.«

»Was?«

»Renn!«

Ich konnte noch immer nichts sehen, aber das Geräusch nahm an Intensität zu. Ich begann zu traben. Die Tonfrequenz war so niedrig, dass ich es als Vibration im Körper spürte. Aber ich konnte es auch hören. Dieses schlagende, unregelmäßige Pulsieren. »Renn, Jack.« Ich dachte, Scheiße. Und ich rannte.

Wirbelnd und silbrig glitzernd kam der erste Schwarm um die Ecke des Gebäudes. Das zischende Vibrieren ging von der Wolke aus. Sie glitt an der Gebäudewand entlang auf mich zu. Sie würde viel eher an der Tür sein als ich.

Als ich wieder hinschaute, sah ich einen zweiten Schwarm am anderen Ende des Gebäudes auftauchen. Auch er näherte sich mir.

Das Headset knisterte. Ich hörte David Brooks. »Jack, das schaffst du nicht.«

»Das sehe ich selbst«, sagte ich. Der erste Schwarm hatte die Tür schon erreicht und versperrte mir den Weg. Ich blieb stehen, unsicher, was ich tun sollte. Vor mir sah ich einen Stock auf der Erde liegen, dick, über einen Meter lang. Ich nahm ihn auf, schwang ihn in der Hand. Der Schwarm pulsierte, rührte sich aber nicht von der Tür weg.

Der zweite Schwarm kam weiter auf mich zu.

Es war Zeit für ein Ablenkungsmanöver. Ich kannte den predprey-Code. Ich wusste, dass die Schwärme darauf programmiert waren, die Verfolgung von sich bewegenden Zielen aufzunehmen, und das besonders dann, wenn sie anscheinend vor ihnen flohen. Was würde ein gutes Ziel abgeben?

Ich holte weit aus und warf das schwarze Etui mit dem Sezierbesteck hoch in die Luft, so ungefähr in Richtung des zweiten Schwarms. Das Etui landete und purzelte noch ein Stück weiter.

Sogleich steuerte der zweite Schwarm darauf zu.

Im selben Augenblick entfernte sich auch der erste Schwarm von der Tür, um das Etui zu verfolgen. Es war, als würde ein Hund einem Ball nachjagen. Ich war erleichtert, als ich das sah. Es war schließlich doch nur ein programmierter Schwarm. Ich dachte: Das reinste Kinderspiel. Und eilte auf die Tür zu.

Das war ein Fehler. Denn meine schnelle Bewegung war offenbar ein Auslöser für den Schwarm, der jäh stockte und dann wieder zurückwirbelte, um mir erneut die Tür zu versperren. Dort verharrte er, pulsierende Silberstreifen, wie eine Messerklinge, die in der Sonne glitzerte.

Mir den Weg abschneidend.

Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was das bedeutete. Meine Bewegung hatte den Schwarm nicht veranlasst, mich zu verfolgen. Er hatte mich gar nicht gejagt. Stattdessen versperrte er mir den Weg. Er ahnte also meine Bewegungen voraus.

Das stand nicht im Code. Doch dieser Schwarm erfand neues Verhalten, entsprechend der Situation. Statt mich zu verfolgen, war er an seinen alten Standort zurückgekehrt und hatte mir eine Falle gestellt.

Er war über seine Programmierung hinausgegangen - und zwar erheblich. Mir war unerklärlich, wie das geschehen konnte. Ich dachte, dass es sich um eine Art zufälliges Reinfor-cement handeln musste, also etwas vom System selbstständig Gelerntes. Weil die einzelnen Partikel nur sehr wenig Speicher hatten, war die Intelligenz des Schwarms zwangsläufig begrenzt. So schwierig konnte es also nicht sein, ihn auszutricksen.

Ich täuschte eine Bewegung nach links an, dann nach rechts. Die Wolke ging mit, aber nur ganz kurz. Dann kehrte sie wieder zur Tür zurück. Als wüsste sie, dass mein Ziel die Tür war und dass sie Erfolg haben würde, wenn sie einfach da blieb, wo sie war.

Das war viel zu clever. Es hatte bestimmt zusätzliche Programmierungen gegeben, von denen mir keiner was gesagt hatte. Ich sagte ins Headset: »Was um alles in der Welt habt ihr denn bloß mit den Dingern angestellt?«

David: »Der lässt dich nicht vorbei, Jack.«

Schon allein ihn das sagen zu hören reizte mich. »Meinst du? Das werden wir ja sehen.«

Denn mein nächster Schritt war offensichtlich. So dicht über der Erde war die Struktur des Schwarms anfällig. Er war eine Ansammlung von Partikeln, nicht größer als Staubkörner. Wenn ich ihn auseinander reißen könnte - seine Struktur aufbrechen -, dann müssten sich die Partikel neu organisieren, so wie sich eine aufgescheuchte Schar Vögel in der Luft neu formierte. Das würde mindestens ein paar Sekunden dauern. Und in der Zeit würde ich es durch die Tür schaffen.

Aber wie sollte ich das anstellen? Ich schwang den Stock in der Hand, hörte, wie er durch die Luft zischte, aber er würde nie und nimmer genügen. Ich brauchte etwas mit einer größeren Fläche, wie ein Paddel oder einen Palmwedel - etwas, das einen kräftigen, mitreißenden Wind erzeugte ...

Meine Gedanken überschlugen sich. Ich brauchte irgendetwas.

Irgendetwas.

Die zweite Wolke näherte sich mir von hinten. Sie bewegte sich sprunghaft, im Zickzack, als wollte sie jeden etwaigen Versuch von mir unterbinden, an ihr vorbeizulaufen. Ich beobachtete das entsetzt und fasziniert zugleich. Auch das, so wusste ich, war nicht programmiert worden. Es war selbst organisiertes, emergentes Verhalten - und dessen Sinn lag eindeutig auf der Hand. Der Schwarm pirschte sich an mich heran.

Das pulsierende Geräusch wurde lauter, je näher der Schwarm kam.

Ich musste ihn auseinander reißen.

Ich drehte mich im Kreis und suchte den Boden um mich herum ab. Ich sah nichts, was ich hätte verwenden können. Der nächste Wacholderbaum war zu weit weg. Die Feigenkakteen waren zu dünn. Ich dachte, kein Wunder, dass hier nichts zu finden ist, schließlich bin ich mitten in der verdammten Wüste. Ich ließ den Blick am Gebäude entlanghuschen, hoffte, dass jemand irgendetwas draußen liegen gelassen hatte, vielleicht eine Harke .

Nichts.

Rein gar nichts. Ich stand hier draußen mit nichts als dem, was ich auf dem Leibe trug, und kein Mensch war da, der mir helfen .

Natürlich!

Das Headset knisterte: »Jack, hör zu .«

Aber dann hörte ich nichts mehr. Als ich mir das Hemd über den Kopf zog, rutschte das Headset ab und fiel zu Boden. Und dann schwang ich mein Hemd in ausladenden, zischenden Kreisen durch die Luft. Und aus vollem Hals brüllend, stürmte ich auf den Schwarm an der Tür los.

Der Schwarm vibrierte mit einem tiefen, trommelnden Klang. Er wurde etwas flacher, als ich auf ihn zurannte, und dann war ich mitten in den Partikeln und tauchte in ein seltsames Halbdunkel, wie in einem Sandsturm. Ich konnte nichts sehen, konnte die Tür nicht erkennen, tastete blind nach dem Türknauf, und die Augen brannten mir von den Partikeln, aber ich schwang mein Hemd weiter zischend durch die Luft, und plötzlich verschwand die Dunkelheit. Die Wolke riss auseinander, Partikel wurden in alle Richtungen geschleudert. Ich konnte wieder klarer sehen und auch normal atmen, obwohl meine Kehle wie ausgetrocknet war und wehtat. Dann spürte ich Tausende von winzigen Nadelstichen am ganzen Körper, aber sie verursachten kaum Schmerzen.

Jetzt sah ich die Tür. Der Knauf war direkt links von mir. Ich ließ das Hemd weiter durch die Luft sausen, und mit einem Mal löste sich die Wolke ganz auf, als wollte sie weg von mir. In dem Augenblick schlüpfte ich durch die Tür und knallte sie hinter mir zu.

Ich blinzelte in der plötzlichen Dunkelheit. Ich konnte kaum etwas sehen. Ich dachte, meine Augen müssten sich nach der grellen Sonne erst umgewöhnen, und wartete einen Augenblick, doch meine Sicht wurde nicht besser. Im Gegenteil, ich sah immer weniger. Ich konnte gerade noch die Glastüren der Luftschleuse direkt vor mir erkennen. Ich spürte noch immer die stechenden Nadeln überall auf der Haut. Meine Kehle war trocken, und mein Atem ging rasselnd. Ich hustete. Meine Sicht trübte sich. Mir wurde schwindelig.

Auf der anderen Seite der Schleuse standen Ricky und Mae und sahen mich an. Ich hörte Ricky rufen: »Mach schon, Jack! Schnell!«

Meine Augen brannten schmerzhaft. Das Schwindelgefühl wurde rasch schlimmer. Ich lehnte mich gegen die Wand, um nicht hinzufallen. Mein Hals fühlte sich dick an. Das Atmen fiel mir schwer. Keuchend wartete ich darauf, dass die Glastüren aufgingen, aber sie blieben geschlossen. Ich stierte stumpfsinnig auf die Luftschleuse.

»Du musst vor den Türen stehen! Stehen!«

Ich hatte das Gefühl, als würde die Welt sich in Zeitlupe bewegen. Meine ganze Kraft war verschwunden. Mein Körper war schwach und zittrig. Das Stechen wurde schlimmer. Der Raum wurde dunkler. Ich dachte, ich würde mich nicht mehr auf den Beinen halten können.

»Du musst stehen! Jack!«

Irgendwie drückte ich mich von der Wand weg und torkelte auf die Schleuse zu. Zischend glitten die Glastüren auf.

»Los, Jack. Mach schon!«

Flecken tanzten vor meinen Augen. Mir war schwindelig und übel. Ich taumelte in die Schleuse, schlug gegen das Glas, als ich eintrat. Mit jeder Sekunde, die verging, fiel mir das Atmen schwerer. Ich wusste, dass ich erstickte.

Draußen vor dem Gebäude hörte ich, wie das tiefe Trommeln wieder einsetzte. Ich drehte mich langsam um, wollte hinausgucken.

Die Glastüren schlossen sich.

Ich schaute an meinem Körper hinunter, aber ich konnte kaum etwas sehen. Meine Haut sah schwarz aus. Ich war voller Sand. Mein Körper tat weh. Auch mein Hemd war schwarz vor Sand. Der Sprühnebel brannte schmerzhaft, und ich schloss die Augen. Dann setzte das Gebläse ein, laut zischend. Ich sah, wie der Sand von meinem Hemd gesaugt wurde. Meine Sicht wurde klarer, aber ich konnte noch immer nicht atmen. Das Hemd rutschte mir aus der Hand, klatschte flach auf den Rost, auf dem ich stand. Ich bückte mich, um es aufzuheben. Mein Körper fing an zu zittern, schlotterte. Ich hörte nur noch das Rauschen des Gebläses.

Übelkeit überkam mich. Meine Knie gaben nach. Ich sackte gegen die Wand.

Durch die zweite Glastür sah ich zu Mae und Ricky hinüber. Sie wirkten weit weg. Und während ich sie ansah, wichen sie immer weiter zurück, entschwanden in der Ferne. Bald waren sie für mich viel zu fern, um mir noch länger Gedanken zu machen. Ich wusste, dass ich sterben würde. Als ich die Augen schloss, fiel ich zu Boden, und das Dröhnen des Gebläses verklang zu Totenstille.

6. Tag, 11.12 Uhr

»Nicht bewegen.«

Etwas Eiskaltes strömte durch meine Venen. Ich fröstelte.

»Jack. Nicht bewegen. Nur eine Sekunde, ja?«

Etwas Kaltes floss meinen Arm hinauf. Ich öffnete die Augen. Das Licht war direkt über mir, gleißend, grünlich hell; ich zuckte zusammen. Der ganze Körper tat mir weh. Als wäre ich verprügelt worden. Ich lag ausgestreckt auf der schwarzen Arbeitsplatte in Maes Labor. Gegen das grelle Licht blinzelnd, sah ich Mae neben mir stehen, über meinen linken Arm gebeugt. Eine Infusionsnadel steckte in meiner Armbeuge.

»Was tust du da?«

»Jack, bitte. Nicht bewegen. Ich hab das bisher nur bei Versuchstieren gemacht.«

»Wie beruhigend.« Ich hob den Kopf, um zu sehen, was sie da machte. Meine Schläfen dröhnten. Ich stöhnte und legte mich wieder hin.

Mae sagte: »Dir geht's schlecht, was?«

»Miserabel.«

»Kann ich mir denken. Ich musste dir drei Spritzen geben.«

»Weshalb?«

»Du hattest einen anaphylaktischen Schock, Jack, eine schwere allergische Reaktion. Dein Hals war fast zu.«

»Allergische Reaktion«, sagte ich. »Das war das?«

»Eine schwere.«

»Von dem Schwarm?«

Sie zögerte kurz, dann: »Natürlich.«

»Können Nanopartikel denn so eine allergische Reaktion auslösen?«

»Möglich wär's ...«

Ich sagte: »Aber du glaubst das nicht.«

»Nein, glaube ich nicht. Ich denke, die Nanopartikel sind nicht antigen. Du hast wahrscheinlich auf ein Coliform-Toxin reagiert.«

»Ein Coliform-Toxin . « Meine pochenden Kopfschmerzen kamen in Wellen. Ich holte Luft, atmete ruhig aus. Ich versuchte zu verstehen, was Mae da sagte. Mein Verstand arbeitete langsam; mir tat der Kopfweh. »Ein Coliform-Toxin.«

»Genau.«

»Ein Toxin von E. coli-Bakterien? Meinst du das?«

»Genau. Ein proteolytisches Toxin vermutlich.«

»Und wo sollte so ein Toxin herkommen?«

»Vom Schwarm«, sagte sie.

Das ergab für mich absolut keinen Sinn. Laut Ricky wurden die E. coli-Bakterien nur zur Herstellung von Vorstufenmolekülen verwendet. »Aber in dem Schwarm selbst können doch keine Bakterien sein«, sagte ich.

»Ich weiß nicht, Jack. Ich glaube doch.«

Wieso war sie so zaghaft?, fragte ich mich. Das sah ihr gar nicht ähnlich. Normalerweise war Mae präzise, auf den Punkt genau. »Tja«, sagte ich, »irgendjemand weiß es jedenfalls. Der Schwarm ist entworfen worden. Entweder sind Bakterien eingearbeitet worden oder nicht.«

Ich hörte sie seufzen, als würde ich es einfach nicht verstehen.

Aber was verstand ich nicht?

Ich sagte: »Hast du die Partikel eingesammelt, die in der Luftschleuse weggeblasen wurden? Hast du das Zeug noch?«

»Nein. Alle Partikel aus der Schleuse wurden verbrannt.«

»So was Blödes ...«

»Das ist eine eingebaute Funktion, Jack. Eine Sicherheitsmaßnahme. Wir können sie nicht ausschalten.«

»Verstehe.« Jetzt war ich es, der seufzte. Wir hatten also keine Partikelproben, die wir untersuchen konnten. Ich wollte mich aufsetzen, aber Mae legte mir sanft eine Hand auf die Brust und hielt mich zurück.

»Langsam, Jack.«

Sie hatte Recht, denn dadurch verschlimmerten sich meine Kopfschmerzen erheblich. Ich schwang die Beine über den Rand der Arbeitsplatte. »Wie lange war ich weggetreten?«

»Zwölf Minuten.«

»Ich fühle mich, als hätte mich jemand zusammengeschlagen.« Meine Rippen schmerzten bei jedem Atemzug.

»Du hattest starke Atemprobleme.«

»Hab ich immer noch.« Ich griff nach einem Kleenex und putzte mir die Nase. Jede Menge schwarzes Zeug kam heraus, vermischt mit Blut und Sand aus der Wüste. Ich musste mir vier- oder fünfmal die Nase putzen, bis sie frei war. Ich zerknüllte das Taschentuch und wollte es wegwerfen. Mae streckte ihre Hand aus. »Gib mir das.«

»Nein, schon gut .«

»Gib es mir, Jack.«

Sie nahm das Kleenex und steckte es in einen kleinen Plastikbeutel, den sie dicht verschloss. Erst da wurde mir klar, wie träge mein Verstand arbeitete. Natürlich, in dem Taschentuch befanden sich genau die Partikel, die ich untersuchen wollte. Ich schloss die Augen, atmete tief ein und wartete, bis das Pochen in meinem Kopf ein wenig nachließ. Als ich die Augen wieder aufschlug, war der Raum nicht mehr so grell. Er wirkte fast normal.

»Ach übrigens«, sagte Mae, »Julia hat angerufen. Sie hat gesagt, du kannst sie nicht zurückrufen, sie hat irgendwelche Untersuchungen. Aber sie wollte mit dir sprechen.«

»Alles klar.«

Ich sah, wie Mae den Beutel mit dem Taschentuch nahm und in ein Spezialglas tat. Sie schraubte den Deckel fest zu. »Mae«, sagte ich, »falls in dem Schwarm E. coli sind, können wir das doch rausfinden, indem wir die Probe jetzt testen. Sollen wir das nicht gleich machen?«

»Ich hab im Moment keine Zeit. Ich mach das, sobald ich kann. Ich habe gerade ein kleines Problem mit einer von den Fermentationseinheiten, und ich brauche dafür die Mikroskope.«

»Was für ein Problem?«

»Ich weiß es noch nicht genau. Aber einer von den Tanks wirft weniger ab.« Sie schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nichts Ernstes. So was passiert ständig. Dieses ganze Produktionsverfahren ist unglaublich anfällig, Jack. Das am Laufen zu halten ist wie mit hundert Bällen auf einmal zu jonglieren. Ich habe alle Hände voll zu tun.«

Ich nickte. Aber mich beschlich das Gefühl, dass sie das Taschentuch nur deshalb nicht untersuchen wollte, weil sie bereits wusste, dass der Schwarm Bakterien enthielt. Sie fand bloß, dass es nicht ihre Aufgabe war, mir das zu sagen. Und wenn das der Fall war, dann würde sie es mir nie erzählen.

»Mae«, sagte ich. »Irgendjemand muss mir sagen, was hier los ist. Nicht Ricky. Ich möchte, dass mir irgendjemand reinen Wein einschenkt.«

»Gut«, sagte sie. »Ich finde, das ist eine sehr gute Idee.«

So kam es, dass ich kurz darauf in einem der kleinen Räume vor einem Computer saß. Neben mir der Projektingenieur David Brooks. Während David sprach, nestelte er ständig an seiner Kleidung herum - er richtete seine Krawatte, streckte die Arme, damit die Manschetten herauskamen, zog die Hosenbeine hoch, um die Falten an den Oberschenkeln zu glätten. Dann legte er einen Fußknöchel aufs Knie, zog die Socke hoch, wechselte das Bein. Fuhr sich mit den Händen über die Schultern, wischte imaginären Staub weg. Und dann fing er wieder von vorn an. Er machte das Ganze natürlich unbewusst, und bei meinen Kopfschmerzen hätte es mich normalerweise genervt. Aber ich konzentrierte mich auf anderes. Denn mit jeder neuen Information, die David mir gab, wurden meine Schmerzen schlimmer.

Anders als Ricky hatte David eine ausgesprochen klar strukturierte Art zu denken, und er erzählte mir alles, von Anfang an. Xymos hatte einen Vertrag zur Herstellung eines Mikroro-boterschwarms abgeschlossen, der als Luftkamera dienen sollte. Die Partikel wurden erfolgreich produziert und funktionierten innerhalb geschlossener Räume anstandslos. Doch bei den Tests im Freien erwiesen sie sich bei Wind als weniger beweglich. Bei starkem Wind wurde der Testschwarm weggeweht. Das war sechs Wochen her.

»Habt ihr danach weitere Schwärme getestet?«, fragte ich.

»Ja, viele. Im Verlauf der nächsten vier Wochen oder so.«

»Und keiner hat funktioniert?«

»Genau. Kein einziger.«

»Die ursprünglichen Schwärme sind also alle weg - vom Winde verweht?«

»Ja.«

»Das heißt, die unkontrollierten Schwärme, mit denen ich heute das Vergnügen hatte, haben nichts mit euren ursprünglichen Testschwärmen zu tun?«

»Genau ...«

»Sie sind die Folge von Kontamination ...«

David blinzelte rasch. »Was meinst du mit Kontamination?«

»Die fünfundzwanzig Kilo Material, die der Abluftventilator in die Umwelt geblasen hat, weil ein Filter fehlte .«

»Wer hat denn was von fünfundzwanzig Kilo gesagt?«

»Ricky.«

»Oh, nein, Jack, wir haben tagelang Material abgelassen. Bestimmt fünf-, sechshundert Kilo - Bakterien, Moleküle, Assembler.«

Ricky hatte die Situation also schon wieder verharmlost. Aber mir war schleierhaft, warum er deswegen log. Es war schließlich nur ein Versehen. Und wie Ricky gesagt hatte, war es die Schuld der Wartungsfirma. »Okay«, sagte ich. »Und wann habt ihr den ersten von diesen Wüstenschwärmen gesehen?«

»Vor zwei Wochen«, erwiderte David, nickte und strich seine Krawatte glatt.

Er erzählte, der erste Schwarm sei so unorganisiert gewesen, dass sie ihn für eine Wolke Wüsteninsekten, Stechmücken oder dergleichen, gehalten hatten. »Er hat sich eine Weile am Laborgebäude rumgetrieben und ist dann wieder verschwunden. Wir haben dem keine große Bedeutung beigemessen.«

Zwei Tage später war wieder ein Schwarm da, so erzählte er, und der war schon um einiges besser organisiert. »Er zeigte eindeutiges Schwarmverhalten, dieses Gewirbel in einer Wolke, das du gesehen hast. Es war also ganz klar, dass das unser Zeug war.«

»Und was ist dann passiert?«

»Der Schwarm ist in der Wüste herumgesurrt, nicht weit von der Fertigungshalle, so wie heute. Er kam und ging. In den Tagen darauf haben wir immer wieder versucht, ihn per Funk unter Kontrolle zu bringen, aber es hat nicht geklappt. Und schließlich - etwa eine Woche danach - haben wir gemerkt, dass keins von den Autos mehr ansprang.« Er hielt inne. »Ich bin raus, um nachzusehen, und ich hab festgestellt, dass die Bordcomputer tot waren. Heutzutage haben ja alle Autos eingebaute Mikroprozessoren. Die steuern praktisch alles, von der Benzineinspritzung bis hin zum Radio und zur Zentralverriegelung.«

»Und die Computer funktionierten auf einmal nicht mehr?«

»Genau. Die Prozessorchips selbst waren in Ordnung. Aber die Speicherchips waren korrodiert. Sie waren regelrecht zu Staub geworden.«

Ich dachte, Ach du Scheiße. Ich sagte: »Hast du herausgefunden, warum?«

»Klar. War kein großes Rätsel, Jack. Die Korrosion hatte die typischen Kennzeichen von Gamma-Assemblern. Kennst du dich damit aus? Nein? Nun, wir haben in der Produktion neun verschiedene Assembler im Einsatz. Jeder Assembler hat eine andere Funktion. Die Gamma-Assembler spalten Kohlenstoffmaterial in Silikatschichten auf. Sie arbeiten tatsächlich auf der Nanoebene - schneiden einzelne Stücke Kohlenstoffsubstrat heraus.«

»Die Assembler haben also die Speicherchips in den Autos zerstört.«

»Ja, ja, aber .« David zögerte. Er tat so, als würde ich den springenden Punkt übersehen. Er zupfte an seinen Manschetten, fummelte an seinem Kragen herum. »Du darfst eines nicht vergessen, Jack, diese Assembler können bei Raumtemperatur arbeiten. Und die Wüstenhitze ist auf jeden Fall noch besser für sie. Je heißer, desto effizienter.«

Einen Augenblick lang verstand ich nicht, was er sagen wollte. Was spielte der Unterschied zwischen Raumtemperatur und Wüstenhitze für eine Rolle? Und dann auf einmal fiel der Groschen.

»Ach du Scheiße«, sagte ich.

Er nickte. »Genau.«

David versuchte mir zu erklären, dass eine Komponentenmischung in die Wüste gepustet worden war. Und diese Komponenten - die so programmiert waren, dass sie sich innerhalb des Produktionsgebäudes selbsttätig zusammenfügten - verbanden sich auch draußen im Freien selbsttätig. Die Montage konnte selbstständig in der Wüste erfolgen. Und genau das geschah offensichtlich.

Ich fasste noch einmal die wichtigsten Punkte zusammen, um sicherzugehen, dass ich alles verstanden hatte. »Die Montage fängt sozusagen mit den Bakterien an. Die sind so konstruiert, dass sie alles fressen, sogar Abfall, damit sie in der Wüste überleben können.«

»Richtig.«

»Das heißt, die Bakterien vermehren sich und fangen an, Moleküle zu produzieren, die sich von allein zusammenfügen und größere Moleküle bilden. Schon bald habt ihr Assembler, und die Assembler machen sich an die endgültige Arbeit und stellen neue Mikroagenten her.«

»Ganz genau.«

»Was bedeutet, dass die Schwärme sich tatsächlich reproduzieren.«

»Ja. Richtig.«

»Und die einzelnen Agenten haben Speicherkapazität.«

»Ja. Ein klein wenig.«

»Und sie brauchen auch nicht viel, das ist ja gerade die Stärke verteilter Intelligenz. Sie ist kollektiv. Sie verfügen also über Intelligenz, und da sie Speicherkapazität haben, können sie aus Erfahrung lernen.«

»Ja.«

»Und das predprey-Programm bedeutet, sie können Probleme lösen. Und das Programm generiert genug Zufallselemente, dass sie neue Verhaltensweisen lernen können.«

»Richtig. Ja.«

Mir dröhnte der Schädel. Ich erkannte jetzt das ganze Ausmaß des Problems, und es gefiel mir ganz und gar nicht.

»Also«, sagte ich, »fassen wir zusammen: Der Schwarm reproduziert sich, kann sich selbst versorgen, lernt aus Erfahrung, besitzt kollektive Intelligenz und kann sich neue Verhaltensweisen aneignen, um Probleme zu lösen.«

»Ja.«

»Was im Grunde nichts anderes heißt als: Er lebt.«

»Ja.« David nickte. »Zumindest verhält er sich so, als ob er lebt. In funktioneller Hinsicht lebt er, Jack.«

Ich sagte: »Das sind verdammt schlechte Neuigkeiten.«

Brooks erwiderte: »Das kannst du laut sagen.«

»Verrat mir eins«, sagte ich, »warum wurde das Ding nicht schon vor langer Zeit vernichtet?«

David sagte nichts. Er strich sich bloß die Krawatte glatt und blickte verlegen drein.

»Weil dir doch wohl klar ist«, sagte ich, »dass ihr es hier mit einer mechanischen Pest zu tun habt. Genau das ist es nämlich. Genau wie eine Bakterienpest oder eine Virenpest. Nur dass es mechanische Organismen sind. Ihr habt, verdammt noch mal, eine von Menschen geschaffene Pest am Hals.«

Er nickte. »Ja.«

»Die evolviert.«

»Ja.«

»Und sie ist nicht an biologische Evolutionsgeschwindigkeiten gebunden. Sie evolviert wahrscheinlich schneller.«

Er nickte. »Sie evolviert tatsächlich schneller.«

»Wie schnell, David?«

Brooks seufzte. »Verdammt schnell. Heute Nachmittag, wenn der Schwarm wiederkommt, ist er schon wieder anders.«

»Kommt er denn wieder?«

»Er kommt immer wieder.«

»Und warum?«, fragte ich.

»Er will hier rein.«

»Und warum?«

David rutschte unbehaglich hin und her. »Wir haben nur Theorien, Jack.«

»Lass hören.«

»Eine Möglichkeit ist, dass es was Territoriales ist. Wie du weißt, beinhaltet der ursprüngliche predprey-Code auch das Konzept eines Gebietes, des Territoriums, in dem die Räuber sich bewegen. Und innerhalb dieses Kerngebietes bestimmt er eine Art Stützpunkt, der für den Schwarm vielleicht im Innern unseres Gebäudes liegt.«

Ich sagte: »Glaubst du das?«

»Eigentlich nicht, nein.« Er zögerte. »Um ehrlich zu sein«, fuhr er fort, »die meisten von uns glauben, dass er wiederkommt, weil er deine Frau sucht, Jack. Er sucht Julia.«

6. Tag, 11.42 Uhr

Und so kam es, dass ich mit mörderischen Kopfschmerzen im Krankenhaus in San Jose anrief. »Julia Forman, bitte.« Ich buchstabierte den Namen für die Stimme in der Zentrale.

»Sie ist auf der Intensivstation«, sagte die Stimme.

»Ja, stimmt.«

»Tut mir Leid, aber direkte Anrufe bei den Patienten sind nicht erlaubt.«

»Dann die Station, bitte.«

»Moment, ich verbinde.«

Ich wartete. Niemand ging ans Telefon. Ich rief erneut in der Zentrale an und hatte schließlich eine Krankenschwester von der Intensivstation am Apparat. Julia sei beim Röntgen, sagte die Schwester, und sie wisse nicht, wann Julia zurück sei. Ich sagte, sie müsse längst zurück sein. Die Schwester erwiderte ziemlich gereizt, sie könne vom Telefon aus Julias Bett sehen und sie könne mir versichern, dass Julia nicht drinliege.

Ich sagte, ich würde wieder anrufen.

Ich legte den Hörer auf und wandte mich an David. »Was hat Julia eigentlich mit der ganzen Geschichte zu tun?«

»Sie hat uns geholfen, Jack.«

»Das denk ich mir. Aber wie genau?«

»Am Anfang hat sie versucht, den Schwarm anzulocken«, sagte er. »Um ihn per Funk unter Kontrolle bringen zu können, mussten wir dafür sorgen, dass er nahe am Gebäude blieb. Julia hat uns dabei geholfen.«

»Wie denn?«

»Na ja, sie hat ihn unterhalten.«

»Sie hat was?«

»Ich denke, so könnte man es nennen. Es war uns sehr bald klar, dass der Schwarm rudimentäre Intelligenz besitzt. Julia kam auf die Idee, ihn wie ein Kind zu behandeln. Sie ist mit bunten Klötzen nach draußen gegangen, Spielzeug. Sachen, an denen ein Kind Spaß hätte. Und der Schwarm schien auf sie anzusprechen. Sie war ganz aus dem Häuschen.«

»Zu dem Zeitpunkt war es ungefährlich, zu dem Schwarm rauszugehen?«

»Ja, völlig ungefährlich. Er war eine harmlose Partikelwolke.« David zuckte die Achseln. »Jedenfalls, nach ein oder zwei Tagen beschloss Julia, einen Schritt weiterzugehen und den Schwarm systematisch zu testen. Verstehst du? Wie eine Kinderpsychologin ein Kind testen würde.«

»Du meinst, ihm was beibringen«, sagte ich.

»Nein. Sie wollte ihn testen.«

»David«, sagte ich. »Der Schwarm ist eine verteilte Intelligenz. Er ist ein gottverdammtes Netzwerk. Egal, was du mit ihm anstellst, er lernt. Testen ist dasselbe, wie ihm was beibringen. Was genau hat sie mit ihm gemacht?«

»Bloß irgendwelche Spiele und so. Sie hat zum Beispiel drei farbige Klötze auf den Boden gelegt, zwei blaue und einen gelben, um zu sehen, ob er den gelben aussuchen würde. Dann was mit Quadraten und Dreiecken. So was eben.«

»Aber David«, sagte ich. »Ihr habt alle gewusst, dass das ein außer Kontrolle geratener Schwarm ist, der sich außerhalb des Labors langsam weiterentwickelt. Ist denn keiner von euch auf die Idee gekommen, einfach da rauszugehen und ihn zu vernichten?«

»Doch. Das wollten wir alle. Aber Julia nicht.«

»Wieso?«

»Sie wollte ihn am Leben erhalten.«

»Und keiner hat ihr das ausgeredet?«

»Sie sitzt im Management, Jack. Sie hat gesagt, der Schwarm wäre ein glücklicher Zufall, dass wir da auf etwas wirklich Großes gestoßen wären, dass er möglicherweise die Firma retten könnte und wir ihn nicht zerstören dürften. Sie war, wie soll ich sagen, richtig vernarrt in ihn. Ich meine, sie war stolz auf ihn. Als hätte sie ihn erfunden. Sie wollte ihn bloß >im Zaum haltenc. Ihre Worte.«

»Was du nicht sagst. Wie lange ist das her, dass sie das gesagt hat?«

»Gestern, Jack.« David zuckte die Achseln. »Sie ist doch erst gestern Nachmittag von hier weg.«

Ich brauchte einen Augenblick, bis ich begriff, dass er Recht hatte. Erst ein einziger Tag war vergangen, seit Julia hier gewesen war, und dann hatte sie den Unfall gehabt. Und in dieser kurzen Zeit hatte der Schwarm schon enorme Fortschritte gemacht.

»Wie viele Schwärme waren gestern da?«

»Drei. Aber wir haben nur zwei gesehen. Einer wird sich wohl versteckt haben.« Er schüttelte den Kopf. »Weißt du, einer von den Schwärmen war so was wie Julias Liebling. Er war kleiner als die anderen. Er hat immer gewartet, dass sie rauskommt, und er ist ihr nicht von der Seite gewichen. Manchmal, wenn sie kam, ist er um sie herumgewirbelt, als würde er sich freuen, sie zu sehen. Sie hat auch mit ihm geredet, wie mit einem Hund oder so.«

Ich presste die Finger auf meine pochenden Schläfen. »Sie hat mit ihm geredet«, wiederholte ich. Oh Gott. »Erzähl mir nicht, die Schwärme haben auch einen Gehörsinn.«

»Nein. Haben sie nicht.«

»Dann war das Reden also Zeitverschwendung.«

»Ähm, na ja ... wir glauben, die Wolke war so nahe an ihr dran, dass Julia mit ihrem Atem ein paar von den Partikeln in Schwingung versetzt hat. In einem rhythmischen Muster.«

»Dann war also die ganze Wolke wie ein riesiges Trommelfell?«

»In gewisser Weise, ja.«

»Und sie ist ein Netzwerk, also hat sie gelernt .«

»Genau.«

Ich seufzte. »Willst du mir jetzt erzählen, die Wolke hätte auch geredet?«

»Nein, aber sie hat angefangen, komische Geräusche zu machen.«

Ich nickte. Diese komischen Geräusche hatte ich gehört. »Wie macht sie das?«

»Wir wissen es nicht genau. Bobby meint, das Geräusch wäre sozusagen das Gegenteil der akustischen Schwingung, durch die sie hört. Die Partikel pulsieren in einer koordinierten Front und erzeugen so eine Schallwelle. Ungefähr so wie ein Lautsprecher.«

Irgendwas in der Art musste es sein, dachte ich. Obwohl es unwahrscheinlich schien, dass der Schwarm dazu in der Lage war. Im Grunde war er doch eine Sandwolke aus Minipartikeln. Die Partikel hatten weder die Masse noch die Energie, eine Schallwelle zu erzeugen.

Mir kam ein Gedanke. »David«, sagte ich, »war Julia gestern draußen, bei den Schwärmen?«

»Ja, am Morgen. Kein Problem. Die Schlange haben sie erst getötet, als Julia schon ein paar Stunden weg war.«

»Und hatten sie vorher schon irgendwas getötet?«

»Äh .... vielleicht einen Kojoten vor ein paar Tagen, ich weiß nicht genau.«

»Dann war die Schlange vielleicht nicht das erste Opfer?«

»Vielleicht .«

»Und heute haben sie ein Kaninchen getötet.«

»Ja. Die machen jetzt rasend schnell Fortschritte.«

»Danke, Julia«, sagte ich.

Ich war mir ziemlich sicher, dass die beschleunigte Veränderung des Schwarmverhaltens, die wir beobachten konnten, eine Folge von Lernen aus der Vergangenheit war. Dabei handelte es sich um ein typisches Merkmal von verteilten Systemen -und eigentlich auch um ein Merkmal jeder Evolution, die ja so gesehen durchaus eine Art des Lernens war. Wie auch immer, es bedeutete jedenfalls, dass Systeme eine lange, langsame Anfangsphase hatten, woraufhin sich die Entwicklung zunehmend beschleunigte.

Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Evolution des Lebens auf der Erde. Erstes Leben entstand vor vier Milliarden Jahren in Form von einzelligen Lebewesen. In den nachfolgenden zwei Milliarden Jahren veränderte sich nichts. Dann tauchten Kerne in den Zellen auf. Das Tempo zog an. Nur einige hundert Millionen Jahre später, vielzellige Organismen. Wieder ein paar hundert Millionen Jahre später, eine explosionsartige Lebensvielfalt. Und die Vielfalt nimmt zu. Vor immerhin schon zweihundert Millionen Jahren gab es große Pflanzen und Tiere, komplexe Lebewesen, Dinosaurier. Gemessen daran ist der Mensch ein Spätzünder: vor vier Millionen Jahren, aufrecht gehende Affen. Vor zwei Millionen Jahren, erste menschliche Vorfahren. Vor fünfunddreißigtausend Jahren, Höhlenmalereien.

Die Beschleunigung ist dramatisch. Würde man die Geschichte des Lebens auf der Erde in vierundzwanzig Stunden zusammendrängen, dann entstanden vielzellige Organismen vor zwölf Stunden, Dinosaurier in der letzten Stunde, die ersten Menschen tauchten vor vierzig Sekunden auf, und den neuzeitlichen Menschen gibt es seit nicht mal einer Sekunde.

Zwei Milliarden Jahre dauerte es, bis in primitiven Zellen ein Kern entstand, der erste Schritt zur Komplexität. Doch es brauchte nur zweihundert Millionen Jahre - ein Zehntel der Zeit -, bis sich vielzellige Tiere entwickelt hatten. Und es waren nur vier Millionen Jahre vom Menschenaffen mit kleinem Gehirn und groben Knochenwerkzeugen bis hin zum modernen Menschen und zur Gentechnologie. So rasant hatte sich das Tempo erhöht.

Das gleiche Muster zeigte sich im Verhalten von verteilten Agentensystemen. Es dauerte lange, bis Agenten »das Funda-ment gelegt« und die Anfangsarbeit geschafft hatten, doch sobald das erledigt war, ging es sehr schnell voran. Die Fun-damentlegung ließ sich nicht überspringen, genauso wie ein Mensch seine Kindheit nicht überspringen kann. Die vorbereitende Arbeit war unumgänglich.

Doch auch die nachfolgende Beschleunigung war unvermeidlich. Sie war sozusagen in das System eingebaut.

Durch Unterricht verlief die Entwicklung noch zügiger, und dass Julia die Lehrerin gespielt hatte, war ein entscheidender Faktor für das jetzige Verhalten des Schwarms, da war ich mir sicher. Allein schon durch die Interaktion mit ihm hatte sie einen Selektionsdruck in einen Organismus eingeführt, dessen emergentes Verhalten nicht kalkulierbar war. Das war sehr leichtsinnig gewesen.

Der Schwarm - der sich ohnehin schon rasch entwickelte -würde sich in Zukunft noch rascher entwickeln. Und da es sich um einen vom Menschen geschaffenen Organismus handelte, fand diese Reifung nicht auf einer biologischen Zeitskala statt, sondern binnen Stunden.

Mit jeder Stunde, die verging, würde die Vernichtung der Schwärme schwieriger werden.

»Okay«, sagte ich zu David. »Wenn die Schwärme wiederkommen, sollten wir uns allmählich auf sie vorbereiten.« Ich stand auf, verzog vor lauter Kopfschmerzen das Gesicht und ging zur Tür.

»Was hast du vor?«, fragte David.

»Was glaubst du wohl, was ich vorhabe?«, erwiderte ich. »Wir müssen die Dinger umbringen, kaltblütig. Wir müssen sie von der Erdoberfläche tilgen. Und wir dürfen keine Zeit verlieren.«

David rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum. »Von mir aus gern«, sagte er. »Aber Ricky wird das gar nicht gefallen.«

»Wieso nicht?«

David zuckte die Achseln. »Er ist eben dagegen.«

Ich wartete und sagte nichts.

David wurde immer zappeliger, immer verlegener. »Die Sache ist die, Julia und er sind, äh, in dem Punkt einer Meinung.«

»Sie sind einer Meinung.«

»Ja. Sie ziehen an einem Strang. In der Sache, meine ich.«

Ich sagte: »Was willst du mir eigentlich sagen, David?«

»Nichts. Nur was ich gerade gesagt habe. Sie sind beide der Meinung, dass die Schwärme am Leben bleiben sollen. Ich glaube, Ricky wird sich dir entgegenstellen, mehr nicht.«

Ich musste unbedingt mit Mae sprechen. Ich fand sie in ihrem Labor, vor einem Computermonitor, auf dem sie sich Bilder vom Wachstum weißer Bakterien auf dunkelrotem Nährboden ansah. Ich sagte: »Mae, hör zu, ich hab mit David gesprochen, und ich muss - ähm, Mae? Hast du ein Problem?« Sie blickte starr auf den Bildschirm.

»Ich glaube, ja«, sagte sie. »Ein Problem mit der Bakterienzufuhr.«

»Was für ein Problem?«

»Die neuesten Theta-d-Stämme wachsen nicht richtig.« Sie deutete auf ein Bild in der oberen Ecke des Monitors, wo Bakterien zu sehen waren, die in glatten, weißen Kreisen wuchsen. »Das da ist normales Coliform-Wachstum«, sagte sie. »So sollte es aussehen. Aber hier ...« Sie holte ein weiteres Bild auf die Mitte des Bildschirms. Die runden Formen sahen mottenzerfressen, ausgefranst und unförmig aus. »Das ist kein normales Wachstum«, sagte sie kopfschüttelnd. »Ich fürchte, es ist eine Phagenkontamination.«

»Du meinst, ein Virus?«, sagte ich. Ein Phage war ein Virus, das Bakterien angriff.

»Ja«, sagte sie. »Coli-Bakterien sind anfällig für eine sehr große Anzahl von Phagen. Der T4-Phage ist natürlich der gewöhnlichste, aber Theta-d müsste so konstruiert sein, dass es T4-resistent ist. Ich nehme also an, dass da ein neuer Phage im Spiel ist.«

»Ein neuer Phage? Du meinst, er hat sich gerade entwik-kelt?«

»Ja. Vermutlich der Mutant eines bestehenden Stamms, der die konstruierte Resistenz irgendwie umgeht. Aber das ist eine Katastrophe für die Herstellung. Wenn unser Bakterienmaterial infiziert ist, müssen wir die Produktion einstellen. Sonst spukken wir nur Viren aus.«

»Offen gestanden«, sagte ich, »wäre es vielleicht gar nicht schlecht, die Produktion einzustellen.«

»Mir bleibt wahrscheinlich keine andere Wahl. Ich versuche, ihn zu isolieren, aber er sieht aggressiv aus. Kann sein, dass ich ihn nicht loswerde, wenn ich nicht alles vernichte. Mit frischem Material ganz von vorn anfange. Das wird Ricky gar nicht gefallen.«

»Hast du ihm schon davon erzählt?«

»Noch nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich denke, schlechte Nachrichten hat er schon genug. Und außerdem ...« Sie brach ab, als hätte sie es sich anders überlegt.

»Außerdem ...?«

»Für Ricky hängt unheimlich viel vom Erfolg dieser Firma ab.« Sie blickte mich an. »Bobby hat ihn neulich am Telefon gehört, wie er über seine Aktienoptionsrechte gesprochen hat. Und da hat er besorgt geklungen. Ich denke, Ricky sieht Xymos als seine letzte große Chance. Er ist seit fünf Jahren hier. Wenn es hier nicht hinhaut, ist er zu alt, um in einer anderen Firma noch mal neu anzufangen. Er hat eine Frau und ein kleines Kind; er kann nicht noch einmal fünf Jahre investieren, in der Hoffnung, dass es in einer anderen Firma klappt. Also will er das hier um jeden Preis schaffen und hängt sich richtig in die Sache rein. Er arbeitet sogar die Nächte durch, zermartert sich das Hirn. Er schläft höchstens drei, vier Stunden. Ehrlich gesagt, ich fürchte, er kann schon nicht mehr vernünftig denken.«

»Das kann ich mir vorstellen«, sagte ich. »Der Druck muss entsetzlich sein.«

»Vor lauter Schlafmangel ist er unberechenbar geworden«, sagte Mae. »Ich weiß nie, was er machen wird oder wie er reagiert. Manchmal hab ich den Eindruck, dass er die Schwärme gar nicht loswerden will. Oder vielleicht hat er Angst.«

»Vielleicht«, sagte ich.

»Jedenfalls, er ist unberechenbar. Ich wäre an deiner Stelle also vorsichtig«, sagte sie, »wenn du die Schwärme vernichten willst. Denn das hast du doch vor, nicht? Sie vernichten?«

»Ja«, sagte ich. »Das habe ich vor.«

6. Tag, 13.12 Uhr

Sie hatten sich alle im Freizeitraum, dem mit den Videospielen und Flipperautomaten, versammelt. Niemand spielte jetzt damit. Sie sahen mich aus ängstlichen Augen an, während ich erklärte, was wir zu tun hatten. Der Plan war ganz einfach - der Schwarm selbst diktierte, was wir tun mussten, obgleich ich diese unangenehme Wahrheit aussparte.

Im Grunde, so sagte ich ihnen, hatten wir es mit einem außer Kontrolle geratenen Schwarm zu tun. Und der Schwarm ließ selbst organisiertes Verhalten erkennen. »Eine hohe SO-Komponente bedeutet, der Schwarm kann sich selbst wieder zusammenfügen, wenn er beschädigt oder auseinander gerissen wurde. So war das ja auch, als ich ihn zerstreut habe. Deshalb muss der Schwarm vollständig zerstört werden. Das heißt, die Partikel müssen Hitze, Kälte, Säure oder hohen Magnetfeldern ausgesetzt werden. Und nachdem ich sein Verhalten erlebt habe, würde ich sagen, die beste Chance, ihn zu vernichten, haben wir nachts, wenn der Schwarm Energie verliert und zu Boden sinkt.«

Ricky klagte: »Aber Jack, wir haben dir doch schon gesagt, dass wir ihn nachts nicht finden können.«

»Stimmt, das könnt ihr nicht«, sagte ich, »weil ihr ihn nicht sichtbar markiert habt. Mann, da draußen ist eine große Wüste. Wenn ihr ihn in seinem Versteck aufspüren wollt, müsst ihr ihn mit irgendwas markieren, was so deutlich ist, dass ihr seine Spur überallhin verfolgen könnt.«

»Mit was denn markieren?«

»Das ist meine nächste Frage«, sagte ich. »Was für Agenten haben wir hier, die sich zum Markieren eignen würden?« Ich erntete leere Blicke. »Kommt schon, Leute. Wir sind hier in einer Industrieanlage. Ihr werdet doch wohl irgendwas haben, was an den Partikeln haften bleibt und eine Spur hinterlässt, die wir aufnehmen können. Ich meine eine Substanz, die stark fluoresziert, oder ein Pheromon mit einem typischen chemischen Erkennungszeichen oder irgendwas Radioaktives ... Nein?«

Weitere leere Blicke. Kopfschütteln.

»Na ja«, sagte Mae, »wir haben natürlich Radioisotope.«

»Ja, wunderbar.« Endlich kamen wir weiter.

»Die verwenden wir, um nach undichten Stellen im System zu suchen. Der Hubschrauber bringt einmal pro Woche welche.«

»Was für Isotope habt ihr?«

»Selen-72 und Rhenium-186. Manchmal auch Xenon-133. Ich weiß nicht genau, was wir zurzeit dahaben.«

»Wie sieht's mit der Halbwertszeit aus?« Bestimmte Isotope verlieren die Radioaktivität sehr rasch, binnen Stunden oder Minuten. Mit solchen konnte ich nichts anfangen.

»Die Halbwertszeit beträgt im Durchschnitt etwa eine Woche«, sagte Mae. »Selen acht Tage. Rhenium vier Tage. Xenon-133 fünf Tage. Fünf ein Viertel.«

»Okay. Dann könnten wir sie alle für unsere Zwecke einsetzen«, sagte ich. »Es reicht, wenn die Radioaktivität eine Nacht hält, sobald wir den Schwarm markiert haben.«

Mae sagte: »Wir verwenden die Isotope normalerweise in FDG. Das ist flüssige Glukose. Man könnte sie sprühen.«

»Das müsste klappen«, sagte ich. »Wo bewahrt ihr die Isotope auf?«

Mae lächelte freudlos. »Im Depot«, sagte sie.

»Wo ist das?«

»Draußen. Neben den geparkten Autos.«

»Okay«, sagte ich. »Dann gehen wir raus und holen sie.«

»Ach, du liebe Güte«, sagte Ricky und warf die Hände hoch.

»Bist du wahnsinnig geworden? Du wärst heute Morgen da draußen fast gestorben, Jack. Das willst du doch wohl nicht noch mal riskieren.«

»Wir haben keine andere Wahl«, sagte ich.

»Doch, natürlich. Wartet, bis es dunkel wird.«

»Nein«, sagte ich. »Weil wir sie dann erst morgen besprühen könnten. Und wir könnten sie erst morgen Nacht aufspüren und zerstören. Das heißt, wir würden sechsunddreißig Stunden verlieren, und das bei einem Organismus, der schnell evolviert. Das Risiko können wir nicht eingehen.«

»Das Risiko? Jack, wenn du jetzt da rausgehst, überlebst du das nicht. Du bist verrückt, allein der Gedanke ist schon purer Wahnsinn.«

Charley Davenport hatte die ganze Zeit auf den Monitor gestarrt. Jetzt drehte er sich zu der Gruppe um. »Nein, Jack ist nicht verrückt.« Er grinste mich an. »Ich gehe mit ihm.« Charley fing an zu summen: »Born to be Wild«.

»Ich auch«, sagte Mae. »Ich weiß, wo die Isotope lagern.«

Ich sagte: »Das ist wirklich nicht nötig, Mae, sag mir einfach, wo .«

»Nein. Ich komme mit.«

»Wir müssen irgendwie ein Sprühgerät zusammenbasteln.« David Brooks krempelte sich sorgfältig die Ärmel hoch. »Am besten ferngesteuert. Das ist Rosies Spezialität.«

»Also schön, ich komme auch mit«, sagte Rosie Castro und sah David an.

»Ihr wollt alle da raus?« Ricky blickte kopfschüttelnd von einem zum anderen. »Das ist gefährlich«, sagte er. »Äußerst gefährlich.«

Niemand sagte etwas. Wir schauten ihn bloß alle an.

Dann sagte Ricky: »Charley, hör mit dem verdammten Gesumme auf.« Er wandte sich an mich. »Ich glaube nicht, dass ich das erlauben kann, Jack .«

»Ich glaube nicht, dass du eine andere Wahl hast«, entgegnete ich.

»Ich treffe hier die Entscheidungen.«

»Im Moment nicht«, erwiderte ich. Ich war kurz davor, an die Decke zu gehen. Ich hätte ihm am liebsten die Meinung gegeigt, schließlich hatte er den Karren in den Dreck gefahren, er hatte zugelassen, dass ein Schwarm in der Umwelt evolvier-te. Aber ich wusste nicht, wie viele kritische Entscheidungen Julia getroffen hatte. Im Grunde war Ricky dem Management gegenüber devot, wollte seinen Vorgesetzten gefallen, wie ein Kind seinen Eltern. Er machte das sehr charmant; so war er im Leben weitergekommen. Aber es war auch seine größte Schwäche.

Jetzt jedoch schob Ricky starrsinnig das Kinn vor. »Es geht einfach nicht, Jack«, sagte er. »Ihr werdet da draußen nicht überleben.«

»Und ob wir das werden, Ricky«, entgegnete Charley Davenport. Er deutete auf den Monitor. »Sieh doch mal.«

Der Monitor zeigte die Wüste draußen. Die frühnachmittägliche Sonne schien auf stoppelige Kakteen. Ein verkümmerter Wacholderbaum in der Ferne, dunkel im Gegenlicht. Einen Moment lang verstand ich nicht, was Charley meinte. Dann sah ich den Sand über den Boden wehen. Und ich bemerkte, dass der Wacholderbaum zu einer Seite geneigt war.

»Ganz genau, Leute«, sagte Charley Davenport. »Wir haben eine kräftige Brise da draußen. Starker Wind, keine Schwärme - wisst ihr noch? Sie müssen sich dicht am Boden halten.« Er ging in Richtung Durchgang, der zur Energiestation führte. »Verlieren wir keine Zeit. Ziehen wir's durch, Leute.«

Alle marschierten hintereinander aus dem Raum. Ich wollte als Letzter gehen. Doch zu meinem Erstaunen zog Ricky mich beiseite, versperrte mir den Ausgang mit seinem Körper. »Tut mir Leid, Jack, ich wollte dich nicht vor den anderen in Verlegenheit bringen. Aber ich kann einfach nicht zulassen, dass du das machst.«

»Wär's dir lieber, jemand anders macht es?«, fragte ich.

Er blickte finster. »Was meinst du damit?«

»Ich rate dir, den Tatsachen ins Auge zu sehen, Ricky. Die Lage ist schon jetzt katastrophal. Und wenn wir sie nicht umgehend in den Griff kriegen, dann müssen wir Hilfe anfordern.«

»Hilfe? Was soll das heißen?«

»Ich meine, das Pentagon verständigen, die Armee. Wir müssen irgendwen verständigen, um die Schwärme unter Kontrolle zu kriegen.«

»Um Gottes willen, Jack. Das können wir nicht machen.«

»Wir haben keine andere Wahl.«

»Aber das würde die Firma kaputtmachen. Wir würden nie wieder Gelder kriegen.«

»Dagegen hätte ich nichts«, sagte ich. Ich war wütend wegen dem, was in der Wüste passiert war. Eine Wochen und Monate währende Aneinanderreihung von falschen Entscheidungen, Fehlern und Patzern. Anscheinend zählten bei Xymos nur kurzfristige Lösungen, Flickschusterei, schnell und unsauber. Keiner interessierte sich für die langfristigen Folgen.

»Versteh doch«, sagte ich, »du hast es mit einem außer Kontrolle geratenen Schwarm zu tun, der offensichtlich tödlich ist. Jetzt muss Schluss sein mit der Pfuscherei.«

»Aber Julia .«

»Julia ist nicht hier.«

»Aber sie hat gesagt .«

»Es interessiert mich nicht, was sie gesagt hat, Ricky.«

»Aber die Firma .«

»Scheiß auf die Firma, Ricky.« Ich packte ihn bei den Schultern, schüttelte ihn einmal heftig. »Kapierst du denn nicht? Du traust dich nicht nach draußen. Du hast Angst vor diesem Schwarm, Ricky. Wir müssen ihn töten. Und wenn wir ihn nicht bald töten können, müssen wir Hilfe holen.«

»Nein.«

»Doch, Ricky.«

»Das werden wir ja sehen«, knurrte er. Sein Körper spannte sich, seine Augen loderten. Er packte mich am Hemdkragen. Ich stand einfach da und starrte ihn an. Ich rührte mich nicht. Ricky funkelte mich einen Augenblick lang an, und dann lockerte er den Griff. Er klopfte mir auf die Schulter und strich meinen Kragen glatt. »Ach, verdammt, Jack«, sagte er, »was mach ich denn hier?« Und er setzte sein selbstironisches Surfer-Grinsen auf. »Tut mir Leid. Der Stress macht mir wohl langsam zu schaffen. Du hast Recht. Du hast absolut Recht. Scheiß auf die Firma. Wir müssen es machen. Wir müssen diese Dinger sofort vernichten.«

»Ja«, sagte ich, den Blick noch immer auf ihn gerichtet. »Das müssen wir.«

Er hielt inne. Er nahm seine Hand von meinem Kragen. »Du findest, ich benehme mich seltsam, nicht? Mary findet auch, dass ich seltsam bin. Das hat sie neulich gesagt. Benehme ich mich seltsam?«

»Nun ja ...«

»Du kannst es mir ruhig sagen.«

»Vielleicht gereizt . Schläfst du überhaupt noch?«

»Nicht viel. Zwei, drei Stunden.«

»Vielleicht solltest du mal eine Schlaftablette nehmen.«

»Hab ich. Hilft auch nicht. Das ist der verdammte Druck. Ich bin seit einer Woche hier. Schlaucht ganz schön.«

»Kann ich mir vorstellen.«

»Na ja, was will man machen.« Er wandte sich ab, als wäre er plötzlich verlegen. »Hör zu, ich setz mich ans Funkgerät«, sagte er. »Ich werde die ganze Zeit bei euch sein. Ich bin dir sehr dankbar, Jack. Du hast hier wieder für Vernunft und Ordnung gesorgt. Sei bloß ... Sei bloß vorsichtig da draußen, okay?«

»Okay.«

Ricky trat beiseite.

Ich ging an ihm vorbei zur Tür hinaus.

In dem Gang, wo die Klimaanlage auf höchster Stufe dröhnte, war Mae auf halbem Weg zur Energiestation plötzlich neben mir. Ich sagte zu ihr: »Du musst wirklich nicht mit da raus, Mae. Du kannst mir doch über Funk sagen, wie ich mit den Isotopen umzugehen habe.«

»Die Isotope machen mir keine Sorgen«, sagte sie mit leiser Stimme, damit sie in dem Dröhnen unterging. »Sondern das Kaninchen.«

Ich war nicht sicher, ob ich sie richtig verstanden hatte. »Das was?«

»Das Kaninchen. Ich muss das Kaninchen noch einmal untersuchen.«

»Wieso?«

»Du weißt doch, dass ich eine Gewebeprobe aus dem Magen entnommen habe, nicht? Tja, die hab ich mir vorhin unter dem Mikroskop angesehen.«

»Und?«

»Ich fürchte, wir haben Riesenprobleme, Jack.«

6. Tag, 14.52 Uhr

Ich war als Erster zur Tür hinaus, blinzelte in die Wüstensonne. Obwohl es fast drei Uhr war, kam mir die Sonne unverändert hell und heiß vor. Ein sengender Wind ließ Hose und Hemd flattern. Ich zog das Mikro meines Headsets näher an die Lippen und sagte: »Bobby, hörst du mich?«

»Ich höre dich, Jack.«

»Hast du ein Bild?«

»Ja, Jack.«

Charley Davenport kam heraus und lachte. Er sagte: »Weißt du, Ricky, du bist wirklich ein dämlicher Sack. Weißt du das?«

Über mein Headset hörte ich Ricky erwidern: »Spar dir das. Du weißt doch, dass ich keine Komplimente mag. Mach einfach deine Arbeit.«

Mae kam als Nächste durch die Tür. Sie hatte einen Rucksack über eine Schulter gehängt. »Für die Isotope.«

»Sind die schwer?«

»Die Behälter.«

Dann kam David Brooks heraus, Rosie dicht hinter ihm. Sie verzog das Gesicht, als sie auf den Sand trat. »Gott, ist das heiß«, sagte sie.

»Ja, das haben die meisten Wüsten so an sich«, sagte Char-ley.

»Erzähl keinen Scheiß, Charley.«

»Dir würde ich doch niemals Scheiß erzählen, Rosie.« Er rülpste.

Ich suchte derweil den Horizont ab, konnte aber nichts sehen. Die Autos parkten unter einem Unterstand, etwa fünfzig Meter entfernt. Der Unterstand reichte bis zu einem rechteckigen, weißen Betongebäude mit schmalen Fenstern. Das war das Depot.

Wir gingen darauf zu. Rosie fragte: »Gibt's da drin eine Klimaanlage?«

»Ja«, sagte Mae. »Aber es ist trotzdem heiß. Schlecht isoliert.«

»Ist es luftdicht?«, fragte ich.

»Nicht richtig.«

»Das heißt, nein«, sagte Davenport lachend. Er sprach in sein Headset. »Bobby, was für einen Wind haben wir?«

»Siebzehn Knoten«, antwortete Bobby Lembeck. »Schöner, kräftiger Wind.«

»Und wie lange noch, bis der Wind sich legt? Sonnenuntergang?«

»Wahrscheinlich, ja. Noch drei Stunden.«

Ich sagte: »Dann haben wir reichlich Zeit.«

Mir fiel auf, dass David Brooks kein Wort sprach. Er stapfte einfach auf das Gebäude zu. Rosie hielt sich dicht hinter ihm.

»Aber man kann nie wissen«, sagte Davenport. »Kann sein, dass wir alle draufgehen. Jeden Augenblick.« Er lachte wieder, auf seine nervige Art.

Ricky sagte: »Charley, halt doch einfach mal die Klappe.«

»Da musst du schon rauskommen und mir die Klappe zuhalten, du bist echt ein großes Kind«, erwiderte Charley. »Was ist los, du machst dir ja vor Angst in die Hose.«

Ich sagte: »Lass gut sein, Charley, konzentrier dich.«

»He, ich konzentrier mich ja. Und wie.«

Der Wind blies Sand vor sich her, sodass dicht über dem Boden ein bräunlicher Streifen schwebte. Mae ging neben mir. Sie blickte über die Wüste und sagte unvermittelt: »Ich möchte mir das Kaninchen noch mal ansehen. Geht ihr ruhig schon weiter.«

Sie steuerte nach rechts, auf den Kadaver zu. Ich ging mit ihr. Und die anderen schwenkten zusammen um und folgten uns. Offenbar wollten alle beisammenbleiben. Der Wind war noch immer stark.

Charley sagte: »Wieso willst du das Kaninchen sehen, Mae?«

»Ich will was überprüfen.« Sie streifte sich im Gehen Handschuhe über.

Das Headset knisterte. Ricky sagte: »Würde mir bitte mal einer verraten, was ihr vorhabt?«

»Wir wollen uns das Kaninchen angucken«, sagte Charley.

»Wozu?«

»Mae will es sich noch mal ansehen.«

»Sie hat es sich doch schon angesehen. Leute, ihr seid da draußen völlig ungeschützt. Ich würde nicht so rumtrödeln.«

»Hier trödelt keiner rum, Ricky.«

Inzwischen konnte ich das Kaninchen in einiger Entfernung sehen, teilweise verdeckt vom verwehten Sand. Gleich darauf standen wir alle um den Tierkörper herum. Der Wind hatte ihn auf die Seite gedreht. Mae ging in die Hocke, legte das Tier auf den Rücken, sodass der offene Kadaver zu sehen war.

»Jesses«, sagte Rosie.

Erschrocken sah ich, dass das Fleisch nicht mehr glatt und rosa war. Stattdessen war es überall aufgeraut, und an manchen Stellen sah es aus, als wäre es abgeschabt worden. Und es war mit einer milchig weißen Schicht bedeckt.

»Sieht aus, als wäre es in Säure getaucht worden«, sagte Charley.

»Ja, stimmt«, sagte Mae. Sie hörte sich grimmig an.

Ich sah auf meine Uhr. Das Ganze war innerhalb von zwei Stunden geschehen. »Was ist da passiert?«

Mae hatte ihr Vergrößerungsglas hervorgeholt und beugte sich jetzt über das Tier. Sie sah sich verschiedene Stellen an, bewegte das Glas rasch. Dann sagte sie: »Es ist zum Teil aufgefressen worden.«

»Aufgefressen? Von wem?«

»Von Bakterien.«

»Moment mal«, sagte Charley Davenport. »Du denkst, das hier hat Theta-d gemacht? Du denkst, die E. coli fressen es auf?«

»Das werden wir früh genug erfahren«, sagte sie. Sie griff in einen Beutel und holte mehrere Glasröhrchen mit sterilen Abstrichtupfern darin hervor.

»Aber es ist doch erst kurze Zeit tot.«

»Lange genug«, sagte Mae. »Und hohe Temperaturen beschleunigen das Wachstum.« Sie strich nacheinander mit den Tupfern über das tote Tier und steckte sie wieder in die Glasröhrchen.

»Dann muss Theta-d sich ja wahnsinnig aggressiv vermehren.«

»Wie alle Bakterien bei einer guten Nährstoffquelle. Sie wechseln in die Log-Phase, wo sie sich alle zwei oder drei Minuten um das Doppelte vermehren. Ich glaube, das ist hier der Fall.«

Ich sagte: »Aber wenn das stimmt, heißt das, der Schwarm ...«

»Ich weiß nicht, was das heißt, Jack«, entgegnete sie rasch. Sie sah mich an und schüttelte kaum merklich den Kopf. Die Bedeutung war klar: Jetzt nicht.

Aber die anderen ließen sich nicht vertrösten. »Mae, Mae, Mae«, sagte Charley Davenport. »Soll das heißen, die Schwärme haben das Kaninchen getötet, um es zu fressen? Um noch mehr Coli wachsen zu lassen? Und noch mehr Na-noschwärme zu schaffen?«

»Das habe ich nicht gesagt, Charley.« Ihre Stimme war ruhig, fast besänftigend.

»Aber du glaubst es«, fuhr Charley fort. »Du glaubst, die Schwärme verzehren Säugetiergewebe, um sich zu vermehren .«

»Ja. Das glaube ich, Charley.« Mae verstaute ihre Proben sorgfältig und stand auf. »Aber jetzt haben wir Kulturen genommen. Wir testen sie mit Luria und Agarose, und dann wissen wir's genau.« »Ich wette, wenn wir in einer Stunde wiederkommen, ist von dem weißen Zeug nichts mehr da, und wir sehen, wie sich auf dem ganzen Körper was Schwarzes bildet. Neue schwarze Nanopartikel. Und irgendwann wird es dann für einen neuen Schwarm reichen.«

Sie nickte. »Ja. Das denke ich auch.«

»Und deshalb sind hier in der Gegend alle Tiere verschwunden?«, sagte David Brooks.

»Ja.« Sie strich sich eine Haarsträhne zurück. »Das geht schließlich schon eine ganze Weile so.«

Einen Moment lang sagte keiner etwas. Wir standen alle um den Kaninchenkadaver herum, mit dem Rücken zum Wind. Der Kadaver wurde so rasch verzehrt, dass ich es fast sehen konnte, in Echtzeit.

»Kommt, wir machen jetzt den verdammten Schwärmen den Garaus«, sagte Charley.

Wir drehten uns alle um und gingen in Richtung Depot.

Niemand sprach.

Es gab nichts zu sagen.

Plötzlich flogen ein paar kleine Vögel auf, die unter den Feigenkakteen herumgehüpft waren, und kreisten zwitschernd vor uns durch die Luft.

Ich sagte zu Mae: »Es gibt keine Säugetiere mehr, aber die Vögel sind noch da?«

»Sieht so aus.«

Die Vögel landeten schließlich gut hundert Schritte von uns entfernt.

»Vielleicht sind sie den Schwärmen einfach zu klein«, sagte Mae. »Nicht genug Fleisch an den Knochen.«

»Vielleicht.« Mir kam noch eine andere Antwort in den Sinn. Aber um sicherzugehen, würde ich den Code überprüfen müssen.

Ich trat von der Sonne in den Schatten des Wellblechunterstandes und ging an den geparkten Autos vorbei auf die Tür des Depots zu. Sie war mit Warnsymbolen übersät - radioaktive Strahlung, biochemische Gefahren, Mikrowellen, hochexplosive Stoffe, Laserstrahlung. Charley sagte: »Da sieht man, warum wir den ganzen Mist in sicherer Entfernung aufbewahren.«

Plötzlich sagte Vince: »Jack, ein Anruf für Sie. Ich stell durch.« Mein Handy klingelte. Es war wahrscheinlich Julia. Ich meldete mich. »Hallo?«

»Dad.« Es war Eric. Mit dem emphatischen Tonfall, den er an sich hatte, wenn er aufgeregt war.

Ich seufzte. »Ja, Eric.«

»Wann kommst du nach Hause?«

»Ich weiß es noch nicht.«

»Bist du zum Abendessen da?«

»Ich fürchte, nein. Wieso? Ist was nicht in Ordnung?«

»Sie ist so ein Riesenarschloch.«

»Eric, sag mir einfach, was los ist .«

»Tante Ellen hält dauernd zu ihr. Das ist gemein.«

»Ich bin gerade ziemlich beschäftigt, Eric, also sag mir einfach .«

»Wieso? Was machst du denn?«

»Eric, sag mir bitte, was los ist.«

»Schon gut«, sagte er plötzlich schmollend, »wenn du sowieso nicht nach Hause kommst, ist es auch egal. Wo bist du denn eigentlich? Bist du in der Wüste?«

»Ja. Woher weißt du das?«

»Ich hab mit Mom gesprochen. Wir mussten sie im Krankenhaus besuchen, Tante Ellen wollte, dass wir mitkommen. Das fand ich blöd. Ich hatte gar keine Lust. Aber ich musste mit.«

»Verstehe. Wie geht's Mom?«

»Sie kommt aus dem Krankenhaus.«

»Hat sie alle Untersuchungen gemacht?«

»Die Ärzte wollten sie dabehalten«, sagte Eric. »Aber sie will raus. Sie hat einen Arm in Gips, mehr nicht. Sie sagt, sonst fehlt ihr nichts. Dad? Wieso muss ich auf Tante Ellen hören? Das ist gemein.«

»Hol Ellen mal ans Telefon.«

»Sie ist nicht da. Sie kauft mit Nicole ein neues Kleid für das Theaterstück.«

»Wer ist denn bei dir zu Hause?«

»Maria.«

»Okay«, sagte ich. »Hast du schon deine Hausaufgaben gemacht?«

»Noch nicht.«

»Dann aber avanti. Ich möchte, dass du sie vor dem Abendessen fertig hast.« Es war verblüffend, wie automatisch einem Vater oder einer Mutter solche Sätze von der Zunge gingen.

Inzwischen war ich an der Tür zum Depot. Ich blickte auf die vielen Warnzeichen. Einige davon kannte ich nicht, zum Beispiel eine Raute mit vier verschiedenfarbigen Quadraten drin, jedes mit einer Zahl. Mae schloss die Tür auf und ging hinein.

»Dad?« Eric fing an zu weinen. »Wann kommst du denn nach Hause?«

»Ich weiß es noch nicht«, sagte ich. »Ich hoffe, morgen.«

»Okay. Versprochen?«

»Versprochen.«

Ich konnte ihn schniefen hören, und dann kam durchs Telefon ein lang gezogenes Wrraff-Geräusch, als er sich die Nase am Ärmel abwischte. Ich sagte, er könne mich später noch einmal anrufen, wenn er wolle. Er klang besser und sagte, okay, und dann verabschiedete er sich.

Ich klappte das Handy zu und betrat das Depot.

Das Innere war in zwei große Lagerräume unterteilt, die beide an allen vier Wänden Regale und in der Mitte frei stehende Regale hatten. Beton wände, Betonboden. Im zweiten Raum gab es noch eine Tür und eine Wellblechrolltür für LkwLieferungen. Heißes Sonnenlicht fiel durch Fenster mit Holzrahmen. Die Klimaanlage dröhnte zwar laut, aber, wie Mae gesagt hatte, es war trotzdem heiß. Ich schloss die Tür hinter mir und sah mir die Dichtung an. Es war bloß eine normale Gummidichtung. Das Depot war eindeutig nicht luftdicht.

Ich ging an den Regalen entlang, in denen Kisten mit Ersatzteilen für die Produktionsmaschinen und das Labor gestapelt waren. Der zweite Raum enthielt alltägliche Dinge: Putzmittel, Toilettenpapier, Seifenstücke, Schachteln mit Frühstücksflok-ken und zwei Kühlschränke voll mit Lebensmitteln.

Ich sagte zu Mae: »Wo sind die Isotope?«

»Hier drüben.« Sie führte mich um ein Regal herum, zu einem Stahldeckel, der in den Betonboden eingelassen war. Der Deckel hatte einen Durchmesser von fast einem Meter. Er sah aus wie eine eingegrabene Mülltonne, wenn die Leuchtdioden und das Tastenfeld in der Mitte nicht gewesen wären. Mae ging auf ein Knie runter und tippte rasch einen Code ein.

Der Deckel hob sich zischend.

Ich sah eine Leiter, die hinunter in eine kreisrunde Stahlkammer führte. Die Isotope waren in unterschiedlich großen Metallbehältern verstaut. Ein Blick genügte Mae anscheinend, um zu sagen, was drin war: »Wir haben Selen-172. Sollen wir das nehmen?«

»Klar.«

Mae kletterte in die Kammer hinein.

»Lass doch den Scheiß!« In einer Ecke des Raumes wich David Brooks vor Charley Davenport zurück. Charley hatte eine große Sprühflasche Haushaltsreiniger in der Hand. Er probierte den Druckauslöser aus, und David hatte aus der Flasche was abbekommen. Es sah nicht nach einem Versehen aus. »Gib schon her«, sagte David und riss ihm die Flasche aus der Hand.

»Damit könnte es gehen«, erklärte Charley ungerührt. »Aber wir bräuchten einen ferngesteuerten Mechanismus.«

Aus dem ersten Raum sagte Rosie: »Ginge das hiermit?« Sie hielt einen glänzenden Zylinder hoch, an dem Kabel baumelten. »Ist das nicht ein Solenoidrelais?«

»Ja«, sagte David. »Aber ich glaube nicht, dass es stark genug ist, den Druckmechanismus auszulösen. Steht drauf, wie viel Leistung es hat? Wir brauchen was Größeres.«

»Und denkt dran, ihr braucht auch eine Fernsteuerung«, sagte Charley. »Es sei denn, ihr wollt den Scheißschwarm selbst besprühen.«

Mae kam wieder herauf, eine schwere Metallröhre in der Hand. Sie ging zum Waschbecken und griff nach einer Flasche mit einer strohfarbenen Flüssigkeit. Sie zog sich dicke Gummihandschuhe über und fing an, das Isotop mit der Flüssigkeit zu mischen. Ein Strahlungszähler über dem Waschbecken knatterte.

Im Headset sagte Ricky: »Vergesst ihr da nicht eine Kleinigkeit? Selbst wenn ihr eine Fernsteuerung habt, wie wollt ihr denn die Wolke anlocken? Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Schwarm einfach zu euch kommt und schön brav stehen bleibt, um sich besprühen zu lassen.«

»Uns fällt schon noch was ein, wie wir ihn anlocken können«, sagte ich.

»Was denn zum Beispiel?«

»Sie haben sich von dem Kaninchen anlocken lassen.«

»Wir haben keine Kaninchen.«

Charley sagte: »Mann, Ricky, du bist wirklich so negativ.«

»Ich halte euch nur die Tatsachen vor Augen.«

»Sehr freundlich von dir«, entgegnete Charley.

Wie Mae ließ auch Charley sich nichts vormachen: Ricky hatte die Sache die ganze Zeit über behindert. Als wollte er die Schwärme am Leben erhalten. Was absolut keinen Sinn ergab. Aber genauso verhielt er sich.

Ich hätte Charley gern etwas über Ricky gesagt, aber über unsere Headsets konnten alle mithören. Die Kehrseite moderner Kommunikationsmöglichkeiten: Jeder kriegt alles mit.

»He, Leute?« Es war Bobby Lembeck. »Wie läuft's?«

»Ganz gut. Wieso?«

»Der Wind legt sich.«

»Wie viel Knoten noch?«, fragte ich.

»Fünfzehn. Runter von achtzehn.«

»Das ist immer noch kräftig«, sagte ich. »Wir sind im grünen Bereich.«

»Ich weiß. Ich wollte es euch bloß gesagt haben.«

Von nebenan fragte Rosie: »Was ist Thermit?« In der Hand hatte sie eine Plastikkiste mit daumengroßen Metallröhrchen.

»Vorsichtig damit«, sagte David. »Das ist bestimmt vom Bau der Anlage hier übrig geblieben. Wahrscheinlich hat man hier Thermitschweißarbeiten gemacht.«

»Aber was ist das?«

»Thermit ist Aluminium und Eisenoxid«, sagte David. »Es wird sehr heiß - über fünfzehnhundert Grad - und so hell, dass du nicht direkt reingucken kannst. Und es schmilzt Stahl zum Schweißen.«

»Wie viel haben wir von dem Zeug?«, fragte ich Rosie. »Das könnten wir heute Abend gebrauchen.«

»Hier stehen vier Kisten.« Sie nahm eine der Kapseln aus der Kiste. »Womit zündet man die denn an?«

»Vorsicht, Rosie. Das ist eine Magnesiumhülle. Zum Anzünden reicht jede anständige Hitzequelle.«

»Auch Streichhölzer?«

»Wenn du deine Hand verlieren willst. Am besten sind Leuchtstäbe, irgendwas mit einem Zünder.«

»Verstehe«, sagte sie und verschwand wieder um die Ecke.

Der Strahlungszähler tickte noch immer. Ich wandte mich zum Waschbecken um. Mae hatte die Isotopenröhre wieder verschlossen. Sie goss jetzt die strohfarbene Flüssigkeit in eine Sprühflasche.

»He, Leute?« Es war wieder Bobby Lembeck. »Ich registriere eine gewisse Unbeständigkeit. Der Wind schwankt jetzt bei zwölf Knoten.«

»Okay«, sagte ich. »Du musst uns nicht jede kleine Veränderung durchgeben, Bobby.«

»Ich sehe nur eine gewisse Unbeständigkeit, mehr nicht.«

»Ich glaube, fürs Erste sind wir sicher, Bobby.«

Mae würde auf jeden Fall noch einige Minuten brauchen. Ich ging hinüber zum Computer und schaltete ihn ein. Der Bildschirm wurde hell; ein Optionsmenü erschien. Laut sagte ich: »Ricky, kann ich den Schwarmcode auf diesem Monitor aufrufen?«

»Den Code?«, fragte Ricky. Er klang beunruhigt. »Was willst du denn mit dem Code?«

»Ich will sehen, was ihr da gemacht habt.«

»Wieso?«

»Ricky, zum Donnerwetter, kann ich ihn sehen oder nicht?«

»Klar, natürlich kannst du das. Alle Code-Überprüfungen sind im Verzeichnis >slash codec. Du brauchst ein Passwort.«

Ich tippte schon. Ich fand das Verzeichnis. Aber es war gesichert. »Und das Passwort lautet?«

»L-a-n-g-t-o-n, alles klein.«

»Okay.«

Ich gab das Passwort ein. Ich war jetzt im Verzeichnis und schaute auf eine Liste mit Programm-Modifikationen, jede mit Angabe von Dateigröße und Datum. Der Dokumentenumfang war beträchtlich, was bedeutete, dass es sich hier ausschließlich um Programme für andere Aspekte des Schwarmmechanismus handelte. Denn der Code für die Partikel selbst musste klein sein - nur einige Zeilen, vielleicht acht, zehn Kilobytes, mehr nicht.

»Ricky.«

»Ja, Jack.« »Wo ist der Partikelcode?«

»Ist er nicht da?«

»Verdammt noch mal, Ricky. Hör auf, mich zu verarschen.«

»Hör mal, ich bin nicht verantwortlich für die Archivierung ...«

»Ricky, das sind Arbeitsdateien, keine Archive«, sagte ich. »Sag endlich, wo.«

Kurze Pause. »Es gibt ein Unterverzeichnis >slash C-D-N<. Da müsste er sein.«

Ich scrollte nach unten. »Ich hab's.«

In dem Verzeichnis fand ich eine Liste mit Dateien, alle sehr klein. Die ersten Modifikationsdaten lagen etwa sechs Wochen zurück. In den vergangenen zwei Wochen gab es keine Neuerungen.

»Ricky. Ihr habt den Code seit zwei Wochen nicht verändert?«

»Ja, könnte hinkommen.«

Ich klickte das jüngste Dokument an. »Habt ihr Kommentare geschrieben?« Als sie alle noch für mich arbeiteten, bestand ich immer darauf, dass sie Kommentare zur Programmstruktur in natürlicher Sprache schrieben. So ging die Überarbeitung schneller, als wenn die Dokumentierung im Code selbst erfolgte. Und häufig fanden sie die Lösung für logische Probleme, wenn sie alles kurz ausschreiben mussten.

»Müsste da sein«, sagte Ricky.

Auf dem Bildschirm sah ich:

^Initialisieren*/

For j = l to L x V do

Sj = 0 /*Anfangsbefehl auf 0*/

End For

For i = l to z do

For j = l to L x V do dij = (state (x,y,z)) /*Agenten-Schwellenwert*/

0 ij = (intent (Cj,Hj)) /*Agentenintention füllen*/ Response = 0 /*Anfang Agentenreaktion*/ Zone = z (i) /*Initialzone ungelernt von Agent*/ Sweep = 1 /*Aktivieren Agentenbewegung*/ End For End For /*Main*/

For kl = l to RVd do For tm = l to nv do

For 3 = I to j do /*Umgebung erschließen*/ 0 ij = (intent (Cj,Hj)) /*Agentenintention füllen*/ dij <> (state (x,y,z)) /*Agent ist in Bewegung*/ dikl = (filed (x,y,z)) /*Nächste Agenten bestimmen*/

Ich betrachtete es eine Weile, suchte nach den Änderungen, die sie gemacht hatten. Dann scrollte ich nach unten zum eigentlichen Code, um mir die Implementierung anzusehen. Aber der entscheidende Code war nicht da. Für den gesamten Bereich des Partikelverhaltens wurde auf etwas verwiesen, das »comp-stat_do« hieß.

»Ricky«, sagte ich, »was ist >compstat_do

»Ich weiß nicht. Vielleicht ist es kompiliert.« »Na, das wird mir ja wohl nichts nützen, oder?« Einen kompilierten Code konnte man nicht lesen. »Ricky, ich möchte das verdammte Modul sehen. Wo ist das Problem?« »Kein Problem. Ich muss es bloß suchen, mehr nicht.« »Okay .«

»Ich mach das, wenn du wieder hier bist.« Ich warf Mae einen Blick zu. »Bist du den Code durchgegangen?«

Sie schüttelte den Kopf. Ihre Miene schien zu sagen, dass das nie passieren würde, Ricky würde mich mit immer neuen Entschuldigungen hinhalten. Ich verstand nicht, warum. Ich war doch schließlich dafür da, ihnen bei der Codeprogrammierung zu helfen. Das war mein Spezialgebiet.

Im Raum nebenan stöberten Rosie und David die Ersatzteilregale durch, auf der Suche nach Funkrelais. Sie hatten keinen Erfolg. Auf der anderen Seite des Raumes furzte Charley Davenport laut und rief: »Bingo!«

»Mensch, Charley«, sagte Rosie.

»Man soll sich nichts verkneifen«, sagte Charley. »Das macht einen krank.«

»Du machst mich krank«, erwiderte Rosie.

»Oh, tut mir Leid.« Charley hob eine Hand und hielt eine glänzende Metallapparatur hoch. »Dann, nehme ich an, willst du wohl auch nicht dieses ferngesteuerte Druckventil haben?«

»Was?«, sagte Rosie und drehte sich um.

»Soll das ein Witz sein?«, erwiderte David und ging es sich ansehen.

»Und es hat einen Nenndruck von 1,5 Bar.«

»Das müsste funktionieren«, sagte David.

»Wenn ihr's nicht vermasselt«, frotzelte Charley.

Sie nahmen das Ventil und gingen damit zum Waschbecken, wo Mae noch immer dabei war, mit dick behandschuhten Händen die Flüssigkeit umzugießen. Sie sagte: »Ich hab's gleich .«

»Werd ich im Dunkeln leuchten?«, sagte Charley und grinste sie an.

»Nur deine Pupse«, sagte Rosie.

»He, die leuchten doch sowieso schon. Vor allem, wenn man sie ansteckt.«

»Es reicht, Charley.«

»Furze sind nämlich Methan. Brennt mit einer kalten, blauen, juwelartigen Flamme.« Und er lachte.

»Schön, dass wenigstens du dich lustig findest«, sagte Rosie. »Sonst tut das nämlich keiner.«

»Aua, aua«, sagte Charley und fasste sich an die Brust. »Ich sterbe, ich sterbe .«

»Mach uns keine falschen Hoffnungen.«

Mein Headset knisterte. »He, Leute?« Es war wieder Bobby Lembeck. »Der Wind ist soeben auf sechs Knoten gefallen.«

Ich sagte: »Okay.« Ich wandte mich an die anderen. »Los, Leute, wir müssen hier weg.«

David sagte: »Wir warten noch auf Mae. Dann bauen wir das Ventil ein.«

»Das machen wir im Labor«, sagte ich.

»Aber ich muss vorher ausprobieren .«

»Im Labor«, sagte ich. »Wir müssen los, Leute.«

Ich ging zum Fenster und blickte hinaus. Der Wind bewegte noch die Wacholderbüsche, aber es wehte keine Schicht Sand mehr über den Boden.

Ricky meldete sich im Headset: »Jack, verdammt, schaff dein Team da raus.«

»Wir sind schon dabei«, sagte ich.

David Brooks sagte mit nörgeliger Stimme: »Leute, es bringt nichts zu gehen, bevor wir nicht wissen, ob das Ventil in die Flasche passt .«

»Ich glaube, wir gehen besser«, sagte Mae. »Auch wenn wir noch nicht ganz fertig sind.«

»Was bringt das denn?«, sagte David.

»Es reicht«, sagte ich. »Hört auf zu quatschen und kommt endlich.«

Über das Headset sagte Bobby: »Vier Knoten und fallend. Schnell.«

»Nichts wie raus hier«, sagte ich. Ich scheuchte sie zur Tür.

Dann meldete sich Ricky. »Nein.«

»Was?«

»Ihr könnt nicht raus.«

»Wieso nicht?«

»Weil es zu spät ist. Sie sind da.«

6. Tag, 15.12 Uhr

Alle kamen ans Fenster; wir stießen mit den Köpfen aneinander, weil wir versuchten, in alle Richtungen zu schauen. So weit ich sehen konnte, war der Horizont leer. Ich konnte nicht das Geringste ausmachen. »Wo sind sie?«, fragte ich.

»Sie kommen aus südlicher Richtung. Wir haben sie auf dem Monitor.«

»Wie viele?«, fragte Charley.

»Vier.«

»Vier!«

»Ja, vier.«

Das Hauptgebäude lag südlich von uns. In der Südwand des Depots waren keine Fenster.

David sagte: »Wir können nichts sehen. Wie schnell kommen sie?«

»Schnell.«

»Reicht die Zeit, wenn wir die Beine in die Hand nehmen?«

»Ich glaube nicht.«

David zog die Augenbrauen hoch. »Er glaubt nicht. Himmelherrgott.«

Und bevor ich etwas sagen konnte, war er zur Tür auf der anderen Seite gestürzt, öffnete sie und trat hinaus ins Sonnenlicht. Durch das Rechteck der offenen Tür sahen wir ihn in südliche Richtung blicken, die Augen mit der Hand beschirmt. Wir sprachen alle gleichzeitig:

»David!«

»David, was soll denn das?«

»David, du Vollidiot!«

»Ich halte Ausschau ...«

»Komm wieder rein!«

»Du blöder Sack!«

Aber Brooks blieb, wo er war, die Hände wie Schirme über den Augen. »Ich kann immer noch nichts sehen«, sagte er. »Und ich höre auch nichts. Vielleicht schaffen wir es ja noch -äh, nein, doch nicht.« Er kam wieder hereingerannt, stolperte über die Türschwelle, fiel hin, rappelte sich wieder auf und knallte die Tür zu, zog sie fest zu, zerrte am Türknauf.

»Wo sind sie?«

»Sie kommen«, sagte er. »Sie kommen.« Seine Stimme zitterte vor Anspannung. »Oh mein Gott, sie kommen.« Er zog wieder am Türknauf, jetzt mit beiden Händen, setzte sein ganzes Körpergewicht ein. Er murmelte immer wieder: »Sie kommen . sie kommen .«

»Auch das noch«, sagte Charley. »Der Spinner dreht durch.«

Ich ging hinüber zu David und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er zog am Türknauf, atmete keuchend. »David«, sagte ich leise. »Bleib ganz ruhig. Atme schön tief durch.«

»Ich muss - ich muss sie - ich muss sie doch .« Er schwitzte, am ganzen Körper verkrampft, seine Schulter zitterte unter meiner Hand. Es war die nackte Panik.

»David«, sagte ich. »Schön tief durchatmen, okay?«

»Ich muss doch - muss doch - doch - doch - doch .«

»Tief durchatmen, David . « Ich holte tief Luft, zeigte es ihm. »So ist gut. Na los ... Tief durchatmen ...«

David nickte, versuchte, auf mich zu hören. Er atmete kurz durch. Dann fing er wieder an zu keuchen.

»So ist gut, David, jetzt noch einmal ...«

Noch ein Atemzug. Seine Atmung wurde etwas langsamer. Er hörte auf zu zittern.

»Okay, David, so ist gut .«

Hinter mir sagte Charley: »Ich hab immer gewusst, dass der Typ total verkorkst ist. Seht euch das an, man muss mit ihm reden wie mit einem kleinen Kind.«

Ich schaute nach hinten, warf Charley einen bösen Blick zu. Er zuckte bloß mit den Schultern. »He, ich hab doch Recht.«

Mae sagte: »Das hilft uns aber nicht weiter, Charley.«

»Scheiß drauf.«

Rosie sagte: »Charley, halt doch einfach mal 'ne Weile die Klappe, ja?«

Ich sah wieder David an, sprach ruhig auf ihn ein. »Sehr schön, David ... So ist gut, tief atmen ... Und jetzt lass den Türknauf los.«

David schüttelte den Kopf, weigerte sich, doch nun wirkte er verwirrt, unsicher, als wüsste er nicht mehr so recht, was er da eigentlich machte. Er blinzelte rasch mit den Augen. Als würde er aus einer Trance erwachen.

Ich sagte leise: »Lass den Türknauf los. Das bringt doch gar nichts.«

Schließlich ließ er los und setzte sich auf den Boden. Er fing an zu weinen, den Kopf in den Händen.

»Ach, Gott«, sagte Charley. »Das hat uns gerade noch gefehlt.«

»Halt den Mund, Charley.«

Rosie ging zum Kühlschrank und kam mit einer Flasche Wasser zurück. Sie gab sie David, der weinend daraus trank. Sie half ihm auf die Beine, gab mir mit einem Nicken zu verstehen, dass sie sich um ihn kümmern würde.

Ich ging zurück in die Mitte des Raumes, wo die anderen inzwischen am Computerbildschirm standen. Der Monitor zeigte jetzt nicht mehr Codezeilen, sondern die Nordfassade des Hauptgebäudes. Vier Schwärme waren dort zu sehen, und sie bewegten sich silbern glänzend entlang des Gebäudes auf und ab.

»Was machen die da?«, fragte ich.

»Die wollen rein.«

Ich sagte: »Warum wollen sie das?«

»Wir wissen es nicht«, sagte Mae.

Einen Moment lang sahen wir schweigend zu. Wieder war ich verblüfft, wie zielstrebig ihr Verhalten war. Sie erinnerten mich an Bären, die in einen Wohnwagen einbrechen wollen, um an die Lebensmittel zu kommen. Sie verharrten an jeder Tür und an jedem geschlossenen Fenster, schwebten davor, bewegten sich an den Dichtungen auf und ab und strebten schließlich eine Öffnung weiter.

Ich sagte: »Und verhalten die sich an den Türen immer so?«

»Ja. Wieso?«

»Weil es so aussieht, als würden sie sich nicht erinnern, dass die Türen abgedichtet sind.«

»Nein«, sagte Charley. »Sie können sich nicht erinnern.«

»Weil sie nicht genug Speicher haben?«

»Entweder das«, sagte er, »oder das da ist eine andere Generation.«

»Du meinst, das sind neue Schwärme seit heute Mittag?«

»Ja.«

Ich sah auf meine Uhr. »Alle drei Stunden eine neue Generation?«

Charley zuckte die Achseln. »Genau weiß ich das nicht. Wir haben bisher nicht herausgefunden, wo sie sich vermehren. Das ist bloß meine Vermutung.«

Die Möglichkeit, dass so schnell neue Generationen entstanden, bedeutete, dass auch der in den Code eingebaute Evolutionsmechanismus - wie auch immer der aussehen mochte -schnell voranschritt. Genetische Algorithmen - die die Reproduktion simulierten, um zu Lösungen zu gelangen - bewegten sich für gewöhnlich zwischen fünfhundert und fünftausend Generationen, um eine Optimierung zu erreichen. Wenn diese Schwärme sich alle drei Stunden vermehrten, dann hatten sie in den vergangenen zwei Wochen um die hundert Generationen hervorgebracht. Und deshalb musste das Verhalten nun schon um einiges präziser sein.

Mae beobachtete sie auf dem Monitor und sagte: »Wenigstens bleiben sie beim Hauptgebäude. Anscheinend wissen sie nicht, dass wir hier sind.«

»Woher sollen sie das auch wissen?«, fragte ich.

»Das können sie nicht«, sagte Charley. »Ihr Hauptsinn ist das Sehen. Kann sein, dass sie im Laufe der Generationen auch ein bisschen Hörfähigkeit erworben haben, aber in erster Linie ist es nach wie vor das Sehen. Was sie nicht sehen, existiert für sie nicht.«

Rosie kam mit David zu uns. Er sagte: »Tut mir schrecklich Leid, Leute.«

»Kein Problem.«

»Schon gut, David.«

»Ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Es war wohl einfach zu viel für mich.«

Charley sagte: »Vergiss es, David. Wir verstehen das. Du bist nun mal ein Psychopath, und du bist durchgedreht. Wir wissen das. Kein Problem.«

Rosie legte einen Arm um David, der sich laut die Nase putzte. Sie blickte auf den Monitor. »Wie sieht's denn da draußen aus?«, fragte sie.

»Scheint so, als wüssten sie nicht, dass wir hier sind.«

»Gut .«

»Wir hoffen, dass das so bleibt.«

»Klar. Und wenn nicht?«, sagte Rosie.

Ich hatte darüber nachgedacht. »Wenn nicht, bauen wir auf die Löcher in den predprey-Annahmen. Wir nutzen die Schwächen in der Programmierung aus.«

»Und das bedeutet?«

»Wir schwärmen«, sagte ich.

Charley stieß ein wieherndes Lachen aus. »Ja, klar, wir schwärmen - und beten auf Teufel komm raus.«

»Das ist mein voller Ernst«, sagte ich.

In den vergangenen dreißig Jahren hatten Wissenschaftler die Räuber-Beute-Interaktionen bei allen möglichen Säugetieren und Insekten studiert, vom Löwen über die Hyäne bis hin zur Wanderameise. Inzwischen durchschaute man sehr viel besser, wie Beutetiere sich schützten. Zebras und Karibus zum Beispiel lebten nicht in Herden, weil sie gesellig waren, sondern weil die Herde Schutz vor Räubern bot. Bestand die Herde aus vielen Tieren, so war das gleichbedeutend mit erhöhter Wachsamkeit. Und angreifende Räuber waren häufig verwirrt, wenn die Tiere in alle Richtungen flohen. Manchmal blieben sie einfach stehen. Ein Räuber, dem zu viele bewegliche Ziele geboten wurden, verfolgte oft gar keines.

Das Gleiche galt für Vogel- und Fischschwärme - bei koordinierten Gruppenbewegungen fiel es Räubern schwerer, ein einzelnes Opfer herauszupicken. Räuber griffen vor allem Tiere an, die sich in irgendeiner Weise von der Masse abhoben. Das war ein Grund dafür, warum sie so häufig Jungtiere auswählten - nicht bloß weil sie leichter zu erbeuten waren, sondern auch, weil sie anders aussahen. Und Räuber töteten mehr männliche als weibliche Tiere, weil sich besonders nichtdominante Männchen eher am Rand der Herde aufhielten, wo sie auffälliger waren.

Als Hans Kruuk vor dreißig Jahren in der Serengeti Hyänen studierte, fand er heraus, dass ein Tier, nachdem man es mit Farbe markiert hatte, beim nächsten Angriff garantiert getötet wurde. So stark war die Macht des Unterschieds.

Die Botschaft war also ganz einfach. Zusammenbleiben. Gleich bleiben.

Das war unsere größte Chance.

Aber ich hoffte, dass es nicht so weit kommen würde.

Die Schwärme verschwanden für eine Weile. Sie waren jetzt auf der anderen Seite des Laborgebäudes. Wir warteten nervös. Schließlich tauchten sie wieder auf. Erneut bewegten sie sich an der Längsseite des Gebäudes entlang, überprüften eine Maueröffnung nach der anderen.

Wir alle schauten auf dem Monitor zu. David Brooks war in Schweiß gebadet. Er wischte sich die Stirn mit dem Ärmel ab. »Wie lange wollen die das denn noch machen?«

»Solange sie Lust haben«, erwiderte Charley.

Mae sagte: »Zumindest, bis der Wind wieder stärker wird. Und danach sieht es im Moment nicht aus.«

»Herrgott«, sagte David. »Wie könnt ihr das bloß aushalten.«

Er war bleich; Schweiß war ihm von den Augenbrauen auf die Brillengläser getropft. Er sah aus, als würde er jeden Moment umkippen. Ich sagte: »David. Möchtest du dich hinsetzen?«

»Ist vielleicht besser.«

»Okay.«

»Komm, David«, sagte Rosie. Sie führte ihn zum Waschbek-ken und setzte ihn auf den Boden. Er umklammerte seine Knie, stützte den Kopf darauf. Rosie befeuchtete ein Papiertaschentuch mit kaltem Wasser und legte es ihm in den Nacken. Ihre Gesten waren zärtlich.

»Diese Memme«, sagte Charley kopfschüttelnd. »So was hat uns gerade noch gefehlt.«

»Charley«, sagte Mae, »das ist wirklich nicht gerade hilfreich ...«

»Na und? Wir sitzen in diesem verdammten Schuppen in der Falle, luftdicht ist er auch nicht, wir können gar nichts machen, können nirgendwohin, und der Typ da knallt durch, macht alles noch schlimmer.«

»Ja«, sagte sie leise, »stimmt alles haargenau. Und du machst es auch nicht besser.«

Charley bedachte sie mit einem Blick und fing an, die Titelmelodie von »Twilight Zone« zu summen.

»Charley«, sagte ich. »Guck mal.« Ich beobachtete die Schwärme. Ihr Verhalten hatte sich leicht verändert. Sie blieben nicht mehr dicht am Gebäude. Sie bewegten sich jetzt im Zickzack von der Wand weg in die Wüste und dann wieder zurück. Alle vier taten das, wie in einem fließenden Tanz.

Mae sah es auch. »Neues Verhalten ...«

»Ja«, sagte ich. »Ihre Strategie funktioniert nicht, also suchen sie nach einer neuen.«

»Wird ihnen nichts nützen«, sagte Charley. »Sie können so viel Zickzack tanzen, wie sie wollen, das öffnet ihnen auch keine Tür.«

Trotzdem war ich fasziniert von diesem emergenten Verhalten. Die Zickzackbewegungen wurden ausladender; die Schwärme bewegten sich jetzt immer weiter von den Gebäuden weg. Ihre Strategie veränderte sich zusehends. Sie entwickelte sich vor unseren Augen. »Wirklich erstaunlich«, sagte ich.

»Kleine Mistkerle«, sagte Charley.

Einer der Schwärme war jetzt ziemlich nah an dem Kaninchenkadaver. Er näherte sich ihm bis auf einige Meter und wirbelte wieder weg, zurück zum Hauptgebäude. Mir kam ein Gedanke. »Wie gut können die Schwärme sehen?«

Es klickte im Headset. Es war Ricky. »Die sehen ausgezeichnet«, sagte er. »Waren ja schließlich auch dazu gedacht. Hundertfünfzigprozentige Sehstärke. Fantastische Auflösung. Besser als beim Menschen.«

Ich fragte: »Und wie funktioniert bei ihnen die Bildwahrnehmung?« Sie waren ja nur eine Reihe von individuellen Partikeln. Wie bei den Stäbchen und Zapfen in der Netzhaut des Auges war die zentrale Verarbeitung auf sämtliche Inputs angewiesen, um ein Bild zu gestalten. Wie wurde diese Verarbeitung erreicht?

Ricky hustete. »Äh ... weiß nicht.«

Charley sagte: »Ist in späteren Generationen aufgetaucht.«

»Du meinst, sie haben ihre Sehkraft von allein evolviert?«

»Ja.«

»Und wir wissen nicht, wie sie das machen .«

»Nein. Wir wissen nur, dass sie es machen.«

Wir sahen zu, wie der Schwarm sich von der Wand entfernte, sich wieder dem Kaninchen näherte, dann erneut zur Wand zurückkehrte. Die anderen Schwärme waren etwas weiter unten am Gebäude und taten das Gleiche. Sie wirbelten hinaus in die Wüste, dann wieder zurück.

Über das Headset sagte Ricky: »Wieso fragst du?«

»Darum.«

»Meinst du, sie werden das Kaninchen finden?«

»Ich mache mir keine Sorgen wegen des Kaninchens«, erwiderte ich. »Überhaupt, es sieht so aus, als hätten sie es bereits verpasst.«

»Was dann?«

»Oh-oh«, sagte Mae.

»Scheiße«, sagte Charley und stieß einen langen Seufzer aus.

Wir blickten auf den Schwarm, der uns am nächsten war, der Schwarm, der ganz knapp an dem Kaninchen vorbeigetanzt war. Doch statt wieder in sein übliches Muster zu fallen, verharrte er in der Wüste. Er rührte sich nicht von der Stelle, aber die silbrige Säule hob und senkte sich.

»Wieso macht er das?«, fragte ich. »Dieses Rauf und Runter?«

»Könnte mit der Bildwahrnehmung zu tun haben . Fokussieren?«

»Nein«, sagte ich. »Ich meine, warum ist er stehen geblieben?«

»Programmhänger?«

Ich schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich.«

»Was dann?«

»Ich glaube, er sieht was.«

»Was denn?«, fragte Charley.

Ich fürchtete, die Antwort zu kennen. Der Schwarm stellte eine extrem hochauflösende Kamera dar, kombiniert mit verteilter Intelligenz in einem Netzwerk. Und was verteilte Netzwerke besonders gut konnten, war Muster aufspüren. Deshalb wurden sie auch zur Gesichtererkennung in Sicherheitssystemen benutzt oder um die Scherben archäologischer Funde zusammenzusetzen. Die Netzwerke konnten Muster in Daten besser ausfindig machen als das menschliche Auge.

»Was für Muster?«, sagte Charley, nachdem ich ihm das erzählt hatte. »Da draußen gibt's doch außer Sand und Kakteenstacheln nichts aufzuspüren.«

Mae sagte: »Und Fußabdrücke.«

»Was? Du meinst, unsere Fußabdrücke? Die wir hinterlassen haben, als wir hierher gegangen sind? Komm, Mae, in der letzten Viertelstunde ist der Sand noch verweht worden. Da sind keine Fußspuren mehr zu sehen.«

Wir beobachteten, wie der Schwarm in der Luft hing, sich hob und senkte, als würde er atmen. Die Wolke war jetzt fast ganz schwarz geworden, nur hier und da glitzerte Silber auf. Sie befand sich jetzt schon zehn oder fünfzehn Sekunden an ein und derselben Stelle, pulsierte auf und ab. Die anderen Schwärme setzten ihren Zickzackkurs fort, aber der hier blieb, wo er war.

Charley biss sich auf die Lippe. »Du glaubst wirklich, er sieht was?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Vielleicht.«

Plötzlich stieg der Schwarm auf und bewegte sich wieder. Aber er kam nicht auf uns zu. Stattdessen bewegte er sich auf einer Diagonalen über den Wüstenboden, steuerte auf die Tür des Energiegebäudes zu. Dicht vor der Tür blieb er stehen und wirbelte auf der Stelle.

»Was soll das denn?«, fragte Charley.

Ich wusste, was das zu bedeuten hatte. Mae auch. »Er ist gerade unserer Spur gefolgt«, sagte sie. »Rückwärts.«

Der Schwarm war dem Weg gefolgt, den wir anfänglich von der Tür zum Kaninchen gegangen waren. Die Frage war, was würde er als Nächstes tun?

Die nächsten fünf Minuten beobachteten wir ihn angespannt. Der Schwarm verfolgte denselben Weg zurück bis zu dem Kaninchen. Er wirbelte eine Weile um das Kaninchen herum, bewegte sich in langsamen Halbkreisen hin und her. Dann flog er erneut die Route zur Tür der Energie station. Er blieb dort kurz stehen, kehrte dann wieder zum Kaninchen zurück.

Dieser Ablauf wiederholte sich dreimal. Unterdessen hatten die anderen Schwärme sich weiter im Zickzack am Gebäude entlangbewegt und waren nun außer Sicht. Der einzelne Schwarm kehrte zu der Tür zurück, dann erneut zum Kaninchen hin.

»Er steckt in einer Endlosschleife«, sagte Charley. »Er macht einfach immer und immer wieder das Gleiche.«

»Ein Glück für uns«, erwiderte ich. Ich wartete ab, ob der Schwarm sein Verhalten veränderte. Bisher war das nicht geschehen. Und wenn er sehr wenig Speicher hatte, dann war er vielleicht wie ein Alzheimerpatient unfähig, sich zu erinnern, dass er das alles schon einmal gemacht hatte.

Jetzt flog er um das Kaninchen herum, bewegte sich in Halbkreisen.

»Steckt eindeutig in einer Endlosschleife«, sagte Charley.

Ich wartete.

Ich hatte nicht alle Veränderungen überprüfen können, die sie an predprey vorgenommen hatten, weil das zentrale Modul fehlte. Aber im ursprünglichen Programm war ein randomisie-rendes Element eingebaut gewesen, um mit Situationen wie dieser fertig zu werden. Immer wenn predprey sein Ziel verfehlte und es keinen spezifischen Input durch die Außenwelt gab, der neue Aktionen auslösen konnte, dann wurde sein Verhalten willkürlich modifiziert. Diese Lösung war weithin bekannt. So waren beispielsweise Psychologen zu der Überzeugung gelangt, dass ein gewisses Maß an willkürlichem Verhalten für Innovationen erforderlich sei. Kreativität war nicht möglich, wenn man sich nicht in neue Richtungen vorwagte, und diese Richtungen wurden meistenteils willkürlich gewählt .

»Oh-oh«, sagte Mae.

Das Verhalten hatte sich verändert.

Der Schwarm bewegte sich in immer größeren Kreisen unablässig um das Kaninchen herum. Und gleich darauf stieß er auf eine andere Spur. Er hielt einen Moment inne, stieg dann plötzlich in die Höhe und kam direkt auf uns zu. Er folgte genau dem Weg, den wir zum Depot gegangen waren.

»Scheiße«, sagte Charley. »Jetzt können wir einpacken.«

Mae und Charley stürzten durch den Raum zu einem Fenster. David und Rosie spähten aus dem Fenster über dem Waschbecken. Und ich rief: »Nein, nein! Alle weg von den Fenstern!«

»Was?«

»Er kann sehen, wisst ihr nicht mehr? Los, weg von den Fenstern!«

Gut verstecken konnte man sich im Depot nicht, weiß Gott nicht. Rosie und David krochen unter das Waschbecken. Charley zwängte sich neben sie, ohne auf ihre Proteste zu achten. Mae schlüpfte in eine dunkle Ecke des Raumes, drückte sich in die Lücke zwischen zwei Regalen, die einander nicht ganz berührten. Sie wäre nur vom Westfenster aus zu sehen -und auch dann nicht so ohne weiteres.

Das Funkgerät knisterte. »He, Leute?« Es war Ricky. »Einer ist auf dem Weg zu euch. Und äh ... Nein ... Zwei andere folgen ihm.«

»Ricky«, sagte ich. »Kein Funkkontakt mehr.«

»Was?«

»Kein Funkkontakt mehr.«

»Wieso?«

»Schalt ab, Ricky.«

Ich ließ mich im Hauptraum hinter einem Karton mit Vorräten auf die Knie fallen. Der Karton war nicht groß genug, um mir volle Deckung zu geben - meine Füße lugten hervor -, aber ebenso wie Mae war ich nicht leicht zu sehen. Von draußen musste man schon in einem bestimmten Winkel durch das Nordfenster schauen, um mich zu entdecken. Jedenfalls besser als gar nichts.

Von meiner Kauerposition aus konnte ich die anderen unter dem Waschbecken so eben sehen. Mae gar nicht, dafür musste ich schon den Kopf um die Ecke des Kartons schieben. Als ich nach ihr sah, wirkte sie ruhig, gefasst. Ich zog den Kopf zurück und wartete.

Ich hörte nur das Summen der Klimaanlage. Zehn oder fünfzehn Sekunden verstrichen. Ich konnte das Sonnenlicht durch das Nordfenster über dem Waschbecken fallen sehen. Es warf links von mir ein weißes Rechteck auf den Boden.

Mein Headset knisterte. »Wieso keinen Kontakt?«

»Ich fass es nicht«, knurrte Charley.

Ich legte einen Finger an die Lippen und schüttelte den Kopf.

»Ricky«, sagte ich, »können diese Schwärme nicht auch hören?«

»Klar, vielleicht ein bisschen, aber .«

»Sei still und melde dich nicht mehr.«

»Aber .«

Ich griff nach dem Sender an meinem Gürtel und schaltete ihn ab. Ich gab den anderen unter dem Waschbecken ein Zeichen. Sie stellten ebenfalls ihre Sender ab.

Charley formte etwas mit den Lippen. Ich meinte zu verstehen: »Der verdammte Mistkerl will, dass wir draufgehen.«

Aber sicher war ich mir nicht.

Wir warteten.

Es waren höchstens zwei oder drei Minuten, aber es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Meine Knie auf dem harten Betonboden schmerzten. Um es mir etwas bequemer zu machen, veränderte ich vorsichtig meine Position; ich war mir sicher, dass der erste Schwarm inzwischen ganz in der Nähe sein musste. Er war noch nicht an den Fenstern aufgetaucht, und ich wunderte mich, wo er blieb. Vielleicht hatte er, weil er unserer Spur folgte, an den parkenden Autos Halt gemacht. Ich fragte mich, was für einen Reim sich Schwarmintelligenz wohl auf ein Auto machen würde. Wie verwirrend es für dieses hochauflösende Auge sein musste. Aber vielleicht würde der Schwarm die Autos, da sie leblos waren, lediglich als große Felsbrocken in leuchtenden Farben einstufen und sie ignorieren.

Aber trotzdem . Wo blieb er nur?

Von Sekunde zu Sekunde schmerzten mir die Knie mehr. Ich veränderte meine Position, verlagerte Gewicht auf die Hände und hob die Knie wie ein Läufer in den Startblöcken. Das brachte eine vorübergehende Erleichterung. Ich war so auf den Schmerz konzentriert, dass ich zunächst nicht merkte, dass das helle, weiße Rechteck auf dem Boden in der Mitte dunkler wurde und sich die Dunkelheit zu den Seiten hin ausbreitete. Gleich darauf wurde das ganze Rechteck mattgrau.

Der Schwarm war da.

Ich war mir nicht sicher, aber ich meinte, unter dem Gesumm der Klimaanlage ein tiefes Trommeln zu hören. Von meinem Versteck hinter dem Karton aus sah ich, dass sich das Fenster oberhalb des Waschbeckens durch die wirbelnden schwarzen Partikel zunehmend verdunkelte. Als würde draußen ein Sandsturm toben. Im Depot wurde es duster. Erstaunlich duster.

Unter dem Waschbecken fing David Brooks an zu stöhnen. Charley hielt ihm mit der Hand den Mund zu. Sie blickten nach oben, obwohl das Waschbecken die Sicht auf das Fenster über ihnen versperrte.

Und dann verschwand der Schwarm vom Fenster, so rasch, wie er gekommen war. Sonnenlicht strömte wieder herein.

Niemand rührte sich.

Wir warteten.

Augenblicke später wurde das Fenster an der Westwand dunkel, auf die gleiche Art. Ich fragte mich, warum der Schwarm nicht hereinkam. Das Fenster war nicht luftdicht. Die Nanopartikel könnten mühelos durch die Ritzen dringen. Aber offenbar machten sie nicht einmal den Versuch.

Möglicherweise war das ein Aspekt des Netzwerklernens, der uns zugute kam. Vielleicht glaubten die Schwärme aufgrund ihrer Erfahrung am Laborgebäude, dass Türen und Fenster undurchdringbar waren. Vielleicht unternahmen sie deshalb keinen Versuch.

Der Gedanke verlieh mir etwas Hoffnung, wodurch ich die Schmerzen in den Knien besser ertragen konnte.

Das Westfenster war noch schwarz, als sich das Nordfenster über dem Waschbecken erneut verdunkelte. Jetzt blickten zwei Schwärme gleichzeitig herein. Ricky hatte gesagt, drei wären auf dem Weg zum Depot. Den vierten hatte er nicht erwähnt. Ich fragte mich, wo der dritte Schwarm war. Gleich darauf wusste ich es.

Wie ein lautloser, schwarzer Nebel kamen Nanopartikel unter der Westtür hindurch in den Raum. Bald darauf folgten noch mehr Partikel, rundherum um die Tür. Sobald sie eingedrungen waren, wirbelten und kreisten sie scheinbar ziellos, doch ich wusste, dass sie sich in wenigen Augenblicken selbst organisieren würden.

Dann sah ich am Nordfenster weitere Teilchen durch die Ritzen strömen. Auch durch die Schlitze der Klimaanlage in der Decke drängten sie sich zuhauf.

Es brachte nichts, länger zu warten. Ich stand auf und trat aus meinem Versteck. Ich rief den anderen zu: »Alle herkommen und in zwei Reihen aufstellen!«

Charley nahm die Sprühflasche Haushaltsreiniger, reihte sich ein und brummte: »Glaubst du im Ernst, wir haben eine Chance?«

»Eine bessere kriegen wir nicht«, sagte ich. »Reynolds-Regeln! Formieren und bei mir bleiben! Und los geht's!«

Wenn wir nicht so große Angst gehabt hätten, wären wir uns vielleicht albern vorgekommen, wie wir so dicht zusammengedrängt im Raum hin und her schlurften und versuchten, unsere Bewegungen zu koordinieren - einen Vogel schwarm zu imitieren. Das Herz schlug mir bis zum Halse, und mir dröhnten die Ohren. Nur mit größter Mühe konnte ich mich auf unsere Schritte konzentrieren. Ich wusste, dass wir uns ungeschickt anstellten, aber wir wurden rasch besser. Wenn wir zu einer Wand kamen, drehten wir uns auf dem Absatz und gingen wieder zurück, bewegten uns im Takt. Ich fing an, bei jedem Schritt die Arme zu schwingen und zu klatschen. Die anderen taten es mir nach. Es war gut für unsere Koordination. Und wir kämpften alle gegen unsere Panik an. Mae sagte später: »Das war Stepp-Aerobic in der Hölle.«

Und die ganze Zeit über sahen wir die schwarzen Nanoparti-kel zischend durch Ritzen in Türen und Fenstern eindringen. Das schien lange Zeit so zu gehen, aber wahrscheinlich dauerte es bloß dreißig oder vierzig Sekunden. Schon bald erfüllte eine Art einheitlicher Nebel den Raum. Ich spürte Nadelstiche am ganzen Körper, und ich war sicher, dass es den anderen auch so erging. David fing wieder an zu stöhnen, aber Rosie war dicht neben ihm, sprach ihm Mut zu, beschwor ihn durchzuhalten.

Plötzlich lichtete sich der Nebel mit erschreckender Geschwindigkeit, die Partikel verdichteten sich zu zwei deutlich konturierten Säulen, die nun unmittelbar vor uns standen und sich in dunklen Wellen hoben und senkten.

Aus dieser Nähe betrachtet, verströmten die Schwärme eine unmissverständliche Bedrohung, fast etwas Bösartiges. Ihr tiefes Trommeln war deutlich zu hören, doch zwischendurch vernahm ich ein wütendes Zischen, wie bei einer Schlange.

Aber sie griffen nicht an. Wie ich gehofft hatte, arbeiteten die Programmdefizite für uns. Angesichts einer dicht gedrängten, koordinierten Beutegruppe waren die Räuber blockiert. Sie taten gar nichts.

Zumindest vorläufig.

Zwischen den Klatschgeräuschen sagte Charley: »Nicht zu glauben - dieser Blödsinn - funktioniert!«

Ich sagte: »Ja, aber vielleicht - nicht lange.« Ich hatte Sorge, dass David seine Angst nicht mehr unter Kontrolle halten konnte. Und ich hatte Sorge wegen der Schwärme. Ich wusste nicht, wie lange sie einfach dastehen würden, bevor sie neues Verhalten ausprobierten. Ich sagte: »Ich schlage vor - wir arbeiten uns - zur Hintertür vor - und dann nichts wie raus hier.«

Als wir mit einer Drehung an der Wand kehrtmachten, steuerte ich etwas schräg auf den hinteren Raum zu. Klatschend und im Gleichschritt bewegte sich unsere Gruppe von den Schwärmen weg, die uns mit diesem tiefen, trommelnden Geräusch folgten.

»Und wenn wir draußen sind, was dann?«, wimmerte David. Er hatte Schwierigkeiten, mit uns Übrigen synchron zu bleiben. In seiner Panik stolperte er immer wieder. Er schwitzte und blinzelte rasch.

»Wir gehen so weiter - als Schwarm - zurück zum Labor -und dann rein - schaffst du das?«

»Oh Gott«, stöhnte er. »Es ist so weit ... Ich weiß nicht, ob ...« Er stolperte wieder, verlor fast das Gleichgewicht. Und er klatschte auch nicht mehr mit uns zusammen. Ich konnte seine Angst förmlich spüren, seinen überwältigenden Drang, die Flucht zu ergreifen.

»David, du bleibst bei uns - allein schaffst du das nicht -hörst du?«

David stöhnte: »Ich weiß nicht . Jack . Ich weiß nicht, ob ich . « Er stolperte erneut, stieß gegen Rosie, die gegen Charley fiel, der sie auffing und wieder hochzog. Doch unser Schwarm war kurz durcheinander geraten, die Koordination dahin.

Sofort wurden die Schwärme tiefschwarz, drehten sich spiralförmig eng zusammen, wie zum Sprung bereit. Ich hörte Charley flüstern: »Ach du Scheiße«, ganz leise, und ja, auch ich dachte einen Augenblick, dass er Recht hatte, jetzt war es aus mit uns.

Doch dann fanden wir unseren Rhythmus wieder, und sofort stiegen die Schwärme auf, normalisierten sich. Das Tiefschwarz verschwand. Sie fielen wieder in ihr gleichmäßiges Pulsieren. Sie folgten uns in den nächsten Raum. Aber noch immer griffen sie nicht an. Wir waren nun etwa sechs Meter von der Hintertür entfernt, dieselbe Tür, durch die wir hereingekommen waren. Allmählich fasste ich Hoffnung. Zum ersten Mal hielt ich es wirklich für möglich, dass wir es schaffen konnten.

Und dann brach von einer Sekunde zur anderen die Hölle los.

David Brooks rannte weg.

Wir waren in der Mitte des Raumes und wollten gerade an den frei stehenden Regalen vorbei, als David losstürmte, zwischen den Schwärmen hindurch und auf die andere Tür zu.

Sofort schnellten sie herum und jagten hinter ihm her.

Rosie schrie ihm zu, er solle zurückkommen, aber David war auf die Tür konzentriert. Die Schwärme verfolgten ihn erstaunlich schnell. David war fast an der Tür - seine Hand griff nach dem Türknauf-, als einer der Schwärme nach unten glitt und sich vor ihm über den Boden ausbreitete, ein schwarzes Tuch.

Als David Brooks auf diese schwarze Fläche trat, rutschten die Füße unter ihm weg, wie auf Eis. Er schrie vor Schmerz auf, als er auf den Beton knallte, und er wollte sich sofort wieder hochrappeln, doch er konnte nicht; er rutschte weg und fiel hin, immer und immer wieder. Seine Brille zerbrach, das Gestell schnitt ihm in die Nase. Seine Lippen waren mit einer wirbelnden, schwarzen Masse bedeckt. Dann bekam er Atembeschwerden.

Rosie schrie noch immer, als der zweite Schwarm über David herfiel und das Schwarz sich auf seinem Gesicht verteilte, ihm in die Augen, ins Haar drang. Seine Bewegungen wurden verzweifelter, er stöhnte erbärmlich wie ein Tier, doch sooft er auch ausglitt und auf Hände und Knie fiel, irgendwie schaffte er es zur Tür. Endlich hechtete er vor, packte den Türknauf und zog sich daran hoch auf die Knie. Mit einer letzten verzweifelten Anstrengung drehte er den Knauf und stieß die Tür im Fallen auf.

Heißes Sonnenlicht brach in den Raum - und der dritte Schwarm kam von draußen hereingewirbelt.

Rosie schrie: »Wir müssen was tun!« Ich hielt sie am Arm fest, als sie an mir vorbei zu David rennen wollte. Sie wand sich in meinem Griff. »Wir müssen ihm helfen! Wir müssen ihm helfen!«

»Wir können nichts tun.«

»Wir müssen ihm helfen!«

»Rosie. Wir können nichts tun.«

David wälzte sich jetzt auf dem Boden, schwarz von Kopf bis Fuß. Der dritte Schwarm hatte ihn eingehüllt. Es war fast unmöglich, durch die tanzenden Partikel hindurchzuschauen. Davids Mund sah aus wie ein dunkles Loch, seine Augäpfel waren völlig schwarz. Ich dachte, er war vielleicht schon blind. Sein Atem war ein einziges Röcheln, durchbrochen von Würgegeräuschen. Der Schwarm strömte in seinen Mund wie ein schwarzer Fluss.

David begann, am ganzen Körper zu zittern. Er griff sich an den Hals. Seine Füße trommelten auf den Boden. Ich war sicher, er starb gerade.

»Los, Jack«, sagte Charley. »Nichts wie raus hier.«

»Ihr könnt ihn doch nicht einfach zurücklassen!«, rief Rosie. »Nein, nein!«

David glitt jetzt zur Tür hinaus, ins Sonnenlicht. Seine Bewegungen waren nicht mehr so kraftvoll; sein Mund bewegte sich, aber wir hörten nur Keuchen.

Rosie wollte sich losreißen.

Charley packte sie an der Schulter und sagte: »Mach keinen Scheiß, Rosie ...«

»Ihr könnt mich mal!« Mit einem Ruck riss sie sich von ihm los, trat mir fest auf den Fuß, und, darüber so überrascht, ließ ich sie los, und sie rannte in den nächsten Raum und rief: »David! David!«

Seine Hand, schwarz wie bei einem Bergmann, streckte sich ihr entgegen. Sie packte sein Handgelenk. Und im selben Moment rutschte sie genau wie er auf dem schwarzen Boden aus und fiel hin. Sie sagte immer wieder seinen Namen, bis sie anfing zu husten und an ihren Lippen ein schwarzer Rand erschien.

Charley sagte: »Los, weg hier, verdammt. Ich kann das nicht mit ansehen.«

Ich war außer Stande, die Füße zu bewegen, mich von der Stelle zu rühren. Ich wandte mich Mae zu. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie sagte: »Los.«

Rosie rief noch immer Davids Namen, während sie ihn umarmte, seinen Körper an ihre Brust zog. Aber er schien sich schon nicht mehr aus eigener Kraft zu bewegen.

Charley beugte sich nah zu mir und sagte: »Es ist nicht deine Schuld.«

Ich nickte langsam. Ich wusste, dass er Recht hatte.

»Mann, das ist dein erster Arbeitstag.« Charley griff nach unten an meinen Gürtel, schaltete mein Headset an. »Gehen wir.«

Ich drehte mich zu der Tür hinter mir um.

Und wir gingen nach draußen.

6.Tag, 16.12 Uhr

Unter dem Wellblechdach war die Luft heiß und drückend. Vor uns erstreckte sich die Reihe Autos. Ich hörte das Surren einer Videokamera auf dem Dach. Ricky hatte uns wohl auf den Monitoren herauskommen sehen. In meinem Headset rauschte es. Ricky sagte: »Um Himmels willen, was ist denn da los bei euch?«

»Nichts Gutes«, sagte ich. Hinter der Schattenlinie war die Nachmittagssonne noch immer grell.

»Wo sind die anderen?«, fragte Ricky. »Sind alle wohlauf?«

»Nein. Nicht alle.«

»Nun sag schon ...«

»Jetzt nicht.« Im Rückblick waren wir alle durch die Ereignisse wie betäubt. Wir reagierten kaum mehr auf etwas, wollten uns nur noch irgendwie in Sicherheit bringen.

Das Laborgebäude lag gut hundert Meter entfernt, rechts von uns. Die Tür zur Energiestation könnten wir in dreißig oder vierzig Sekunden erreichen. In forschem Laufschritt machten wir uns auf den Weg. Ricky sprach noch immer, aber wir antworteten nicht. Wir hatten alle nur einen Gedanken: In einer halben Minute würden wir an der Tür sein, in Sicherheit.

Doch wir hatten den vierten Schwarm vergessen.

»Ach du Scheiße«, sagte Charley.

Der vierte Schwarm kam um die Ecke des Laborgebäudes gewirbelt und steuerte direkt auf uns zu. Wir blieben stehen, ratlos. »Was sollen wir machen?«, fragte Mae. »Schwärmen?«

»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Wir sind nur zu dritt.«

Unsere Gruppe war zu klein, um einen Räuber zu verwirren. Aber mir fiel auch keine andere Strategie ein, die wir ausprobieren konnten. Sämtliche Räuber-Beute-Studien, die ich je gelesen hatte, schossen mir durch den Kopf. In einem Punkt stimmten sie alle überein. Ob es sich um Simulationen von Wanderameisen oder Serengeti-Löwen handelte, sie alle bestätigten eine entscheidende Dynamik: Wenn sie nicht gehindert wurden, töteten die Räuber sämtliche Beutetiere, ohne Ausnahme - es sei denn, sie fanden irgendwo Zuflucht. Im richtigen Leben flüchteten sie sich in ein Nest auf einem Baum oder in einen unterirdischen Bau oder eine tiefe Stelle im Fluss. Wenn sie Zuflucht fanden, überlebten sie. Ohne Zuflucht wurden sie alle getötet.

»Ich glaub, wir sind geliefert«, sagte Charley.

Wir brauchten eine Zuflucht. Der Schwarm war schon bedrohlich nahe. Ich konnte fast schon die Nadelstiche auf der Haut spüren und den trockenen Aschegeschmack im Mund schmecken. Wir mussten irgendwo Deckung finden, bevor der Schwarm bei uns war. Ich machte eine volle Drehung, blickte in alle Richtungen, aber ich konnte nichts entdecken, außer .

»Sind die Autos abgeschlossen?«

Mein Headset knisterte. »Nein, normalerweise nicht.«

Wir drehten uns um und rannten.

Der erste Wagen war ein blauer Ford. Ich öffnete die Fahrertür und Mae die des Beifahrers. Der Schwarm war direkt hinter uns. Ich konnte das trommelnde Geräusch hören, als ich die Tür zuknallte, als Mae ihre zuknallte. Charley, die Sprühflasche mit dem Reiniger noch immer in der Hand, versuchte, die hintere Tür auf der Beifahrerseite zu öffnen, aber sie war verriegelt. Mae drehte sich im Sitz um und wollte die Tür öffnen, aber Charley war schon beim nächsten Wagen, einem Toyota Land Cruiser, sprang hinein. Und schlug die Tür zu.

»Au!«, sagte er. »Verdammt heiß.«

»Ich weiß«, sagte ich. Im Wageninnern war es heiß wie in einem Brutkasten. Mae und ich waren in Schweiß gebadet. Der Schwarm kam auf uns zugerast und wirbelte über die Front-scheibe, pulsierte, schob sich hin und her.

Über das Headset sagte ein in Panik geratener Ricky: »Leute? Wo seid ihr? Meldet euch.«

»Wir sind in den Autos.«

»In welchen?«

»Was spielt das für eine Rolle?«, sagte Charley. »Wir sind in zweien von den Scheißautos, Ricky.«

Der schwarze Schwarm bewegte sich von unserem Ford hinüber zum Toyota. Wir sahen, wie er von einem Fenster zum anderen glitt und versuchte, hineinzugelangen. Charley grinste mich durch die Scheibe an. »Hier sind wir sicher. Die Autos sind luftdicht. Tja ... Pech für die.«

»Was ist mit den Luftschlitzen?«, fragte ich.

»Ich hab meine zugemacht.«

»Aber die sind nicht luftdicht, oder?«

»Nein«, sagte er. »Aber da müssten die erst mal unter die Motorhaube, um reinzukommen. Oder durch den Kofferraum. Und ich gehe jede Wette ein, dass unsere überzüchtete Summkugel nicht auf den Trichter kommt.«

In unserem Wagen schloss Mae nacheinander die Luftschlitze am Armaturenbrett. Sie öffnete das Handschuhfach, warf einen Blick hinein, machte es wieder zu.

Ich sagte: »Irgendwelche Schlüssel gesehen?«

Sie schüttelte den Kopf.

Über das Headset sagte Ricky: »Leute? Ihr kriegt noch mehr Besuch.«

Ich drehte den Kopf und sah zwei weitere Schwärme um den Unterstand herumkommen. Sie wirbelten sofort über unserem Auto, vorn und hinten. Ich kam mir vor wie in einem Sandsturm. Ich blickte Mae an. Sie saß ganz still da, mit versteinertem Gesicht, schaute bloß zu.

Die beiden neuen Wolken hörten auf, den Wagen zu umkreisen, und kamen nach vorn. Ein Schwarm verharrte direkt vor Maes Seitenfenster. Er pulsierte, silbern glänzend. Der andere war über der Motorhaube, bewegte sich hin und her, von Mae zu mir. Ab und zu stürzte er sich auf die Windschutzscheibe und verteilte sich über das Glas. Dann verband er sich wieder, wich über die Motorhaube zurück und startete einen neuen Angriff.

Charley lachte schadenfroh. »Der will unbedingt rein. Ich sag ja, das schaffen die nie.«

Ich war mir da nicht so sicher. Mir fiel auf, dass der Schwarm sich nach jeder Attacke ein Stück weiter die Motorhaube hinunter zurückzog, längeren Anlauf nahm. Bald würde er am Kühlergrill sein. Und wenn er den Grill näher untersuchte, könnte er die Öffnung zur Lüftung finden. Und dann wäre es aus.

Mae kramte in der Ablage zwischen den Sitzen herum. Sie förderte eine Rolle Klebeband und eine Schachtel mit Plastiksandwichbeuteln zu Tage. Sie sagte: »Vielleicht können wir die Luftschlitze zukleben .«

Ich schüttelte den Kopf. »Bringt nichts«, sagte ich. »Das sind Nanopartikel. Die sind so winzig, die gehen glatt durch eine Membran.«

»Du meinst, die gehen durch den Kunststoff durch?«

»Oder drum herum, durch winzige Risse. Du kriegst das niemals so dicht, dass sie nicht durchkönnen.«

»Dann hocken wir einfach hier rum?«

»Sieht so aus, ja.«

»Und hoffen, dass sie nicht dahinter kommen, wie sie reinkönnen.«

Ich nickte. »Stimmt.«

Im Headset sagte Bobby Lembeck: »Es kommt wieder Wind auf. Sechs Knoten.«

Es klang, als wollte er uns Mut machen, aber sechs Knoten war noch längst nicht stark genug. Die Schwärme vor der Frontscheibe bewegten sich mühelos um den Wagen herum.

Charley sagte: »Jack? Ich kann meine Summkugel nicht mehr sehen. Wo ist sie?«

Ich blickte zu Charleys Wagen hinüber und sah, dass der dritte Schwarm hinunter zum Vorderrad geschwebt war, wo er sich wirbelnd im Kreis drehte und durch die Löcher in der Radkappe verschwand und wieder auftauchte.

»Nimmt deine Radkappen unter die Lupe, Charley«, sagte ich.

»Mmmm.« Er klang unglücklich, und dazu hatte er auch allen Grund. Wenn der Schwarm den Wagen gründlich erkundete, konnte es sein, dass er per Zufall einen Weg ins Innere entdeckte. Charley sagte: »Jetzt lautet wohl die entscheidende Frage, wie groß ist ihre SO-Komponente, nicht wahr?«

»Stimmt«, erwiderte ich.

Mae sagte: »Für den Laien?«

Ich erklärte es. Die Schwärme hatten keine Führung und keine zentrale Intelligenz. Ihre Intelligenz war die Summe der einzelnen Partikel. Die Partikel organisierten sich selbst zu einem Schwarm, und ihre Neigung zur Selbstorganisation brachte unberechenbare Resultate. Man wusste einfach nicht, was sie machen würden. Es war möglich, dass sie weiterhin so ineffektiv waren wie bisher. Sie könnten aber auch per Zufall auf die Lösung stoßen. Und sie könnten sich auf organisierte Art und Weise auf die Suche machen.

Aber das hatten sie bislang nicht getan.

Meine Kleidung fühlte sich schwer an, sie war schweißdurchtränkt. Schweiß tropfte mir von Nase und Kinn. Ich wischte mir mit dem Arm die Stirn ab. Ich sah Mae an. Auch sie schwitzte.

Ricky sagte: »He, Jack?«

»Was?«

»Julia hat vorhin angerufen. Sie ist nicht mehr im Krankenhaus und .«

»Nicht jetzt, Ricky.«

»Sie kommt heute Abend her.« »Wir reden später, Ricky.«

»Ich dachte bloß, du würdest das gern wissen.«

»Herrgott«, entfuhr es Charley. »Sag doch einer dem Arschloch mal, er soll die Klappe halten. Wir haben zu tun

Bobby Lembeck sagte: »Jetzt acht Knoten Wind. Nein, Tschuldigung ... sieben.«

Charley sagte: »Mann, die Spannung bringt mich noch um. Wo ist mein Schwarm jetzt, Jack?«

»Unter dem Wagen. Ich kann nicht sehen, was er macht . Nein, Moment ... Er kommt hinter dir raus, Charley. Sieht aus, als würde er sich deine Rücklichter vornehmen.«

»Ein richtiger Autonarr«, sagte er. »Na, soll er so viel rumschnüffeln, wie er will.«

Ich blickte noch über die Schulter auf Charleys Schwarm, als Mae sagte: »Jack, schau doch mal.«

Der Schwarm vor ihrem Fenster auf der Beifahrerseite hatte sich verändert. Er war jetzt fast gänzlich silbern, schimmernd, aber ziemlich stabil, und ich sah, dass sich Maes Kopf und Schultern in dieser silbernen Fläche spiegelten. Das Bild war nicht perfekt, weil Augen und Mund etwas verschwommen waren, aber im Großen und Ganzen war es genau.

Ich runzelte die Stirn. »Er ist ein Spiegel ...«

»Nein«, sagte sie. »Ist er nicht.« Sie wandte sich vom Fenster ab und sah mich an. Ihr Bild auf der Silberoberfläche veränderte sich nicht. Das Gesicht blickte weiter in den Wagen. Dann, nach ein oder zwei Sekunden, erbebte das Bild, löste sich auf und setzte sich neu zusammen: Diesmal zeigte es Maes Hinterkopf.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Mae.

»Ich hab da so eine Ahnung, aber .«

Der Schwarm auf der Frontscheibe tat genau das Gleiche, nur dass seine Silberoberfläche uns beide nebeneinander im Wagen sitzend zeigte, mit sehr verängstigten Mienen. Auch dieses Bild war etwas verschwommen. Und jetzt wurde mir klar, der Schwarm war kein Spiegel. Der Schwarm selbst erzeugte das Bild durch die genaue Position individueller Partikel, was bedeutete .

»Schlechte Nachrichten«, sagte Charley.

»Ich weiß«, sagte ich. »Sie innovieren.«

»Was meinst du, ist das eine von den Voreinstellungen?«

»Müsste eigentlich. Ich tippe auf Imitation.«

Mae schüttelte den Kopf, verstand kein Wort.

»Das Programm hat gewisse voreingestellte Strategien, die helfen sollen, das Ziel zu erreichen. Die Strategien simulieren, wie richtige Räuber sich verhalten. Eine voreingestellte Strategie ist beispielsweise, auf der Stelle stehen zu bleiben und abzuwarten, der Beute im Hinterhalt aufzulauern. Eine andere ist die, ziellos herumzulaufen, bis man zufällig auf die Beute stößt, und sie dann zu verfolgen. Man kann sich, drittens, auch mit irgendeinem Element der Umgebung tarnen, mit der Umgebung verschmelzen. Und viertens, sie können das Verhalten der Beute imitieren.«

Sie sagte: »Du glaubst, das da ist Imitation?«

»Ich glaube, es ist eine Form von Imitation, ja.«

»Er versucht, so auszusehen wie wir?«

»Ja.«

»Ist das emergentes Verhalten? Hat es sich von allein entwickelt?«

»Ja«, erwiderte ich.

»Schlechte Nachrichten«, sagte Charley traurig. »Sehr schlechte Nachrichten.«

Während ich im Auto saß, spürte ich Wut in mir aufsteigen. Dieses Spiegelbild machte mir nämlich klar, dass ich die eigentliche Struktur der Nanopartikel gar nicht kannte. Mir war gesagt worden, es gebe eine Piezo-Scheibe, die das Licht reflektierte. Es war daher nicht verwunderlich, dass der Schwarm ab und zu silbern in der Sonne glitzerte. Das musste nicht unbedingt eine hoch entwickelte Partikelorientierung bedeuten. Eher fasste man so ein silbernes Wogen als Zufallseffekt auf, ebenso wie es auf stark befahrenen Autobahnen zu Staus kam, die sich dann wieder auflösten. Da mussten nur ein oder zwei Autofahrer willkürlich das Tempo verändern, und schon konnte der nachfolgende Verkehr kilometerweit in Mitleidenschaft gezogen werden: Die Wirkung setzte sich wellenartig nach hinten fort. Das Gleiche müsste auf die Schwärme zutreffen. Ein Zufallseffekt würde sich wie eine Welle durch den Schwarm fortsetzen. Und genau das hatten wir gesehen.

Doch dieses Spiegelverhalten war etwas grundsätzlich anderes. Die Schwärme produzierten jetzt Bilder in Farbe und hielten sie einigermaßen konstant. Eine solche Komplexität konnte das einfache Nanopartikel, das mir gezeigt worden war, unmöglich aufweisen. Ich bezweifelte, dass sich aus einer Silberschicht ein volles Farbspektrum erzeugen ließ. Theoretisch war es möglich, das Silber haargenau so zu neigen, dass es Regenbogenfarben erzeugte, aber das setzte eine enorm nuancierte Beweglichkeit voraus.

Logischer erschien mir daher, dass die Partikel die Farben anders erzeugten. Und das hieß, auch diesbezüglich war mir nicht die Wahrheit gesagt worden. Ricky hatte mich erneut belogen. Deshalb war ich wütend.

Ich war bereits zu dem Schluss gelangt, dass irgendetwas mit Ricky nicht stimmte, und im Nachhinein betrachtet, lag das Problem bei mir, nicht bei ihm. Selbst nach der Katastrophe im Depot begriff ich noch immer nicht, dass die Schwärme sich rascher entwickelten, als wir mit ihnen Schritt halten konnten. Ich hätte erkennen müssen, mit welchem Gegner ich es zu tun hatte, als die Schwärme eine neue Strategie demonstrierten -den Fußboden rutschig machten, um ihre Beute außer Gefecht zu setzen und sie von der Stelle zu bewegen. Bei Ameisen würde man das kollektiven Transport nennen; das Phänomen war allseits bekannt. Bei diesen Schwärmen jedoch war es noch nicht da gewesenes, neu evolviertes Verhalten. Doch zu diesem Zeitpunkt war ich zu entsetzt, um die wahre Bedeutung zu erkennen. Jetzt, als ich in dem heißen Wagen saß, brachte es zwar nichts, Ricky die Schuld zu geben, aber ich hatte schreckliche Angst, und ich war müde, und ich konnte keinen klaren Gedanken fassen.

»Jack.« Mae stieß mich an der Schulter an und deutete auf Charleys Wagen.

Sie blickte grimmig.

Der Schwarm am Rücklicht von Charleys Wagen war jetzt ein schwarzer Strom, der sich hoch in die Luft bog und dann in der Nahtstelle zwischen dem roten Plastik und dem Metall verschwand.

Über das Headset sagte ich: »He, Charley ... Sie haben einen Weg gefunden.«

»Ja, ich seh's. Schöne Scheiße.«

Charley kroch auf den Rücksitz. Schon füllte sich das Wageninnere mit Partikeln, die einen grauen, rasch dunkler werdenden Nebel bildeten. Charley hustete. Ich konnte nicht sehen, was er tat, er war jetzt unterhalb des Fensters. Er hustete wieder.

»Charley?«

Er gab keine Antwort. Aber ich hörte ihn fluchen.

»Charley, mach, dass du da rauskommst.«

»Scheißviecher.«

Und dann folgte ein seltsames Geräusch, das ich zuerst nicht einordnen konnte. Ich blickte Mae an, die sich das Headset ans Ohr drückte. Es war ein seltsames, rhythmisches Schnarren. Mae sah mich fragend an.

»Charley?«

»Ich - sprüh die kleinen Scheißkerle ein. Mal sehen, was sie machen, wenn sie nass sind.«

Mae sagte: »Du versprühst die Isotope?«

Er antwortete nicht. Doch gleich darauf tauchte er wieder am Fenster auf, die Sprühflasche in der Hand, und sprühte in alle Richtungen. Flüssigkeit zog Querstreifen über die Scheibe und rann dann nach unten. Im Wagen wurde es zusehends dunkler, denn immer mehr Partikel drangen ein. Bald konnten wir Charley nicht mehr erkennen. Seine Hand tauchte aus der Schwärze auf, drückte gegen die Scheibe, verschwand dann wieder. Er hustete ununterbrochen. Ein trockenes Husten.

»Charley«, sagte ich. »Raus aus dem Wagen, und dann lauf.«

»Ach, Scheiße. Bringt doch nichts.«

Bobby Lembeck sagte: »Wind bei zehn Knoten. Los, ver-such's.«

Zehn Knoten war nicht genug, aber besser als gar nichts.

»Charley? Hörst du?«

Wir hörten seine Stimme aus dem schwarzen Wageninneren. »Ja, gut . Ich suche - finde den - verdammten Türgriff nicht, kann ihn nicht ertasten ... Wo ist der Scheißtürgriff in diesem ...« Er bekam einen Hustenanfall.

Über das Headset hörte ich Stimmen im Labor, alle sprachen schnell. Ricky sagte: »Er ist im Toyota. Wo ist im Toyota der Türgriff?«

Bobby Lembeck: »Keine Ahnung, ist nicht mein Wagen.«

»Wem gehört der Wagen? Vince?«

Vince: »Nein, nein. Dem Typen mit den schlechten Augen.«

»Dem Techniker. Dem Typ, der dauernd blinzelt.«

»David Brooks?«

»Ja, genau.«

Ricky sagte: »Leute? Wir glauben, es ist Davids Wagen.«

Ich sagte: »Das hilft uns auch nicht .«

Und dann brach ich ab, weil Mae hinter sich auf den Rücksitz des Wagens deutete. Aus dem Ritz zwischen den Polstern zischten Partikel in den Wagen wie schwarzer Rauch.

Ich sah genauer hin und entdeckte im Fond auf dem Boden eine Decke. Auch Mae sah sie und warf sich förmlich nach hinten, hechtete zwischen die Sitze. Sie trat mir dabei gegen den Kopf, aber sie hatte die Decke und stopfte sie in den Spalt. Mein Headset fiel ab und blieb am Lenkrad hängen, als ich nach hinten klettern wollte, um Mae zu helfen. Es war eng im Wagen. Aus dem Kopfhörer hörte ich eine blecherne Stimme.

»Komm schon«, sagte Mae. »Schnell.«

Ich war größer als sie. Im Fond war nicht viel Platz für mich, deshalb lehnte ich mich mit dem Oberkörper über den Fahrersitz, packte die Decke und half Mae, sie zwischen die Polster zu stopfen.

Ich bekam nur mit einem Ohr mit, dass sich die Beifahrertür des Toyota knallend öffnete, und dann sah ich Charleys Fuß aus dem Dunkel auftauchen. Er wollte sein Glück draußen versuchen. Vielleicht sollten wir auch den Wagen verlassen, dachte ich, während ich Mae mit der Decke half. Die Decke würde nicht viel nützen, das war bloß eine Verzögerungstaktik. Ich spürte bereits, wie die Partikel durch den Stoff drangen; der Wagen füllte sich unaufhaltsam. Es wurde dunkler und dunkler. Ich fühlte Nadelstiche überall auf der Haut.

»Mae, raus hier.«

Sie gab keine Antwort, sie stopfte nur die Decke weiter in den Spalt, immer fester. Wahrscheinlich wusste sie, dass wir draußen keine Chance hätten. Die Schwärme würden uns einholen, sich uns in den Weg stellen, uns zu Fall bringen. Und wenn wir erst am Boden lagen, würden sie uns ersticken. Wie sie es bei den anderen getan hatten.

Die Luft wurde dicker. Ich musste husten. Im Halbdunkel hörte ich weiter eine blecherne Stimme aus den Headsets. Ich konnte nicht sagen, woher sie kam. Auch Mae war das Headset heruntergefallen, und ich meinte, es auf dem Vordersitz gesehen zu haben, aber inzwischen war es so dunkel, dass ich nichts mehr erkannte. Mir brannten die Augen. Ich hustete ständig. Auch Mae hustete. Ich wusste nicht, ob sie noch immer mit der Decke beschäftigt war. Sie war nur noch ein Schatten im Nebel.

Ich schloss fest die Augen gegen den stechenden Schmerz. Meine Kehle schnürte sich zu, und mein Husten war trocken. Wieder wurde mir schwindelig. Ich wusste, dass wir nicht länger als eine Minute überleben konnten, vielleicht weniger. Ich sah wieder zu Mae, aber ich konnte sie nicht sehen. Ich hörte sie husten. Ich wedelte mit der Hand, versuchte den Nebel zu lichten, damit ich Mae erkennen konnte. Es half nicht. Ich wedelte mit der Hand vor der Frontscheibe, und sie wurde für einen Moment klarer.

Trotz meines anhaltenden Hustens sah ich das Labor in der Ferne. Die Sonne schien. Alles war normal. Es machte mich wütend, dass alles so normal und friedlich wirkte, während wir uns zu Tode husteten. Ich konnte nicht sehen, was mit Charley war. Er war nirgendwo in der Wüste vor mir. Aber - ich wedelte wieder mit der Hand - ich konnte ohnehin nichts erkennen vor lauter .

Wehendem Sand.

Herrgott, wehender Sand.

Der Wind war wieder stärker geworden.

»Mae.« Ich hustete. »Mae. Die Tür.«

Ich wusste nicht, ob sie mich hörte. Sie hustete stark. Ich streckte die Hand nach der Fahrertür aus, tastete nach dem Griff. Ich war verwirrt und desorientiert. Ich hustete ohne Unterlass. Ich berührte heißes Metall, riss daran.

Die Tür neben mir schwang auf. Glühende Luft fegte herein, wirbelte den Nebel durcheinander. Der Wind war tatsächlich stärker. »Mae.«

Sie wurde von Husten geschüttelt, konnte sich vielleicht schon nicht mehr bewegen. Ich hechtete zur Beifahrertür mir gegenüber. Mit den Rippen prallte ich auf den Schalthebel. Der Nebel war schon dünner, und ich sah den Türgriff, zog und drückte die Tür auf. Der Wind schlug sie wieder zu. Ich schob mich ein Stück vor, drückte den Griff erneut runter, stieß die Tür auf und hielt sie mit der Hand offen.

Wind blies durch den Wagen.

Innerhalb weniger Sekunden war die schwarze Wolke verschwunden. Der Rücksitz war noch immer dunkel. Ich kroch zur Beifahrertür hinaus und öffnete die hintere Tür. Mae streckte mir die Hand entgegen, und ich zog sie heraus. Wir husteten beide heftig. Maes Beine gaben nach. Ich zog ihren Arm über meine Schulter und schleppte sie hinaus in die offene Wüste.

Selbst jetzt weiß ich nicht, wie ich es zurück zum Laborgebäude geschafft habe. Die Schwärme waren verschwunden; der Wind blies kräftig. Mae war ein schlaffes Gewicht an meiner Schulter, ihr Körper kraftlos, die Füße schleiften über den Sand. Ich hatte keine Energie. Immer wieder schüttelten mich Hustenanfälle, die mich zwangen, stehen zu bleiben. Ich konnte nicht richtig atmen. Ich war benommen, orientierungslos. Die grelle Sonne hatte einen Stich ins Grüne, und Sterne tanzten vor meinen Augen. Mae hustete schwach; ihr Atem ging flach. Ich hatte das Gefühl, dass sie nicht überleben würde. Ich stapfte weiter, setzte einen Fuß vor den anderen.

Irgendwie ragte plötzlich die Tür vor mir auf, und es gelang mir, sie zu öffnen. Ich brachte Mae in den dunklen Vorraum. Auf der anderen Seite der gläsernen Luftschleuse warteten Ricky und Bobby Lembeck. Sie feuerten uns an, aber ich konnte sie nicht hören. Mein Headset lag im Auto.

Die Schleusentüren öffneten sich zischend, und ich bugsierte Mae hinein. Sie schaffte es zu stehen, obwohl sie vor Husten vornübergebeugt war. Ich trat zurück. Der Wind begann, sie sauber zu pusten. Ich lehnte mich gegen die Wand, außer Atem, schwindelig.

Ich dachte, hab ich das nicht schon mal erlebt?

Ich sah auf die Uhr. Es war gerade drei Stunden her, dass ich dem letzten Angriff knapp entronnen war. Ich beugte mich vor und stützte die Hände auf die Knie. Ich starrte zu Boden und wartete, dass die Luftschleuse frei wurde. Ich blickte zu Ricky und Bobby. Sie brüllten irgendwas, deuteten auf ihre Ohren. Ich schüttelte den Kopf.

Sahen sie denn nicht, dass ich kein Headset aufhatte?

Ich sagte: »Wo ist Charley?«

Sie antworteten, aber ich konnte sie nicht verstehen.

»Hat er's geschafft? Wo ist Charley?«

Ich zuckte zusammen, als ein scharfes elektronisches Pfeifen ertönte, und dann sagte Ricky über die Sprechanlage: »... nicht mehr viel zu machen.«

»Ist er hier?«, fragte ich. »Hat er's geschafft?«

»Nein.«

»Wo ist er?«

»Hinten im Wagen«, sagte Ricky. »Er hat es nicht aus dem Wagen geschafft. Wusstest du das nicht?«

»Ich hatte zu tun«, sagte ich. »Er ist also noch da draußen?«

»Ja.«

»Ist er tot?«

»Nein, nein. Er lebt.«

Ich atmete noch immer mit Mühe, war noch immer benommen. »Was?«

»Genau ist es auf dem Videomonitor nicht zu erkennen, aber es sieht so aus, als würde er noch leben .«

»Warum zum Teufel holt ihr ihn dann nicht?«

Rickys Stimme war ruhig. »Wir können nicht, Jack. Wir müssen uns um Mae kümmern.«

»Es wird doch hier wohl jemanden geben, der das machen kann.«

»Wir können niemanden entbehren.«

»Ich kann das nicht«, sagte ich. »Ich bin fix und fertig.«

»Ist doch klar«, sagte Ricky, einen beschwichtigenden Ton anstimmend. Eine Leichenbestatterstimme. »Das alles muss entsetzlich für dich gewesen sein, Jack, du hast so viel durchgemacht .«

»Sag mir ... endlich ... wer ihn holen geht, Ricky.«

»Um es mal brutal ehrlich zu sagen«, erwiderte Ricky, »ich glaube nicht, dass es was nützt. Er hatte einen Krampf. Einen schlimmen. Ich denke, er hat nicht mehr viel Kraft.«

Ich sagte: »Es geht keiner zu ihm?«

»Ich fürchte, es nützt nichts, Jack.«

Bobby half Mae jetzt aus der Luftschleuse und führte sie den Korridor hinunter. Ricky stand da. Beobachtete mich durch das Glas.

»Du bist dran, Jack. Rein mit dir.«

Ich rührte mich nicht. Ich blieb an die Wand gelehnt stehen und sagte: »Irgendjemand muss ihn holen.«

»Nicht jetzt. Der Wind ist nicht beständig, Jack. Er kann sich jeden Moment wieder legen.«

»Aber Charley lebt.«

»Nicht mehr lange.«

»Jemand muss ihn holen«, sagte ich.

»Jack, du weißt so gut wie ich, in was für einer Lage wir sind«, sagte Ricky. Jetzt sprach er mit der Stimme der Vernunft, ruhig und logisch. »Wir hatten entsetzliche Verluste. Wir können es nicht riskieren, noch jemanden zu verlieren. Bis jemand bei Charley ist, ist er längst tot. Vielleicht ist er jetzt schon tot. Los, geh endlich in die Schleuse.«

Ich schätzte meine körperliche Verfassung ein, spürte meinen Atem, meine Brust, meine große Erschöpfung. Ich konnte jetzt nicht da raus. Nicht in meinem derzeitigen Zustand.

Also trat ich in die Schleuse.

Mit lautem Brausen drückte das Gebläse mir die Haare platt, ließ meine Kleidung flattern und säuberte mich von den schwarzen Partikeln. Augenblicklich konnte ich wieder besser sehen. Ich atmete leichter. Jetzt wehte der Wind von unten. Ich streckte die Hand aus und sah, wie sich das Schwarz in Blassgrau verwandelte, dann die normale Hautfarbe wieder zum Vorschein kam.

Jetzt wurde ich von den Seiten angeblasen. Ich holte tief Luft. Die Nadelstiche auf der Haut waren nicht mehr so schmerzhaft. Entweder spürte ich sie nicht mehr so deutlich, oder sie wurden weggetrieben. Mein Kopf wurde etwas klarer. Ich holte noch mal tief Luft. Ich fühlte mich nicht gut, aber schon besser.

Die Glastüren öffneten sich. Ricky streckte mir die Arme entgegen. »Jack. Gott sei Dank, dass du in Sicherheit bist.«

Ich antwortete nicht. Ich drehte mich auf dem Absatz um und ging den Weg zurück, den ich gekommen war.

»Jack .«

Die Glastüren zischten zu und rasteten mit einem Plonk ein. »Ich lasse ihn nicht da draußen«, sagte ich.

»Was hast du denn vor? Du kannst ihn nicht tragen, er ist zu schwer. Wie willst du das anstellen?«

»Ich weiß es nicht. Aber ich lasse ihn nicht einfach da draußen zurück, Ricky.«

Und ich ging wieder hinaus.

Natürlich tat ich genau das, was Ricky wollte - genau das, was er von mir erwartet hatte -, aber das war mir damals nicht klar. Und selbst wenn es mir jemand gesagt hätte, so viel psychologisches Feingefühl hätte ich ihm nicht zugetraut. Ricky war im Umgang mit Menschen ziemlich durchschaubar. Aber diesmal war ich auf ihn reingefallen.

6. Tag, 16.22 Uhr

Der Wind blies kräftig. Von den Schwärmen fehlte jede Spur, und ich gelangte ohne Probleme zu den Wagen. Ich hatte kein Headset mehr, daher blieben mir Rickys Bemerkungen erspart.

Die hintere Tür des Toyota auf der Beifahrerseite stand offen. Charley lag auf dem Rücken, reglos. Ich brauchte einen Moment, um zu sehen, dass er noch atmete, wenn auch flach. Mit großer Mühe gelang es mir, ihn in eine sitzende Position zu hieven. Er starrte mich mit stumpfen Augen an. Seine Lippen waren blau, seine Haut kreidig grau. Eine Träne lief ihm über die Wange. Sein Mund bewegte sich.

»Nicht sprechen«, sagte ich. »Spar dir deine Energie.« Ächzend zog ich ihn an den Rand der Rückbank, zur Tür, und schwang seine Beine herum, sodass er nach draußen schaute. Charley war ein massiger Kerl, über einen Meter achtzig groß und mindestens zwanzig Pfund schwerer als ich. Ich wusste, dass ich ihn nicht würde zurücktragen können. Aber dann sah ich hinten im Laderaum des Toyota Davids Motocross-Maschine. Damit müsste es gehen.

»Charley, hörst du mich?«

Ein fast unmerkliches Nicken.

»Kannst du aufstehen?«

Nichts. Keine Reaktion. Er blickte mich nicht einmal an; er starrte ins Leere.

»Charley«, sagte ich, »meinst du, du kannst stehen?«

Er nickte wieder, streckte dann seinen Körper, sodass er vom Sitz rutschte und mit den Füßen auf dem Boden landete. Er stand wackelig da, mit zitternden Beinen, und sackte dann gegen mich, hielt sich an mir fest, damit er nicht hinfiel. Unter seinem Gewicht ging ich in die Knie.

»Okay, Charley ...« Ich schob ihn wieder zum Wagen und setzte ihn auf das Trittbrett. »Nicht weglaufen, ja?«

Ich ließ ihn los, und er blieb sitzen. Er starrte noch immer blicklos vor sich hin.

»Bin gleich wieder da.«

Ich ging zur Rückseite des Land Cruiser und öffnete die Heckklappe. Eine Motocross-Maschine, und was für eine - die gepflegteste, die ich je gesehen hatte. Sie war in eine dicke Plane gehüllt. Und sie war nach dem Gebrauch geputzt worden. Das war typisch David, dachte ich. Er war immer so sauber, so ordentlich gewesen.

Ich schob das Motorrad aus dem Wagen und stellte es auf den Boden. Der Zündschlüssel steckte nicht. Ich ging zur Beifahrertür des Toyota und öffnete sie. Vorne war alles makellos und übersichtlich angeordnet. Am Armaturenbrett angebracht waren ein mit Sauggummi haftender Notizblock, eine Handy-Halterung und ein kleiner Haken, an dem ein Telefon-Headset hing. Ich öffnete das Handschuhfach und sah, dass auch hier alles akkurat an seinem Platz war. Autopapiere in einer Hülle, unter einer kleinen Plastikablage mit drei Abteilungen für Lippensalbe, Kleenex, Pflaster. Keine Schlüssel. Dann entdeckte ich zwischen den Sitzen einen Kasten für CDs, und darunter eine verschlossene Kassette. Sie hatte das gleiche Schloss wie die Zündung. Wahrscheinlich ließ es sich mit dem Zündschlüssel öffnen.

Ich schlug mit dem Handballen gegen die Kassette und hörte etwas Metallisches darin klimpern. Klang ganz nach einem kleinen Schlüssel. Zum Beispiel ein Motorradschlüssel. Jedenfalls war es irgendetwas aus Metall.

Wo waren Davids Schlüssel? Ich fragte mich, ob Vince auch David bei seiner Ankunft die Schlüssel abgenommen hatte, so wie mir meine. Falls ja, dann waren die Schlüssel im Labor. Das würde mir nichts nützen.

Ich blickte zum Laborgebäude und überlegte, ob ich zurückgehen sollte, um die Schlüssel zu holen. Doch da merkte ich, dass der Wind nicht mehr ganz so stark blies. Es wehte zwar noch immer eine Schicht Sand über den Boden, aber weniger kräftig.

Na toll, dachte ich. Ausgerechnet jetzt.

Da die Zeit drängte, beschloss ich, von der Idee mit dem Motorrad Abstand zu nehmen. Vielleicht fand ich ja im Depot irgendetwas, womit ich Charley zum Labor transportieren konnte. Ich konnte mich zwar an nichts erinnern, aber ich ging trotzdem nachsehen. Als ich vorsichtig eintrat, hörte ich ein schlagendes Geräusch. Es war die hintere Tür, die im Wind auf- und zuflog. Rosies Leiche lag direkt an der Schwelle und wurde jedes Mal, wenn die Tür aufschwang, hell beschienen. Ihre Haut war mit der gleichen milchigen Schicht bedeckt, wie ich es bei dem Kaninchen gesehen hatte. Aber ich ging nicht hin, um es mir aus der Nähe anzuschauen. Rasch durchstöberte ich die Regale, öffnete die Geräteschränke, warf einen Blick hinter gestapelte Kisten. Ich fand ein aus Latten zusammengezimmertes Brett auf kleinen Rollen, wahrscheinlich zum Möbeltransport. Aber im Sand war es nicht zu gebrauchen.

Ich ging wieder nach draußen unter den Wellblechunterstand und eilte zu dem Toyota. Mir blieb nichts anderes übrig, als Charley irgendwie zum Laborgebäude zu schleppen. Vielleicht schaffte ich es ja, wenn er einen Teil seines Gewichts abstützen konnte. Vielleicht fühlte er sich inzwischen ja besser, dachte ich. Vielleicht war er wieder etwas stärker.

Doch ein Blick in sein Gesicht verriet mir, dass dem nicht so war. Wenn überhaupt, war er noch schwächer.

»Verdammt, Charley, was soll ich bloß mit dir machen?«

Er gab keine Antwort.

»Ich kann dich nicht tragen. Und David hat seine Schlüssel nicht im Wagen gelassen, wir sehen also ziemlich alt aus .«

Ich hielt inne.

Und wenn David sich mal aus seinem Wagen ausgeschlossen hatte? Er als Ingenieur hatte bestimmt für solche Eventualitäten vorgesorgt. Auch wenn der Fall wahrscheinlich nie eingetreten war, David wäre das Risiko niemals eingegangen. Er hätte nie ein Auto angehalten, um nach einem Drahtbügel zu fragen. Nein, David doch nicht.

David hätte einen Ersatzschlüssel versteckt. Wahrscheinlich in einem von diesen magnetischen Schlüsselkästchen. Ich wollte mich schon auf den Rücken legen, um unter den Wagen zu schauen, als mir einfiel, dass David sich nie die Sachen schmutzig gemacht hätte, nur um einen Schlüssel hervorzuholen. Er hätte sich ein cleveres Versteck gesucht, an das er trotzdem bequem herankam.

Also fuhr ich mit den Fingern an der Innenseite der vorderen Stoßstange entlang. Nichts. Ich ging zur hinteren Stoßstange, tat das Gleiche. Nichts. Ich tastete auf beiden Seiten des Wagens unter den Trittbrettern. Nichts. Kein Magnetkästchen, kein Schlüssel. Ich konnte es nicht fassen, also legte ich mich hin und sah unter dem Wagen nach, ob ich vielleicht irgendeine Strebe oder so mit den Fingern verpasst hatte.

Nein, nichts. Kein Schlüssel.

Ich schüttelte verwundert den Kopf. Das Versteck musste aus Stahl sein, damit das Magnetkästchen haften blieb. Und es musste vor der Witterung geschützt sein. Aus diesem Grund versteckte fast jeder seinen Ersatzschlüssel in der Stoßstange.

David hatte das nicht getan.

Wo konnte man sonst noch einen Schlüssel hintun?

Ich ging wieder um den Wagen herum, betrachtete das glatte Blech. Ich fuhr mit den Fingern um die Öffnung des Kühlergrills herum und tastete unter der Einbuchtung für das hintere Nummernschild.

Kein Schlüssel.

Ich fing an zu schwitzen. Nicht nur vor Anspannung: Inzwischen spürte ich deutlich, dass der Wind schwächer wurde. Ich ging zurück zu Charley, der noch immer auf dem Trittbrett saß.

»Wie geht's dir, Charley?« «

Er antwortete nicht, zuckte nur mit den Schultern. Ich nahm sein Headset ab und setzte es auf. Ich hörte Rauschen und leise Stimmen. Es hörte sich nach Ricky und Bobby an, und es hörte sich nach einem Streit an. Ich zog das Mikro näher an die Lippen und sagte: »Leute? Sprecht mit mir.«

Pause. Bobby, überrascht: »Jack?«

»Genau .«

»Jack, du kannst nicht da draußen bleiben. Der Wind hat in den letzten Minuten zunehmend nachgelassen. Es sind jetzt nur noch zehn Knoten.«

»Okay .«

»Jack, du musst zurückkommen.«

»Geht noch nicht.«

»Unter sieben Knoten können sich die Schwärme bewegen.«

»Okay .«

Ricky: »Was soll das heißen, okay? Verdammt, Jack, kommst du nun oder nicht?«

»Ich kann Charley nicht tragen.«

»Das hast du doch vorher gewusst.«

»Klar.«

»Jack. Was zum Teufel machst du da?«

Ich hörte das Surren der Videokamera in der Ecke des Unterstandes. Ich schaute über das Dach des Wagens und sah, wie sich das Objektiv drehte, als es sich auf mich scharf stellte. Der Toyota war ein ziemlich großes Auto, er versperrte mir fast den Blick auf die Kamera. Und die Skihalterung machte ihn noch größer. Ich fragte mich diffus, warum David eine Skihalterung hatte, wo er doch nie Ski gefahren war; er hatte Skifahren wegen der Kälte nicht leiden können. Die Halterung musste zur Grundausstattung des Wagens gehören und .

Ich fluchte. Es war so nahe liegend.

Es war die einzige Stelle, wo ich nicht nachgesehen hatte. Ich sprang auf das Trittbrett und schaute auf das Wagendach. Ich fuhr mit den Fingern an der Skihalterung und an den parallelen Schienen entlang, die an das Dach geschraubt waren. Meine Finger stießen auf Isolierband an der schwarzen Halterung. Ich zog das Band ab und sah einen silbernen Schlüssel.

»Jack? Neun Knoten.«

»Okay.«

Ich sprang vom Trittbrett und kletterte auf den Fahrersitz. Ich steckte den Schlüssel in die Kassette und drehte ihn. Sie öffnete sich. Drinnen lag ein kleiner, gelber Schlüssel.

»Jack? Was machst du da?«

Ich eilte zum Heck des Wagens. Ich steckte den gelben Schlüssel in die Zündung des Motorrads. Ich setzte mich auf die Maschine und ließ sie an. Der Motor dröhnte laut unter dem Wellblechdach.

»Jack?«

Ich manövrierte das Motorrad im Sitzen auf die Seite des Wagens, wo Charley war. Jetzt wurde es knifflig. Das Motorrad hatte keinen Kippständer; ich schob es, so nah es ging, an Charley heran und versuchte, ihn dann so weit abzustützen, dass er hinter mir aufsteigen konnte, während ich auf der Maschine blieb und sie aufrecht hielt. Zum Glück verstand er, was ich wollte. Schließlich hatte er es geschafft, und ich sagte, er solle sich an mir festhalten.

Bobby Lembeck: »Jack? Sie sind da.«

»Wo?«

»Südseite. Kommen auf dich zu.«

»Alles klar.«

Ich ließ den Motor aufheulen und stieß die Beifahrertür zu. Und ich blieb genau da, wo ich war.

»Jack?«

Ricky: »Was ist denn bloß los mit ihm? Er kennt doch die Gefahr.«

Bobby: »Ich weiß.«

»Er bleibt einfach da sitzen.«

Charley hatte seine Hände um meine Taille gelegt. Sein Kopf lag an meiner Schulter. Ich konnte seinen rasselnden Atem hören. Ich sagte: »Gut festhalten, Charley.« Er nickte.

Ricky: »Jack? Was machst du denn?«

Dann sagte Charley an meinem Ohr mit einer Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern war: »Dämlicher Idiot.«

»Ja.« Ich nickte. Ich wartete. Ich konnte jetzt sehen, wie sie um das Gebäude herumkamen. Diesmal waren es neun Schwärme. Und sie steuerten in einer V-Formation direkt auf mich zu. Ihr eigenes Schwarmverhalten.

Neun Schwärme, dachte ich. Bald würden es dreißig Schwärme sein, und dann zweihundert .

Bobby: »Jack, siehst du sie?«

»Ich sehe sie.« Natürlich sah ich sie.

Und natürlich waren sie anders als vorher. Sie waren jetzt dichter, die Säulen dicker und fester. Diese Schwärme wogen keine drei Pfund mehr. Ich schätzte sie eher auf zehn oder zwanzig Pfund. Vielleicht noch mehr. Vielleicht dreißig Pfund. Jetzt hatten sie richtig Gewicht und richtig Masse.

Ich wartete. Ich blieb, wo ich war. Irgendein separater Teil meines Gehirns fragte sich, was die Formation machen würde, wenn sie bei mir war. Würden die Schwärme mich umkreisen? Würden ein paar von ihnen zurückbleiben und warten? Irritierte sie das laute Motorrad?

Nicht im Geringsten - sie kamen direkt auf mich zu, machten aus dem V eine Linie, formierten sich dann zu einer Art umgedrehtem V. Ich hörte das tiefe, vibrierende Summen. Bei so vielen Schwärmen war es wesentlich lauter.

Die wirbelnden Säulen waren zwanzig Meter von mir entfernt. Dann zehn. Konnten sie sich jetzt schneller fortbewegen, oder bildete ich mir das bloß ein? Ich wartete, bis sie fast bei mir waren, dann gab ich Gas und raste los. Ich fuhr schnurstracks durch den Anführerschwarm in das Schwarze hinein und wieder hinaus, und dann brauste ich auf die Tür der Energiestation zu jagte holpernd über die Wüste, wagte nicht, nach hinten zu blicken. Es war eine wilde Fahrt, und sie dauerte nur wenige Sekunden. Als wir an der Station waren, ließ ich die Maschine fallen, schob meine Schulter unter Charleys Arm und wankte die letzten zwei, drei Schritte zur Tür.

Die Schwärme waren noch gut fünfzig Meter von der Tür entfernt, als ich den Türknauf drehte, einen Fuß in den Spalt schob und sie dann ganz aufdrückte. Dabei verlor ich das Gleichgewicht, und Charley und ich fielen mehr oder weniger durch die Tür auf den Beton. Die Tür schwang zurück und knallte gegen unsere Beine, die noch nach draußen ragten. Ich spürte einen heftigen Schmerz an den Knöcheln - doch schlimmer war, dass sie noch immer einen Spalt offen war, durch unsere Beine blockiert. Durch die Öffnung konnte ich die Schwärme näher kommen sehen.

Ich rappelte mich hoch und schleifte Charleys reglosen Körper in den Raum. Die Tür schloss sich, aber ich wusste, dass es die Brandschutztür war, und die war nicht luftdicht. Kein Hindernis für Nanopartikel. Ich musste uns beide in die Luftschleuse schaffen. Wir würden erst dann in Sicherheit sein, wenn sich die ersten Glastüren hinter uns schlossen.

Ächzend und schwitzend schleppte ich Charley in die Luftschleuse. Ich hievte ihn in eine sitzende Position, gegen das Seitengebläse gelehnt. So kamen seine Füße den Glastüren nicht in die Quere. Und weil immer nur eine Person in der Schleuse sein durfte, trat ich wieder zurück. Und ich wartete darauf, dass sich die Türen schlossen.

Aber nichts passierte.

Ich suchte an der Seitenwand nach irgendeinem Knopf, aber ich konnte nichts entdecken. Die Lichter in der Luftschleuse waren an, Strom war also da. Aber die Türen gingen nicht zu.

Und ich wusste, die Schwärme näherten sich rasch.

Bobby Lembeck und Mae kamen in den Raum auf der anderen Seite gelaufen. Ich sah sie durch das zweite Paar Glastüren. Sie schwenkten die Arme, gestikulierten hektisch, wollten mir offenbar zu verstehen geben, dass ich wieder in die Schleuse gehen sollte. Aber das leuchtete mir nicht ein. In mein Headset sagte ich: »Ich dachte, es darf immer nur einer rein.«

Sie hatten kein Headset und konnten mich nicht hören. Sie winkten wie verrückt, geh rein, geh rein.

Ich hielt fragend zwei Finger hoch.

Sie schüttelten den Kopf. Offenbar wollten sie sagen, dass ich nicht richtig verstand.

Zu meinen Füßen sah ich bereits die ersten Nanopartikel hereinkommen, wie ein schwarzer Strom. Sie drangen durch die Ritzen um die Brandschutztür herum. Mir blieben nur noch fünf bis zehn Sekunden.

Ich trat wieder in die Schleuse. Bobby und Mae nickten zustimmend. Aber die Türen schlossen sich nicht. Jetzt machten sie andere Gesten, wie jemand, der etwas anhebt.

»Ich soll Charley hochheben?«

Ja. Ich schüttelte den Kopf. Charley saß zusammengesackt da, ein schlaffes Gewicht auf dem Boden. Ich schaute nach hinten in den Vorraum und sah, dass er sich mit schwarzen Partikeln füllte, die allmählich einen gräulichen Nebel in der Luft bildeten. Dieser Nebel drang schon in die Luftschleuse. Ich spürte die ersten Nadelstiche auf der Haut.

Ich sah Bobby und Mae an, auf der anderen Seite des Glases. Sie sahen, was passierte; sie wussten, es ging um Sekunden. Wieder gestikulierten sie: Heb Charley hoch. Ich beugte mich über ihn, schob ihm meine Hände unter die Achseln. Ich versuchte, ihn auf die Beine zu ziehen, aber er rührte sich keinen Millimeter.

»Charley, verdammt noch mal, hilf mit.« Ächzend machte ich einen neuen Anlauf. Charley trat mit den Beinen und stieß mit den Armen, und es gelang mir, ihn einen halben Meter vom Boden hochzuhieven. Dann rutschte er wieder nach unten. »Charley, los, noch einmal ...« Ich zog mit aller Kraft, und diesmal half er wesentlich mehr mit, und wir schafften es, seine Beine unter ihn zu bugsieren, und mit einem letzten Ruck stand er. Ich behielt meine Hände unter seinen Achseln; wir standen da wie ein Liebespaar in einer verrückten Umarmung. Charley keuchte. Ich blickte nach hinten auf die Glastüren.

Die Türen rührten sich nicht.

Die Luft wurde immer dunkler. Ich sah Mae und Bobby an, und sie waren vollkommen hektisch, hielten zwei Finger hoch, schüttelten sie, zeigten auf mich. Ich kapierte nicht. »Ja, wir sind zu zweit ...« Was war nur mit den verdammten Türen los? Schließlich beugte Mae sich vor und zeigte ganz deutlich mit einem Finger jeder Hand auf ihre beiden Schuhe. Ich sah ihren Mund: »Zwei Schuhe.« Und sie deutete auf Charley.

»Ja, klar, wir haben zwei Schuhe. Er steht auf zwei Schuhen.«

Mae schüttelte den Kopf.

Sie hielt vier Finger hoch.

»Vier Schuhe?«

Die Nadelstiche irritierten mich, erschwerten das Denken. Ich spürte, wie die alte Verworrenheit mich wieder erfasste. Mein Verstand arbeitete schwerfällig. Was meinte sie, vier Schuhe?

Langsam wurde es dunkel in der Schleuse. Ich konnte Mae und Bobby kaum noch sehen. Ihre Pantomime stellte jetzt etwas anderes dar, aber ich kapierte es nicht. Sie kamen mir weit weg vor, fern und unbedeutend. Ich hatte keine Energie mehr, und mir war alles egal.

Zwei Schuhe, vier Schuhe.

Und dann verstand ich. Ich drehte Charley den Rücken zu, lehnte mich gegen ihn und sagte: »Leg deine Arme um meinen Hals.« Er tat es, und ich packte seine Beine und hob seine Füße vom Boden.

Sofort gingen die Türen zischend zu.

Das war's, dachte ich.

Das Gebläse pustete auf uns ein. Die Luft wurde rasch klar.

Mit letzter Kraft hielt ich Charley hoch, bis ich sah, dass das zweite Paar Türen sich entriegelte und aufglitt. Mae und Bobby kamen in die Schleuse geeilt.

Und ich fiel einfach hin. Charley landete auf mir. Ich glaube, es war Bobby, der ihn von mir runterzog. Von da an weiß ich kaum noch was.

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