III. DAS NEST

6. Tag, 18.18 Uhr

Ich erwachte in meinem Bett im Wohnmodul. Die Lüftung dröhnte so laut, dass es sich im Raum wie in einem Flughafen anhörte. Mit trüben Augen wankte ich zur Tür. Die Tür war abgeschlossen.

Ich klopfte eine Weile, aber niemand machte auf, auch nicht, als ich laut rief. Ich ging zu dem kleinen PC auf dem Schreibtisch und schaltete ihn ein. Ein Menü erschien, und ich suchte nach irgendeiner hausinternen Kommunikationsfunktion. Ich fand nichts, obwohl ich eine ganze Weile im Interface herumstöberte. Irgendetwas hatte ich aber wohl aktiviert, denn ein Fenster öffnete sich, und Ricky tauchte auf und lächelte mich an. Er sagte: »Du bist ja wieder wach. Wie fühlst du dich?«

»Schließ die verdammte Tür auf.«

»Ist deine Tür abgeschlossen?«

»Schließ auf, Mann.«

»Das war nur zu deinem Schutz.«

»Ricky«, sagte ich, »mach die verdammte Tür auf.«

»Hab ich schon. Sie ist auf, Jack.«

Ich ging zur Tür. Er hatte Recht, sie ließ sich öffnen. Ich sah mir das Schloss an, es gab einen ferngesteuerten Schließmechanismus. Ich nahm mir vor, ihn abzukleben.

Auf dem Monitor sagte Ricky: »Du möchtest bestimmt gern duschen.«

»Ja, möchte ich. Wieso ist die Klimaanlage so laut?«

»Wir haben die Lüftung in deinem Zimmer voll aufgedreht«, erwiderte Ricky. »Für den Fall, dass noch ein paar Partikel übrig sind.«

Ich kramte in meiner Reisetasche nach Kleidungsstücken. »Wo ist die Dusche?«

»Brauchst du Hilfe?«

»Nein, ich brauche keine Hilfe. Sag mir einfach, wo die verdammte Dusche ist.«

»Du klingst verärgert.«

»Leck mich, Ricky.«

Die Dusche tat gut. Fast zwanzig Minuten lang ließ ich dampfend heißes Wasser über meinen schmerzenden Körper laufen. Ich hatte einige blaue Flecke abbekommen - auf der Brust, dem Oberschenkel -, aber ich konnte mich nicht erinnern, wie.

Als ich aus der Dusche kam, saß Ricky davor auf einer Bank und wartete auf mich. »Jack, ich bin sehr besorgt.«

»Wie geht's Charley?«

»Wieder ganz gut. Er schläft.«

»Hast du sein Zimmer auch abgeschlossen?«

»Jack. Ich weiß, du hast die Hölle durchgemacht, und ich möchte dir sagen, dass wir dir alle sehr dankbar sind für das, was du getan hast - ich meine, die Firma ist dankbar, und .«

»Die Firma kann mich mal.«

»Jack, ich versteh ja, dass du sauer bist.«

»Lass den Scheiß, Ricky. Keiner hier hat mir geholfen. Weder du noch sonst wer.«

»Ich versteh ja, dass du das so siehst .«

»Es ist so, Ricky. Keiner hat mir geholfen.«

»Jack, Jack. Bitte. Das alles tut mir schrecklich Leid. Ich fühl mich richtig mies. Ehrlich. Wenn ich es irgendwie ungeschehen machen könnte, ich würde es tun.«

Ich blickte ihn an. »Ich glaube dir nicht, Ricky.«

Er setzte ein gewinnendes, kleines Lächeln auf. »Ich hoffe, das wird sich irgendwann ändern.«

»Bestimmt nicht.«

»Du weißt, dass mir unsere Freundschaft immer viel bedeutet hat, Jack. Sie war für mich immer das Wichtigste.«

Ich starrte ihn bloß an. Ricky hörte mir gar nicht zu. Er hatte lediglich diesen albernen Lächle-und-alles-wird-gut-Ausdruck auf dem Gesicht. Ich dachte: Ist er auf Drogen? Auf jeden Fall benahm er sich sonderbar.

»Na, wie dem auch sei.« Er atmete durch und wechselte das Thema. »Julia kommt zu uns raus, das ist schon mal eine gute Nachricht. Sie müsste irgendwann heute Abend hier sein.«

»Aha. Warum kommt sie?«

»Na, doch bestimmt, weil sie sich Sorgen wegen der Schwärme da draußen macht.«

»Allzu groß kann ihre Sorge ja nicht sein«, sagte ich. »Diese Schwärme hätten nämlich schon vor Wochen vernichtet werden können, als die Evolutionsmuster zum ersten Mal deutlich wurden. Aber das ist nicht geschehen.«

»Ja. Na ja. Die Sache ist die, damals hat das noch keiner so richtig begriffen ...«

»Ich denke, doch.«

»Aber nein.« Es gelang ihm, den zu Unrecht Beschuldigten und leicht Gekränkten zu mimen. Aber ich hatte sein Theater allmählich satt.

»Ricky«, sagte ich. »In dem Hubschrauber, der mich hergebracht hat, saßen auch ein paar PR-Leute. Wer hat die verständigt, dass es hier ein PR-Problem gibt?«

»Ich weiß nichts von irgendwelchen PR-Leuten.«

»Man hatte ihnen gesagt, dass sie den Hubschrauber nicht verlassen sollten. Dass es hier gefährlich sei.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung . Ich weiß nicht, wovon du redest.«

Ich hob abwehrend die Hände und verließ das Badezimmer.

»Ich weiß es wirklich nicht!«, rief Ricky mir beteuernd hinterher. »Ehrenwort, ich weiß nichts davon!«

Eine halbe Stunde später brachte Ricky mir den fehlenden Code, um den ich gebeten hatte, wahrscheinlich als eine Art Friedensangebot. Es war nicht viel, bloß ein Blatt Papier.

»Tut mir Leid«, sagte er. »Musste erst ein Weilchen suchen. Rosie hatte vor ein paar Tagen ein ganzes Unterverzeichnis offline genommen, um einen Teil zu überarbeiten. Ich schätze, sie hat vergessen, es wieder ins System zu geben. Deshalb war es nicht im Hauptverzeichnis.«

»Aha.« Ich überflog das Blatt. »Woran hat sie gearbeitet?« Ricky zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. An irgendwelchen anderen Daten.«

/*Mod Compstat_do*/

Exec (move {0 ij (Cxi, Cyl, Czl)}) /*Initialisierung*/ {dij (xl,yl,zl)} /*Zustand*/ {dikl (xl,yl,zl) (x2,y2,z2)} /verfolgen*/ Push (z(i)} /*speichern*/

React /*ref. Zustand*/

ßl{(dx(i,j,k)}{(place(Cj,Hj)} ß2 {(fx,(a,q)} Place {z(l)} /*speichern*/ Intent /*ref. Intention*/

ßijk{(dx(i,j,k)}{(place(Cj,Hj)} ßx {(fx,(a,q)} Load {z(i)} /*speichern*/ Exec (move {0 ij (Cxi, Cyl, Czl)}) Exec (pre{0ij (Hxl,Hyl,Hzl)})

Exec (post{0 ij (Hxl,Hyl,Hzl)})

Push {dij (xl,yl,zl)}

{Sikl (xl,yl,zl) move (x2,y2,z2)} /* verfolgen*/ {0,1,0,01}

»Ricky«, sagte ich, »der Code sieht fast genauso aus wie das Original.«

»Ja, find ich auch. Die Veränderungen sind minimal. Ich weiß nicht, warum da so ein Drama draus gemacht wird.« Er zuckte die Achseln. »Ich meine, sobald wir die Kontrolle über den Schwarm verloren hatten, wurde der genaue Code doch irgendwie nebensächlich. Man konnte ihn ja doch nicht än-dern.«

»Und wie habt ihr die Kontrolle verloren? In dem Code hier gibt es keinen Evolutionsalgorithmus.«

Er breitete die Arme aus. »Jack«, sagte er. »Wenn wir das wüssten, wüssten wir alles. Dann hätten wir den ganzen Schlamassel hier nicht.«

»Aber man hat mich hergeholt, damit ich mich um den Code kümmere, den mein Team damals geschrieben hat, Ricky. Mir wurde gesagt, die Agenten würden ihr Ziel aus den Augen verlieren .«

»Ich würde sagen, sich der Funksteuerung zu entziehen ist nichts anderes, als das Ziel aus den Augen zu verlieren.«

»Aber der Code ist nicht verändert worden.«

»Na ja, der eigentliche Code hat keinen so richtig interessiert, Jack. Es geht um das, was der Code bewirkt. Um das Verhalten, das sich aus dem Code emergiert. Dabei solltest du uns helfen. Schließlich ist es ja dein Code, oder?«

»Ja, und es ist euer Schwarm.«

»Auch wieder wahr, Jack.«

Mit seinem üblichen selbstironischen Achselzucken ging er aus dem Raum. Ich starrte eine Weile auf das Blatt Papier und fragte mich dann, warum er es für mich ausgedruckt hatte. Das bedeutete, dass ich das elektronische Dokument nicht überprüfen konnte. Vielleicht vertuschte Ricky ja schon wieder ein Problem. Vielleicht war der Code ja doch verändert worden, und er zeigte es mir nicht. Oder vielleicht ...

Egal, dachte ich. Ich zerknüllte das Blatt und warf es in den Papierkorb. Wie immer das Problem auch gelöst werden konnte, jedenfalls nicht mit Computercodes. So viel stand fest.

Mae war im Biologielabor und betrachtete aufmerksam ihren Monitor, das Kinn in die Hand gestützt. Ich sagte: »Geht's dir gut?«

»Ja.« Sie lächelte. »Und dir?«

»Bloß müde. Und ich hab wieder Kopfschmerzen.«

»Ich auch. Aber ich glaube, an meinen ist dieser Phage da schuld.« Sie deutete auf den Monitor. Er zeigte ein schwarzweißes Bild von einem Virus, aufgenommen mit einem Rasterelektronenmikroskop. Der Phage sah aus wie eine Granate -wulstiger, spitz zulaufender Kopf, verbunden mit einem schmaleren Schwanz.

Ich sagte: »Ist das der neue Mutant, von dem du gesprochen hast?«

»Ja. Ich habe schon einen Fermentationstank rausgenommen. Das Produktionsvolumen liegt jetzt nur noch bei sechzig Prozent. Aber das spielt ja wohl keine große Rolle.«

»Und was machst du mit dem Tank?«

»Ich teste antivirale Reagenzien«, sagte sie. »Eine begrenzte Anzahl davon hab ich hier. Wir sind eigentlich nicht darauf eingerichtet, Kontaminanten zu analysieren. Das Protokoll verlangt bloß, einen kontaminierten Tank aus der Produktion zu nehmen und zu reinigen.«

»Warum hast du das nicht getan?«

»Ich tu's ja, irgendwann. Aber das da ist ein neuer Mutant, deshalb halte ich es für besser, ein Gegen-Agens zu finden. Das wird dann für zukünftige Produktionen gebraucht. Ich meine, das Virus kommt schließlich wieder.«

»Du glaubst, es wird wieder auftauchen? Sich wieder neu entwickeln?«

»Ja. Vielleicht ein bisschen mehr oder weniger bösartig, aber im Wesentlichen gleich.«

Ich nickte. Ich kannte mich mit der Materie aus, da ich mit genetischen Algorithmen gearbeitet hatte - Computerprogramme, die die Evolution simulierten. Die meisten Leute stellten sich die Evolution als einen Prozess vor, in dem sich alles nur ein einziges Mal vollzog, ein Zusammentreffen zufälliger Ereignisse. Wenn die Pflanzen nicht irgendwann Sauerstoff produziert hätten, hätten sich niemals tierische

Lebewesen entwickelt. Wenn ein Asteroid nicht die Dinosaurier vernichtet hätte, hätten sich die Säugetiere nicht so verbreitet. Wenn ein paar Fische nicht an Land gekommen wären, würden wir immer noch im Wasser leben. Und so weiter.

All das war schon richtig, doch die Evolution hatte noch eine andere Seite. Bestimmte Lebensformen und Lebensweisen tauchten immer und immer wieder auf. So zum Beispiel trat der Parasitismus - ein Lebewesen lebt auf Kosten eines anderen - im Laufe der Evolution sehr häufig auf, unabhängig von anderen Arten. Er war für gewisse Lebensformen eine zuverlässige Möglichkeit zu interagieren, und somit trat er immer wieder in Erscheinung.

Ein ähnliches Phänomen war bei genetischen Programmen festzustellen. Sie neigten dazu, sich gewisse erprobte Lösungen anzueignen. Die Programmierer sprachen in diesem Zusammenhang von »Maxima in der mehrdimensionalen Fitnessfunktion«; sie konnten sie als dreidimensionales Falschfarbengebirge mit Modellierungsprogrammen darstellen. Tatsache war jedenfalls, dass die Evolution durchaus auch eine stabile Seite hatte.

Und auf eines war Verlass: Ein großer, warmer Bakteriensud würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von einem Virus kontaminiert werden, und wenn das Virus die Bakterien nicht infizieren konnte, dann würde es zu einer Form mutieren, die dazu im Stande war. Darauf konnte man sich verlassen, so wie man sich darauf verlassen konnte, in einer Zuckerdose, die zu lange auf dem Küchentisch gestanden hatte, Ameisen zu finden.

Es war verblüffend, wie wenig wir über die Evolution wussten, wo sie doch schon seit hundertfünfzig Jahren erforscht wurde. Die alten Vorstellungen, dass nur die Stärksten überlebten, waren seit langem überholt. Sie waren zu eindimensional. Die Forscher des neunzehnten Jahrhunderts sahen in der Evolution sozusagen die ungezähmte, brutale Natur, denn sie stellten sich eine Welt vor, in der die stärkeren Tiere die schwächeren töteten. Sie zogen nicht in Betracht, dass die schwächeren zwangsläufig stärker wurden oder sich in irgendeiner Weise zur Wehr setzten. Was sie natürlich immer tun.

Neuere Vorstellungen betonten die Wechselwirkung zwischen sich fortwährend entwickelnden Formen. Manche verglichen die Evolution mit einem Wettrüsten, womit sie eine ständig eskalierende Interaktion meinten. Eine Pflanze, die von einem Schädling befallen wird, entwickelt in ihren Blättern ein Pestizid. Der Schädling verändert sich daraufhin so, dass er das Pestizid verträgt, also bringt die Pflanze ein stärkeres Pestizid hervor. Und so weiter.

Andere bezeichneten dieses Muster als Koevolution, zwei oder mehr Lebensformen entwickeln sich gleichzeitig und dulden sich dann gegenseitig. Eine Pflanze, die von Ameisen befallen wird, verändert sich, toleriert die Ameisen daraufhin und fängt sogar an, speziell für sie Nahrung auf den Blättern zu produzieren. Im Gegenzug schützen diese Ameisen die Pflanze, indem sie jedes Tier beißen, das die Blätter fressen will. Schon bald können weder Pflanze noch Ameisenart ohne einander überleben.

Dieses Muster war so grundlegend, dass viele Leute darin den eigentlichen Kern der Evolution sahen. Für sie waren Parasitismus und Symbiose die wahre Basis für evolutionäre Veränderung. Diese Prozesse lagen jeder Evolution zu Grunde und waren von Anfang an wirksam gewesen. Lynn Margulies trat den berühmten Beweis an, dass Bakterien ursprünglich einen Zellkern durch das Verschlingen anderer Bakterien entwickelt hatten.

Im einundzwanzigsten Jahrhundert stand nun fest, dass Koe-volution sich nicht auf zwei Lebewesen beschränkte, die eine Art isolierten Paartanz aufführten. Es gab koevolutionäre Muster mit drei, zehn oder n Lebensformen, wobei n jede beliebige Zahl sein konnte. Ein Maisfeld, auf dem ja alle möglichen Pflanzen wuchsen, wurde von vielen Schädlingen befallen und entwarf viele Verteidigungsstrategien. Die Pflanzen konkurrierten mit dem Unkraut; die Schädlinge konkurrierten mit anderen Schädlingen; größere Tiere fraßen sowohl die Pflanzen als auch die Schädlinge. Das Ergebnis dieser komplexen Interaktion veränderte sich stets, entwickelte sich stets weiter.

Und es war naturgemäß nicht vorhersagbar.

Letztlich war das der Grund, warum ich so wütend auf Ricky war.

Er hätte um die Gefahren wissen müssen, als er merkte, dass er die Schwärme nicht kontrollieren konnte. Es war Wahnsinn, tatenlos zuzusehen, wie sie sich unabhängig weiterentwickelten. Ricky war ein heller Kopf; er kannte sich mit genetischen Algorithmen aus; er kannte den biologischen Hintergrund für die aktuellen Trends im Programmieren.

Er wusste, dass Selbstorganisation unvermeidlich war.

Er wusste, dass emergente Formen unberechenbar waren.

Er wusste, dass Evolution Interaktion mit n Formen bedeuten konnte.

Er wusste all das, und er hatte es trotzdem zugelassen.

Er oder Julia.

Ich sah nach Charley. Er schlief noch in seinem Zimmer, ausgestreckt auf dem Bett. Bobby Lembeck kam vorbei. »Wie lange schläft er schon?«

»Seit du ihn geholt hast. Gut drei Stunden.«

»Meinst du, wir sollten ihn wecken, um festzustellen, ob es ihm besser geht?«

»Nee, lass ihn schlafen. Wir können ihn nach dem Essen untersuchen.«

»Wann essen wir denn?«

»In einer halben Stunde.« Bobby Lembeck lachte. »Ich koche.«

Das erinnerte mich daran, dass ich um die Abendessenszeit zu Hause anrufen wollte, also ging ich in mein Zimmer und wählte die Nummer.

Ellen meldete sich. »Hallo? Was ist denn!« Sie klang gehetzt. Im Hintergrund hörte ich Amanda schreien und Eric Nicole anbrüllen. Ellen sagte: »Nicole, lass deinen Bruder in Ruhe!«

Ich sagte: »Hi, Ellen.«

»Oh, Gott sei Dank«, sagte sie. »Du musst mit deiner Tochter sprechen.«

»Was ist denn los?«

»Moment. Nicole, dein Vater.« Ich sah im Geiste, wie sie ihr den Hörer entgegenstreckte.

Dann eine Pause. »Hi, Dad.«

»Was ist denn bei euch los, Nic?«

»Nichts. Eric benimmt sich unmöglich.« Sachlich.

»Nic, ich möchte wissen, was du mit deinem Bruder gemacht hast.«

»Dad.« Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. Ich wusste, dass sie die hohle Hand über den Hörer hielt. »Tante Ellen ist nicht sehr nett.«

»Das hab ich gehört«, sagte Ellen im Hintergrund. Aber wenigstens schrie Amanda nicht mehr; sie war hochgenommen worden.

»Nicole«, sagte ich. »Du bist die Älteste, ich erwarte von dir, dass du dich mit deinem Bruder verträgst, wenn ich nicht da bin.«

»Will ich ja auch, Dad. Aber er ist ein Riesenaffenarsch!«

Aus dem Hintergrund: »Bin ich nicht! Blöde Sau!«

»Dad. Da hörst du, was ich durchmache.«

Eric: »Du kannst mich mal, Pissnelke.«

Ich blickte auf den Monitor vor mir. Er zeigte die Wüste draußen, rotierende Bilder von allen Überwachungskameras. Eine Kamera zeigte das Motorrad, das vor der Tür zur Energiestation auf der Seite lag. Eine andere das Depot von außen, wo die Tür auf- und zuklappte und drinnen die Umrisse von Rosies Leichnam zu erkennen waren. Zwei Menschen waren heute gestorben. Ich auch beinahe. Und meine Familie, die gestern noch das Wichtigste in meinem Leben gewesen war, kam mir jetzt weit weg und unbedeutend vor.

»Es ist ganz einfach, Dad«, sagte Nicole jetzt, in ihrer vernünftigsten Erwachsenenstimme. »Ich komme mit Tante Ellen vom Einkaufen nach Hause, ich hab eine tolle Bluse für die Theatervorführung gekriegt, und auf einmal kommt Eric in mein Zimmer und schmeißt meine ganzen Bücher auf die Erde. Ich hab natürlich gesagt, er soll alles wieder aufräumen. Er sagt, nein, und hat mich F., du weißt schon, genannt, also hab ich ihn in den Hintern getreten, nicht sehr fest, und ihm seinen G.I. Joe weggenommen und versteckt. Mehr nicht.«

Ich sagte: »Du hast ihm seinen G.I. Joe weggenommen?« G.I. Joe war Erics Ein und Alles. Er sprach mit G.I. Joe, und wenn er schlief, lag G.I. Joe auf dem Kopfkissen neben ihm.

»Er kann ihn wiederhaben«, sagte sie, »wenn er meine Bücher wieder aufgehoben hat.«

»Nic .«

»Dad, er hat das Wort mit F zu mir gesagt.«

»Gib ihm seinen G.I. Joe zurück.«

Auf dem Monitor erschienen jetzt nacheinander die Bilder von den verschiedenen Kameras. Jede Aufnahme war ein oder zwei Sekunden zu sehen. Ich wartete, dass das Bild vom Depot wieder eingeblendet wurde. Ich hatte so ein ungutes Gefühl. Irgendwas stimmte da nicht.

»Dad, das ist ungerecht.«

»Nic, du bist nicht seine Mutter .«

»Ach so, ja, die war ja auch mindestens fünf Sekunden hier.«

»Sie war zu Hause? Mom war da?«

»Aber dann, wer hätte das gedacht, musste sie gleich wieder weg. Sie musste einen Flug kriegen.«

»Aha. Nicole, hör bitte auf Ellen ...«

»Dad, ich sage dir, sie ist einfach ...«

»Weil sie die Verantwortung hat, bis ich wiederkomme. Also, wenn sie dir sagt, was du tun sollst, dann tust du es.«

»Dad. Ich finde das unzumutbar.« Ihre Geschworenenstimme.

»Tja, Mäuschen, aber so wird's gemacht.«

»Aber mein Problem .«

»Nicole. So wird's gemacht. Bis ich wieder da bin.«

»Wann kommst du denn?«

»Wahrscheinlich morgen.«

»Okay.«

»Also. Haben wir uns verstanden?«

»Ja, Dad. Ich krieg hier wahrscheinlich einen Nervenzusammenbruch .«

»Ich besuch dich auch in der Nervenheilanstalt, sobald ich zurück bin, versprochen.«

»Sehr witzig.«

»Gib mir mal Eric.«

Ich hatte ein kurzes Gespräch mit Eric, der mehrmals betonte, dass das alles gemein sei. Ich sagte, dass er Nicoles Bücher aufheben solle. Er erwiderte, er habe sie gar nicht runtergeschmissen, es sei ein Versehen gewesen. Ich sagte, er solle sie trotzdem aufheben. Dann sprach ich kurz mit Ellen. Ich munterte sie auf, so gut ich konnte.

Während des Gesprächs erschien plötzlich wieder ein Bild von der Überwachungskamera, die auf das Depot gerichtet war. Und wieder sah ich die pendelnde Tür und die Außenseite des Gebäudes. Es lag auf einer kleinen Erhöhung; vier Holzstufen führten von der Tür nach unten auf die ebene Erde. Aber alles sah ganz normal aus. Ich wusste nicht, was mich gewurmt hatte.

Und dann merkte ich es.

Davids Leichnam war nicht da. Er war nicht im Bild. Ich hatte mit eigenen Augen gesehen, wie David zur Tür hinausgerutscht war, außer Sicht, er müsste also draußen liegen. Bei dem leichten Gefälle könnte er ein paar Meter von der Tür weggerollt sein, aber mehr nicht.

Keine Leiche.

Aber vielleicht täuschte ich mich ja. Oder vielleicht gab es doch noch Kojoten. So oder so, das Kamerabild hatte sich schon wieder geändert. Ich würde eine weitere Runde abwarten müssen, um es noch mal zu sehen. Ich beschloss, nicht zu warten. Wenn Davids Leichnam verschwunden war, dann musste ich mich eben damit abfinden.

Es war kurz vor sieben, als wir uns in der kleinen Küche im Wohnmodul zum Essen an den Tisch setzten. Bobby stellte Teller mit Ravioli und gemischtem Gemüse auf den Tisch. Da ich lange genug Hausmann gewesen war, erkannte ich die Tiefkühlkostsorten, die er verwendet hatte. »Ich finde ja, die Ravioli von Contadina sind besser.«

Bobby zuckte die Achseln. »Ich geh zum Kühlschrank und guck, was da ist.«

Ich war überraschend hungrig. Ich aß meinen Teller leer.

»So schlecht kann's ja nicht geschmeckt haben«, sagte Bob-by.

Mae war beim Essen schweigsam, wie immer. Vince neben ihr aß geräuschvoll. Ricky saß am anderen Ende des Tisches, weit von mir weg, blickte auf sein Essen, um mir nicht in die Augen schauen zu müssen. Mir war das nur recht. Niemand wollte über Rosie und David Brooks sprechen. Doch die leeren Hocker am Tisch waren nicht zu übersehen. Bobby sagte zu mir: »Und, wollt ihr heute Abend los?«

»Ja«, sagte ich. »Wann wird es dunkel?«

»Die Sonne müsste gegen halb acht untergehen«, sagte Bob-by. Er knipste einen Monitor an der Wand an. »Ich geb dir die genaue Uhrzeit.«

Ich sagte: »Drei Stunden später können wir dann aufbrechen. Irgendwann nach zehn.«

Bobby sagte: »Und du glaubst, ihr findet die Schwärme?«

»Bestimmt. Charley hat einen von ihnen ja ganz ordentlich eingesprüht.«

»Und deshalb leuchte ich jetzt im Dunkeln«, sagte Charley lachend. Er kam herein und setzte sich.

Alle begrüßten ihn überschwänglich. Es war auf jeden Fall besser, noch jemanden am Tisch zu haben. Ich fragte ihn, wie er sich fühle.

»Ganz gut. Ein bisschen schwach. Und ich hab höllische Kopfschmerzen.«

»Ich weiß. Ich auch.«

»Und ich auch«, sagte Mae.

»Schlimmer als die Kopfschmerzen, die ich Ricky verdanke«, sagte Charley und blickte auf den Tisch. »Und auch anhaltender.«

Ricky sagte nichts. Er aß einfach weiter.

»Glaubt ihr, diese Dinger dringen einem ins Hirn?«, sagte Charley. »Ich meine, es sind schließlich Nanopartikel. Man atmet sie ein, sie passieren die Blut-Hirn-Schranke . und schwups sind sie im Gehirn.«

Bobby schob Charley einen Teller Pasta hin. Er machte sofort ausgiebigen Gebrauch von der Pfeffermühle.

»Willst du nicht erst probieren?«

»Nichts gegen deine Kochkünste. Aber ich bin sicher, es fehlt Pfeffer.« Er fing an zu essen.

»Ich meine«, fuhr er fort, »das ist doch die große Sorge, dass die Nanotechnologie die Umwelt verschmutzt, oder nicht? Nanopartikel sind so klein, dass sie Stellen erreichen können, an die bisher keiner einen Gedanken verschwenden musste. Sie können in die Synapsen zwischen den Neuronen. Sie können ins Zytoplasma von Herzzellen. Sie können in Zellkerne. Sie sind so klein, dass sie jede Stelle im Körper erreichen. Vielleicht sind wir ja jetzt infiziert, Jack.«

»Allzu große Sorgen scheinst du dir deshalb ja nicht zu machen«, sagte Ricky.

»He, was kann ich denn jetzt noch daran ändern? Ich kann nur hoffen, dass ich dich anstecke. He, die Spagetti sind gar nicht schlecht.«

»Ravioli«, sagte Bobby.

»Egal. Müssen nur ein bisschen nachgewürzt werden.« Er griff wieder nach der Pfeffermühle.

»Sonnenuntergang ist um neunzehn Uhr siebenundzwanzig«, las Bobby vom Monitor ab. Er aß weiter. »Und sie müssen nicht nachgewürzt werden.«

»Aber ja doch.«

»Ich hab schon Pfeffer reingetan.«

»Zu wenig.«

Ich sagte: »Leute? Fehlt einer von uns?«

»Nein, wieso?«

Ich deutete auf den Monitor. »Wer steht dann da draußen in der Wüste?«

6. Tag, 19.12 Uhr

Ach, du Scheiße«, sagte Bobby. Er sprang vorn Tisch auf und lief aus der Küche. Alle folgten ihm. Ich auch.

Ricky sprach im Laufschritt in sein Funkgerät: »Vince, alles dicht machen. Vince?«

»Es ist alles dicht«, sagte Vince. »Druck bei fünf plus.«

»Wieso ist der Alarm nicht losgegangen?«

»Keine Ahnung. Vielleicht haben sie ja schon gelernt, ihn auszutricksen.«

Ich folgte den anderen in den Technik-Raum, wo große Flüssigkristallbildschirme an den Wänden die Bilder der Außenkameras zeigten. Die Wüste aus allen Perspektiven.

Die Sonne war schon am Horizont verschwunden, aber der Himmel war noch leuchtend orange, wurde lila und dann dunkelblau. Vor diesem Himmel hob sich die Silhouette eines jungen Mannes mit kurzen Haaren ab. Er trug eine Jeans und ein weißes T-Shirt und sah aus wie ein Surfer. Ich konnte sein Gesicht in dem schwächer werdenden Licht nicht deutlich sehen, doch die Art, wie er sich bewegte, hatte für mich irgendwas Vertrautes.

»Haben wir draußen keine Scheinwerfer?«, fragte Charley. Er ging auf und ab, seinen Teller Pasta in der Hand, und aß noch immer.

»Licht geht an«, sagte Bobby, und gleich darauf stand der junge Mann in grellem Licht. Jetzt konnte ich ihn deutlich sehen .

Und dann fiel es mir ein. Er sah genauso aus wie der junge Mann, der gestern Abend nach dem Essen in Julias Wagen gesessen hatte, als sie wegfuhr, kurz vor ihrem Unfall. Derselbe blonde Surfertyp, der, jetzt da ich ihn wieder sah, Ähnlichkeit mit .

»Ach du Schande, Ricky«, sagte Bobby. »Der sieht aus wie du.«

»Du hast Recht«, sagte Mae. »Es ist Ricky. Sogar sein T-Shirt.«

Ricky zog sich gerade eine Limo am Automaten. Er drehte sich zum Monitor um. »Was redet ihr denn da?«

»Er sieht aus wie du«, sagte Mae. »Er hat sogar dein >Ich bin Root<-T-Shirt an.«

Ricky blickte auf sein T-Shirt, dann wieder auf den Bildschirm. Einen Moment lang sagte er kein Wort. »Das gibt's doch gar nicht.«

Ich sagte: »Du warst kein einziges Mal draußen, Ricky. Wieso bist du das da?«

»Keinen Schimmer«, sagte Ricky. Er zuckte lässig die Achseln. Zu lässig?

Mae sagte: »Ich kann das Gesicht nicht richtig erkennen. Ich meine, die Gesichtszüge.«

Charley trat näher an den größten Monitor und betrachtete das Bild mit zusammengekniffenen Augen. »Die Gesichtszüge sind deshalb nicht zu sehen«, sagte er, »weil es keine gibt.«

»Ach, hör doch auf.«

»Charley, das ist ein Auflösungsfehler, mehr nicht.«

»Nein«, sagte Charley. »Da sind keine Gesichtszüge. Zoom es doch ran und guck selbst.«

Bobby zoomte. Das Bild des blonden Kopfes wurde größer. Die Gestalt bewegte sich hin und her, verschwand aus dem Bild und kam wieder herein, aber es war gleich klar, dass Charley Recht hatte. Es gab keine Gesichtszüge. Unter dem blonden Haaransatz war eine ovale Fläche blasse Haut; Nase und Augenbrauen waren angedeutet, und dort, wo die Lippen hingehörten, war eine Art Wölbung. Aber richtige Gesichtszüge waren das nicht.

Es sah aus wie das unvollendete Werk eines Bildhauers. Es war ein unvollendetes Gesicht.

Doch die Augenbrauen bewegten sich von Zeit zu Zeit. Eine Art Wackeln oder Flattern. Aber vielleicht war das ja ein Bildfehler.

»Euch ist doch wohl klar, was wir da sehen, nicht?«, sagte Charley. Er klang besorgt. »Schwenk nach unten. Wir wollen uns den Rest angucken.« Bobby schwenkte nach unten, und wir sahen weiße Sportschuhe, die sich über den Wüstensand bewegten. Bloß, die Schuhe schienen den Boden nicht zu berühren, sondern darüber hinwegzuschweben. Und sie waren irgendwie verschwommen. Man konnte die Schnürsenkel erahnen und auch einen Streifen, wo normalerweise das NikeLogo war. Aber es sah aus wie eine Skizze, nicht wie ein richtiger Sportschuh.

»Das ist seltsam«, sagte Mae.

»Überhaupt nicht seltsam«, sagte Charley. »Das ist eine berechnete Annäherung an Dichte. Der Schwarm hat nicht genug Agenten, um Schuhe mit hoher Auflösung darzustellen. Er nähert sich also nur an.«

»Oder aber«, sagte ich, »er versucht, aus den Materialien, die er hat, das Beste zu machen. Er muss all die Farben erzeugen, indem er seine fotovoltaische Oberfläche ganz leicht neigt, um das Licht aufzufangen. Wie bei diesen großen Kartons, die die Fans im Footballstadion hochhalten, um ein Bild darzustellen.«

»Was bedeuten würde«, sagte Charley, »dass sein Verhalten ziemlich hoch entwickelt ist.«

»Höher als alles, was wir vorher gesehen haben«, bestätigte ich.

»Ach, jetzt hört aber auf«, sagte Ricky gereizt. »Ihr tut ja so, als wäre der Schwarm da Einstein.«

»Ganz sicher nicht«, sagte Charley, »wenn er dich imitiert, kann er kein Einstein sein.«

»Halt die Luft an, Charley.«

»Würde ich ja, Ricky, aber du bist so ein großes Arschloch, dass es mich immer wieder juckt.«

Bobby sagte: »Jetzt haltet aber ihr beiden mal die Luft an.«

Mae sah mich an und sagte: »Warum macht der Schwarm das? Imitiert er die Beute?«

»Im Grunde, ja.«

»Schreckliche Vorstellung, dass wir Beute sein sollen«, sagte Ricky.

Mae fragte: »Du meinst, er ist so codiert, die Beute im wahrsten Sinne des Wortes körperlich zu imitieren?«

»Nein«, antwortete ich. »Die Programmbefehle sind allgemeiner gehalten. Sie geben den Agenten lediglich die Anweisung, das Ziel zu erreichen. Was wir da sehen, ist also eine mögliche emergente Lösung. Und sie ist fortgeschrittener als die frühere Version. Davor hatte der Schwarm Probleme, ein stabiles 2-D-Bild zu Stande zu bringen. Jetzt simuliert er dreidimensional.«

Ich blickte die Programmierer an. Sie wirkten schockiert. Sie wussten genau, was für einen gewaltigen Fortschritt sie da vor Augen hatten. Der Übergang zur dreidimensionalen Darstellung bedeutete, dass der Schwarm jetzt nicht nur unsere äußere Erscheinung imitierte, er imitierte auch unser Verhalten. Unsere Gehweise, unsere Gesten. Was ein weitaus komplizierteres Innenleben voraussetzte.

Mae sagte: »Und der Schwarm hat das ganz selbstständig entschieden?«

»Ja«, antwortete ich. »Wenngleich ich nicht weiß, ob das der richtige Ausdruck ist. Das emergente Verhalten ist die Summe der Verhaltensweisen der einzelnen Agenten. Es ist niemand da, der irgendwas >entscheidet<. Es gibt im Schwarm keinen Verstand, keine höhere Kontrollinstanz.«

»Gruppengeist?«, sagte Mae. »Schwarmgeist?«

»In gewisser Weise, ja«, erwiderte ich. »Entscheidend ist, es gibt keine zentrale Steuerung.«

»Aber er wirkt gesteuert«, sagte sie. »Er wirkt wie ein definierter, zielorientierter Organismus.«

»Na ja, das tun wir ja auch«, sagte Charley mit einem rauen Lachen. Niemand lachte mit.

Wenn man so will, ist der Mensch im Grunde ein riesiger Schwarm. Genauer gesagt, er ist ein Schwarm Schwärme, denn jedes Organ - Blut, Leber, Niere - ist ein einzelner Schwarm. Was wir »Körper« nennen, ist in Wirklichkeit die Kombination aller Organschwärme.

Wir halten unseren Körper für fest, aber nur, weil wir nicht sehen können, was auf der Zellebene vor sich geht. Wenn man den menschlichen Körper auf ein gewaltiges Format vergrößern könnte, dann wäre zu sehen, dass er praktisch nichts anderes ist als eine wirbelnde Masse von Zellen und Atomen, die zu kleineren Wirbeln von Zellen und Atomen gebündelt sind.

Na und? Nun, es ist erwiesen, dass auf der Ebene der Organe viele Prozesse ablaufen. Menschliches Verhalten wird an zahlreichen Stellen determiniert. Die Steuerung unseres Verhaltens findet nicht in unserem Gehirn statt, sondern überall in unserem Körper.

Man könnte also behaupten, dass auch Menschen von »Schwarmintelligenz« gelenkt werden. Das Gleichgewicht wird vom Kleinhirnschwarm gesteuert, was kaum ins Bewusstsein vordringt. Andere Abläufe vollziehen sich im Rückenmark, im Magen, in den Eingeweiden. Sehen findet in großem Maße in den Augäpfeln statt, lange bevor das Gehirn beteiligt wird.

Zudem laufen viele komplizierte Prozesse im Gehirn unbewusst ab. Das Umgehen von Hindernissen ist ein gutes Beispiel. Ein mobiler Roboter benötigt ungeheuer viel Verarbeitungszeit, bloß um irgendwelchen Hindernissen in der Umgebung auszuweichen. Bei Menschen ist es nicht anders, doch sie sind sich dessen nicht bewusst - bis das Licht ausgeht. Dann machen sie die schmerzliche Erfahrung, wie viel Informationsverarbeitung wirklich erforderlich ist.

Man könnte also argumentieren, dass die gesamte Bewusstseinsstruktur, die menschliche Selbstkontrolle und Zielorien-tiertheit eine Benutzerillusion sind. Wir haben gar keine bewusste Kontrolle über uns. Wir glauben das nur.

Nur weil Menschen sich selbst als ein »Ich« empfinden, muss das nicht den Tatsachen entsprechen. Und dieser verdammte Schwarm hatte - soweit wir das sagen konnten - so etwas wie ein rudimentäres Gefühl von sich als Einheit. Oder falls er es noch nicht hatte, dann könnte es schon sehr bald aufkommen.

Wir beobachteten den gesichtslosen Mann auf dem Monitor, und auf einmal sahen wir, dass das Bild instabil wurde. Der Schwarm hatte Mühe, die äußere Erscheinung aufrechtzuerhalten. Er veränderte sich jetzt: Mal schienen sich Gesicht und Schultern in Staub aufzulösen, dann traten sie wieder als feste Form in Erscheinung. Es war seltsam anzusehen.

»Schwächephase?«, fragte Bobby.

»Nein, ich glaube, er wird müde«, sagte Charley.

»Du meinst, er hat langsam keine Energie mehr.«

»Ja, wahrscheinlich. Alle Partikel genau im richtigen Winkel zu neigen kostet bestimmt jede Menge Saft.«

Und tatsächlich, der Schwarm nahm wieder seine Wolkenform an.

»Dann ist das da wohl der Energiesparmodus?«, sagte ich.

»Ja. Sie wurden sicherlich optimiert, damit sie mit ihrer Energie haushalten können.«

»Oder sie haben es gelernt.«

Es wurde jetzt rasch dunkel. Das Orange am Himmel war verschwunden. Das Bild auf dem Monitor wurde unscharf.

Der Schwarm drehte sich und wirbelte davon.

»Ich fass es nicht«, sagte Charley.

Ich sah, wie der Schwarm am Horizont verschwand. »Drei Stunden«, sagte ich, »und sie sind erledigt.«

6. Tag, 22.12 Uhr

Gleich nach dem Essen legte sich Charley wieder ins Bett. Er schlief noch, als Mae und ich uns zum Aufbruch fertig machten. Wir trugen Westen und Jacken, weil es kalt werden würde. Wir brauchten noch einen Begleiter. Ricky sagte, er wolle auf Julia warten, die jeden Moment eintreffen musste; mir war das nur recht, ich wollte ihn ohnehin nicht dabeihaben. Vince war verschwunden; er guckte irgendwo Fernsehen und trank Bier. Damit blieb nur noch Bobby.

Bobby wollte nicht mit, doch Mae setzte ihn moralisch so unter Druck, dass er sich schließlich doch bereiterklärte. Die Frage war, wie wir drei vorankommen würden, denn möglicherweise lag das Versteck des Schwarms ein gutes Stück entfernt, vielleicht sogar einige Meilen. Wir hatten zwar noch Davids Motorrad, aber darauf war nur Platz für zwei. Dann stellte sich heraus, dass Vince ein Geländefahrzeug im Depot hatte, ein ATV. Ich ging zu ihm in den Technikraum und bat ihn um den Schlüssel.

»Steckt«, sagte er. Er saß auf der Couch und schaute sich »Who Wants to Be A Millionaire?« an. Ich hörte den Quizmaster sagen: »Sie bleiben bei der Antwort?«

Ich sagte: »Was?«

»Der Schlüssel steckt«, antwortete Vince. »Steckt immer.« »Moment mal«, sagte ich. »Soll das heißen, im Depot war die ganze Zeit über ein Fahrzeug, in dem der Schlüssel steckte?«

»Klar.« Aus dem Fernseher hörte ich: »Für fünftausend Dollar wollen wir wissen, wie das kleinste Land in Europa heißt?«

»Wieso hat mir das keiner gesagt?«, fragte ich, mit aufsteigendem Zorn.

Vince zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Mich hat keiner gefragt.«

Ich marschierte zurück zu den anderen. »Wo zum Teufel steckt Ricky?«

»Der telefoniert«, sagte Bobby. »Mit den Bossen im Valley.«

Mae sagte: »Beruhige dich.«

»Ich bin ganz ruhig«, antwortete ich. »Wo telefoniert er? Im Hauptmodul?«

»Jack.« Sie legte ihre Hände auf meine Schultern, hielt mich fest. »Es ist schon nach zehn. Vergiss das jetzt.«

»Vergessen? Durch seine Schuld wären wir fast draufgegan-gen.«

»Und jetzt haben wir was zu tun.«

Ich betrachtete ihr ruhiges Gesicht, sah ihren unerschütterlichen Blick. Ich dachte daran, wie zügig und geschickt sie das Kaninchen seziert hatte.

»Du hast Recht«, sagte ich.

»Schön«, sagte sie und wandte sich ab. »Also, wir brauchen jetzt nur noch ein paar Rucksäcke, und dann kann's losgehen.«

Es hatte schon seinen Grund, dachte ich, warum Mae niemals ein Streitgespräch verlor. Ich ging zum Geräteschrank und nahm drei Rucksäcke heraus. Einen warf ich Bobby zu.

»Abmarsch«, sagte ich.

Es war eine klare Nacht, voller Sterne. Wir gingen auf das Depot zu, eine dunkle Silhouette vor dem dunklen Himmel. Ich schob die Motocross-Maschine. Eine Weile sprach keiner von uns. Dann sagte Bobby: »Wir werden Taschenlampen brauchen.«

»Wir werden so einiges brauchen«, sagte Mae. »Ich hab eine Liste gemacht.«

Wir erreichten das Depot und stießen die Tür auf. Ich sah, dass Bobby draußen zurückblieb. Ich ging hinein und suchte nach dem Lichtschalter. Ich fand ihn, und es wurde hell.

Es sah alles genau so aus, wie wir es verlassen hatten. Mae öffnete ihren Rucksack und ging an der Reihe Regale entlang.

»Wir brauchen Handlampen ... Zünder ... Leuchtkugeln ... Sauerstoff ...«

Bobby sagte: »Sauerstoff? Im Ernst?«

»Wenn das Versteck unterirdisch ist, ja, möglich . Und wir brauchen Thermit.«

Ich sagte: »Rosie hatte es. Vielleicht hat sie es abgestellt, als sie ... Ich seh mal nach.« Ich ging nach nebenan. Die Kiste mit den Thermitkapseln lag umgekippt auf dem Boden, die Kapseln daneben. Rosie hatte sie fallen lassen, als sie losrannte. Ich fragte mich, ob sie auch welche in der Hand gehabt hatte. Ich schaute zu ihrem Leichnam an der Tür hinüber.

Rosies Leichnam war verschwunden.

»Mein Gott!«

Bobby kam hereingerannt. »Was ist? Was ist passiert?«

Ich deutete auf die Tür. »Rosie ist verschwunden.«

»Was soll das heißen, verschwunden?«

Ich blickte ihn an. »Verschwunden, Bobby. Der Leichnam lag da, und jetzt ist er weg.«

»Wie ist das möglich? Ein Tier?«

»Ich weiß nicht.« Ich ging an der Stelle in die Hocke, wo der Leichnam gelegen hatte. Als ich ihn zuletzt gesehen hatte, vor fünf oder sechs Stunden, war er mit einem milchigen Sekret bedeckt gewesen. Davon war noch einiges auf dem Boden. Es sah genauso aus wie dicke, getrocknete Milch. Dort, wo sich Rosies Kopf befunden hatte, war das Sekret glatt und unberührt. Aber näher zur Tür hin sah es aus wie zerkratzt. Es waren Streifen in der Schicht.

»Sieht aus, als wäre sie rausgeschleift worden«, sagte Bobby.

»Ja.«

Ich nahm das Sekret genauer in Augenschein, suchte nach Fußspuren. Ein Kojote allein hätte Rosie nicht wegschleifen können; dazu wäre ein ganzes Rudel vonnöten gewesen. So viele Tiere hätten mit Sicherheit Spuren hinterlassen. Ich sah keine.

Ich richtete mich auf und ging zur Tür. Bobby trat neben mich, und wir spähten hinaus in die Dunkelheit.

»Siehst du was?«, fragte er.

»Nein.«

Ich kehrte zu Mae zurück. Sie hatte alles gefunden. Sie hatte eine Rolle Magnesiumzündschnur. Sie hatte Leuchtkugeln. Sie hatte Halogentaschenlampen. Sie hatte Kopflampen mit breiten Gummibändern. Sie hatte kleine Ferngläser und Nachtsichtgeräte. Sie hatte ein Feldfunkgerät. Und sie hatte Sauerstoffflaschen und Vollsicht-Gasmasken. Mir war beklommen zu Mute, als ich sah, dass es die gleichen Plastikmasken waren, wie sie die Männer in dem SS VT-Van gestern Abend in Kalifornien aufgehabt hatten, nur dass sie nicht versilbert waren.

Und dann dachte ich, war das wirklich erst gestern Abend gewesen? Tatsächlich. Es waren kaum vierundzwanzig Stunden vergangen.

Es kam mir vor wie ein Monat.

Mae verteilte alles auf die drei Rucksäcke. Als ich ihr zusah, wurde mir bewusst, dass sie die Einzige von uns mit Felderfahrung war. Im Vergleich zu ihr waren wir alle Stubenhocker, Theoretiker. Erstaunt merkte ich, wie abhängig ich mich heute Abend von ihr fühlte.

Bobby wog den ersten Rucksack in der Hand und stöhnte. »Meinst du wirklich, wir brauchen das ganze Zeug, Mae?«

»Du musst es ja nicht zu Fuß schleppen; wir fahren. Und ja, ich gehe lieber auf Nummer sicher.«

»Ja, klar, verstehe, aber - ein Feldfunkgerät?«

»Man kann nie wissen.«

»Wen willst du anrufen?«

»Die Sache ist die, Bobby«, sagte sie, »wenn sich herausstellt, dass du irgendwas von dem Kram brauchst, dann brauchst du es wirklich.«

»Ja, aber ...«

Mae nahm den zweiten Rucksack und warf ihn sich über die Schulter. Sie wurde mühelos mit dem Gewicht fertig. Sie blickte Bobby an. »Was wolltest du sagen?«

»Ist schon gut.«

Ich nahm den dritten Rucksack. Er war gar nicht so schwer. Bobby jammerte nur, weil er Angst hatte. Die Sauerstoffflasche war zwar etwas größer und schwerer, als mir lieb war, und sie passte auch nur mit Mühe in den Rucksack, aber Mae bestand darauf, dass wir sie mitnahmen.

Bobby sagte nervös: »Sauerstoff? Was glaubt ihr denn, wie groß das Versteck ist?«

»Ich habe keine Ahnung«, sagte Mae. »Aber die neuen Schwärme sind um einiges größer.«

Sie ging zum Waschbecken und nahm den Strahlungszähler. Aber als sie den Stecker aus der Wand zog, sah sie, dass der Akku leer war. Wir mussten einen neuen Akku auftreiben, das Gehäuse aufschrauben, den Akku austauschen. Ich fürchtete schon, dass der Ersatzakku auch leer war. Dann hätten wir die Aktion abbrechen müssen.

Mae sagte: »Wir sollten auch bei den Nachtsichtgeräten aufpassen. Ich weiß bei keinem der Geräte, wie voll die Akkus sind.«

Aber der Zähler tickte laut. Die Akkuanzeige leuchtete. »Voll aufgeladen«, sagte Mae. »Das reicht für vier Stunden.«

»Gehen wir«, sagte ich.

Es war 22.43 Uhr.

Der Geigerzähler drehte durch, als wir zum Toyota kamen, und knatterte so schnell, dass es ein ununterbrochener Ton war. Den Stab vor sich haltend, ging Mae vom Wagen weg in die Wüste hinein. Sie drehte nach Westen, und das Knattern ließ nach. Sie ging nach Osten, und es wurde wieder lauter. Doch als sie weiter in östliche Richtung ging, tickte es langsamer. Sie bog nach Norden, und das Ticken beschleunigte sich.

»Norden«, sagte sie.

Ich stieg auf das Motorrad und ließ den Motor an.

Bobby kam mit dem All-Terrain-Vehicle mit den dicken Rädern und dem Fahrradlenker aus dem Depot gerumpelt. Das ATV sah ungelenk aus, aber für die Fahrt durch die dunkle Wüste war es wahrscheinlich gut geeignet.

Mae stieg hinter mir auf, beugte sich vor, um den Stab möglichst nah über den Boden zu halten, und sagte: »Okay. Los geht's.«

Unter einem wolkenlosen Nachthimmel fuhren wir in die Wüste hinein.

Der Scheinwerfer des Motorrads hüpfte auf und ab, sodass sich die Schatten vor uns ruckartig bewegten und schwer zu erkennen war, was auf uns zukam. Jetzt merkten wir, dass die Wüste, die bei Tage so flach und eintönig wirkte, jede Menge Bodensenken, Geröllfelder und tiefe Trockentäler hatte, die urplötzlich auftauchten. Ich musste mich höllisch konzentrieren, um das Motorrad aufrechtzuhalten - zumal Mae mir ständig zurief: »Links . jetzt rechts . rechts . gut so, zu viel, links . « Manchmal fuhren wir einen kompletten Kreis, bis wir wieder auf dem richtigen Weg waren.

Jeder, der bei Tageslicht unserer Spur folgte, musste annehmen, dass der Fahrer betrunken gewesen war, bei den vielen Schlenkern und Drehungen, die wir machten. Die Maschine hüpfte und schlingerte auf holprigem Boden. Wir waren jetzt schon einige Meilen vom Labor entfernt, und ich machte mir langsam Sorgen. Ich konnte das Ticken des Zählers hören, und es wurde immer schwächer. Es war zunehmend schwierig, die Schwarmspur von der Hintergrundstrahlung zu unterscheiden. Ich verstand nicht, warum das so war, aber es war zweifelsohne der Fall. Wenn wir das Versteck des Schwarms nicht bald ausfindig machten, würden wir die Spur völlig verlieren.

Auch Mae war besorgt. Sie beugte sich immer tiefer zum Boden, eine Hand am Stab, die andere um meine Taille. Und ich musste langsamer fahren, weil die Spur so schwach wurde. Wir verloren die Spur, fanden sie wieder, kamen wieder von ihr ab. Unter dem schwarzen Sternenbaldachin fuhren wir ein Stück zurück, drehten uns im Kreis. Ich ertappte mich dabei, dass ich den Atem anhielt.

Und schließlich kreiste ich mehrmals immer auf derselben Stelle, kämpfte gegen die aufkeimende Verzweiflung an. Ich fuhr drei Runden, dann vier, aber umsonst: Der Zähler in Maes Hand tickte nur noch sporadisch. Und plötzlich war uns klar, dass wir die Spur ganz verloren hatten ...

Wir waren hier in der völligen Einöde und fuhren im Kreis.

Wir hatten die Spur verloren.

Mit einem Mal überkam mich eine unsägliche Erschöpfung. Den ganzen Tag hatte mich das Adrenalin aufgeputscht, und jetzt, da ich nicht mehr weiterwusste, spürte ich am ganzen Körper eine tiefe Müdigkeit. Die Lider wurden mir schwer. Ich hätte auf dem Motorrad einschlafen können.

Hinter mir setzte Mae sich auf und sagte: »Lass den Kopf nicht hängen, ja?«

»Ich soll den Kopf nicht hängen lassen?«, sagte ich müde. »Mein Plan ist völlig gescheitert, Mae.«

»Vielleicht noch nicht«, erwiderte sie.

Bobby hielt dicht neben uns. »Guckt ihr ab und zu mal nach hinten?«, fragte er.

»Warum?«

»Mach mal«, sagte er. »Dann siehst du, wie weit wir weg sind.«

Ich warf einen Blick über die Schulter. Im Süden sah ich die hellen Lichter des Produktionsgebäudes, verblüffend nahe. Es konnten nicht mehr als ein oder zwei Meilen sein. Wir waren also einen großen Halbkreis gefahren und schließlich wieder in Richtung unseres Ausgangspunktes abgedreht.

»Das ist eigenartig.«

Mae war vom Motorrad gestiegen und trat vor den Scheinwerfer. Sie schaute auf die LCD-Anzeige des Strahlungszählers. Sie sagte: »Hmmm.«

Bobby sagte hoffnungsvoll: »Und, was sagst du, Mae? Fahren wir zurück?«

»Nein«, sagte Mae. »Wir fahren noch nicht zurück. Seht euch das an.«

Bobby beugte sich vor, und wir beide schauten auf die LCDAnzeige. Eine grafische Darstellung der Strahlungsintensität zeigte, dass die Kurve stetig abnahm und schließlich rasch fiel. Bobby runzelte die Stirn. »Und was ist das da?«

»Zeitablauf der heute Nacht gemessenen Werte«, sagte sie. »Das Gerät zeigt uns, dass die Strahlung, seit wir losgefahren sind, arithmetisch gefallen ist - ein gleichmäßiges Absinken, eine Treppe, siehst du? Und sie bleibt arithmetisch bis ungefähr zur letzten Minute, dann wird die Abnahme plötzlich exponen-tiell. Die Strahlung fällt auf null.«

»Und?« Bobby blickte verwirrt. »Was bedeutet das? Ich kapier's nicht.«

»Ich aber.« Sie wandte sich mir zu, stieg wieder auf das Motorrad. »Ich glaube, ich weiß, was passiert ist. Fahr los -langsam.«

Ich ließ die Kupplung los und tuckerte geradeaus. Mein tanzender Scheinwerfer zeigte eine leichte Anhöhe in der Wüste, kümmerliche Kakteen vor mir .

»Nein. Langsamer, Jack.«

Ich nahm Gas weg. Jetzt rollten wir praktisch im Schritttempo. Ich gähnte. Es hätte nichts gebracht, sie zu fragen; sie war angespannt, konzentriert. Ich war bloß müde und erschlagen. Wir fuhren die Anhöhe hoch, bis der Wüstenboden wieder flach wurde, und dann neigte sich das Motorrad nach unten .

»Halt.«

Ich hielt.

Direkt vor uns brach der Boden jäh ab. Dahinter nichts als Schwärze.

»Ist das eine Klippe?«

»Nein. Bloß eine sehr hohe und steile Böschung.«

Ich ließ das Motorrad ganz langsam weiterrollen. Das Gelände fiel eindeutig ab. Bald waren wir am Rand, und ich konnte mir ein genaues Bild machen. Wir befanden uns auf dem gut fünf Meter hohen Ufer eines sehr breiten Flussbettes. Direkt unter mir sah ich glatt geschliffene Steine, ab und zu Felsbrok-ken und dürres Gestrüpp, bis zur rund fünfzig Meter entfernten gegenüberliegenden Seite des Flussbettes. Jenseits des anderen Ufers erstreckte sich die Wüste wieder flach.

»Jetzt verstehe ich«, sagte ich. »Der Schwarm ist gesprungen.«

»Ja«, sagte sie, »er ist geflogen. Und wir haben die Spur verloren.«

»Aber dann muss er irgendwo da unten gelandet sein«, sagte Bobby, in das Flussbett deutend.

»Vielleicht«, sagte ich. »Vielleicht auch nicht.«

Ich überlegte, dass wir einige Minuten brauchen würden, um einen sicheren Weg nach unten zu finden. Dann würden wir eine Weile zwischen den Büschen und Steinen suchen, bis wir wieder auf die Spur gestoßen waren. Das konnte Stunden dauern. Vielleicht würden wir sie gar nicht mehr ausmachen können. Von unserer erhöhten Position aus war die Weite der Wüste schon beängstigend.

Ich sagte: »Es könnte sein, dass der Schwarm im Flussbett gelandet ist. Oder unmittelbar am anderen Ufer. Oder eine Viertelmeile weiter.«

Mae ließ sich nicht entmutigen. »Bobby, du bleibst hier«, sagte sie. »Du markierst die Stelle, wo der Schwarm gesprungen ist. Jack und ich suchen uns einen Weg nach unten, gehen hinaus auf die Ebene und bewegen uns auf einer Geraden von Osten nach Westen, bis wir die Spur wieder aufgenommen haben. Früher oder später finden wir sie.«

»Einverstanden«, sagte Bobby. »Alles klar.«

»Einverstanden«, sagte ich. Warum nicht? Wir hatten nichts zu verlieren. Aber ich war nur wenig zuversichtlich, dass wir fündig werden würden.

Bobby beugte sich über sein ATV nach vorn. »Was ist das?«

»Was denn?«

»Ein Tier. Ich hab Augen aufleuchten sehen.«

»Wo?«

»In dem Busch da vorn.« Er deutete in die Mitte des Flussbettes.

Ich runzelte die Stirn. Wir hatten beide unsere Scheinwerfer die Böschung hinuntergerichtet. Wir beleuchteten einen recht großen Bereich. Ich sah keine Tiere.

»Da!«, sagte Mae.

»Ich sehe nichts.«

Sie streckte den Arm aus. »Es ist gerade hinter dem Wacholderbusch verschwunden. Siehst du den Busch, der aussieht wie eine Pyramide? Der mit den toten Ästen an einer Seite?«

»Ich sehe ihn«, sagte ich. »Aber ...« Ich sah noch immer kein Tier.

»Es bewegt sich von links nach rechts. Warte, gleich kommt es wieder zum Vorschein.«

Wir warteten, und dann sah ich zwei hellgrüne, funkelnde Punkte. Die sich dicht am Boden nach rechts bewegten. Ich sah etwas Blassweißes aufblitzen. Und ich wusste sofort, dass da etwas nicht stimmte.

Bobby ebenfalls. Er drehte seinen Lenker so, dass sein Scheinwerfer direkt die Stelle erhellte. Er nahm sein Fernglas.

»Das ist kein Tier ...«, sagte er.

Zwischen den niedrigen Büschen sahen wir noch mehr Weiß - wie weiße Haut. Aber wir sahen es immer nur aufblitzen. Und dann sah ich eine glatte, weiße Fläche, die, wie ich schok-kiert begriff, eine menschliche Hand war, die über den Boden schleifte. Eine Hand mit ausgestreckten Fingern. »Mein Gott«, sagte Bobby, das Fernglas an den Augen. »Was? Was ist das?«

»Da wird ein Körper entlanggezogen«, sagte er. Und dann fügte er mit einer merkwürdigen Stimme hinzu: »Es ist Rosie.«

6. Tag, 22.58 Uhr

Mae saß wieder hinter mir, als ich Gas gab und so lange am Rand der Uferböschung entlangfuhr, bis diese sich weniger schroff zum Flussbett hinneigte. Bobby blieb, wo er war, und behielt Rosies Leichnam im Auge. Wenig später hatte ich das Flussbett durchquert und steuerte jetzt zurück auf sein Licht auf der Anhöhe zu.

Mae sagte: »Nicht so schnell, Jack.«

Ich verlangsamte das Tempo, beugte mich über den Lenker, um den Boden vor mir besser sehen zu können. Plötzlich knatterte der Strahlungszähler wieder los.

»Hört sich gut an«, sagte ich.

Wir fuhren weiter. Jetzt waren wir direkt gegenüber von Bobby. Sein Scheinwerfer warf ein schwaches Licht auf den Boden um uns herum, fast wie Mondlicht. Ich winkte ihm zu, herunterzukommen. Er wendete sein Gefährt und fuhr in westliche Richtung los. Ohne das Licht seines Scheinwerfers war der Boden plötzlich dunkler, geheimnisvoller.

Und dann sahen wir Rosie.

Rosie Castro lag auf dem Rücken, den Kopf so geneigt, dass es aussah, als würde sie nach hinten schauen, mich direkt anschauen, die Augen aufgerissen, einen Arm mir entgegengestreckt, die blasse Hand geöffnet. Sie hatte einen flehenden -oder panischen - Ausdruck im Gesicht. Die Leichenstarre hatte bereits eingesetzt, und ihr Körper ruckte steif, während er sich über niedrige Sträucher und Kakteen bewegte.

Sie wurde weggeschleift - aber es war kein Tier zu sehen, das sie zog.

»Mach besser das Licht aus«, sagte Mae.

»Aber ich seh nicht, was sie von der Stelle bewegt ... unter ihr ist so was wie ein Schatten ...«

»Das ist kein Schatten«, sagte Mae. »Das sind sie.«

»Sie schleifen sie weg?«

Sie nickte. »Mach das Licht aus.«

Ich schaltete den Scheinwerfer aus. Wir standen im Dunkeln. Ich sagte: »Ich dachte, die Schwärme hätten nicht länger als drei Stunden Energie.«

»Das hat Ricky gesagt.«

»Dann hat er wieder gelogen?«

»Oder sie haben diese Beschränkung inzwischen überwunden.«

Die Vorstellung war beunruhigend. Wenn die Schwärme mittlerweile die Nacht hindurch Energie halten konnten, dann waren sie vielleicht aktiv, wenn wir ihr Versteck aufspürten. Ich hatte fest damit gerechnet, dass sie dann in sich zusammengefallen wären, die Partikel auf dem Boden verstreut. Ich hatte sozusagen vor, sie im Schlaf zu töten. Jetzt war damit zu rechnen, dass sie gar nicht schliefen.

Wir standen in der kühlen Nachtluft und dachten nach. Schließlich sagte Mae: »Sind diese Schwärme nicht nach dem Vorbild von Insektenverhalten programmiert worden?«

»Eigentlich nicht«, sagte ich. »Vorlage für die Programmierung war das Räuber-Beute-Muster. Aber weil der Schwarm eine Population von interagierenden Partikeln ist, wird er sich bis zu einem gewissen Grad wie jede Population interagieren-der Partikel verhalten, zum Beispiel wie Insekten. Warum?«

»Insekten können Pläne ausführen, die mehr Zeit in Anspruch nehmen, als überhaupt eine einzige Generation lebt. Zum Beispiel Nester bauen, für den Bau sind häufig viele Generationen erforderlich. Das ist doch so, oder?«

»Ich glaube schon .«

»Dann wäre doch denkbar, dass ein Schwarm den Leichnam eine Zeit lang trägt, und ein anderer macht dann weiter. Vielleicht waren bisher drei oder vier Schwärme beteiligt. Auf diese Weise muss keiner von ihnen nachts drei Stunden arbeiten.«

Diese Vorstellung gefiel mir nicht viel besser. »Das würde bedeuten, dass die Schwärme zusammenarbeiten«, sagte ich. »Es würde bedeuten, dass sie koordiniert sind.«

»Das sind sie doch inzwischen ganz offensichtlich.«

»Aber das ist nicht möglich«, antwortete ich ihr. »Sie verfügen nämlich nicht über die Fähigkeit, sich Signale zu geben.«

»Vor einigen Generationen war das noch nicht möglich«, sagte Mae. »Inzwischen schon. Denk an die V-Formation, als sie auf dich losgegangen sind. Sie waren koordiniert.«

Das stimmte. Ich hatte es in dem Augenblick bloß nicht begriffen. Und wie ich jetzt so in der nächtlichen Wüste stand, fragte ich mich, was ich vielleicht noch alles nicht begriffen hatte. Ich spähte angestrengt in die Dunkelheit und versuchte, etwas zu erkennen.

»Wo bringen sie sie hin?«, sagte ich.

Mae öffnete den Reißverschluss meines Rucksacks und nahm eine Nachtsichtbrille heraus. »Versuch's damit.«

Ich wollte ihr umgekehrt helfen, doch sie hatte schon geschickt ihren Rucksack abgenommen, öffnete ihn und holte ihre eigene Nachtsichtbrille hervor. Ihre Handgriffe waren flink, sicher.

Ich setzte mir die Brille auf, stellte den Riemen ein und klappte die Gläser nach unten über die Augen. Es war das neue Gen-4-Modell, und es zeigte Bilder in gedämpften Farben. Fast sofort sah ich Rosie in der Wüste. Ihr Körper verschwand gerade hinter Gestrüpp, während sie sich immer weiter entfernte.

»Also, wo bringen sie sie hin?«, sagte ich wieder. Noch während ich sprach, schwenkte ich die Brille höher und sah sofort, wo sie sie hinbrachten.

Aus einiger Entfernung erweckte es den Anschein eines natür-lichen Gebildes - ein dunkler Erdhügel, knapp fünf Meter breit und etwa zwei Meter hoch. Die Erosion hatte tiefe, vertikale Spalten in den Hügel geschnitten, sodass er ein wenig an ein riesiges, hochkant stehendes Zahnrad erinnerte. Er wirkte so natürlich, dass er leicht zu übersehen war.

Aber er war nicht natürlich. Und sein gemeißeltes Äußeres war nicht auf Erosion zurückzuführen. Im Gegenteil, was ich da vor mir hatte, war ein künstliches Gebilde, ähnlich den Nestern, die von afrikanischen Termiten oder anderen Insekten gebaut werden.

Mae hatte das zweite Nachtsichtgerät auf und beobachtete eine Weile schweigend, dann sagte sie: »Willst du mir jetzt erzählen, das da ist das Ergebnis von selbst organisiertem Verhalten? Das Verhalten, dieses Ding da zu bauen, ist von ganz allein entstanden?«

»Ja«, sagte ich. »Genau das ist passiert.«

»Kaum zu glauben.«

»Ich weiß.«

Mae war eine gute Biologin, aber sie war Primatenforscherin. Sie befasste sich mit kleinen Populationen hochintelligenter Tiere, die Dominanzhierarchien und Gruppenführer hatten. Ihrem Verständnis nach war komplexes Verhalten das Ergebnis von komplexer Intelligenz. Und sie konnte sich nur schwer vorstellen, wozu selbst organisiertes Verhalten innerhalb einer sehr großen Population von dummen Tieren fähig war.

Das war übrigens ein tief sitzendes menschliches Vorurteil: Menschen gingen davon aus, dass eine Gesellschaft eine zentrale Führung brauchte. Staaten hatten Regierungen. Unternehmen hatten ein Management. Schulen hatten Direktoren. Armeen hatten Generäle. Menschen glaubten gemeinhin, dass eine Gesellschaft ohne zentrale Führung im Chaos versinken würde und nichts Vernünftiges zu Stande brächte.

Davon ausgehend, war es nur schwer zu begreifen, dass extrem dumme Wesen mit einem Gehirn kleiner als ein Nadel-kopf Bauprojekte verwirklichen konnten, die komplizierter waren als alles, was der Mensch je geschaffen hatte. Aber so war es.

Afrikanische Termiten waren da ein klassisches Beispiel. Diese Insekten bauten regelrechte Wohnburgen von dreißig Metern Durchmesser mit Türmen, die sechs Meter hoch in die Luft ragten. Um diese Leistung richtig zu würdigen, musste man sich nur vorstellen, dass diese Bauten, wenn Termiten so groß wie Menschen wären, Wolkenkratzer von einer Meile Höhe und fünf Meilen Durchmesser wären. Und wie ein Wolkenkratzer hatte der Termitenhügel eine ausgeklügelte Innenarchitektur, die für frische Luft sorgte, überschüssiges CO2 und Hitze abführte und so fort. Im Innern des Baus befanden sich Gärten, wo die Nahrung wuchs, Gemächer für das königliche Paar und Platz für sage und schreibe zwei Millionen Termiten. Kein Hügel war genau wie der andere; jeder wurde entsprechend den Bedingungen und Vorteilen der jeweiligen Umgebung gebaut.

Und das alles gelang ohne Architekt, ohne Vorarbeiter, ohne zentrale Autorität. Es war auch kein Konstruktionsplan in den Termitengenen einprogrammiert. Die gigantischen Schöpfungen waren stattdessen das Ergebnis von verhältnismäßig einfachen Regeln der Termiten im Umgang miteinander. (Regeln wie: »Wenn du riechst, dass eine Termite hier war, leg ein Sandkügelchen an die Stelle.«) Und dennoch war das Ergebnis unbestreitbar komplexer als jedes menschliche Werk.

Was wir jetzt vor Augen hatten, war das neue Werk eines neuen Geschöpfes, und wieder war der Entstehungsprozess schwer vorstellbar. Wie konnte ein Schwarm überhaupt einen Hügel errichten? Doch allmählich wurde mir klar, dass es hier draußen in der Wüste müßig war, diese Frage zu stellen. Die Schwärme veränderten sich schnell, fast von Minute zu Minute. Der natürliche menschliche Impuls, es begreifen zu wollen, war Zeitverschwendung. Hatte man es endlich begriffen, war schon wieder alles anders.

Bobby kam mit seinem ATV herangerumpelt und schaltete auch seinen Scheinwerfer aus. Wir standen zu dritt unter den Sternen. Bobby fragte: »Was machen wir jetzt?«

»Rosie folgen«, sagte ich.

»Sieht so aus, als würde Rosie gleich in dem Hügel da verschwinden«, sagte er. »Und du meinst, wir sollen ihr nach?«

»Ja«, antwortete ich.

Auf Maes Vorschlag hin gingen wir das letzte Stück zu Fuß. Mit den Rucksäcken auf dem Rücken brauchten wir fast zehn Minuten, bis wir in der Nähe des Hügels waren. Etwa fünfzehn Meter davor blieben wir stehen. Ein widerlicher Geruch hing in der Luft, nach Fäulnis oder Verwesung. Er war so stark, dass sich mir der Magen umdrehte. Außerdem schien aus dem Innern des Hügels ein schwaches, grünes Leuchten zu dringen.

Bobby flüsterte: »Und da wollt ihr wirklich rein?«

»Noch nicht«, flüsterte Mae. Sie deutete zur Seite. Rosies Leichnam bewegte sich an der Flanke des Hügels hoch. Als sie den Rand erreichte, zeigten ihre steifen Beine einen Augenblick lang in die Luft. Dann kippte ihr Körper nach unten, und sie fiel ins Innere. Doch bevor sie ganz verschwand, hielt sie inne; einige Sekunden ragte ihr Kopf über den Rand hinaus, der Arm ausgestreckt, als würde sie nach Luft greifen. Dann rutschte sie langsam tiefer und war nicht mehr zu sehen.

Bobby schauderte.

Mae flüsterte: »Okay. Gehen wir.«

Sie setzte sich auf ihre übliche geräuschlose Weise in Bewegung. Ich versuchte, ihr zu folgen, so leise ich konnte. Unter Bobbys Schritten knirschte und knisterte es. Mae blieb stehen und warf ihm einen strengen Blick zu.

Bobby hob die Hände, als wollte er sagen: Was soll ich machen?

Sie flüsterte: »Pass auf, wo du hintrittst.«

Er flüsterte: »Tu ich doch.«

»Tust du nicht.«

»Es ist dunkel, ich seh nichts.«

»Weil du dir keine Mühe gibst.«

Ich konnte mich nicht entsinnen, dass Mae ihrem Ärger schon einmal so deutlich Luft gemacht hätte, aber wir standen jetzt alle unter Anspannung. Und der Gestank war entsetzlich. Mae drehte sich um und ging geräuschlos weiter. Bobby folgte, machte aber genauso viel Lärm wie zuvor. Nach einigen Schritten drehte Mae sich wieder um, hob eine Hand und signalisierte ihm zu bleiben, wo er war.

Er schüttelte heftig den Kopf. Er wollte offenbar nicht allein zurückbleiben.

Sie packte seine Schulter, zeigte entschlossen auf den Boden und flüsterte: »Du wartest hier.«

»Nein .«

Sie flüsterte: »Deinetwegen gehen wir alle noch drauf.«

Er flüsterte: »Ich bin leise, versprochen.«

Sie schüttelte den Kopf, zeigte auf den Boden. Setz dich.

Schließlich setzte sich Bobby.

Mae blickte mich an. Ich nickte. Wir gingen die letzten Schritte weiter. Wir waren jetzt gut sechs Meter vom Hügel entfernt. Der Geruch war fast unerträglich. Mir wurde schlecht; ich hatte Angst, mich übergeben zu müssen. Und aus dieser Nähe hörten wir jetzt auch das tiefe Trommeln. Mehr als alles andere erweckte dieses Geräusch in mir das Verlangen, einfach wegzulaufen. Aber Mae ging weiter.

Geduckt kletterten wir den Hügel hoch, und als wir den Rand erreichten, legten wir uns flach auf den Bauch. Ich konnte Maes Gesicht in dem grünen Leuchten sehen, das aus dem Innern drang. Aus irgendeinem Grund störte mich der Gestank nicht mehr. Wahrscheinlich war es die Angst.

Mae griff in die Seitentasche ihres Rucksacks und holte eine daumengroße Kamera an einem dünnen, ausziehbaren Stab hervor. Sie förderte einen winzigen LCD-Bildschirm zu Tage und legte ihn zwischen uns auf den Boden. Dann schob sie den Stab über den Rand.

Auf dem Bildschirm sahen wir einen grünen Innenraum mit glatten, welligen Wänden. Nichts schien sich zu bewegen. Sie drehte die Kamera mal hierhin, mal dorthin. Nichts als grüne Wände. Keine Spur von Rosie.

Mae blickte mich an, deutete auf ihre Augen. Möchtest du einen Blick riskieren?

Ich nickte.

Wir robbten uns behutsam vor, bis wir über den Rand schauen konnten.

Es war ganz anders, als ich erwartet hatte.

Der Hügel verengte bloß eine bestehende Öffnung, die gewaltig war - mindestens sechs Meter breit -, und vom Rand aus führte eine Schräge nach unten zu einem Loch im Felsen rechts von uns. Das grüne Licht kam aus diesem klaffenden Loch.

Was ich da sah, war der Eingang zu einer sehr großen Höhle. Oben vom Rand aus konnten wir nicht in die eigentliche Höhle blicken, aber das trommelnde Geräusch ließ darauf schließen, dass dort irgendetwas im Gange war. Mae fuhr den Teleskopstab ganz aus und senkte die Kamera vorsichtig hinab in das Loch. Gleich darauf konnten wir weiter in die Höhle schauen. Es war zweifellos eine natürliche Höhle, und sie war groß: schätzungsweise zwei Meter fünfzig hoch und drei Meter breit. Die Felswände waren blassweiß, und es sah aus, als wären sie mit der gleichen milchigen Substanz überzogen, mit der auch Rosie bedeckt gewesen war.

Und Rosies Leiche lag nur ein kurzes Stück hinter der Öffnung. Ihre Hand ragte hinter einer Biegung in der Felswand hervor. Aber wir konnten nicht sehen, was jenseits der Biegung war.

Mae signalisierte mir: Sollen wir runter?

Ich nickte langsam. Die Vorstellung behagte mir ganz und gar nicht, schließlich hatte ich keine Ahnung, was uns hinter der Biegung erwartete. Aber wir hatten keine andere Wahl.

Sie deutete nach hinten zu Bobby. Soll er mitkommen?

Ich schüttelte den Kopf. Er würde uns nicht helfen können.

Sie nickte und schälte sich gerade langsam aus ihrem Rucksack, ohne das geringste Geräusch, als sie plötzlich verharrte. Regelrecht erstarrte: Sie bewegte nicht einen Muskel.

Ich blickte auf den Bildschirm. Und ich erstarrte ebenfalls.

Eine Gestalt war um die Biegung gekommen und stand jetzt wachsam am Eingang der Höhle und sah sich um.

Es war Ricky.

Er benahm sich, als hätte er ein Geräusch gehört oder als wäre er aus einem anderen Grund beunruhigt. Die Videokamera ragte noch immer über den Rand des Hügels. Sie war ziemlich klein; ich wusste nicht, ob er sie sehen würde.

Ich blickte nervös auf den Bildschirm.

Die Kamera hatte keine gute Auflösung, und der Bildschirm war nur so groß wie meine Handfläche, trotzdem war die Gestalt unverkennbar Ricky. Ich verstand nicht, was er hier machte - oder wie er überhaupt hierher gekommen war. Dann kam ein zweiter Mann um die Biegung.

Auch das war Ricky.

Ich blickte Mae an, doch sie blieb weiterhin völlig reglos, wie eine Statue. Nur ihre Augen bewegten sich.

Ich schaute angestrengt auf den Bildschirm. Soweit ich es bei der Auflösung sagen konnte, waren die beiden Gestalten absolut identisch. Gleich gekleidet, gleiche Bewegungen, gleiche Gesten und gleiches Achselzucken. Die Gesichter waren nicht gut zu erkennen, aber ich hatte den Eindruck, dass die Gesichtszüge besser herauskamen.

Beide schienen die Kamera nicht zu bemerken.

Sie schauten zum Himmel und blickten dann eine Weile auf die Schräge, die zum Rand hochführte, dann drehten sie uns den Rücken zu und gingen wieder ins Innere der Höhle.

Mae bewegte sich noch immer nicht. Sie war schon fast eine Minute reglos und hatte die ganze Zeit nicht ein einziges Mal geblinzelt. Die Männer waren jetzt gegangen und ...

Eine weitere Gestalt kam um die Ecke. Es war David Brooks. Er bewegte sich ungelenk, zunächst steif, doch er wurde zunehmend geschmeidiger. Mir war, als würde ich einem Puppenspieler zuschauen, der seine Bewegungen vervollkommnet, die Figur immer lebensechter agieren lässt. Dann wurde David zu Ricky. Und dann wieder zu David. Und die David-Gestalt drehte sich um und ging.

Mae wartete noch immer. Sie wartete volle zwei Minuten, und dann zog sie schließlich die Kamera zurück. Sie wies mit einem Daumen nach hinten, bedeutete mir, dass wir gehen sollten. Gemeinsam krochen wir vom Rand weg, den Hügel hinab und zogen uns dann leise in die nächtliche Wüste zurück.

Wir sammelten uns gut hundert Meter westlich vom Hügel, in der Nähe unserer Fahrzeuge. Mae wühlte in ihrem Rucksack; sie holte ein Klemmbrett mit einem Filzstift hervor, schaltete ihre Taschenlampe an und fing an zu zeichnen.

»Das erwartet uns da unten«, sagte sie. »Die Höhle hat so eine Öffnung, hast du ja gesehen. Hinter der Biegung ist im Boden ein großes Loch, und die Höhle führt rund hundert Meter spiralförmig nach unten. Dann gelangt man in einen großen Raum, der an die dreißig Meter hoch ist und etwa sechzig Meter breit. Ein einziger großer Raum, mehr nicht. Es führen keine Gänge davon ab, zumindest hab ich keinen gesehen.«

»Gesehen?«

»Ich war da«, sagte sie nickend.

»Wann?«

»Vor zwei Wochen. Als wir uns zum ersten Mal auf die Suche nach dem Versteck des Schwarms gemacht haben. Ich hab die Höhle entdeckt und bin am Tag hinein. Ich hab nichts gesehen, was auf einen Schwarm hingedeutet hätte.« Sie erzählte, dass die Höhle voller Fledermäuse gewesen sei, an der ganzen Decke hätten sie gehangen, dicht aneinander, eine einzige rosa, wimmelnde Masse, bis zum Eingang hin.

»Igitt«, sagte Bobby. »Ich hasse Fledermäuse.«

»Vorhin hab ich da unten aber keine gesehen.«

»Meinst du, sie sind vertrieben worden?«

»Vermutlich gefressen.«

»Gott, Leute«, sagte Bobby und schüttelte den Kopf. »Ich bin bloß Programmierer. Ich glaube nicht, dass ich das schaffe. Ich glaube nicht, dass ich mich da runtertraue.«

Mae achtete nicht auf ihn. Sie sagte zu mir: »Wenn wir reingehen, müssen wir Thermit zünden. Und zwar die ganze Zeit, bis wir unten im Raum sind. Ich weiß nicht, ob wir genug Thermit haben.«

»Vielleicht nicht«, sagte ich. Mir machte etwas anderes Sorge. »Wir verschwenden hier nur unsere Zeit, wenn wir nicht alle Schwärme vernichten und alle Assembler, die sie herstellen. Richtig?«

Sie nickten beide.

»Ich weiß nicht, ob das möglich ist«, sagte ich. »Ich hab gedacht, die Schwärme hätten nachts keine Energie. Ich hab gedacht, wir könnten sie auf dem Boden zerstören. Aber sie haben Energie - zumindest einige. Und wenn uns nur einer entwischt, wenn er aus der Höhle rauskommt ...« Ich zuckte die Achseln. »Dann war das alles hier bloß Zeitverschwendung.«

»Stimmt.« Bobby nickte. »Du hast Recht. Dann wär's umsonst gewesen.«

Mae sagte: »Wir müssen sie irgendwie in der Höhle einsperren.«

»Wie soll das gehen?«, fragte Bobby. »Ich meine, sie können doch einfach rausfliegen, wann immer sie wollen.«

Mae sagte: »Vielleicht gibt es doch eine Möglichkeit.« Wieder kramte sie in ihrem Rucksack herum, suchte irgendetwas. »Aber erst mal verteilen wir drei uns besser.«

»Wieso?«, fragte Bobby beunruhigt.

»Tu's einfach«, sagte Mae. »Los, geh schon.«

Ich stellte die Schnallen an meinem Rucksack enger, damit er nicht klapperte. Ich setzte mir die Nachtsichtbrille auf die Stirn und ging los. Ich hatte etwa die Hälfte des Weges bis zum Hügel zurückgelegt, als ich eine dunkle Gestalt hinaus in die Nacht klettern sah.

Ich ließ mich, so leise ich konnte, zu Boden fallen. Ich befand mich an einer Stelle mit hohen Salbeibüschen und war daher einigermaßen gut versteckt. Ich schaute über die Schulter, aber ich konnte weder Mae noch Bobby sehen; auch sie hatten sich fallen lassen. Ich wusste nicht, ob sie sich schon getrennt hatten. Vorsichtig bog ich eine Pflanze vor mir zur Seite und blickte zum Hügel hinauf.

Die Beine der Gestalt hoben sich gegen das schwache, grüne Leuchten ab. Der Oberkörper war schwarz vor den Sternen am Himmel. Ich klappte die Brille runter und wartete einen Moment ab, während es blau flackerte, und dann kam das Bild.

Diesmal war es Rosie. Sie ging umher und blickte in alle Richtungen, der Körper wachsam und argwöhnisch. Nur, sie bewegte sich nicht wie Rosie, sie wirkte eher wie ein Mann. Plötzlich veränderte sich die Silhouette und wurde zu Ricky. Und nun bewegte sie sich wie Ricky.

Die Gestalt duckte sich und schien über den Salbei hinweg-zuspähen. Ich fragte mich, warum sie die Höhle verlassen hatte. Auf die Antwort musste ich nicht lange warten.

Hinter der Gestalt tauchte ein weißes Licht am westlichen Horizont auf. Es wurde rasch heller, und gleich darauf hörte ich das Dröhnen von Rotorblättern. Das musste Julia sein, dachte ich. Ich fragte mich, was denn so dringend sein mochte, dass sie gegen den Rat der Ärzte das Krankenhaus verlassen hatte, um mitten in der Nacht herzufliegen.

Als der Hubschrauber näher kam, schaltete er seine Suchscheinwerfer an. Ich sah den blauweißen Lichtkreis über den Boden auf uns zu gleiten. Auch die Ricky-Gestalt sah zu, verschwand dann außer Sichtweite.

Und dann dröhnte der Hubschrauber über mir, blendete mich einen Moment mit dem Halogenlicht. Sofort legte er sich scharf in die Kurve und kreiste ein Stück zurück.

Was zum Teufel sollte das?

Der Hubschrauber kam in einem langsamen Bogen wieder, flog über den Hügel, hielt aber erst an, als er direkt über meinem Versteck war. Das blaue Licht erfasste mich. Ich rollte mich auf den Rücken und winkte dem Hubschrauber zu, zeigte wiederholt in Richtung Labor. Mit den Lippen formte ich »Weg!« und machte eine entsprechende Geste.

Der Hubschrauber senkte sich, und einen Moment dachte ich, er wollte direkt neben mir landen. Dann drehte er jäh ab und flog nach Süden in Richtung Landeplatz. Der Klang wurde schwächer.

Ich hielt es für besser, rasch meine Position zu verändern. Ich ging auf die Knie und robbte dreißig Meter nach links. Dann ließ ich mich fallen.

Als ich wieder zum Hügel schaute, sah ich drei, nein, vier Gestalten aus der Höhle kommen. Sie trennten sich, bewegten sich jeweils zu einem anderen Teil des Hügels. Sie sahen alle aus wie Ricky. Ich beobachtete, wie sie den Hügel hinabkamen und auf die Büsche zusteuerten. Mein Herz hämmerte mir in der Brust. Eine der Gestalten kam in meine Richtung. Sie näherte sich immer mehr und schwenkte dann nach rechts ab, ging auf die Stelle zu, wo ich vorher gewesen war. Als sie mein letztes Versteck erreicht hatte, blieb sie stehen und drehte sich in alle Richtungen.

Sie war wirklich nicht weit von mir entfernt. Durch die Nachtsichtbrille konnte ich sehen, dass diese neue Ricky-Gestalt ein vollständiges Gesicht hatte und dass die Kleidung um einiges detailreicher abgebildet war. Außerdem bewegte sich die Gestalt so, als hätte sie tatsächlich ein Körpergewicht. Vielleicht bildete ich mir das nur ein, aber der Schwarm schien an Masse zugenommen zu haben und wog jetzt gut fünfzig Pfund, vielleicht mehr. Vielleicht sogar das Doppelte. Falls ja, dann hatte der Schwarm nun genug Masse, um mir mit physischer Wucht einen Stoß zu versetzen. Mich sogar zu Boden zu reißen.

Durch die Brille sah ich, dass die Augen der Gestalt sich bewegten und blinzelten. Die Oberfläche des Gesichts hatte jetzt die Textur von Haut. Das Haar schien aus einzelnen Strähnen zu bestehen. Die Lippen bewegten sich, die Zunge leckte nervös. Alles in diesem Gesicht hatte verblüffende Ähnlichkeit mit Ricky - beängstigende Ähnlichkeit. Als der Kopf sich in meine Richtung drehte, hatte ich das Gefühl, dass Ricky mich direkt anblickte.

Und so war es wohl auch, denn die Gestalt setzte sich in Bewegung und kam auf mich zu.

Ich saß in der Falle. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Damit hatte ich nicht gerechnet; ich hatte keinen Schutz, nichts, womit ich mich wehren konnte. Ich konnte natürlich die Beine in die Hand nehmen, aber wohin hätte ich rennen sollen? Um mich herum war meilenweit nichts als Wüste, und die Schwärme würden mich verfolgen. In ein paar Augenblicken wäre ich .

Dröhnend kam der Hubschrauber wieder auf uns zu. Die Ricky-Gestalt blickte sich nach ihm um, machte dann kehrt und floh, flog regelrecht über den Boden, ohne sich noch die Mühe zu machen, die Beine und Füße zu animieren. Es war ein unheimlicher Anblick, wie diese menschliche Nachbildung plötzlich über die Wüste schwebte.

Aber auch die anderen drei Ricky-Gestalten rannten jetzt. Sie rannten, so schnell sie konnten, und sie wirkten eindeutig panisch. Hatten die Schwärme Angst vor dem Hubschrauber? Es sah ganz danach aus. Und während ich sie beobachtete, begriff ich auch warum. Die Schwärme waren zwar jetzt schwerer und fester, aber gegen starken Wind konnten sie nach wie vor nichts ausrichten. Der Hubschrauber war gut dreißig Meter hoch in der Luft, aber der Fallstrom war so stark, dass er die laufenden Gestalten verformte, sie teilweise flach drückte, während sie flohen. Es sah aus, als würde mit dem Hammer auf sie eingeschlagen.

Die Gestalten verschwanden in der Höhle.

Ich sah Mae. Sie stand im Flussbett und sprach über ihr Funkgerät mit dem Hubschrauber. Sie brauchte das Funkgerät also tatsächlich. Sie rief mir zu: »Los geht's!« und kam auf mich zugelaufen. Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, dass Bobby vom Hügel weglief, zurück zu seinem ATV. Aber es war keine Zeit, darüber nachzudenken. Der Hubschrauber schwebte jetzt direkt über dem Hügel. Sand wirbelte auf, brannte mir in den Augen.

Dann war Mae auch schon neben mir. Wir nahmen unsere Nachtsichtbrillen ab und zogen uns die Sauerstoffmasken über. Mae drehte mich um und öffnete das Tankventil auf meinem Rücken. Ich machte das Gleiche bei ihr. Dann setzten wir die Nachtsichtbrillen wieder auf. Jede Menge Teile klimperten und klapperten jetzt um mein Gesicht herum. Mae klemmte eine Halogentaschenlampe an meinen Gürtel und dann eine an ihren. Sie beugte sich zu mir vor und rief: »Alles klar?«

»Alles klar!«: »Okay, gehen wir!«

Zum Nachdenken blieb keine Zeit. Das war auch besser so. Der Wind vom Hubschrauber toste mir in den Ohren. Zusammen krochen wir den Hang des Hügels hoch, mit flatternder Kleidung. Wir erreichten den Rand, der im dichten, wirbelnden Sand kaum noch zu erkennen war. Wir konnten nicht sehen, was dahinter war. Wir konnten nicht sehen, was unten war. Mae nahm meine Hand, und wir sprangen.

6. Tag, 23.22 Uhr

Ich landete auf lockerem Geröll und stolperte halb rutschend auf den Höhleneingang zu. Über uns dröhnten laut die Rotorblätter des Hubschraubers. Mae war direkt neben mir, aber ich konnte sie in dem dichten Sand nicht sehen. Von den Ricky-Gestalten fehlte jede Spur. Am Höhleneingang hielten wir an. Mae holte die Thermitkapseln heraus. Sie gab mir die Magnesiumzünder und warf mir ein Plastikfeuerzeug zu. Ich dachte: Damit zünden wir die Dinger an? Ihr Gesicht war schon zum Teil hinter der beschlagenen Maske verschwunden. Die Nachtsichtbrille verbarg ihre Augen.

Sie deutete auf das Innere der Höhle. Ich nickte.

Sie tippte mir auf die Schulter, zeigte auf meine Brille. Ich verstand nicht, also griff sie neben meine Wange und betätigte einen Schalter.

»... mich jetzt?«, sagte sie.

»Ja, ich hör dich.«

»Okay, dann los.«

Wir drangen in die Höhle ein. Das grüne Leuchten war im dichten Staub verschwunden. Wir hatten bloß das Infrarotlicht, das auf unsere Nachtsichtbrillen montiert war. Wir sahen keine Gestalten. Wir hörten nichts außer dem Flattern des Hubschraubers. Aber je tiefer wir in die Höhle vorstießen, desto schwächer wurde das Geräusch.

Und mit dem Geräusch ließ auch der Wind nach.

Mae war konzentriert. Sie sagte: »Bobby? Hörst du mich?«

»Ja, ich höre dich.«

»Mach, dass du herkommst.«

»Ich versuch's ja ...«

»Versuchen reicht nicht. Komm rein, Bobby.«

Ich schüttelte den Kopf. Wie ich Bobby Lembeck kannte, würde er niemals in dieses Loch steigen. Wir kamen um die Biegung und sahen nichts als Staub in der Luft und die diffusen Konturen von Höhlenwänden. Hier waren die Wände anscheinend glatt, boten keinerlei Möglichkeit für ein Versteck. Dann sah ich aus der Dämmerung vor mir Ricky auftauchen. Er zeigte keinerlei Regung, ging einfach auf uns zu. Dann eine weitere Gestalt von links und noch eine. Die drei bildeten eine Linie. Sie kamen uns mit forschem Schritt entgegen, die Gesichter identisch und ausdruckslos.

»Erste Lektion«, sagte Mae und hielt mir eine Thermitkapsel hin.

»Hoffen wir, sie lernen sie nicht«, sagte ich und hielt das Feuerzeug an die Zündschnur. Sie sprühte zischend weiß glühende Funken. Mae warf die Kapsel. Sie landete knapp vor der herannahenden Gruppe. Sie achteten nicht darauf, starrten einfach weiter auf uns.

Mae sagte: »Countdown drei ... zwei ... eins ... und Dek-kung.«

Ich drehte mich weg, duckte den Kopf unter den Arm, als auch schon ein blendend weißer Ball den Tunnel erhellte. Obwohl ich die Augen geschlossen hatte, war es so grell, dass ich Punkte sah, als ich die Augen wieder öffnete. Ich drehte mich um.

Mae ging schon weiter. Der Staub in der Luft war eine Spur dunkler gefärbt. Von den drei Gestalten war nichts zu sehen.

»Sind sie abgehauen?«

»Nein. Verdampft«, sagte sie. Sie klang zufrieden.

»Neue Gegebenheiten«, sagte ich. Ich fasste Mut. Falls die Programmierannahmen noch immer zutrafen, dann waren die Schwärme schwach, wenn sie auf völlig unbekannte Situationen reagieren mussten. Mit der Zeit würden sie lernen, mit der Zeit würden sie Strategien entwickeln, um mit den neuen Bedingungen umzugehen. Aber zu Anfang wären ihre Reaktionen desorganisiert, chaotisch. Das war eine Schwäche von verteilter Intelligenz. Sie war stark, und sie war flexibel, aber sie reagierte langsam auf noch nie da gewesene Umstände.

»Hoffen wir's«, sagte Mae.

Wir erreichten das klaffende Loch im Höhlenboden, von dem Mae erzählt hatte. Durch die Nachtsichtbrille sah ich eine Art abgeschrägte Rampe. Vier oder fünf Gestalten kamen auf uns zu, und hinter ihnen schienen noch mehr zu sein. Sie sahen alle aus wie Ricky, aber viele von ihnen waren nicht so gut ausgeformt. Und die hinteren waren bloß wirbelnde Wolken. Das trommelnde Geräusch wurde lauter.

»Zweite Lektion.« Mae hielt mir eine Kapsel hin. Sie zischte weiß, als ich sie entzündete. Mae rollte sie vorsichtig die Rampe hinunter. Die Gestalten zögerten, als sie sahen, was auf sie zukam.

»Verdammt«, sagte ich, doch dann musste ich mich schon wegdrehen und meine Augen vor dem Explosionsblitz abschirmen. Donnernd breitete sich das Gas im engen Gang aus. Ich spürte sengende Hitze an meinem Rücken auflodern. Als ich wieder hinsah, waren die meisten Schwärme unter uns verschwunden. Aber ein paar waren zurückgewichen, offenbar unversehrt.

Sie lernten.

Schnell.

»Nächste Lektion«, sagte Mae und hielt mir diesmal zwei Kapseln hin. Ich zündete beide an, und Mae rollte eine die Rampe hinunter und warf die andere ein Stück weiter. Die Explosionen krachten gleichzeitig, und ein gewaltiger Schwall heiße Luft brauste auf uns zu. Mein Hemd fing Feuer. Mae löschte es, indem sie mit der flachen Hand rasch auf mich einschlug.

Als wir wieder hinschauten, waren keine Gestalten mehr zu sehen und auch keine Schwärme.

Wir gingen die Rampe hinunter, immer tiefer in die Höhle.

Wir hatten mit zwanzig Thermitkapseln angefangen. Jetzt hatten wir noch sechzehn, und wir waren erst ein kurzes Stück die Rampe hinunter, die in den großen Raum am Ende führte. Mae ging jetzt sehr schnell - ich hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten -, aber ihre Instinkte waren gut. Die wenigen Schwärme, die vor uns auftauchten, wichen rasch zurück.

Wir scheuchten sie vor uns her in den unteren Raum.

Mae sagte: »Bobby, wo bleibst du?«

Das Headset knisterte. »... bin - jetzt ...«

»Bobby, komm endlich, verdammt.«

Doch die ganze Zeit drangen wir immer tiefer in die Höhle ein, und bald hörten wir nur noch statisches Rauschen. Hier unten hing Staub in der Luft, der die Infrarotstrahlen diffus machte. Die Wände und den Boden unmittelbar vor uns konnten wir deutlich sehen, aber dahinter war es stockfinster. Die Dunkelheit und das eingeschränkte Gesichtsfeld waren beängstigend. Um zu wissen, was rechts und links von mir war, drehte ich ständig den Kopf und schwenkte den Lichtstrahl hin und her. Ich hatte jetzt wieder den Fäulnisgeruch in der Nase, scharf und widerlich.

Wir erreichten das Ende der langen Rampe. Mae blieb ruhig; als ein halbes Dutzend Schwärme vor uns aufschwirrte, hielt sie mir wieder eine Kapsel hin. Bevor ich sie anzünden konnte, zogen die Schwärme sich zurück. Mae rückte sofort nach.

»Die reinste Löwenbändigung«, sagte sie.

»Bisher«, sagte ich.

Ich wusste nicht, wie lange wir das so durchhalten konnten. Die Höhle war groß, viel größer, als ich sie mir vorgestellt hatte. Sechzehn Kapseln würden doch niemals ausreichen. Ich fragte mich, ob Mae sich auch Sorgen machte. Sie erweckte nicht den Eindruck. Aber wahrscheinlich ließ sie es sich nicht anmerken.

Irgendetwas knirschte unter meinem Fuß. Ich blickte nach unten und sah, dass der Boden mit tausenden winzigen, zarten, gelben Knochen übersät war. Wie Vogelknochen. Doch das da waren Fledermausknochen. Mae hatte Recht gehabt: Sie waren alle gefressen worden.

In der oberen Ecke meines Nachtsichtbildes blinkte jetzt ein rotes Licht. Es war irgendeine Warnanzeige, vermutlich für die Batterie. »Mae ...«, setzte ich an. Dann ging das rote Licht aus, so plötzlich, wie es angegangen war.

»Was ist?«, sagte sie. »Was ist los?«

»Schon gut.«

Und dann endlich kamen wir in den großen Raum - es gab nur keinen großen Raum, das heißt, nicht mehr. Er war jetzt vom Boden bis zur Decke mit dunklen Kugeln gefüllt, die einen Durchmesser von über einem halben Meter hatten und mit stacheligen Vorsprüngen gespickt waren. Sie sahen aus wie überdimensionale Seeigel. Sie waren in großen Trauben geschichtet. Die Anordnung war methodisch.

Mae sagte: »Hoffentlich ist das nicht das, was ich fürchte.« Ihre Stimme war ruhig, distanziert. Fast wissenschaftlich interessiert.

»Ich glaube doch«, sagte ich. Wenn mich nicht alles täuschte, waren diese stacheligen Gebilde eine organische Version der Produktionsanlage von Xymos. »So vermehren sie sich.« Ich trat vor.

»Ich weiß nicht, ob wir reingehen sollten ...«, sagte sie.

»Wir müssen, Mae. Sieh es dir doch an: Es ist geordnet.«

»Glaubst du, es gibt ein Zentrum?«

»Vielleicht.« Und falls ja, wollte ich Thermit draufwerfen. Ich ging weiter.

Es war unheimlich, zwischen diesen Trauben hindurchzugehen. Zähe, schleimige Flüssigkeit tropfte von den Spitzen der Stacheln. Und die Kugeln schienen mit einer Art festem Gel beschichtet zu sein, das bebte, sodass es aussah, als würden sich die Gebilde bewegen, als wären sie lebendig. Ich blieb kurz stehen, um es mir genauer anzuschauen. Und da erkannte ich, dass die Oberfläche der Kugeln tatsächlich lebendig war; denn in dem Gel wimmelte es nur so von kriechenden, schwarzen Würmern. »Mein Gott .«

»Die waren vorher schon da«, sagte Mae ruhig.

»Was?«

»Die Würmer. Sie haben in der Guanoschicht auf dem Höhlenboden gelebt, als ich das erste Mal hier war. Sie fressen organisches Material und scheiden stark phosphorhaltige Stoffe aus.«

»Und jetzt sind sie an der Schwarmsynthese beteiligt«, sagte ich. »Es hat nicht lange gedauert, bloß ein paar Tage. Aktive Koevolution. Die Kugeln versorgen die Würmer vermutlich mit Nahrung und sammeln irgendwie deren Ausscheidungen.«

»Oder sie sammeln die Würmer selbst«, sagte Mae trocken.

»Ja. Vielleicht.« Es war durchaus denkbar. Ameisen züchteten Blattläuse, wie wir Kühe züchteten. Andere Insekten bauten Pilze als Nahrungsquelle in Gärten an.

Wir traten tiefer in den Raum. Die Schwärme wirbelten an allen Seiten um uns herum, aber sie blieben auf Distanz. Wahrscheinlich ein weiteres noch nie da gewesenes Ereignis, dachte ich: Eindringlinge in ihrem Nest. Sie wussten noch nicht, was sie tun sollten. Ich bewegte mich vorsichtig; unter meinen Füßen wurde es stellenweise immer rutschiger. Der Boden war mit einer dicken Dreckschicht bedeckt, die an einigen Stellen streifig grün leuchtete. Die Streifen schienen nach innen zu laufen, zum Zentrum hin. Ich hatte das Gefühl, dass der Boden ein leichtes Gefälle hatte.

»Wie weit noch?«, sagte Mae. Sie klang noch immer ruhig, aber ich glaubte ihr diese Ruhe nicht. Ich war es auch nicht; als ich nach hinten blickte, konnte ich den Eingang des Raumes nicht mehr sehen, weil er von den Kugeln verdeckt wurde.

Und auf einmal waren wir im Zentrum, denn die Trauben liefen in einem offenen Raum aus, und direkt vor uns sah ich etwas, das so aussah wie eine Miniaturausgabe des Hügels draußen. Er war etwas über einen Meter hoch und kreisrund, und ringsherum ragten flache flügelartige Ausbuchtungen nach außen. Auch er war grün gestreift. Blasser Rauch stieg von den Flügeln auf.

Wir traten näher.

»Es ist heiß«, sagte Mae. Und das stimmte. Die Hitze war extrem; deshalb qualmte es. Mae sagte: »Was meinst du, was da drin ist?«

Ich blickte auf den Boden. Ich sah, dass die grünen Streifen von den Kugeln zu dem Hügel in der Mitte führten. Ich sagte: »Assembler.« Die stacheligen Seeigel generierten organisches Rohmaterial. Es floss ins Zentrum, wo die Assembler die endgültigen Moleküle produzierten. Dort fand die Endmontage statt.

»Dann ist das da das Herz«, sagte Mae.

»Ja. Könnte man so sagen.«

Die Schwärme waren jetzt um uns herum, verharrten hinten bei den Trauben. Offenbar würden sie nicht ins Zentrum kommen. Aber sie waren überall, warteten auf uns.

»Wie viele willst du?«, fragte Mae leise, während sie das Thermit aus ihrem Rucksack nahm.

Ich sah mir all die Schwärme an.

»Fünf für hier«, sagte ich. »Den Rest brauchen wir, um rauszukommen.«

»Wir können nicht fünf auf einmal anzünden .«

»Schon gut.« Ich streckte meine Hand aus. »Gib sie mir.«

»Aber Jack .«

»Mach schon, Mae.«

Sie gab mir fünf Kapseln. Ich ging näher an den Hügel heran und warf die Kapseln unangezündet hinein. Die Schwärme drum herum summten, kamen aber noch immer nicht auf uns zu.

»Okay«, sagte Mae. Sie verstand sofort, was ich vorhatte. Sie holte noch mehr Kapseln heraus.

»Jetzt vier«, sagte ich mit Blick auf die Schwärme. Sie waren unruhig, bewegten sich hin und her. Ich wusste nicht, wie lange sie noch blieben, wo sie waren. »Drei für dich, eine für mich. Du kümmerst dich um die Schwärme.«

»Alles klar ...« Sie gab mir eine Kapsel. Ich zündete die anderen für sie an. Sie warf sie in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Die Schwärme tanzten davon.

Sie zählte: »Drei ... zwei ... eins ... jetzt!«

Wir kauerten uns hin, duckten uns vor der grellen Lichtexplosion. Ich hörte ein Knacken; als ich wieder hinsah, brachen einige von den Kugelgebilden auf und fielen auseinander. Stacheln rollten über den Boden. Ohne zu zögern, entzündete ich die nächste Kapsel, und als sie weiße Funken spie, warf ich sie in den Hügel.

»Raus hier!«

Wir liefen Richtung Eingang. Vor uns zerbröckelten die Kugeln. Mae sprang leichtfüßig über die fallenden Stacheln und lief weiter. Ich folgte ihr, zählte im Geiste . drei . zwei . eins .

Jetzt.

Eine Art schrilles Kreischen ertönte, heißes Gas brauste heran, eine Detonation krachte so laut, dass es mir in den Ohren stach. Die Druckwelle schleuderte mich zu Boden, und ich rutschte im Schlamm weiter. Ich spürte die Stacheln am ganzen Körper. Meine Nachtsichtbrille war heruntergefallen, und rings um mich herum war alles schwarz. Schwarz. Ich konnte nicht das Geringste sehen. Ich wischte mir den Schlamm aus dem Gesicht. Ich wollte aufstehen, rutschte aus und fiel wieder hin.

»Mae«, sagte ich. »Mae ...«

»Es hat eine Explosion gegeben«, sagte sie mit überraschter Stimme.

»Mae, wo bist du? Ich kann nichts sehen.«

Es war stockfinster. Ich konnte nicht mal meine Hand vor Augen erkennen. Ich steckte tief unten in irgendeiner ver-dammten Höhle voller stacheliger Dinger, und ich konnte nichts mehr ausmachen. Ich kämpfte gegen die Panik an.

»Alles in Ordnung«, sagte Mae. Ich spürte in der Dunkelheit, wie sie meinen Arm packte. Offenbar konnte sie mich sehen. Sie sagte: »Die Taschenlampe ist an deinem Gürtel.« Sie führte meine Hand.

Ich tastete im Dunkeln nach der Halterung. Ich fand sie, konnte sie aber nicht öffnen. Es war ein Federmechanismus, und meine Finger rutschten immer wieder ab. Dann hörte ich ein trommelndes Geräusch, zuerst leise, dann wurde es langsam lauter. Meine Hände schwitzten. Endlich öffnete sich die Halterung, und mit einem Seufzer der Erleichterung knipste ich die Taschenlampe an. Ich sah Mae in dem kalten Halogenstrahl; sie hatte noch ihre Nachtsichtbrille auf und drehte den Kopf weg. Ich leuchtete in der Höhle herum. Sie hatte sich durch die Explosion verändert. Viele von den Kugeltrauben waren auseinander gebrochen, und der Boden war mit Stacheln übersät. Irgendeine Substanz auf dem Boden hatte sich entzündet. Beißende, stinkende Rauchschwaden stiegen auf. Die Luft war trüb und dunkel. Ich machte einen Schritt nach hinten und trat auf etwas Matschiges.

Ich blickte nach unten und sah David Brooks' T-Shirt. Dann wurde mir klar, dass ich auf den Überresten von Davids Torso stand, der sich in eine Art weißliches Gelee verwandelt hatte. Mein Fuß war mitten in seinem Bauch. Sein Brustkasten schabte über mein Schienbein, hinterließ einen weißen Streifen auf meiner Hose. Ich blickte hinter mich und sah Davids Gesicht, gespenstisch weiß und ausgehöhlt, die Gesichtszüge weggefressen, sodass er so konturenlos aussah wie die Gesichter der Schwärme. Schlagartig wurde mir übel, und ich schmeckte Galle im Mund.

»Komm«, sagte Mae, packte meinen Arm und drückte ihn fest. »Komm weiter, Jack.«

Es gab ein saugendes Geräusch, als ich meinen Fuß aus dem Körper zog. Ich streifte mit dem Schuh über den Boden, um ihn von der weißen Schmiere zu säubern. Ich konnte nicht mehr denken, ich kämpfte bloß noch gegen den Ekel und das überwältigende Grauen an. Ich wollte weglaufen. Mae sprach auf mich ein, aber ich hörte sie nicht. Ich sah die Höhle um mich herum nur noch verschwommen und nahm bloß flüchtig wahr, dass die Schwärme überall um uns herum auftauchten, Schwarm um Schwarm um Schwarm. Es war ein einziges Gewimmel.

»Ich brauche deine Hilfe, Jack«, sagte Mae und hielt mir vier Kapseln hin. Mit der Taschenlampe hantierend, gelang es mir irgendwie, die Kapseln anzuzünden, und Mae schleuderte sie in alle Richtungen. Ich warf die Hände vor die Augen, als die heißen Kugeln um mich herum explodierten. Als ich wieder hinsah, waren die Schwärme verschwunden. Doch gleich darauf tauchten sie erneut auf. Erst ein Schwarm, dann drei, dann sechs, dann zehn - und dann so viele, dass ich sie nicht mehr zählen konnte. Mit wütendem Summen flogen sie von allen Seiten auf uns zu.

»Wie viele Kapseln haben wir noch?«, fragte ich.

»Acht.«

Ich war mir sicher, dass wir es nicht schaffen würden. Wir waren zu tief in der Höhle. Wir würden niemals rauskommen. Ich hatte keine Ahnung, wie viele Schwärme um uns herum waren - mein Halogenstrahl zuckte über eine ganze Armee von ihnen, wie es aussah.

»Jack . «, sagte Mae und hielt mir ihre Hand hin. Sie gab anscheinend nie auf. Ich zündete drei weitere Kapseln an, und Mae warf sie und bewegte sich dabei zurück Richtung Eingang. Ich blieb dicht bei ihr, aber ich wusste, dass unsere Lage aussichtslos war. Jede Detonation scheuchte die Schwärme kurz auseinander. Dann gruppierten sie sich rasch neu. Es waren viel zu viele.

»Jack.« Noch mehr Thermit in ihren Händen.

Jetzt konnte ich den Eingang des Raumes sehen, nur noch wenige Schritte. Meine Augen tränten vom beißenden Rauch. Mein Halogenlicht schnitt nur noch als schmaler Strahl durch den Staub. Die Luft wurde trüber und trüber.

Eine letzte Serie von weiß glühenden Detonationen, und wir waren am Eingang. Ich sah die Rampe nach oben. Ich glaubte, dass wir es niemals bis draußen schaffen würden. Aber mein Verstand war ausgeschaltet, ich reagierte nur noch.

»Wie viele noch?«, fragte ich.

Mae gab keine Antwort. Irgendwo über uns hörte ich das Dröhnen eines Motors. Ich blickte hoch und sah weiter oben in der Höhle weißes Licht schwanken. Das Dröhnen wurde sehr laut - ich hörte einen Motor aufheulen -, und dann tauchte das ATV an der Rampe auf. Bobby war da oben und schrie: »Los, rauuuusss!«

Mae drehte sich um und lief die Rampe hoch, und ich hastete hinter ihr her. Undeutlich nahm ich wahr, dass Bobby irgendetwas entzündete, was orangerot aufflammte, und dann drückte Mae mich gegen die Wand, als das fahrerlose ATV die Rampe heruntergedonnert kam, auf den großen Höhlenraum zuraste, einen brennenden Lappen aus dem Benzintank hängend. Es war ein motorisierter Molotowcocktail.

Sobald das Fahrzeug an uns vorbei war, gab Mae mir einen festen Stoß in den Rücken. »Lauf!«

Ich sprintete die letzten Meter die Rampe hoch. Bobby streckte die Hände nach uns aus, zog uns über den Rand auf den flachen Boden. Ich fiel hin und schrammte mir die Knie auf, aber ich spürte kaum etwas, weil Bobby mich gleich wieder auf die Beine riss. Dann lief ich so schnell ich konnte Richtung Höhlenausgang, und ich hatte die Öffnung schon fast erreicht, als eine glühende Druckwelle uns umwarf. Ich schleuderte durch die Luft und knallte gegen eine Höhlenwand. Benommen rappelte ich mich hoch. Meine Taschenlampe war weg. Ich hörte ein seltsam kreischendes Geräusch irgendwo hinter mir, zumindest kam es mir so vor.

Ich sah zu Mae und Bobby hinüber. Sie standen wieder auf. Der Hubschrauber schwebte noch immer dröhnend über uns, als wir die letzte Schräge hochkletterten, über den Rand des Hügels fielen und dann den Hang hinunterrollten, hinaus in die kühle, schwarze Wüstennacht.

Das Letzte, was ich sah, war Mae, die dem Hubschrauber mit beiden Armen hektisch signalisierte, er solle verschwinden -weg, weg, weg.

Und dann explodierte die Höhle.

Der Boden machte einen Satz unter meinen Füßen, und ich schlug der Länge nach hin, genau in dem Moment, als mir ein heftiger Schmerz von der Druckwelle in den Ohren stach. Ich hörte das tiefe Grollen der Explosion. Aus der Höhlenöffnung schoss ein gewaltiger, wütender Feuerball, orange, mit Schwarz durchsetzt. Ich spürte, wie eine heiße Welle auf mich zurollte, und dann war sie verschwunden, und alles war mit einem Mal still, und die Welt um mich herum war schwarz.

Wie lange ich dort unter den Sternen lag, weiß ich nicht. Ich hatte wohl das Bewusstsein verloren, denn meine nächste Erinnerung war, wie Bobby mich auf den Rücksitz des Hubschraubers schob. Mae war schon eingestiegen, und sie beugte sich zu mir herüber, um mich anzuschnallen. Beide betrachteten mich besorgt. Ich fragte mich dumpf, ob ich verletzt war. Ich spürte keine Schmerzen. Die Tür schlug neben mir zu, und Bobby stieg vorn neben dem Piloten ein.

Wir hatten es geschafft. Und wir lebten.

Ich konnte kaum fassen, dass es vorbei war.

Der Hubschrauber stieg in die Luft, und ich sah die Lichter des Labors in der Ferne.

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