I. ZU HAUSE

1. Tag, 10.04 Uhr

Die Dinge entwickeln sich nie so, wie man denkt.

Ich hatte nie vor, Hausmann zu werden. Ein Ehemann, der zu Hause bleibt. Ein Vollzeitvater, wie immer man es auch nennen will - die Begriffe taugen alle nicht richtig. Aber genau das war ich seit sechs Monaten. Jetzt war ich bei Crate and Barrel im Zentrum von San Jose, um ein paar Gläser nachzukaufen, und bei der Gelegenheit sah ich, dass sie auch eine gute Auswahl an Tischsets hatten. Wir brauchten noch ein paar Sets; die geflochtenen, ovalen, die Julia vor einem Jahr gekauft hatte, waren ziemlich hinüber und mit Babynahrung verkrustet. Weil sie geflochten waren, konnte man sie nicht waschen, und das war das Problem. Also blieb ich vor der Auslage stehen und schaute, ob sie gute Sets im Angebot hatten, ich fand ein paar blassblaue, die ganz hübsch waren, und nahm noch ein paar weiße Servietten. Und dann fiel mein Blick auf gelbe Sets, denn sie leuchteten richtig und waren schön, also nahm ich die auch noch. Es waren keine sechs Stück mehr im Regal, und ich dachte, sechs wären besser für uns, also bat ich die Verkäuferin nachzusehen, ob sie noch welche im Lager hatten. Während sie weg war, legte ich ein Platzdeckchen auf den Tisch, stellte einen weißen Teller darauf und legte eine gelbe Serviette daneben. Das Arrangement sah ausgesprochen fröhlich aus, und ich überlegte gerade, ob ich vielleicht acht statt sechs nehmen sollte, als mein Handy klingelte.

Es war Julia. »Hi, Schatz.«

»Hi, Julia. Wie läuft's?«, sagte ich. Im Hintergrund hörte ich eine Maschine, ein gleichmäßiges Stampfen. Wahrscheinlich die Vakuumpumpe für das Elektronenmikroskop. In ihrem Labor gab es mehrere Rasterelektronenmikroskope.

Sie sagte: »Was machst du gerade?« »Ich kaufe Tischsets.«

»Wo?«

»Crate and Barrel.«

Sie lachte. »Bist du der einzige Mann da?«

»Nein ...«

»Na dann ist ja gut«, sagte sie. Ich spürte, dass Julia sich nicht die Bohne für unser Gespräch interessierte. Sie war mit ihren Gedanken woanders. »Hör mal, weshalb ich anrufe, Jack, es tut mir furchtbar Leid, aber es wird heute Abend wieder spät.«

»Aha . « Die Verkäuferin kam zurück und brachte weitere gelbe Sets. Mit dem Handy am Ohr winkte ich sie zu mir. Ich hielt drei Finger hoch, und sie legte drei Sets hin. Zu Julia sagte ich: »Ist alles in Ordnung?«

»Ja, ja, hier geht's bloß mal wieder drunter und drüber, wie üblich. Wir senden heute per Satellit ein Demo an unsere Investoren in Asien und Europa, und wir haben Probleme mit der Satellitenschaltung hier, weil der Ü-Wagen, den sie geschickt haben - ach, ich will dich nicht langweilen ... jedenfalls, wir werden zwei Stunden länger brauchen, Schatz. Vielleicht noch mehr. Vor acht bin ich ganz bestimmt nicht zu Hause. Kannst du den Kindern was zu essen machen und sie ins Bett bringen?«

»Kein Problem«, sagte ich. Und das war es auch nicht. Ich war daran gewöhnt. In letzter Zeit machte Julia ständig Überstunden. Meistens kam sie erst nach Hause, wenn die Kinder schon schliefen. Xymos Technologies, die Firma, bei der sie arbeitete, versuchte bei den Geldgebern erneut Kapital lockerzumachen - zwanzig Millionen Dollar -, und der Druck war enorm. Zumal Xymos sein Geld damit verdiente, Technologien für die »molekulare Produktion« zu entwickeln, wie die Firma es nannte, was jedoch die meisten Leute als Nanotechnologie bezeichneten. Nano erfreute sich heutzutage bei Investoren keiner großen Beliebtheit. Zu viele Geldgeber waren in den vergangenen zehn Jahren enttäuscht worden, denn Produkte, die angeblich zum Greifen nahe waren, kamen nie aus den Labors heraus. Investoren betrachteten die Nanotechnologie inzwischen als leere Versprechung, die Produkte verhieß, aber nicht lieferte.

Aber das war Julia nicht neu; sie hatte selbst für zwei Investorenfirmen gearbeitet. Nach ihrer Ausbildung als Kinderpsychologin war sie Spezialistin für »Technologie-Inkubation« geworden und half Technologie-Unternehmen, die noch in den Kinderschuhen steckten, auf die Sprünge. (Sie witzelte gern, dass sie im Grunde noch immer Kinderpsychologie betrieb.) Nach einiger Zeit gab sie den Job als Unternehmensberaterin auf und ließ sich von einer der betreuten Firmen einstellen. Inzwischen saß sie bei Xymos im Management.

Julia sagte, Xymos habe etliche Durchbrüche geschafft und sei der Konkurrenz in dem Bereich weit voraus. Es sei nur noch eine Frage von Tagen, bis sie den Prototyp eines kommerziellen Produkts fertig hätten. Doch ich war da skeptisch.

»Hör mal, Jack, ich muss dich vorwarnen«, sagte sie mit schuldbewusster Stimme, »Eric ist bestimmt stinksauer.«

»Wieso?«

»Na ja ... ich hab gesagt, ich würde zu dem Spiel kommen.«

»Julia, wieso? Wir haben uns doch darauf geeinigt, solche Versprechungen nicht mehr zu machen. Das schaffst du nie. Es ist um drei. Wieso hast du ihm gesagt, du kommst?«

»Ich hab gedacht, ich würde es schaffen.«

Ich seufzte. Es war, so sagte ich mir, ein Zeichen dafür, wie wichtig ihr die Kinder waren. »Okay. Keine Sorge, Schatz. Ich regle das schon.«

»Danke. Oh, und Jack? Apropos Tischsets. Kauf egal welche, bloß keine gelben, ja?«

Und sie legte auf.

Ich machte Spagetti zum Abendessen, weil es bei Spagetti niemals Diskussionen gab. Um acht Uhr schliefen die beiden Kleineren schon, und Nicole machte ihre Hausaufgaben fertig. Sie war zwölf und musste um zehn im Bett sein, sie wollte jedoch nicht, dass ihre Freundinnen das erfuhren.

Die Kleinste, Amanda, war erst neun Monate alt. Sie fing jetzt an, überall herumzukrabbeln, und konnte schon stehen, wenn sie sich irgendwo festhielt. Dann kam Eric mit seinen acht Jahren; er war ein richtiger Fußballfanatiker und dribbelte ständig einen Ball vor sich her, wenn er nicht gerade als Ritter verkleidet seine ältere Schwester mit einem Plastikschwert durchs Haus jagte.

Nicole machte gerade eine schamhafte Phase durch; nichts bereitete Eric mehr Vergnügen, als ihren BH zu klauen und damit durchs Haus zu rennen und zu rufen: »Nicky trägt 'nen Bee-Haa! Nicky trägt 'nen Bee-Haa!«, während Nicole, die es für unter ihrer Würde befand, ihm nachzulaufen, zähneknirschend rief: »Dad? Er macht es schon wieder! Dad!« Und dann musste ich hinter Eric herrennen und ihm sagen, er solle die Finger von den Sachen seiner Schwester lassen.

So sah mein Leben jetzt aus. Am Anfang, nachdem ich den Job bei MediaTronics verloren hatte, fand ich es interessant, mich mit den Rivalitäten zwischen den Geschwistern zu befassen. Und oft schien mir der Unterschied zu meinem alten Job nicht besonders groß.

Bei MediaTronics stand ich einer Programmierabteilung vor und hatte eine Gruppe talentierter, junger Computerspezialisten unter mir gehabt. Mit vierzig war ich zu alt, um selbst weiterhin als Programmierer zu arbeiten; Codes zu schreiben ist etwas für junge Leute. Ich wurde also Abteilungsleiter, und das war ein aufreibender Job. Wie die meisten Silicon-ValleyProgrammierer schienen meine Leute beständig in der Krise zu stecken: zu Schrott gefahrene Porsche, Eifersuchtsdramen, unglückliche Liebschaften, Auseinandersetzungen mit den Eltern oder Drogenprobleme. Und das alles bei einem äußerst knappen Zeitplan, der nicht selten verlangte, dass die ganze Nacht durchgearbeitet wurde, nur aufrechtgehalten durch kistenweise Cola light und Sun Chips.

Aber es war eine spannende Arbeit auf einem ganz neuen Gebiet. Wir programmierten so genannte »verteilte, parallele Anwendungen oder agentenbasierte Systeme«. Diese Programme bilden biologische Prozesse nach, indem sie innerhalb des Computers virtuelle Agenten erzeugen und sie dann inter-agieren lassen, um Probleme der realen Welt zu lösen. Das klingt seltsam, aber es funktioniert sehr gut. So imitierte zum Beispiel eines unserer Programme die Futtersuche von Ameisen - wie Ameisen den kürzesten Weg zum Futter finden -, um Telefongespräche durch ein großes Anbieternetz zu dirigieren. Andere Programme ahmten das Verhalten von Termiten, ausschwärmenden Bienen und sich anpirschenden Löwen nach.

Es machte Spaß, und ich wäre wahrscheinlich immer noch dort, wenn ich nicht zusätzliche Aufgaben übernommen hätte. In meinen letzten Monaten war ich für die Sicherheit zuständig. Ich ersetzte einen externen technischen Berater, der zwei Jahre lang dabei war, aber den Diebstahl eines firmeneigenen Quellcodes nicht entdeckt hatte, bis dieser dann in einem Programm auftauchte, das in Taiwan vermarktet wurde. Genau genommen war es der Quellcode meiner Abteilung - Software für Parallelverarbeitung. Das war der gestohlene Code.

Wir wussten genau, dass es derselbe war, weil die Ostereier nicht angerührt worden waren. Programmierer fügen in ihren Code stets so genannte Ostereier ein, kleine Informationsfragmente, die keinen sinnvollen Zweck haben und nur so zum Spaß eingebaut werden. Die taiwanesische Firma hatte sie unverändert gelassen und unseren Code so benutzt, wie er war. Drückte man also die Tastenkombination Alt-Shift-M-9, öffnete sich ein Fenster, in dem das Hochzeitsdatum von einem unserer Programmierer erschien. Eindeutig Diebstahl.

Natürlich gingen wir vor Gericht, aber Don Gross, der Firmenchef, wollte sichergehen, dass so etwas nicht noch einmal passierte. Also übertrug er mir die Aufgabe, für die Sicherheit zu sorgen, und weil ich richtig wütend über den Diebstahl war, willigte ich ein. Ich machte den Job nur nebenbei und leitete weiterhin die Abteilung. Als erste Sicherheitsmaßnahme führte ich die Überwachung der Workstation-Benutzung ein. Das war ziemlich unkompliziert; heutzutage kontrollieren achtzig Prozent der Firmen, was ihre Mitarbeiter an den Terminals so treiben. Das geschieht per Video, durch Aufzeichnen der Tastenanschläge oder durch das Absuchen der E-Mails auf bestimmte Kennwörter hin. Es gibt da so einige Möglichkeiten.

Don Gross war ein harter Bursche, er war früher bei der Marine gewesen und hatte sein militärisches Auftreten nie abgelegt. Als ich ihm von dem neuen System erzählte, sagte er: »Aber meinen Terminal kontrollierst du doch nicht, oder?« Natürlich nicht, sagte ich. In Wahrheit hatte ich die Programme so entworfen, dass sie jeden Computer in der Firma überwachten, seinen eingeschlossen. Und so fand ich zwei Wochen später heraus, dass Don eine Affäre mit einer Frau aus der Buchhaltung hatte und ihr sogar einen Dienstwagen besorgt hatte. Ich ging zu ihm und sagte, aufgrund von E-Mails, die an Jean aus der Buchhaltung gegangen seien, müsse man annehmen, dass ein unbekannter Mitarbeiter ein Verhältnis mit ihr habe und dass sie Vergünstigungen bekomme, die ihr nicht zustünden. Ich sagte, ich wisse nicht, wer der Betreffende sei, aber falls sie sich weiter E-Mails schrieben, würde ich es bald herausfinden.

Ich dachte mir, Don würde den Wink verstehen, und so war es auch. Doch jetzt schrieb er belastende E-Mails von zu Hause aus, ohne zu ahnen, dass jede Mail durch den zentralen Server lief und ich weiterhin alles mitbekam. Und so erfuhr ich dann auch, dass er Software an ausländische Großhändler mit enormen »Rabatten« verkaufte und stattliche »Beraterhonora-re« auf einem Konto auf den Kaimaninseln bunkerte. Das war eindeutig illegal, und darüber konnte ich nicht hinwegsehen. Ich fragte meinen Anwalt Gary Marder um Rat, und er empfahl mir zu kündigen.

»Kündigen?«, sagte ich.

»Ja. Natürlich.«

»Aus welchem Grund?«

»Ist doch egal, aus welchem Grund. Du hast woanders ein besseres Angebot bekommen. Du hast gesundheitliche Probleme. Oder aus familiären Gründen. Schwierigkeiten zu Hause. Aber mach, dass du da wegkommst. Kündige.«

»Moment mal«, sagte ich. »Du meinst also, ich soll kündigen, weil er gegen das Gesetz verstößt? So lautet dein anwaltlicher Rat?«

»Nein«, sagte Gary. »Als dein Anwalt muss ich dir raten, jede illegale Aktivität zu melden, von der du Kenntnis hast, das ist deine Pflicht. Aber als dein Freund lautet mein Rat, halt den Mund und hau so schnell wie möglich ab.«

»Kommt mir irgendwie feige vor. Ich glaube, ich sollte die Investoren verständigen.«

Gary seufzte. Er legte eine Hand auf meine Schulter. »Jack«, sagte er, »die Investoren können auf sich selbst aufpassen. Mach, dass du da wegkommst, verdammt noch mal.«

Ich hielt das nicht für richtig. Ich hatte mich mächtig über den Diebstahl meines Codes geärgert. Aber jetzt fragte ich mich, ob er tatsächlich gestohlen worden war. Vielleicht war er ja auch verkauft worden. Wir waren ein Unternehmen in Privathand, und ich erzählte die Sache einem Mitglied des Vorstands.

Wie sich herausstellte, hatte auch er seine Finger im Spiel. Am nächsten Tag wurde ich wegen grober Fahrlässigkeit und firmenschädigenden Verhaltens gefeuert. Man drohte mir mit einem Prozess; um meine Abfindung nicht zu verlieren, musste ich jede Menge Papiere unterschreiben, in denen ich mich zum Stillschweigen verpflichtete. Mein Anwalt erledigte den Papierkram für mich und seufzte bei jedem neuen Dokument.

Anschließend gingen wir nach draußen in den milchigen Sonnenschein. Ich sagte: »Tja, wenigstens ist die Sache nun ausgestanden.«

Er wandte sich um und sah mich an. »Wie kommst du denn da drauf?«, fragte er.

Denn natürlich war die Sache nicht ausgestanden. Auf rätselhafte Weise war ich plötzlich gebrandmarkt. Meine Qualifikationen waren ausgezeichnet, und ich arbeitete in einem heiß umkämpften Bereich. Aber bei jedem Vorstellungsgespräch merkte ich gleich, dass sie nicht interessiert waren. Schlimmer noch, sie fühlten sich unbehaglich. Silicon Valley ist zwar groß, aber im Grunde ein Dorf. Alles spricht sich herum. Schließlich stellte ich mich bei jemandem vor, den ich flüchtig kannte, Ted Landow. Im Jahr zuvor hatte ich seinen Sohn in der Baseball-Juniorenmannschaft trainiert. Als das Gespräch vorüber war, sagte ich zu ihm: »Was haben Sie über mich gehört?«

Er schüttelte den Kopf. »Nichts, Jack.«

Ich sagte: »Ted, ich habe in zehn Tagen zehn Vorstellungsgespräche gehabt. Verraten Sie's schon.«

»Da gibt es nichts zu verraten.«

»Ted.«

Er kramte in seinen Unterlagen, blickte auf sie hinab, nicht mich an. Er seufzte. »Jack Forman. Unruhestifter. Nicht kooperativ. Aggressiv. Hitzköpfig. Ohne Teamgeist.« Er zögerte, sagte dann: »Und angeblich waren Sie in irgendwelche Machenschaften verwickelt. Hier steht nichts Näheres, aber irgendwelche zwielichtigen Geschäfte. Sie haben die Hand aufgehalten.«

»Ich habe die Hand aufgehalten?«, sagte ich. Ich spürte Wut in mir aufsteigen und wollte noch mehr sagen, begriff aber im letzten Moment, dass ich dann wahrscheinlich hitzköpfig und aggressiv gewirkt hätte. Also hielt ich den Mund und bedankte mich.

Als ich ging, sagte er: »Jack, tun Sie sich selbst einen Gefallen. Warten Sie eine Weile ab. Im Valley ändern sich die Dinge schnell. Sie haben ausgezeichnete Referenzen und hervorragende Fähigkeiten. Warten Sie bis ...« Er zuckte die Achseln.

»Zwei Monate?«

»Ich würde sagen: vier, vielleicht fünf.«

Irgendwie wusste ich, dass er Recht hatte. Danach gab ich mir nicht mehr so große Mühe. Mir kamen Gerüchte zu Ohren, dass MediaTronics kurz vor der Pleite stand und dass einigen Leuten möglicherweise Klagen drohten. Ich witterte die Chance auf Vergeltung, aber vorerst konnte ich nichts anderes tun als warten.

Allmählich kam es mir auch nicht mehr so komisch vor, morgens nicht zur Arbeit zu gehen. Julia machte immer häufiger Überstunden, und die Kinder forderten mich; wenn ich zu Hause war, wandten sie sich an mich statt an unsere Haushälterin Maria. Ich brachte sie zur Schule, holte sie wieder ab, fuhr mit ihnen zum Arzt, zum Kieferorthopäden, zum Fußballtraining. Die ersten Abendessen, die ich zubereitete, waren eine Katastrophe, aber ich lernte dazu.

Und ehe ich wusste, wie mir geschah, kaufte ich Tischsets und sah mir Geschirr bei Crate and Barrel an. Und es kam mir alles ganz normal vor.

Julia kam gegen halb zehn nach Hause. Ich saß vor dem Fernseher und guckte das Spiel der Giants, ohne richtig hinzuschauen. Sie kam herein und gab mir einen Kuss auf den Nacken. Sie sagte: »Schlafen alle?«

»Bis auf Nicole. Sie macht noch Hausaufgaben.«

»Was? Müsste sie nicht längst im Bett sein?«

»Nein, Schatz«, sagte ich. »Wir haben das doch besprochen.

Dieses Jahr darf sie bis zehn aufbleiben, weißt du nicht mehr?«

Julia zuckte die Achseln, als könne sie sich nicht erinnern. Und vielleicht erinnerte sie sich wirklich nicht. Wir hatten eine Art Rollentausch vollzogen; immer war sie diejenige gewesen, die mehr über die Kinder gewusst hatte, aber jetzt war ich das. Manchmal hatte Julia Probleme damit, erlebte es irgendwie als Machtverlust.

»Wie geht's der Kleinen?«

»Ihre Erkältung ist besser geworden. Schnieft nur noch ein bisschen. Sie isst auch wieder mehr.«

Ich ging mit Julia zu den Kinderzimmern. Sie trat in das Zimmer der Kleinen, beugte sich über das Bettchen und küsste das schlafende Kind zärtlich. Ich beobachtete sie und dachte dabei, dass ein Vater niemals an die liebevolle Fürsorge einer Mutter heranreichte. Julia hatte eine innere Verbindung zu den Kindern, wie ich sie nie haben würde. Oder zumindest war die Verbindung anderer Art. Sie lauschte dem leisen Atem der Kleinen und sagte: »Ja, es geht ihr besser.«

Dann ging sie in Erics Zimmer, nahm den Gameboy von der Bettdecke und warf mir einen finsteren Blick zu. Ich zuckte die Achseln, leicht gereizt; ich wusste, dass Eric mit seinem Gameboy spielte, wenn er eigentlich schon schlafen sollte, aber ich hatte zu der Zeit alle Hände voll damit zu tun, die Kleine ins Bett zu bringen, und ich hatte nicht daran gedacht. Ich fand, Julia könnte ruhig mehr Verständnis zeigen.

Dann ging sie in Nicoles Zimmer. Nicole saß an ihrem Laptop, klappte aber den Deckel zu, als ihre Mutter hereinkam. »Hi, Mom.«

»Du bist zu lange auf.«

»Nein, Mom .«

»Du solltest deine Hausaufgaben machen.«

»Die hab ich fertig.«

»Und wieso bist du dann noch nicht im Bett?«

»Weil .«

»Ich möchte nicht, dass du noch bis spätnachts mit deinen Freundinnen chattest.«

»Mom ...«, sagte sie in gequältem Ton.

»Du siehst sie jeden Tag in der Schule, das dürfte wohl reichen.«

»Mom .«

»Du brauchst deinen Vater gar nicht so anzugucken. Wir wissen ja, dass er dir alles erlaubt. Jetzt rede ich mit dir.«

Sie seufzte. »Ich weiß, Mom.«

Diese Art der Interaktion zwischen Nicole und Julia wurde immer mehr zur Gewohnheit. Wahrscheinlich war das bei Kindern in dem Alter normal, aber ich hielt es für besser, mich einzuschalten. Julia war müde, und wenn sie müde war, wurde sie streng und allzu autoritär. Ich legte meinen Arm um ihre Schultern und sagte: »Es ist schon spät. Möchtest du eine Tasse Tee?«

»Jack, misch dich nicht ein.«

»Tu ich ja gar nicht, ich wollte bloß .«

»Doch, das tust du. Ich rede mit Nicole, und du mischst dich ein, wie immer.«

»Schatz, wir haben vereinbart, dass sie bis zehn aufbleiben darf, ich weiß nicht, was das .«

»Aber wenn sie mit den Hausaufgaben fertig ist, sollte sie ins Bett gehen.«

»So war das nicht abgemacht.«

»Ich will nicht, dass sie von morgens bis abends am Computer sitzt.«

»Das tut sie auch nicht, Julia.«

In diesem Moment brach Nicole in Tränen aus und sprang schluchzend auf: »Dauernd kritisierst du an mir rum! Ich hasse dich!« Sie lief ins Badezimmer und knallte die Tür zu. Davon wurde das Baby wach und fing an zu schreien.

Julia wandte sich mir zu und sagte: »Würdest du mich das in Zukunft bitte alleine regeln lassen, Jack.«

Und ich sagte: »Du hast Recht. Es tut mir Leid. Du hast Recht.«

In Wahrheit sah ich das keineswegs so. Mehr und mehr betrachtete ich das Haus als mein Haus, die Kinder als meine Kinder. Sie platzte spätabends in mein Haus, nachdem ich dafür gesorgt hatte, dass alles ruhig war, so wie ich es mochte, wie es sein sollte. Und sie machte ein Heidentheater.

Ich fand überhaupt nicht, dass sie Recht hatte. Ich fand, sie hatte Unrecht.

Und in den vergangenen Wochen war mir aufgefallen, dass sich Vorfälle dieser Art häuften. Zunächst glaubte ich, Julia hätte ein schlechtes Gewissen, weil sie so viel weg war. Dann glaubte ich, sie wollte ihre Position verteidigen, die Kontrolle über einen Haushalt zurückgewinnen, der mir in die Hände gefallen war. Und dann glaubte ich, es läge daran, dass sie müde war oder in der Firma so stark unter Druck stand.

Doch in letzter Zeit merkte ich selbst, dass ich Entschuldigungen für ihr Verhalten suchte. Mich beschlich das Gefühl, Julia hatte sich verändert. Sie war anders, irgendwie angespannter, härter.

Die Kleine brüllte aus vollem Halse. Ich hob sie aus dem Bettchen, nahm sie auf den Arm, sprach beruhigend auf sie ein und schob gleichzeitig einen Finger hinten in die Windel, um zu sehen, ob sie nass war. Sie war nass. Ich legte meine Tochter auf die Wickelkommode, und sie brüllte wieder, bis ich ihre Lieblingsrassel schüttelte und sie ihr in die Hand gab. Da wurde sie ruhig und ließ sich ohne viel Gestrampel von mir die Windel abnehmen.

»Ich mach das«, sagte Julia und trat ins Zimmer.

»Ist schon gut.«

»Ich hab sie aufgeweckt, also mach ich das auch.«

»Wirklich Schatz, es ist kein Problem.«

Julia legte eine Hand auf meine Schulter, küsste mir den Nacken. »Tut mir Leid, dass ich mich so idiotisch aufführe. Ich bin hundemüde. Ich weiß nicht, was mich vorhin geritten hat. Lass mich die Windel wechseln, ich krieg meine Kleine ja kaum zu sehen.«

»Okay«, sagte ich. Ich machte Platz, und sie trat an meine Stelle.

»Hi, mein süßes Stinkerlein«, sagte sie und fasste der Kleinen zärtlich unters Kinn. »Wie geht's denn meinem Knubbel-Bubbel?« Bei so viel Zuwendung fiel unserer Tochter die Rassel aus der Hand, und dann fing sie an zu schreien und drehte sich auf der Kommode weg. Julia merkte nicht, dass die fehlende Rassel der Grund für das Gebrüll war; stattdessen gab sie beruhigende Laute von sich und mühte sich ab, die neue Windel anzulegen, was schwer war, da das Baby sich wand und strampelte. »Amanda, lass das!«

Ich sagte: »Das macht sie zurzeit.« Und das stimmte auch; Amanda war in der Phase, in der sie sich aktiv gegen das Windelwechseln wehrte. Und sie konnte ziemlich fest treten.

»Egal, sie soll aufhören. Lass das!«

Das Baby schrie lauter, versuchte, sich wegzudrehen. Einer der Klebeverschlüsse riss ab. Die Windel rutschte nach unten. Amanda rollte sich jetzt auf den Rand der Kommode zu. Julia zog sie grob zurück. Amanda strampelte weiter.

»Verdammt noch mal, lass das sein, hab ich gesagt!«, fauchte Julia und gab dem Baby einen Klaps aufs Bein. Das Baby schrie lauter, trat noch fester. »Amanda! Lass das! Lass das!« Sie schlug sie erneut. »Lass das! Lass das!«

Einen Augenblick lang reagierte ich nicht. Ich war fassungslos. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. »Schatz ...«, sagte ich und beugte mich vor, »nicht doch, wie wär's ...«

Julia explodierte. »Verdammt noch mal, wieso mischst du dich eigentlich dauernd ein?«, brüllte sie und schlug klatschend auf die Kommode. »Was hast du für ein verdammtes Problem?«

Und dann stürmte sie aus dem Zimmer.

Ich atmete tief durch und nahm das Baby hoch. Amanda brüllte untröstlich, vor Verwirrung und vor Schmerz gleichermaßen. Ich dachte mir, dass ich ihr ein Fläschchen geben müsste, damit sie wieder einschlief. Ich streichelte ihr den Rücken, bis sie sich etwas beruhigt hatte. Dann machte ich ihr die Windel richtig zu und ging mit ihr in die Küche, wo ich das Fläschchen aufwärmte. Das Licht war gedämpft, nur die Leuchtstofflampen über der Frühstückstheke brannten.

Julia saß am Tisch, trank Bier aus der Flasche und starrte ins Leere. »Wann suchst du dir endlich einen Job?«, fragte sie.

»Ich bemüh mich.«

»Wirklich? Davon merk ich aber nichts. Wann hattest du dein letztes Vorstellungsgespräch?«

»Vergangene Woche«, sagte ich.

Sie schnaubte. »Ich wünschte, du würdest dich etwas beeilen«, sagte sie, »mich treibt nämlich die Situation hier langsam in den Wahnsinn.«

Ich schluckte meine Wut hinunter. »Ich weiß. Es ist für uns alle schwer«, sagte ich. Es war schon spät, und ich hatte keine Lust mehr zu streiten. Aber ich beobachtete sie aus den Augenwinkeln.

Mit ihren sechsunddreißig Jahren war Julia eine auffallend hübsche Frau, zierlich, mit dunklem Haar und dunklen Augen, Stupsnase und einem Naturell, das von vielen als temperamentvoll oder spritzig bezeichnet wurde. Ganz im Gegensatz zu vielen Managern in der Branche war sie attraktiv und umgänglich. Sie schloss leicht Freundschaften und hatte Humor. Vor Jahren, als Nicole noch ganz klein war, erzählte Julia manchmal, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, umwerfend komisch von den kleinen Schwächen ihrer Investoren. Wir saßen an genau diesem Küchentisch und lachten bis zum Umfallen, während die kleine Nicole sie am Arm zog und sagte: »Was ist so lustig, Mom? Was ist so lustig?« Sie wollte gern mitlachen. Natürlich konnten wir ihr nicht erklären, was so lustig war, aber Julia schien immer noch irgendwas Lustiges auf Lager zu haben, damit auch Nicole lachen konnte. Julia hatte eine echte Gabe, die humorvolle Seite des Lebens zu sehen. Sie war bekannt für ihre Ausgeglichenheit; sie verlor so gut wie nie die Beherrschung.

Jetzt war sie selbstverständlich wütend. Wollte mich nicht einmal anschauen. Sie saß im Dunkeln an dem runden Küchentisch, ein Bein über das andere geschlagen und ungeduldig damit wippend, während sie ins Nichts starrte. Als ich sie ansah, hatte ich das Gefühl, ihr Äußeres hätte sich irgendwie verändert. Natürlich hatte sie in letzter Zeit abgenommen, durch den Stress im Job. Eine gewisse Weichheit in ihrem Gesicht war verschwunden; die Wangenknochen traten stärker hervor, das Kinn wirkte spitzer. Sie sah dadurch härter aus, aber irgendwie noch schöner.

Auch ihre Kleidung war anders. Julia trug einen dunklen Rock und eine weiße Bluse, sozusagen das Standardoutfit für Managerinnen. Aber der Rock war enger als gewöhnlich. Und durch ihren wippenden Fuß wurde ich auf die Slingpumps aufmerksam. Früher hatte sie die mal als Aufreißschuhe bezeichnet. Schuhe, die sie nie zur Arbeit anziehen würde.

Und dann begriff ich, dass alles an ihr anders war - ihr Verhalten, ihr Aussehen, ihre Stimmung, alles -, und blitzartig wurde mir klar, warum: Meine Frau hatte eine Affäre.

Das Wasser im Topf fing an zu dampfen, und ich zog das Fläschchen heraus, testete die Temperatur an meinem Unterarm. Es war zu heiß geworden, und ich musste es einen Moment abkühlen lassen. Das Baby begann zu schreien, und ich schaukelte es sachte an meiner Schulter, während ich mit ihm durch den Raum ging.

Julia blickte mich kein einziges Mal an. Sie wippte bloß weiter mit dem Fuß und starrte ins Leere.

Irgendwo hatte ich mal gelesen, dass das ein Syndrom war. Der Mann ist arbeitslos, seine maskuline Attraktivität schwindet, seine Frau hat keinen Respekt mehr vor ihm, sie nimmt sich einen Liebhaber. Ich hatte das in Glamour oder Redbook oder einer der anderen Zeitschriften gelesen, die wir zu Hause haben, während ich darauf wartete, dass die Wäsche fertig wurde oder die Mikrowelle den Hamburger aufgetaut hatte.

Aber jetzt durchfluteten mich widerstreitende Gefühle. War es wirklich wahr? Oder war ich bloß müde und fantasierte mir schlechte Geschichten zusammen? Was spielte es für eine Rolle, dass sie engere Röcke und andere Schuhe trug? Die Mode änderte sich. Menschen hatten an unterschiedlichen Tagen unterschiedliche Stimmungen. Und nur weil sie manchmal verärgert war, musste sie noch lange keine Affäre haben. Natürlich nicht. Wahrscheinlich fühlte ich mich bloß unzulänglich, unattraktiv. Wahrscheinlich traten nur meine Unsicherheiten zum Vorschein. Eine Weile verliefen meine Gedanken in dieser Bahn.

Aber aus irgendeinem Grund kam ich nicht mehr davon los.

Ich war mir sicher, dass ich mich nicht irrte. Seit über zwölf Jahren lebte ich mit dieser Frau zusammen. Ich wusste, dass sie anders war, und ich wusste, warum. Ich konnte förmlich spüren, dass da jemand war, ein Außenstehender, einer, der in unsere Beziehung eingedrungen war. Ich fühlte es mit einer Gewissheit, die mich überrumpelte. Ich fühlte es tief in mir, wie einen Schmerz.

Ich musste mich abwenden.

Das Baby nahm das Fläschchen und gluckste glücklich. In der halbdunklen Küche starrte Amanda mit dem eigentümlich unverwandten Blick, wie Babys ihn haben, zu mir hoch. Ihr Anblick war irgendwie tröstlich. Nach einer Weile schloss sie die Augen, und dann wurde ihr Mund schlaff. Ich legte sie an meine Schulter und ließ sie ein Bäuerchen machen, während ich sie in ihr Zimmer trug. Die meisten Eltern klopfen ihren Babys zu fest auf den Rücken, damit sie ein Bäuerchen machen. Es ist besser, ihnen einfach mit der flachen Hand den Rücken zu reiben und manchmal nur mit zwei Fingern die Wirbelsäule entlangzustreichen. Sie rülpste leise und entspannte sich.

Ich legte sie in ihr Bettchen und drehte das Nachtlicht aus. Jetzt kam das einzige Licht im Raum von dem Aquarium, das grünblau in der Ecke blubberte. Ein Plastiktaucher dümpelte über den Grund und zog Blasen hinter sich her.

Als ich mich umwandte, sah ich Julias Silhouette in der offenen Tür, dunkles Haar von hinten erhellt. Sie hatte mich beobachtet. Ich konnte ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen. Leise kam sie näher. Ich verkrampfte mich. Sie schlang ihre Arme um mich und legte den Kopf an meine Brust.

»Bitte verzeih mir«, sagte sie. »Ich benehme mich wirklich unmöglich. Du machst das wunderbar. Und ich bin bloß eifersüchtig, mehr nicht.« Meine Schulter war nass von ihren Tränen.

»Ich verstehe schon«, sagte ich und hielt sie fest. »Ist schon gut.«

Ich wartete, dass mein Körper sich wieder entspannte, aber das geschah nicht. Ich war misstrauisch und auf der Hut. Ich hatte ein ungutes Gefühl wegen ihr, und es ging nicht weg.

Sie kam aus der Dusche ins Schlafzimmer und rubbelte sich das kurze Haar trocken. Ich saß auf dem Bett und versuchte, den Rest des Footballspiels zu sehen. Mir fiel auf, dass sie sonst nie am Abend duschte. Julia duschte immer morgens vor der Arbeit. Jetzt wurde mir bewusst, dass sie in letzter Zeit, wenn sie nach Hause kam, häufig gleich unter die Dusche ging, bevor sie die Kinder begrüßte.

Mein Körper war noch immer angespannt. Ich schaltete den Fernseher aus. Ich sagte: »Wie war die Präsentation?«

»Die was?«

»Die Präsentation. Ihr wolltet sie doch heute zeigen?«

»Ach so«, sagte sie. »Ja, ja, stimmt. Ist gut gelaufen, als die Leitung dann endlich stand. Die Investoren in Deutschland konnten sich nicht alles ansehen, wegen der Zeitverschiebung, aber - he, willst du es sehen?«

»Was meinst du?«

»Ich hab eine Kopie dabei. Willst du dir das Demoband ansehen?«

Ich war überrascht. Ich zuckte die Achseln. »Okay, von mir aus.«

»Mich interessiert wirklich, was du davon hältst, Jack.« Ich hörte einen gönnerhaften Tonfall heraus. Meine Frau bezog mich in ihre Arbeit ein. Gab mir das Gefühl, zu ihrem Leben dazuzugehören. Ich sah zu, wie sie ihre Aktentasche öffnete und eine DVD herausnahm. Sie legte sie in den Player ein und setzte sich dann zu mir aufs Bett.

»Was habt ihr denn präsentiert?«, fragte ich.

»Die neue Bildtechnologie für den medizinischen Bereich«, sagte sie. »Echt toll, wenn ich das so sagen darf.« Sie rückte nah heran, schmiegte sich eng an meine Schulter. Alles ganz kuschelig, wie in alten Zeiten. Mir war noch immer unbehaglich, aber ich legte einen Arm um sie.

»Übrigens«, sagte ich, »wieso duschst du neuerdings abends statt morgens?«

»Keine Ahnung«, erwiderte sie. »Tu ich das? Stimmt. Ist irgendwie leichter, Schatz. Morgens ist immer so eine Hektik, und ich krieg dauernd diese Konferenzanrufe aus Europa, die kosten so viel Zeit - okay, los geht's«, sagte sie und deutete auf den Bildschirm. Ich sah schwarzweißes Schneegestöber, und dann erschien das Bild.

Die Aufnahme zeigte Julia in einem großen Labor, das wie ein Operationssaal ausgestattet war. Ein Mann lag ausgestreckt auf einer fahrbaren Trage, eine Infusionskanüle im Arm, und neben ihm stand ein Anästhesist. Über dem Operationstisch befand sich eine runde, flache Metallplatte von ungefähr einem Meter achtzig Durchmesser, die sich heben und senken ließ, jetzt aber angehoben war. Drum herum standen überall Videomonitore. Und im Vordergrund blickte Julia auf einen Monitor, an ihrer Seite ein Videotechniker.

»Das ist ja fürchterlich«, sagte sie gerade, auf den Monitor deutend. »Wo kommt denn diese Störung her?«

»Wir glauben von den Luftreinigungsgeräten.«

»Aber das ist inakzeptabel.«

»Wirklich?«

»Ja, wirklich.«

»Was sollen wir machen?«

»Ihr sollt das beheben«, erwiderte Julia.

»Dann müssen wir mehr Saft geben, und ihr müsst ...«

»Ist mir egal«, sagte sie. »Ich kann den Investoren doch kein Bild von dieser Qualität zeigen. Die haben schon vom Mars bessere Bilder gesehen. Beheben Sie das.«

Neben mir auf dem Bett sagte Julia: »Ich wusste gar nicht, dass die das schon alles aufgenommen haben. Das war vor der Präsentation. Du kannst ein Stück vorspulen.«

Ich drückte die Taste an der Fernbedienung. Das Bild bewegte sich ruckartig. Ich wartete ein paar Sekunden und drückte dann erneut auf Start.

Dieselbe Szene. Julia noch immer im Vordergrund. Carol, ihre Assistentin, flüsterte ihr etwas zu.

»Okay, aber was soll ich ihm dann sagen?«

»Sag ihm, es geht noch nicht.«

»Aber er will anfangen.«

»Versteh ich. Aber die Übertragung ist erst in einer Stunde. Sag ihm, er muss sich noch gedulden.«

Auf dem Bett sagte Julia zu mir: »Mad Dog war unsere Versuchsperson. Er war ganz schön unruhig. Konnte kaum erwar-ten, dass es endlich losging.«

Auf dem Bildschirm senkte die Assistentin die Stimme. »Ich glaube, er ist nervös, Julia. Das wäre ich auch, wenn ein paar Millionen von den Dingern in meinem Körper rumkrabbeln würden .«

»Es sind keine paar Millionen, und sie krabbeln nicht«, sagte Julia. »Überhaupt, es ist schließlich seine Erfindung.«

»Trotzdem.«

»Ist das da drüben nicht ein Anästhesist?«

»Nein, bloß ein Kardiologe.«

»Tja, vielleicht kann ihm der Kardiologe was gegen seine Nervosität geben.«

»Ist schon passiert. Eine Spritze.«

Auf dem Bett neben mir sagte Julia: »Spul vor, Jack.« Ich tat es. Das Bild schnellte vorwärts. »Okay, da.«

Ich sah Julia wieder am Monitor stehen, den Techniker neben sich. »So ist es okay«, sagte Julia in der Aufnahme, auf das Bild deutend. »Nicht toll, aber akzeptabel. So, zeigen Sie mir das RTM.«

»Das was?«

»Das RTM. Das Rastertunnelmikroskop. Zeigen Sie mir das Bild davon.«

Der Techniker blickte verwirrt. »Äh ... Keiner hat mir was von einem Elektronenmikroskop gesagt.«

»Herrgott, lesen Sie doch vorher die verdammten Storyboards!«

Der Techniker blinzelte. »Das steht in den Storyboards?«

»Haben Sie sich die Storyboards überhaupt angesehen?«

»Tut mir Leid, muss ich wohl vergessen haben.«

»Für Entschuldigungen haben wir jetzt keine Zeit. So machen Sie schon!«

»Sie brauchen nicht zu schreien.«

»Oh doch. Ich muss schreien, weil ich von Idioten umgeben bin!« Sie wedelte mit der Hand in der Luft. »Ich gehe gleich online, und ich rede mit elf Milliarden Dollar Risikokapital in fünf Ländern und zeige denen submikroskopische Technologie, bloß dass ich keine Mikroskopeinspielung habe, damit diese Leute die Technologie sehen können!«

Auf dem Bett sagte Julia: »Ich bin bei dem Typen ziemlich ausgerastet. Es war zum Verrücktwerden. Der Countdown bis zum Beginn unserer Satellitenzeit lief, und die war fest gebucht. Daran war nichts mehr zu ändern. Wir mussten die Zeit einhalten, und der Typ da war eine hohle Nuss. Aber schließlich haben wir's hingekriegt. Spul vor.«

Der Bildschirm zeigte eine Tafel mit der Aufschrift:

Präsentation: Moderne Bildtechnologie im Bereich Medizin von Xymos Technologies

Mountain View, CA Weltweit führend in der molekularen Produktion

Dann tauchte Julia auf dem Bildschirm auf, sie stand vor der Trage und den medizinischen Apparaturen. Sie hatte sich die Haare gebürstet und die Bluse in den Rock gesteckt.

»Ich wünsche Ihnen allen einen Guten Tag«, sagte sie, in die Kamera lächelnd. »Ich bin Julia Forman von Xymos Technologies, und wir demonstrieren Ihnen jetzt ein von uns entwik-keltes revolutionäres Verfahren zur Bilddarstellung für medizinische Zwecke. Unsere Versuchsperson Peter Morris liegt hinter mir auf dem Tisch. In wenigen Augenblicken werden wir einen Blick in sein Herz und seine Blutgefäße werfen, und zwar mit einer Leichtigkeit und Präzision, wie sie bis dato undenkbar gewesen sind.«

Sie ging jetzt um den Tisch herum, sprach aber dabei weiter.

»Im Gegensatz zum Herzkatheter ist unser Verfahren hun-dertprozentig sicher. Und anders als beim Herzkatheter können wir uns alles im Körper anschauen, jede Art von Gefäß, wie groß oder klein auch immer. Wir werden in die Aorta dieses Mannes hier blicken, die größte Arterie seines Körpers. Aber wir werden auch in seine Lungenbläschen und in die winzigen Kapillargefäße seiner Fingerspitzen schauen. Das alles wird möglich, weil die Kamera, die wir in seine Gefäße einführen, kleiner ist als ein rotes Blutkörperchen. Sogar erheblich kleiner.

Die Mikrofabrikationstechnologie von Xymos kann diese Miniaturkameras nun herstellen, und das in großen Mengen -preiswert und schnell. Tausende von ihnen würden erst die Größe eines Punktes ergeben, den eine Bleistiftspitze erzeugt. Binnen einer Stunde können wir ein Kilo von diesen Kameras produzieren.

Ich kann mir vorstellen, dass Sie alle skeptisch sind. Wir alle wissen, dass die Nanotechnologie Versprechungen gemacht hat, die sie nicht einlösen konnte. Wie Ihnen bekannt ist, bestand das Problem darin, dass die Wissenschaftler zwar Geräte in Molekulargröße entwerfen, sie aber nicht herstellen konnten. Xymos hat dieses Problem nun gelöst.«

Plötzlich wurde mir klar, was sie da eigentlich behauptete. »Was?«, sagte ich und setzte mich auf dem Bett auf. »Soll das ein Witz sein?« Wenn das stimmte, war das ein ungeheurer Entwicklungssprung, ein echter technologischer Durchbruch, und es bedeutete .

»Es stimmt«, sagte Julia ruhig. »Wir produzieren in Nevada.« Sie lächelte, genoss meine Verblüffung.

Auf dem Bildschirm sagte Julia gerade: »Ich habe eine von unseren Xymos-Kameras unter dem Elektronenmikroskop, hier«, sie deutete auf den Monitor, »damit Sie sie im Vergleich zu dem roten Blutkörperchen daneben sehen können.«

Das Bild wurde schwarzweiß. Ich sah, wie eine feine Sonde etwas, das aussah wie ein winziger Tintenfisch, auf einem Titanfeld in Position schob. Es war ein Klumpen, vorne abgerundet und hinten mit feinen Fädchen versehen. Er war rund zehnmal kleiner als das rote Blutkörperchen, das in dem Vakuum des Rasterelektronenmikroskops als ein schrumpeliges Oval zu erkennen war, wie eine graue Rosine.

»Unsere Kamera ist ein zweimilliardstel Millimeter lang. Wie Sie sehen, hat sie die Form eines Tintenfisches«, sagte Julia. »Die Bildaufnahme erfolgt in der Spitze. Mikroröhrchen im Schwanz sorgen für die Stabilisierung, wie der Schwanz eines Papierdrachens. Aber sie können auch aktiv ausschlagen und Fortbewegung ermöglichen. Jerry, können wir wohl die Kamera drehen, damit wir die Spitze sehen ... Okay, so ist gut. Danke. Jetzt sehen Sie vorn in der Mitte die Einbuchtung, nicht wahr? Das ist der Miniatur-Gallium-Arsenid-Photon-Detektor, der als Netzhaut fungiert, und der gestreifte Bereich drum herum - der wie ein Gürtelreifen aussieht - ist biolumineszie-rend und beleuchtet den vor ihm liegenden Bereich. In der Spitze selbst können Sie, wenn Sie ganz genau hinschauen, eine recht komplexe Serie von verdrehten Molekülen erkennen. Das ist unsere patentierte ATP-Kaskade. Denken Sie sie sich als ein primitives Gehirn, das das Verhalten der Kamera steuert - zwar sind die Verhaltensmöglichkeiten sehr begrenzt, für unsere Zwecke reichen sie aber aus.«

Ich hörte ein statisches Rauschen und ein Husten. Auf dem Bildschirm öffnete sich in der Ecke ein kleines Fenster, in dem jetzt Fritz Leidermeyer in Deutschland zu sehen war. Der Investor bewegte seine immense Leibesfülle. »Verzeihung, Miss Forman. Wo bitte ist das Objektiv?«

»Es gibt kein Objektiv.«

»Aber eine Kamera braucht doch ein Objektiv?«

»Dazu komme ich gleich«, sagte sie.

Mit Blick auf den Bildschirm sagte ich: »Es muss eine Camera obscura sein.«

»Richtig«, sagte sie nickend.

Die Camera obscura - Lateinisch für »dunkle Kammer« -war die erste bekannte Kamera überhaupt. Die Römer hatten festgestellt, dass ein kleines Loch in der Wand eines dunklen Raumes auf der gegenüberliegenden Wand ein auf dem Kopf stehendes, seitenverkehrtes Bild von der Außenwelt erzeugt. Der Grund dafür ist, dass Licht, das durch eine kleine Öffnung dringt, fokussiert wird, wie von einer Linse. Nach demselben Prinzip funktionieren die Lochkameras von Kindern. Seit den alten Römern wurden deshalb Apparate, die optische Abbildungen ermöglichten, »Kameras« genannt. Aber in diesem Fall

»Wie entsteht die Blendenöffnung?«, fragte ich. »Gibt es ein Nadelloch?«

»Ich dachte, das wüsstest du«, sagte sie. »Für den Teil bist du verantwortlich.«

»Ich?«

»Ja. Xymos hat die Lizenz erworben für einige agentenbasierte Algorithmen, die dein Team geschrieben hat.«

»Nein, das wusste ich nicht. Welche Algorithmen?«

»Zur Steuerung eines Partikelnetzes.«

»Eure Kameras sind vernetzt? Alle diese winzigen Kameras kommunizieren miteinander?«

»Ja«, erwiderte sie. »Sie sind ein Schwarm, im Grunde genommen.« Sie lächelte noch immer, belustigt über meine Reaktion.

»Ein Schwarm.« Ich überlegte, versuchte zu verstehen, was sie mir da sagte. Natürlich hatte mein Team eine Anzahl von Programmen geschrieben, um Agentenschwärme zu steuern. Vorbild dafür war das Verhalten von Bienen, was viele nützliche Eigenschaften aufweist. Weil Schwärme sich aus vielen Agenten zusammensetzten, konnte der Schwarm recht widerstandsfähig auf die Umwelt reagieren. Wenn Schwarmpro-gramme mit neuen und unerwarteten Bedingungen konfrontiert wurden, stürzten sie nicht ab; sie schwebten sozusagen einfach um die Hindernisse herum und machten weiter.

Doch unsere Programme arbeiteten so, dass sie im Computer virtuelle Agenten entwarfen. Julia hatte reale Agenten in der realen Welt geschaffen. Zunächst leuchtete mir nicht ein, wie unsere Entwicklung sich für Julias Zwecke umfunktionieren ließ.

»Wir verwenden sie für die Struktur«, sagte sie. »Das Programm sorgt für die Schwarmstruktur.«

Natürlich. Es lag auf der Hand, dass eine einzige Molekularkamera nicht ausreichen würde, um ein Bild aufzunehmen. Daher musste es ein Gemeinschaftswerk von Millionen von Kameras sein, die simultan arbeiteten. Außerdem mussten die Kameras räumlich in einer geordneten Struktur arrangiert sein, wahrscheinlich als Kugel. Und an diesem Punkt kamen unsere Programme ins Spiel. Aber das wiederum hieß, dass Xymos da gleichsam das Äquivalent eines ...

»Ihr baut ein Auge.«

»Könnte man so sagen. Ja.«

»Aber wo ist die Lichtquelle?«

»Die biolumineszierende Umrandung.«

»Das Licht reicht nicht.«

»Doch. Pass auf.«

Währenddessen drehte sich die Julia auf dem Bildschirm graziös um und zeigte auf den Infusionsschlauch hinter sich. Aus einem Eisbehälter in greifbarer Nähe nahm sie eine Spritze. Der Zylinder schien mit Wasser gefüllt zu sein. »Diese Spritze«, sagte sie, »enthält etwa zwanzig Millionen Kameras in einer isotonischen Salzlösung. Im Augenblick sind es noch einzelne Partikel. Sobald sie jedoch in den Blutstrom injiziert werden, steigt ihre Temperatur an, und sie finden sich zusammen, um eine Meta-Form zu bilden. So wie ein Vogelschwarm eine V-Form bildet.«

»Was für eine Form?«, fragte einer der Investoren.

»Eine runde«, sagte sie. »Mit einer kleinen Öffnung an einer Seite. Denken Sie einfach an die Blastula, das frühe Stadium in der Embryonalentwicklung. Doch im Grunde fügen sich die Partikel zu einem Auge zusammen. Und das Bild aus diesem Auge wird das Gemeinschaftswerk von Millionen von Photondetektoren sein. Genau wie das menschliche Auge mit seinen Stäbchen und Zapfen ein Bild erzeugt.«

Sie wandte sich einem Monitor zu, der in einer Endlosschleife immer und immer wieder eine Animation zeigte. Die Kameras drangen als amorphe, unorganisierte Masse in den Blutstrom ein, eine summende Wolke im Blut. Sofort zog das Blut die Wolke zu einem länglichen Streifen auseinander. Binnen Sekunden jedoch verdickte sich der Streifen zu einer Kugel. Die Form wurde schnell deutlicher, bis sie schließlich nahezu fest wirkte.

»Falls Sie das an ein richtiges Auge erinnert, dann nicht ohne Grund. Hier bei Xymos imitieren wir ganz bewusst die organische Morphologie«, sagte Julia. »Da wir mit organischen Molekülen arbeiten, sind wir uns darüber im Klaren, dass unsere Umwelt dank einer mehrere Millionen Jahre währenden Evolution über einen Vorrat an funktionierenden molekularen Anordnungen verfügt. Und die nutzen wir.«

»Sie wollen also nicht das Rad neu erfinden?«, fragte jemand.

»Genau. Oder den Augapfel.«

Sie gab ein Zeichen, und die flache Antenne wurde gesenkt, bis sie nur wenige Zentimeter über der wartenden Versuchsperson schwebte.

»Diese Antenne wird die Kamera steuern und das übertragene Bild empfangen«, sagte sie. »Das Bild kann selbstverständlich digital gespeichert, vergrößert, verändert werden, einfach alles, was sich mit digitalen Daten anstellen lässt. So, falls keiner mehr eine Frage hat, können wir anfangen.«

Sie versah die Spritze mit einer Nadel und stach sie in den Gummipfropfen der Veneninfusion.

»Zeitnahme.«

»Null Komma null.«

»Los geht's.«

Sie drückte den Kolben rasch hinunter. »Wie Sie sehen, mache ich das schnell«, sagte sie. »Unser Verfahren ist in keiner Weise empfindlich. Man kann nichts kaputtmachen. Selbst wenn die Mikroturbulenz, die durch den Fluss durch die Nadel entsteht, die Röhrchen von ein paar tausend Kameras abreißt, spielt das keine Rolle. Wir haben noch etliche Millionen mehr. Mehr als genug, um die Arbeit zu erledigen.« Sie zog die Nadel heraus. »Okay? Im Allgemeinen dauert es etwa zehn Sekunden, bis sie sich zusammenfügen, und dann müssten wir ein Bild empfangen . Ah, sieht so aus, als käme es jetzt . Und da ist es auch schon.«

Zu sehen war die Kamera, die sich mit beträchtlicher Geschwindigkeit durch etwas hindurchbewegte, was einem Asteroidenfeld ähnelte. Nur dass die Asteroiden rote Blutkörperchen waren, elastische ins Lila spielende Beutel in einer klaren, leicht gelblichen Flüssigkeit. Dann und wann schoss eine deutlich größere weiße Zelle vorbei, füllte den Bildschirm einen Moment lang ganz aus und war schon wieder verschwunden. Was ich da sah, glich eher einem Videospiel denn einem medizinischen Bild.

»Julia«, sagte ich, »das ist ja unglaublich.«

Die Julia neben mir schmiegte sich noch enger an und lächelte. »Wusste ich doch, dass dich das umhaut.«

Die Julia auf dem Bildschirm sagte: »Wir sind in einer Vene, daher sind die roten Blutkörperchen nicht mit Sauerstoff angereichert. Im Augenblick ist unsere Kamera auf dem Weg zum Herzen. Sie werden sehen, dass die Gefäße größer werden, während wir uns durch das Venensystem aufwärts bewegen . Ja, jetzt nähern wir uns dem Herzen ... Sie können das Pulsie-ren des Blutstroms erkennen, was auf die ventrikulären Kontraktionen zurückzuführen ist .«

Es stimmte, ich sah, wie die Kamera verharrte, sich dann weiterbewegte, wieder verharrte. Julia hatte eine Audioeinspie-lung von dem schlagenden Herzen. Die Versuchsperson auf dem Tisch lag reglos da, die flache Antenne dicht über dem Körper.

»Wir kommen zum Herzvorhof und müssten gleich die Mitralklappe sehen. Wir aktivieren die Flagellen, um die Kamera zu verlangsamen. Da ist jetzt die Klappe. Wir sind im Herzen.« Ich erkannte die roten Segel, die sich wie ein Mund öffneten und schlossen, und dann jagte die Kamera hindurch, in die Herzkammer hinein und wieder hinaus.

»Jetzt kommen wir zur Lunge, wo Sie etwas sehen werden, was noch nie jemand gesehen hat. Die Anreicherung der Blutkörperchen mit Sauerstoff.«

Ich beobachtete, wie sich das Blutgefäß rapide verengte, und dann rundeten sich die Blutkörperchen und färbten sich leuchtend rot, eins nach dem anderen. Es ging rasend schnell; in weniger als einer Sekunde waren alle rot.

»Die roten Blutkörperchen sind nun mit Sauerstoff angereichert«, sagte Julia, »und wir sind wieder auf dem Weg zum Herzen.«

Ich wandte mich auf dem Bett Julia zu. »Das ist absolut fantastisch«, sagte ich.

Aber ihre Augen waren geschlossen, und sie atmete sanft.

»Julia?«

Sie schlief.

Julia war schon immer gerne vor dem Fernseher eingeschlafen. Bei der Vorführung des eigenen Demobandes wegzunicken war durchaus verständlich, schließlich hatte sie es ja schon gesehen. Und es war sehr spät. Ich war auch müde. Ich be-schloss, mir den Rest der Präsentation ein anderes Mal anzu-schauen. Es kam mir ohnehin ziemlich lang dafür vor. Wie lange saß ich schon davor? Als ich mich zum Fernseher wandte, um ihn auszuschalten, warf ich einen Blick auf den Zeitcode, der unter dem Bild lief. Zahlen rasten dahin, zählten Hundertstel von Sekunden. Links davon weitere Zahlen, die sich nicht so schnell bewegten. Ich runzelte die Stirn. Eine davon war das Datum. Es war mir vorher nicht aufgefallen, weil es die internationale Schreibweise war, zuerst das Jahr, dann der Tag und der Monat. Da stand 02.21.09.

21. September.

Gestern.

Sie hatte das Band gestern aufgenommen, nicht heute.

Ich machte den Fernseher aus und dann die Nachttischlampe. Ich legte mich aufs Kissen und versuchte zu schlafen.

2. Tag, 9.02 Uhr

Wir brauchten Magermilch, Toasties, Pop-Tarts, Pudding, Spülmittel für die Spülmaschine - und noch etwas, aber ich konnte meine eigene Schrift nicht entziffern. Um neun Uhr morgens stand ich im Supermarkt und versuchte, aus meinen Notizen schlau zu werden. Eine Stimme sagte: »He, Jack. Wie geht's denn so?«

Ich blickte auf und sah Ricky Morse, einen der Abteilungsleiter bei Xymos.

»He, Ricky, wie geht's dir?« Ich schüttelte ihm die Hand, freute mich wirklich, ihn zu sehen. Ich freute mich immer, Ricky zu sehen. Braun gebrannt, mit blondem, kurz geschnittenem Haar und einem breiten Grinsen hätte man ihn leicht für einen Surfer halten können, wenn er nicht sein T-Shirt mit der Aufschrift »SourceForge 3.1« angehabt hätte. Ricky war nur ein paar Jahre jünger als ich, aber er hatte die Aura ewiger Jugend. Ich hatte ihm seinen ersten Job verschafft, als er frisch vom College kam, und er hatte sich rasch ins Management hochgearbeitet. Mit seiner fröhlichen Art und optimistischen Ausstrahlung gab Ricky einen idealen Projektmanager ab, obwohl er dazu neigte, Probleme herunterzuspielen und bei der Geschäftsführung unrealistische Erwartungen zu wecken hinsichtlich der Fertigstellung eines Projektes.

Laut Julia hatte Letzteres bei Xymos manchmal Anlass zu Unmut gegeben; Ricky versprach gerne Dinge, die er nicht halten konnte. Und mitunter nahm er es mit der Wahrheit nicht ganz so genau. Aber er war so nett und sympathisch, dass alle ihm stets verziehen. Zumindest ich hatte das getan, als er für mich arbeitete. Er war mir richtig ans Herz gewachsen und mir fast so etwas wie ein kleiner Bruder geworden. Ich hatte ihn für die Stelle bei Xymos empfohlen.

Ricky schob einen Einkaufswagen voll mit Wegwerfwindeln in großen Plastikpaketen vor sich her; auch er hatte ein Baby zu Hause. Ich fragte ihn, warum er im Supermarkt und nicht im Büro war.

»Mary hat die Grippe, und das Dienstmädchen ist in Guatemala. Also geh ich einkaufen.«

»Wie ich sehe, hast du Huggies«, sagte ich. »Ich persönlich nehme lieber Pampers.«

»Ich finde, Huggies sind saugfähiger«, erwiderte er. »Und Pampers sitzen zu eng. Sie klemmen dem Baby das Bein ab.«

»Aber Pampers haben eine Schicht, die die Feuchtigkeit aufnimmt, sodass der Hintern trocken bleibt«, sagte ich. »Außerdem habe ich bei Pampers weniger Probleme mit Hautausschlag.«

»Bei mir reißen leicht die Klebeverschlüsse ab. Und beim großen Geschäft läuft schon mal was durch die Beinöffnung raus, dann habe ich ja noch mehr Arbeit. Ich weiß nicht, ich finde einfach, Huggies sind besser.«

Eine Frau, die gerade mit ihrem Einkaufswagen vorbeikam, warf uns einen Blick zu. Wir mussten lachen, hörten wir uns doch an wie in einem Werbespot.

Ricky sagte laut: »Und, was sagst du zu den Giants?«, in Richtung der Frau, die weiter den Gang hinunterging.

»Absolute Spitzenklasse, Mann, die Jungs haben echt was drauf«, sagte ich und kratzte mich.

Wir lachten, schoben dann unsere Wagen zusammen den Gang entlang. Ricky sagte: »Willst du die Wahrheit wissen? Mary steht auf Huggies, und damit Ende der Diskussion.«

»Den Spruch kenn ich«, sagte ich.

Ricky warf einen Blick in meinen Wagen und bemerkte: »Ich sehe, du kaufst fettarme Biomilch ...«

»Schluss jetzt«, sagte ich. »Wie läuft's in der Firma?«

»Tja, die sind verdammt gut«, erklärte er. »Die Technologie macht tolle Fortschritte, das muss ich sagen. Neulich haben wir es den Geldgebern präsentiert, und das ist super gelaufen.«

»Und Julia kommt gut zurecht?«, fragte ich so beiläufig wie möglich.

»Und ob, sie kommt hervorragend zurecht. Soweit ich weiß«, sagte Ricky.

Ich warf ihm einen Blick zu. War er plötzlich verhalten? War sein Gesicht reglos, die Muskeln beherrscht? Verbarg er irgendetwas? Ich konnte es nicht sagen.

»Aber eigentlich sehe ich sie kaum«, sagte Ricky. »Sie ist zurzeit nicht so viel da.«

»Ich krieg sie auch nicht viel zu sehen«, sagte ich.

»Ja, sie ist ziemlich oft draußen in der Herstellung. Da spielt jetzt die Musik.« Ricky blickte mich kurz an. »Weißt du, wegen der neuen Fertigungsprozesse.«

Das Produktionsgebäude von Xymos war in Rekordzeit aus dem Boden gestampft worden, wenn man bedachte, wie komplex es war. Dort wurden Moleküle aus einzelnen Atomen zusammengesetzt, indem man die Molekülfragmente wie Legosteine zusammensteckte. Die Arbeit erfolgte vornehmlich in einem Vakuum, und es waren ungeheuer starke Magnetfelder erforderlich. Das Produktionsgebäude hatte deshalb riesige Pumpanlagen und gewaltige Kühlaggregate, um die Magnete herunterzukühlen. Doch nach dem, was Julia erzählt hatte, war ein Großteil der Technologie absolut speziell auf dieses Gebäude zugeschnitten; etwas Vergleichbares war nie zuvor gebaut worden.

Ich sagte: »Erstaunlich, wie schnell sie das Gebäude hochgezogen haben.«

»Na ja, wir haben auch ordentlich Dampf gemacht. Molecu-lar Dynamics sitzt uns im Nacken. Die Produktion läuft, und wir haben Patentanträge ohne Ende. Aber unser Vorsprung vor MolDyne und NanoTech kann nicht sehr groß sein. Ein paar Monate, vielleicht sechs, wenn wir Glück haben.«

»Dann baut ihr im Werk also schon Moleküle zusammen?«, fragte ich.

»Du hast es erfasst, Jack. Wir bauen, was das Zeug hält. Schon seit ein paar Wochen.«

»Ich wusste gar nicht, dass Julia sich für den Kram interessiert.« Ich hatte Julia mit ihrer psychologischen Ausbildung immer als jemanden gesehen, der lieber mit Menschen zu tun hatte.

»Sie interessiert sich brennend für die Technologie, das kann ich dir sagen. Außerdem wird in der Herstellung auch jede Menge programmiert«, sagte er. »Du weißt schon. Iterationszyklen, um die Produktionsverfahren zu verbessern.«

Ich nickte. »Was für Programme?«, fragte ich.

»Parallelverarbeitung. Multi-Agenten-Netze. So gelingt uns die Koordination der einzelnen Einheiten, damit sie zusammenarbeiten.«

»Und das alles für die Herstellung dieser medizinischen Kamera?«

»Ja.« Er stockte. »Unter anderem.« Er warf mir einen nervösen Blick zu, als könnte er gegen seine Geheimhaltungspflicht verstoßen.

»Du musst mir nichts erzählen«, sagte ich.

»Nein, nein«, sagte er rasch. »Herrje, wir kennen uns seit ewigen Zeiten, Jack.« Er schlug mir auf die Schulter. »Und deine Frau sitzt bei uns im Management. Ich meine, was soll's.« Aber er blickte weiterhin besorgt drein. Sein Gesicht strafte seine Worte Lügen. Und seine Augen waren mir ausgewichen, als er »deine Frau« sagte.

Das Gespräch neigte sich dem Ende zu, und ich spürte, dass ich völlig angespannt war, eine unangenehme Anspannung, wie, wenn man denkt, der andere weiß etwas und will es nicht sagen - weil es ihm peinlich ist, weil er nicht weiß, wie er es ausdrücken soll, weil er sich nicht einmischen will, weil es zu gefährlich ist, es auch nur anzusprechen, weil er denkt, du müsstest schon von allein auf den Trichter kommen. Erst recht, wenn es mit deiner Frau zu tun hat. Zum Beispiel, dass sie mit einem anderen schläft. Er blickt dich an wie eine wandelnde Leiche, als wäre es die Nacht der lebenden Toten, aber er sagt es dir nicht. Meiner Erfahrung nach erzählt ein Mann niemals einem anderen Mann, was er über dessen Frau weiß. Hingegen eine Frau erzählt es einer anderen Frau, wenn sie weiß, dass deren Mann untreu ist.

Das ist einfach so.

Aber ich war dermaßen angespannt, dass ich am liebsten .

»Gott, ich hab völlig die Zeit vergessen«, sagte Ricky und schenkte mir ein breites Lächeln. »Ich bin schon spät dran, Mary reißt mir den Kopf ab, ich muss mich beeilen. Sie ist schon sauer, weil ich die nächsten paar Tage draußen in der Fertigung bin. Ich bin also nicht zu Hause, ausgerechnet dann, wenn das Dienstmädchen nicht da ist . « Er zuckte die Achseln. »Aber du kennst das ja.«

»Und ob ich das kenne. Viel Glück.«

»He, Mann. Pass auf dich auf.«

Wir gaben uns die Hand. Murmelten noch eine Verabschiedung. Ricky rollte seinen Wagen um die Ecke des Ganges und war verschwunden.

Manchmal kann man sich nicht mit schmerzhaften Dingen beschäftigen, man schafft es nicht, sich darauf zu konzentrieren. Der Verstand stiehlt sich einfach davon, nein, danke, wechseln wir das Thema. Das passierte mir jetzt. Ich konnte nicht über Julia nachdenken, also dachte ich über das nach, was Ricky mir vom Fertigungswerk erzählt hatte. Und ich fand, dass es durchaus Hand und Fuß hatte, auch wenn es gegen alles sprach, was landläufig über Nanotechnologie bekannt war.

Unter Nanotechnologen hielt sich schon lange Zeit eine Fantasievorstellung, dass nämlich, sobald irgendwer herausfand, wie sich auf atomarer Ebene produzieren ließ, eine wahre Revolution ins Rollen kommen würde. Alle würden es aufgrei-fen, und auf der ganzen Welt würden Unmengen von wunderbaren Molekularkreationen vom Fließband laufen. Binnen Tagen würde diese fantastische neue Technologie das Leben der Menschen verändern. Es musste nur irgendwer herausfinden, wie es ging.

Aber selbstverständlich würde es niemals genau dazu kommen. Allein schon der Gedanke war absurd. Denn im Grunde genommen unterschied sich die molekulare Herstellung gar nicht so sehr von der Computerherstellung oder der Ventilherstellung, der Automobilherstellung oder der Herstellung von irgendetwas anderem. Alles brauchte seine Zeit, bis es richtig funktionierte. Ja, der Zusammenbau von Atomen zur Fertigung neuer Moleküle war eigentlich dem Kompilieren eines Computerprogramms aus einzelnen Codezeilen sehr ähnlich. Und ein Computercode ließ sich nicht gleich beim ersten Mal kompilieren. Die Programmierer mussten ständig irgendwelche Zeilen überarbeiten. Und selbst wenn das Computerprogramm kompiliert war, lief es nie beim ersten Mal einwandfrei. Auch nicht beim zweiten Mal. Oder beim hundertsten Mal. Es mussten Fehler beseitigt werden, und das immer und immer wieder. Und dann noch einmal.

Ich hatte schon häufig gedacht, dass es bei der Herstellung von Molekülen genauso sein musste - es würden immer und immer wieder Fehler zu beseitigen sein, bevor alles problemlos funktionierte. Und wenn Xymos wollte, dass »Schwärme« von Molekülen zusammenarbeiteten, dann würden auch in der Art und Weise, wie diese Moleküle miteinander kommunizierten, Fehler auftreten, die ausgemerzt werden mussten, so eingeschränkt die Kommunikation auch war. Denn sobald die Moleküle gemeinsam agierten, hatte man ein primitives Netzwerk. Um das zu organisieren, musste man wahrscheinlich ein verteiltes Netz programmieren. So eins, wie ich es bei Media-Tronics entwickelt hatte.

Ich konnte mir also sehr gut vorstellen, dass sie parallel zur Herstellung noch fleißig programmierten. Aber ich konnte mir nicht erklären, was Julia da zu suchen hatte. Die Werksanlage lag weit von der Xymos-Zentrale entfernt, praktisch am Ende der Welt - in der Wüste von Nevada, nicht weit von Tonopah. Und Julia war nicht gern am Ende der Welt.

Ich saß beim Kinderarzt im Wartezimmer, weil die nächste Impfung für das Baby anstand. Außer mir waren vier Mütter da, die ihre kranken Kinder auf dem Schoß hatten, während die anderen Kinder auf dem Fußboden spielten. Die Mütter unterhielten sich und übersahen mich geflissentlich.

Ich gewöhnte mich langsam daran. Ein Mann, der nicht arbeitete, ein Mann in einer Umgebung wie einer Kinderarztpraxis war etwas Ungewöhnliches. Das konnte doch nur bedeuten, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Wahrscheinlich stimmte mit dem Mann irgendetwas nicht, schließlich war er arbeitslos, vielleicht war er wegen Alkohol oder Drogen entlassen worden, vielleicht war er ein fauler Hund. Was immer der Grund war, es war jedenfalls nicht normal, mitten am Tag einen Mann in einer Kinderarztpraxis anzutreffen. Also taten die Mütter so, als wäre ich nicht vorhanden.

Hin und wieder warfen sie mir jedoch einen besorgten Blick zu, als könnte ich mich, wenn sie mir den Rücken zukehrten, von hinten ranschleichen und sie vergewaltigen. Sogar die Sprechstundenhilfe Gloria wirkte misstrauisch. Sie schaute das Baby auf meinem Arm, das nicht schrie und kaum schniefte, flüchtig an. »Was soll ihr denn fehlen?«

Ich sagte, wir seien wegen der Impfung da.

»War sie schon mal bei uns?«

Ja, sie sei seit ihrer Geburt hier.

»Sind Sie mit ihr verwandt?«

Ja, ich sei ihr Vater.

Schließlich wurden wir ins Sprechzimmer geführt. Der Arzt schüttelte mir die Hand, war ausgesprochen freundlich, wollte nicht wissen, warum ich und nicht meine Frau oder die Haushälterin gekommen war. Er gab Amanda zwei Spritzen. Sie brüllte. Ich wiegte sie an meiner Schulter, tröstete sie.

»Kann sein, dass sie eine kleine Schwellung bekommt, eine kleine lokale Rötung. Rufen Sie mich an, wenn die nach achtundvierzig Stunden nicht wieder verschwunden ist.«

Dann war ich wieder am Empfang und kramte meine Kreditkarte hervor, um die Rechnung zu bezahlen, während das Baby noch immer weinte. Und in dem Augenblick rief Julia an.

»Hi. Was machst du gerade?« Sie hatte wohl das Babygeschrei gehört.

»Den Kinderarzt bezahlen.«

»Schlechter Zeitpunkt?«

»Eigentlich ja ...«

»Okay, hör zu, ich wollte dir bloß Bescheid geben, dass ich heute pünktlich Feierabend mache - endlich mal! -, ich bin also zum Abendessen da. Soll ich auf dem Weg nach Hause was vom Italiener mitbringen?«

»Das wäre toll«, sagte ich.

Erics Fußballtraining dauerte länger als vorgesehen. Es wurde schon dunkel auf dem Platz. Der Trainer überzog andauernd. Ich tigerte an der Seitenlinie auf und ab und überlegte, ob ich mich beschweren sollte. Es war einfach schwer zu sagen, wann man sein Kind verhätschelte und wann man es rechtmäßig beschützte. Nicole rief von ihrem Handy aus an und sagte, ihre Theaterprobe sei zu Ende und warum ich sie nicht abgeholt hätte? Wo ich denn steckte? Ich sagte, ich sei noch immer mit Eric auf dem Fußballplatz, und fragte, ob sie nicht mit jemandem mitfahren könne.

»Dad . «, sagte sie genervt, als hätte ich von ihr verlangt, nach Hause zu kriechen.

»He, ich kann hier noch nicht weg.«

Sehr sarkastisch: »Ja, klar.« »Nicht in dem Ton, junge Dame.«

Aber einige Minuten später wurde das Training jäh abgebrochen. Ein grüner Pick-up fuhr auf den Fußballplatz, und zwei Männer stiegen aus, die Masken und dicke Gummihandschuhe trugen, mit Sprühflaschen auf dem Rücken. Sie wollten Unkrautvernichtungsmittel spritzen, und der Platz durfte bis zum nächsten Tag nicht betreten werden.

Ich rief Nicole an und sagte, wir würden sie abholen.

»Wann?«

»Wir sind schon unterwegs.«

»Vom Training des kleinen Ekelpakets?«

»Hör auf, Nic.«

»Wieso kommt er immer an erster Stelle?«

»Er kommt nicht immer an erster Stelle.«

»Tut er doch. Er ist ein kleines Ekelpaket.«

»Nicole .«

»Tschul-di-gung.«

»Bis gleich.« Ich unterbrach die Verbindung. Kinder sind heutzutage Frühentwickler. Die Teenagerzeit fängt mit elf an.

Um halb sechs waren die Kinder zu Hause und plünderten den Kühlschrank. Nicole aß ein großes Stück Mozzarella. Ich sagte ihr, das müsse reichen, sonst habe sie beim Abendessen keinen Hunger mehr. Dann deckte ich den Tisch weiter.

»Wann essen wir denn?«

»Bald. Mom bringt was mit.«

»O-Oh.« Sie verschwand kurz und kam dann wieder. »Sie sagt, es tut ihr Leid, dass sie nicht angerufen hat, aber sie kommt später.«

»Was?« Ich goss gerade Wasser in die Gläser auf dem Tisch.

»Sie sagt, es tut ihr Leid, dass sie nicht angerufen hat, aber sie kommt später. Ich hab eben mit ihr gesprochen.«

»Herrgott noch mal.« Mir platzte der Kragen. Ich bemühte mich zwar, meinen Ärger nie vor den Kindern zu zeigen, aber manchmal hatte ich mich nicht im Griff. Ich seufzte. »Okay.«

»Ich komm um vor Hunger, Dad.«

»Hol deinen Bruder und steigt ins Auto«, sagte ich. »Wir fahren zum Drive-in.«

Später, als ich das Baby zum Bett trug, stieß ich mit dem Ellbogen gegen ein Foto auf dem Bücherregal im Wohnzimmer. Es fiel scheppernd zu Boden, ich hob es auf. Es war ein Foto von Julia und Eric in Sun Valley, als er vier war. Sie trugen beide Schneeanzüge; Julia brachte ihm Skifahren bei und lächelte strahlend. Daneben stand ein Foto von Julia und mir an unserem elften Hochzeitstag in Kona; ich trug ein schrilles Hawaii-Hemd, und sie hatte bunte Blütenkränze um den Hals, und wir küssten uns bei Sonnenuntergang. Es war eine wunderschöne Reise, wir waren sogar ziemlich sicher, dass Amanda dort gezeugt wurde. Ich weiß noch, wie Julia eines Tages von der Arbeit nach Hause kam und sagte: »Schatz, erinnerst du dich noch, wie du gesagt hast, Mai Tais seien gefährlich?« Ich sagte: »Ja ...« Und sie sagte: »Tja, ich will es mal so ausdrücken. Es ist ein Mädchen!« Und ich war dermaßen perplex, dass mir das Mineralwasser, das ich gerade trank, die Nase hochstieg, und wir mussten beide lachen.

Dann ein Foto von Julia, beim Plätzchenbacken mit Nicole, die noch so klein war, dass sie auf der Küchentheke saß und mit den Beinen nicht an die Kante reichte. Sie war höchstens anderthalb. Nicole, die Stirn vor Konzentration in Falten gelegt, schwang einen großen Löffel mit Teig und richtete eine richtig schöne Sauerei an, während Julia sich das Lachen verkniff.

Und ein Foto von uns beim Wandern in Colorado; Julia hatte die sechsjährige Nicole an der Hand, und ich trug Eric auf den Schultern, der Kragen meines Hemdes dunkel vor Schweiß -oder Schlimmerem, wenn ich den Tag recht in Erinnerung hatte. Eric musste um die zwei Jahre alt gewesen sein, er trug noch Windeln. Ich weiß noch gut, wie lustig er es immer fand, mir die Augen zuzuhalten, während ich ihn trug.

Das Wanderfoto war im Rahmen verrutscht und stand schief. Ich tippte gegen den Rahmen, um es wieder gerade zu richten, aber es rührte sich nicht. Ich sah, dass etliche von den anderen Bildern verblichen waren oder dass die Beschichtung am Glas klebte. Niemand hatte sich je um die Bilder gekümmert. Das Baby zog die Nase hoch und rieb sich mit den Fäusten die Augen. Ich stellte die Fotos wieder aufs Regal. Es waren alte Bilder aus einer anderen, glücklicheren Zeit. Aus einem anderen Leben. Sie schienen nichts mit mir zu tun zu haben, nicht mehr. Alles war jetzt anders. Die Welt war jetzt anders.

Ich ließ den gedeckten Tisch, wie er war, ein stiller Vorwurf. Julia sah es, als sie gegen zehn nach Hause kam. »Tut mir Leid, Schatz.«

»Ich weiß, du hast viel um die Ohren«, sagte ich.

»Stimmt. Bitte verzeih mir, ja?«

»Ich verzeih dir«, sagte ich.

»Du bist der Beste.« Sie warf mir eine Kusshand zu, vom anderen Ende des Raumes. »Ich hüpf mal eben unter die Dusche«, sagte sie. Und sie ging den Flur entlang. Ich sah ihr nach.

Auf dem Weg zum Bad warf sie einen Blick in Amandas Zimmer und huschte dann hinein. Gleich darauf hörte ich sie beruhigende Laute von sich geben und das Baby glucksen. Ich stand von meinem Stuhl auf und ging ihr nach.

Im dunklen Kinderzimmer hielt sie Amanda hoch, rieb mit der Nase an ihrer.

Ich sagte: »Julia ... du hast sie wach gemacht.«

»Nein, hab ich nicht, sie war wach. Das warst du doch, mein kleines Kuschelhäschen? Du warst doch wach, nicht wahr, mein Knubbel-Bubbel?«

Das Baby rieb sich mit winzigen Fäusten die Augen und gähnte. Ich war sicher, dass sie aufgeweckt worden war.

Julia drehte sich im Dunkeln zu mir um. »Ich schwör's dir. Wirklich. Ich hab sie nicht wach gemacht. Wieso siehst du mich so an?«

»Wie seh ich dich denn an?«

»Das weißt du genau. Vorwurfsvoll.«

»Ich mach dir keinen Vorwurf.«

Das Baby fing an zu wimmern und dann an zu brüllen. Julia fühlte die Windel. »Ich glaube, sie hat sich nass gemacht«, sagte sie und reichte sie mir, während sie aus dem Zimmer ging. »Sie sind gefragt, Mr. Perfect.«

Jetzt war dicke Luft zwischen uns. Nachdem ich dem Baby die Windel gewechselt und es wieder ins Bett gelegt hatte, hörte ich, wie Julia aus der Dusche kam und eine Tür zuknallte. Immer wenn Julia Türen knallen ließ, war das für mich das Zeichen, dass ich zu ihr kommen und sie besänftigen sollte. Aber heute Abend war mir nicht danach. Es ärgerte mich, dass sie das Baby aufgeweckt hatte, und ich ärgerte mich über ihre Unzuverlässigkeit, erst sagte sie, sie werde zum Abendessen zu Hause sein, und dann gab sie nicht mal frühzeitig Bescheid, dass es doch später werden würde. Ich hatte Angst, dass sie deshalb so unzuverlässig geworden war, weil sie durch eine neue Liebe abgelenkt wurde. Oder machte sie sich einfach nicht mehr viel aus ihrer Familie? Ich wusste nicht, was ich tun sollte, aber ich hatte jetzt keine Lust, mich mit ihr zu vertragen.

Ich ließ sie einfach weiter die Türen knallen. Sie schlug die Schiebetür ihres Wandschrankes so fest zu, dass das Holz krachte. Sie fluchte. Auch das war ein Zeichen: Ich sollte zu ihr gelaufen kommen.

Ich ging zurück ins Wohnzimmer und setzte mich. Ich nahm das Buch, in dem ich las, und starrte auf die Seite. Ich versuchte, mich zu konzentrieren, aber es gelang mir natürlich nicht. Ich war wütend, und ich lauschte, wie sie im Schlafzimmer herumpolterte. Wenn sie so weitermachte, würde sie Eric wecken, und dann würde ich ein ernstes Wörtchen mit ihr reden müssen. Ich hoffte, dass es nicht so weit kam.

Schließlich hörte der Lärm auf. Wahrscheinlich hatte sie sich ins Bett gelegt. Falls ja, würde sie bald einschlafen. Julia konnte auch schlafen, wenn wir uns gestritten hatten. Ich konnte das noch nie; ich blieb also auf, lief wütend auf und ab und versuchte, mich zu beruhigen.

Als ich dann doch ins Bett ging, schlief Julia tief und fest. Ich schlüpfte unter die Decke und rollte mich von ihr weg.

Es war ein Uhr morgens, als das Baby anfing zu schreien. Ich suchte nach dem Lichtschalter, stieß den Wecker um, wodurch das Radio anging, und Rock 'n' Roll plärrte los. Ich fluchte, tastete im Dunkeln herum, bis ich endlich die Nachttischlampe anhatte und das Radio ausmachen konnte.

Das Baby schrie noch immer.

»Was hat sie denn?«, fragte Julia schläfrig.

»Ich weiß nicht.« Ich stieg aus dem Bett, schüttelte den Kopf, versuchte, wach zu werden. Ich ging ins Kinderzimmer und schaltete das Licht an. Der Raum kam mir sehr hell vor, die Clowntapete knallgelb. Unwillkürlich dachte ich: Was hat sie gegen gelbe Tischsets, wo sie doch das ganze Kinderzimmer gelb gestrichen hat?

Die Kleine stand in ihrem Bettchen, hielt sich an den Stäben fest, brüllte mit weit offenem Mund und rang keuchend nach Luft. Tränen liefen ihr über die Wangen. Ich breitete die Arme aus, und sie griff nach mir, und ich tröstete sie. Ich dachte, sie müsse einen Albtraum gehabt haben. Ich wiegte sie sanft, um sie zu beruhigen.

Sie schrie unvermindert weiter. Vielleicht tat ihr irgendetwas weh, vielleicht war was in der Windel. Ich untersuchte ihren Körper. Und da sah ich, dass sie am Bauch einen bösen Ausschlag hatte, der sich wie Striemen zum Rücken und bis hinauf zum Hals erstreckte.

Julia kam herein. »Kannst du nicht dafür sorgen, dass sie aufhört?«, sagte sie.

Ich sagte: »Irgendwas stimmt nicht mit ihr«, und ich zeigte Julia den Hautausschlag.

»Hat sie Fieber?«

Ich fühlte Amanda den Kopf. Sie war verschwitzt und heiß, aber das konnte auch vom Weinen kommen. Am übrigen Körper fühlte sie sich kühl an. »Ich weiß nicht. Ich glaube nicht.«

Jetzt sah ich den Ausschlag auch an ihren Oberschenkeln. War der vorhin schon da gewesen? Mir war fast, als würde er sich vor meinen Augen ausbreiten. Wenn das überhaupt noch möglich war, brüllte das Baby jetzt noch lauter.

»Mein Gott«, sagte Julia. »Ich ruf den Arzt an.«

»Ja, mach das.« Inzwischen hatte ich Amanda auf den Rük-ken gelegt - sie schrie noch mehr -, und ich sah mir ihren ganzen Körper genau an. Der Ausschlag breitete sich aus, kein Zweifel. Und sie hatte offenbar fürchterliche Schmerzen und brüllte sich die Lunge aus dem Leib.

»Mein armes Schätzchen, mein armes, armes Schätzchen ...«, sagte ich.

Die Rötung breitete sich eindeutig aus.

Julia kam zurück und sagte, dass sie dem Arzt eine Nachricht hinterlassen habe. Ich sagte: »Ich warte nicht. Ich bring sie ins Krankenhaus.«

»Meinst du wirklich, das ist notwendig?«, fragte sie.

Ich antwortete nicht, ich ging einfach ins Schlafzimmer, um mir etwas anzuziehen.

Julia fragte: »Soll ich mitkommen?«

»Nein, bleib bei den Kindern«, sagte ich.

»Wirklich?«

»Ja.«

»Na schön«, sagte sie. Sie ging zurück ins Schlafzimmer. Ich nahm meine Autoschlüssel.

Das Baby schrie weiter.

»Ich weiß, es ist unangenehm«, sagte der Assistenzarzt. »Aber ich halte es nicht für ungefährlich, ihr ein Beruhigungsmittel zu geben.« Wir waren in einem durch einen Vorhang abgetrennten Raum in der Notaufnahme. Der Arzt beugte sich über meine schreiende Tochter und schaute ihr mit einem Instrument in die Ohren. Inzwischen war Amanda am ganzen Körper krebsrot. Sie sah aus, als wäre sie gekocht worden.

Ich hatte Angst. Ich hatte noch nie davon gehört, dass ein Baby leuchtend rot wurde und schrie wie am Spieß. Ich traute dem Arzt nicht, der mir viel zu jung erschien, um kompetent zu sein. Er konnte noch keine Erfahrung haben; er sah nicht einmal so aus, als müsse er sich schon rasieren. Ich war furchtbar nervös, trat von einem Fuß auf den anderen. Allmählich spürte ich, wie ich leicht wahnsinnig wurde, weil meine Tochter seit einer Stunde ununterbrochen brüllte. Es zerrte an meinen Nerven. Der Arzt achtete gar nicht darauf. Ich fragte mich, wie er das anstellte.

»Fieber hat sie nicht«, sagte er und notierte etwas auf einem Krankenblatt, »aber bei Kindern in dem Alter hat das ohnehin nichts zu bedeuten. Unter einem Jahr kann es sein, dass sie gar kein Fieber kriegen, selbst bei einer schweren Infektion nicht.«

»Hat sie das?«, fragte ich. »Hat sie eine Infektion?«

»Ich weiß nicht. Ich tippe auf ein Virus, wegen des Hautausschlags. Aber wir müssten das vorläufige Blutergebnis gleich -ah, schön.« Eine Krankenschwester gab ihm im Vorbeigehen einen Zettel. »Ähh ... hmmm ...« Er hielt inne. »Also ...«

»Also was?«, fragte ich und trat wieder von einem Bein aufs andere.

Er starrte kopfschüttelnd auf das Blatt. Er antwortete mir nicht.

»Also was?«

»Es ist keine Infektion«, sagte er. »Die Anzahl der weißen Blutkörperchen ist normal, Proteinfraktion normal. Ihr Immunsystem ist absolut nicht mobilisiert.«

»Was bedeutet das?«

Er war sehr ruhig, stand da, runzelte die Stirn und dachte nach. Ich fragte mich, ob er vielleicht einfach nur dumm war. Heutzutage gingen die besten Leute nicht mehr in die Medizin, nicht bei unserem reglementierten Gesundheitswesen. Der junge Bursche gehörte vielleicht zum neuen Schlag einfältiger Ärzte.

»Wir müssen das diagnostische Netz erweitern«, sagte er. »Ich werde eine allgemeinmedizinische Untersuchung veranlassen, eine neurologische Untersuchung, wir ziehen einen Dermatologen hinzu und jemanden, der auf Infektionskrankheiten spezialisiert ist. Das bedeutet, eine Menge Leute werden mit Ihnen über Ihre Tochter sprechen und immer wieder die gleichen Fragen stellen, aber .«

»Das macht nichts«, sagte ich. »Kein Problem. Aber ... was glauben Sie denn, was sie hat?«

»Ich weiß es nicht, Mr. Forman. Wenn es keine Infektion ist, suchen wir nach anderen Gründen für die Hautreaktion. Sie waren mit ihr nicht im Ausland?«

»Nein.« Ich schüttelte den Kopf.

»Sie ist auch nicht kürzlich mit Metallen oder Toxinen in Berührung gekommen?«

»Auf welche Weise?«

»Müllhalden, Fabriken, Chemikalien .«

»Nein, nein.«

»Haben Sie irgendeine Vermutung, was die Reaktion ausgelöst haben könnte?«

»Nein, nichts ... Moment, sie ist gestern geimpft worden.«

»Gegen was?«

»Ich weiß nicht, was man in ihrem Alter eben so kriegt .«

»Sie wissen nicht, was für Impfungen?«, sagte er. Sein No-tizbuch war aufgeklappt, sein Stift schwebte über der Seite.

»Nein, Herrgott noch mal«, sagte ich gereizt, »ich weiß nicht, was für Impfungen. Bei jedem Termin kriegt sie eine andere Spritze. Sie sind doch schließlich der Arzt ...«

»Schon gut, Mr. Forman«, sagte er beruhigend. »Ich weiß, es ist stressig. Sagen Sie mir einfach, wie der Arzt heißt, ich rufe ihn dann an, was halten Sie davon?«

Ich nickte. Ich wischte mir mit der Hand über die Stirn. Ich schwitzte. Ich buchstabierte für ihn den Namen des Kinderarztes, und er schrieb mit. Ich versuchte, ruhig zu werden. Ich versuchte, klar zu denken.

Und die ganze Zeit über brüllte mein Baby immer weiter.

Eine halbe Stunde später bekam sie Krämpfe.

Sie fingen an, als sich gerade einer von den Spezialisten in Weiß über sie beugte und sie untersuchte. Ihr kleiner Körper krümmte und wand sich. Sie gab Würgelaute von sich, als müsste sie sich übergeben. Ihre Beine schlugen krampfartig. Sie fing an zu keuchen. Ihre Augen drehten sich nach innen.

Ich weiß nicht mehr, was ich in dem Moment alles sagte oder tat, aber ein stämmiger Krankenpfleger von der Größe eines Footballspielers kam herein, stieß mich an den Rand des Behandlungsraumes und hielt meine Arme fest. Ich blickte an seiner breiten Schulter vorbei, während sechs Personen sich um meine Tochter herumdrängten; eine Krankenschwester mit einem Bart-Simpson-T-Shirt steckte ihr eine Nadel in die Stirn. Ich fing an zu schreien und versuchte, mich loszureißen. Der Krankenpfleger rief: »Köpfen, köpfen, köpfen.« Schließlich begriff ich, dass er »Kopfvene« sagte. Er erklärte, das sei nur für die Infusion, weil das Baby dehydriert sei. Deshalb habe sie die Krämpfe bekommen. Ich hörte die Worte Elektrolyte, Magnesium, Kalium.

Jedenfalls hörten die Krämpfe gleich danach auf. Aber Amanda brüllte weiter.

Ich rief Julia an. Sie war wach. »Wie geht es ihr?«

»Unverändert.«

»Weint sie noch immer? Ist sie das?«

»Ja.« Sie konnte Amanda im Hintergrund hören.

»Mein Gott.« Sie stöhnte. »Was sagen die Ärzte?«

»Sie wissen noch nicht, was sie hat.«

»Ach, die arme Kleine.«

»Sie ist schon von rund fünfzig Ärzten untersucht worden.«

»Kann ich irgendwas tun?«

»Ich glaube nicht.«

»Okay. Sag mir Bescheid.«

»Okay.«

»Ich schlafe nicht.«

»Okay.«

Kurz vor Tagesanbruch verkündeten die versammelten Experten, dass sie entweder einen Darmverschluss oder einen Gehirntumor habe und dass zur Klärung eine Kernspintomografie durchgeführt werden solle. Der Himmel erhellte sich blassgrau, als Amanda in den Untersuchungsraum gebracht wurde, in dessen Mitte das große, weiße Gerät stand. Die Krankenschwester sagte, es würde meine Tochter beruhigen, wenn ich bei der Vorbereitung dabei wäre, und sie zog die Nadel aus der Kopfvene, weil keine Metallgegenstände mit in das Gerät durften. Blut spritzte hervor und lief über Amandas Stirn ins Auge. Die Krankenschwester wischte es ab.

Jetzt wurde Amanda auf ein weißes Brett geschnallt, das in die Tiefen des Geräts rollte. Meine Tochter starrte in Panik nach oben auf die Apparatur, noch immer schreiend. Ich ging in den Nebenraum, der ein Fenster hatte, in Richtung des Tomografen.

Der Techniker war ein Ausländer mit dunkler Hautfarbe. »Wie alt ist sie? Ist es überhaupt eine Sie?«

»Ja, eine Sie. Neun Monate.«

»Hat aber schon kräftige Lungen.«

»Ja.«

»Los geht's.« Er hantierte mit seinen Knöpfen und Schiebern, wobei er meine Tochter kaum eines Blickes würdigte.

Amanda verschwand vollständig in dem Gerät. Ihr Schluchzen hörte sich blechern über den Lautsprecher an. Der Techniker betätigte einen Schalter, und die Pumpe begann zu rattern; es war ziemlich laut. Trotzdem hörte ich meine Tochter weiter schreien.

Und dann hörte sie plötzlich auf.

Sie war völlig still.

»Gott«, sagte ich. Ich sah den Techniker und die Krankenschwester an. Ihre Gesichter zeigten Entsetzen. Wir alle dachten das Gleiche, etwas Schreckliches war passiert. Mein Herz hämmerte. Der Techniker stellte hastig die Pumpen ab, und wir eilten zurück in den Raum.

Meine Tochter lag da, noch immer angeschnallt, schwer atmend, aber offensichtlich wohlauf. Sie blinzelte langsam, als wäre sie benommen. Schon jetzt war ihre Haut deutlich heller geworden, rosa, hatte stellenweise wieder ihre normale Farbe. Die Rötung wurde praktisch vor unseren Augen schwächer. »Mich laust der Affe«, sagte der Techniker.

Zurück in der Notaufnahme wollten die Ärzte Amanda nicht nach Hause lassen. Sie waren noch immer der Meinung, dass sie einen Tumor oder eine gefährliche Darmgeschichte habe, und bestanden darauf, sie zur Beobachtung dazubehalten. Doch der Hautausschlag ließ zusehends nach. Im Laufe der nächsten Stunde verblasste die rosa Färbung und verschwand schließlich ganz.

Niemand konnte sich erklären, was passiert war, und die Ärzte waren besorgt. Amanda hatte wieder die Infusion in der Kopfvene, diesmal auf der anderen Seite der Stirn. Aber als ich ihr das Fläschchen gab, saugte sie es gierig leer. Sie starrte, wie immer, wenn ich sie fütterte, mit ihrem hypnotischen Blick zu mir hoch. Es schien ihr tatsächlich wieder gut zu gehen. Sie schlief in meinen Armen ein.

Ich saß noch eine Stunde herum, dann fing ich an zu klagen, dass ich zu meinen Kindern müsste, um sie zur Schule zu bringen. Und kurz darauf konstatierten die Ärzte einen weiteren Triumph der modernen Medizin und schickten mich mit meiner Tochter nach Hause. Amanda schlief auf dem ganzen Weg tief und fest und wurde auch nicht wach, als ich sie aus dem Kindersitz im Auto hob. Der Morgen dämmerte, als ich sie die Auffahrt hoch- und ins Haus trug.

3. Tag, 6.07 Uhr

Im Haus war es vollkommen still. Die Kinder schliefen noch. Als ich hereinkam, stand Julia im Esszimmer und blickte zum Fenster hinaus in den Garten. Der Rasensprenger war an, zischte und klickte. Julia hatte eine Tasse Kaffee in der Hand und starrte reglos nach draußen.

Ich sagte: »Wir sind wieder da.«

Sie drehte sich um. »Alles wieder in Ordnung mit ihr?«

Ich hielt ihr das Baby hin. »Sieht so aus.«

»Gott sei Dank«, sagte sie, »ich hab mir solche Sorgen gemacht, Jack.« Aber sie ging nicht auf Amanda zu und berührte sie nicht. »Solche Sorgen.«

Ihre Stimme klang fremd, distanziert. Julia hörte sich eigentlich nicht besorgt an, sondern förmlich, wie jemand, der die Rituale einer anderen Kultur befolgte, sie aber im Grunde nicht verstand. Sie nahm einen Schluck Kaffee.

»Ich hab die ganze Nacht kein Auge zugetan«, sagte sie. »Ich hab mir solche Sorgen gemacht. Ich hab mich schrecklich gefühlt. Gott.« Ihre Augen huschten zu meinem Gesicht, dann wieder weg. Sie hatte offensichtlich ein schlechtes Gewissen.

»Willst du sie mal nehmen?«

»Ich, äh ...« Julia schüttelte den Kopf und nickte der Kaffeetasse in ihrer Hand zu. »Nicht jetzt«, sagte sie. »Ich muss nach den Sprinklern sehen. Die ertränken mir noch die Rosen.« Und sie ging in den Garten.

Ich sah, wie sie in den Garten trat und auf die Sprinkler schaute. Sie blickte kurz zu mir herüber und kontrollierte dann übertrieben deutlich die Zeitschaltuhr in dem Kasten an der Wand. Sie klappte den Deckel hoch und blickte hinein. Ich verstand das nicht. Erst vergangene Woche hatten die Gärtner die Bewässerungszeit neu eingestellt. Vielleicht hatten sie es nicht richtig gemacht.

Amanda schniefte in meinen Armen. Ich ging mit ihr ins Kinderzimmer, wechselte ihr die Windel und legte sie ins Bett.

Als ich zurückkam, sah ich Julia in der Küche, wo sie mit ihrem Handy telefonierte. Auch das war eine ihrer neuen Marotten. Sie benutzte unseren Festnetzanschluss kaum noch; sie telefonierte mit ihrem Handy. Ich hatte sie einmal nach dem Grund dafür gefragt, und sie hatte geantwortet, es sei einfacher so, weil sie viele Ferngespräche führen müsse, und die Firma übernehme die Handykosten.

Ich verlangsamte meine Schritte und ging auf dem Teppich. Ich hörte sie sagen: »Ja, verdammt, klar mach ich das, aber wir müssen jetzt vorsichtig sein .«

Sie blickte hoch und sah mich kommen. Sofort veränderte sich ihr Tonfall. »Okay, äh ... hör zu, Carol, ich denke, das können wir mit einem Anruf in Frankfurt klären. Schick ein Fax hinterher und sag mir Bescheid, wie er reagiert hat, ja?« Und sie klappte das Handy zu. Ich kam in die Küche.

»Jack, ich geh äußerst ungern aus dem Haus, bevor die Kinder auf sind, aber .«

»Du musst weg?«

»Leider ja. Ein dringendes Problem in der Firma.«

Ich sah auf meine Uhr. Es war Viertel vor sechs. »Okay.«

Sie sagte: »Tja, kannst du, ähm ... die Kinder ...«

»Klar. Ich kümmere mich um alles.«

»Danke. Ich ruf dich an.«

Und weg war sie.

Ich war zu müde, um klar denken zu können. Die Kleine schlief noch, und wenn ich Glück hatte, würde sie das auch noch ein paar Stunden länger tun. Meine Haushälterin Maria kam um halb sieben ins Haus und stellte die Müslischüsseln auf den Tisch. Die Kinder aßen, und ich fuhr sie zur Schule. Ich bemühte mich nach Kräften, wach zu bleiben. Ich gähnte.

Eric saß neben mir auf dem Beifahrersitz. Auch er gähnte.

»Noch nicht ganz ausgeschlafen?«

Er nickte. »Diese Männer haben mich wach gehalten«, sagte er.

»Was für Männer?«

»Die Männer, die letzte Nacht im Haus waren.«

»Was für Männer?«, sagte ich.

»Die mit den Staubsaugern«, erwiderte er. »Die haben alles abgesaugt. Und sie haben den Geist aufgesaugt.«

Nicole auf dem Rücksitz kicherte. »Den Geist ...«

Ich sagte: »Ich glaube, das hast du geträumt, mein Sohn.« Eric hatte in letzter Zeit oft lebhafte Albträume, von denen er nachts wach wurde. Ich war mir ziemlich sicher, dass Nicole dafür verantwortlich war, weil sie ihn Horrorfilme mitgucken ließ, obwohl sie genau wusste, dass es ihn verstörte. Nicole war in dem Alter, wo sie am liebsten Filme sah, in denen maskierte Killer Teenager umbrachten, nachdem sie Sex gehabt hatten. Das bekannte Schema: Wer Sex hat, stirbt. Aber Eric war noch nicht alt genug für so etwas. Ich hatte ihr schon oft verboten, ihn mitgucken zu lassen.

»Nein, Dad, das war kein Traum«, sagte Eric und gähnte wieder. »Die Männer waren wirklich da. Ein ganzer Haufen.«

»Ja, klar. Und was war mit dem Geist?«

»Der war eben ein Geist. Ganz silbern und schimmernd, bloß dass er kein Gesicht hatte.«

»Sicher.« Inzwischen hatten wir vor der Schule gehalten. Und Nicole sagte, ich müsste sie um Viertel nach vier statt um Viertel vor vier abholen, weil sie nach dem Unterricht noch eine Theaterprobe hätten, und Eric erklärte, er würde nicht zum Kinderarzt gehen, wenn er eine Spritze kriegen müsste. Ich wiederholte das zeitlose Mantra aller Eltern: »Mal sehen.«

Die beiden kletterten aus dem Wagen und schleppten ihre Schultaschen hinter sich her. Sie hatten beide Rucksäcke, die über zwanzig Pfund wogen. Das ging einfach über meinen Verstand. Als ich in ihrem Alter war, hatten die Kinder keine schweren Rucksäcke. Wir hatten überhaupt keine Rucksäcke. Jetzt hatte anscheinend jedes Kind einen. Man sah kleine Zweitklässler, vornübergebeugt wie Sherpas, die sich unter dem Gewicht ihrer Taschen durch die Schultüren schleppten. Manche Kinder hatten Rucksäcke mit Rollen und zogen sie wie Koffer am Flughafen. Das war mir unerklärlich. Die Welt wurde zunehmend digital, alles wurde kleiner und leichter. Aber die Kinder schleppten mehr Gewicht als je zuvor.

Auf einem Elternabend vor zwei Monaten hatte ich das einmal angesprochen. Und die Schulleiterin sagte: »Ja, das ist ein großes Problem. Wir sind da alle sehr besorgt.« Und wechselte dann das Thema.

Auch das war mir unerklärlich. Wenn alle sehr besorgt waren, warum wurde dann nichts unternommen? Aber so ist der Mensch nun mal veranlagt. Keiner tut was, ehe es zu spät ist. Wir stellen an der Kreuzung eine Ampel erst auf, nachdem das Kind tödlich verunglückt ist.

Ich fuhr wieder nach Hause, durch zäh fließenden Morgenverkehr. Ich dachte, dass ich vielleicht noch zwei Stunden Schlaf kriegen könnte. Das war das Einzige, was mir durch den Kopf ging.

Maria weckte mich gegen elf, indem sie mich heftig an der Schulter rüttelte. »Mr. Forman. Mr. Forman.« Ich war schlaftrunken. »Was ist denn?« »Das Baby.«

Ich war auf der Stelle wach. »Was ist mit ihr?« »Sie Baby sehen, Mr. Forman. Sie ganz ...« Sie machte eine Geste, rieb sich Schulter und Arm. »Sie ist ganz was?« »Sie Baby sehen, Mr. Forman.«

Ich torkelte aus dem Bett und ging ins Kinderzimmer. Amanda stand aufrecht in ihrem Bettchen, hielt sich am Gitter fest. Sie hüpfte auf und ab und lächelte glücklich. Alles schien normal, außer dass sie am ganzen Körper gleichmäßig violett war. Wie ein einziger Bluterguss.

»Ach du Schande«, sagte ich.

Mir graute vor einer weiteren Episode im Krankenhaus, mir graute vor noch mehr Weißkitteln, die einem nichts sagen konnten, mir graute davor, schon wieder Angst haben zu müssen. Ich war von der vergangenen Nacht noch völlig geschafft. Bei dem Gedanken, dass meine Tochter ernsthaft krank sein könnte, krampfte sich mir der Magen zusammen. Ich ging zu ihr, und sie gluckste vor Freude und lächelte mich an. Sie streckte eine Hand nach mir aus, griff in die Luft, ihr Zeichen, dass ich sie hochnehmen sollte.

Also nahm ich sie hoch. Sie wirkte ganz fidel, fasste sogleich in meine Haare und versuchte, mir die Brille wegzuziehen, so wie sie es immer tat. Ich war erleichtert, obwohl ich ihre Haut jetzt besser sehen konnte. Es sah aus wie ein Bluterguss - es hatte die Farbe eines Blutergusses -, nur dass es den ganzen Körper bedeckte. Amanda sah aus, als wäre sie in ein Farbbad getaucht worden. Die Gleichmäßigkeit der Farbe war beängstigend.

Ich beschloss, doch den Arzt in der Notaufnahme anzurufen. Ich nestelte in meiner Tasche nach seiner Karte, während Amanda an meiner Brille zog. Ich wählte einhändig. Ich konnte so ziemlich alles einhändig. Ich hatte ihn gleich am Apparat; er klang überrascht.

»Oh«, sagte er. »Gerade wollte ich Sie anrufen. Wie geht es Ihrer Tochter?«

»Na ja, sie wirkt ganz munter«, erwiderte ich und zog den Kopf zurück, damit Amanda nicht an meine Brille kam. Sie kicherte; es war jetzt ein Spiel. »Ihr geht's gut«, sagte ich, »die Sache ist bloß ...«

»Hat sie vielleicht irgendwelche Blutergüsse?«

»Ja«, sagte ich. »Allerdings. Deshalb rufe ich ja an.«

»Der Bluterguss ist am ganzen Körper? Gleichmäßig?«

»Ja«, sagte ich. »So gut wie. Wieso fragen Sie?«

»Tja«, sagte der Arzt, »ich habe jetzt die Laborergebnisse vorliegen, und es ist alles normal. Völlig normal. Ein gesundes Kind. Wir warten jetzt nur noch auf die Ergebnisse von der Kernspintomografie, aber das Gerät ist kaputt. Die sagen, es wird ein paar Tage dauern.«

Das ständige Kopfwegziehen wurde mir zu viel; ich stellte Amanda wieder in ihr Bettchen und telefonierte weiter. Das gefiel ihr natürlich nicht, und sie verzog das Gesicht, gleich würde sie losbrüllen. Ich gab ihr schnell das Krümelmonster, und sie setzte sich und spielte damit. Ich wusste, das Krümelmonster würde etwa fünf Minuten reichen.

»Jedenfalls«, sagte der Arzt jetzt, »ich bin froh, dass es ihr gut geht.«

Ich sagte, ich sei auch froh.

Es entstand eine Pause. Der Arzt hüstelte.

»Mr. Forman, auf dem Aufnahmeformular, das Sie im Krankenhaus ausgefüllt haben, steht, dass Sie von Beruf SoftwareEntwickler sind.«

»Das stimmt.«

»Heißt das, Sie haben mit der Herstellung zu tun?«

»Nein. Ich bin in der Programmentwicklung.«

»Und wo arbeiten Sie?«

»Im Valley.«

»Sie arbeiten nicht in einer Fabrik, zum Beispiel?«

»Nein. Ich arbeite in einem Büro.«

»Ich verstehe.« Pause. »Darf ich fragen, wo?«

»Ehrlich gesagt, zurzeit bin ich arbeitslos.«

»Verstehe. Aha. Wie lange schon?«

»Sechs Monate.«

»Verstehe.« Ein kurzes Zögern. »Tja, gut, das wollte ich nur abklären.«

Ich sagte: »Wieso?« »Bitte?«

»Wieso haben Sie mir diese ganzen Fragen gestellt?«

»Oh. Die stehen auf dem Formular.«

»Was für ein Formular?«, fragte ich. »Ich habe im Krankenhaus alle Formulare ausgefüllt.«

»Das ist ein zusätzliches Formular«, sagte er. »Eine Anfrage vom Gesundheitsministerium.«

Ich sagte: »Wieso denn das?«

»Es ist noch ein Fall gemeldet worden«, sagte er, »ganz ähnlich wie bei Ihrer Tochter.«

»Wo?«

»Sacramento General Hospital.«

»Wann?«

»Vor fünf Tagen. Aber die Situation ist völlig anders. Ein zweiundvierzigjähriger Botaniker hat draußen in der Sierra Nevada geschlafen, ein Experte für Wildblumen. Da muss es irgendeine seltene Blume geben. Jedenfalls wurde er in Sacra-mento ins Krankenhaus eingeliefert. Und er hatte den gleichen klinischen Verlauf wie Ihre Tochter - plötzlicher, unerwarteter Ausbruch, kein Fieber, schmerzhafte Hautrötung.«

»Und eine Kernspintomografie hat den Spuk beendet?«

»Ich weiß nicht, ob bei ihm eine gemacht wurde«, sagte er. »Aber wie es aussieht, hört dieses Syndrom - was immer es auch ist - von selbst auf. Ein sehr plötzlicher Ausbruch und ein sehr abruptes Ende.«

»Geht's ihm wieder gut? Dem Botaniker?«

»Er ist quietschfidel. Ein paar Tage Bluterguss, und das war's.«

»Schön«, sagte ich. »Das freut mich zu hören.«

»Das dachte ich mir«, entgegnete er. Dann sagte er, es könne sein, dass er später noch ein paar Fragen habe, und ob er noch mal anrufen dürfe? Ich erwiderte, er könne das tun, wann immer er wolle. Er bat mich, ihn zu kontaktieren, falls bei Amanda irgendeine Veränderung auftrat, und ich versprach es und legte auf.

Amanda hatte das Interesse am Krümelmonster verloren und stand jetzt wieder im Kinderbett, hielt sich mit einer Hand am Gitter fest und streckte die andere nach mir aus, packte mit ihren kleinen Fingern in die Luft.

Ich nahm sie auf den Arm - und sofort riss sie mir die Brille weg. Ich griff danach, und meine Tochter quietschte vor Vergnügen. »Amanda ...« Aber zu spät, sie warf die Brille auf den Boden.

Ich blinzelte.

Ohne Brille sehe ich schlecht. Die Brille hatte ein Drahtgestell und war deshalb nicht gut zu erkennen. Ich ging auf die Knie, das Baby auf dem Arm, und ließ meine freie Hand kreisförmig über den Boden gleiten, in der Hoffnung, Glas zu berühren. Ohne Erfolg. Ich blinzelte angestrengt, bewegte mich langsam vorwärts, suchte wieder mit der Hand. Noch immer nichts. Dann sah ich unter dem Bett etwas glänzen. Ich setzte das Baby hin, kroch ein Stück darunter, nahm die Brille und setzte sie auf. Dabei stieß ich mir den Kopf am Bettgestell an und senkte ihn dann wieder, so tief es ging.

Und plötzlich fiel mein Blick auf die Steckdose an der Wand unter dem Kinderbett. Es war ein kleines Plastikkästchen eingestöpselt. Ich zog es heraus und sah es mir an. Es war ein fünf Zentimeter großer Würfel, anscheinend ein handelsüblicher Überspannungsschutz, hergestellt in Thailand. Die Eingangs- und Ausgangsspannung war in das Plastik eingeprägt. An der Unterseite befand sich ein weißes Etikett mit der Aufschrift »PROP. SSVT« und einem Strichcode. Ein ganz normaler Aufkleber, mit denen Hersteller ihre Produkte versehen.

Ich drehte den Würfel in der Hand. Wo kam der her? Ich kümmerte mich seit sechs Monaten allein um das Haus. Ich wusste, wo alles war. Und Amanda brauchte weiß Gott keinen

Überspannungsschutz in ihrem Zimmer. Den benötigte man nur für empfindliche elektronische Geräte, beispielsweise für Computer.

Ich stand auf und blickte mich im Zimmer um, sah nach, ob sonst noch etwas anders war. Zu meiner Verblüffung merkte ich, dass alles anders war - aber nur ein kleines bisschen. Der Schirm von Amandas Nachtlicht war mit Pu-der-Bär-Figuren bedruckt.

Ich hatte ihn immer so gedreht, dass Tieger zum Bettchen meiner Tochter schaute, weil sie Tieger am liebsten mochte. Jetzt war I-Ah zum Bett hin gedreht. Die Unterlage auf der Wickelkommode hatte in einer Ecke einen Fleck; normalerweise war der Fleck unten links, jetzt war er oben rechts. Amandas Salben gegen einen wunden Po bewahrte ich stets auf der Ablage links auf, außerhalb ihrer Reichweite. Jetzt waren sie so nahe, dass sie drankommen konnte. Und es war noch mehr verändert .

Die Haushälterin kam herein. »Maria«, sagte ich, »haben Sie hier im Zimmer sauber gemacht?«

»Nein, Mr. Forman.«

»Aber das Zimmer ist anders«, sagte ich.

Sie schaute sich um und zuckte die Achseln. »Nein, Mr. Forman. Gleich.«

»Nein, nein«, beteuerte ich. »Es ist anders. Schauen Sie.« Ich zeigte auf den Lampenschirm, die Wickelunterlage. »Anders.«

Sie zuckte wieder die Achseln. »Okay, Mr. Forman.« Ich sah die Verwunderung in ihrem Gesicht. Entweder sie verstand nicht, was ich wollte, oder sie hielt mich für verrückt. Und vermutlich wirkte ich ja auch ein bisschen verrückt, ein erwachsener Mann, der sich wegen eines Pu-der-Bär-Lampenschirms aufregte.

Ich zeigte ihr den Würfel in meiner Hand. »Haben Sie das schon mal gesehen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Das war unter dem Kinderbett.«

»Ich weiß nicht, Mr. Forman.« Sie nahm den Würfel, sah ihn sich von allen Seiten an, drehte ihn in der Hand. Sie zuckte die Achseln und gab ihn mir wieder. Sie benahm sich zwanglos, aber ihre Augen waren wachsam. Allmählich wurde mir die Sache peinlich.

»Schon gut, Maria«, sagte ich. »Vergessen Sie's.«

Sie bückte sich, um das Baby hochzunehmen. »Ich füttere sie jetzt.«

»Ja, in Ordnung.«

Ich verließ das Zimmer, kam mir blöd vor.

Nur zum Spaß suchte ich im Internet nach »SSVT«. Ich fand Links zum Sri-Siva-Vishnu-Tempel, zu Informationen über ein Ausbildungslager der SS-Verfügungstruppe in Konitz, zu einem Versandhandel von Nazi-Insignien, zu Subsystems Sample Display Technology, South Shore Vocational-Technical School, Optical VariTemp Cryostat Systems, zu einem Fußbodenhersteller namens Solid Surfacing Veneer Tiling, zu einer Band namens Slingshot-Venus, zur Swiss Shooting Federation - und von da an ging es nur noch weiter bergab.

Ich drehte mich vom Computer weg.

Ich blickte zum Fenster hinaus.

Maria hatte mir eine Einkaufsliste gegeben, in ihrer krakeligen Handschrift. Ich sollte die Einkäufe wirklich erledigt haben, ehe ich die Kinder abholte. Aber ich rührte mich nicht. Es gab Zeiten, wo das unnachgiebige Tempo des Lebens zu Hause mich einfach fertig machte und ich mich völlig erschöpft und leer fühlte. In solchen Zeiten musste ich einfach ein paar Stunden sitzen.

Ich wollte mich nicht rühren. Nicht jetzt.

Ich fragte mich, ob Julia heute Abend anrufen und ob sie diesmal eine andere Entschuldigung haben würde. Ich fragte mich, was ich machen würde, falls sie eines Tages hereinkam und verkündete, dass sie einen anderen liebe. Was würde ich machen, wenn ich bis dahin keinen Job hatte?

Wann würde ich wieder einen Job haben? Ich drehte den kleinen Überspannungsschutz-Würfel träge in der Hand, während ich meinen Gedanken nachhing.

Draußen, direkt vor meinem Fenster, stand ein großer Korallenbaum mit dicken Blättern und grünem Stamm. Wir hatten ihn kurz nach unserem Einzug gepflanzt, damals war er noch wesentlich kleiner gewesen. Natürlich hatten die Männer von der Baumschule ihn eingegraben, aber wir waren alle dabei. Nicole war mit ihrem Plastikeimerchen und der Schaufel ausgerüstet. Eric kroch in seinen Windeln auf dem Rasen herum. Julia hatte die Männer mit ihrem Charme um den Finger gewickelt, sodass sie sogar Überstunden machten, um die Arbeit fertig zu bekommen. Als alle fort waren, küsste ich meine Frau und wischte ihr Erde von der Nase. Sie sagte: »Irgendwann wird er unser ganzes Haus bedecken.«

Aber leider kam es anders. Bei einem Unwetter war ein Ast abgebrochen, sodass der Baum fortan ein wenig schief wuchs. Korallenholz ist Weichholz; die Äste bersten leicht. Der Baum wurde nie so groß, dass er unser Haus bedeckte.

Aber ich erinnerte mich an alles noch lebhaft. Während ich zum Fenster hinausschaute, sah ich uns alle wieder draußen auf dem Rasen. Aber es war nur eine Erinnerung. Und ich hatte große Angst, dass sie mit der Gegenwart nicht mehr viel zu tun hatte.

Wer jahrelang mit Multi-Agenten-Systemen gearbeitet hat, fängt irgendwann an, das Leben im Sinne solcher Programme zu betrachten.

Im Grunde kann man sich ein Multi-Agenten-Umfeld in etwa wie ein Schachbrett vorstellen und die Agenten wie Schachfiguren. Sie interagieren auf dem Brett, um ein Ziel zu erreichen, genau wie die Schachfiguren, um eine Partie zu gewinnen. Der Unterschied besteht darin, dass niemand die Agenten bewegt. Sie interagieren selbsttätig, um das Ergebnis zu erzielen.

Wenn man die Agenten so konstruiert, dass sie ein Gedächtnis haben, können sie Dinge über ihr Umfeld lernen. Sie erinnern sich, wo sie auf dem Brett gewesen sind und was da passiert ist. Sie können zu gewissen Orten zurückgehen, gewisse Erwartungen hegend. Schließlich, so behaupten Programmierer, haben Agenten Vorstellungen von ihrer Umgebung und handeln dementsprechend. Das stimmt natürlich nicht im wörtlichen Sinne, aber es könnte stimmen. Es sieht nämlich ganz so aus.

Interessant ist allerdings, dass einige Agenten mit der Zeit irrigen Annahmen folgen. Ob nun aufgrund eines Motivationskonfliktes oder aus irgendeinem anderen Grund, sie fangen jedenfalls an, sich unangemessen zu verhalten. Die Umgebung hat sich verändert, aber sie scheinen es nicht zu wissen. Sie wiederholen veraltete Muster. Ihr Verhalten spiegelt nicht mehr die Realität des Schachbretts. Es ist, als steckten sie in der Vergangenheit fest.

In Evolutionsprogrammen sterben solche Agenten aus. Sie haben keine Kinder. In anderen Multi-Agenten-Programmen werden sie einfach übergangen, an den Rand gedrängt, während der Strom der Hauptagenten weiterzieht. Manche Programme haben ein »Sensenmann«-Modul, das sie von Zeit zu Zeit aussiebt und vom Brett zieht.

Aber der springende Punkt ist, dass sie in ihrer eigenen Vergangenheit verankert bleiben. Manchmal reißen sie sich am Riemen und schaffen es, wieder auf den richtigen Weg zu kommen. Manchmal nicht.

Derlei Gedanken bedrückten mich sehr. Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her, blickte auf die Uhr. Erleichtert sah ich, dass es Zeit war, die Kinder abzuholen.

Eric machte im Auto schon seine Hausaufgaben, während wir auf Nicole warteten, die noch Theaterprobe hatte. Sie kam schlecht gelaunt heraus; sie hatte gedacht, sie würde eine Hauptrolle kriegen, doch stattdessen hatte der Lehrer ihr nur einen kleinen Part gegeben. »Bloß zwei Sätze!«, sagte sie und knallte die Wagentür zu. »Wollt ihr wissen, was ich sage? Ich sage: >Seht, da kommt John.< Und im zweiten Akt sage ich: >Das hört sich ziemlich ernst an.< Zwei kurze Sätzchen!« Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Ich versteh nicht, was Mr. Blakey für ein Problem hat!«

»Vielleicht hält er dich für 'ne totale Niete«, sagte Eric.

»Rattengesicht!« Sie gab ihm einen Schlag auf den Kopf. »Affenarsch!«

»Das reicht«, sagte ich und ließ den Motor an. »Anschnallen.«

»Dieser kleine, saublöde Stinker, was weiß der denn schon«, sagte Nicole und legte den Sicherheitsgurt an.

»Ich hab gesagt, es reicht.«

»Ich weiß, dass du stinkst«, sagte Eric. »Pissnelke.«

»Das reicht, Eric.«

»Genau, Eric, hör auf deinen Vater und halt die Klappe.«

»Nicole ...« Ich warf ihr einen bösen Blick im Rückspiegel zu.

»Tschul-di-gung.«

Sie war den Tränen nahe. Ich sagte zu ihr: »Schätzchen, tut mir Leid, dass du nicht die Rolle bekommen hast, die du wolltest. Ich weiß, wie sehr du sie dir gewünscht hast, das ist wirklich eine Riesenenttäuschung.«

»Nein. Ist mir egal.«

»Tja, tut mir jedenfalls Leid.«

»Im Ernst, Dad, es ist mir wirklich egal. Das ist vergessen. Ich schau nach vorn.« Und einen Moment später dann: »Weißt du, wer sie gekriegt hat? Diese kleine Schleimscheißerin Katie Richards! Mr. Blakey ist so ein dämlicher Sack!« Und bevor ich irgendetwas sagen konnte, brach sie in Tränen aus, schluchzte laut und theatralisch. Eric blickte zu mir herüber und verdrehte die Augen.

Ich fuhr nach Hause, nahm mir fest vor, nach dem Abendessen, wenn sie sich wieder beruhigt hatte, mit Nicole über ihre Wortwahl zu sprechen.

Ich war gerade dabei, grüne Bohnen zu schneiden, damit sie in den Topf passten, als Eric kam und an der Küchentür stehen blieb. »He, Dad, wo ist mein MP3?«

»Keine Ahnung.« Ich konnte mich einfach nicht daran gewöhnen, dass ich ständig wissen sollte, wo sich die persönlichen Habseligkeiten der Kinder befanden. Erics Gameboy, sein Baseball-Handschuh, Nicoles rückenfreie T-Shirts, ihr Armband .

»Aber ich kann ihn nicht finden.« Eric blieb in der Tür stehen, kam nicht näher, damit ich ihn ja nicht zum Tischdecken verdonnerte.

»Hast du richtig gesucht?«

»Überall, Dad.«

»Mhm. Hast du in deinem Zimmer nachgesehen?«

»In allen Ecken.«

»Wohnzimmer?«

»Überall.«

»Im Auto? Vielleicht hast du ihn im Auto liegen lassen?«

»Hab ich nicht, Dad.«

»Vielleicht in deinem Spind in der Schule?«

»Wir haben keine Spinde, wir haben Fächer.«

»Hast du in deinen Jackentaschen nachgesehen?«

»Dad. Manno. Ich hab überall gesucht. Ich brauch ihn.«

»Wenn du ihn schon überall gesucht hast, werde ich ihn wohl auch nicht finden, oder?«

»Dad. Würdest du mir bitte helfen?«

Der Schmorbraten brauchte noch eine gute halbe Stunde. Ich legte das Messer hin und ging in Erics Zimmer. Ich sah an den üblichen Stellen nach, hinten in seinem Kleiderschrank, wo Sachen auf einem Haufen lagen (darüber würde ich mit Maria reden müssen), unter dem Bett, hinter dem Nachttisch, in der unteren Schublade im Bad und unter den Bergen von Zeug auf seinem Schreibtisch. Eric hatte Recht. Der MP3-Player war nicht in seinem Zimmer. Wir gingen Richtung Wohnzimmer. Auf dem Weg dorthin warf ich einen Blick in Amandas Zimmer. Und ich sah ihn auf der Stelle. Er lag auf dem Regal neben der Wickelkommode, genau neben den Tuben mit Babysalbe. Eric nahm ihn sich. »He, danke, Dad!« Und weg war er.

Es hätte nichts gebracht, ihn zu fragen, warum der Player im Babyzimmer war. Ich ging zurück in die Küche und schnippelte weiter meine grünen Bohnen. Fast im selben Augenblick:

»Daa-ad!«

»Was denn jetzt?«, rief ich.

»Er funktioniert nicht!«

»Schrei nicht so.«

Er kam wieder in die Küche, mit Schmollmiene. »Sie hat ihn kaputtgemacht.«

»Wer hat ihn kaputtgemacht?«

»Amanda. Sie hat drauf rumgesabbert oder was weiß ich und ihn kaputtgemacht. Das ist gemein.«

»Hast du die Batterie überprüft?«

Er bedachte mich mit einem mitleidigen Blick. »Ja klar, Dad. Ich sag dir doch, sie hat ihn kaputtgemacht! Das ist gemein.«

Ich bezweifelte, dass sein MP3-Player kaputt war. Das Ding war ein Festkörperbauelement, ohne bewegliche Teile. Und es war zu groß für Amandas kleine Hände. Ich warf die Bohnen in ein Sieb und hielt ihm die Hand hin. »Gib her.«

Wir gingen in die Garage, und ich holte meine Werkzeugkiste heraus. Eric beobachtete jede meiner Bewegungen. Ich hatte einen ganzen Satz von den kleinen Werkzeugen, die man für Computer und elektronische Geräte braucht. Vier Kreuzschlitzschrauben, und die hintere Abdeckung fiel in meine Hand. Ich blickte jetzt auf die grüne Schaltplatte. Sie war mit einer feinen, grauen Staubschicht bedeckt. Wie Fusseln aus einem Wäschetrockner, und sie lag über allen elektronischen Teilen. Ich hatte den Verdacht, dass Eric mit dem Gerät in der Hosentasche beim Baseball an die Home Base gerutscht war. Deshalb funktionierte es wahrscheinlich nicht. Aber ich überprüfte auch noch den Rand des Plastikgehäuses, wo die Rückwand eingepasst wurde, und entdeckte eine Gummidichtung. Das Ding war also luftdicht . wie es sein sollte.

Ich pustete den Staub weg, um besser sehen zu können. Ich hoffte, vielleicht einen losen Batterieanschluss zu finden oder einen Speicherchip, der sich vor Hitze gelöst hatte, irgendetwas, was sich leicht reparieren ließ. Mit zusammengekniffenen Augen spähte ich auf die Chips, versuchte, die Beschriftung zu lesen. Die Schrift auf einem Chip war undeutlich, denn irgendwas hatte anscheinend .

Ich hielt inne.

»Was ist?«, sagte Eric, der mich beobachtete.

»Gib mir das Vergrößerungsglas.«

Eric gab mir die große Lupe, und ich zog meine Halogenlampe tiefer, beugte mich über den Chip und nahm ihn genau in Augenschein. Ich konnte die Schrift nicht lesen, weil die Oberfläche des Chips zerfressen war. Der gesamte Chip war wie von Bächen durchzogen, ein Flussdelta en miniature. Jetzt war mir klar, wo der Staub herkam. Das waren die pulverisierten Überreste des Chips.

»Kannst du das reparieren, Dad?«, fragte Eric. »Kannst du?«

Was könnte die Ursache gewesen sein? Das übrige Motherboard schien in Ordnung. Der Steuerchip war intakt. Nur der Speicherchip war beschädigt. Ich war zwar kein HardwareSpezialist, aber ich hatte dennoch genug Ahnung, um kleinere Computerarbeiten durchführen zu können. Ich konnte Festplat-ten installieren, die Speicherkapazität erweitern, solche Sachen eben. Ich hatte auch schon mit Speicherchips zu tun gehabt, aber so etwas war mir noch nie untergekommen. Ich fand nur eine Erklärung, der Chip musste fehlerhaft gewesen sein. Diese MP3-Player wurden vermutlich mit den billigsten Einzelteilen gebaut.

»Dad? Kriegst du ihn wieder hin?«

»Nein«, sagte ich. »Ich brauche einen neuen Chip. Ich besorg dir morgen einen.«

»Weil sie ihn voll gesabbert hat, nicht?«

»Nein. Ich glaube, der Chip ist fehlerhaft.«

»Dad. Er war ein ganzes Jahr in Ordnung. Sie hat ihn voll gesabbert. Das ist gemein!«

Wie aufs Stichwort fing das Baby an zu schreien. Ich ließ den MP3 auf der Werkbank liegen und ging zurück ins Haus. Ich sah auf meine Uhr. Ich hatte gerade noch Zeit, Amanda die Windel zu wechseln und ihren Brei zum Abendessen anzurühren, bevor der Braten aus dem Ofen musste.

Um neun Uhr schliefen die beiden Kleinsten bereits, und das Haus war still bis auf Nicoles Stimme, die sagte: »Das hört sich ziemlich ernst an. Das hört sich ziemlich ernst an. Das hört sich ... ziemlich ernst an.« Sie stand vor dem Badezimmerspiegel, starrte sich an und übte ihren Text.

Ich hatte von Julia eine Nachricht auf der Mailbox, dass sie um acht zu Hause sein würde, aber sie hatte es nicht geschafft. Ich würde ihr nicht hinterhertelefonieren. Außerdem war ich müde, zu müde, um die Energie aufzubringen, mir ihretwegen Sorgen zu machen. Ich hatte in den vergangenen Monaten jede Menge Tricks gelernt - die meisten hingen mit dem großzügigen Einsatz von Alufolie zusammen, damit ich nicht so viel sauber machen musste -, doch nachdem ich gekocht, den Tisch gedeckt, die Kinder gesättigt, Flugzeug gespielt, damit die Kleine ihren Brei aß, den Tisch abgeräumt, den Hochstuhl abgewischt, das Baby ins Bett gebracht und dann die Küche sauber gemacht hatte, war ich trotzdem müde. Zumal das Baby den Brei immer wieder ausgespuckt und Eric die ganze Zeit gemäkelt hatte, das sei gemein, er wollte Chicken Nuggets statt Braten.

Ich ließ mich aufs Bett fallen und schaltete den Fernseher ein.

Es kam nur Schnee, und dann wurde mir klar, dass der DVDPlayer noch an war und die Verbindung zum Fernsehempfänger unterbrach. Ich drückte die Fernbedienung, und die Disc im Gerät wurde abgespielt. Es war Julias Präsentation, von vor einigen Tagen.

Die Kamera bewegte sich durch die Blutbahn und ins Herz. Wieder sah ich, dass die Blutflüssigkeit nahezu farblos war, mit hüpfenden roten Blutkörperchen. Julia sprach jetzt. Sie hatte eine Audioeinspielung vom schlagenden Herzen. Die Versuchsperson auf dem Tisch lag reglos da, die Antenne dicht über dem Körper.

»Wir verlassen jetzt die Herzkammer und sehen die Aorta vor uns ... Und jetzt fahren wir durch das arterielle Gefäßsystem .«

Sie wandte sich dem Monitor der Nanokamera zu.

»Die Bilder, die Sie sehen, sind sehr schnell, aber wir können die Kamera bis zu einer halben Stunde lang im Kreislauf belassen, und wir können von allem, was wir sehen wollen, extrem detaillierte Aufnahmen machen. Wir können die Kamera sogar anhalten, und zwar mithilfe eines starken Magnetfeldes. Wenn wir fertig sind, leiten wir das Blut einfach durch eine Kanülenschleife um, die von einem starken Magnetfeld umgeben ist, das die Partikel heraussaugt. Und anschließend schicken wir den Patienten nach Hause.«

Julia erschien wieder auf dem Bildschirm. »Die Xymos-Technologie ist ungefährlich, zuverlässig und extrem einfach zu handhaben. Es ist kein speziell ausgebildetes Personal erforderlich; jede Krankenschwester oder MTA kann sie bedienen. Allein in den Vereinigten Staaten sterben jedes Jahr eine Million Menschen an Gefäßerkrankungen. Über dreißig Millionen leiden an Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die kommerziellen Möglichkeiten dieser Bildtechnologie sind enorm. Weil sie schmerzlos, einfach und ungefährlich ist, wird sie andere Techniken wie CAT Scans und die Angiografie ersetzen und zum Standardverfahren werden. Wir werden die Nanoka-meras, die Antennen und Monitorsysteme vermarkten. Die Kosten für eine Untersuchung mit unserer Methode liegen bei nur zwanzig Dollar. Im Vergleich dazu belaufen sich bei gewissen Gentechnologien die Kosten pro Untersuchung gegenwärtig auf zwei- bis dreitausend Dollar. Doch selbst bei lediglich zwanzig Dollar erwarten wir schon im ersten Jahr weltweite Einnahmen von bis zu vierhundert Millionen Dollar. Und sobald sich die Methode durchgesetzt hat, werden sich diese Zahlen verdreifachen. Es geht hier um eine Technologie, die eins Komma zwei Milliarden Dollar im Jahr abwirft. Wenn Sie jetzt noch Fragen haben ...«

Ich gähnte und schaltete den Fernseher aus. Es war beeindruckend, und ihre Argumente waren überzeugend. Ich konnte gar nicht verstehen, warum Xymos Probleme hatte, die Finanzierung für die nächste Runde sicherzustellen. Investoren müssten sich doch die Finger danach lecken.

Aber vielleicht gab es gar keine Probleme. Vielleicht schob Julia die Finanzierungskrise nur vor, um jeden Abend spät nach Hause kommen zu können. Aus ganz persönlichen Gründen.

Ich machte das Licht aus. Als ich im Bett lag und im Dunkeln an die Decke starrte, schossen mir flüchtige Bilder durch den Kopf. Julias Oberschenkel, über dem Bein eines anderen Mannes. Julias durchgedrückter Rücken. Julia, die schwer atmete, die Muskeln angespannt. Ihre Hand, die nach oben griff, um gegen das Kopfende des Bettes zu drücken. Ich konnte die Bilder einfach nicht verscheuchen.

Schließlich stand ich auf und sah nach den Kindern. Nicole war noch auf und schrieb E-Mails an ihre Freundinnen. Ich sagte ihr, es sei Zeit, das Licht auszumachen. Eric hatte seine Bettdecke weggetreten. Ich zog sie wieder hoch. Amanda war noch immer violett, aber sie schlief tief und fest, ihr Atem sanft und regelmäßig.

Ich ging wieder ins Bett. Ich zwang mich, an etwas anderes zu denken, um endlich einzuschlafen. Ich warf mich hin und her, drehte mich von einer Seite auf die andere, rückte das Kopfkissen zurecht, stand auf, um ein Glas Milch zu trinken und Plätzchen zu essen. Schließlich und endlich fiel ich in einen unruhigen Schlaf.

Und ich hatte einen sehr merkwürdigen Traum.

Irgendwann in der Nacht drehte ich mich um und sah Julia neben dem Bett stehen und sich ausziehen. Sie bewegte sich langsam, als wäre sie müde oder ganz verträumt, während sie ihre Bluse aufknöpfte. Sie stand von mir abgewandt, aber ich konnte ihr Gesicht im Spiegel sehen. Sie sah wunderschön aus, fast königlich. Ihre Gesichtszüge wirkten wie gemeißelt, stärker als ich es in Erinnerung hatte, aber vielleicht lag es am Licht.

Ich hatte die Augen nur halb geöffnet. Sie sah nicht, dass ich wach war. Sie knöpfte sich weiter die Bluse auf. Ihre Lippen bewegten sich, als würde sie irgendetwas flüstern oder beten. Ihre Augen wirkten leer, gedankenverloren.

Und während ich sie betrachtete, wurden ihre Lippen auf einmal dunkelrot und dann schwarz. Aber sie schien es nicht zu bemerken. Die Schwärze floss von ihrem Mund über die Wangen und die untere Gesichtshälfte und dann auf ihren Hals. Ich hielt den Atem an. Ich spürte eine große Gefahr. Die Schwärze strömte nun als breites Tuch an ihrem Körper hinab, bis sie ganz bedeckt war, wie von einem Umhang. Nur die obere Hälfte ihres Gesichts blieb frei. Ihre Miene war gelassen, ja, Julia wirkte entrückt, starrte einfach ins Leere, während sich ihre dunklen Lippen leise bewegten. Bei ihrem Anblick drang mir eine Kälte tief in die Knochen. Dann, einen Moment später, glitt das schwarze Tuch auf den Boden und verschwand.

Julia, wieder normal, zog sich die Bluse aus und ging ins Bad.

Ich wollte aufstehen und ihr folgen, aber ich konnte meinen Körper nicht bewegen. Eine schwere Müdigkeit hielt mich fest, lähmte mich förmlich. Ich war so erschöpft, dass ich kaum noch atmen konnte. Dieses bleierne Müdigkeitsgefühl nahm rasch zu und überwältigte mein waches Bewusstsein. Es war wie eine nahende Ohnmacht, ich schloss die Augen und schlief ein.

4. Tag, 6.40 Uhr

Am nächsten Tag war mir der Traum noch in Erinnerung, lebhaft und beunruhigend. Er kam mir ausgesprochen real vor, überhaupt nicht wie ein Traum.

Julia war schon auf. Ich stieg aus dem Bett und ging zu der Stelle, wo ich sie in der Nacht gesehen hatte. Ich blickte auf den Teppich, den Nachttisch, die zerwühlten Laken und das Kopfkissen. Alles war normal, nichts anders als sonst. Nirgendwo dunkle Linien oder Spuren.

Ich ging ins Bad und sah mir die Kosmetika an, die auf ihrer Seite des Waschbeckens ordentlich aufgereiht standen. Alles, was ich sah, war ganz normal. So verstörend mein Traum auch gewesen war, er war und blieb ein Traum.

Doch eines stimmte tatsächlich: Julia war wirklich schöner denn je. Als ich in die Küche kam, wo sie sich gerade Kaffee eingoss, sah ich, dass ihr Gesicht in der Tat wie gemeißelt wirkte, markanter. Julia hatte immer ein rundliches Gesicht gehabt. Jetzt war es schmal, klar konturiert. Sie sah aus wie ein Topmodel. Auch ihr Körper - als ich ihn mir genauer ansah -kam mir straffer vor, muskulöser. Sie hatte nicht abgenommen, sie sah einfach gut aus, straff, sportlich.

Ich sagte: »Du siehst toll aus.«

Sie lachte. »Das kann ich mir kaum vorstellen. Ich bin völlig erschossen.«

»Wann bist du denn nach Hause gekommen?«

»Gegen elf. Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt.«

»Nein. Aber ich hatte einen komischen Traum.«

»Ach ja?«

»Ja, und zwar ...«

»Mommy! Mommy!« Eric platzte in die Küche. »Das ist gemein! Nicole lässt mich nicht ins Bad. Seit einer Stunde ist sie schon da drin. Das ist gemein!«

»Dann geh doch in unser Bad.«

»Aber ich brauch doch meine Socken, Mommy. Das ist gemein.«

Das Problem war bekannt. Eric hatte zwei Paar Lieblingssocken, die er so lange trug, bis sie vor Dreck standen. Aus irgendeinem Grund genügten die anderen Socken in seiner Schublade seinen Ansprüchen nicht. Warum, konnte er mir bislang nicht erklären. Aber das morgendliche Sockenanziehen war ein Riesenproblem.

»Eric«, sagte ich, »wir haben doch schon öfter darüber gesprochen, du sollst dir frische Socken anziehen.«

»Aber das sind meine guten!«

»Eric. Du hast haufenweise gute Socken.«

»Das ist gemein, Dad. Seit einer Stunde ist sie da drin, echt.«

»Eric, hol dir andere Socken.«

»Dad .«

Ich zeigte bloß in Richtung seines Zimmers.

»Manno.« Er ging und knurrte vor sich hin, wie gemein das doch war.

Ich wandte mich Julia zu, um unser Gespräch fortzusetzen. Sie blickte mich kühl an. »Du merkst es nicht mal, was?«

»Was merke ich nicht?«

»Er hat mich angesprochen, und du hast die Situation einfach an dich gerissen. Du hast das Ganze einfach an dich gerissen.«

Augenblicklich wurde mir klar, dass sie Recht hatte. »Tut mir Leid«, sagte ich.

»Ich krieg die Kinder zurzeit nicht sehr oft zu sehen, Jack. Ich finde, ich sollte mit ihnen Sachen klären können, ohne dass du dich einmischst.«

»Tut mir Leid. Ich muss mich jeden Tag mit so was rumschlagen, und da hab ich wahrscheinlich .«

»Das ist wirklich ein Problem, Jack.«

»Ich hab gesagt, dass es mir Leid tut.«

»Ich weiß, was du gesagt hast, aber ich glaube nicht, dass es dir Leid tut, weil sich an deinem Kontrollverhalten nichts ändert.«

»Julia«, sagte ich. Jetzt versuchte ich, meine Wut zu kontrollieren. Ich holte Luft. »Du hast Recht. Es tut mir Leid, dass das passiert ist.«

»Du schließt mich aus«, sagte sie, »und du hältst mich von meinen Kindern fern .«

»Julia, verdammt noch mal. Du bist doch nie da!«

Frostiges Schweigen. Dann:

»Ich bin sehr wohl da«, sagte sie. »Behaupte ja nicht das Gegenteil.«

»Moment mal, Moment mal. Wann bist du denn da? Wann hast du es das letzte Mal geschafft, beim Abendessen dabei zu sein, Julia? Nicht gestern Abend, nicht vorgestern, nicht vorvorgestern. Die ganze Woche nicht, Julia. Du bist nicht da.«

Sie funkelte mich zornig an. »Ich weiß nicht, was du damit bezweckst, Jack. Ich weiß nicht, was für ein Spiel du spielst.«

»Ich spiele gar kein Spiel. Ich hab dich was gefragt.«

»Ich bin eine gute Mutter, und ich versuche, einen stressigen Job, einen sehr stressigen Job und die Bedürfnisse meiner Familie unter einen Hut zu bringen. Und ich kriege von dir absolut keine Unterstützung.«

»Was redest du denn da?«, sagte ich, mit noch lauterer Stimme. Das Ganze kam mir allmählich völlig absurd vor.

»Du untergräbst meine Position, du sabotierst mich, du bringst die Kinder gegen mich auf«, sagte sie. »Ich durchschaue dich. Bilde dir nicht ein, dass ich nicht sehe, was du da machst. Du unterstützt mich in keiner Weise. Nach all den Jahren, die wir verheiratet sind, ist es ganz schön mies, was du deiner Frau da antust, das muss ich schon sagen.«

Und sie rauschte aus der Küche, die Fäuste geballt. Sie war so wütend, dass sie nicht mal Nicole bemerkte, die an der Tür stand und alles mit angehört hatte. Und mich anstarrte, als ihre Mutter vorbeistürmte.

Wir waren auf dem Weg zur Schule. »Sie ist verrückt, Dad.« »Nein, ist sie nicht.«

»Du weißt, dass sie verrückt ist. Du willst es nur nicht zugeben.«

»Nicole, sie ist deine Mutter«, sagte ich. »Deine Mutter ist nicht verrückt. Sie arbeitet in letzter Zeit nur sehr viel.« »Das hast du vorige Woche auch gesagt, nach dem Streit.« »Jawohl, weil es nun mal wahr ist.« »Früher habt ihr euch nie gestritten.« »In letzter Zeit sind wir beide ganz schön angespannt.« Nicole schnaubte, verschränkte die Arme, starrte geradeaus. »Ich weiß nicht, warum du dir das von ihr gefallen lässt.«

»Und ich weiß nicht, warum du zugehört hast, die Sache geht dich gar nichts an.« »Dad, komm mir doch nicht mit so 'nem Scheiß.« »Nicole .«

»T schul-di-gung. Aber du kannst ruhig vernünftig mit mir reden, statt sie die ganze Zeit in Schutz zu nehmen. Sie verhält sich nicht normal. Ich weiß genau, dass du denkst, sie ist verrückt.« »Das denke ich nicht«, sagte ich.

Eric schlug ihr vom Rücksitz aus auf den Hinterkopf. »Du bist die Verrückte«, sagte er. »Schnauze, Arschgesicht.« »Selber Schnauze, Kotztüte.«

»Ich will kein Wort mehr von euch hören«, sagte ich laut. »Dafür bin ich wirklich nicht in der Stimmung.«

Mittlerweile rollten wir auf den Wendeplatz vor der Schule. Die Kinder kletterten hinaus. Nicole sprang vom Beifahrersitz, drehte sich um und warf mir, als sie ihren Rucksack nahm, einen wütenden Blick zu. Dann war sie verschwunden.

Ich glaubte nicht, dass Julia verrückt war, aber irgendetwas hatte sich eindeutig verändert, und als ich unser morgendliches Gespräch noch einmal Revue passieren ließ, war mir aus anderen Gründen nicht wohl zu Mute. Viele Bemerkungen von ihr klangen so, als versuchte sie, eine Anklage gegen mich aufzubauen. Methodisch, Schritt für Schritt.

Du schließt mich aus und hältst die Kinder von mir fern.

Ich bin da, du nimmst mich bloß nicht wahr.

Ich bin eine gute Mutter, ich versuche, einen sehr stressigen Job und die Bedürfnisse meiner Familie unter einen Hut zu bringen.

Du unterstützt mich in keiner Weise. Du untergräbst meine Position, du sabotierst mich.

Du bringst die Kinder gegen mich auf.

Ich konnte mir ohne weiteres vorstellen, wie ihr Anwalt das alles vor Gericht wiederholte. Und ich wusste auch, warum. Laut einem Artikel, den ich vor kurzem in der Zeitschrift Redbook gelesen hatte, lag »Entfremdung der Kinder« derzeit als Scheidungsgrund im Trend. Der Vater bringt die Kinder gegen die Mutter auf. Vergiftet ihre kleinen Köpfe mit Worten und Taten. Während Mommy wie immer völlig schuldlos ist.

Jeder Vater wusste, dass die Rechtsprechung Mütter hoffnungslos bevorzugte. Die Gerichte legten Lippenbekenntnisse zur Gleichbehandlung ab und sprachen dann ein Kind der Mutter zu. Selbst wenn die nie da war. Selbst wenn sie ihre Kinder schlug oder sie hungern ließ. Solange sie kein Junkie war oder ihren Kindern nicht die Knochen brach, war sie in den Augen des Gerichts eine taugliche Mutter. Und auch wenn sie ein Junkie war, hieß das noch lange nicht, dass der Vater das Kind zugesprochen bekam. Die Exfrau eines Freundes bei MediaTronics war heroinsüchtig gewesen und hatte über Jahre hinweg einen Entzug nach dem anderen gemacht. Schließlich ließen sie sich scheiden und hatten das gemeinsame Sorgerecht. Die Frau war angeblich clean, aber die Kinder sagten, sie sei es nicht. Mein Freund war besorgt. Er wollte nicht, dass seine Ex die Kinder im Auto herumfuhr, wenn sie unter Drogen stand. Und er wollte nicht, dass seine Kinder mit Dealern in Berührung kamen. Also beantragte er das alleinige Sorgerecht, und er verlor. Der Richter entschied, dass die Exfrau sich redlich Mühe gab, ihre Drogensucht zu überwinden, und dass Kinder die Mutter brauchten.

So also sah die Realität aus. Und jetzt hatte ich den Eindruck, dass Julia anfing, genau diese Vorwürfe gegen mich zu sammeln. Mich fröstelte.

Gerade hatte ich mich in eine ziemliche Wut hineingesteigert, da klingelte mein Handy. Es war Julia. Sie wollte sich entschuldigen.

»Es tut mir wirklich Leid. Ich hab heute Morgen blöde Sachen gesagt. Das hab ich nicht so gemeint.«

»Was?«

»Jack, ich weiß doch, dass du mich unterstützt. Natürlich tust du das. Ohne dich würde ich das alles nicht schaffen. Du machst deine Sache mit den Kindern ganz wunderbar. Ich bin einfach in letzter Zeit nicht ich selbst. Es war blöd von mir, Jack. Es tut mir Leid, was ich da alles gesagt habe.«

Als das Telefonat beendet war, wünschte ich, ich hätte das aufgenommen.

Um zehn hatte ich eine Verabredung mit meiner Headhunterin Annie Gerard im sonnigen Innenhof eines Cafes an der Baker Street. Wir trafen uns immer im Freien, damit Annie rauchen konnte. Sie hatte ihren Laptop aufgeklappt und ihr drahtloses Modem eingestöpselt. Eine Zigarette baumelte ihr von der Lippe, und sie blinzelte durch den Rauch.

»Haben Sie was für mich?«, fragte ich, sobald ich ihr gegenübersaß.

»Und ob ich was für Sie habe. Zwei sehr gute Angebote.«

»Toll«, sagte ich und rührte in meinem Cappuccino. »Lassen Sie hören.«

»Wie wär's hiermit? Leitender Forschungsanalyst bei IBM, der für den Bereich verteilte Systemarchitektur höherer Ordnung zuständig ist.«

»Genau mein Gebiet.«

»Das hab ich auch gedacht. Sie sind für die Stelle wie geschaffen, Jack. Sie würden ein Forschungslabor mit sechzig Leuten leiten. Grundgehalt zweiundfünfzig plus Optionsrechte über fünf Jahre plus Tantiemen auf alles, was in Ihrem Labor entwickelt wird.«

»Klingt toll. Wo?«

»Armonk.«

»New York?« Ich schüttelte den Kopf. »Kommt nicht in Frage, Annie. Was noch?«

»Leiter eines Teams, das für ein Versicherungsunternehmen Multi-Agenten-Systeme fürs Data Mining entwirft. Eine hervorragende Gelegenheit, und ...«

»Wo?«

»Austin.«

Ich seufzte. »Annie. Julia hat einen Job, den sie mag, in dem sie sehr engagiert ist, und sie wird ihn jetzt nicht aufgeben. Meine Kinder gehen hier zur Schule, und .«

»Die Leute ziehen ständig um, Jack. Alle haben sie Kinder in der Schule. Kinder gewöhnen sich schnell wieder ein.«

»Aber Julia .«

»Andere Leute haben auch berufstätige Frauen. Sie ziehen trotzdem um.«

»Ich weiß, aber die Sache ist die, Julia .«

»Haben Sie schon mit ihr darüber gesprochen? Haben Sie das Thema angeschnitten?«

»Also, nein, weil ich .«

»Jack.« Annie blickte mich über den Laptop-Bildschirm hinweg an. »Ich denke, Sie sollten mit dem Quatsch aufhören.

Sie können es sich nicht erlauben, wählerisch zu sein. Sie entwickeln sich langsam zum Ladenhüter.«

»Ladenhüter«, sagte ich.

»Genau, Jack. Sie sind seit sechs Monaten ohne Arbeit. Das ist eine lange Zeit in der High-Tech-Branche. Die Firmen denken, mit Ihnen stimmt was nicht, wenn Sie so lange keinen Job gefunden haben. Die wissen zwar nicht, was da faul ist, aber sie nehmen einfach an, Sie haben zu viele Ablehnungen bekommen, von zu vielen anderen Firmen. Es dauert nicht mehr lange, und Sie werden nicht mal mehr zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Nicht in San Jose, nicht in Armonk, nicht in Austin, nicht in Cambridge. Dann ist der Zug abgefahren. Haben Sie mich verstanden? Haben Sie verstanden, was ich gesagt habe?«

»Ja, aber .«

»Kein Aber, Jack. Sie müssen mit Ihrer Frau sprechen. Sie müssen sich irgendwas überlegen, um Ihr Ladenhüterdasein zu beenden.«

»Aber ich kann nicht weg aus dem Valley. Ich muss hier bleiben.«

»Hier sieht es nicht gut für Sie aus.« Sie aktivierte den Bildschirm wieder. »Ich brauche nur Ihren Namen zu erwähnen, und schon heißt es - sagen Sie mal, was ist da eigentlich los bei Media-Tronics? Blüht Don Gross eine Anklage?«

»Keine Ahnung.«

»Ich höre das Gerücht schon seit Monaten, aber es passiert einfach nichts. In Ihrem Interesse hoffe ich, dass da bald was publik wird.«

»Ich begreife das einfach nicht«, sagte ich. »Ich habe beste Erfahrungen in einem heiß umkämpften Bereich, MultiAgenten-Systeme, Parallelverarbeitung und ...«

»Heiß?«, sagte sie und warf mir einen schrägen Blick zu. »Parallelverarbeitung ist nicht heiß, Jack. Die ist regelrecht radioaktiv. Jeder im Valley geht davon aus, dass sie den entscheidenden Durchbruch im Bereich Künstliches Leben bringen wird.«

»Das wird sie auch«, sagte ich nickend.

In den vergangenen paar Jahren hatte das Künstliche Leben die Künstliche Intelligenz als langfristiges Computerziel abgelöst. Es sollten Programme geschrieben werden, die die Eigenschaften von Lebewesen aufwiesen - die Fähigkeit, sich zu adaptieren, zu kooperieren, zu lernen, sich Veränderungen anzupassen. Viele solcher Eigenschaften waren in der Robotik von großer Bedeutung, und sie wurden mittels Parallelverarbeitung bereits ansatzweise realisiert.

Durch Parallelverarbeitung konnte die Arbeit auf mehrere Prozessoren oder auf ein Netzwerk virtueller Agenten, die im Computer geschaffen wurden, verteilt werden. Um dies zu erreichen, gab es verschiedene Möglichkeiten. Man schuf eine große Population von recht dummen Agenten, die gemeinsam ein Ziel verfolgten - genau wie eine Kolonie von Ameisen zielorientiert zusammenarbeitete. Mein eigenes Team hatte hierzu viel geforscht.

Eine weitere Methode bestand darin, ein so genanntes neuronales Netzwerk zu erzeugen, das die Arbeitsweise des menschlichen Gehirns imitierte. Es hatte sich herausgestellt, dass selbst einfache neuronale Netze verblüffende Fähigkeiten aufwiesen. Sie konnten lernen. Sie konnten auf früheren Erfahrungen aufbauen. Auch damit hatten wir uns beschäftigt.

Außerdem - das war die dritte Technik - wurden virtuelle Gene im Computer erzeugt, wo sie sich dann in einer virtuellen Welt entwickeln konnten, bis irgendein Ziel erreicht war.

Und es gab noch etliche andere Verfahren. Insgesamt wichen alle enorm ab von der älteren Vorstellung von Künstlicher Intelligenz, kurz KI. Früher versuchten Programmierer für jede Situation Regeln zu erstellen. So wollten sie beispielsweise Computern beibringen, dass ein Kunde in einem Geschäft bezahlen musste, bevor er ging. Doch wie sich herausstellte, war dieses auf simplem gesundem Menschenverstand basierende Wissen ungeheuer schwer zu programmieren. Der Computer machte ständig Fehler. Neue Regeln wurden hinzugefügt, um diese Fehler auszumerzen. Dann noch mehr Fehler und noch mehr Regeln. Schließlich waren die Programme gigantisch, Millionen von Codezeilen lang, und sie versagten schon allein aufgrund ihrer Komplexität. Sie waren zu groß, um sie fehlerfrei hinzubekommen. Man konnte gar nicht mehr feststellen, wo die Probleme lagen.

Man gelangte also allmählich zu der Einsicht, dass eine auf Regeln basierende Künstliche Intelligenz nicht funktionieren würde. Deshalb wurde sie von vielen bereits totgesagt. Die Achtzigerjahre gaben den Englischprofessoren Auftrieb, die überzeugt waren, dass Computer es niemals mit menschlicher Intelligenz würden aufnehmen können.

Doch verteilte Agentennetzwerke öffneten völlig neue Türen. Und auch die Programmierphilosophie war neu. Bisher programmierte man »von oben nach unten«. Dem System als Ganzem wurden Verhaltensregeln vorgeschrieben.

Jetzt ging es »von unten nach oben«. Das Programm definierte die Reaktionsweise einzelner Agenten auf dem untersten Strukturlevel. Doch das Verhalten des gesamten Systems wurde nicht vorbestimmt. Es entwickelte sich aus der Summe von hunderten kleinen Interaktionen, die sich auf einer unteren Ebene vollzogen.

Weil das System nicht programmiert wurde, konnte es erstaunliche Resultate erzielen. Und zwar Resultate, die von den Programmierern nicht vorausgesagt werden konnten. Das war der Grund, warum sie »lebensähnlich« erscheinen konnten. Und das Gebiet war deshalb so heiß, weil .

»Jack.«

Annie klopfte mir auf die Hand. Ich blinzelte.

»Jack, haben Sie überhaupt ein Wort von dem gehört, was ich eben gesagt habe?«

»Tut mir Leid.«

»Sie widmen mir nicht Ihre volle Aufmerksamkeit«, sagte sie. Sie blies mir Zigarettenrauch ins Gesicht. »Ja, Sie haben Recht, Sie sind auf einem heiß umkämpften Gebiet. Aber deshalb sollten Sie sich erst recht Sorgen wegen Ihres Ladenhüterdaseins machen. Sie sind schließlich kein Elektroingenieur, der sich auf CD-Laufwerke spezialisiert hat. Heiße Gebiete verändern sich schnell. Sechs Monate können über Erfolg oder Untergang einer Firma entscheiden.«

»Ich weiß.«

»Sie sind gefährdet, Jack.«

»Ich verstehe.«

»Also. Sprechen Sie mit Ihrer Frau? Bitte?«

»Ja.«

»Okay«, sagte sie. »Aber tun Sie's auch wirklich. Denn sonst kann ich Ihnen nicht helfen.« Sie warf ihre brennende Zigarette in den Rest meines Cappuccinos. Die Glut zischte und erlosch. Annie klappte ihren Laptop zu, stand auf und ging.

Ich rief Julia an, erreichte sie aber nicht. Ich sprach ihr eine Nachricht auf die Mailbox. Ich wusste, dass es reine Zeitverschwendung war, das Thema Umzug überhaupt anzusprechen. Sie würde mit Sicherheit Nein sagen - vor allem dann, wenn sie einen Liebhaber hatte. Aber Annie hatte Recht, ich war in Schwierigkeiten. Ich musste etwas unternehmen. Ich musste sie fragen.

Ich saß an meinem Schreibtisch, drehte das SSVT-Kästchen in der Hand und überlegte, was ich tun sollte. Ich hatte noch anderthalb Stunden Zeit, bis ich die Kinder abholen musste. Ich wollte wirklich mit Julia sprechen. Ich beschloss, es über die Zentrale ihrer Firma zu versuchen, vielleicht wusste man dort, wo sie war.

»Xymos Technologies.«

»Julia Forman bitte.«

»Ich verbinde.« Etwas klassische Musik, dann eine andere Stimme. »Büro Miss Forman.«

Ich erkannte Carol, ihre Assistentin. »Carol, ich bin's, Jack.«

»Oh, hallo, Mr. Forman. Wie geht's Ihnen?«

»Danke, gut.«

»Sie möchten bestimmt Julia sprechen?«

»Ja, genau.«

»Sie ist heute den ganzen Tag in Nevada, im Fertigungswerk. Soll ich versuchen, Sie zu verbinden?«

»Ja, bitte.«

»Einen Moment.«

Ich kam in die Warteschleife. Für eine ganze Weile.

»Mr. Forman, sie ist die ganze nächste Stunde in einer Besprechung. Ich erwarte anschließend ihren Anruf. Soll sie Sie anrufen?«

»Ja, bitte.«

»Soll ich ihr irgendetwas ausrichten?«

»Nein«, erwiderte ich. »Sagen Sie ihr bloß, sie soll mich anrufen.«

»Okay, Mr. Forman.«

Ich legte auf, starrte ins Leere, drehte das SSVT-Kästchen in der Hand. Sie ist heute den ganzen Tag in Nevada. Julia hatte mir nichts davon gesagt, dass sie nach Nevada musste. Ich ließ das Gespräch mit Carol noch einmal Revue passieren. Hatte Carol verlegen geklungen? Deckte sie sie? Ich konnte es nicht genau sagen. Ich konnte gar nichts mehr genau sagen. Ich starrte zum Fenster hinaus, und auf einmal gingen die Sprinkler an, schossen kegelförmige Schauer über den ganzen Rasen. Aber es war genau in der Mittagshitze, der falsche Zeitpunkt zum Wässern. Der Rasensprenger dürfte gar nicht anspringen. Er war doch erst neulich eingestellt worden.

Ich wurde sehr niedergeschlagen, während ich die Wasser-schleier anstarrte. Es stimmte einfach nichts mehr. Ich hatte keinen Job, meine Frau war nie da, die Kinder waren Nervensägen, ich hatte ständig das Gefühl, ihnen nicht gerecht zu werden - und jetzt machten auch noch die verdammten Sprinkler, was sie wollten. Wenn sie jetzt wässerten, würde der ganze verdammte Rasen durch die Sonne verbrennen.

Und dann fing das Baby an zu schreien.

Ich wartete auf Julias Anruf, der nicht kam. Ich schnitt fürs Abendessen Hähnchenbrust in Streifen (das geht besonders gut, wenn sie kalt ist, fast gefroren), weil Chicken Nuggets ein weiteres Gericht war, worüber sie niemals meckerten. Ich setzte Reis auf. Ich sah mir die Möhren im Kühlschrank an und beschloss, sie - obwohl schon etwas alt - zu nehmen.

Beim Möhrenhacken schnitt ich mir in den Finger. Es war keine tiefe Wunde, aber es blutete stark, und das Pflaster konnte die Blutung nicht stoppen. Es kam durch, und ich klebte etliche Male ein neues Pflaster auf. Es war frustrierend.

Wir aßen spät, und die Kinder waren quengelig. Eric nörgelte, meine Chicken Nuggets seien ekelig, die bei McDonald's viel besser, und warum wir nicht die holen könnten. Nicole probierte verschiedene Versionen ihres Textes für das Theaterstück aus, während Eric sie leise nachäffte. Das Baby spuckte jeden Mund voll Brei wieder aus, bis ich etwas zermatschte Banane untermischte. Danach aß es brav alles auf. Ich weiß nicht, warum mir die Idee nicht schon früher gekommen war. Amanda wurde älter, und das langweilige Zeug schmeckte ihr einfach nicht mehr.

Eric hatte das Heft, in dem er sich die Hausaufgaben notierte, in der Schule liegen lassen; ich sagte ihm, er solle seine Freunde anrufen und fragen, was sie aufhätten, aber er wollte nicht. Nicole war schon eine Stunde online und chattete mit ihren Freundinnen; ich steckte immer wieder den Kopf in ihr Zimmer und sagte ihr, sie solle den Computer ausschalten und endlich ihre Hausaufgaben machen, und sie antwortete jedes Mal: »Gleich, Dad.« Das Baby quengelte, und es dauerte lange, bis ich es zum Einschlafen gebracht hatte.

Ich ging wieder in Nicoles Zimmer und sagte: »Jetzt reicht's, verdammt noch mal!« Nicole fing an zu weinen. Eric kam herein und freute sich hämisch. Ich fragte ihn, warum er noch nicht im Bett sei. Er sah den Ausdruck in meinem Gesicht und huschte davon. Nicole schluchzte, ich sollte mich bei ihr entschuldigen. Ich sagte, sie hätte gleich gehorchen sollen. Sie ging ins Badezimmer und knallte die Tür zu.

Aus seinem Zimmer brüllte Eric: »Ich kann nicht schlafen bei dem Krach!«

Ich brüllte zurück: »Noch ein Wort, und es gibt eine Woche Fernsehverbot!«

»Gemein!«

Ich ging ins Schlafzimmer und schaltete den Fernseher ein, um mir den Rest eines Footballspiels anzuschauen. Nach einer halben Stunde sah ich nach den Kindern. Das Baby schlief friedlich. Eric schlief, die Bettdecke auf dem Fußboden. Ich deckte ihn wieder zu. Nicole lernte. Als sie mich sah, entschuldigte sie sich. Ich nahm sie in den Arm.

Ich ging zurück ins Schlafzimmer und schaute mir noch gut zehn Minuten des Spiels an, bevor ich einschlief.

5. Tag, 7.10 Uhr

Als ich am nächsten Morgen wach wurde, sah ich, dass Julias Seite des Bettes noch unbenutzt war. Sie war die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen. Ich hörte den Anrufbeantworter ab, es waren keine Nachrichten drauf. Eric kam hereingeschlendert und sah das Bett. »Wo ist Mom?«

»Ich weiß nicht, mein Sohn.«

»Ist sie schon zur Arbeit?«

»Muss wohl ...«

Er starrte mich an und dann auf das unbenutzte Bett. Und er marschierte aus dem Zimmer. Damit wollte er nichts zu tun haben.

Aber ich musste mich allmählich damit befassen, dachte ich. Vielleicht sollte ich sogar zu einem Anwalt gehen. Aber mit einem Anwalt zu sprechen hatte etwas Unwiderrufliches an sich. Wenn die Probleme so schwerwiegend waren, dann waren sie wahrscheinlich nicht mehr zu lösen. Ich wollte nicht glauben, dass meine Ehe zu Ende war, also wollte ich diesen Schritt hinauszögern, so lange wie möglich.

Dann beschloss ich, meine Schwester in San Diego anzurufen. Ellen ist klinische Psychologin, sie hat eine Praxis in La Jolla. Es war noch früh, daher ging ich davon aus, dass sie noch zu Hause war; sie meldete sich sofort. Sie schien über meinen Anruf überrascht. Ich hänge an meiner Schwester, aber wir sind sehr verschieden. Jedenfalls erzählte ich ihr kurz von meinen Mutmaßungen hinsichtlich Julia und von den Gründen.

»Julia ist also die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen und hat auch nicht angerufen?«

»Richtig.«

»Hast du sie angerufen?«

»Noch nicht.« »Wieso nicht?«

»Ich weiß nicht.«

»Vielleicht hatte sie einen Unfall, vielleicht ist sie verletzt .«

»Ich glaube nicht.«

»Wieso nicht?«

»Weil man mich ja dann wohl verständigt hätte. Sie hatte keinen Unfall.«

»Du klingst aufgebracht, Jack.«

»Ich weiß nicht. Vielleicht.«

Meine Schwester schwieg einen Moment. Dann sagte sie: »Jack, du hast ein Problem. Warum unternimmst du nichts?«

»Zum Beispiel?«

»Geh zur Eheberatung. Oder zum Anwalt.«

»Ach, meine Güte.«

»Findest du nicht, dass das besser wäre?«, fragte sie.

»Ich weiß nicht. Nein. Noch nicht.«

»Jack. Sie ist gestern Nacht nicht nach Hause gekommen, und sie hat nicht mal angerufen. Wenn das kein Wink mit dem Zaunpfahl ist. Wie viel deutlicher hättest du's denn gern?«

»Ich weiß nicht.«

»Du sagst ziemlich oft >Ich weiß nichtc. Weißt du das?«

»Kann sein.«

Eine Pause. »Jack, ist alles in Ordnung mit dir?«

»Ich weiß nicht.«

»Soll ich für ein paar Tage zu euch kommen? Ich hätte Zeit, kein Problem. Ich wollte eigentlich mit meinem Freund wegfahren, aber seine Firma wurde überraschend aufgekauft. Ich könnte also kommen, wenn du willst.«

»Nein. Schon gut.«

»Wirklich? Ich mach mir Sorgen um dich.«

»Nein, nein«, sagte ich. »Du musst dir keine Sorgen machen.«

»Steckst du in einer Depression?« »Nein. Warum?«

»Schläfst du einigermaßen? Machst du Sport?«

»Ja, einigermaßen. Der Sport kommt etwas zu kurz.«

»Verstehe. Hast du wieder einen Job?«

»Nein.«

»Einen in Aussicht?«

»Nicht so richtig. Nein.«

»Jack«, sagte sie. »Du musst dir einen Anwalt nehmen.«

»Vielleicht warte ich noch ein bisschen.«

»Jack. Was ist los mit dir? Du sagst im Grunde Folgendes: Deine Frau verhält sich dir gegenüber kalt und abweisend. Sie belügt dich. Sie ist merkwürdig zu den Kindern. Die Familie scheint ihr gleichgültig zu sein. Sie ist aufbrausend und häufig nicht da. Es wird immer schlimmer. Du vermutest, sie hat eine Affäre. Letzte Nacht ist sie nicht nach Hause gekommen, ohne Bescheid zu sagen. Und du willst das alles einfach mit ansehen, ohne was zu unternehmen?«

»Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

»Ich hab es dir gesagt. Geh zu einem Anwalt.«

»Meinst du wirklich?«

»Und ob ich das meine.« «

»Ich weiß nicht .«

Sie seufzte, ein langes, entnervtes Zischen. »Jack. Hör zu. Ich weiß, dass du manchmal etwas passiv bist, aber .«

»Ich bin nicht passiv«, sagte ich. Und ich fügte hinzu: »Ich kann es nicht leiden, wenn du mich analysierst.«

»Deine Frau geht mit anderen ins Bett, du glaubst, sie sammelt Anklagepunkte gegen dich, um dir die Kinder wegzunehmen, und du lässt das einfach mit dir machen. Ich nenne das passiv.«

»Was soll ich denn tun?«

»Was ich dir gesagt habe.« Wieder ein entnervtes Seufzen. »Also schön. Ich komme für ein paar Tage zu euch.«

»Ellen .«

»Keine Widerrede. Ich komme. Du kannst Julia ja erzählen, ich will dir bei den Kindern zur Hand gehen. Ich bin heute Nachmittag da.«

»Aber .«

»Keine Widerrede.«

Und sie legte auf.

Ich bin nicht passiv. Ich bin bedachtsam. Ellen ist ein Energiebündel, vom Naturell her die geborene Psychologin, weil sie anderen Leuten gern sagt, was sie tun sollen. Offen gestanden, ich finde sie dominant. Und sie findet mich passiv.

Ellen hat folgendes Bild von mir: Ich bin Ende der Siebzigerjahre nach Stanford gegangen und habe Populationsbiologie studiert - ein rein akademisches Gebiet, ohne praktische Anwendung, und Jobs gab es nur an Universitäten. Damals wurde die Populationsbiologie gerade revolutioniert, durch Feldstudien über Tiere und durch Fortschritte in der Genanalyse. Für beides war die Computeranalyse erforderlich, unter Anwendung komplexer mathematischer Algorithmen. Die Art von Programmen, die ich für meine Forschungsarbeit brauchte, konnte ich nirgends finden, also schrieb ich sie mir selbst. Und so rutschte ich als Quereinsteiger in die Informatik - noch so ein langweiliges, rein akademisches Gebiet.

Doch wie es der Zufall wollte, machte ich meinen Abschluss genau zu der Zeit, als das Silicon Valley boomte und der PC seinen Siegeszug antrat. Die Mitarbeiter von kleinen Jungunternehmen verdienten sich in den Achtzigerjahren eine goldene Nase, und auch mir erging es diesbezüglich in der ersten Firma, in der ich arbeitete, alles andere als schlecht. Ich lernte Julia kennen, und wir heirateten, und dann kamen die Kinder. Alles lief bestens. Wir beide waren schon erfolgreich, wenn wir nur zur Arbeit gingen. Ich wurde von einer anderen Firma abgeworben; noch mehr Vergünstigungen, noch bessere Optionen. Ich ritt einfach auf der Fortschrittswelle mit, in die Neunziger hinein. Inzwischen programmierte ich nicht mehr selbst, ich leitete ein Team von Software-Entwicklern. Und alles fiel mir einfach so zu, ohne dass ich mich wirklich dafür anstrengen musste. Mein ganzes Leben fiel mir einfach zu. Ich musste mich nie beweisen.

So sieht Ellens Bild von mir aus. Ich hatte ein anderes. Die Firmen im Silicon Valley führen untereinander einen Konkurrenzkampf, wie es ihn so hart auf der Welt noch nicht gegeben hat. Die Hundert-Stunden-Woche ist die Regel. Es ist ein Rennen gegen die Zeit. Die Produktentwicklung geht in immer kürzeren Zyklen vonstatten. Die Zyklen für ein neues Produkt, eine neue Version betrugen anfänglich drei Jahre. Dann waren es zwei Jahre. Dann achtzehn Monate. Jetzt sind es zwölf -Jahr für Jahr eine neue Version. Wenn man für die Fehlerbereinigung in der Betaversion bis zum Golden Master vier Monate veranschlagt, dann hat man für die eigentliche Arbeit nur acht Monate Zeit. Acht Monate, um zehn Millionen Codezeilen zu überprüfen und dafür zu sorgen, dass alles richtig funktioniert.

Kurz gesagt, im Silicon Valley ist kein Platz für passive Leute, und ich bin nicht passiv. Ich habe jede Minute an jedem Tag geschuftet. Ich musste mich jeden Tag beweisen - sonst wäre ich weg vom Fenster gewesen.

So sah das Bild aus, das ich von mir hatte. Und ich lag damit ganz bestimmt nicht falsch.

Aber in einer Hinsicht hatte Ellen Recht. Ohne viel Glück wäre ich nicht so weit gekommen. Da ich von Haus aus Biologe war, war ich im Vorteil, als die Computerprogramme anfingen, biologische Systeme zu imitieren. Es gab sogar Programmierer, die Tiergruppen in der freien Natur studierten, um ihre dort gewonnenen Erkenntnisse auf die Computersimulation zu übertragen. Außerdem hatte ich Erfahrungen in der Populationsbiologie - das Studium von Gruppen lebender Organismen.

Und die Informatik hatte sich in Richtung extrem großer, paralleler Netzwerke entwickelt - das Programmieren von Populationen intelligenter Agenten. Für den Umgang mit Agentenpopulationen war eine besondere Art Denken erforderlich, und ich war jahrelang in diesem Denken ausgebildet worden.

Ich war also wunderbar geeignet für die Trends auf meinem Fachgebiet, und ich machte hervorragende Fortschritte, als sich die Bereiche zunehmend überlappten. Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen.

Zugegeben.

Agentenbasierte Programme, die biologische Populationen zum Vorbild hatten, gewannen in der realen Welt zunehmend an Bedeutung. Wie meine eigenen Programme, die die Futtersuche von Ameisen imitierten, um große Kommunikationsnetzwerke zu steuern. Oder solche, die die Arbeitsteilung in Termitenkolonien nachahmten, um Thermostate in einem Wolkenkratzer zu regeln. Und ganz ähnlich funktionierten die Programme, die die Genselektion simulierten und für die es eine ganze Palette von Anwendungen gab. In einem Programm wurden Zeugen eines Verbrechens neun Gesichter gezeigt und gebeten, dasjenige auszuwählen, das dem des Täters am stärksten ähnelte, auch wenn es bei keinem davon wirklich der Fall war; dann zeigte das Programm ihnen neun weitere Gesichter und bat sie erneut um eine Auswahl; und so evolvierte das Programm nach und nach aus zahlreichen Vorschlägen ein überaus präzises Bild von dem Gesuchten, um vieles genauer, als ein Polizeizeichner es vermocht hätte. Die Zeugen mussten nicht sagen, worauf genau sie bei jedem Gesicht reagierten; sie sollten einfach nur ihre Auswahl treffen, und das Programm rechnete. Und dann gab es noch die Biotechnik-Unternehmen, die festgestellt hatten, dass es ihnen nicht gelingen wollte, neue Proteine herzustellen, weil sie sich immer wieder zu seltsamen Konfigurationen zusammenfalteten. Stattdessen »evolvierten« sie nun die neuen Proteine mithilfe der Genanalyse. Alle diese Verfahren waren in der Praxis in nur wenigen Jahren Standard geworden. Und sie wurden immer leistungsstärker, immer wichtiger.

Also, ja, ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen. Aber ich war nicht passiv, ich hatte Glück gehabt.

Ich hatte mich noch nicht geduscht oder rasiert. Ich ging ins Bad, streifte mir das T-Shirt über den Kopf und betrachtete mich im Spiegel. Erschreckt bemerkte ich, wie schlaff ich um den Bauch herum aussah. Das war mir noch nie aufgefallen. Sicher, ich war vierzig, und Tatsache war auch, dass ich in letzter Zeit kaum Sport gemacht hatte. Aber ich war nicht deprimiert. Ich hatte einfach mit den Kindern alle Hände voll zu tun, und ich war oft müde. Ich hatte keine Lust zum Sport, mehr nicht.

Ich starrte mein Spiegelbild an und fragte mich, ob Ellen Recht hatte.

Das ganze psychologische Wissen hat einen Haken - niemand kann es auf sich selbst anwenden. Man kann einen unglaublichen Scharfblick für die Unzulänglichkeiten seiner Freunde, Partner, Kinder entfalten. Aber sich selbst gegenüber ist man blind. Die gleichen Leute, die mit nüchterner Klarheit ihre Umwelt durchschauen, wiegen sich in Illusionen, wenn es um sie selbst geht. Die Psychologie funktioniert nicht, wenn man in einen Spiegel schaut. Soweit mir bekannt war, gab es für diese Sonderbarkeit keine Erklärung.

Ich persönlich dachte immer, dass das Programmieren von Computern eine mögliche Erklärung hierfür lieferte, und zwar mit der so genannten Rekursion. Rekursion bedeutet, dass ein Programm sich selbst aufrufen kann, dass es mit seinen eigenen Informationen Dinge immer und immer wieder tun kann, bis es ein Ergebnis erzielt. Rekursion ist nützlich bei bestimmten Algorithmen zur Datensortierung und dergleichen. Aber es ist Vorsicht geboten, man riskiert, dass der Computer in einen so genannten infiniten Regress fällt - das Programmieräquivalent zum Spiegelkabinett, das Spiegel über Spiegel reflektiert, die immer kleiner werden und sich bis in die Unendlichkeit erstrecken. Das Programm läuft weiter, wiederholt sich unablässig, aber nichts geschieht. Der Computer hängt.

Etwas Ähnliches stellte ich mir immer vor, wenn jemand seinen psychologischen Erkenntnisapparat auf sich selbst anwendet. Der Verstand hängt. Der Denkprozess läuft und läuft, aber er kommt nicht voran. So ähnlich muss es wohl sein, denn wir wissen ja, dass Menschen endlos über sich selbst nachdenken können. Manche denken über kaum etwas anderes nach. Dennoch ändern sich die Menschen nicht infolge ihrer intensiven Selbstbeobachtung. Sie durchschauen sich selbst deshalb nicht besser. Echte Selbsterkenntnis ist äußerst selten.

Es scheint fast, dass man jemanden braucht, der einem sagt, wer man ist, der einem sozusagen den Spiegel vorhält. Was, wenn man es recht bedenkt, ganz schön verrückt ist.

Vielleicht aber auch nicht.

Das Thema Künstliche Intelligenz hat immer wieder die Frage aufgeworfen, ob ein Programm sich jemals seiner selbst bewusst sein kann. Die meisten Programmierer sagen, dass das unmöglich sei. Man hat es versucht und ist gescheitert.

Es gibt jedoch auch noch eine grundlegendere Version dieser Frage, die philosophische Frage nämlich, ob eine Maschine überhaupt je ihre eigene Funktionsweise verstehen kann. Manche sagen, auch das sei unmöglich. Die Maschine kann sich selbst aus dem gleichen Grund nicht erkennen, aus dem man sich nicht selbst in die Zähne beißen kann. Und es scheint auch wirklich unmöglich: Das menschliche Gehirn ist das komplizierteste Gebilde im bekannten Universum, und dennoch wissen selbst Gehirne sehr wenig über sich selbst.

In den vergangenen dreißig Jahren hat man sich nur so zum Spaß beim Bier nach Feierabend mit solchen Fragen beschäftigt. Richtig ernst genommen hat das niemand. Doch in letzter Zeit haben diese philosophischen Fragen an Bedeutung gewonnen, da bei der Nachbildung bestimmter Gehirnfunktionen rapide Fortschritte erzielt wurden. Vor meinem Rausschmiss benutzte mein Team zum Beispiel Multi-Agenten-Systeme, um Computer dazu zu befähigen, Datenmuster zu erkennen, natürliche Sprachen zu verstehen, Prioritäten zu setzen und Aufgaben zu wechseln. Entscheidend an den Programmen war, dass die Maschinen regelrecht lernten. Sie wurden besser, je mehr Erfahrung sie sammelten. Was mehr ist, als manche Menschen von sich behaupten können.

Das Telefon klingelte. Es war Ellen. »Hast du deinen Anwalt angerufen?«

»Noch nicht. Herrgott noch mal.«

»Ich nehme die um 14.10 Uhr nach San Jose. Gegen fünf müsste ich bei euch sein.«

»Hör zu, Ellen, das ist wirklich nicht notwendig ...«

»Das weiß ich. Ich muss ohnehin mal raus. Ich brauch eine Pause. Bis später, Jack.« Und sie legte auf.

Jetzt kümmerte sie sich also um mich.

Auf jeden Fall sah ich keinen Sinn darin, schon heute einen Anwalt anzurufen. Ich hatte zu viel zu erledigen. Ich musste Sachen von der Reinigung abholen, also machte ich das erst mal. Auf der anderen Straßenseite war ein Starbuck's, und ich ging rüber, um mir einen Cappuccino zum Mitnehmen zu holen.

Und da sah ich Gary Marder, meinen Anwalt, mit einer sehr jungen Blondine in einer knappen Hüftjeans und einem kurzen Top, das ihren Bauch zeigte. Sie knutschten in der Schlange vor der Kasse. Sie sah nicht älter aus als eine CollegeStudentin. Es war peinlich, und ich wollte gerade wieder gehen, als Gary mich sah und winkte.

»Hallo, Jack.«

»Hi, Gary.«

Er streckte mir die Hand entgegen, und ich schüttelte sie. Er sagte: »Das ist Melissa.«

Ich sagte: »Hi, Melissa.«

»Oh, hi.« Sie schien leicht verärgert über die Unterbrechung, obwohl ich mir nicht ganz sicher war. Sie hatte diesen leeren Blick, den manche Frauen im Beisein von Männern bekamen, Mir schoss durch den Kopf, dass sie höchstens sechs Jahre älter als Nicole sein konnte. Was hatte sie mit einem Typen wie Gary zu schaffen?

»Na, wie läuft's denn so, Jack?«, sagte Gary und legte einen Arm um Melissas nackte Taille.

»Gut«, sagte ich. »Ziemlich gut.«

»Ja? Schön zu hören.« Aber er legte die Stirn in Falten.

»Tja, ähm, also dann ...« Ich stand da, zögernd, kam mir albern vor im Beisein des Mädchens. Sie wünschte mich unübersehbar zum Teufel. Aber ich stellte mir vor, was Ellen sagen würde: Du läufst deinem Anwalt über den Weg, und du fragst ihn nicht mal?

Also sagte ich: »Gary, kann ich dich mal kurz sprechen?«

»Ja, klar.« Er gab Melissa Geld für den Kaffee, und wir stellten uns etwas abseits.

Ich senkte die Stimme. »Hör zu, Gary«, sagte ich, »ich glaube, ich brauche einen Scheidungsanwalt.«

»Weswegen?«

»Weil ich glaube, dass Julia eine Affäre hat.«

»Glaubst du es? Oder weißt du es genau?«

»Nein. Ich weiß es nicht genau.«

»Dann hast du also nur den Verdacht?«

»Ja.«

Gary seufzte. Er warf mir einen viel sagenden Blick zu.

Ich sagte: »Und da laufen auch noch andere Sachen. Sie hat behauptet, ich würde die Kinder gegen sie aufbringen.«

»Entfremdung der Kinder«, sagte er nickend. »Die große Mode im Augenblick. Wann hat sie das gesagt?«

»Im Streit.«

Wieder ein Seufzen. »Jack, Paare werfen sich im Streit allen möglichen Mist an den Kopf. Das muss nicht unbedingt was bedeuten.«

»Ich glaube aber, dass es was zu bedeuten hat. Ich befürchte es.«

»Beschäftigt dich das wirklich?«

»Ja.«

»Warst du bei der Eheberatung?«

»Nein.«

»Geh hin.«

»Wieso?«

»Aus zwei Gründen. Erstens, weil du es tun solltest. Du bist schon lange mit Julia verheiratet, und soweit ich weiß, habt ihr euch überwiegend gut verstanden. Und zweitens, weil du damit demonstrierst, dass du versuchst, die Ehe zu retten. Was wiederum die Behauptung widerlegt, du würdest die Kinder von ihr entfremden.«

»Ja, aber .«

»Wenn du damit Recht hast, dass sie schon dabei ist, Anklagepunkte gegen dich zu sammeln, musst du höllisch aufpassen, mein Freund. Gezielte Entfremdung der Kinder ist ein schwerer Vorwurf, den man nicht so leicht ausräumen kann. Die Kinder sind sauer auf Mom, und sie behauptet, du steckst dahinter. Wie willst du beweisen, dass das nicht stimmt? Das kannst du gar nicht. Außerdem bist du viel zu Hause, es ist also noch leichter vorstellbar, dass da was dran sein könnte. Das Gericht wird in dir einen gefrusteten Ehemann sehen, der möglicherweise neidisch ist auf seine berufstätige Frau.« Er hielt eine Hand hoch. »Ich weiß, ich weiß, dass da nichts dran ist, Jack, aber man kann es leicht behaupten, mehr will ich nicht sagen. Und das wird ihr Anwalt. Vor lauter Neid hast du die Kinder gegen sie aufgebracht.«

»Das ist ausgemachter Schwachsinn.«

»Natürlich. Das weiß ich doch.« Er klopfte mir auf die Schulter. »Geh zu einem guten Eheberater. Wenn du keinen kennst, ruf bei mir in der Kanzlei an. Barbara kann dir ein paar gute Adressen nennen.«

Ich rief Julia an, um ihr zu sagen, dass Ellen für ein paar Tage kommen würde. Natürlich erreichte ich sie nicht, bloß ihre Mailbox. Ich hinterließ ihr eine längere Nachricht, in der ich alles erklärte. Dann ging ich einkaufen, weil Ellen zu Besuch kam und wir ein paar Vorräte mehr brauchten.

Ich schob gerade meinen Einkaufswagen durch den Supermarkt, als ich einen Anruf aus dem Krankenhaus erhielt. Es war wieder der bartlose Assistenzarzt. Er wollte sich nach Amanda erkundigen, und ich sagte, dieser Bluterguss sei so gut wie verschwunden.

»Schön«, sagte er. »Freut mich zu hören.«

Ich fragte: »Was ist mit dem Kernspintomogramm?«

Der Arzt sagte, die Ergebnisse der Tomografie seien unerheblich, weil das Gerät defekt gewesen sei und Amanda gar nicht untersucht habe. »Wir sind sogar unsicher, was von den Ergebnissen der vergangenen Wochen zu halten ist«, sagte er. »Das Gerät war offenbar schon länger dabei, allmählich den Geist aufzugeben.«

»Wie das?«

»Es ist korrodiert oder so. Jedenfalls sind sämtliche Speicherchips pulverisiert.«

Ich dachte an Erics MP3-Player, und es lief mir kalt den Rücken runter. »Wie kann denn so was passieren?«, fragte ich.

»Die einleuchtendste Erklärung ist die, dass aus den Leitungen in der Wand Gas ausgetreten ist, vermutlich in der Nacht, und zu der Korrosion geführt hat. Zum Beispiel Chlorgas, das könnte solche Schäden verursachen. Komisch ist bloß, dass nur die Speicherchips kaputt waren. Die anderen waren in Ordnung.«

Die Dinge wurden von Minute zu Minute seltsamer. Und kurz darauf steigerte sich das Ganze noch, als Julia anrief und heiter und beschwingt verkündete, sie komme schon nachmittags nach Hause, und zwar so frühzeitig, dass sie mit uns zu Abend essen könne. »Ich freue mich auf Ellen«, sagte sie. »Warum kommt sie?«

»Ich glaube, sie braucht mal ein bisschen Tapetenwechsel.«

»Na, für dich ist es bestimmt auch schön, dass sie für ein paar Tage da ist. Eine Erwachsene im Haus.«

»Das kannst du laut sagen«, erwiderte ich.

Ich wartete auf eine Erklärung, warum sie nicht nach Hause gekommen war. Doch sie sagte nur: »He, ich muss Schluss machen, Jack, bis später dann ...«

»Julia«, sagte ich. »Moment noch.«

»Was denn?«

Ich zögerte, suchte nach Worten. Ich sagte: »Ich hab mir gestern Nacht deinetwegen Sorgen gemacht.«

»Wirklich? Warum?«

»Weil du nicht nach Hause gekommen bist.«

»Schatz, ich hab dich doch angerufen. Ich war draußen im Fertigungswerk und kam nicht mehr weg. Hast du denn deine Nachrichten nicht abgehört?«

»Doch .«

»Und von mir war keine dabei?«

»Nein. Keine.«

»Tja, das versteh ich nicht. Ich hab dir eine Nachricht hinterlassen, Jack. Ich hab zuerst zu Hause angerufen und hatte Maria am Apparat, aber sie konnte nicht, du weißt schon, es war zu kompliziert . Also hab ich dich anschließend auf dem Handy angerufen und dir eine Nachricht auf die Mailbox gesprochen, dass ich bis heute Morgen im Werk festsitzen würde.«

»Na ja, ich hab sie jedenfalls nicht bekommen«, sagte ich, bemüht, nicht beleidigt zu klingen.

»Tut mir Leid, Schatz, aber überprüf das mal. Ich muss jetzt wirklich Schluss machen. Wir sehen uns heute Abend, ja? Küsschen.«

Und sie legte auf.

Ich überprüfte mein Handy noch einmal. Es war keine Nachricht angezeigt. Ich sah in der Rufliste nach. Ich hatte gestern Abend keinen Anruf erhalten.

Julia hatte mich nicht angerufen. Niemand hatte mich angerufen.

Mutlosigkeit überkam mich, ich spürte wieder das Abrutschen in eine depressive Stimmung. Und ich fühlte mich müde, konnte mich kaum bewegen. Ich starrte die Produkte auf den Supermarktregalen an. Ich wusste nicht mal mehr, warum ich hier war.

Gerade hatte ich beschlossen, wieder zu gehen, als das Handy in meiner Hand klingelte. Ich klappte es auf. Es war Tim Bergman, mein Nachfolger bei MediaTronics. »Sitzt du gerade?«, fragte er.

»Nein. Wieso?«

»Ich hab ziemlich seltsame Neuigkeiten. Pass auf.«

»Okay .«

»Don will dich anrufen.«

Don Gross war mein ehemaliger Boss, der Mann, der mich gefeuert hatte. »Weswegen?«

»Er will dich wieder einstellen.«

»Er will was?«

»Ja. Ich weiß. Ganz schön verrückt. Dich wieder einstellen.«

»Wieso?«, fragte ich.

»Wir haben ein paar Probleme mit den verteilten Systemen, die wir an Kunden verkauft haben.«

»Welche?«

»Na ja, predprey.«

»Das ist doch eins von den älteren«, sagte ich. »Wer hat das gekauft?« predprey war ein System, das wir vor über einem Jahr entworfen hatten. Wie die meisten unserer Programme basierte es auf biologischen Modellen. predprey war ein zielorientiertes Programm, das auf der Räuber-Beute-Dynamik beruhte. Aber von der Struktur her war es ausgesprochen einfach.

»Na ja, Xymos wollte was ganz Einfaches«, sagte Tim.

»Ihr habt predprey an Xymos verkauft?«

»Genau. Genauer gesagt, die Lizenz. Mit einem SupportVertrag. Wir sind schon am Rande des Wahnsinns.«

»Wieso?«

»Es läuft einfach nicht richtig. Die Zielsuche ist völlig aus den Fugen geraten. Die meiste Zeit scheint das Programm sein Ziel zu verlieren.«

»Das überrascht mich nicht«, sagte ich, »wir haben keine Reinforcer spezifiziert.«

Reinforcer waren Programmelemente, die das Streben nach dem Ziel unterstützten. Sie sollten verhindern, dass die vernetzten Agenten, die ja lernfähig waren, etwas lernten, das sie vom Weg abbringen konnte. Man brauchte eine Möglichkeit, das eigentliche Ziel zu speichern, damit es nicht verloren ging. Agentenprogramme ließen sich nämlich im Grunde mit Kindern vergleichen. Sie vergaßen Dinge, verloren Dinge, ließen Dinge fallen.

Das alles war emergentes Verhalten. Es war nicht programmiert, aber es war das Ergebnis der Programmierung. Und genau das erlebte offenbar Xymos zurzeit.

»Also«, sagte Tim, »Don meint wohl, weil du damals das Team geleitet hast, als das Programm geschrieben wurde, bist du wie geschaffen dafür, es zu reparieren. Außerdem ist deine Frau im Management von Xymos, es wird also für die hohen Tiere eine Beruhigung sein, wenn du an Bord kommst.«

Ich war mir da nicht so sicher, aber ich sagte nichts.

»Jedenfalls, so sieht's aus«, fuhr Tim fort, »ich hab dich angerufen, um zu fragen, ob Don dich anrufen kann. Weil er sich keine Abfuhr einhandeln will.«

Wut stieg in mir hoch. Er will sich keine Abfuhr einhandeln. »Tim«, sagte ich. »Ich kann da nicht wieder arbeiten.«

»Oh, das würdest du auch nicht. Du würdest draußen im Fertigungswerk von Xymos arbeiten.«

»Ach ja? Wie soll denn das gehen?«

»Don würde dich als Berater im Außendienst einstellen. So was in der Art.«

»Aha«, sagte ich mit meiner neutralsten Stimme. Alles an diesem Angebot hörte sich falsch an. Ich hatte absolut keine Lust, wieder für das Arschloch Don zu arbeiten. Außerdem war es nie ratsam, in eine Firma zurückzukehren, die einen rausgeschmissen hatte - in keinem Fall, egal, unter welchen Bedingungen. Das wusste jeder.

Aber andererseits wäre ich mein Ladenhüterproblem los, wenn ich den Job als Berater annahm. Und ich käme endlich wieder aus dem Haus. Das waren mehrere Fliegen mit einer Klappe. Nach einer Pause sagte ich: »Hör zu, Tim, lass mich drüber schlafen.«

»Rufst du mich an?«

»Okay. Ja.«

»Wann rufst du an?«, fragte er.

Die Anspannung in seiner Stimme war unüberhörbar. Ich sagte: »Ist die Sache so dringend ...«

»Na ja, ziemlich. Wie gesagt, dieser Vertrag treibt uns in den Wahnsinn. Fünf Programmierer von deinem alten Team wohnen praktisch schon draußen im Xymos-Werk. Und sie kriegen das Problem einfach nicht in den Griff. Wenn du uns also nicht helfen willst, dann müssen wir uns anderweitig umschauen, schnellstens.«

»Okay, ich ruf dich morgen an«, sagte ich.

»Morgen früh?«, fragte er drängend.

»Okay«, sagte ich. »Ja, morgen früh.«

Nach Tims Anruf hätte ich mich eigentlich besser fühlen müssen, aber dem war nicht so. Ich ging mit dem Baby zum Spielplatz und setzte es auf die Schaukel. Amanda konnte vom Schaukeln nie genug kriegen. Manchmal ließ sie sich zwanzig oder dreißig Minuten am Stück von mir anstoßen und schrie jedes Mal, wenn ich sie wieder herunternahm. Später saß ich auf der Betonumrandung vom Sandkasten, während Amanda herumkroch und sich an den Betonschildkröten und anderen Figuren auf die Beine zog. Einmal schubste eins von den größeren Kindern sie um, aber sie weinte nicht, sie stand einfach wieder auf. Es schien ihr Spaß zu machen, mit Älteren zusammen zu sein.

Ich sah ihr zu und dachte darüber nach, wie es wäre, wieder zu arbeiten.

»Du hast doch hoffentlich Ja gesagt«, sagte Ellen zu mir. Wir waren in der Küche. Meine Schwester war gerade angekommen, ihr schwarzer Koffer stand unausgepackt in der Ecke. Ellen wirkte genau wie immer, gertenschlank, sportlich, blond, aufgekratzt. Sie schien einfach nicht zu altern. Sie trank eine Tasse Tee. Die Teebeutel hatte sie selbst mitgebracht. Ein besonderer biodynamischer Oolong-Tee aus einem Spezialgeschäft in San Francisco. Auch das war unverändert - Ellen war schon immer wählerisch gewesen, was das Essen anging, schon als Kind. Seit sie erwachsen war, nahm sie stets ihren eigenen Tee, ihre eigenen Salatdressings, ihre eigenen Vitamine mit, wenn sie unterwegs war, alles schön ordentlich verpackt.

»Nein, hab ich nicht«, erwiderte ich. »Ich hab gesagt, ich würde drüber schlafen.« »Drüber schlafen? Machst du Witze? Jack, du musst wieder arbeiten. Das weißt du doch selbst.« Sie starrte mich prüfend an. »Du bist depressiv.«

»Bin ich nicht.«

»Du solltest was von dem Tee hier trinken«, sagte sie. »Der viele Kaffee ist schlecht für deine Nerven.«

»Tee hat mehr Koffein als Kaffee.«

»Jack. Du musst wieder arbeiten.«

»Das weiß ich, Ellen.«

»Und eine Beratertätigkeit ... wäre das nicht ideal? Die Lösung für alle deine Probleme?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich.

»Wieso. Was weißt du nicht?«

»Ich weiß nicht, ob die mir alles erzählt haben«, sagte ich. »Ich meine, wenn Xymos wirklich Probleme hat, wieso hat Julia mir dann kein Wort davon gesagt?«

Ellen schüttelte den Kopf. »Ich hab den Eindruck, dass Julia in letzter Zeit überhaupt wenig erzählt.« Sie blickte mich an. »Also, warum hast du nicht direkt Ja gesagt?«

»Ich muss mich erst noch ein bisschen umhören.«

»Wozu denn das, Jack?« In ihrer Stimme schwang Skepsis mit. Ellen benahm sich, als hätte ich ein psychisches Problem, das behoben werden musste. Meine Schwester fing an, mir auf die Nerven zu gehen, dabei waren wir erst zehn Minuten zusammen. Meine große Schwester, die mich wieder behandelte, als wäre ich ein kleines Kind. Ich stand auf. »Hör zu, Ellen«, sagte ich. »Ich arbeite seit einer Ewigkeit in dieser Branche, und ich weiß, wie sie funktioniert. Es gibt zwei mögliche Gründe, weshalb Don mich zurückhaben will. Der erste ist, dass die Firma in der Klemme steckt und sie glauben, dass ich helfen kann.«

»Wie sie gesagt haben.«

»Richtig. Wie sie gesagt haben. Aber die andere Möglichkeit ist die, dass sie einen unglaublichen Schlamassel angerichtet haben, der sich nicht mehr beheben lässt - und dass sie das wissen.«

»Und sie brauchen einen, dem sie die Schuld in die Schuhe schieben können?«

»Richtig. Sie brauchen einen Idioten, dem sie das anhängen können.«

Sie runzelte die Stirn. Ich sah, dass sie verunsichert war. »Meinst du wirklich?«

»Ich weiß es nicht, das ist ja der Haken bei der Sache«, erwiderte ich. »Aber ich muss es herausfinden.«

»Wie willst du das anstellen?«

»Ein bisschen herumtelefonieren. Vielleicht morgen ein kleiner Überraschungsbesuch bei denen da draußen.«

»Okay. Das hört sich ganz vernünftig an.«

»Freut mich, dass ich dein Einverständnis habe.« Ich konnte die Verärgerung in meiner Stimme nicht unterdrücken.

»Jack«, sagte sie. Sie stand auf und umarmte mich. »Ich mach mir doch nur Sorgen um dich.«

»Das weiß ich«, sagte ich. »Aber du hilfst mir damit nicht.«

»Okay. Womit kann ich dir denn dann helfen?«

»Pass auf die Kinder auf, während ich telefoniere.«

Als Erstes wollte ich Ricky Morse anrufen, den ich beim Pampers-Kaufen im Supermarkt getroffen hatte. Ich kannte Ricky schon lange; er war bei Xymos, und er ging locker mit Informationen um, sodass er mir vielleicht verraten würde, was wirklich los war. Das einzige Problem war nur, dass Ricky im Valley arbeitete, und er hatte mir ja schon erzählt, dass die Musik derzeit im Fertigungswerk spielte. Trotzdem war er meine erste Anlaufstation.

Ich rief in seinem Büro an, aber die Empfangssekretärin meldete sich: »Tut mir Leid, Mr. Morse ist nicht in seinem Büro.«

»Wann erwarten Sie ihn zurück?«

»Das weiß ich wirklich nicht. Soll ich Sie mit seiner Mailbox verbinden?«

Ich sprach Ricky eine Nachricht auf. Dann wählte ich seine Privatnummer.

Seine Frau kam an den Apparat. Mary promovierte gerade in französischer Geschichte; ich stellte mir vor, wie sie das Baby wiegte, ein aufgeschlagenes Buch auf dem Schoß. Ich sagte: »Wie geht's dir, Mary?«

»Danke, gut, Jack.«

»Wie geht's dem Baby? Ricky hat mir erzählt, ihr habt keine Probleme mit Ausschlag am Po, von der Windel. Ich bin neidisch.« Ich bemühte mich um einen lockeren Tonfall. Nur ein privater Anruf.

Mary lachte. »Sie ist ein braves Baby, und wir hatten noch keine Kolik, Gott sei Dank. Aber Ricky ist nicht immer da«, sagte sie. »Ausschlag gab's schon bei uns.«

Ich sagte: »Ich würde gern mit Ricky sprechen. Ist er da?«

»Nein, Jack. Er ist schon die ganze Woche nicht da. Er ist in der Fertigung in Nevada.«

»Ach ja, stimmt.« Mir fiel wieder ein, dass Ricky das im Supermarkt erwähnt hatte.

»Warst du schon mal da draußen in diesem Werk?«, fragte Mary. Ich meinte, einen beklommenen Unterton wahrzunehmen.

»Nein, noch nie, aber .«

»Julia ist oft dort, nicht? Was erzählt sie denn so davon?« Eindeutig besorgt.

»Na ja, nicht viel. Soviel ich weiß, haben sie eine neue Technologie entwickelt, die noch sehr geheim ist. Wieso?«

Sie zögerte. »Vielleicht bilde ich mir das ja auch nur ein ...«

»Was denn?«

»Na, manchmal, wenn Ricky anruft, hört er sich irgendwie komisch an.«

»Inwiefern?«

»Er hat bestimmt viel um die Ohren und ist gestresst, aber er sagt manchmal merkwürdige Sachen. Ich werde oft nicht aus ihm schlau. Und er weicht mir aus. Als ob er, ich weiß nicht, was zu verbergen hätte.«

»Etwas zu verbergen .«

Sie lachte auf, als wollte sie sich entschuldigen. »Ich hab sogar schon gedacht, er hat vielleicht eine Affäre. Na ja, diese Mae Chang ist auch da draußen, und er hatte schon immer was für sie übrig. Sie ist so hübsch.«

Ich hatte nicht gewusst, dass Mae Chang da draußen war. »Sie auch?«

»Ja. Ich glaube, etliche von den Leuten, die bei MediaTronics für dich gearbeitet haben, sind zurzeit dort.«

»Hör mal, Mary«, sagte ich. »Ich glaube nicht, dass Ricky eine Affäre hat. Das sieht ihm einfach nicht ähnlich. Und Mae auch nicht.«

»Stille Wasser sind tief«, sagte sie und meinte offenbar Mae. »Und ich stille noch, ich meine, ich hab also noch nicht abgenommen, meine Oberschenkel sind die reinsten Hammelkeulen.«

»Ich glaube nicht, dass .«

»Sie reiben beim Gehen aneinander. Man hört es sogar.«

»Mary, ich bin sicher .«

»Ist mit Julia alles in Ordnung, Jack? Sie benimmt sich nicht komisch?«

»Nicht mehr als sonst«, sagte ich, um einen Scherz zu machen.

Ich fühlte mich mies, als ich das sagte. Seit Tagen hatte ich den Wunsch, dass jemand offen mit mir über Julia reden würde, aber jetzt, trotz Gemeinsamkeiten, konnte ich mich Mary nicht anvertrauen. Ich hielt den Mund. Ich sagte: »Julia hat auch ganz schön viel Stress, und sie ist manchmal ein bisschen sonderbar.«

»Hat sie schon mal was über eine schwarze Wolke gesagt?«

»Äh ... nein.«

»Die neue Welt? Bei der Geburt der neuen Weltordnung dabei zu sein?«

Das hörte sich für mich nach Verschwörungsgerede an. Wie die Leute, die sich Sorgen wegen der Trilateralen Kommission machten und meinten, dass die Rockefellers die Welt regierten. »Nein, nichts dergleichen.«

»Hat sie einen schwarzen Umhang erwähnt?«

Plötzlich hatte ich das Gefühl, als würde ich gebremst. Als bewegte ich mich ganz langsam. »Was?«

»Neulich Abend hat Ricky was von einem schwarzen Umhang gesagt, dass er von einem schwarzen Umhang eingehüllt sei. Es war spät, er war müde, er hat etwas wirr geredet.«

»Hat er irgendwas über den schwarzen Umhang gesagt?«

»Nichts. Nur das.« Sie stockte. »Glaubst du, die nehmen da Drogen, draußen in Nevada?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich.

»Na ja, sie haben Druck, arbeiten rund um die Uhr und kriegen kaum Schlaf. Würde mich nicht wundern, wenn sie Drogen nähmen.«

»Weißt du was, ich rufe Ricky an«, sagte ich.

Mary gab mir seine Handynummer, und ich notierte sie. Als ich sie gerade wählen wollte, knallte die Haustür, und ich hörte Eric sagen: »He, Mom! Wer ist denn der Typ in deinem Wagen?« Ich stand auf und sah zum Fenster hinaus auf die Zufahrt. Julias BMW-Kabrio stand dort, das Verdeck offen. Ich sah auf die Uhr. Es war erst halb fünf.

Ich ging in die Diele und sah, wie Julia Eric umarmte. Sie sagte: »Das war bestimmt das Sonnenlicht auf der Windschutzscheibe. In meinem Wagen ist keiner.«

»Aber da war einer. Ich hab ihn doch gesehen.«

»Ach ja?« Sie öffnete die Haustür. »Dann sieh doch selbst nach.« Eric ging nach draußen auf den Rasen. Julia lächelte mich an. »Er denkt, in meinem Wagen hätte wer gesessen.«

Er kam wieder herein, zuckte die Achseln. »Komisch. Muss mich vertan haben.«

»Allerdings, Schätzchen.« Julia ging auf mich zu. »Ist Ellen da?«

»Gerade angekommen.«

»Toll. Ich geh schnell unter die Dusche, und dann unterhalten wir uns. Wir machen eine Flasche Wein auf. Was gibt's zum Abendessen?«

»Ich hab Steaks vorbereitet.«

»Toll. Klingt toll.«

Und mit einem fröhlichen Winken verschwand sie Richtung Bad.

Es war ein warmer Abend, und wir wollten im Garten essen. Ich hatte die rotweiß karierte Tischdecke aufgelegt und stand am Grill, trug meine Schürze mit der Aufschrift »Der Koch hat das Sagen«, und dann veranstalteten wir sozusagen ein typisch amerikanisches Familienessen.

Julia war bezaubernd und in Plauderlaune, widmete sich ganz meiner Schwester, sprach über die Kinder, die Schule, über die Veränderungen am Haus, die sie geplant hatte. »Das Fenster da kommt weg«, sagte sie und deutete auf die Küche, »und wir bauen Terrassentüren ein, sodass wir direkt in den Garten können. Das wird toll.« Ich war verblüfft über Julias Vorstellung. Sogar die Kinder starrten sie an. Julia erzählte, wie stolz sie auf Nicoles große Rolle in dem bevorstehenden Schultheaterstück sei. Nicole sagte: »Mom, ich hab eine klitzekleine Rolle.«

»Ach, gar nicht, Schatz«, sagte Julia.

»Doch. Ich hab bloß zwei Sätzchen.«

»Jetzt hör aber auf, Schatz, ich bin sicher, du .«

Eric legte los: »>Seht, da kommt John.< >Das hört sich ziemlich ernst an.<«

»Klappe, Kotzbrocken.«

»Das sagt sie ständig im Badezimmer auf«, verkündete Eric. »Hundert Millionen Mal.«

Julia fragte: »Wer ist John?«

»Das ist doch der Text in dem Stück.«

»Ach so. Na, egal, du bist bestimmt wunderbar. Und unser kleiner Eric macht solche Fortschritte im Fußball, nicht wahr, Schatz?«

»Nächste Woche ist das letzte Spiel«, sagte Eric und schmollte. Julia hatte es in diesem Herbst zu keinem seiner Spiele geschafft.

»Das hat ihm richtig gut getan«, sagte Julia zu Ellen. »Mannschaftssport fördert die Kooperationsfähigkeit, vor allem bei Jungen, ist ein gutes Gegengewicht zu ihrem Konkurrenzverhalten.«

Ellen sagte gar nichts, nickte bloß und hörte zu.

An diesem Abend hatte Julia darauf bestanden, das Baby zu füttern, und den Hochstuhl neben sich gestellt. Aber Amanda war es gewohnt, bei jeder Mahlzeit Flugzeug zu spielen. Sie wartete darauf, dass jemand den Löffel auf sie zu bewegte und dabei »Brrrrrrr-uuuuummm . das Flugzeug kommt . Türen auf!« sagte. Da Julia das nicht tat, hielt Amanda den Mund fest geschlossen. Auch das gehörte zum Spiel.

»Tja. Sie hat wohl keinen Hunger«, sagte Julia achselzuk-kend. »Hat sie eben ihr Fläschchen gehabt, Jack?«

»Nein«, sagte ich. »Das kriegt sie erst nach dem Abendessen.«

»Ja, das weiß ich. Ich meine, vor kurzem.«

»Nein«, sagte ich. »Auch nicht vor kurzem.« Ich deutete auf Amanda. »Soll ich mal versuchen?«

»Klar.« Julia gab mir den Löffel, und ich setzte mich neben Amanda und fing an, Flugzeug zu spielen. »Brrrr-uuummmm .« Amanda grinste sofort und öffnete den Mund.

»Jack geht richtig toll mit den Kindern um«, sagte Julia zu Ellen.

»Ich denke, es tut jedem Mann gut, sich mal um Haushalt und Familie zu kümmern«, sagte Ellen.

»Oh, ja. Das stimmt. Er hat mir sehr geholfen.« Sie tätschelte mein Knie. »Das hast du wirklich, Jack.«

Mir war klar, dass Julia zu fröhlich, zu gut gelaunt war. Sie war überdreht, redete schnell und wollte bei Ellen anscheinend den Eindruck erwecken, dass sie im Haus die Fäden in der Hand hielt. Ich konnte sehen, dass Ellen ihr kein Wort glaubte. Aber Julia war so aufgekratzt, dass sie es nicht merkte. Ich fragte mich allmählich, ob sie Drogen nahm. Verhielt sie sich deshalb so sonderbar? Nahm sie Amphetamine?

»Und in der Firma«, fuhr Julia fort, »ist es im Augenblick so unglaublich spannend. Xymos ist ein richtiger Durchbruch gelungen - ein Durchbruch, auf den alle schon seit über zehn Jahren warten. Aber jetzt endlich ist es so weit.«

»Wie der schwarze Umhang?«, sagte ich, um zu sehen, wie sie reagieren würde.

Julia blinzelte. »Der was?« Sie schüttelte den Kopf. »Wovon redest du, Schatz?«

»Ein schwarzer Umhang. Hast du nicht neulich was von einem schwarzen Umhang gesagt?«

»Nein ...« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was du meinst.« Sie wandte sich an Ellen. »Jedenfalls, diese ganze Molekulartechnologie marktfähig zu machen hat wesentlich länger gedauert, als wir gedacht haben. Aber jetzt haben wir es geschafft.«

»Du klingst richtig begeistert«, sagte Ellen.

»Ich kann dir sagen, es ist faszinierend, Ellen.« Sie senkte die Stimme. »Und obendrein bringt es wahrscheinlich auch noch ordentlich was ein.«

»Das wäre schön«, sagte Ellen. »Aber du musst bestimmt jede Menge Überstunden machen ...«

»So viele nun auch wieder nicht«, sagte Julia. »Alles in allem war es nicht so schlimm. Erst seit einer Woche oder so.«

Ich sah, wie Nicoles Augen größer wurden. Eric starrte seine Mutter an, während er kaute. Aber die Kinder sagten nichts. Ich auch nicht.

»Es ist nur vorübergehend«, fuhr Julia fort. »Alle Firmen haben diese Übergangsphasen.«

»Ja klar«, sagte Ellen.

Die Sonne ging langsam unter. Die Luft wurde kühler. Die Kinder standen vom Tisch auf. Ich fing an, das Geschirr abzuräumen. Ellen half mir. Julia sprach weiter und sagte dann: »Ich würde gern bleiben, aber ich bin an einer wichtigen Sache und muss noch mal dringend ins Büro.«

Falls Ellen überrascht war, so zeigte sie es nicht. Sie sagte lediglich: »Überstunden.«

»Nur vorübergehend.« Sie wandte sich an mich. »Danke, dass du die Stellung hältst, Schatz.« An der Tür drehte sie sich um und warf mir eine Kusshand zu. »Danke, Jack.«

Und weg war sie.

Ellen sah ihr stirnrunzelnd nach. »Ein kleines bisschen abrupt, findest du nicht?«

Ich zuckte die Achseln.

»Verabschiedet sie sich nicht von den Kindern?«

»Vermutlich nicht.«

»Sie haut einfach so mir nichts dir nichts ab?«

»Genau.«

Ellen schüttelte den Kopf. »Jack«, sagte sie, »ich weiß nicht, ob sie eine Affäre hat oder nicht, aber - was nimmt sie?«

»Nichts, soweit ich weiß.«

»Irgendwas nimmt sie. Da bin ich sicher. Würdest du sagen, dass sie abgenommen hat?«

»Ja. Einiges.«

»Und sie schläft sehr wenig. Und ist offensichtlich aufgekratzt .« Ellen schüttelte den Kopf. »Viele gestresste Manager nehmen Drogen.«

»Ich weiß nicht«, sagte ich.

Sie sah mich nur an.

Ich ging wieder in mein Arbeitszimmer, um Ricky anzurufen, und vom Fenster aus sah ich, wie Julia in der Einfahrt den Wagen zurücksetzte. Ich wollte ihr zuwinken, aber sie blickte über die Schulter, während sie rückwärts fuhr. Im Abendlicht spiegelten sich Streifen, von den Bäumen darüber, auf der Windschutzscheibe. Julia war fast an der Straße, als ich meinte, jemanden neben ihr auf dem Beifahrersitz zu sehen. Anscheinend ein Mann.

Durch die Frontscheibe des fahrenden Wagens konnte ich sein Gesicht nicht erkennen. Und als Julia auf die Straße bog, versperrte ihr Körper mir den Blick auf die Person. Aber es wirkte so, als würde Julia mit ihm reden, angeregt. Dann legte sie den ersten Gang ein und lehnte sich zurück, und einen kurzen Augenblick lang sah ich den Mann deutlich. Er saß im Gegenlicht, sein Gesicht lag im Schatten, und offenbar blickte er Julia direkt an, da ich noch immer keine Gesichtszüge ausmachen konnte, doch er hing so lässig im Sitz, dass er mir recht jung vorkam, vielleicht in den Zwanzigern, obwohl ich auch das nicht mit Sicherheit sagen konnte. Es war nur ein flüchtiger Eindruck. Dann beschleunigte der BMW, und Julia fuhr die Straße hinunter.

Ich dachte: Jetzt reicht's aber. Ich lief nach draußen und die Einfahrt hinunter. Ich erreichte die Straße, als Julia gerade an dem Stoppschild am Ende des Blocks hielt und die Bremslichter aufleuchteten. Sie war rund fünfzig Schritte entfernt, die Straße in schwaches, schräg einfallendes, gelbes Licht getaucht. Es schien, als wäre Julia allein im Wagen, aber ich konnte es wirklich nicht deutlich sehen. Einen Moment lang war ich erleichtert und kam mir albern vor. Da stand ich hier auf der Straße, ohne irgendeinen triftigen Grund. Mein Verstand spielte mir einen Streich. Da saß niemand auf dem Beifahrersitz.

Als Julia dann rechts abbog, tauchte der Typ plötzlich wieder auf, als wäre er nach vorn gebeugt gewesen, um irgendetwas im Handschuhfach zu suchen. Und dann war der Wagen verschwunden. Und schlagartig kam mein ganzer Kummer wie eine Welle zurück, wie ein heißer Schmerz, der sich über meine Brust und den ganzen Körper ausbreitete. Ich geriet außer Atem, und mir wurde ein wenig schwindelig.

Es war doch noch jemand im Wagen gewesen. Ich trottete zurück, die Einfahrt hoch, völlig aufgewühlt, und wusste nicht, was ich jetzt tun sollte.

»Du weißt nicht, was du jetzt tun sollst?«, fragte Ellen. Wir spülten die Töpfe und Pfannen, die Sachen, die nicht in die Maschine passten. Ellen trocknete ab, ich schrubbte. »Du greifst zum Hörer und rufst sie an.«

»Sie ist im Auto.«

»Sie hat ein Handy. Ruf sie an.«

»Kommt nicht infrage«, erwiderte ich. »Was soll ich denn sagen? He, Julia, wer ist der Typ, der neben dir sitzt?« Ich schüttelte den Kopf. »Das wird ein unangenehmes Gespräch.«

»Vielleicht.«

»Das bedeutet die Scheidung, mit Sicherheit.«

Sie blickte mich nur an. »Du willst dich nicht scheiden lassen, oder?«

»Meine Güte, nein. Ich will meine Familie zusammenhalten.«

»Das wird vielleicht nicht möglich sein, Jack. Es kann sein, dass du auf diese Entscheidung keinen Einfluss hast.«

»Ich begreife das alles nicht«, sagte ich. »Ich meine, der Typ in dem Wagen, das war ein junger Bursche, ein Jüngelchen.«

»Und?«

»Das ist nicht Julias Stil.«

»Ach ja?« Ellens Augenbrauen gingen hoch. »Er war wahrscheinlich in den Zwanzigern oder Anfang dreißig. Und über-haupt, weißt du so genau, was Julias Stil ist?«

»Na, immerhin lebe ich seit dreizehn Jahren mit ihr zusammen.«

Sie stellte scheppernd einen Topf ab. »Jack. Es ist bestimmt schwer für dich, das alles zu akzeptieren.«

»Allerdings.« Im Kopf wiederholte sich die Szene, wie der Wagen die Einfahrt zurücksetzte, immer und immer wieder. Ich fand jetzt, dass die Person im Wagen irgendetwas Merkwürdiges an sich gehabt hatte, dass sie irgendwie sonderbar ausgesehen hatte. Das Gesicht war durch die Windschutzscheibe verschwommen, durch das sich verändernde Licht, als Julia rückwärts die Einfahrt hinunterfuhr. Ich konnte weder die Augen noch die Wangenknochen noch den Mund sehen. In meiner Erinnerung war das ganze Gesicht dunkel und undeutlich. Das sagte ich Ellen.

»Das ist nicht überraschend.«

»Nein?«

»Nein. Das nennt man Verleugnung der Realität. Sieh mal, Jack, Tatsache ist, du hast den Beweis direkt vor Augen. Du hast es gesehen, Jack. Findest du nicht, es wird höchste Zeit, dass du es glaubst?«

Ich wusste, dass sie Recht hatte. »Ja«, sagte ich. »Es wird Zeit.«

Das Telefon klingelte. Ich hatte die Hände tief im Spülwasser. Ich bat Ellen, dranzugehen, doch eins von den Kindern war schneller gewesen. Ich hatte den Grillrost sauber geschrubbt und reichte ihn Ellen zum Abtrocknen.

»Jack«, sagte Ellen, »du musst die Dinge jetzt so sehen, wie sie sind, und nicht, wie du sie gerne hättest.«

»Du hast Recht«, sagte ich. »Ich ruf sie an.«

In diesem Moment kam Nicole in die Küche, ganz blass.

»Dad? Da ist die Polizei dran. Die wollen dich sprechen.«

5. Tag, 21.10 Uhr

Julias Kabrio war etwa fünf Meilen von unserem Haus entfernt von der Straße abgekommen. Es war gut fünfzehn Meter tief eine steile Böschung hinabgestürzt und hatte eine Schneise durch die Salbei- und Wacholderbüsche gepflügt. Dann war es anscheinend umgekippt, denn jetzt lag es auf der Seite, die Räder in der Luft. Ich konnte nur die Unterseite des Wagens sehen. Die Sonne war fast untergegangen, und dort unten war es schon dunkel. Die drei Rettungswagen auf der Straße hatten das Blaulicht angeschaltet, und die Sanitäter seilten sich bereits ab. Während ich zuschaute, wurden tragbare Scheinwerfer aufgestellt, die das Unfallauto in grelles, blaues Licht tauchten. Überall um mich herum hörte ich Funkgeräte knistern.

Ich stand oben an der Straße bei einem Motorradpolizisten. Ich hatte schon gefragt, ob ich nach unten dürfe, doch das war nicht möglich, wie man mir sagte; ich musste oben bleiben. Als ich die Funkgeräte hörte, fragte ich: »Ist sie verletzt? Ist meine Frau verletzt?«

»Das werden wir gleich wissen.« Er war ruhig.

»Was ist mit dem Beifahrer?«

»Moment«, sagte er. Er hatte ein Headset in seinem Helm und redete jetzt einfach mit leiser Stimme los. Es klang wie ein Code. Ich verstand: » ... Update ein vier-null-zwei für siebendrei-neun hier ...«

Ich stand am Rand der Böschung und blickte nach unten, versuchte, etwas zu erkennen. Inzwischen waren etliche Hilfskräfte bei der Arbeit, einige hinter dem umgestürzten Wagen verborgen. Lange Zeit, so schien mir, geschah nichts weiter.

Der Polizist sagte: »Ihre Frau ist bewusstlos, aber sie ist . sie war angeschnallt und ist nicht rausgeschleudert worden. Anscheinend ist sie nicht schwer verletzt. Herz und Atmung sind stabil. Sie hat keine Wirbelsäulenverletzungen, aber ... sie . hat vermutlich einen Arm gebrochen.«

»Sie ist also nicht in Lebensgefahr?«

»Sieht so aus.« Wieder eine Pause, während er lauschte. Ich hörte ihn sagen: »Ihr Mann ist hier bei mir, also acht-sieben.« Als er sich mir erneut zuwandte, sagte er: »Ja. Sie kommt gerade wieder zu sich. Im Krankenhaus muss abgeklärt werden, ob sie innere Verletzungen hat. Und sie hat einen gebrochenen Arm. Aber sie sagen, sie ist anscheinend nicht schwer verletzt. Sie legen sie jetzt auf eine Trage.«

»Gott sei Dank«, sagte ich.

Der Polizist nickte. »Die Straße ist an dieser Stelle tückisch.«

»Passiert so was hier oft?«

Er nickte. »Alle paar Monate. Meistens geht es nicht so glimpflich ab.«

Ich nahm mein Handy und rief Ellen an, bat sie, den Kindern zu sagen, sie sollten sich keine Sorgen machen, Mom werde wieder gesund. »Vor allem Nicole«, sagte ich.

»Ich mach das schon«, versprach Ellen.

Ich beendete das Gespräch und drehte mich zum Cop hin. »Was ist mit dem Beifahrer?«, fragte ich.

»Sie ist allein im Wagen.«

»Nein«, sagte ich. »Da war noch jemand bei ihr.«

Er sprach in sein Headset, schaute mich dann wieder an. »Die sagen, nein. Sonst ist niemand da.«

»Vielleicht ist er rausgeschleudert worden«, sagte ich.

»Die fragen Ihre Frau . « Er lauschte einen Moment. »Sie sagt, sie war allein.«

»Das kann nicht sein«, erwiderte ich.

Er blickte mich an, zuckte die Achseln. »Sie behauptet es jedenfalls.« Im blitzenden Blaulicht der Rettungswagen konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht sehen. Doch in seinem Tonfall schwang mit: Schon wieder einer, der seine eigene Frau nicht richtig kennt. Er wandte sich ab, blickte über den Rand der Straße.

Eines der Bergungsfahrzeuge hatte einen Stahlarm mit einer Winde ausgefahren, der jetzt über der Böschung hing. Ein Drahtseil wurde hinabgelassen. Ich sah, wie Männer mit den Füßen festen Halt an der steilen Böschung suchten, während sie eine Trage an der Winde befestigten. Ich konnte Julia nicht deutlich auf der Trage erkennen, sie war festgeschnallt, mit einer Thermofolie zugedeckt. Sie hob sich, schwebte durch den Kegel aus blauem Licht, dann ins Dunkel.

Der Cop sagte: »Die fragen nach Drogen und Medikamenten. Nimmt Ihre Frau Drogen oder Medikamente?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Was ist mit Alkohol? Hatte sie was getrunken?«

»Wein beim Abendessen. Ein oder zwei Gläser.«

Der Cop drehte sich weg und sprach leise in der Dunkelheit. Nach einer Pause hörte ich ihn sagen: »Okay.«

Die Trage drehte sich langsam, während sie in die Luft stieg. Einer der Helfer, auf halber Höhe der Böschung, streckte den Arm aus und stabilisierte sie, bevor sie weiter nach oben schwebte.

Ich konnte Julia erst deutlich erkennen, als die Trage schon auf der Straße war und die Rettungshelfer sie herumdrehten und vom Seil lösten. Julias Gesicht war verquollen, die linke Wange lila und die Stirn über dem linken Auge ebenfalls. Sie musste ziemlich fest mit dem Kopf aufgeschlagen sein. Sie atmete flach. Ich ging neben der Trage her. Sie sah mich und sagte: »Jack ...« und versuchte zu lächeln.

»Bleib ganz ruhig«, sagte ich.

Sie hustete leicht. »Jack. Es war ein Unfall.«

Die Sanitäter manövrierten sie jetzt um das Motorrad herum. Ich musste aufpassen, wo ich hintrat. »Ja, ich weiß.«

»Es ist nicht so, wie du denkst, Jack.«

Ich sagte: »Was meinst du, Julia?« Ich hatte den Eindruck, dass sie fantasierte. Ihre Stimme wurde mal leiser, mal lauter.

»Ich weiß, was du denkst.« Ihre Hand packte meinen Arm. »Versprich mir, dass du dich nicht einmischst, Jack.«

Ich sagte nichts, ich ging einfach neben ihr her.

Sie drückte meinen Arm fester. »Versprich mir, dass du dich raushältst.«

»Ich verspreche es«, sagte ich.

Daraufhin lockerte sie ihren Griff, ließ meinen Arm los. »Das hat nichts mit unserer Familie zu tun. Den Kindern wird nichts passieren. Dir wird nichts passieren. Halt dich einfach raus, okay?«

»Okay«, sagte ich, nur, um sie zu besänftigen.

»Jack?«

»Ja, Schatz, ich bin da.«

Wir näherten uns jetzt dem ersten Rettungswagen. Die Türen schwangen auf. Einer vom Rettungsteam sagte: »Sind Sie mit ihr verwandt?«

»Ich bin ihr Mann.«

»Wollen Sie mitkommen?«

»Ja.«

»Rein mit Ihnen.«

Ich stieg als Erster in den Rettungswagen, dann schoben sie die Trage hinein, einer vom Rettungsteam folgte und knallte die Türen zu. Wir fuhren los, mit heulenden Sirenen.

Ich wurde von den zwei Sanitätern zur Seite geschoben, die sich gleich an die Arbeit machten. Einer notierte sich etwas auf einem Klemmbrett, und der zweite legte an Julias Arm eine Infusion an. Sie waren wegen ihres fallenden Blutdrucks besorgt. Der beunruhigte sie ernsthaft. Während Julia verarztet wurde, konnte ich sie nicht richtig sehen, aber ich hörte sie murmeln.

Ich versuchte, näher heranzurücken, aber die Sanitäter schoben mich zurück. »Lassen Sie uns unsere Arbeit machen, Sir. Ihre Frau ist verletzt. Wir müssen da dran.«

Den Rest der Fahrt saß ich auf einem kleinen Klappsitz und hielt mich an einem Griff an der Wand fest, wenn der Wagen sich in die Kurven legte. Julia fantasierte jetzt ganz eindeutig, brabbelte unsinniges Zeug. Ich hörte sie etwas von »den schwarzen Wolken« sagen, die »nicht mehr schwarz« waren. Dann hielt sie plötzlich eine Art Vortrag, sprach von »pubertä-rer Aufsässigkeit«. Sie erwähnte Amanda mit Namen, Eric auch, und fragte, ob es ihnen gut gehe. Sie wirkte aufgeregt. Die Sanitäter versuchten, sie zu beruhigen. Und schließlich wiederholte sie immer nur noch: »Ich hab nichts Böses getan, ich wollte nichts Böses tun«, während der Rettungswagen durch die Nacht raste.

Während ich ihr zuhörte, wuchs unwillkürlich meine Unruhe.

Die Untersuchung ergab, dass Julia möglicherweise doch ernstere Verletzungen hatte, als anfänglich vermutet. Es galt einiges auszuschließen: möglicher Beckenbruch, mögliche Hämatome, möglicher Halswirbelbruch. Der linke Arm war an zwei Stellen gebrochen und musste eventuell genagelt werden. Am meisten Sorgen machte den Ärzten Julias Becken. Als sie sie auf die Intensivstation verlegten, bewegten sie sie so behutsam wie möglich.

Aber Julia war bei Bewusstsein, fing meinen Blick auf und lächelte mich ab und zu an, bis sie einschlief. Die Ärzte sagten, dass ich nichts tun könne; sie würden sie im Laufe der Nacht alle halbe Stunde aufwecken. Sie müsse mindestens drei Tage, wahrscheinlich eine Woche im Krankenhaus bleiben.

Sie sagten mir, ich solle mich ausruhen. Kurz vor Mitternacht verließ ich das Krankenhaus.

Ich fuhr mit einem Taxi zum Unfallort, um meinen Wagen abzuholen. Es war eine kalte Nacht. Die Polizeiautos und Rettungswagen waren verschwunden. Statt ihrer war jetzt ein großer Abschleppwagen da, der Julias Wagen gerade mit einer Winde die Böschung hochzog. Ein hagerer Mann, der eine Zigarette rauchte, bediente die Winde.

»Hier gibt's nichts zu sehen«, sagte er zu mir. »Sind alle zum Krankenhaus.«

Ich sagte ihm, dass das der Wagen meiner Frau war.

»Mit dem können Sie nicht mehr fahren«, sagte er. Er bat mich um die Versicherungskarte. Ich nahm sie aus meiner Brieftasche und gab sie ihm. Er sagte: »Wie ich höre, hat Ihre Frau nichts Ernstes.«

»Sieht so aus.«

»Sie sind ein Glückspilz.« Er deutete mit einem Daumen über die Straße. »Gehören die zu Ihnen?«

Auf der anderen Straßenseite parkte ein kleiner weißer Van. Die Seitenflächen waren nackt, ohne Beschriftung oder Firmenlogo. Aber unten an der Fahrertür sah ich eine Seriennummer in Schwarz. Und darunter stand »SSVT UNIT«.

Ich sagte: »Nein, die gehören nicht zu mir.«

»Sind seit 'ner Stunde da«, sagte er. »Hocken bloß rum.«

Ich konnte niemanden im Van sehen; die Frontscheiben waren dunkel. Ich ging auf den Wagen zu. Ich hörte das schwache Knistern eines Funkgerätes. Als ich nur noch etwa drei Meter entfernt war, leuchteten die Scheinwerfer auf, der Motor sprang an, und der Van schoss an mir vorbei und den Highway hinunter.

Im Vorbeifahren konnte ich einen Blick auf den Fahrer erhaschen. Er trug einen Overall aus irgendeinem glänzenden Material, wie silbriges Plastik, und über dem Kopf eine enge Schutzhaube, aus dem selben Material. Ich meinte zu erkennen, dass er um den Hals ein komisches, silbriges Gerät trug. Es sah aus wie eine Gasmaske, nur dass sie silbern war. Aber ich war mir nicht sicher.

Als der Wagen davonfuhr, bemerkte ich an der hinteren Stoßstange zwei grüne Aufkleber, beide mit einem großen X. Das war das Xymos-Logo. Aber was mich wirklich stutzig machte, war das Nummernschild. Es war aus Nevada.

Der Van war von der Fertigungsanlage gekommen, draußen in der Wüste.

Ich runzelte die Stirn. Es wurde Zeit, dass ich dem Werk da draußen einen Besuch abstattete, dachte ich.

Ich holte mein Handy hervor und rief Tim Bergman an. Ich sagte, dass ich mich entschieden hätte und den Beraterjob annehmen würde.

»Das ist ja prima«, sagte Tim. »Don wird sich sehr freuen.«

»Schön«, sagte ich. »Wann kann ich anfangen?«

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