VIERTER TEIL WELCHE IST DIE ERDE?

XXII

Carmody stand auf einer sorgfältig planierten Ebene unter einem blauen Himmel, an dem fast im Zenit eine warme gelbe Sonne stand. Er sah sich langsam um. In etwa einem Kilometer Entfernung erblickte er eine kleine Stadt. Die Stadt war nicht so konstruiert, wie kleine amerikanische Städte es sonst an sich haben - mit einem Verteidigungsgürtel aus Tankstellen, Motels und weit vorgeschobenen Hamburger-Bastionen. Statt dessen glich sie mehr dem Erscheinungsbild gewisser schweizerischer Dörfer oder italienischer Hügelstädte. Sie erhob sich ganz abrupt aus der Ebene, ganz ohne Vorbauten oder Eingewöhnung, nur der Stadtkern und nichts darumherum.

Trotz dieses fremdländischen Äußeren war Carmody aber sicher, daß er eine amerikanische Stadt vor sich hatte. Deshalb näherte er sich, langsam und aufmerksam schauend, um sofort die Flucht zu ergreifen, falls irgend etwas fehlen sollte.

Doch alles schien in Ordnung zu sein. Die Stadt wirkte offen und einladend. Die Straßen waren breit und sauber, alles strahlte in freundlichen Farben. In der Mitte der Stadt stieß Carmody plötzlich auf eine hinreißende kleine Piazza mit Bogengängen. In der Mitte der Piazza stand ein Springbrunnen, und in der Mitte des Springbrunnens stand ein marmorner Delphin, auf dem ein kleiner Junge saß und aus dessen Maul Wasser floß.

»Ich hoffe, es gefällt dir«, sagte eine Stimme hinter Carmodys linker Schulter.

Carmody fuhr nicht herum. Er sprang nicht in die Höhe. Er hatte sich daran gewöhnt, daß ihn Stimmen Von hinten ansprachen. Manchmal erschien es ihm sogar, als sei das bei den meisten Lebensformen der Galaxis die bevorzugte Art, zu einem Fremden Kontakt aufzunehmen.

»Es ist sehr hübsch«, sagte Carmody.

»Ich habe ihn selbst entworfen und dort aufgestellt«, sagte die Stimme. »Es schien mir, daß ein Springbrunnen, trotz des überalterten architektonischen Konzepts dahinter, eine funktionale Schönheit besitzt. Und diese Piazza hier, mit ihren Bogengängen und ihre Kastanien, habe ich nach einem Bologneser Vorbild errichtet. Auch dabei hat mir der Gedanke, man könnte mich altmodisch finden, nicht weiter zu schaffen gemacht. Der wahre Künstler gestaltet, wie er es für notwendig erachtet, ob seine Konzeptionen dabei nun tausend Jahre alt sind oder ultramodern.«

»Ich bewundere Ihren Geschmack«, versicherte Carmody. »Erlauben Sie mir, daß ich mich Ihnen vorstelle? Ich bin Thomas Carmody.« Er wandte sich lachend um, die Hand ausgestreckt. Aber da war niemand hinter seiner linken Schulter, und hinter seiner rechten war auch keiner. Niemand war auf der Piazza, überhaupt nirgendwo ließ sich jemand blicken.

»Verzeih mir«, sagte die Stimme. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich dachte, du wüßtest Bescheid.«

»Über was?« fragte Carmody.

»Über mich natürlich.«

»Also, ich weiß nichts«, sagte Carmody. »Wer bist du und von wo redest du mit mir?«

»Ich bin die Stimme der Stadt«, erklärte die Stimme. »Oder, etwas sinnvoller ausgedrückt, ich bin die Stadt selbst, die mit dir redet, die wunderschöne Stadt hier.«

»Tatsächlich?« meinte Carmody sardonisch. »Ja«, antwortete er sich selbst. »Ich nehme an, es ist tatsächlich so. Also, alles klar, du bist eine Stadt. Muß wohl so sein. Toll von dir.«

Tatsächlich war Carmody die ganze Sache über. Er war zu vielen Wesenheiten mit gewaltigen und wunderbaren Fähigkeiten begegnet. Kräfte, Wesen und Personifikationen waren ihm entgegengetreten, unglaublich fremdartig und in nie abreißender Kette, bis es ihm auf den Nerv zu fallen begann. Carmody war ein einsichtiger Mensch. Er wußte, daß es eine interstellare Hackordnung gab, und daß Menschen in dieser Hackordnung ziemlich weit unten standen. Aber er war auch ein stolzer Mensch. Er glaubte, daß ein Mann etwas darzustellen hatte, und wenn schon nichts anderes, dann eben sich selbst. Ein Mann konnte nicht ständig durch die Gegend laufen und die Augen aufreißen und >Ah< und >Oh!< und >Du meine Güte!< rufen. Jedenfalls nicht solange er einen gewissen Respekt vor sich selbst behalten wollte. Und Carmody besaß sehr viel Selbstrespekt. Es gehörte zu den wenigen Dingen, die er auch jetzt noch immer besaß.

Deshalb wandte Carmody sich von dem Springbrunnen ab und spazierte über die Piazza wie ein Mann, der sein Leben lang mit Städten gesprochen hat und dem solche Gespräche schon ein wenig langweilig zu werden beginnen. Er wanderte mehrere Straßen entlang und bog in eine breite Avenue ein. Er besah sich ein Haus nach dem anderen, spähte hin und wieder in die Fenster und blieb manchmal kurz vor einer schönen Fassade stehen.

»Na?« sagte die Stadt nach einiger Zeit.

»Was, na?« antwortete Carmody sofort.

»Was hältst du von mir?«

»Du bist o.k.«, sagte Carmody.

»Nur okay?«

»Sieh mal«, erklärte Carmody, »eine Stadt ist eine Stadt. Wenn man eine kennt, kennt man auch alle anderen.«

»Das ist nicht wahr!« behauptete die Stadt ein wenig pikiert. »Ich bin ganz ausgesprochen anders als andere Städte. Ich bin einzigartig.«

»Bist du das?« fragte Carmody unwirsch. »Für mich siehst du wie ein Konglomerat geschmacklos zusammengewürfelter Stilrichtungen und Epochen aus. Du hast eine italienische Piazza, griechische Statuen, eine Straße mit Tudor-Häusern, einen kalifornischen Hamburgerstand in der Form einer Dschunke und Gott weiß was sonst noch. Was soll daran so einzigartig sein?«

»Die Kombination all dieser Formen zu einer wohlabgestimm-ten Einheit in Harmonie und Funktionalität ist das einzigartige«, sagte die Stadt. »Die alten Stile sind keine Anachronismen, sondern sie sind repräsentative Lebensangebote.«

»Deiner Meinung nach jedenfalls«, stellte Carmody fest. »Bei dieser Gelegenheit, hast du eigentlich einen Namen?«

»Aber natürlich«, sagte die Stadt. »Mein Name ist Schönwetter. Ich bin eine kreisfreie Stadt im Staate New Jersey. Darf ich dir ein paar Sandwichs oder einen Kaffee anbieten?«

»Kaffee klingt gut«, bedankte sich Carmody. Er erlaubte der Stimme von Schönwetter ihn um die nächste Ecke zu einem Straßencafe zu geleiten. Das Cafe hieß >O You Kid< und war die Kopie eines Saloons der Jahrhundertwende mit Tiffany-Lam-pen und Jugendstil-Mobiliar. Wie alles andere, was Carmody bisher in der Stadt gesehen hatte, war es fleckenlos sauber, aber ohne Menschen.

»Schöne Atmosphäre, was meinst du?« fragte Schönwetter.

»Bißchen wenig los für meinen Geschmack«, erwiderte Carmody. »Aber wenn man sowas mag, ist es sicher ganz nett.« Vor ihm erschien ein fahrbarer silberner Serviertisch, auf dem eine dampfende Tasse Cappucino stand. »Aber der Service scheint wenigstens gut zu sein«, fügte Carmody hinzu. Er schlürfte seinen Kaffee.

»Gut?« wollte Schönwetter wissen.

»Ja, sehr gut.«

»Ich bin ziemlich stolz auf meinen Kaffee«, erklärte Schönwetter leise. »Und auf meine Küche. Möchtest du nicht auch eine Kleinigkeit essen? Ein Omlette vielleicht, oder ein Souffle?«

»Nichts«, sagte Carmody entschieden. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und meinte: »Du bist also sozusagen eine Modellstadt, nicht wahr?«

»Ja, das ist es, was ich die Ehre habe darzustellen«, antwortete Schönwetter. »Ich bin die neuste aller Modellstädte, und ich bin, wie mir selbst scheinen will, auch die erfolgreichste. Zwei europäische Designer, fünfzehn amerikanische Architekten, die RAND-Corporation, drei Havard-Studiengruppen, die Universität Chikago und das Pentagon haben an mir zusammengearbeitet.«

»Das ist schon was«, sagte Carmody und schlug mit einer gewissen Nonchalance die Beine übereinander. »Soll das da drüben eine gotische Kathedrale sein?«

»Ja, ganz gotisch«, bestätigte Schönwetter. »Sie ist übrigens ökumenisch und hat dreihundert Sitzplätze und zwei transportable Beichtstühle.«

»Das hört sich nicht sehr viel an für ein Gebäude dieser Größe.«

»Nein, das ist ja auch nicht viel. Aber ich wollte gerne Erhabenheit mit Gemütlichkeit kombinieren. Vielen Leute hat es so sehr gut gefallen.«

»Ach, bei dieser Gelegenheit«, faßte Carmody vorsichtig nach, »wo sind denn die Leute eigentlich gerade? Ich habe noch keine gesehen.«

»Sie sind fortgegangen«, sagte Schönwetter traurig. »Sie sind alle ausgezogen.«

»Warum?« erkundigte sich Carmody mitfühlend.

Schönwetter war für eine Weile still, dann sagte es: »Es gab einen Bruch in der Beziehung von Stadt und Bürgern. Mißverständnisse eigentlich nur. Oder, vielleicht sollte ich besser sagen, eine Kette von unglücklichen Zwischenfällen. Ich vermute, daß subversive Kräfte dabei eine Rolle gespielt haben.«

»Aber was genau ist denn passiert?«

»Ich weiß nicht«, sagte Schönwetter. »Ich weiß es wirklich nicht. Eines Tages zogen einfach alle aus. Einfach so! Aber ich bin sicher, sie werden eines Tages zurückkommen.«

»Das frage ich mich«, murmelte Carmody.

»Ich bin überzeugt davon«, versicherte Schönwetter. »Aber inzwischen, warum bleibst du nicht selbst ein wenig hier, Tom Carmody?«

»Ich? Ich glaube wirklich nicht -«

»Du machst einen erschöpften Eindruck«, erklärte ihm Schönwetter. »Richtig schlecht siehst du aus. Ich glaube wirklich, du könntest etwas Erholung gebrauchen und jemanden, der sich um dich kümmert, Tom.«

»Ich habe in der letzten Zeit einiges mitgemacht und war viel unterwegs«, gab Carmody zu.

»Wer weiß, vielleicht gefällt es dir hier«, sagte Schönwetter. »Und in jedem Fall hast du hier die modernste, hochentwickel-ste Stadt der Welt ganz für dich allein. Nur wir beide sind hier, Tom.«

»Das hört sich nicht schlecht an«, meinte Carmody. »Ich überlege es mir.«

Irgendwie faszinierte ihn die Stadt Schönwetter. Aber er blieb auch vorsichtig. Er hätte gerne genau gewußt, was aus den früheren Bewohnern der Stadt geworden war.

XXIII

Schönwetter bestand darauf Carmody für die Nacht in der Hochzeitssuite des King George Hotels unterzubringen. Am nächsten Morgen erwachte er ausgeruht und dankbar. Er hatte eine längere Denkpause bitter nötig gehabt.

Schönwetter servierte ihm das Frühstück auf der Terrasse und spielte ihm dazu ein erfrischendes Haydn-Quartett. Die Luft war köstlich dort draußen. Wenn Carmody es nicht von Schönwetter erzählt bekommen hätte, wäre er nie darauf gekommen, daß sie gefiltert war. Von der Terrasse hatte er einen herrlichen Blick über Schönwetters westliches Viertel -eine lustige Ansammlung von chinesischen Pagoden, venezianischen Brücken, japanischen Gärten, grünen Hügeln, korinthischen Tempeln, einem Parkplatz, einem normannischen Turm und vielen anderen netten Sachen.

»Man hat hier einen herrlichen Blick«, erzählte er der Stadt.

»Ich bin so glücklich, daß dir das gefällt«, antwortete Schönwetter. »Weißt du, für mich sind architektonische Sachen sehr wichtig. Man hat sich bei meinem Bau lange über den Stil gestritten. Erst wollte man ja etwas Einheitliches, aber dann hat man doch gemerkt, daß das nur langweilig und künstlich wirken würde, weil all die anderen Modellstädte auch, denen man sofort anmerkt, daß sie nur von einem Menschen oder einer Architektengruppe vielleicht entworfen worden sind.«

»Aber du bist doch auch irgendwie künstlich, findest du nicht?«

»Natürlich! Aber ich gebe auch nicht vor, irgend etwas anderes zu sein. Ich bin kein nachgemachtes Futuropolis oder ein schlechtes florentinisches Imitat. Ich bin ein architektonisches Konglomerat, aber damit bin ich anregend und interessant, und dabei zugleich funktionell und praktisch.«

»Also, Schönwetter, für mich bist du in Ordnung«, versicherte Carmody. »Reden alle Modellstädte wie du?«

»Nein«, sagte Schönwetter. »Die meisten Städte bis in die jüngste Gegenwart haben nie ein Wort gesagt, ob sie nun Modellstädte waren oder nicht. Aber ihre Bewohner haben das nicht gemocht. Sie mochten keine Stadt, die alles machte, ohne ein Wort dabei zu sagen. Die Stadt wirkte zu riesig, zu überlegen, zu seelenlos. Deshalb hat man mich mit einem künstlichen Bewußtsein ausgestattet.«

»Ich verstehe«, sagte Carmody.

»Ich weiß nicht, ob du das verstehst. Das künstliche Bewußtsein gibt mir eine Persönlichkeit, was in einer Zeit der allgemeinen Entpersönlichung eine wichtige Sache ist. Es versetzt mich in die Lage, wirklich Verantwortung zu empfinden. Es erlaubt mir Kreativität bei der Erfüllung der Bedürfnisse meiner Bewohner zu entwickeln. Wir können miteinander diskutieren, meine Bewohner und ich. Wir können uns im Gespräch aufeinander einstellen, ohne dabei unsere Individualität aufgeben zu müssen, im permanenten Dialog bleiben.«

»Das hört sich schön an«, sagte Carmody. »Aber natürlich nur, wenn man darüber hinwegsieht, daß du niemanden mehr hier hast, mit dem du deine Dialoge führen kannst.«

»Das ist der einzige Fehler an der Sache«, gab Schönwetter zu. »Aber für den Augenblick habe ich ja dich.«

»Ja, du hast mich«, bestätigte Carmody und fragte sich, warum die Worte in seinen Ohren so einen unangenehmen Beiklang hatten.

»Und natürlich hast du mich auch«, sagte Schönwetter. »Es ist eine reziproke Beziehung, und beiderseitige Beziehungen sind die einzigen, die sich überhaupt lohnen. Aber nun, lieber Tom, sollte ich dir mich ein wenig zeigen. Dann kannst du dich in Ruhe irgendwo hinsetzen und an mich anpassen.«

»Und was?«

»Ich habe es nicht so gemeint. Es ist nur so, daß ich immer wieder in städtebaulichen Konzeptionen denke, und da ist Anpassung ein geläufiger Begriff. Aber du verstehst doch sicher, daß eine Zweierbeziehung eine Anpassung von beiden Seiten verlangt, wenn sie zu einer wirklich guten Beziehung werden soll.«

»Und wenn es nun eine sogenannte freie Partnerschaft ist?«

»Wir wollen eigentlich von so etwas wieder weg«, sagte Schönwetter. »Weißt du, diese Freiheit in der Beziehung ist ja doch nur Tarnung für gegenseitigen Egoismus. Wir dürfen den anderen nicht damit erpressen. Wenn du dann bitte hier entlang kommst . . .«

Carmody ging hin, wo er hingehen sollte, und sah sich an, was Schönwetter meinte, müsse er sich ansehen. Das Kraftwerk, die Kläranlagen, den Industriepark, die Fernheizung. Er sah den Kindergarten und den Seniorentreff. Er besichtigte ein Museum für Lokalgeschichte und eine Galerie, eine Konzerthalle und ein Theater, eine Bowlingbahn, einen Billardsaal, ein Kasino, eine Go-kart-Bahn, ein Kino. Er wurde müde und fußlahm und wollte eine Pause. Aber Schönwetter bestand darauf sich vorzuführen und Carmody mußte sich das fünfstöckige American Express Gebäude ansehen, die portugiesische Synagoge, das Buckminster Fuller-Denkmal, die Greyhound Bus Station und verschiedene andere Attraktionen.

Endlich war es vorbei. Carmody kam zu dem Schluß, daß die Wunder einer Modellstadt nicht besser oder schlechter als die Wunder der Galaxis waren, und das man von beidem eher wunde Füße als strahlende Augen bekam.

»Ein kleiner Lunch jetzt, was hältst du davon?« fragte Schönwetter.

»Fein«, sagte Carmody.

Er wurde zu einem stilvollen französischen Restaurant geführt und bekam ein opulentes französisches Menü serviert. Nach dem Käse fragte Schönwetter: »Und wie wäre es jetzt noch mit ein wenig Obst?«

»Ich bin absolut voll. Ich platze gleich«, versicherte Carmody.

»Einen Apfel wenigstens, einen Pfirsich oder ein paar Trauben?«

»Nein, vielen Dank.«

»Kirschen, vielleicht? Mit Sherry?«

»Nein, nein, nein.«

»Eine Mahlzeit ist nicht komplett, ohne ein wenig Obst zur Abrundung«, beharrte Schönwetter.

»Meine Mahlzeit schon«, erklärte Carmody.

»Es gibt wichtige Vitamine, die du nur aus frischen Früchten erhalten kannst.«

»Ich muß eben ohne diese Vitamine durchkommen.«

»Vielleicht eine halbe Orange, die ich dir vorher schäle? Zitrusfrüchte stopfen überhaupt nicht.«

»Ich kann einfach nicht mehr.«

»Nicht einmal ein Viertelchen Apfelsine? Wenn ich dir alle Kerne rauspule?«

»Ganz entschieden - nein!«

»Ich würde mich einfach besser fühlen«, erklärte Schönwetter. »Ich habe ein starkes Streben nach Harmonie und Vollständigkeit, weißt du, Tom. Und kein Essen ist vollständig ohne ein wenig Obst zum Dessert.«

»Nein!!!«

»Schon gut, reg dich bitte nicht auf«, sagte Schönwetter. »Wenn du das Essen nicht magst, das ich serviere, ist das deine Sache.«

»Aber ich mag es ja!«

»Aber wenn du es so gerne magst, warum läßt du dir dann nicht noch etwas Obst schmecken?«

»Genug«, sagte Carmody erschöpft. »Bring mir ein paar Trauben.«

»Ich möchte dir wirklich nichts aufdrängen.«

»Du drängst mir nichts auf. Bring sie mir, bitte.«

»Du bist ganz sicher?«

»Gib sie mir!« brüllte Carmody.

»Da nimm«, verkündete Schönwetter und produzierte eine großartige Rebe Muskatellertrauben. Carmody aß sie alle. Sie waren ganz ausgezeichnet.

Carmody stand auf einer kleinen geschwungenen Brücke und blickte über eine blaue Lagune.

»Dies ist eine Kopie der Rialto-Brücke von Venedig«, sagte Schönwetter. »Maßstäblich verkleinert, natürlich.«

»Ich weiß«, sagte Carmody. »Ich habe das Schild gelesen.«

»Es ist zauberhaft, findest du nicht, die Lagune und die Brücke?«

»Sicher, sehr hübsch«, sagte Carmody und zündete sich eine Zigarette an. Automaten gab es überall. Geld brauchte man keines.

»Du rauchst ziemlich viel, nicht wahr«, meinte Schönwetter.

»Ich weiß. Mir ist zur Zeit danach.«

»Als dein medizinischer Ratgeber muß ich dich darauf hinweisen, daß ein nachweisbarer Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs besteht.«

»Ich weiß.«

»Wenn du Pfeife rauchen würdest, hättest du wesentlich bessere Chancen.«

»Ich mag keine Pfeifen.«

»Wie steht es denn mit Zigarren?«

»Ich mag keine Zigarren.« Er steckte sich eine neue Zigarette an.

»Das ist deine dritte Zigarette in fünf Minuten«, erklärte Schönwetter.

»Verflucht noch mal! Ich rauche so viel und so oft, wie es mir Spaß macht!« rief Carmody.

»Schon gut, natürlich kannst du das!« erwiderte Schönwetter. »Ich wollte dir ja nur zu deinem eigenen Besten ein paar kleine Hinweise geben. Soll ich einfach immer nur stumm zusehen, wenn du dich selbst ruinierst? Würdest du mich mögen, wenn ich überhaupt kein Interesse an deinem Wohlergehen hätte? Soll ich gleichgültig dir gegenüber sein?«

»Ja!« sagte Carmody.

»Ich kann nicht glauben, daß du so etwas ernst meinst. Es geht hier um eine ethische Frage. Ein Mensch kann gegen sein eigenes Wohl handeln, aber einer Maschine ist eine solche Perversion des Denkens nicht gestattet.«

»Rutsch mir den Buckel runter«, sagte Carmody erschöpft. »Ich kann dieses ewige Herumgeschubse nicht aushallen.«

»Herumgeschubse? Lieber Tom, habe ich dich denn zu irgend etwas gezwungen? Lese ich dir nicht die Wünsche von den Augen ab? Alles, was ich tue, ist doch, dir hin und wieder einen Rat geben.«

»Nicht hin und wieder. Zu oft. Du redest zu viel.«

»Vielleicht rede ich wirklich zuviel«, meinte Schönwetter kleinlaut. »Wenn man es so an deiner Reaktion mißt.«

»Du redest zuviel«, wiederholte Carmody und zündete sich die nächste Zigarette an.

»Das ist deine vierte Zigarette in fünf Minuten.«

Carmody riß den Mund auf, um loszubrüllen, aber dann überlegte er es sich anders und ging weiter.

»Was ist das?« fragte Carmody.

»Ein Automat, wo du dir Süßigkeiten ziehen kannst«, erklärte Schönwetter ihm.

»Sieht gar nicht so aus, das Ding.«

»Aber es ist einer. Das Design ist eine Abwandlung eines Saarinomen-Designs für ein Großsilo. Ich habe es natürlich miniaturisiert, und es -«

»Es sieht trotzdem nicht wie ein Süßigkeiten-Automat aus. Wie funktioniert es?«

»Es geht ganz einfach. Du drückst einfach auf den roten Knopf. So, Moment! Jetzt stellst du den Hebel in Reihe A nach vorn, ja. Und dann drückst du fest auf den grünen Knopf daneben. Da ist es!«

Ein Bounty fiel Carmody in die Hand.

»Prima!« sagte Carmody, wickelte den Riegel aus und biß hinein. »Ist das ein richtiges Bounty oder eine Kopie?«

»Es ist ein echtes. Ich mußte mir eine Lizenz besorgen, aber es ist das Originalrezept.«

»So, so«, meinte Carmody und warf das Bounty-Papier weg.

»Das«, erklärte Schönwetter, »ist ein Beispiel für die Art von Gedankenlosigkeit, die mir am meisten zu schaffen macht.«

»Es ist doch nur ein Stück Papier«, sagte Carmody, drehte sich um und blickte nachdenklich auf das kleine Papierknäuel, das sehr allein inmitten der makellosen Straße lag.

»Natürlich ist es nur ein Stück Papier«, sagte Schönwetter. »Aber multipliziere es mit Hunderttausend und was hast du dann?«

»Hunderttausend Stückchen Papier«, antwortete Carmody sofort.

»Ich finde das nicht komisch«, wies ihn Schönwetter zurecht. »Du hättest keinen Spaß daran, wenn du in der Mitte von diesem ganzen Müll leben müßtest, da bin ich sicher. Du wärst der erste, der sich beklagen würde, wenn die Straßen voller Dreck lägen. Aber trägst du dein Teil bei? Räumst du irgendwo hinter dir auf? Hast du schon einmal einen einzigen Tisch abgeräumt? Natürlich nicht! Das überläßt du mir. Du denkst, ich werde schon für alles sorgen, und das muß ich auch, Tag und Nacht, sogar Sonntags.«

»Hör auf damit«, rief Carmody. »Ich hebe es wieder auf!«

Er bückte sich, um nach dem Papier zu greifen. Aber gerade als seine Finger es berührten, zuckte ein Piekser aus dem nächsten Gully, piekste das Papier auf und verschwand sofort wieder.

»Es ist in Ordnung«, sagte Schönwetter. »Ich bin dran gewöhnt, hinter den Leuten aufzuräumen. Das mache ich ja die ganze Zeit.«

»Puh!« stöhnte Carmody.

»Und ich erwarte auch keine Dankbarkeit dafür.«

»Ich bin dankbar, ich bin dankbar«, rief Carmody.

»Nein, das bist du nicht«, sagte Schönwetter.

»Na, dann bin ich es eben nicht. Was willst du denn von mir hören, verdammt noch mal?«

»Ich will überhaupt nichts von dir hören«, erklärte Schönwetter. »Vergessen wir die ganze Sache.«

»Bist du gut versorgt?« fragte Schönwetter nach dem Dinner.

»Völlig ausreichend«, versicherte Carmody.

»Du hast wenig gegessen.«

»Ich habe soviel gegessen, wie ich gemocht habe. Es war alles ganz vorzüglich.«

»Wenn es so vorzüglich war, warum ißt du dann nicht noch etwas?«

»Weil ich satt bin! Ich hatte ein sehr umfangreiches Menü zum Mittagessen!«

»Wenn du dir nicht mit diesem Bounty den Appetit verdorben hättest . . .«

»Gottverdammt! Das Scheiß-Bounty hat mir nicht den Appetit verdorben! Ich habe einfach -«

»Du zündest dir eine Zigarette an«, stellte Schönwetter fest.

»Jaaaa«, sagte Carmody.

»Hättest du nicht wenigstens damit noch ein bißchen warten können?«

»Also, nun hör mal zu«, setzte Carmody an. »Warum, zum Teufel -«

»Wir haben nämlich etwas Wichtiges zu besprechen«, sagte Schönwetter schnell. »Hast du dir schon einmal überlegt, womit du dir hier dein Geld verdienen willst?«

»Ich hatte eigentlich noch keine rechte Zeit, mir darüber Gedanken zu machen«, gestand Carmody.

»Nun, ich hatte Zeit dafür. Ich fände es nett, wenn du Arzt werden könntest.«

»Ich? Da müßte ich erst mal Medizin studieren und eine Assistenz an einem Krankenhaus machen und so weiter.« »Ich könnte, das alles arrangieren«, sagte Schönwetter.

»Kein Interesse.«

»Ja . . . wie wäre es denn mit der Juristerei?«

»Nie!«

»Das Ingenieurwesen ist eine faszinierende Sache.«

»Für mich nicht.«

»Was ist mit der Verwaltung?«

»Dich verwalten, nie im Leben!«

»Was willst du denn dann werden?«

»Jet-Pilot«, verkündete Carmody ganz impulsiv.

»Ach, komm, hör doch auf.«

»Nein, ich meine das ganz ernst.«

»Ich habe nicht mal einen Flughafen in der Nähe.«

»Dann muß ich eben woanders landen.«

»Du sagst das doch nur, um mich zu verletzen.«

»Nein«, beharrte Carmody. »Ich möchte wirklich Pilot werden. Ich wollte immer schon Pilot werden! Ganz ehrlich!«

Danach folgte ein langes Schweigen. Dann sagte Schönwetter: »Die Wahl liegt völlig bei dir.« Und die Stimme klang wie der Tod.

»Wo gehst du hin?«

»Noch einen kleinen Spaziergang machen«, erklärte Carmody.

»Um halb zehn am Abend?«

»Sicher. Warum nicht?«

»Ich dachte, du wärst müde.«

»Das ist schon einige Zeit her.«

»Ich verstehe. Ich dachte bloß, daß du dich vielleicht hier hinsetzen könntest, und daß wir ein nettes kleines Gespräch haben könnten vor dem Einschlafen.«

»Wie war es, wenn wir uns unterhalten, nachdem ich zurück bin?« schlug Carmody vor.

»Nein, es ist nicht so wichtig.«

»Der Spaziergang ist nicht so wichtig«, sagte Carmody und setzte sich wieder hin. »Komm, unterhalten wir uns ein bißchen.«

»Ich möchte mich nicht mehr unterhalten«, erklärte Schönwetter. »Geh du bitte nur spazieren.«

»Dann, gute Nacht«, sagte Carmody.

»Wie bitte?«

»Ich sagte, >gute Nacht<.«

»Du gehst schlafen?«

»Ja, sicher. Es ist schon spät, und ich bin müde.«

»So, wie du jetzt bist, willst du schlafen gehen?«

»Warum nicht?«

»Das kannst du natürlich«, sagte Schönwetter, »aber du hast vergessen, dich zu waschen.«

»Oh ... ja, das hab ich wohl vergessen. Ich wasch mich morgen.«

»Wie lange ist es her, daß du zuletzt gebadet hast?«

»Zu lange. Ich bade gleich morgen früh.«

»Würdest du dich nicht besser fühlen, wenn du jetzt gleich ein Bad nimmst?«

»Nein.«

»Selbst wenn ich dir das Bad selbst eben schnell einlasse?«

»Nein! Verdammt! Nein! Ich gehe jetzt schlafen!«

»Mach genau das, was du gerne machen möchtest«, sagte Schönwetter. »Wasch dich nicht, lerne nichts, iß keine geregelte Diät. Aber, bitte, mach nicht mich für irgend etwas davon verantwortlich.«

»Dich verantwortlich machen? Wofür denn?«

»Für alles«, erklärte Schönwetter.

»Ja. Aber an was hast du denn da im besonderen gedacht? Habe ich dir etwas vorgeworfen?«

»Es ist nicht wichtig.«

»Warum hast du denn dann damit angefangen?«

»Ich dachte nur gerade an dich«, sagte Schönwetter.

»Den Eindruck habe ich auch.«

»Du solltest wissen, daß ich nichts davon habe, ob du dich nun wäschst oder nicht, Tom.«

»Das ist mir bewußt.«

»Wenn man sich um jemanden kümmert, wenn man sich Sorgen macht um jemanden«, fuhr Schönwetter fort, »dann ist es nicht nett, wenn man dafür noch beschimpft wird.«

»Ich habe dich nicht beschimpft.«

»Jetzt nicht. Aber vorhin hast du Scheiß-Bounty gesagt.«

»Ja . . . weißt du . . . ich war nervös.«

»Das kommt von deinem Rauchen.«

»Fang doch bitte nicht wieder damit an.«

»Das tue ich nicht«, versprach Schönwetter. »Du kannst rauchen wie ein Schlot. Was macht mir das aus? Es sind doch deine Lungen, oder?«

»Verdammt richtig«, stellte Carmody fest und steckte sich eine Zigarette an.

»Aber ich bin schuld«, sagte Schönwetter.

»Wieso denn?«

»Weil ich mich nicht richtig um dich kümmere. Ich mache etwas falsch. Ich bin nicht nett genug zu dir.«

»Nein, nein«, sagte Carmody. »Sag das nicht, bitte.«

»Vergiß, daß ich es gesagt habe.«

»In Ordnung. Schon vergessen.«

»Manchmal bin ich einfach irgendwie rechthaberisch.«

»Manchmal.«

»Und es fällt mir so besonders schwer, weil ich ja doch immer recht habe. Ich habe eben recht, weißt du.«

»Ich weiß«, stöhnte Carmody. »Du hast recht, du hast immer recht. Richtig-richtig-richtig-richtig ! «

»Tom, reg dich bitte nicht auf vor dem Schlafengehen. Möchtest du nicht noch ein Glas Milch trinken?«

»Nein.«

»Bestimmt nicht?«

Carmody legte die Hände vors Gesicht. Er fühlte sich sehr eigenartig. Er fühlte sich extrem schuldig, zerbrechlich, schmutzig, ungesund und undankbar. Er fühlte sich ganz allgemein und unwiderruflich schlecht, und er begriff, daß er sich hier immer so fühlen würde.

Irgendwo in seinem Inneren fand er wieder Kraft. Er brüllte: »Seethwright!«

»Wen rufst du da?« fragte Schönwetter.

»Seethwright! Wo sind Sie?«

»Was habe ich falsch gemacht, Tom?« fragte Schönwetter. »Sag es mir doch einfach.«

»Seethwright!« wimmerte Carmody. »Kommen Sie und holen Sie mich! Das ist die falsche Erde!«

Es gab ein Ruck, Zuck und Zong, und Carmody war woanders.

XXIV

Rums! Zoing! Wum! Kapeng! Da sind wir schon wieder, aber wer weiß, wo, wann und welche? Sicherlich nicht Carmody, der sich in einer recht überzeugend aussehenden Stadt wiederfand, die sehr wie New York wirkte. Sehr wie, aber war sie es?

»Ist das New York?« fragte Carmody sich.

»Wo, zum Teufel, soll ich das her wissen?« antwortete prompt eine Stimme.

»Es war eine rhetorische Frage«, erläuterte Carmody.

»Das ist mir schon bewußt. Aber, weil ich mich in Rhetorik auskenne, denke ich, du kannst froh sein, daß überhaupt jemand antwortet.«

Carmody sah sich um und entdeckte, daß die Stimme aus einem großen schwarzen Regenschirm unter seinem linken Arm kam. Er fragte: »Bist du mein Preis?« und nahm den Schirm in die Hand.

»Ja, natürlich bin ich das«, sagte der Preis. »Ich nehme nicht

»Wo hast du denn gesteckt, während ich in dieser Modellstadt war?«

»Ich habe mir einen kurzen, wohlverdienten Urlaub genommen«, erklärte der Preis. »Und es hat gar keinen Zweck, wenn du mir darüber irgendwelche Vorhaltungen machen willst. Der Urlaub ist im Tarifvertrag zwischen dem Preisbund der Galaxis und dem Lotteriegewinnerverband genau festgelegt.«

»Ich wollte dir gar keine Vorhaltungen machen«, versicherte Carmody. »Ich dachte nur . . . Vergiß es! Dieser Ort hier sieht wirklich sehr nach meiner eigenen Erde aus. Es sieht alles tatsächlich aus wie in New York.«

Er befand sich in einer Stadt. Es gab dichten Verkehr, Autos und Menschengedränge. Es gab viele Theater, viele Hamburgerstände und viele Leute. Es gab viele Geschäfte, die mit großen Postern annoncierten, daß sie wegen Aufgabe den allerletzten totalen Räumungsverkauf machen müßten, ungeachtet aller Verluste. Überall leuchteten Neonreklamen auf. Es gab viele Restaurants, von denen besonders ins Auge fielen das The Westerner, The Southerner, The Easterner und das The Northerner, die sich alle auf Steaks mit gebackenen Kartoffeln spezialisiert hatten. Aber außerdem gab es auch noch das The Nor'easterner, das The Sou'westerner, das The East-by-North-west und sogar das West-by-Northwest. In einem Kino gegenüber lief DIE APOKRYPHEN (gewaltiger und grausamer als DIE BIBEL).

»Jede Menge los«, sagte Carmody und befeuchtete sich die Lippen.

»Ich höre nur das Klingeln der Kassen«, sagte der Preis mit sehr moralisierendem Unterton.

»Stell dich nicht an«, sagte Carmody. »Das ist mein Zuhause, glaube ich wenigstens.«

»Ich hoffe nicht«, erwiderte der Preis. »Dieser Ort beginnt mir auf die Nerven zu gehen. Sich dich bitte genau um, ob da kein Irrtum vorliegt. Denk dran, Ähnlichkeit ist noch keine Gleichheit, und selbst Gleichheit sagt nicht, daß du dasselbe vor dir hast.«

Direkt vor ihnen lag ein U-Bahn-Eingang. Carmody sah, daß er sich am Broadway Ecke 50ste Straße befand. Ja, er war zu Hause. Entschlossen ging er zur Subway und stieg die Treppe hinunter. Es war alles vertraut, aufregend und traurig zugleich. Die marmornen Wände strotzten vor feuchtem Dreck, und die schimmernde Schiene kam aus einem Tunnel und verschwand gegenüber im anderen.

»Oh!« murmelte Carmody, »Oh, ja.«

»Wie?« fragte der Preis.

»Egal«, meinte Carmody. »Ich hab mir nur gerade überlegt, daß ich noch ein wenig über den Broadway spazieren möchte.« Er machte sich daran, wieder die Treppe hinauf zu steigen zu dem Rechteck Himmel, als das der Eingang sich von unten abzeichnete. Aber vor ihm hatte sich eine Menschenmenge gebildet, die den Weg blockierte und ihn zurück auf den Bahnsteig drängte. Die feuchten Wände der U-Bahn begannen zu zittern und dann sich rhythmisch zusammenzuziehen. Die schimmernde Mittelschiene riß sich vom Schotter los und bog sich wie eine bronzene Zunge zurück. Carmody rannte los, stieß die Leute um, die ihm im Weg standen. Undeutlich bekam er mit, daß sie einfach nur zur Seite rollten und wieder hochschnellten wie Stehaufmännchen. Der Marmorboden unter seinen Füßen wurde weich, verwandelte sich in Sirup. Seine Füße klebten fest, die Gestalten drängten sich um ihn und die Schiene erhob sich über ihm, um zuzustoßen.

Carmody schrie: »Seethwright! Holen Sie mich hier raus!«

»Mich auch!« schrie der Preis.

»Mich auch!« rief der hinterhältige Jäger, denn kein anderer war es, der sich hier raffiniert als U-Bahn-Station verkleidet auf die Lauer gelegt hatte, und in dessen offenes Maul Carmody zum zweiten Mal direkt hineinspaziert war.

Nichts passierte. Carmody kam der furchtbare Gedanke, daß Seethwright vielleicht gerade auf der Toilette sein könnte, oder beim Mittagessen oder am Telefonieren. Das blaue Viereck Himmel wurde immer kleiner, während der Eingang sich schloß. Die Gestalten ringsum verloren ihre menschliche Ähnlichkeit. Die Wände bekamen einen purpurnen Schimmer, wallten und bebten und zogen sich zusammen. Die Schiene wickelte sich hungrig um Carmodys Fuß. Im Körper des Jägers begann der Speichel im Überfluß produziert zu werden und lief schmatzend ins Maul. (Carmody-Fresser haben absolut widerwärtige Eßmanieren und sind bei Tisch unerträglich.)

»Hilfe!« schrie Carmody, als der Verdauungssaft begann seine Schuhsohlen aufzulösen. »Seetwright, Hilfe!«

»Hilf ihm, hilf ihm«, schluchzte der Preis. »Oder, falls das zu schwierig sein sollte, hilf mir! Hol mich hier raus, und ich werde Anzeigen in allen führenden Zeitungen aufgeben, Komitees gründen, Poster plakatieren lassen, alles, um dafür zu sorgen, daß Carmody nicht ungerächt bleibt. Und weiter will ich mich verpflichten . . .«

»Hör auf zu jammern«, sagte eine Stimme, die Carmody als die von Mr. Seethwright erkannte. »Das gehört sich nicht. Und was Sie angeht, Mr. Carmody, ich muß Sie doch bitten, in Zukunft etwas mehr acht zu geben, bevor Sie Ihrem Jäger ins offene Maul laufen. Mein Büro ist nicht auf dramatische Rettungsaktionen eingerichtet.«

»Aber Sie werden mich doch diesesmal retten, das machen Sie doch«, bettelte Carmody. »Mr. Seethwright, ja?«

»Es ist schon alles erledigt«, sagte Seethwright. Und als Carmody sich umblickte, bemerkte er, daß wirklich schon alles erledigt war.

XXV

Seethwright mußte irgend etwas bei der Transition falsch gemacht haben, denn nach einer kaum wahrnehmbaren Bewußtseinstrübung, fand sich Carmody auf dem Rücksitz eines Taxis wieder. Er befand sich in einer Stadt sehr wie New York, und er schien gerade mitten in einer Unterhaltung zu sein.

»Was ham'se jesagt?« fragte der Taxifahrer.

»Ich habe nicht das geringste gesagt«, antwortete Carmody.

»Oh. Ich dachte, Sie würden jerade etwas sajen, dachte ich. Na, wat ich saje is, das ich jerade jesagt hab, das dat da hinten dat Flammarion-Jebäude is.«

»Ich weiß«, sagte Carmody. »Ich habe am Bau mitgearbeitet.«

»Tatsache? Tollen Job ham' se da jehabt. Aber nu sin' se wohl fertij?«

»Ja«, sagte Carmody. Er nahm die Zigarette aus dem Mund und besah sie sich stirnrunzelnd. »Und mit dieser Marke bin ich auch fertig.« Er schüttelte den Kopf und warf die Zigarette aus dem Fenster. Diese Worte und Handlungen schienen einem Teil seines Bewußtseins völlig natürlich und angemessen (dem handelnden Bewußtsein). Aber ein anderer Teil (das reflektierende Bewußtsein) sah dem allen mit wachsendem Amüsement zu.

»Hätten 'se doch jleich sajen können«, sagte der Fahrer. »Hier, versuchen Sie doch mal eine von meinen.«

Carmody blickte auf die offene Packung in der Hand des Fahrers. »Sind das nicht die neuen Kools?«

»Die rauche ich immer«, verkündete der Taxifahrer. »Kools haben dieses leichte Aroma von Menthol und den niedrigen Teerwert.«

Carmody zog die Augenbrauen hoch, um Unglauben zu demonstrieren. Trotzdem nahm er das Päckchen entgegen, zog eine Zigarette heraus und steckte sie sich an. Der lächelnde Fahrer beobachtete ihn im Rückspiegel. Carmody inhalierte, blickte überrascht drein und angenehm berührt, atmete langsam den Rauch aus und lehnte sich entspannt zurück.

»Ja«, sagte Carmody. »Das ist eine Zigarette.«

Der Fahrer nickte zufrieden. »Wir Kools-Raucher erkennen uns am Geschmack. Kools, das ist es, was ein Mann heute braucht . . . so, da sin' mer. Dat Waldorf-Astoria!«

Carmody zahlte und stieg aus. Der Fahrer lehnte sich strahlend zurück und winkte. »He, Mister!« rief er. »Was wird aus meinen Kools?«

»Oh!« entschuldigte seih Carmody. Er gab die Packung zurück, und die beiden lächelten sich an. Dann fuhr das Taxi davon, und Carmody stand vor dem Waldorf-Astoria.

Er trug einen gefütterten Burberry-Mantel mit Steppnähten. Er wußte das so genau, weil er das Etikett lesen konnte, das sich statt wie üblich innen im Kragen außen am Ärmel angenäht befand und mindestens doppelt so groß wie normal war. Als er jetzt darauf achtete, bemerkte er, daß alle seine Etiketten außen angebracht und übergroß waren: jeder konnte sehen, daß er ein Van Heusen-Hemd trug, eine Countess-Mara-Kra-watte und einen Hart, Schaffner & Marx-Anzug. Seine Hände steckten in Hirschleder-Handschuhen von L. L. Bean bedeckt und der Borsalino auf seinem Kopf kam von Raimu of Milan. An seinem Handgelenk hing eine Automatik-Uhr (Audemars-Piccard) mit Wecker, Kalender und eingebautem Taschenrechner.

Und schließlich umgab ihn der dezente Duft von Eichenmoos, dem Bau de Cologne für den erfolgreichen Mann aus dem Hause Abercrombie & Fitch.

Er erkannte, daß er beachtlich gut angezogen war, aber keinesfalls erstklassig. Man konnte sich damit sehen lassen, aber er erwartete mehr von sich selbst. Er hatte Ambitionen, er wollte nach oben, einer von den Männern werden, die Chivas Regal an anderen Tagen als an Weihnachten einschenken, Brooks Brothers-Hemden tragen und Onyx-After-Shave von Lentheric benutzen.

Aber für solche Artikel brauchte er eine A-AA-AAA-Konsu-mentenerlaubnis anstelle der mittelständischen B-BB-AAAA mit der ihn eine Geburt in der falschen Familie geschlagen hatte. Er brauchte diese Einstufung! Sie stand ihm zu! War er etwa nicht gut genug dafür? Warum, verdammt noch mal? Hatte er nicht in Stanford immer die besten Noten in Konsumtechnik bekommen? Sein Verbrauchsindex stand jetzt seit drei Jahren auf über 90%. In diesem Jahr hatte er schon drei neue Autos gekauft, und er hätte noch unzählige andere Beweise aufzählen können.

Warum hatte man ihn nicht höhergestuft?

War es möglich, daß sie ihn einfach übersehen hatten?

Carmody verbannte solche theoretischen Fragen schnell aus seinen Gedanken. Er hatte wichtigere Sorgen. Heute lag eine undankbare Aufgabe vor ihm. Was er in den nächsten Stunden zu tun hatte, konnte ihn sehr gut seinen Job kosten, was bedeuten würde, daß er sich in die öden Reihen der proletarischen Benutzer von Superdiskonts-Beste-Zweitwahl (SBZ) einreihen müßte.

Es war noch früh, aber er brauchte eine Stärkung für das, was vor ihm lag. Er ging in die Bar des Waldorf.

Dort wartete er, bis der Blick des Barkeepers auf ihn fiel. Bevor der Mann sprechen konnte, sagte Carmody schnell: »He, mach's noch einmal, Sam.« Die Tatsache, daß der Mann nicht Sam hieß und es auch vorher nie für Carmody gemacht hatte, spielte dabei absolut keine Rolle.

»Das ist es, alter Freund«, sagte der Barkeeper lächelnd. »Ballantine hat den feinen obergärigen Schaum und den kernigen Geschmack.«

Carmody wußte, daß er die letzte Zeile eigentlich selbst hätte sagen müssen. Er hatte sich überraschen lassen. Nachdenklich trank er sein Bier.

»Hallo, Tom.«

Carmody drehte sich herum. Da saß Nate Steen aus Leonia, New Jersey, ein alter Freund und Nachbar, und trank eine Cola. »Das ist schon irre«, sagte Steen, »aber hast du es auch schon gemerkt? Man macht mal Pause mit Coke.«

Carmody saß da, ohne daß ihm die passende Zeile einfiel. Er stürzte sein Bier hinunter und rief zum Barkeeper: »He, Sam, machs noch einmal.« Das war eine armselige Fortsetzung, aber besser als gar nichts. »Was gibt's neues?« fragte er Steen.

»Meine Frau macht gerade Urlaub. Sie hat sich entschieden, den Flug zur Sonne zu buchen, das Paradies in vier Stunden mit American Airways.«

»Das ist großartig«, versicherte Carmody. »Ich habe Helen gerade nach Nassau geschickt; und wenn du denkst, die Bahamas sind ein Traum aus der Luft, wenn du landest wird er Wirklichkeit. Und weißt du, bevor sie abflog, da unterhielten wir uns noch und da sagte sie zu mir, warum sollte jemand, um alles in der Welt, in unserer Zeit der Hochgeschwindigkeit und des Jet-Sets eine Seereise nach Europa machen wollen, und da antwortete ich ihr . . .«

»Nette Idee«, unterbrach Steen ihn. Und er hatte das Recht ihn zu unterbrechen, denn der Holland-Amerika-Spot war für ein Bargespräch wirklich zu lang, so klassisch er auch sein mochte. »Also ich nun wieder, ich dachte, ein Mann gehört ins Marlboro-Country.«

»Gut gedacht«, meinte Carmody lahm, »jedenfalls -«

»- denn ich brauche den Duft von Freiheit und Abenteuer«, beendete Steen (sein Privileg, denn er hatte den Spot auch angefangen).

»Sicher«, versicherte Carmody und schüttete schnell sein Bier hinunter, damit er dem Barkeeper wieder zurufen konnte: »He, Sam, mach's noch einmal, Sam! Ballantine Bier!« Aber er wußte, daß er nicht mitkam. Was im Himmel war heute nur mit ihm los? Für diesen Moment jetzt, für genau diese Stelle, gab es einen ganz bestimmten Dialog. Aber er konnte sich nicht an seine Zeile erinnern . . .

Steen, ruhig und mit der Sicherheit der beißenden Frische eines Eisblauen Geheimnis in den haarigen Achselhöhlen, kam zuerst darauf. »Mit unseren Frauen aus dem Haus«, grinste er, »sind wir selber für die Wäsche da.«

Das hatte gesessen! Carmody fühlte sich regelrecht aus dem Rennen geschlagen und brachte nur noch ein kleinlautes »Ja, ja, da fehlt die Frau im Haus« heraus. Dann lachte er hohl. »Kennst du noch diesen alten Spruch >Meins ist aber weißer als deins

Beide Männer lachten sehr männlich und tauschten einen kameradschaftlichen Männerblick aus. Steen sah auf sein Hemd, warf einen Blick auf Carmodys Hemd, sah noch einmal auf sein eigenes Hemd, hob die Augenbrauen, öffnete den Mund, stellte beeindruckend Unglauben und Verwunderung dar.

»He!« sagte Steen. »Mein Hemd ist weißer als deins.«

»Tatsächlich«, antwortete Carmody, ohne sich die Mühe zu machen, nachzuschauen. »Wie seltsam. Wir waschen beide mit der gleichen Waschmaschine, und beide Maschinen sind nicht älter als die Garantiezeit. Und wir benutzen beide das gleiche Waschmittel . . . tun wir das?«

»Ich nehme Clorox«, antwortete Steen leichthin.

»Clorox«, sagte Carmody nachdenklich. »Ja, das muß es sein. Jetzt sehe ich klar. Mein Waschmittel hat versagt!»

Er schauspielerte gelindes Entsetzen, während Steen triumphierend feixte. Carmody überlegte, ob er noch ein Bier bestellen sollte, aber schon die letzten beiden hatten ihm nicht besonders geschmeckt. Er entschied, daß Steen einfach zu schnell für ihn war.

Carmody zahlte seine Biere mit seiner American Express Kreditkarte und machte sich auf den Weg zu seinem Büro. Seine Kollegen grüßte er mit der angebrachten kollegialen Kamerade-rie. Verschiedene Leute warfen ihm eine Zeile zu, aber er ließ sich auf kein Spiel ein. Heute wollte er sein eigenes Spiel spielen. Carmody wußte, daß seine Lage, was das Lebensziel anging, mehr als verzweifelt war. Er hatte die Obergrenze erreicht, von hier aus ging es nur noch zu den Beautiful People, und er kam dort nicht hin. Seine Frau übte den ganzen Tag mit ihm Konsumsprüche, aber das war nicht genug - nicht für die wirklichen hohen Konsumentenränge. Nächtelang lag er wach, bis seine Frau ihm ein Alkaseltzer gab. Schon dreimal hatten sie danach zusammen den Dankbrief an den Alkaseltzer-Service geschrieben. Es reichte nicht, wenn man Geld hatte, soziales Ansehen war nicht genug, ausdauernder Konsum war nicht genug. Wenn man die Dinge haben wollte, für die es wirklich wert war zu leben, einen Porsche 991S etwa, den Leute fahren, die wissen, daß sie etwas Besonderes sind, oder die Ampex für Leute, die sich mit nichts anderem begnügen als dem Besten . . . wenn man das haben wollte, dann mußte man beweisen, daß man dazu gehörte. Man mußte beweisen, daß man zu den Beautiful People gehörte, für die diese Waren bestimmt waren. Man mußte alles riskieren, wenn man alles haben wollte.

»Bei Ford«, sagte Carmody sich und schlug sich mit der Faust auf die Handfläche. »Ich habe mir gesagt, daß ich es tun werde, und ich werde es tun!« Und kühn näherte er sich der Tür von seinem Boß Mr. Übermann, und kühn stieß er diese Tür auf.

Das Zimmer war leer, Mr. Übermann war noch nicht im Büro.

Carmody trat ein. Er würde hier warten. Seine Zähne waren fest zusammengebissen, seine Lippen aufeinandergepreßt, und zwischen seinen Augen waren drei senkrechte Linien auf seiner Stirn erschienen. Übermann würde jeden Augenblick eintreffen. Und sobald er eintrat, würde Tom Carmody zu ihm sagen: »Mr. Übermann, Sie können mich rausschmeißen dafür, aber Sie haben Mundgeruch!« Er würde eine kurze Pause machen. »Mundgeruch!«

Wie einfach das doch in der Vorstellung gewesen war, und wie schwer es jetzt fiel, diesen Vorsatz auszuführen. Und trotzdem! Ein Mann mußte sich erheben, mußte für Sauberkeit kämpfen und für sein Fortkommen, seinen Aufstieg, seinen Konsum. In diesem Augenblick spürte Carmody genau, daß ihre Augen auf ihn gerichtet waren - die Augen jener halb legendären Gestalten, der Hersteller*. Wenn er für wert befunden wurde . . .

»Morgen, Carmody!« sagte Mr. Übermann, während er mit großen Schritten in sein Büro marschierte. Er war gutaussehend, mit stechenden Augen und grauen Schläfen, letzteres ein besonderes Privileg. Seine Hornbrille war volle drei Zentimeter breiter als die Carmody s.

»Mr. Übermann«, setzte Carmody mit bebender Stimme an, »Sie können mich dafür rausschmeißen -«

»Carmody«, sagte der Boß, und seine sonor-überlegene Stimme schnitt durch Carmodys heiseres Gestammel wie ein Personna-Schweizer Offiziersskalpell durch Markenbutter, »heute habe ich ein unglaubliches Mundwasser entdeckt. Es heißt Scope. Ich habe jetzt die Sicherheit eines sauberen Atems, nicht nur für Stunden, nein für den ganzen Tag.«

Carmody brachte ein ironisches Lächeln zustande. Was für ein fantastischer Zufall! Der Boß war auf das gleiche Mundwasser gestoßen, daß Carmody ihm gerade empfehlen wollte. Und es hatte gewirkt! Nicht länger roch Mr. Übermann aus dem Mund wie eine Mülltonne im Hochsommer. Nein, jetzt war sein Atem küßchen-süß (für Mädchen natürlich nur; Carmody selbst war für sowas nicht zu haben).

»Schonmal davon gehört?« fragte Übermann und verließ dann wieder das Büro, ohne die Antwort abzuwarten.

Carmody lächelte jetzt noch viel ironischer. Er hatte wieder versagt. Und doch, er spürte ganz deutlich eine innere Erleichterung über dieses Versagen. First-Class-Konsum war verlok-kend, die Große Welt, das Flair der wahren Freiheit. Es war das einzig Angemessene für den gewissen Mann, aber vielleicht war er doch nicht der gewisse Mann. Was, wenn er nun schon alles hatte? Wenn er oben angekommen war?

»Manchmal kommt am Ende doch das Richtige bei einer Sache heraus, wenn sie schief geht«, sagte Carmody zu sich selbst.

»Tut es das? Wovon redest du da eigentlich, zum Teufel?« erwiderte Carmody sich selbst.

»Oh, mein Gott«, sagte Carmody zu sich selbst.

»Ja, ja«, antwortete Carmody anderes Ich. »Da hast du dich wohl ein bißchen zu schnell akklimatisiert.«

Die beiden Carmodys sahen sich gegenseitig an, verglichen ihre Unterlagen und kamen zu einem Entschluß. Sie verschmolzen.

»Seethwright!« rief Carmody. »Holen Sie mich raus hier!«

Und Seethwright, diese treue Seele, tat wie ihr geheißen.

XXVI

Mit der üblichen Verläßlichkeit sandte Seethwright ihn auf die nächste Möglichkeitserde. Die Transition war etwas schneller als sofort. Sie war so schnell, daß die Zeit beinahe umgekehrt wurde und Carmody das seltsame Gefühl bekam, auf einen Reiz zu reagieren, bevor er überhaupt gereizt wurde. Das stellte natürlich einen Widerspruch in sich. selbst dar, einen sehr kleinen zwar nur, aber es war illegal. Seethwright löschte die Sache mit der üblichen Realitätslöschung, und keiner interessierte sich so dafür, daß er es angezeigt hätte. Der Effekt wurde aufgehoben, zurück blieb nur ein kleiner Riß im Raum-ZeitKontinuum, der aber Carmody nicht einmal auffiel. Im übrigen gibt es dort andauernd Risse.

Carmody befand sich in einer kleinen Stadt. Oberflächlich betrachtet, gab es keine Schwierigkeiten, diese Stadt zu identifizieren; diese Stadt war, oder gab überzeugend vor zu sein, Maplewood, New Jersey. Carmody hatte hier vom dritten bis zum achtzehnten Lebensjahr gelebt. Dies war seine Heimat, wenn es überhaupt so etwas für ihn gab.

Oder, präziser ausgedrückt, dies war seine Heimat, wenn sie das war, was sie zu sein schien. Aber das mußte erst noch geprüft werden.

Er stand an der Ecke von Durant Road und Maplewood Avenue, am oberen Ende der Stadt. Direkt vor ihm lag das Einkaufszentrum. Weiter hinter begannen die gepflegten Vorstadtstraßen mit ihren Kastanien, Eichen, Ulmen und Walnußbäumen. Zu seiner Rechten, das war der Leseraum der Christlichen Wissenschaft. Links davon ging es zum Bahnhof.

»Wie steht es, Reisender?« fragte eine Stimme von seiner rechten Hüfte her.

Carmody blickte an sich herab und stellte fest, daß er ein handliches Transistorradio am Gürtel eingehakt trug. Dabei, wußte er sofort, konnte es sich nur um den Preis handeln.

»Du bist also wieder da!« stellte Carmody fest.

»Wieder da? Ich bin nie weggewesen.«

»Ich habe dich in der letzten Möglichkeitswelt nicht gesehen.«

»Das lag nur daran«, erklärte der Preis, »daß du dir nicht die Mühe gemacht hast, richtig nach mir zu suchen. Ich war in deiner Tasche, als ziemlich abgegriffener Dinar.«

»Wie soll ich denn auf sowas kommen?« wollte Carmody wissen.

»Alles, was du tun mußt, ist fragen«, antwortete der Preis. »Ich bin von Natur aus metamorphisch und selbst für mich selbst unvorhersagbar. Aber das weißt du ja. Muß ich denn jedesmal, wenn wir irgendwo zusammen hingehen, von selbst auf mich aufmerksam machen?«

»Es wäre ganz hilfreich«, sagte Carmody.

»Mein Stolz erlaubt mir ein so aufdringlich um Aufmerksamkeit heischendes Benehmen nicht«, erwiderte der Preis fest. »Ich antworte, wenn ich gerufen werde. Wenn ich nicht gerufen werde, gehe ich davon aus, daß meine Gegenwart nicht erwünscht ist. Es war ganz deutlich zu merken, daß du mich in der letzten Wirklichkeitswelt nicht gebraucht hast. Deshalb nahm ich die Gelegenheit wahr, in Slokols Restaurant mal wieder anständig essen zu gehen, anschließend war ich beim Friseur und dann auf ein paar Drinks in Varinells Sonnenschinken Bar, wo ich einen alten Freund traf, und von da -«

»Wie hast du das alles geschafft?« fragte Carmody dazwischen. »Ich war doch nicht länger als eine halbe Stunde in dieser komischen Welt.«

»Ich habe dir doch schon erzählt, daß wir eine unterschiedliche Dauerverteilung haben«, erklärte der Preis.

»Ja, doch, ich glaube, wir leben unterschiedlich schnell, wenn du das meinst . . . Aber wo sind diese Lokale?«

»Das würde eine ganze Weile dauern, um es vernünftig zu erklären«, meinte der Preis. »Um die Wahrheit zu sagen, es ist wesentlich einfacher dorthin zu gehen, als zu erklären, wie man dorthin kommt. Wie dem auch sei, für dich ist das dort nichts.«

»Warum?«

»Na . . . aus vielen Gründen. Aber, um nur einen zu nennen, dir würde das Essen da nicht gefallen - besonders das in der Sonnenschinken Bar.«

»Ich habe dich immerhin schon orithi essen sehen«, erinnerte Carmody den Preis.

»Ja, natürlich. Aber orithi sind eine seltene Köstlichkeit, die man nur wenige Male in seinem Leben vorgesetzt bekommt. In der Sonnenschinken Bar gibt es dagegen die Sorte Essen, von der wir Preise und verwandte Spezies uns außerhalb von Festtagen ernähren müssen.«

»Und was ist das?«

»Du wirst das, glaube ich, nicht wissen wollen«, warnte der Preis ihn.

»Ich will es wissen.«

»Ich weiß, daß du es wissen willst; aber wenn du es gehört hast, wirst du es nicht mehr wissen wollen.«

»Heraus damit«, beharrte Carmody. »Was ist dein normales Essen?«

»Na, gut, Mr. Naseweis«, sagte der Preis. »Aber vergiß nicht, du hast selbst darauf bestanden, es zu erfahren. Mein normales Essen bin ich selbst.«

»Was bist du?«

»Ich bin mein normales Essen. Ich sagte dir ja, das es dir nicht gefallen würde.«

»Du ißt dich selbst? Ich meine, du ißt deinen eigenen Körper?«

»Genau das.«

»Verdammt noch mal«, fluchte Carmody. »Abgesehen davon, daß sowas widerwärtig ist, kann es auch gar nicht möglich sein. Du kannst doch nicht von dir selbst leben!«

»Ich kann es, und ich tue es«, versicherte der Preis. »Und ich bin sogar sehr stolz darauf. Moralisch gesehen, ist das ein herausragendes Beispiel individueller Unabhängigkeit und Freiheit.«

»Aber es ist einfach nicht möglich«, sagte Carmody. »Es vergewaltigt alle Gesetze der Energieerhaltung, oder des Massenausgleichs, oder etwas in dieser Art. Ich bin absolut sicher, es vergewaltigt irgendein unumstößliches Naturgesetz.«

»Das stimmt schon, aber nur wenn man es unter speziellen Bedingungen betrachtet«, sagte der Preis. »Setzt man sich aber mit der Sache unter allgemeineren Aspekten und grundsätzlicher auseinander, kann man, denke ich, erkennen, daß diese Unmöglichkeit mehr eine scheinbare als eine reale ist.«

»Was, zum Teufel, soll das nun heißen?«

»Weiß ich nicht«, gestand der Preis. »So steht es in all unseren Schulbüchern. Niemand hat dazu je weitere Fragen gestellt.«

»Ich möchte die Sache jetzt mal ganz klargestellt haben«, erklärte Carmody entschieden. »Willst du behaupten, daß du tatsächlich und wörtlich Teile deines eigenen Fleisches ißt?«

»Ja«, sagte der Preis. »Genau das ist es, was ich meine. Auch wenn du es nicht nur auf mein Fleisch beschränken brauchst. Meine Leber ist ganz ausgezeichnet als Pastete, aber man kann sie auch einlegen und dann feingeschnitten zu frischem Salat mit ein wenig Gänseschmalz essen. Und meine Kotelettknochen ergeben eine passabele Suppe, wenn sie ausgekocht werden. Mein Schinken ist dagegen am besten, wenn er mindestens sechs Wochen mild geräuchert -«

»Genug!« stöhnte Carmody.

»Tut mir leid«, sagte der Preis.

»Aber erklär mir doch bitte nur eins: Wie kann dein Körper genug Nahrung für deinen Körper produzieren (das klingt lächerlich) während deines ganzen Lebens?«

»Na, ja«, meinte der Preis nachdenklich. »Ich bin gottseidank nicht sehr verfressen, weißt du.«

»Vielleicht habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt«, sagte Carmody. »Ich meine, wie kannst du deinen Körper ernähren, wenn du gleichzeitig den aufgenommenen Nährstoff für deinen eigenen Körper wieder verzehrst?«

»Ich fürchte, ich komme da nicht ganz mit«, gestand der Preis.

»Laß es mich noch mal versuchen. Ich meine folgendes: Wenn du dein eigenes Fleisch verzehrst -«

»Und das tue ich wirklich«, warf der Preis ein.

»Wenn du dein eigenes Fleisch verzehrst, und den darin enthaltenen Nährwert zur Ernährung dieses Fleisches benutzen mußt, also keinerlei Nährstoffe von außen zugeführt werden . . . Nein, Moment. Wenn du fünfzig Pfund wiegst -«

»Auf meiner Heimatwelt wiege ich tatsächlich genau fünfzig Pfund.«

»Ausgezeichnet! Also, dann. Wenn du fünfzig Pfund wiegst, und über den Zeitraum von, sagen wir mal, einem Jahr hinweg, von deinem eigenen Fleisch vierzig Pfund verkonsumierst, um dich damit zu ernähren, wieviel bleibt dir dann noch übrig?«

»Zehn Pfund«, fragte der Preis vorsichtig.

»Gottverdammt, kannst du denn nicht merken, worauf ich hinaus will? Du kannst dich einfach nicht selbst über längere Zeit von deiner eigenen Substanz ernähren, weil irgendwann keine mehr da ist.«

»Warum?«

»Das Gesetz des >Was weg ist, ist weg<«, verkündete Carmody, dem ein wenig schwindelte. »Am Ende ist einfach nichts mehr übrig von dir, wovon du dich ernähren könntest, und dann mußt du sterben.«

»Das ist mir wohl bewußt«, sagte der Preis. »Aber der Tod ist eine unausweichliche Tatsache, so unabwendbar und wirklich für die Selbstesser wie für die Fremdesser. Alles und jedes stirbt letztendlich, Carmody, gleichgültig wen oder was es ißt.«

»Du nimmst mich auf den Arm!« brüllte Carmody. »Wenn du dich wirklich so ernähren würdest, wärst du in einer Woche tot!«

»Es gibt Insekten, deren Lebensspanne nicht mehr als einen Tag beträgt«, sagte der Preis ruhig. »Aber in Wirklichkeit sind wir Preise sogar recht langlebig, nach deinen Maßstäben jedenfalls. Vergiß nicht, je mehr wir von uns konsumiert haben, desto weniger bleibt übrig, daß wir ernähren müssen, und desto weniger zuessen brauchen wir dafür, wodurch wiederum der Vorrat länger reicht. Bei der Selbstverspeisung spielt die Zeit ebenfalls eine wichtige Rolle. Die meisten Preise verzehren ihre Zukunft, solange sie noch Kinder sind, dadurch bleibt ihr eigentlicher Körper unversehrt bis ins Mannesalter.«

»Wie verzehren sie ihre Zukunft?« staunte Carmody.

»Ich kann dir nicht erklären, wie sie das machen«, erklärte der Preis. »Wir Preise tun das eben, das ist alles. Ich, zum Beispiel habe meine Substanz der Zeit zwischen achtzig und zweiundneundzig verspeist - senile Jahre, bin ich sicher, von denen ich sowieso nichts mehr gehabt hätte. Wenn ich nun meinen weiteren Verzehr ein wenig rationiere, schaffe ich es, glaube ich, bequem bis in meine späten Siebziger.«

»Davon kriege ich Kopfschmerzen«, sagte Carmody. »Und schlecht wird mir von der ganzen Sache auch, da muß einem ja förmlich übel von werden.«

»Tatsächlich?« meinte der Preis etwas indigniert. »Du hast aber sehr dicke Nerven, dir davon schlecht werden zu lassen! Du blutgieriger Schlächter, wieviel ermordete Tiere hast du denn während deiner Lebenszeit hinuntergeschlungen? Wieviel schutzlose Äpfel hast du dir gegrabscht, wieviel wehrlose Salatköpfe hast du aus ihren Betten gerissen? Ich habe gelegentlich ein oder zwei orithi gegessen, das gebe ich zu; aber am Jüngsten Tag wirst du dich einer Herde von Hunderten gegenübersehen, die du verschlungen hast. Sie werden vor dir stehen, Carmody, Hunderte von braunäugigen Kühen, Tausende von schutzlosen Hennen, endlose Reihen von sanften kleinen Lämmern; ganz zu schweigen von den Wäldern vergewaltigter Obstbäume und ausgeplünderter Gärten. Ich werde für den orithi bezahlen, vielleicht auch für drei oder vier davon. Aber wie willst du jemals deine Schuld abtragen, an den jammernden Tiermäulern, den gequälten Augen, dem zerfetzten jungen Salat, alles hingeschlachtet für dein Fressen. Wie, Carmody, wie?«

»Sei still!« schrie Carmody.

»Oh, ganz wie du willst.«

»Ich esse, weil das ein Teil meiner Natur ist. Ich kann nicht anders. Mehr kann man dazu nicht sagen.«

»Wenn du meinst.«

»Ich meine das ganz verdammt! Hältst du jetzt den Mund und läßt mir die Ruhe, mich zu konzentrieren?«

»Ich werde kein einziges weiteres Wort sagen«, versprach der Preis, »außer dich zu fragen, worauf du dich denn konzentrieren willst.«

»Dieser Ort hier sieht wie meine Heimatstadt aus«, erklärte Carmody. »Ich versuche herauszubekommen, ob er es wirklich ist oder nicht.«

»Das kann doch eigentlich nicht so schwer sein«, meinte der Preis. »Ich will damit nur sagen, man kennt doch seine Heimatstadt wie seine Heimatstadt, oder nicht?«

»Nein. Ich habe sie mir nie sehr genau angesehen, als ich noch hier lebte, und ich habe nicht viel an sie gedacht, nachdem ich weggezogen bin.«

»Wenn du nicht herausfinden kannst, was dein zu Hause ist«, stellte der Preis fest, »dann kann niemand das. Ich hoffe, du bist dir darüber im klaren.«

»Ich bin«, sagte Carmody. Er begann langsam die Maplewood Avenue hinunterzugehen. Plötzlich kam ihm das furchtbare Gefühl, das jede Entscheidung, die er treffen würde, falsch sein könnte.

XXVII

Carmody sah sich um, während er ging, und während er sich umsah, beobachtete er scharf. Es schien alles nach dem Ort auszusehen, nachdem auszusehen es hätte scheinen müssen. Das Maplewood-Kino war am richtigen Platz. Heute lief >The Saga of Elephantine<, ein italienisch-französischer Abenteuerfilm unter der Regie von Jaques Marat, dem brillanten jungen Regisseur, der der Welt den hinreißenden Song of my Wounds gegeben hatte, und die bejubelte Komödie Paris Times Fourteen.

»Klingt nach einem komischen Film«, meinte Carmody.

»Nichts für mich«, sagte der Preis.

Carmody blieb kurz vor Mervins Herrenausstattung stehen und sah ins Schaufenster. Er sah Mokassinschuhe, zweifarbige Lackslipper, Jacken mit Hahnenrittmuster, breite, grellgemusterte Krawatten und farbige Oberhemden.

Beim Zeitungskiosk daneben erspähte er den Colliers, daneben Liberty und gesondert ausgelegt Munsey's, Black Cat und The Spy. Die Morgenausgabe von The Sun war gerade herausgekommen.

»Na?« fragte der Preis. »Ist es das?«

»Ich bin noch dabei, es zu checken«, sagte Carmody. »Aber bis jetzt sieht alles ganz passend aus.«

Er überquerte die Straße und warf einen -Blick in Edgars Drugstore. Es hatte sich nichts verändert. An der Theke saß ein hübsches Mädchen und trank eine Limonade mit Strohhalm. Carmody erkannte sie auf Anhieb.

»Lana Turner! Hallo! Wie geht's dir?«

»Prima, Tom«, sagte Lana. »Lange nicht gesehen.«

»Ich bin mal auf der High School mit ihr gegangen«, erklärte Carmody dem Preis, als sie weitergingen. »Komisch, wie mir jetzt alles wieder einfällt.«

»Das scheint mir auch so«, meinte der Preis zweifelnd.

An der nächsten Kreuzung stand ein Polizist. Er regelte gerade den Verkehr, aber er fand Zeit, Carmody strahlend anzulächeln.

»Das ist But Lancaster«, sagte Carmody. »War unser bester Linksaußen im College, aber dann ist er plötzlich zur Polizei gegangen. Und guck mal dahinten, die Blonde. Das ist Jean Harlow. Sie war Kellnerin im Mapelwood Restaurant.« Er senkte die Stimme. »Die Jungs sagten immer, die ließe einen schnell ran.«

»Du scheinst eine Menge Leute hier zu kennen«, sagte der Preis.

»Natürlich, daß muß ich ja wohl! Ich bin hier aufgewachsen. Miß Harlow geht gerade in Pierres Friseursalon.«

»Kennst du Pierre auch?«

»Sicher. Er ist jetzt Friseur, aber während des Krieges hat er in Frankreich in der Resistance gekämpft. Wie war noch sein richtiger Name? Ach ja. Jean-Pierre Aumont! Er hat eines von unseren Mädchen hier geheiratet, Carol Lombard.«

»Interessant«, sagte der Preis sehr gelangweilt.

»Ja, für mich ist es wirklich interessant. Hier kommt noch ein Mann, den ich kenne . . . Guten Tag, Mr. Bürgermeister.«

»Guten Tag, Tom«, sagte der Mann, tippte an seinen Hut und ging weiter.

»Das war Frederic March,, unser Bürgermeister«, erklärte Carmody. »Er ist eine faszinierende Persönlichkeit! Beeindruk-kend! Ich kann mich noch immer an seine Debatte mit unserem örtlichen Radikalen erinnern, diesem Paul Muni. Junge, das war eine Sache.«

»Hmmm«, sagte der Preis. »Irgend etwas Merkwürdiges ist an dieser ganzen Sache hier, Carmody. Etwas Unheimliches, etwas, das nicht richtig ist. Fühlst du es nicht?«

»Nein, ich fühle es nicht«, erwiderte Carmody. »Ich sage dir, ich bin mit diesen Leuten aufgewachsen. Ich kenne sie besser als mich selbst. He, da drüben ist Paulette Goddard. Sie ist die Bibliothekassistentin. Hallo, Paulette!«

»He, Tom, wie geht's«, rief die Frau und lächelte ihn an.

»Mir gefällt das nicht«, sagte der Preis.

»Ich habe sie nie sehr gut gekannt«, erzählte Carmody. »Sie ging mit einem Jungen aus Millburn. Humphrey Bogart hieß der. Er hatte mal eine Schlägerei mit Lon Chaney, unserem Schulschläger. Ich kann mich noch so gut daran erinnern, weil ich damals gerade was mit June Havoc hatte, und deren beste Freundin war Myrna Loy, die wiederum Bogart gut kannte, weil -«

»Carmody!« unterbrach der Preis drängend. »Paß auf dich auf! Hast du jemals etwas von Pseudoakklimatisation gehört?«

»Mach dich nicht lächerlich«, sagte Carmody. »Ich sage dir, ich kenne diese Leute! Ich bin hier groß geworden, und es war ein verdammt guter Platz, um aufzuwachsen. Die Menschen waren hier nicht nur solche Abziehbilder wie heutzutage, die Leute standen hinter ihren Rollen. Damals war man noch ein Individuum und keine billige Nachahmung von irgendwas.«

»Bist du dir da ganz sicher? Dein Jäger -«

»Schluß! Ich will nichts mehr davon hören«, sagte Carmody entschieden. »Schau mal! Da ist David Niven! Seine Eltern sind Engländer.«

»Diese Leute kommen auf uns zu«, bemerkte der Preis.

»Na, klar«, sagte Carmody. »Sie haben mich schon so lange nicht mehr gesehen und wollen mich begrüßen.«

Er blieb an der Ecke stehen, und seine Freunde kamen die Straße herunter, sie strömten aus den Geschäften und aus den Haustüren. Es waren wirklich Hunderte, und alles Freunde. Er entdeckte Alan Ladd, Dorothy Lamour und Larry Buster Crabbe. Und da kamen auch Spencer Tracy, Lionel Barrymore, Freddy Bartholomew, John Wayne, Frances Farmer -

»Da stimmt etwas nicht«, sagte der Preis.

»Nichts ist falsch«, beharrte Carmody. Seine Freunde waren alle da, sie kamen näher, streckten ihm die Hände entgegen, umringten ihn, und er war glücklicher als jemals zuvor irgendwo in seinem Leben, seit er sein Zuhause verlassen hatte. Er wunderte sich, wie er nur vergessen konnte, was für herrliche Menschen das hier waren. Aber jetzt erinnerte er sich.

»Carmody!« schrie der Preis.

»Was ist denn?«

»Gab es immer schon Musik in deiner Welt?«

»Wovon redest du da?«

»Ich rede von Musik«, sagte der Preis. »Hörst du sie nicht?«

Carmody bemerkte sie zum ersten Mal. Ein Symphonieorchester spielte, aber er konnte nicht entdecken, wo die Musik herkam.

»Wie lange geht das schon so?«

»Die ganze Zeit seit wir hier angekommen sind«, berichtete der Preis. »Als du begannst die Straße hinunter zu gehen gab es einen gedämpften Trommelwirbel. Als du am Kino vorbeikamst gab es ein flottes Trompetensolo, das dann zu einer etwas süßlichen Melodie mit viel Streichern überleitete, die einsetzte, als du diese Lana Turner sahst. Dann -«

»Das war die Background-Musik«, stöhnte Carmody. »Das ganze verdammte Ding hier ist Kulisse, und ich hab es nicht gemerkt!«

Burt Lancaster griff lächelnd nach seinem Arm. Gary Cooper ließ eine schwere Hand auf seine Schulter fallen. Laird Cregar stieß ihn kameradschaftlich vor die Brust. Shirley Temple klammerte sich an seinen rechten Fuß. Die anderen drängten sich noch dichter, noch immer strahlend und lächelnd.

»Seethwright!« brüllte Carmody. »Um Gottes > willen, Seethwright!«

Danach passierten die Dinge ein wenig zu schnell, um sie noch bewußt wahrnehmen zu können.

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