XVIII
Nachdem die Transition abgeschlossen war, sammelte Carmody sich erst einmal. Eine kurze Bestandsaufnahme überzeugte ihn davon, daß er noch immer vier Gliedmaßen, einen Rumpf, einen Kopf und ein Hirn hatte. So wie es aussah, hätte er zwar in jedem Fall mit dem vorliebnehmen müssen, was angekommen war, aber er fühlte sich komplett doch wohler. Er stellte außerdem fest, daß der Preis noch bei ihm war, den er inzwischen irgendwie immer wiedererkennen konnte, auch wenn es natürlich die übliche Metamorphose gegeben hatte. Diesmal hatte der Preis sich von einem Zwerg in eine schlecht geschnitzte Flöte verwandelt.
»So weit, so gut«, sagte Carmody zu niemandem besonderen. Dann besah er sich seine Umgebung.
»So gut nicht«, stellte er sofort fest. Er hatte sich innerlich darauf vorbereitet, auf der falschen Erde anzukommen, aber nicht auf einer so falschen.
Er stand im Schlamm am Rande eines weiten Sumpfes. Aus den braunen Pfützen vor ihm stiegen unangenehme Gerüche auf. Es gab breitblätterige Farne und niedrigen Mangroven ähnelnde Büsche und in der Ferne riesige Palmen. Die Luft wirkte schwül, drückend und mit einem Aroma von Fruchtbarkeit und Fäulnis überladen.
»Könnte ja sein, daß ich in Florida bin«, sagte Carmody hoffnungsvoll.
»Ich fürchte nicht«, erwiderte der Preis, oder die Flöte, mit einer tiefen melodiösen Stimme, die aber ein wenig zu viel Vibrato besaß.
Carmody starrte den Preis an.'»Wie kommt es eigentlich, daß du so sprechen kannst?«
»Wie kommt es eigentlich, daß du mich das nicht gefragt hast, als ich ein Kupferkessel war?« fragte der Preis zurück. »Aber ich werde es dir erzählen, wenn du es wirklich wissen möchtest. Hier oben, direkt in meinem Mundstück, ist eine kleine CO2-Patrone angebracht, die mir als Lungenersatz dient. Allerdings nur für begrenzte Zeit. Der Rest dürfte damit klar sein.«
Für Carmody war er nicht klar. Aber er hatte wichtigere Dinge im Kopf. »Wo bin ich hier?« fragte er.
»Wir«, sagte der Preis, »befinden uns auf dem Planeten Erde. Das sumpfige Gelände, in das wir hier gerade langsam einsinken, wird in deiner Zeit ein Parkplatz von Scarsdale, New York, werden.« Er kicherte. »Ich schlage vor, du kaufst das Gelände jetzt. Die Grundstückspreise scheinen gerade einen Tiefststand erreicht zu haben.«
»Das sieht ganz verdammt nicht nach Scarsdale aus«, sagte Carmody.
»Natürlich nicht. Wenn wir im Augenblick mal die Frage Welche beiseite lassen, können wir jedenfalls mit Sicherheit sagen, daß das Wann absolut falsch sein muß«
»Ja . . . und wann sind wir?«
»Eine gute Frage«, lobte der Preis. »Aber eine, auf die ich nur eine hochqualifizierte Nährungsantwort geben kann. Ganz offensichtlich befinden wir uns im Paläozoikum oder im Mesozoikum. Vom Klima her könnte es allerdings nur das Ende des Paläozoikums sein, das Perm vielleicht. Aber, Moment, das können wir auch ausschließen. Guck, da oben, rechts von dir!«
Carmody guckte nach rechts oben und sah einen komisch flatternden Vogel in einiger Entfernung vorbeiziehen.
»Das ist ganz definitiv ein Archäopterix«, verkündete der Preis. »Du kannst es deutlich an der Art erkennen, wie seine Federn vom Flügel abgespreizt sind. Die meisten Paläontologen ordnen ihn in der oberen Jura ein, aber er kann keinesfalls vor dem Trias aufgetreten sein. Wir können also das Paläozoikum getrost ausschließen und davon ausgehen, daß wir uns im Mesozoikum befinden.«
»Das ist ziemlich weit hinten, was?« brach es aus Carmody heraus.
»Es geht so«, stimmte der Preis zu. »Aber wir können sogar noch mehr herausfinden. Ich denke, es sollte uns gelingen, die genaue Zeit des Mesozoikums festzumachen, in der wir uns hier befinden.« Er dachte eine Weile nach. »Ja, ich glaube, ich hab's. Nicht im Trias! Der Sumpf ist irreführend. Aber die Pflanzen hier, das ist signifikant. Besonders die weniger imposanten. Das ist Gras da drüben, Carmody, richtiges Gras. Und damit ist die Sache entschieden. Bis in das Jura gab es kein Gras! Ich würde meine ganzen Sparverträge darauf verwetten! Wir sind in der Kreidezeit, und wahrscheinlich ziemlich an ihrem oberen Ende!«
Carmody hatte nur sehr vage Vorstellungen von den geologischen Epochen der Erde. »Die Kreide«, sagte er, »wie weit ist das denn von meiner Zeit entfernt?«
»Oh, so um hundert Millionen Jahre, würde ich sagen«, erwiderte der Preis. »Auf ein paar Millionen mehr oder weniger dürfte es nicht ankommen. Die Kreide dauerte etwa siebzig Millionen Jahre.«
Carmody hatte keine Schwierigkeiten sich diese Zeiträume vorzustellen, weil er es gar nicht erst versuchte. Er sagte zum Preis: »Woher hast du eigentlich dieses ganze geologische Zeug gelernt?«
»Was meinst du wohl?« meinte der Preis überlegen. »Ich habe es studiert. Ich dachte mir, da wir nun einmal zur Erde wollen, ist es wohl besser, wenn ich etwas über diesen Ort in Erfahrung bringe und mich mit seiner Geschichte befasse. Und das war ein verdammt guter Gedanke, wie du ja gerade selbst feststellen konntest. Wenn ich nicht gewesen wäre, würdest du hier durch die Gegend stolpern und nach Miami Beach Ausschau halten, bis dich wahrscheinlich ein Allosaurus zum Nachtisch gefressen hätte.«
»Wer hätte mich gefressen?«
»Ich nahm Bezug«, erläuterte der Preis ein wenig gespreizt, »auf eines der weniger angenehmen Mitglieder der Gattung Saurier, der sich aus der Familie der Sauropoden entwickelt hat, von der uns besonders die bemerkenswerte Art Brontosau-rus bekannt geworden ist.«
»Du willst mir damit sagen, es gibt hier Dinosaurier?« fragte Carmody.
»Ich will dir damit sagen«, erklärte der Preis mit besonderem Nachdruck in der Stimme, »du befindest dich hier regelrecht im geologischen Saurierhausen, und ich darf die Gelegenheit benutzen, dich herzlich willkommen zu heißen im Zeitalter der Riesenechsen!«
Carmody machte ein Geräusch, das nicht sehr zu dieser Verkündigung paßte. Er nahm eine Bewegung zu seiner Rechten wahr und fuhr herum. Er sah einen Saurier. Der Saurier war etwa sechs Meter hoch und mochte von der Schwanzspitze bis Nase gut zwanzig Meter lang sein. Er stand aufrecht auf den Hinterbeinen. Er schimmerte schieferblau und kam direkt auf Carmody zu.
»Ist das ein Tyrannosaurus?« wollte Carmody wissen.
»Jawohl, das ist einer«, bestätigte ihm der Preis. »Tyrannosaurus Rex, eine der bemerkenswertesten Arten der ganzen Kreidezeit. Schon das Gebiß und die verkümmerten Vorderbeine zeigen die weit fortgeschrittene Spezialisierung. Achte auch darauf, wie er sich geschickt beim Laufen mit dem kräftigen Schwanz abstützt.«
»Und er frißt Fleisch«, sagte Carmoy.
»Selbstverständlich. Ich persönlich vermute, daß die Tyran-nosaurier und die anderen fleischfressenden Arten dieser Epoche sich fast ausschließlich von den Hadrosaurier ernährten, einem weit verbreiteten und schutzlosen Pflanzenfresser. Aber das ist nur so eine Theorie von mir.«
Das gigantische Tier war jetzt weniger als fünfzig Meter entfernt. Es gab keine Fluchtmöglichkeit in diesem flachen Sumpfland, keine Deckung, nichts zum Hinaufklettern oder Darunterschlüpfen. »Was soll ich machen?« rief Carmody.
»Du mußt dich sofort in eine Pflanze verwandeln!« drängte der Preis.
»Aber das kann ich nicht!«
»Das kannst du nicht? Dann befindest du dich in der Tat in einer sehr ernsten Lage. Laß mal überlegen, du kannst nicht fliegen oder dir eine Höhle graben, und ich wette zehn zu eins, daß er schneller läuft als du. Hmm, das scheint eine schwierige Sache zu werden.«
»Was mach ich denn nun?«
»Tja, unter diesen Umständen würde ich dir raten, du nimmst die Sache am besten ganz stoisch auf. Ich könnte dir auch ein wenig Epikur zitieren, oder wir können zusammen eine Hymne singen.«
»Zum Teufel mit den Hymnen! Ich will hier heil raus!«
Die Flöte hatte bereits begonnen >Näher, mein Gott, zu dir< zu spielen. Carmody ballte die Fäuste. Der Tyrannosaurus stand jetzt direkt vor ihm, ein riesiges Ungeheuer ganz wie von Rex Harrishausen. Es öffnete sein furchtbares Maul.
XIX
»Guten Tag«, sagte der Tyrannosaurus. »Ich heiße Emmi, und ich bin sechs Jahre alt. Wie heißt du?«
»Carmody«, sagte Carmody.
»Und ich bin sein Preis«, sagte der Preis.
»Ja, also, ihr beide seht schon etwas komisch aus«, sagte Emmi. »Ihr seht ganz anders aus als alle Leute, die ich bis jetzt gesehen habe. Und ich habe schon ein Dimetrodon und einen Struthiomimus getroffen, und sogar einen Socolosaurus und viele andere. Ganz viele. Seid ihr hier aus der Gegend?«
»Irgendwie schon«, antwortete Carmody. Dann fiel ihm aber die ganze Dimensionsgeschichte ein, und er fügte hinzu. »Aber eigentlich nicht wirklich.«
»Oh«, sagte Emmi. Nach Kinderart starrte er sie einfach an und schwieg lange. Carmody starrte zurück, fasziniert von dem riesigen, grimmigen Echsenkopf und den nadelspitzen Zähnen, mit denen man einen Mähdrescher hätte bestücken können. Wirklich furchterregend! Nur die Augen - rund, sanft, blau und vertrauensvoll - standen im Widerspruch zu der bedrohlichen Erscheinung.
»Ja, dann«, sagte Emmi schließlich, »was macht ihr denn dann hier im Park?«
»Ist das ein Park hier?« fragte Carmody.
»Sicher ist das ein Park!« erwiderte Emmi. »Es ist ein Park für Kinder, zum Spielen, und ich glaube nicht, daß ihr Kinder seid, auch wenn ihr so klein ausseht.«
»Du hast recht, ich bin kein Kind«, sagte Carmody. »Ich bin aus Versehen in deinen Park geraten. Ich glaube, ich sollte mal mit deinem Vater reden.«
»Das machst du mal besser«, sagte Emmi. »Kletter auf meinen Rücken, dann bringe ich dich zu ihm. Und vergiß nicht, daß ich euch gefunden habe. Und nimm deinen Freund mit. Der ist wirklich komisch!«
Carmody steckte die Flöte ein und bestieg den Saurier. Mit den Händen suchte er in den Rissen und Spalten von Emmis eisenhartem Panzer Halt. Sobald er in Emmis Nacken einen halbwegs sicheren Sitzplatz gefunden hatte, machte der Saurier kehrt und eilte in weiten Schritten nach Südwesten.
»Wohin sind wir unterwegs?« fragte Carmody.
»Zu meinem Vater, natürlich«, antwortete Emmi.
»Ja, aber wo ist dein Vater?«
»Er ist in der Stadt, im Büro. Wo sollte er sonst sein?«
»Ja, klar, wo sollte er sonst sein«, bestätigte Carmody dumpf und suchte sich einen festeren Halt, als Emmi in den Galopp überging.
Aus Carmodys Hosentasche sagte der Preis mit gedämpfter Stimme: »Das ist alles äußerst merkwürdig.«
»Du bist hier das merkwürdige«, erinnerte Carmody ihn etwas unwirsch. Dann machte er es sich bequem, um den Ritt zu genießen.
Sie nannten es zwar nicht Saurierhausen, aber Carmody konnte sich keinen besseren Namen dafür vorstellen. Es lag etwa zehn Meilen vom Park entfernt. Zuerst kamen sie auf eine Straße, einen breiten Pfad, wenn man es genau nahm, den unzählige Saurierfuße festgestampft hatten. Sie folgten ihm und kamen an vielen Hadrosauriern vorbei, die unter großen Weidenbäumen dösten und sich gelegentlich mit weichen, .harmonischen Stimmen etwas vorsangen. Carmody fragte nach ihnen, aber Emmi wollte dazu nur sagen, daß sein Vater sie für ein echtes Problem hielt.
Die Straße wand sich an Farnen, Ahorn und Stechpalmen vorbei, die alle sorgfältig zu kleinen Hainen gruppiert waren. Jeder Hain hatte ein Dutzend oder mehr Saurier, die sich geschickt zwischen den Stämmen umherbewegten, am Boden gruben und Abfall aufräumten. Carmody fragte, was sie taten.
»Sie machen sauber«, sagte Emmi angewidert. »Mütter müssen immer aufräumen, den ganzen Tag.«
Sie näherten sich schließlich einem erhöhten Plateau. Der letzte einzelne Hain blieb hinter ihnen zurück und hier oben kamen sie abrupt in einen dichten großen Wald.
Sofort fiel auf, daß es sich um eine sorgfältig angelegte Bepflanzung handelte. Zunächst passierten sie einen dichten Ring aus Affenbrot-, Haselnuß- und Walnußbäumen. Dahinter kamen einige Reihen lichter, weiträumig verteilter Gingkos, alle gut gepflegt und beschnitten. Und noch weiter innen gab es nur noch geometrisch angeordnete Koniferenarten.
Während sie immer tiefer in den Wald vordrangen, kamen sie in immer dichter von Sauriern bevölkerte i Gegenden. Die meisten von ihnen waren Theropoden - fleischfressende, aufrecht gehende Saurier wie Emmi. Aber der Preis machte auch einige Ornithopoden aus, und daneben stießen sie hin und wieder auf große Herden von Triceratops. Fast alle bewegten sich im zügigen Trab zwischen den Bäumen umher. Der Boden bebte unter ihren Füßen, die Bäume zitterten, und die Luft war von Staubwolken erfüllt. Immer wieder knirschte Panzer gegen Panzer, wenn eine Kollision gerade noch durch ein geschicktes Ausweichmanöver vermieden worden war, und zwei der Giganten aneinander vorbei schrammten. Es gab plötzliche Stops und abrupte Beschleunigungen. Von überall her dröhnte ein Gebrüll nach Platz da! Und Vorsicht! Der Anblick von mehreren Tausend, durcheinander wimmelnder Saurier war fast so furchtbar wie der Gestank, den sie dabei ausströmten.
»Da sind wir«, sagte Emmi und hielt so schnell an, daß Carmody fast abgeworfen worden wäre. »Da arbeitet mein Vati.«
Carmody sah sich um und bemerkte, daß Emmi ihn zu einem kleineren Sequoia-Hain gebracht hatte. Die großen Stämme formten eine Art geschützter Oase in der Mitte des Waldes. Zwei oder drei Saurier wanderten mit bedächtigen Schritten zwischen den Bäumen umher und ignorierten das Gedränge, das sich ringsum im Abstand von kaum fünfzig Metern nach allen Richtungen ausbreitete. Carmody entschied, daß er hier riskieren konnte abzusteigen ohne gleich in den Boden getrampelt zu werden. Erschöpft glitt er von Emmis Nacken herunter.
»Vati!« rief Emmi. »He, Vati, guck doch mal, was ich gefunden habe, Vati!«
Einer der Saurier sah auf. Es war ein Tyrannosaurus, ein wenig größer als Emmi, mit weißen Streifen auf seinem blauen Rückenpanzer. Seine Augen waren grau und blutunterlaufen. Er wandte sich mit schwerfälliger Anstrengung herum.
»Wie oft habe ich dir schon gesagt«, dröhnte er, »du sollst hier nicht so angerannt kommen?«
»Es tut mir leid, Vati, aber guck mal, ich habe . . .«
»Es tut dir immer >leid<«, sagte der alte Tyrannosaurus, »aber du entschließt dich trotzdem nie, dein Verhalten entsprechend zu ändern. Dir fehlt es am Willen, mein Sohn. Ich habe mit deiner Mutter darüber gesprochen, Emmi, und wir sind uns beide darüber einig, daß in dieser Sache etwas geschehen muß. Keiner von uns möchte einen unhöflichen, rumbrüllenden Urwaldtrampier großziehen, der nicht einmal das Benehmen eines Brontosaurus besitzt. Ich liebe dich, mein Sohn, aber trotzdem mußt du lernen . . .«
»Vati! Warte doch bitte mit der Schimpfe bis gleich und schau einmal, bitte nur einmal, was ich hier gefunden habe!«
Der alte Tyrannosaurus verzog das Maul und wedelte bedrohlich mit dem Schwanz, während sich seine Nüstern ungeduldig blähten. Aber er senkte den Kopf, folgte mit den Augen der Richtung, in die Emmis Vordertatze wies, und sah Carmody.
»Das gibt es doch gar nicht!« brüllte er.
»Guten Tag, Sir«, sagte Carmody. »Mein Name ist Thomas Carmody. Ich bin ein Mensch. Ich glaube nicht, daß es noch andere Menschen auf der Erde gibt, jedenfalls nicht zur Zeit, wahrscheinlich nicht einmal Primaten. Wie ich hierher gekommen bin, ist ein wenig schwierig zu erklären. Aber ich komme in Frieden und - und all das«, endete er etwas lahm.
»Fantastisch!« rief Emmis Vater. Er wandte den Kopf. »Bax-ley? Siehst du, was ich sehe? Hörst du, was ich höre?«
Baxley war ein Tyrannosaurus etwa im Alter von Emmis Vater. Er sagte: »Ich sehe es, Borg, aber ich kann es nicht glauben.«
»Ein sprechendes Säugetier!« verkündete Borg.
»Ich kann es noch immer nicht glauben«, sagte Baxley.
XX
Borg brauchte länger dafür, die Vorstellung von sprechenden Säugetieren zu akzeptieren, als Carmody gebraucht hatte, sich an die von sprechenden Reptilien zu gewöhnen. Aber schließlich akzeptierte Borg sie ebenfalls. Wie der Preis später dazu bemerkte, gibt es nichts, was einem mehr an eine Tatsache glauben läßt, als diese Tatsache ständig vor sich zu haben.
Sie zogen sich in Borgs Büro zurück, das sich unter dem schattigen Blätterdach einer Riesenweide befand. Dort saßen sie dann, räusperten sich abwechselnd und versuchten sich einfallen zu lassen, was man sagen könnte. Am Ende sagte Borg: »Also Sie sind ein fremdes Säugetier aus der Zukunft, nicht wahr?«
»Ich nehme an, das bin ich«, sagte Carmody. »Und Sie sind ein einheimisches Reptil aus der Vergangenheit.«
»So habe ich mich noch nie betrachtet«, gab Borg zu. »Aber ich nehme an, das kann man wohl so sehen. Wie weit aus der Zukunft sagten Sie, kommen Sie?«
»Etwa hundert Millionen Jahre.«
»Aha, ja. Ziemlich lange Zeit, nicht wahr? Kommt mir jedenfalls so vor.«
»Es ist ziemlich viel Zeit weit entfernt«, stimmte Carmody zu.
Borg nickte und begann tonlos vor sich hin zu summen. Carmody konnte nicht übersehen, daß der Saurier nicht recht wußte, was er als nächstes sagen sollte. Borg machte den Eindruck einer sehr gesetzten Persönlichkeit; gastfreundlich, höflich, aber auch sehr auf Konventionen bedacht. Ein Familienvater, kein großer Unterhalter, einfach ein ordentlicher, langweiliger, gutbürgerlicher Tyrannosaurier aus der Mittelschicht.
»Und nun«, sagte Borg, als das Schweigen peinlich zu werden drohte. »Ich meine, und wie ist sie, die Zukunft?«
»Entschuldigen Sie bitte, wie meinen Sie das?«
»Ich meine, was für ein Ort ist das, die Zukunft? Wie sieht es in der Zukunft aus?«
»Sehr viel los dort«, erklärte Carmody. »Viel Industrie und Handel. Viele neue Erfindungen. Und natürlich auch viel Ärger und Durcheinander.«
»Ja, ja, ja«, sagte Borg. »Das ist ganz so, wie sie sich unsere besonders phantasiebegabten Kollegen vorstellen. Einige von ihnen haben sogar einen Evolutionssprung bei den Säugetieren vorausgesagt, der diese Arten zu dominierenden Spezies der Erde machen soll. Aber mir kommt so etwas doch etwas weithergeholt und grotesk vor.«
»Ich glaube schon, daß es für Sie so klingen muß«, sagte Carmody.
»Dann sind Sie die dominierende Spezies?«
»Nun . . . eine von den dominierenden.«
»Aber was ist mit den Reptilien? Oder, ganz genau gefragt, wie geht es dem Tyrannosaurus in der Zukunft?«
Carmody hatte weder die Nerven noch die Herzlosigkeit, ihm zu erklären, daß in seiner eigenen Zeit die Saurier seit über sechzig Millionen Jahren ausgestorben waren, und daß die Reptilien auf der Erde bestenfalls noch eine recht untergeordnete Rolle spielten, etwa als Handtaschenlieferanten.
»Ihre Rasse hat sich so optimal gehalten, wie man es sich unter den gegebenen Umständen vorstellen kann«, antwortete Carmody, wobei er sich ausgesprochen phytisch und irgendwie hinterhältig vorkam.
»Gut! Ich dachte mir, daß es so sein wird!« sagte Borg. »Wir sind eine vernünftige Rasse, wissen Sie, und die meisten von uns haben Willenskraft und Gemeinsinn. Haben Menschen und Reptilien große Schwierigkeiten mit einer friedlichen Koexistenz?«
»Nein, eigentlich überhaupt keine«, verkündete Carmody wahrheitsgemäß. »Höchstens einmal ein paar Unfälle.«
»Freut mich, das zu hören. Ich hätte schon gefürchtet, den Dinosauriern wäre ihre Größe irgendwann zu Kopf gestiegen.«
»Nein, nein«, wehrte Carmody ab. »Für die Säugetiere der fernen Zukunft kann ich versichern, daß sie eigentlich alle den Dinosaurier mögen. Besonders die Kinder.«
»Es ist sehr freundlich von Ihnen, das so zu sagen«, bedankte sich Borg.
Carmody murmelte etwas Unverständliches. Er schämte sich plötzlich fast unerträglich.
»Die Zukunft ist nichts, was einem Saurier große Sorgen macht«, meinte Borg, der jetzt in den zufriedenen Tonfall eines Dinnergesprächs verfiel. »Früher mag das anders gewesen sein. Unser ausgestorbener Vorfahr, der Allosaurus, muß ein übellauniger Bursche mit grauenvollen Freßmanieren gewesen sein. Und sein Vorfahr, der Ceratosaurus, war ein fleischfressender Zwergsaurier. Nach der Größe seines Schädels zu urteilen, muß er unglaublich blöde gewesen sein. Es gab natürlich andere Fleischfresser in der Vorzeit, und irgendwo dort in der Urzeit muß es auch das Missing Link gegeben haben - einen fernen Urahn von dem beide abstammen, die zweibeinigen und die vierbeinigen Saurier.«
»Die zweibeinigen Saurier sind natürlich die dominierenden, nicht wahr?« fragte Carmody.
»Natürlich. Der Triceratops ist ein schwachsinniges Geschöpf mit einer Neigung zu Wutausbrüchen. Wir halten ihn in kleinen Herden. Sein Fleisch ist eine gute Vorspeise zu Brontosau-rus-Steaks. Es gibt natürlich auch noch eine ganze Reihe anderer Arten. Sie werden einige Hadrosaurier gesehen haben, auf dem Weg in die Stadt.«
»Ja, habe ich«, sagte Carmody. »Sie sangen.«
»Diese Kerle singen immer«, sagte Borg geringschätzig.
»Essen Sie sie?«
»Gütiger Himmel, nein! Hadrosaurier sind eine intelligente Rasse, die einzige intelligente Spezies auf diesem ganzen Planeten neben dem Tyrannosaurus.«
»Ihr Sohn sagte, sie seien ein echtes Problem.«
»Ja, das sinid sie«, sagte Borg ein wenig zu aufgeregt.
»Wieso?«
»Sie sind faul. Sie liegen rum und tun nichts. Ich weiß, wovon ich rede. Ich habe Hadrosaurier als Hauspersonal eingestellt gehabt. Sie haben keine Ambitionen, keinen Schwung, keine Selbstdisziplin. Die Hälfte der Zeit vergessen sie, wer für ihren Lebensunterhalt sorgt, und sonst scheint es sie auch nicht besonders zu interessieren. Aber, wenn man mit ihnen spricht, können sie einem nicht mal gerade in die Augen sehen.«
»Singen können sie trotzdem gut«, sagte Carmody.
»Oh, ja. Sie singen schön. Einige unserer besten Entertainer sind Hadrosaurier. Wenn man sie anleitet, sind sie auch bei allen schweren Konstruktionsarbeiten gut zu gebrauchen, aber es muß immer jemand aufpassen. Ich gebe zu, daß ihr Äußeres leicht Vorurteile weckt . . . dieses Ding auf dem Kopf und der watschelnde Gang. Aber dafür können sie nichts. Ist das Hadrosaurier-Problem in der Zukunft irgendwann gelöst worden?«
»Es hat sich erübrigt«, erklärte Carmody. »Die Rasse ist ausgestorben.«
»Vielleicht ist das der beste Weg«, sagte Borg. »Ja, ich glaube, so wird es wirklich das beste sein.«
Carmody und Borg unterhielten sich noch einige Stunden lang. Carmody erfuhr von dem Problem des städtischen Reptilienlebens. Die Waldstädte erlebten einen dramatischen Bevölkerungsanstieg, weil zur Zeit immer mehr Tyrannosaurier und Hadrosaurier dem Landleben den Rücken zuwandten und ihr Glück in der Stadt suchten. In den letzten Jahren hatten sich daraus schwere Verkehrsprobleme ergeben. Großreptilien reisen gerne schnell und sind stolz auf ihre schnellen Reflexe. Aber wenn mehrere Tausend von ihnen zur selben Zeit durch einen relativ kleinen Wald donnern, sind Unfälle unausweichlich. Oft waren diese Unfälle schwer und mit fatalen Folgen. Wenn zwei Reptilien, beide vierzig Tonnen schwer und fünfzig Kilometer in der Stunde schnell, frontal gegeneinander rasen, sind in der Regel Genickbrüche das Resultat. Seit über fünfzig Jahren kletterte daher die Zahl der Verkehrstoten unaufhaltsam.
Das waren aber natürlich nicht die einzigen Probleme. Überbevölkerte Städte waren das Symptom für eine Geburtenexplosion. In vielen Teilen der Welt lebten Saurier am Rande des Existenzminimums. Hungersnöte waren an der Tagesordnung. Krankheiten und Kriege dezimierten die Bevölkerung, aber keineswegs im ausreichenden Maße.
»Wir haben diese und viele andere Probleme«, sagte Borg. »Einige unserer größten Denker haben bereits verzweifelt, aber ich sehe die Dinge etwas gelassener. Wir Reptilien haben schon früher schwere Zeiten erlebt, und wir haben uns hindurchgearbeitet. Wir werden diese Probleme lösen, wie wir unsere Probleme bisher immer gelöst haben. Selbst wenn es einmal zu den drastischen Klimaschwankungen kommen sollte, die unsere Wissenschaftler ständig prophezeien. Wissen Sie, ich habe immer an unserer Rasse eine innere Größe erkannt, einen Funken des kosmischen Bewußtseins, eine Unzwingbarkeit des Geistes. Ich kann nicht glauben, daß dieses Feuer einmal erlöschen wird.«
Carmody nickte und sagte: »Ihr Volk wird fortdauern.« Es blieb ihm wirklich nichts anderes übrig, als zu lügen wie ein Gentleman.
»Ich wußte es«, sagte Borg. »Trotzdem ist es gut, einmal eine Bestätigung für den eigenen Glauben zu erhalten. Ich danke Ihnen dafür. Und nun, nehme ich an, möchten Sie sich gerne mit Ihren Freunden unterhalten.«
»Welchen Freunden?« fragte Carmody.
»Ich meine das Säugetier, das gerade direkt hinter Ihnen erschienen ist«, erklärte Borg.
Carmody wandte sich um und sah einen kleinen, dicken Mann mit Brille in einem dunklen Geschäftsanzug, einem Schirm unter dem Arm und einem Aktenkoffer in der Hand. »Mr. Carmody?« fragte der Mann.
»Ja, ich bin Carmody«, sagte Carmody.
»Ich bin Mr. Surtees von der Steuerfahndung. Sie haben uns ganz schön in Atem gehalten, Mr. Carmody, aber die Steuer hat noch jeden erwischt.«
Borg sagte: »Das geht mich wohl nichts an.« Er ging und machte dabei für einen so großen Tyrannosaurus sehr wenig Lärm. Richtig leise war er.
»Sie haben ungewöhnliche Bekannte«, sagte Mr. Surtees und warf dem verschwindenden Borg einen scharfen Blick nach. »Aber das geht mich nichts an, auch wenn ich vermute, daß das FBI sich dafür interessieren dürfte. Ich bin hier einzig und allein wegen Ihrer Einkommenssteuererklärungen von 1965 und 1966. Ich habe in meiner Aktentasche eine außerordentliche Nacherklärung bei mir, die Sie in Ordnung finden dürften. Meine Zeitmaschine steht gleich dort hinter dem Baum. Ich würde vorschlagen, daß Sie, ohne Aufsehen zu erregen, mit mir kommen.«
»Nein«, sagte Carmody.
»Ich bitte Sie, das noch einmal zu überlegen«, drängte der Steuerfahnder. »Die Sache gegen Sie kann zur beiderseitigen Zufriedenheit beigelegt werden, wenn Sie unsere Ihnen gegenüber sehr großzügige Nachschätzung anerkennen. Aber dazu müssen Sie jetzt sofort mit mir kommen. Eine Steuerbehörde der Vereinigten Staaten läßt man nicht warten. Wenn Sie sich aber einer vernünftigen Lösung widersetzen sollten, bin ich vom Bundesgerichtshof bevollmächtigt -«
»Ich sagte bereits nein!« beharrte Carmody. »Sie können verschwinden. Ich weiß, wer Sie sind!«
Denn dies war ganz ohne jeden Zweifel der Jäger. Seine Tarnung als Steuerfahnder war unglaublich schlecht. Die Aktentasche und der Schirm hingen beide direkt aus dem rechten Arm. Das Gesicht wirkte zwar recht gelungen, aber es fehlte das rechte Ohr. Und, das schlimmste von allem, die Knie waren falschherum eingesetzt.
Carmody drehte sich um und ging davon. Der Jäger stand da, folgte ihm nicht, war offenbar gar nicht in der Lage ihm zu folgen. Er gab einen einzigen Schrei des Hungers und der Wut von sich. Dann war er verschwunden.
Carmody hatte wenig Zeit, sich selbst zu gratulieren, denn einen Augenblick später verschwand er selbst ebenfalls.
XXI
»So kommen Sie doch herein, nur herein mit Ihnen.«
Carmody blinzelte. Er tauschte nicht länger Ansichten mit einem Dinosaurier in der Kreidezeit aus. Er stand in einem kleinen, zugigen Zimmer. Durch die Schuhsohlen spürte er die Kälte des Steinbodens. Die Fenster waren rußgeschwärzt. Hohe Kerzen brannten mit unsicherem Flackern in einem runden Wandleuchter.
Ein Mann saß hinter einem hohen Jalousie-Schreibtisch. Aus einem langen, knochigen Gesicht ragte eine traurige, gebogene Riesennase. Die Augen darüber lagen tief in den Höhlen. Auf der linken Wange hatte er eine große, haarige Warze. Seine Lippen waren dünn und blutleer.
Der Mann sagte: »Ich darf mich als den ehrenwerten Clyde Beedle Seethwright vorstellen. Und Sie sind natürlich jener Mr. Carmody, der mir von Mr. Maudsley in seinem Schreiben so nachdrücklich anempfohlen wurde. Nehmen Sie doch bitte Platz, Sir. Ich will doch sehr vermuten, daß die Reise von Mr. Maudsleys Planet aus recht angenehm war und es Ihnen an nichts fehlt?«
»Es war ganz nett«, sagte Carmody und setzte sich. Er wußte, daß er es an taktvollem Benehmen mangeln ließ, aber die abrupten Transitionen begannen an seinen Nerven zu zehren.
»Und Mr. Maudsley ist wohlauf?« erkundigte sich Seethwright und hüstelte leise.
»Es geht ihm gut«, sagte Carmody. »Wo bin ich hier?«
»Sagte Ihnen denn das der Sekretär nicht, der Sie hereingeführt hat?«
»Ich habe keinen Sekretär gesehen. Ich habe mich nicht mal selbst reinkommen gesehen.«
»Na, na«, sagte Seethwright und schüttelte mild den Kopf. »Da wird doch wohl nicht wieder das Empfangszimmer aus der Phase gefallen sein. Ich habe es schon dutzendmal neu eingestellt, aber es desynchronisiert sich immer von selbst. Wie unangenehm für meine Klienten! Aber, denken Sie nur, für meinen armen Sekretär ist es noch viel schlimmer. Er fällt jedesmal mit aus der Phase und kann manchmal so für über eine Woche nicht nach Hause zu seiner Familie gehen.«
»Das ist ja wirklich böse«, sagte Carmody, der deutlich spürte, daß er dicht vor einem hysterischen Anfall stand. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, fuhr er fort, seine Stimme gewaltsam unter Kontrolle haltend, »dann erzählen Sie mir doch bitte einfach, was dieser Ort hier sein soll, und wie ich von hier nach Hause komme.«
»Beruhigen Sie sich doch bitte, lieber Mr. Carmody«, sagte Mr. Seethwright. »Darf ich Ihnen vielleicht eine Tasse Tee anbieten? Nein? Dieser >Ort<, wie Sie es zu bezeichnen belieben, ist das Galaktische Seinsbestimmungsbüro. Unsere Geschäftsbedingungen finden Sie dort eingerahmt an der Wand, wenn Sie einen Blick darauf werfen möchten.«
»Wie bin ich hierher gekommen?« wollte Carmody wissen.
Mr. Seethwright lächelte und legte die Fingerspitzen gegeneinander. »Sehr einfach, Sir. Nachdem wir Mr. Maudsleys Brief erhalten hatten, ordnete ich unverzüglich eine Suche an. Einer meiner Angestellten fand Sie auf Erde B3444123C22. Dies war ganz offensichtlich nicht der richtige Platz für Sie. Ich möchte damit sagen, daß Mr. Maudsley wirklich sein bestes für Sie getan hat, aber er ist eben nicht das Galaktische Seinsbestimmungsbüro. Deshalb nahm ich mir die Freiheit, Sie hierher transportieren zu lassen. Sollten Sie allerdings wünschen, auf die vorgenannte Erde zurückzukehren -«
»Nein, nein«, sagte Carmody. »Ich habe mich nur gerade darüber gewundert . . . Ich meine, Sie sagten dies ist ein galaktisches Seinsbestimmungsbüro, richtig?«
»Das Galaktische Seinsbestimmungsbüro«, korrigierte Seethwright freundlich.
»Okay! Dann bin ich also nicht auf der Erde.«
»Das sind Sie in der Tat mitnichten. Oder, um es noch deutlicher zu erläutern, Sie befinden sich auf keiner der möglichen, wahrscheinlichen, potentiellen und temporalen Welten der Konfiguration Erde.«
»Okay! Schön!« sagte Carmody schwer atmend. Er holte tief Luft. »Nun, Mr. Seethwright, sind Sie jemals auf einer dieser Erden gewesen?«
»Ich fürchte, ich muß eingestehen, daß ich bisher noch nicht das Vergnügen hatte. Meine Arbeit bindet mich sehr an mein Büro, sehen Sie, und die Wochenenden verbringe ich mit meiner Familie in unserem Cottage auf . . .«
»Das reicht!« brüllte Carmody abrupt los. »Sie behaupten also, noch nie auf der Erde gewesen zu sein. In diesem Fall, warum in Gottes Namen, sitzen Sie hier in einem Zimmer herum, das direkt aus einem Roman von Dickens stammt? Mit Kerzen und einem altmodischen Zylinderhut? He? Geben Sie mir da doch mal eine Antwort drauf, auch wenn ich die Antwort schon kenne. Denn die kann nur sein, daß irgendwo ein verdammter Scheißkerl mir LSD in den Tee getan hat, und ich diese verdammte Sache bloß zusammenspinne, Sie eingeschlossen, Sie grinsender bartloser Weihnachtsmann!«
Carmody sackte in seinem Stuhl zusammen, atmete wie eine Dampfmaschine und starrte triumphierend auf Seethwright. Er wartete darauf, daß sich vor seinen Augen alles auflösen würde, daß seltsame Schatten tanzen würden, und daß er selbst endlich zu Hause im Bett aufwachen würde, oder meinetwegen bei einer Freundin oder wenigstens in einem Krankenhaus.
Nichts geschah. Carmodys Triumphgefühl schmolz dahin. Er fühlte sich völlig verwirrt, aber er war plötzlich viel zu müde, um sich noch Gedanken darüber zu machen.
»Haben Sie Ihren Anfall jetzt hinter sich?« fragte Mr. Seethwright endlich frostig.
»Ja, ich bin fertig damit«, bestätigte Carmody. »Es tut mir leid.«
»Keine Umstände«, sagte Seethwright ruhig. »Sie stehen unter erheblichem Druck, man kann das verstehen. Aber ich kann nichts für Sie tun, solange Sie sich nicht selbst unter Kontrolle halten können. Mit Intelligenz finden Sie vielleicht einen Weg nach Hause; mit wilden Gefühlsausbrüchen kommen sie nirgendwo hin.«
»Es tut mir wirklich leid«, sagte Carmody.
»Was dieses Zimmer hier angeht, dessen Dekoration Sie so aufgeregt zu haben scheint, es wurde eigens für Sie entsprechend eingerichtet. Die dargestellte Epoche ist natürlich nur eine ungefähre zeitliche Annäherung. Das beste, was ich aus Mr. Maudsleys kurzem Hinweis machen konnte. Es wurde alles so vorbereitet, damit Sie sich hier ein wenig zu Hause fühlen können.«
»Das war sehr rücksichtsvoll von Ihnen«, bedankte sich Carmody. »Ich vermute Ihre äußere Erscheinung -«
»Ja, präzise«, bestätigte Mr. Seethwright lächelnd. »Ich habe mich selbst genauso dekoriert wie das Zimmer. Das war wirklich keine besondere Arbeit für mich. Es ist die besondere Note meines Geschäfts, sich so weit wie möglich auf den Kunden einzustellen, und meine Kundschaft weiß das zu schätzen.«
»Ich weiß es auch zu schätzen«, sagte Carmody schnell. »Nachdem ich mich jetzt erstmal daran gewöhnt habe, ist es sehr erholsam.«
»Ich habe gehofft, daß es einen beruhigenden Einfluß auf sie haben würde«, sagte Seethwright. »Und ich bin hocherfreut, daß derselbe sich nun einzustellen beginnt. Was Ihre Vermutung angeht, dies alles widerfahre Ihnen nur im Traum - nun, diese Vermutung hat einiges für sich.«
»Was hat sie?«
Mr. Seethwright nickte heftig. »Ja, ja. Sie hat als Vermutung ganz unübersehbare Vorzüge, aber sie besitzt natürlich keinerlei Wert als Tatsachenbeobachtung.«
»Oh«, sagte Carmody und sank in seinem Stuhl zurück.
»Wenn man es genau nimmt«, fuhr Seethwright fort, »gibt es keinen sehr wichtigen Unterschied zwischen imaginären und realen Ereignissen. Die ihnen zugeschriebene Gegensätzlichkeit ist rein verbal konstruiert. Sie träumen dies hier nicht, Mr. Carmody. Aber ich weise darauf nur als nebensächliche Information hin, die Ihnen keinerlei Nutzen bringt. Denn selbst wenn Sie das alles hier nur träumen würden, würden Sie genauso handeln müssen wie jetzt.«
»Ich verstehe das nicht ganz«, erwiderte Carmody, »aber ich will Ihnen glauben, daß dies alles real ist.« Er zögerte, dann meinte er: »Aber, was ich wirklich nicht verstehe, warum ist hier alles so? Ich meine, das Galactic Center sah aus wie von einem Analog-Cover, und Borg, der Saurier, redete nicht wie ein Saurier, selbst ein sprechender SaurierA sollte anders reden, und . . .«
»Bitte, regen Sie sich nicht wieder auf, lieber Mr. Carmody«, beschwichtigte Seethwright.
»Entschuldigung«, sagte Carmody.
»Sie wollen von mir erklärt bekommen, warum die Realität so ist, wie sie ist«, erklärte Seethwright. »Aber dafür gibt es keine Erklärung. Sie müssen einfach lernen, Ihre Vorstellungen dem anzupassen, was Sie vorfinden. Sie können nicht erwarten, daß sich die Realität Ihren Vorstellungen anpaßt, also müssen Sie sich der Realität anpassen. Es gibt keine Hilfe, wenn die Dinge sehr fremd sind, aber Sie können auch nichts machen, wenn die Dinge sehr vertraut sind. Sie müssen nehmen,, was kommt. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?«
»Ich glaube schon«, antwortete Carmody.
»Wunderbar! Sie sind sicher, daß Sie keine Tasse Tee mögen?«
»Nein, vielen Dank!«
»Dann müssen wir uns nun darum kümmern, wie wir Sie nach Hause bekommen«, sagte Seethwright. »Nichts richtet einen wieder so auf wie die Heimat, die gute alte Mutter Erde, nicht wahr?«
»Nichts!« versicherte Carmody. »Wird es sehr schwierig werden, Mr. Seethwright?«
»Nein, ich würde es eigentlich nicht als schwierig bezeichnen«, erläuterte Seethwright. »Es wird natürlich ein wenig kompliziert sein, rigorose Maßnahmen verlangen und sogar gewisse Risiken bergen. Aber ich würde das alles nicht schwierig nennen.«
»Was würden Sie denn schwierig nennen, Mr. Seethwright?«
»Die Lösung von quadratischen Gleichungen«, erwiderte Seethwright. »Ich komme einfach nicht damit klar, obwohl ich es schon eine Million oder mehr Male versucht habe. Das, Sir, ist wirklich etwas Schwieriges. Aber nun zu Ihrem Fall zurück.«
»Wissen Sie wo die Erde ist?« fragte Carmody.
>»Wo< ist in Ihrem Fall nicht das Problem«, erklärte Seethwright. »Beim >Wo< sind Sie bereits gewesen, aber das hat Ihnen nicht viel geholfen, da Sie das richtige >Wann< so weit verfehlt haben. Aber, ich glaube sagen zu dürfen, daß wir auch das >Wann< jetzt ohne allzu große Ungenauigkeiten bestimmen können. Das >Welche< ist es, was die Sache so verwickelt macht.«
»Kann uns das aufhalten?«
»Überhaupt nicht natürlich«, versicherte Seethwright. »Wir müssen einfach systematisch alles durchgehen und heraus sortieren, zu >Welcher< Sie ganz genau gehören. Dieser Vorgang ist absolut simpel und geradlinig; kinderleicht, wie Sie es ausdrücken würden.«
»Hört sich gut an«, meinte Carmody. »Aber was ist, wenn man kein Kind mehr ist?«
»Sie müssen schon entschuldigen, aber die Metapher habe ich bei Ihnen entliehen. Die Fähigkeiten menschlicher Kinder sind mir im einzelnen nicht so vertraut, aber ich vermute, was einem durchschnittlich begabten Kind Ihrer Rasse gelingt, sollte Ihnen nicht schwer fallen. Obwohl Kinder Ihnen in vielen imaginativen Dingen überlegen sein dürften. Nein, Sie werden sofort erkennen, daß dieses Projekt eine zutiefst simple Vorgehensweise verlangt.«
»Das hoffe ich«, sagte Carmody. »Ich kann schon verstehen, daß die Suche nach meiner bestimmten Erde unter den verschiedenen alternativen Erden des >Welche< im Prinzip einfach ist, aber ein Erfolg könnte in Folge der zu großen Zahl der Auswahlmöglichkeiten trotzdem problematisch sein.«
»Das ist zwar nicht ganz die Wahrheit, aber doch sehr schön ausgedrückt«, lobte Seethwright strahlend. »Komplikationen können etwas sehr Nützliches sein, helfen Sie uns doch ein Problem abzugrenzen und zu spezifizieren, wie auch in diesem Falle.«
»Ja . . . und was passiert nun?«
»Nun machen wir uns an die Arbeit«, sagte Seethwright und rieb sich die Hände. »Meine Mitarbeiter haben eine Auswahl der verschiedenen Alternativwelten zusammengestellt. Wir sind zuversichtlich, daß sich die richtige darunter befinden wird. Aber letztgültig können das natürlich Sie selbst feststellen.«
»Also werfe ich einen Blick auf die Auswahl und treffe dann meine persönliche Entscheidung«, vermutete Carmody.
»In etwa« erwiderte Seethwright. »Tatsächlich geht es so vor sich, daß Sie diese Welten durchleben werden. Sobald Sie dann sicher sind, ob wir Ihre richtige Heimat getroffen haben, geben Sie uns ein Signal, und die Sache ist erledigt. War es die falsche, geben Sie uns ein Signal, und wir versetzen Sie auf die nächste.«
»Das klingt vernünftig«, bestätigte Carmody. »Gibt es viele von diesen möglichen Welten?«
»Eine unbestimmbare Anzahl, wie Sie schon vorhin vermutet haben. Aber wir haben berechtigte Hoffnung, daß unsere Vorauswahl einen raschen Erfolg ermöglichen wird, falls . . .«
»Falls, was?«
»Falls Ihr Jäger Sie nicht vorher zu fassen bekommt.«
»Mein Jäger!«
»Er ist Ihnen noch immer auf den Fersen«, erklärte Mr. Seethwright. »Und wie Sie inzwischen wissen dürften, besitzt er die Fähigkeit, relativ raffinierte Fallen zu stellen. Diese Fallen entwickelt er aus Ihren eigenen Erinnerungen. Man könnte sie eine Art >terraformes Bühnenbild< nennen, alles so inszeniert, daß Sie verlockt werden sollen, ihm direkt ins offene Maul zu laufen.«
»Kann er auf Ihre Welten Einfluß nehmen?« fragte Carmody. »Könnte er dort auf mich warten?«
»Das wird er bestimmt«, antwortete Seethwright. »Es gibt während des Such Vorganges keine sichere Zukunft für Sie. Im Gegenteil - je besser und gezielter die Suche ist, je näher sie dem Ziel kommt, desto gefährlicher wird es für Sie. Er wird , dicht vor Ihrer Haustür lauern, nicht irgendwo am anderen Ende der Wahrscheinlichkeitsskala, wo Sie wahrscheinlich nie vorbeikommen. Sie haben mich vorhin nach Träumen gefragt und nach Realem und Imaginären. Nun, jetzt sollen Sie eine Antwort bekommen. Alles, was Ihnen helfen wird, tut das offen. Alles, was Ihnen an den Kragen geht, bedient sich Illusionen, Verkleidungen und Träumen.«
»Gibt es denn nichts, was Sie gegen diesen Jäger tun können?« wollte Carmody wissen.
»Nichts. Und selbst wenn ich könnte, dürfte ich es nicht. Die Jagd ist eine kosmische Notwendigkeit. Selbst die Götter werden irgendwann vom Schicksal gefressen. Sie werden keine Ausnahme von diesem universalen Gesetz verlangen können.«
»Ich dachte mir schon, daß Sie so etwas antworten würden«, sagte Carmody. »Aber können Sie mir nicht irgendeinen Hinweis geben? Einen Tip, worin sich die Welten, zu denen Sie mich schicken werden, von denen des Jägers unterscheiden werden?«
»Für mich wären solche Unterschiede offensichtlich«, antwortete Seethwright. »Aber wir haben beide unterschiedliche Wahrnehmungsapparate. Meine Erkenntnisse können Ihnen nichts nützen, Mr. Carmody. Ihre würden mir übrigens genausowenig helfen. Bisher ist es Ihnen ja doch auch gelungen, dem Jäger zu entkommen.«
»Ich hatte Glück.«
»Da haben wir es! Ich besitze große persönliche und technische Fähigkeiten, Geschicklichkeit, aber besonderes Glück habe ich nie gehabt. Wer kann sagen, welche dieser Gaben in der nächsten Zeit am meisten von Nutzen sein vyird? Ich nicht, Sir, und sicher auch nicht Sie. Nehmen Sie sich ein Herz, Mr. Carmody, vertrauen Sie auf sich selbst und auf Ihr Glück; wie Sie gemerkt haben, ist das nicht wenig. Seien Sie vorsichtig, wenn alles zu gut aussieht, aber auch nicht übervorsichtig, sodaß Sie Ihrer eigenen Welt nicht trauen, wenn Sie die gefunden haben.«
»Was passiert denn, wenn ich meine Welt nun versehentlich verpasse, wenn ich sie nicht erkenne?« fragte Carmody.
»Dann wird Ihre Suche niemals mehr enden«, erzählte Seethwright ihm mit dumpfer Stimme. »Nur Sie allein, können uns sagen, wo Sie wirklich hingehören. Sollten Sie aus irgendeinem Grund Ihre Welt unter den wahrscheinlichsten nicht finden, dann müssen wir die Suche bei den weniger wahrscheinlichen fortsetzen, den kaum wahrscheinlichen und zuletzt bei den unwahrscheinlichen. Die Zahl der Möglichkeitserden ist nicht unbegrenzt, aber aus Ihrer Perspektive dürfte sie Ihnen so erscheinen. Sie selbst sind einfach nicht von der ausreichenden Dauer, um alle durchzusuchen und dann noch einmal von vorne zu beginnen.«
»Alles klar«, sagte Carmody, klang aber nicht sehr überzeugt. »Ich nehme an, es gibt keinen anderen Weg.«
»Es gibt keinen anderen Weg, wie ich Ihnen helfen kann«, bestätigte Seethwright. »Und ich bezweifele, ob es überhaupt irgendeinen möglichen Weg gibt, der nicht genauso Ihre aktive Mitarbeit verlangt, wie meine Methode. Aber wenn Sie es wünschen, werde ich gerne eine Untersuchung über alternative galaktische Lokalisationstechnologie in Auftrag geben. Es wird eine Weile dauern, aber . . .«
»Ich glaube, ich habe keine Weile mehr Zeit«, sagte Carmody. »Ich nehme an, mein Jäger ist mir schon dicht auf der Fährte. Mr. Seethwright, bitte senden Sie mich zu den Möglichkeitserden, und seien Sie meiner Dankbarkeit für Ihre Geduld und Ihre Anteilnahme versichert.«
»Herzlichen Dank«, sagte Seethwright, angenehm berührt. »Ich wünsche Ihnen, daß schon die erste Welt, die von Ihnen gesuchte sein wird, und falls nicht, alles Gute für die weitere Suche.«
Seethwright drückte auf einen Knopf an seinem Schreibtisch. Nichts passierte, bis Carmody blinzelte. Dann passierte es sehr schnell, denn als sich Carmodys Augen wieder öffneten, befand er sich auf der Erde oder einer ihrer möglichen Alternativen.