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Im ersten Augenblick glaubte er, daß die ALBIREO unverhofft gestartet sei, aber dann entschied er sich dafür, daß sie einfach umgefallen war. Schließlich aber rang sich in ihm die Erkenntnis durch, daß das Schiff zwar immer noch stand, der Fels darunter jedoch eine abrupte Aufwärtsbewegung durchgeführt hatte.

Erdbeben waren so häufig, daß niemand sie noch beachtete, aber dieses war kaum zu ignorieren. Captain Rowson vergaß seine gute Erziehung und fluchte wie nie zuvor in seinem Leben. Er widerlegte damit seine Behauptung, bei der Raumfahrt müsse man auf Abenteuer verzichten. So schnell er konnte, eilte er nach unten, um die Schäden im Maschinenraum zu untersuchen. Schloßberg und Babineau folgten ihm. Der Arzt blieb einen Augenblick bei Zaino stehen und fragte ihn, ob er verletzt sei. Der Funker schüttelte den Kopf und widmete sich seiner ursprünglichen Aufgabe. Dr. Burkett redete schon wieder, aber sie sprach schneller als vorher:

„… spielt keine Rolle, wenn die Probe nicht richtig befestigt ist.

Wenn wir sie verlieren, holen wir uns später eine neue. Es ist genug davon vorhanden. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Arnie, stellen Sie die Verbindung zu Mardikian und Marini her. Sagen Sie ihnen, daß der Vulkan gefährlich ist. Der Verlauf des Lavastroms läßt sich ebenfalls nicht voraussagen. Jeder Traktor sollte so schnell wie möglich zum Schiff zurückkehren. Vergessen Sie nicht, daß wir die großen Krater, die Eileen entdeckte, nicht für Meteoreinschläge hielten. Ich habe keine Ahnung, ob der Vulkan in einer Stunde, in einem Jahr oder überhaupt nicht explodiert, aber wenn er es tut, bleibt auch so ein Krater zurück. Vielleicht fungiert er aber auch nur als eine Art Sicherheitsventil. Ren, der Strom wird schneller und dicker, auch, fällt mehr Asche. Sehen Sie genug, um fahren zu können?“

Zaino wartete einen Moment, dann stand er auf und ging zur nächsten Sichtluke. Er wollte sich den Vulkan ansehen.

Er bereute es nicht.

Jenseits der Ebene, deren kleinere Spalten durch die neue Ascheschicht verdeckt waren, ragte der schwarze Kegel empor. Er war viel größer als noch vor einigen Stunden. Die Rauchsäule, die aus dem Krater stieg, war dicker geworden. Der Wind schien ihr nichts mehr anhaben zu können, denn sie stieg fast senkrecht in den Himmel. Es war nicht so finster, wie Zaino erwartet hatte. Rot- und gelbglühende Lavabrocken flogen in die Höhe und stürzten wieder zurück. In einige Kilometern Höhe verbreitete sich die Rauchsäule und verwandelte sich in eine regelrechte Wolkendecke.

Ganze Kaskaden weißer Blitze schössen von der Wolke zum Vulkan oder direkt zur Oberfläche herab. Der Donner war nicht zu hören, wohl aber das unheimliche Rauschen der aus den Tiefen des Merkur strömenden Gase. Es war ein Rauschen, das alle Tonarten in sich vereinigte und das man mehr im Vibrieren der Brust spürte, als daß man es mit den Ohren hätte hören können. Es übertönte trotzdem sogar das Fluchen des Captains.

Lange starrte Zaino auf die größer und dunkler werdende Wolke und fragte sich, ob die ALBIREO dem Einschlag eines Blitzes Widerstand leisten würde. Hoch über der ringförmigen Wolke kletterte die Rauchsäule weiter in die dünne Atmosphäre — und noch höher. Zaino besaß genügend Erfahrung, um beurteilen zu können, ob Rauch oder Staub innerhalb einer Gashülle schwebte oder nicht.

Und dann drehte er sich plötzlich ganz ruhig um und kehrte an seine Geräte zurück. Ohne jede Aufregung richtete er die Sendeantenne neu ein und rief Eileen Harmon.

Sie antwortete sofort.

Ohne unterbrochen zu werden, berichtete Zaino von dem, was inzwischen vorgefallen war. Als er schwieg, konnte er hören, wie die Stratigraphin mit ihrem Kollegen konferierte, dann gab sie zurück:

„Wir versuchen, in zwölf Stunden dort zu sein.“

Das war alles.

Zaino lehnte sich zurück und überlegte, ob er Rowson an das Versprechen erinnern sollte, das er ihm gegeben hatte.

Alle vier Traktoren befanden sich nun auf dem Heimweg, die Frage war nur, ob sie es rechtzeitig schaffen würden. Hargedon und Burkett kämpften sich durch den immer stärker fallenden Ascheregen, der ihnen nicht nur die Sicht nahm, sondern auch die Fahrbahn zu blockieren drohte. Der Wind war zum Sturm geworden; er fegte am Schiff vorbei auf den Vulkan zu und trieb den Staub gegen die Windschutzscheibe des Traktors, hinter dem der Lavastrom schneller als bisher floß. Es war sogar eine gewisse Wellenbewegung zu erkennen, und an einigen Stellen ein mattes, unheimliches Glühen.

Etwa hundertfünfzig Kilometer östlich fuhren die beiden Traktoren mit Mardikian, Marini und ihren Fahrern nach Südwesten. Sie hatten sich auf den Karten einen neuen Weg aussuchen müssen, denn der Lavastrom hatte den alten unpassierbar gemacht.

Mardikian, der drei Stunden Vorsprung vor Marini besaß, teilte mit, daß er vor sich vier gewaltige Rauchsäulen sähe, die von neuen Vulkanen stammen müßten.

Es schien ganz so, als wäre Merkur in eine neue Phase seiner Entwicklung getreten. Möglich, daß die Karten bereits jetzt keine Gültigkeit mehr besaßen.

Harmon und Trackman hatten im Augenblick keine Schwierigkeiten, aber später mußten sie an der großen Schlucht vorbeifahren. Dort, wo vor einigen Stunden Zaino und Hargedon gewesen waren, gab es bereits keinen Weg mehr. Unzählige kleinere Spalten und Risse gingen von der Schlucht aus und machten ihre nähere Umgebung unpassierbar. Soviel war vom Schiff aus zu sehen, aber niemand wagte es, jetzt hinauszugehen, um sich von dem Ausmaß der neuen Gefahr zu überzeugen.

„Wir sehen das Schiff.“ Das war Burketts Stimme, und sie klang erleichtert. „Noch einen Kilometer. Wir haben einen guten Vorsprung gewonnen. Die Lavaflut folgt uns.“

„Schnell?“ fragte Rowson gespannt. Er war aus dem Maschinenraum gekommen, als er von Zainos Funkkontakt hörte.

„Nun…“

„Wie schnell? Wann wird der Strom beim Schiff sein? Haben Sie eine Ahnung, ob der Kontakt der Materie mit dem Schiff schädlich ist oder nicht?“

„Die Geschwindigkeit kann ich nicht genau abschätzen, sie ist geländebedingt. Ich schätze, daß die Flut in zwei, oder auch erst in fünf, sechs Stunden hier sein kann. Der direkte Kontakt mit dem Schiff bedeutet unweigerlich das Ende. Die Temperaturen, die ich messen konnte, liegen über dem Schmelzpunkt der Legierungen, aus denen die Hülle der ALBIREO besteht. Sie steigen ständig.

Wenn die anderen es bis dahin nicht schaffen, werden sie niemals durchkommen. Die Traktoren würden schmelzen. Von einem Fußmarsch durch die Lava wollen wir erst gar nicht reden.“

„Und mehr als fünf oder sechs Stunden geben Sie uns nicht?“

„Das ist sogar eine optimistische Schätzung. Wenn Sie wollen, kann ich anhalten und eine Geschwindigkeitsmessung vornehmen, aber sie wird nicht zuverlässig sein. Ich betonte das schon.“

Rowson dachte einen Augenblick nach.

„Nein, lassen Sie das. Kommen Sie so schnell wie möglich hierher. Wir brauchen den Traktor dringend. Und Ihre Kräfte.“ Er wandte sich an Zaino: „Teilen Sie den anderen mit, daß sie längere Zeit nichts von uns hören werden, weil sich niemand an Bord der ALBIREO aufhält. Dann ziehen Sie den Raumanzug an und kommen nach draußen.“

Ohne eine Erwiderung abzuwarten, verschwand der Captain.

Zehn Minuten später standen sechs Menschen in ihren Raumanzügen vor dem Schiff um den Traktor herum. Die Dunkelheit wurde immer wieder durch aufzuckende Blitze unterbrochen, und der Ascheregen war noch dichter geworden. Die Wolke reichte nun bis zum Horizont. Von der Sonne war nichts mehr zu sehen.

Burkett und Hargedon waren gut durchgekommen, aber Rowson hatte keine Zeit, ihnen zu ihrem Erfolg zu gratulieren.

„Wir müssen hart arbeiten“, sagte er. „Es dürfte zwar nicht schwer sein, mit einem Raketenstoß einen Ringwall von Asche um das Schiff zu legen, der die Lava abhalten würde, aber das ist ja nicht das Hauptproblem. Wir müssen vielmehr dafür Sorge tragen, daß der Strom nicht südlich von hier die Schlucht erreicht. Damit wäre den anderen der Rückweg vollends abgeschnitten. Geschähe das, wären sie verloren. Ich sagte schon, daß wir schwer arbeiten müssen, um es zu verhindern, aber uns bleibt keine andere Wahl.

Wir müssen den Traktor benutzen. Leider hat er keinen Pflug, und ich kann mir auch nicht vorstellen, wie wir jetzt schnell einen herstellen sollten. Aber wir haben Schaufeln. Die Asche ist leicht, aber der Damm, den wir bauen müssen, darf nicht unter zwei Kilometer lang sein. Ich weiß, eine unmöglich scheinende Aufgabe, aber wir müssen sie bewältigen.“

„Kommen Sie, Arnie“, sagte die Mineralogin. „Sie sind jung und auch stark. Sie können genauso viel tragen wie ich. Übrigens hörte ich, daß Sie Glück hatten und Eileen unterrichten konnten.

Hat der Captain schon die versprochene Runde ausgegeben?“

„Es war nicht nur Glück“, gab Zaino zurück. „Ich war eben klug genug, die vorhandenen Bedingungen auszunutzen, die von den Wissenschaftlern einfach ignoriert wurden. Ich sah nämlich…“

Er hörte plötzlich auf zu sprechen und zu arbeiten. Er starrte Rowson entgeistert an.

„Captain!“

„Ja, was ist?“

„Wir bauen den Damm doch nur, um die Lava abzuhalten, damit wir ungestört hier arbeiten können — war es nicht so?“

„Schätze schon. Haben Sie eine bessere Idee? Natürlich wäre der Damm im Tal drüben kürzer, aber bis wir dort wären, ist es zu spät. Oh — warten Sie …“

„Sie wissen also, was ich meine? Gut, wo sind die atomaren Sprengkörper, die wir für die seismologischen Untersuchungen nicht benötigten?“

Vier Minuten später saßen Rowson und Zaino in dem Traktor und entfernten sich von der ALBIREO. Wiederum sechs Minuten danach hielten sie am Nordrand des Tals, durch das der Lavastrom floß. Ein gewaltiger Aschenkegel türmte sich hier auf. Sie stiegen aus der sicheren Kabine und legten den Rest des Weges zu Fuß zurück. Jeder war mit schweren Paketen beladen.

Siebenundvierzig Minuten später kehrten sie mit leeren Händen zum Traktor zurück, aber sie kamen ein wenig zu spät. Das Fahrzeug war bereits von der herankriechenden Lava völlig eingeschlossen.

Ohne sich lange aufzuhalten, rannten sie weiter, quer durch die aufwirbelnde Asche und weg von der drohenden Lavaflut. Die ungefähre Richtung zum Schiff kannten sie, wenn es auch im Schleier der herabregnenden Staubpartikel vorerst unsichtbar blieb.

Einmal mußten sie einen Umweg um eine Spalte machen, das andere Mal wäre der Umweg zu groß gewesen. Springen schien unmöglich, aber sie schafften es trotzdem.

Und dann wurde die Dunkelheit plötzlich von grellen Blitzen zerrissen. Drüben im Tal waren die atomaren Ladungen detoniert.

„Ob wir zurückgehen und nachsehen, ob es klappte?“ fragte Zaino.

„Wozu? Die einzige Ladung, die wir noch besitzen, ist im Traktor. Wenn es also nicht klappte, wäre es völlig sinnlos, zurückzugehen. — Dr. Burkett, hören Sie mich?“

„Ja, Captain.“

„Wir haben keinen Traktor mehr, aber wenn Sie es ohne versuchen wollen, steht dem nichts mehr im Wege. Ich möchte die Geschwindigkeit des Lavastromes ziemlich exakt wissen. Arnie wiederum möchte wissen, ob der Verlust des Traktors sich bezahlt machte und das Experiment gelang.“

Aber noch bevor sie das Schiff erreichten oder Dr. Burkett ihre Berechnungen anstellen konnte, wußten sie es. Der Lavastrom hielt natürlich nicht an, aber er staute sich an dem plötzlichen Hindernis — einer Mauer aus Asche, mehr als hundert Meter hoch und einen Kilometer lang. Die Vorläufer, diesseits der Sperre, waren vom Nachschub abgeschnitten, drangen aber weiter vor.

Doch das war nur möglich, indem sich die Lava ausbreitete — und dabei kühlte sie sich ab, erhärtete und hielt an.

Nach sechs Stunden war der Strom immer noch anderthalb Kilometer vom Schiff entfernt und nur noch zwanzig Zentimeter dick.

Als Mardikians Traktor eintraf, war Dr. Burkett gerade damit beschäftigt, die Lavamasse zu analysieren. Das Ergebnis ließ sie nicht fröhlicher werden, und sie begann sich auszurechnen, wie lange es wohl noch dauern würde, bis dieser Teil des Planeten einfach explodierte. Endlich kamen auch Marini und Harmon. In aller Eile wurden die Traktoren verladen und das Schiff startklar gemacht.

Keine zehn Minuten, nachdem der letzte Mann an Bord war, wurden die Triebwerke gezündet. Die ALBIREO verließ die Oberfläche des Merkur in einer Hast, die sich etwas später als unnötig erweisen sollte.

Sie ging in eine Kreisbahn, und es dauerte ganze fünfundvierzig Stunden, bis der erste der Vulkane dem Druck der ausströmenden Gase nicht mehr standhielt. Der Vulkan beim Schiff explodierte als vierter.

„Das wäre es also“, sagte Camille Burkett und sah hinab auf die Oberfläche der kleinen Welt, die nun hundertfünfzig Kilometer unter dem Schiff lag. „Ein Gürtel weißglühender Krater — ein schöner Anblick, wenn man etwas für Symmetrie übrig hat.“

„Aus dieser Entfernung sieht es wirklich nicht schlecht aus, außerdem ist es nicht so gefährlich.“ Zaino schwebte schwerelos neben Dr. Burkett. „Was meinen Sie, wäre der Captain mir jetzt nicht zwei Runden schuldig? Schließlich bin ich es gewesen, der auf die Idee kam, die Kilotonnenbomben der Seismologen in die Luft zu jagen.“

„Ich an Ihrer Stelle würde den Mund halten“, riet sie. „Jeder von uns hätte auf die Idee kommen können…“

„Stimmt, fragt sich nur, wann das geschehen wäre.“

„Immerhin, Ihre andere Idee war besser und paßt auch mehr zu Ihren speziellen Fähigkeiten, trotzdem frage ich mich, wie Sie auf den Gedanken kamen, Eileen zu empfehlen, die Rauchwolke des Vulkans als Reflektor für die Funkwellen zu benutzen — und es selbst auch zu tun. Woher konnten Sie wissen, daß die Wolke elektrisch aufgeladen war? War das nur so ein plötzlicher Einfall von Ihnen, ein Geistesblitz?“

Zaino dachte an jene Sekunden zurück und mußte lächeln. Er sah noch einmal den Blitz, der von der Wolke herabkam und in den Vulkankegel schlug.

„Nun, vielleicht weniger ein Geistesblitz“, sagte er schließlich.

„Ich habe mir eben meine Gedanken gemacht — und das sollte man öfter tun.“

Dr. Camille Burkett fand die einfache physikalische Erklärung erst nach langem Nachdenken.


Scan by Brrazo 11/2004

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