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Immer noch pfiff der Wind durch die Verstrebungen der Landebeine und Steuerflächen. Es war der gleiche Wind, der die Landung der ALBIREO fast vereitelt und in eine Katastrophe verwandelt hätte.

Schloßberg kümmerte sich nicht um das Heulen des Windes, als er zum fünften Deck hinunterstieg. Die ständigen Erdstöße machten ihm schon eher zu schaffen, und er hätte unter diesen Umständen lieber auf die Benutzung der Treppen und Leitern verzichtet. Aber er war neugierig, wenn auch nicht gerade voller Hoffnung.

„Etwas Interessantes auf den Registrierbändern, Joe?“

Mardikian, der Geophysiker, zuckte mit den Schultern.

„Was erwarten Sie schon hier? Auf einem Planeten, wo auf einer Fläche von fünfzig Quadratmeilen alle fünf Minuten ein Erdbeben stattfindet. Wie Sie wissen, hatten wir uns ein ganzes Programm vorgenommen, aber schon unmittelbar nach der Landung wurde klar, daß wir es niemals würden durchführen können.

Allein die kleinen und natürlichen Beben haben fast alle unsere Bänder aufgebraucht. Gewiß, zu Hause werden sie etwas damit anfangen können, weil ihnen andere Mittel als uns zur Verfügung stehen, aber ich bezweifle, daß sie schlau daraus werden.“

Schloßberg nickte. Die Belehrung war unnötig gewesen. Sein eigenes astronomisches Programm war in Mitleidenschaft gezogen worden, weil die Geophysiker die ganzen Bänder für sich beanspruchten.

„Ich hatte nur gehofft, wir würden etwas mehr herausfinden.

Jeder von uns hat seine eigenen Theorien hinsichtlich der Atmosphäre, die in den vergangenen Jahrzehnten auf Merkur entstanden ist, aber wahrscheinlich werden erst unsere Kinder wissen, ob wir uns irrten oder nicht. Gleicht unser Universum nicht dem Schachspiel? Es gibt nur wenige und relativ einfache Regeln, aber eine Unzahl möglicher Kombinationen.“

„Wir werden schon eine Antwort finden. Um ehrlich zu sein, ich hätte schon ein paar. Was machen übrigens die anderen Programme?“

„Laufen so. Ich bin fast fertig mit meinem. Einige Instrumente sind noch auf die Sonne gerichtet. Alle Daten habe ich soweit auf Band.“

„Ausgezeichnet. Und was ist mit Ihnen, Tom?“

Der Biologe grinste.

„Zweihundertsechzehn verschiedene Arten von Fels und Staub.

Ich habe allein zwöf Kristallstrukturen entdeckt, die vegetabile Formen besitzen. Trotzdem behaupte ich: Merkur birgt kein Leben, oder nichts, was wir darunter verstehen.“

Mardikian nickte mitfühlend.

„Camille?“

„Ob ich heute oder morgen mit meiner Arbeit aufhöre, spielt keine große Rolle. Ich schaffe es so oder so nicht. Aufzeichnungen habe ich genug, ich frage mich nur, wieviel Gewicht an Proben ich mitnehmen darf.“

„Eileen?“

„Ich schließe mich Cams Meinung an, nur könnte ich noch Bänder gebrauchen. Meine sind voll.“

„Ich bin der Übeltäter. Die letzten Rollen sind im Seismographen. In siebzehn Stunden sind auch sie voll. Kurz vorher werden die Traktoren mit ihrer letzten Rundfahrt beginnen und in etwa einer Woche zurück sein. Ich denke, Will, das ist genügend Zeit zum Ausrechnen, was wir auf dem Rückflug an Proben mitnehmen können.“

Der Captain der ALBIREO nickte.

„Ich denke schon. An und für sich war das von Anfang an kein großes Problem, da wir nichts entdeckten, was die Mühe lohnend machte. In einer Stunde kann ich Ihnen genauere Angaben mitteilen, aber soviel kann ich Ihnen schon jetzt sagen: Die drei müssen sich etwa anderthalb Tonnen an Gewicht teilen.“ Er sah auf den Datumskalender. „In dreihundertzehn Stunden ist die beste Zeit für den Start. Wir können auch vorher starten und in eine Kreisbahn gehen. Es liegt bei Ihnen.“

„Wenn ich nur wüßte“, sagte Camille Burkett, „ob es überall so trostlos aussieht wie hier. Der ganze Planet kann doch nicht so sein!“

Willard Rowson lächelte.

„Wir haben Merkur zehn Tage lang umkreist, ehe wir hier landeten. Sie hatten alle genug Gelegenheit, sich einen Platz auszusuchen. Sie wollten diesen. Hätten Sie wenigstens fünf Tonnen einer Materie gefunden, die wir für die Reaktoren gebrauchen könnten, so würde ich Sie an einen anderen Ort bringen, wenn Sie es wünschten. Kommen Sie mir also bloß nicht und sagen, ich hätte schuld.“

„Da säßen wir also hier herum, bis die Fahrzeuge zurückkommen?“ Zaino, der Funkspezialist, schüttelte sich. „Noch so ein paar von den Erdbeben, und ich verliere meine Zähne. Was für ein glorreiches Abenteuer!“

Kein Wunder, wenn Zaino keine Lust mehr hatte. Seit der Landung des Schiffes war er so gut wie arbeitslos geworden. Er langweilte sich. Rowson sah ein, daß er darauf antworten mußte.

„Wenn Sie Abenteuer erleben wollten, durften Sie nicht Raumfahrer werden. Die gibt es nur in Geschichten oder Romanen.

Wenn jemand wirklich ein Abenteuer erlebte, berichtet er nur selten davon. Wenn Dr. Marini nicht im letzten Augenblick Merkurungeheuer entdeckt, die das Schiff angreifen oder unsere Traktoren aufschneiden, werden Sie bestimmt auf Abenteuer verzichten müssen.“

Zaino schnitt eine Grimasse.

„Hört sich komisch an, wenn ein Raumfahrer so spricht, Captain. Aber, um ehrlich zu sein, ich meinte auch kein richtiges Abenteuer. Ich wollte nur sagen, daß ich gern etwas anderes zu tun hätte, als immer nur zu wetten, ob das nächste Beben in einer oder erst in fünf Minuten beginnt. Bisher ist nicht einmal eins von den Helmradios kaputtgegangen, das ich hätte reparieren können. Wie wäre es denn, wenn ich wenigstens die letzte Erkundungsfahrt der Traktoren mitmachen könnte?“

„Von mir aus, gern“, erwiderte Rowson. „Der Leiter der Operation ist jedoch Dr. Mardikian. Als Fahrer sind Spurr, Trackman, Hardegon und Aiello unentbehrlich; ohne sie wäre die Fahrt wirklich ein Abenteuer, und zwar ein ziemlich gefährliches.

Soweit ich mich entsinne, stehen weiter Dr. Harmon, Dr.

Schloßberg, Dr. Marini und Dr. Mardikian auf der Liste der Teilnehmer. Sie müßten also für einen einspringen. Mal sehen, wer bereit ist, im Schiff zu bleiben.“

Der Funker sah sich hoffnungsvoll nach allen Seiten um, aber er begegnete nur ablehnenden Blicken. Lediglich der Astronom schien plötzlich unschlüssig geworden zu sein. Zaino beobachtete ihn gespannt.

„Vielleicht wäre es möglich, daß ich zurückbliebe“, sagte Schloßberg endlich. „Ich wollte auf dieser Fahrt nur die Windstärken, die Gastemperaturen, die Zusammensetzungen und die Drücke feststellen. Als wir starteten, habe ich auch nicht gedacht, daß ich hier auf Merkur mehr ein Meteorologe als Astronom sein würde. Hargedon und Aiello haben mir geholfen, eine entsprechende Ausrüstung zu basteln. Jetzt geht’s zur Nachtseite, dort wäre vielleicht eine Gelegenheit. Also, Zaino, wenn Sie bis zu Beginn der Expedition genügend Kenntnisse gesammelt haben, können Sie meinen Platz einnehmen.“

Der Funker sprang so heftig auf, daß er bei der geringen Schwerkraft fast mit dem Kopf gegen die Decke geflogen wäre.

„Ja, helfen Sie mir ein wenig, Doc. Es wird ja nicht so schwer sein, einen selbstgebastelten Windmesser zu bedienen.“

„Soll das vielleicht eine Beleidigung sein?“ fragte eine tiefe Stimme im Hintergrund. Zaino wurde rot.

„Nein, natürlich nicht, Luigi. So habe ich es wirklich nicht gemeint. Ich wollte nur damit sagen, daß ich das Ding schon richtig behandeln werde.“

„Hoffentlich“, murmelte Aiello.

Schloßberg war aufgestanden.

„Kommen Sie mit, Arnie. Wir müssen die Raumanzüge anlegen, denn die Geräte stehen draußen.“

Er trieb den Funker regelrecht vor sich her, bis sie so weit von Deck fünf entfernt waren, daß man sie nicht mehr hören konnte.

Zaino sagte:

„Sie brauchen mich nicht zu stoßen, Doc. Sie haben ja recht, ich hätte Luigi nicht ärgern sollen.“

Der Astronom verlangsamte sein Tempo.

„Deshalb mache ich mir auch keine Sorgen, aber schließlich sind wir alle noch ein paar Monate zusammen. Es darf keine Reibungsmomente geben. Und, ehrlich gesagt, noch etwas macht mir Sorge: die Mädchen! Ich bin ja gerade kein Moralprediger, aber…“

„Die Mädchen? Die sind doch nicht…“

„Aufpassen, sonst fallen Sie mir noch die Leiter runter. Harmon ist zum Beispiel zehn Jahre älter als Sie, aber deshalb ist sie immer noch ein Mädchen. Und was entscheidend ist: sie weiß es.“

„Aber Dr. Burkett? Ich meine, sie ist…“

„Ja, sie auch! So, da ist Ihr Anzug. Hinein mit Ihnen! Schalten Sie ruhig das Mikrophon aus, denn in den nächsten zwei Stunden brauchen Sie nur zuzuhören.“

Zaino gab keine Antwort. Er hatte das Gefühl, daß es ohnehin besser war, wenn er jetzt den Mund hielt.

Sie überprüften gegenseitig ihre Anzüge und stiegen dann in die Luftschleuse hinunter. Die Kammer lag auf gleicher Höhe mit den Energieanlagen und direkt unter den Gleitflächen und Reaktoren.

Eine Etage tiefer waren die Antriebsmaschinen des Schiffes. Die Außenluke war gerade groß genug, um eine Person im Schutzanzug durchzulassen. Selbst bei dem geringen Luftdruck, der in Raumschiffen üblich war, hätte eine größere Luke nur Nachteile bedeutet. Sie führte auf einen kleinen Balkon, von dem aus eine schmale Leiter zur Oberfläche hinabreichte. Die beiden Männer blieben auf diesem Balkon stehen und betrachteten die Landschaft, die sich unter ihnen ausbreitete.

Sie hatte sich nicht verändert, seit einer der beiden Männer draußen gewesen war, obwohl es durchaus möglich war, daß einige der vielen Vulkangipfel inzwischen eine andere Form erhalten hatten. Sie erhoben sich nordöstlich in einigen Meilen Entfernung. Die tiefen Rillen in den Hängen sahen aus, als wären sie von rauschenden Wildwassern gegraben worden, aber in Wirklichkeit waren es staubtrockene Rillen, die ständigen Veränderungen unterworfen waren. Immer wieder öffneten sich neue Schlünde in der Oberfläche des Merkur, um das flüssige Innere herauszuschleudern.

Die Domspitzen, wie man die steilen, scharfen Felsen getauft hatte, die aus der Ebene vor den Vulkanen in den schwarzen Himmel stießen, schienen so unbeweglich zu sein wie immer.

Die glatte Fläche zwischen der ALBIREO und den Vulkanen war der bisher interessanteste Fund. Mardikian und Schloßberg vertraten die Überzeugung, daß es sich um die erkaltete Oberfläche eines gewaltigen Lavasees handelte, der noch aus der Frühgeschichte des Planeten stammte. Sie nahmen an, daß der größte Teil der Zwielichtzone früher von geschmolzener Lava überflutet gewesen war, die später erkaltet und so glatt wurde, wie man es von der Erde her nicht kannte.

Wie lange diese Lava kalt blieb, konnten sie nicht ahnen, aber sie waren sicher, daß im Innern des Merkur in regelmäßigen Zeitabständen gewaltige Hitzeentwicklungen stattfanden, die Bodenverschiebungen verursachten. Die Hitze, so vermuteten sie weiter, entstand nicht durch bloßen Vulkanismus oder Radioaktivität, sondern war nichts als Energie, die durch die Gezeiten entstand.

Die Umlaufbahn des Merkur war äußerst exzentrisch. Im Perihel wirkte die Anziehungskraft der Sonne enorm auf den Planeten ein und bewirkte eine Art „Flut“ der erstarrten Oberfläche.

Im Aphel wurde die Anziehungskraft der Sonne geringer, und die Gravitation des Merkur versuchte, die ursprüngliche Lage wiederherzustellen. Die sichtbaren Veränderungen waren nicht groß, aber die mitwirkenden Energien konnten kaum abgeschätzt werden. Sie verwandelten sich nicht vollständig in Bewegung, sondern mehr in Hitze. Folglich mußte die Temperatur unter der Oberfläche unglaublich ansteigen — wenn die „Flut“ kam.

Früher oder später, so schlossen die Wissenschaftler, mußte diese Gezeitenhitze derart ansteigen, daß sogar die in großer Tiefe liegenden Gesteinsschichten schmolzen und zu Lava wurden.

Diese Verflüssigung wiederum würde bewirken, daß die Oberfläche dem Zug der Sonnengravitation leichter nachgab; die Temperaturen konnten noch schneller ansteigen. Ein Gürtel von Magma mußte sich so unter der Zwielichtzone bilden, denn dort wirkte die Gravitation am stärksten, weil ihr der größte Widerstand entgegengebracht wurde. Der unterirdische Lavagürtel mußte hier gegen die Oberfläche vorstoßen und durchbrechen. Die Folge würde sein, daß Merkur eines Tages eine Atmosphäre erhielt.

Die Theorie hatte einiges für sich. Der Astronom mußte zugeben, daß man sie schon entwickelt hatte, bevor man überhaupt wußte, daß es auch auf dem Mond Vulkane gab. Sie rechtfertigte auch die besondere Aufmerksamkeit, mit der Schloßberg und Zaino die Ebene betrachteten, bevor sie die Leiter hinunterkletterten. Und schließlich gab sie eine Erklärung ab für die gelegentlichen Veränderungen der Oberfläche und die ständig wechselnden Risse und Spalten auf dem Spiegel der erkalteten Lava.

Niemand wußte mit Sicherheit, wie stark die erkaltete Schicht wirklich war. Aber natürlich war es unsinnig, sich an Bord der ALBIREO sicherfühlen zu wollen, denn wenn tatsächlich die Katastrophe einmal eintrat, war auch das Schiff verloren.

Die riesige Sonne schwebte dicht über dem Horizont. Ihr Schein warf lange Schatten und ließ die vielen Spalten noch tiefer und schwärzer erscheinen.

Nein, es schien sich nichts verändert zu haben.

Vorsichtig stiegen sie an der Leiter zur Oberfläche hinab und hüteten sich vor der Berührung mit den scharfkantigen Felsen.

Selbst die besten Raumanzüge sind nicht gegen Lecks gefeit.

Langsam gingen die beiden Männer dann zu den Traktoren, die auf einem Fleck geparkt standen.

Ein Metalldach gab Schatten. Hier, in Sonnennähe, war Schatten kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit. Auch für die Traktoren, wenn sie lange standen. Dazwischen lagerten Ausrüstung und Geräte. Der Apparat, den Schloßberg konstruiert hatte, lag neben dem letzten Traktor, immer noch im Schatten des Schutzdachs.

Vier Stunden später hatte Zaino die Funktionen des Apparates begriffen. Es war am selben Fleck immer noch schattig. Hargedon war hinzugekommen und hatte geholfen, die Ausrüstung in den Traktor zu verladen, den er fahren würde. Es war Zaino nicht schwergefallen, den Erklärungen Schloßbergs zu folgen. Beide waren fest überzeugt, daß er den Astronomen gut vertreten würde.

Als sie zur ALBIREO zurückwanderten, konnte Schloßberg nur hoffen, daß in den nächsten zwölf Stunden nichts geschah. Wenn die Expedition erst einmal unterwegs war, konnte nicht mehr viel passieren. Hargedon besaß genügend Autorität, um sich Gehorsam zu verschaffen, falls sich das als notwendig erweisen sollte. Wäre Zaino mit Aiello oder Harmon im selben Traktor gefahren…

Nun, das war ja nicht der Fall. Es war sinnlos, sich Komplikationen erst auszumalen.

Wenn, dann kamen sie von selbst.

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