8.

Den ganzen Tag lang war Charley Estancia seinen Betätigungen nachgegangen, als ob alles völlig normal wäre. Wie gewöhnlich war er bei Sonnenaufgang erwacht; niemand konnte in den beiden weißgetünchten Räumen, die die vier Erwachsenen und fünf Kinder der Familie Estancia beherbergten, lange schlafen. Luis, das Baby, fing schon vor sechs Uhr an zu heulen. Das pflegte Jorge, Charleys Onkel mütterlicherseits, der ein Trunkenbold war, einen Strom von Flüchen zu entlocken. Darauf antwortete dann Charleys Schwester Lupe mit eigenen Flüchen und Verwünschungen, und der Tag nahm seinen Anfang. Alle standen gleichzeitig auf, verschlafen und mißgelaunt. Charleys Großmutter heizte den Herd für die Tortillas; Charleys Mutter besorgte das Baby; Charleys anderer Bruder, Ramón, schaltete das Fernsehgerät ein und hockte sich davor, während Charleys Vater still aus dem Haus schlüpfte, bis das Frühstück fertig war. Seine Schwester Rosita, in ihrem zerrissenen Nachthemd schlampig und dick aussehend, kniete vor der kitschigen Fatima-Madonna in der Ecke nieder und betete mit leiernder Stimme, zweifellos, um Vergebung für neue Sünden zu erlangen, die sie am Abend zuvor den alten hinzugefügt hatte. Es war jeden Morgen das gleiche, und Charley Estancia haßte es. Er wünschte, er könnte allein leben, so daß ihm Lupes Böswilligkeit, Ramóns Dummheit, Luis’ Geheul und Rositas halbnackter Körper erspart blieben, daß er die schrillen Klagen seiner Mutter und die entschuldigenden, resignierenden Antworten seines Vaters nicht mehr hören müßte, und daß er nicht mehr gezwungen wäre, die senilen Phantasien seiner Großmutter über eine Zeit, in der man wieder der alten Religion folgen würde, über sich ergehen zu lassen. Das Leben in einem lebenden Museum war nicht sehr angenehm. Charley verabscheute alles am Pueblo: die staubigen, ungepflasterten Straßen, die niedrigen Lehmhäuser, die Mischung aus halbvergessenen alten und unschönen neuen Sitten, vor allem aber die Horden Touristen, die jedes Jahr im Juli und August auftauchten, um die Leute von San Miguel anzustarren, als ob sie Tiere in einem Zoo wären.

Nun hatte Charley wenigstens etwas, das seine Gedanken vom täglichen Einerlei ablenkte. Da war dieser Mann von den Sternen, Mirtin, der draußen in der Höhle lebte.

Während er die eintönigen Pflichten seines Tages erfüllte, klammerte Charley sich inbrünstig an das wunderbare Aufregende, zu wissen, daß ein Mann von den Sternen dort draußen auf ihn wartete. Es war genau, wie Marty Moquino gesagt hatte: dieser Lichtblitz am Himmel war kein Meteor gewesen, sondern eine Fliegende Untertasse, die explodiert war. Was würde Marty Moquino sagen, wenn er von Mirtin wüßte?

Charley Estancia war entschlossen, es nicht soweit kommen zu lassen. Er konnte Marty nicht vertrauen. Marty dachte nur an Marty; er würde Mirtin für hundert Dollar an die Zeitung in Albuquerque verkaufen und am nächsten Tag eine Busfahrkarte nach Los Angeles lösen und verschwinden. Charley hatte nicht vor, Marty auch nur eine Andeutung zu machen.

Von acht bis zwölf ging Charley in die Schule. Fünf Tage in der Woche kam ein verbeulter alter Bus ins Dorf und fuhr alle Kinder zwischen sechs und dreizehn Jahren in die große, aus roten Ziegeln gebaute Regierungsschule für die Indianer. Dort wurde ihnen nicht viel beigebracht, und während der Erntezeit war die Schule sowieso geschlossen.

Charley war überzeugt, daß das mit der mangelhaften Ausbildung Absicht war: Die Indianer sollten dumm und in ihrer Reservation bleiben, damit die Touristen auch weiterhin kommen und sie bestaunen würden. Das brachte dem Staat Geld. Oben in Taos, wo sie das größte und am meisten aufgeputzte Pueblo von allen hatten, verlangten sie ein paar Dollar, wenn einer seine Kamera mit hineinnehmen wollte. Darum wurde in der Regierungsschule nicht viel gelehrt — ein bißchen Lesen, Schreiben und Rechnen. Die Geschichte, die sie einem vorsetzten, war die Geschichte des weißen Mannes, George Washington und Abraham Lincoln. Warum lehrten sie nicht die Geschichte des Pueblos und der Indianer? fragte sich Charley. Oder die Geschichte der Spanier? Vielleicht wollen sie keine Ideen in unsere Köpfe einpflanzen, dachte Charley.

Manchmal bekam Charley in der Schule die besten Noten, manchmal bekam er die schlechtesten. Es hing alles davon ab, wie interessiert er war, denn die behandelten Themen waren alle leicht. Er konnte lesen und schreiben und rechnen und noch mehr: Er hatte ein Buch über Geometrie gelesen, und er kannte die Sterne. Er wußte, wie Raketen funktionierten. Eine Frau; die an der Schule lehrte, war der Meinung, er solle Zimmermann im Pueblo werden. Charley hatte andere Pläne.

Dann gab es noch eine andere Lehrerin, eine ziemlich gute, Mrs. Jamieson. Sie hatte gesagt, Charley solle übernächstes Jahr in die höhere Schule überwechseln. In der höheren Schule in Albuquerque waren die Indianer nicht von den anderen getrennt. Wer lernen konnte, durfte lernen, egal ob sein Haar schwarz war oder blond. Aber Charley wußte, was passieren würde, wenn er seine Eltern wegen der höheren Schule fragte. Sie würden ihm sagen, er solle eine Zimmermannslehre machen, wie die Frau in der Schule gesagt habe. Marty Moquino sei in die höhere Schule gegangen, würden sie ihm vorhalten, und was habe es ihm genützt? Dort habe er nur gelernt, Zigaretten zu rauchen, Schnaps zu trinken und mit Mädchen Dummheiten zu machen. Hätte er dafür in die höhere Schule gehen müssen? Charley wußte, daß sie ihn nicht gehen lassen würden, und das bedeutete, daß er wahrscheinlich von zu Hause würde weglaufen müssen.

Um ein Uhr setzte der wacklige Schulbus ihn und die anderen Kinder nach einem Vormittag in der Schule wieder auf der Plaza ab. Nachmittags hatte er verschiedene Aufgaben, je nach der Jahreszeit. Der Frühling war natürlich Pflanzzeit, dann arbeiteten alle Frauen und Kinder auf den Feldern. Im Sommer kamen die Touristen. Dann mußte Charley herumstehen und hilfsbereit aussehen und sich fotografieren lassen und hoffen, daß sie ihm ein Zehncentstück zuwerfen würden. Im Herbst mußte er bei der Ernte helfen. Im Winter kamen die heiligen Rituale, die jetzt im Dezember mit dem Tanz des Feuerbundes begannen und mit einigen Unterbrechungen bis zum Frühling andauerten. Diese Feste bedeuteten Arbeit für alle; das Pueblo mußte geputzt und mit bunten Dekorationen geschmückt werden, die Männer mußten Festkleider ausbessern und neu bemalen, die Frauen hatten eine Menge Tonwaren zu brennen, die dann verkauft wurden. Eigentlich sollten die Rituale den Frühlingsregen bringen, aber Charley wußte, daß das einzige, was sie wirklich brachten, die Wintertouristen waren. Die weißen Leute wurden nie müde, den wunderlichen primitiven Ritualen der Eingeborenen zuzuschauen. Sie fingen gegen Ende des Sommers oben im Hopiland mit dem Schlangentanz an, besuchten dann die Zunis und kamen im Winter hierher in die Pueblos am Rio Grande.

Der Tanz des Feuerbundes sollte in einigen Tagen beginnen. Charley machte sich den halben Nachmittag auf verschiedene Weise nützlich, aber zwischendurch sammelte er heimlich einen kleinen Stoß kalter Tortillas, den er in ein Stück Stoff einwickelte. Als die frühe Dunkelheit anbrach, versteckte er das Paket bei der alten verlassenen Kiva auf der anderen Seite des Dorfes, wohin niemand ging, weil böse Geister dort ihr Unwesen treiben sollten. Er füllte eine Plastikflasche mit Wasser aus der Quelle und versteckte sie bei den Tortillas. Dann wartete er auf die Dunkelheit. Er spielte mit seinem Hund, bestand einen Zweikampf mit seiner Schwester Lupe und las in seinem Bibliotheksbuch über die Sterne. Er beobachtete den Priester, wie er versuchte, ein paar von seinen Pfarrkindern zur Abendandacht in die Kirche zu treiben, und kurz darauf sah er Marty Moquino seine Schwester Rosita packen und sie mit sich hinter den Andenkenladen ziehen, wo er ihr unter das Kleid griff. Seine Mutter rief ihn ins Haus, und es gab ein kurzes, unbefriedigendes Abendessen, während der Fernseher schmetterte und Lupe mit Onkel Jorge zankte.

Endlich war es Abend.

Alle waren wieder an der Arbeit. Die wichtigen Männer des Dorfes gaben Befehle: der Kazike stand an der Leiter zur Kiva und sprach mit einem Priester des Feuerbundes, währen Jesus Aguilar, der Dorfbürgermeister, durch die Gassen stolzierte und nach dem Rechten sah. Es war eine gute Zeit, um sich davonzumachen und Mirtin zu besuchen. Charley lief geschäftig die Gasse zwischen den einstöckigen Lehmziegelhäusern hinunter, gelangte unbeachtet ins Freie und spähte in alle Richtungen, bevor er hastig in die alte Kiva krabbelte, um den Proviant herauszuholen. Dann tauchte er im Gestrüpp unter, das hier bis an den Rand des Pueblos reichte.

Wie er durch den dürren Busch rannte, sah er sich selbst als einen erwachsenen Mann, der wie der Wind rennen konnte; aber seine Beine waren so kurz, daß es lange dauerte, bis er irgendwo hinkam, und er mußte anhalten und verschnaufen, als er noch keine halbe Meile vom Dorf entfernt war. Er rastete in der Nähe der Transformatorenstation und blickte bewundernd zu ihr auf. Die Stromversorgungsgesellschaft hatte sie vor zwei Jahren gebaut, weil jeder im Pueblo San Miguel jetzt einen Fernseher und elektrisches Licht hatte und das Dorf mehr Elektrizität brauchte. Sie hatten die Station ein gutes Stück vom Dorf errichtet, damit es dem Aussehen des Pueblos nicht schadete. Die Touristen bildeten sich gern ein, daß sie in die Vergangenheit reisten, bis ins Jahr 1500 oder so, wenn sie ein Pueblo besuchten. Die Fernsehantennen und die Automobile schienen ihnen nichts auszumachen, aber eine Transformatorenstation wäre zuviel gewesen. Also stand sie hier. Charley beäugte die großen Transformatoren und die dicken glänzenden Isolatoren und dachte träumerisch an das große Kraftwerk irgendwo in weiter Ferne, wo explodierende Atome Dampf zu Elektrizität machten, damit es im Pueblo nachts Licht gebe. Er wünschte sich, daß seine Schule einmal einen Ausflug zum Kraftwerk machen würde.

Als das Seitenstechen aufgehört hatte, lief er weiter. Jetzt bewegte er sich ohne Anstrengung, suchte sich seinen Weg zwischen Salbei- und Agavendickichten, krabbelte den Hang des ersten Trockenbettes hinunter und auf der anderen Seite wieder hinauf, galoppierte über die weite Ebene, bis er zum zweiten Trockenbett kam, dem großen, einem richtigen Arroyo, mit den Sandsteinwänden auf der anderen Seite, wo der Mann von den Sternen in der Höhle lag. Charley blieb am Rand der tiefen Geröllschlucht stehen.

Er blickte auf. Die Nacht war mondlos, und die Sterne standen außergewöhnlich hell und scharf im Himmel. Charley fand sofort das Sternbild Orion, und seine Augen konzentrierten sich auf den östlichen Gürtelstern. Er wußte seinen Namen nicht, obwohl er in seinem geliehenen Buch danach gesucht hatte, aber es schien ihm der schönste Stern zu sein, den er je gesehen hatte. Ein ehrfürchtiger Schauer überlief seinen Rücken. Er dachte an große Planeten, die diesen Stern umkreisten, an seltsame Städte und an Geschöpfe, die keine Menschen waren, aber in Düsenmaschinen und Raketen herumsausten. Er versuchte sich vorzustellen, wie die Städte auf dieser anderen Welt aussehen mochten, aber dann wurde ihm die Ironie seines Gedankens bewußt, und rümpfte zornig die Nase. Wozu von den Sternen träumen, wenn er nicht mal die Städte seiner eigenen Welt kannte? Was wußte er von Los Angeles und Chikago und New York? Er war nie aus seinem Dorf hinausgekommen.

In einem plötzlichen Ausbruch wütender Energie raste er den steilen Geröllhang hinunter, die andere Seite wieder hinauf und über das kleine Plateau zur Felswand. Er betrat die Höhle. Sie war nicht mehr als drei Meter hoch und vielleicht sieben Meter tief. Als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er Mirtin liegen, wo er ihn zurückgelassen hatte, auf dem Rücken, die Arme und Beine ausgestreckt. Der Mann von den Sternen rührte sich nicht, aber seine Augen waren offen.

»Mirtin? Alles in Ordnung, Mirtin? Du bist nicht gestorben?«

»Hallo, Charley.«

Erleichtert ließ Charley sich neben den Verletzten fallen. »Ich habe dir Essen mitgebracht. Und Wasser. Wie fühlst du dich? Ich bin gekommen, sowie ich entwischen konnte.«

»Es geht mir viel besser. Ich fühle den Knochen heilen. Vielleicht bin ich eher gesund, als ich dachte.«

»Hier«, sagte Charley eifrig, »ich habe Tortillas für dich. Sie sind kalt, aber sie sind gut.«

»Zuerst Wasser.«

»Natürlich«, sagte Charley. »Entschuldige.« Er schraubte den Verschluß von der Plastikflasche und setzte sie an Mirtins Lippen. Das Wasser tröpfelte langsam in den Mund des Sternenmannes. Als Charley meinte, es sei genug, nahm er die Flasche weg, aber Mirtin verlangte nach mehr. Charley sah erstaunt zu, wie er die Flasche leerte. Wieviel er trank! Und wie schnell!

»Nun die Tortillas?«

»Ja, bitte.«

Charley fütterte Mirtin. Nur der Unterkiefer des Mannes bewegte sich, und Mirtin verschlang fünf Tortillas, bevor er zu erkennen gab, daß es ihm reichte.

Er sagte: »Woraus sind die gemacht?«

»Maismehl. Kennst du Mais? Eine Pflanze, die wir anbauen.«

»Ja. Ich weiß.«

»Wir mahlen die Körner und backen die Tortillas auf einem heißen Stein. Genau wie sie es schon früher gemacht haben. Wir machen vieles so, wie sie es früher gemacht haben.«

»Das scheint dir nicht zu gefallen«, bemerkte Mirtin.

»Warum sollte es mir gefallen? In welchem Jahr leben wir, 1982 oder 1492? Warum können wir nicht wie die anderen leben? Warum muß bei uns alles so bleiben wie früher?«

»Wer verlangt denn so etwas von euch, Charley?«

»Die Gringos. Die Weißen.«

Mirtins Gesicht wurde nachdenklich. »Willst du sagen, daß sie euch zwingen, altmodische Methoden anzuwenden? Daß sie Gesetze erlassen, die das vorschreiben?«

»Nein, nein, nicht so.« Charley suchte nach den richtigen Worten. »Sie lassen uns tun, was wir wollen, solange wir Ruhe geben. Wir können im Pueblo unseren eigenen Bürgermeister wählen, wir haben unseren eigenen Gendarmen, alles. Wenn wir genug Geld hätten, könnten wir das Pueblo abreißen und ein neues aus Plastik bauen. Aber dann würden keine Touristen mehr kommen und Geld bringen, und wir hätten nur noch die Felder. Wir sind eben ein Museum. Wir sind die komischen Leute aus der Vergangenheit. Verstehst du das?«

»Ich glaube schon«, murmelt Mirtin. »Eine absichtliche Beibehaltung archaischer Lebensformen.«

»Was?«

»Ihr habt keine andere Wahl, als dies altmodische Leben zu führen.«

»Das ist es. Wir müssen eine gute Schau für die Touristen machen. Sie bringen das Geld. Wir selber haben keins. Ein paar von uns sind aus dem Pueblo fortgegangen, sie arbeiten in Albuquerque, und einer hat dort sogar einen Laden, aber die meisten von uns sind arm. Wir brauchen das Geld, das die Touristen bringen. Wir tanzen für sie, wir malen unsere Gesichter an, wir machen alles wie die Alten früher. Aber es ist nicht echt, weil wir vergessen haben, was es alles bedeutet. Wir haben die Geheimbünde, aber unsere alten Männer haben die Formeln längst vergessen und sich einfach neue ausgedacht. Alles Blödsinn!« Charley schlug wütend auf die Erde. »Willst du noch eine Tortilla?«

»Ja, bitte.«

Befriedigt sah Charley dem gelähmten Sternenmann beim Essen zu.

Er sagte: »Wir müßten Kühlschränke und Heizungen und Straßenpflaster und richtige Häuser und alles haben. Statt dessen wohnen wir in Lehmhöhlen. Wir haben Fernsehen und Autos, das ist alles. Der Rest ist wie vor fünfhundert Jahren. Es kotzt mich an. Weißt du was, Mirtin? Ich will fort. Nach Los Angeles und lernen, wie man Raketen baut. Oder Raumfahrer werden. Ich weiß eine Menge Sachen. Und ich könnte noch viel lernen.«

»Aber du bist zu jung, um dein Heim zu verlassen?«

»Ja. Elf. Verflixt, wer will schon elf sein? Wenn ich weglaufe, fangen sie mich schnell. In der Besserungsanstalt kann ich nichts über Raketen lernen. Ich sitze hier fest.« Er hob eine Handvoll lockerer Erde vom Höhlenboden auf und schleuderte sie gegen die Wand. »Weißt du«, fuhr er fort, »ich will nicht über mein kleines Lehmdorf sprechen. Erzähl mir von deiner Welt, ja? Ich will alles wissen.«

Mirtin lachte. »Das ist viel verlangt, Charley. Womit soll ich anfangen?«

Charley dachte nach, dann fragte er: »Habt ihr große Städte dort?«

»Ja, sehr große.«

»Größer als New York oder Los Angeles?«

»Einige von ihnen, ja.«

»Habt ihr Düsenmaschinen?«

»Etwas Ähnliches«, sagte Mirtin. »Wir verwenden Fusionsgeneratoren. Du hast einen in der Luft explodieren sehen, weißt du noch?«

»Ach ja. Wie blöd ich bin! Die Fliegenden Untertassen. Was treibt sie an? Etwas wie Sonnenenergie?«

»Ja«, sagte Mirtin. »Ein kleiner Fusionsgenerator erzeugt heißes Plasma, das wir durch ein starkes Magnetfeld zusammenhalten. Dieses Magnetfeld wurde bei unserem Schiff zu schwach, darum explodierte es. Aber so reisen wir, in flachen, runden Schiffen, die ihr Fliegende Untertassen nennt.«

»Wie schnell können die fliegen?« fragte Charley. »Fünftausend Meilen in der Stunde?«

»So ungefähr«, antwortete Mirtin vage.

Charley nahm es als Bestätigung. »Dann könnt ihr von hier in einer Stunde nach New York fliegen, eh? Und auf eurem Planeten kommt ihr genauso schnell von einem Ort zum anderen. Wie viele Leute habt ihr auf eurem Planeten?«

Mirtin lachte. »Von alledem sollte ich dir nichts erzählen. Es ist geheim.«

»Komm schon! Ich werde es nicht verraten!«

»Nun…«

Charley nahm eine Tortilla zwischen Daumen und Zeigefinger und ließ sie über dem Mund des Sternenmannes baumeln. »Willst du noch eine, oder nicht?«

Mirtin seufzte. Seine Augen zwinkerten dem Jungen in der Dunkelheit zu. »Wir haben etwa acht Milliarden Einwohner«, sagte er. »Unsere Welt ist um einiges größer als die eure, obwohl die Schwerkraft fast gleich ist. Außerdem brauchen wir nicht soviel Platz wie ihr. Wir sind ziemlich klein.« Er zögerte. »Gibst du mir jetzt die Tortilla?«

Charley gab sie ihm, und während Mirtin kaute, grübelte Charley über seine letzten Bemerkungen.

»Du meinst, ihr seht in Wirklichkeit nicht wie wir aus?«

»So ist es.«

»Richtig, du sagtet, daß du innen anders bist. Aber ich dachte, du hättest bloß andere Knochen, und vielleicht wäre dein Herz oder dein Magen woanders als bei uns. Aber der Unterschied ist größer, nicht?«

»Viel größer«, sagte Mirtin.

»Wie denn? Wie würdest du ohne diese Verkleidung aussehen?«

»Klein. Einen Meter lang, glaube ich. Wir haben überhaupt keine Knochen, nur verhärtete Knorpel. Wir…« Mirtin brach ab. »Ich möchte mich lieber nicht beschreiben, Charley.«

»Du meinst, du hast in dem, was ich jetzt sehe, so ein Ding? Nicht viel größer als ein Baby, und das ist in dir zusammengerollt? Ist es so?«

»So könnte man es beschreiben«, gab Mirtin zu.

Charley stand auf und ging zum Höhleneingang. Er fühlte sich von dieser Auskunft erschüttert, und er konnte nicht sagen, warum. Er hatte an Mirtin als den Mann von den Sternen gedacht. In seiner Vorstellung war Mirtin einfach ein Mann gewesen, jemand, der auf einem anderen Planeten geboren war, gerade so, wie die Menschen in verschiedenen Ländern geboren werden, aber nicht allzu verschieden von ihm selbst. Klüger als ein Mensch, aber bis auf anders angeordnete Eingeweide doch sehr ähnlich. Nun stellte sich heraus, daß Mirtin in Wirklichkeit eine Art großer Wurm zu sein schien. Oder etwas noch Schlimmeres. Er hatte sich nicht beschrieben. Charley blickte zu den drei hellen Sternen auf, und zum erstenmal wurde ihm klar, mit welch fremdartigem Ding er sich angefreundet hatte.

»Ich könnte noch eine Tortilla essen«, sagte Mirtin.

»Dies ist die letzte. Ich dachte nicht, daß du so hungrig sein würdest, mit den Verletzungen und allem.«

»Du würdest dich wundern, wüßtest du, wieviel ich essen kann.«

Charley fütterte ihn, dann sprachen sie weiter. Sie sprachen von Mirtins Planeten, der Dirna hieß, sie sprachen von den Beobachtern, und warum sie die Erde beobachteten, und sie sprachen von Sternen und Planeten und Fliegenden Untertassen. Als Mirtin des Themas überdrüssig wurde, sprachen sie über San Miguel, und Charley versuchte ihm zu erklären, wie es war, in einem prähistorischen Dorf aufzuwachsen. Die Worte sprudelten nur so von seinen Lippen, als er versuchte, seine Ungeduld auszudrücken, seinen Hunger zu lernen, zu wissen, zu sehen, etwas zu tun.

Mirtin war ein guter Zuhörer und wußte, wann er still sein und wann er eine Frage stellen mußte. Er sagte Charley, er solle sich nicht entmutigen lassen und noch ein paar Jahre Geduld haben, und eine Zeit werde kommen, wo er von San Miguel fortgehen und die Welt kennenlernen würde. Es war sehr ermutigend. Charley starrte den kleinen Mann mit den freundlichen Augen und den grauen Haaren an und fand es unmöglich, die Tatsache zu akzeptieren, daß Mirtin in Wirklichkeit ein gummiartiges Ding ohne Knochen war. Mirtin schien so menschlich zu sein, so freundlich. Wie ein Arzt oder ein Lehrer, nur daß er nicht so geistesabwesend und zurückhaltend war wie die Ärzte und Lehrer, die Charley kannte. Der einzige Mensch, der jemals so mit Charley gesprochen hatte, war die gute Lehrerin, Mrs. Jamieson, und es kam vor, daß sogar Mrs. Jamieson Charleys Namen vergaß und ihn Juan oder Felipe oder Jesus rief. Mirtin würde meinen Namen nie vergessen, sagte sich Charley.

Nach einer Weile fiel ihm ein, daß er den Sternenmann mit seinen Fragen ermüden müsse. Außerdem konnte er nicht zu lange vom Pueblo fortbleiben, ohne daß es seinen Leuten auffiel. So gab er sich einen Ruck.

»Ich muß jetzt gehen«, sagte er. »Morgen abend komme ich wieder, und dann bringe ich mehr Tortillas, einen ganzen Haufen. Und wir können wieder reden. De acuerdo, Mirtin?«

»Einverstanden, Charley.«

»Bist du sicher, daß alles mit dir in Ordnung ist? Dir ist nicht zu kalt oder was?«

»Ich finde es recht angenehm, Charley«, versicherte Mirtin. »Ich brauche hier bloß zu liegen, bis ich wieder ganz bin. Und wenn du mich besuchst und mir Tortillas und Wasser bringst, und wenn wir uns jeden Abend ein bißchen unterhalten, werde ich viel schneller gesund sein.«

Charley grinste. »Ich mag dich, weißt du das? Du bist wie ein Freund. Es ist nicht so leicht, Freunde zu finden. Hasta luego, Mirtin, bis morgen.«

Er ging rückwärts aus der Höhle, drehte um und stob davon. Während er heimwärts rannte, sprang und hüpfte er vor Glück. Er war wie berauscht von den Gesprächen über die andere Welt und ihre Über-Wissenschaft, aber am meisten begeisterte und erregte ihn, daß er tatsächlich mit einem Mann von den Sternen gesprochen hatte. Trotz der kühlen Dezembernacht fühlte Charley sich am ganzen Körper warm, ja, sein Kopf glühte wie im Fieber. Die Wärme kam direkt von Mirtin. Er verbringt nicht einfach seine Zeit mit mir, weil er mich als Essenholer braucht, dachte Charley. Er mag mich. Er unterhält sich gern mit mir. Und er kann mir vieles beibringen.

Das Glück beflügelte Charleys Lauf. Im Nu hatte er die Strecke bis zur Transformatorenstation zurückgelegt, und er blickte im Rennen zu der dicken Hochspannungsleitung hinauf, die vom Mast jenseits des Trockenbettes herüberkam. Er paßte nicht auf, wohin seine Füße traten, und so kam es, daß er über das Paar stolperte, das neben dem Drahtzaun der Station umschlungen am Boden lag.

Wegen der Kälte der Nacht waren sie beide voll bekleidet, aber es gab keinen Zweifel über das, was sie da taten. Charley war mit den Fakten des Lebens vertraut; er war nicht daran interessiert, anderen nachzuspionieren. Als er über das ausgestreckte Bein fiel, rappelte er sich sofort wieder auf und machte sich eilig aus dem Staube.

Das Mädchen rief ihm ein unflätiges Schimpfwort nach. Der Mann schüttelte die Faust hinter ihm her. In dem kurzen Augenblick als er die beiden sah, erkannte Charley, daß das Mädchen Maria Aguilar war, die beste Freundin seiner Schwester Rosita. Der Mann war Marty Moquino. Charley bedauerte, daß er ihr Vergnügen unterbrochen hatte, aber er bedauerte noch viel mehr, daß er von dem einzigen, der ihm wirklich gefährlich werden konnte, auf diesem Weg gesehen worden war.

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