Tom Falkner sagte: »Wollen Sie einen Moment hereinkommen?«
»Gern«, sagte Kathryn.
Er sperrte auf und schaltete das Licht ein. Den ganzen Nachmittag waren sie in Albuquerque herumgefahren. Sie habe ihre kleine Tochter bei einer Nachbarin gelassen, sagte sie, und sie wiederholte ständig, daß sie nach Haus müsse, um das Abendessen vorzubereiten. Aber jedesmal, wenn es soweit gekommen war, daß ihrem Aufbruch nichts mehr im Weg stand, hatte Kathryn eingewilligt, noch ein wenig zu bleiben. Und nun waren sie in seinem Haus.
Jetzt sah er sie zum erstenmal genauer. Im Wagen hatte er sie nur flüchtig und für kurze Augenblicke gesehen. Sie war groß und schlank und nicht mehr ganz jung, dreißig, schätzte er, aber viel jünger als er. Man konnte sie nicht hübsch nennen, mit diesen breiten Backenknochen und den dünnen Lippen und den knochigen Armen und Beinen, aber sie war auch nicht unattraktiv. Im Moment lagen ihre Augen tief in den Höhlen und waren von dunklen Ringen umgeben. Anscheinend hatte sie in letzter Zeit nicht viel geschlafen. Er auch nicht, weiß Gott.
Er sagte: »Natürlich dürfen wir keiner Seele etwas von unseren Erlebnissen sagen.«
»Nein. Wer möchte schon für verrückt gehalten werden?«
Er schmunzelte. »Wir könnten immer noch einen neuen Kult begründen und Frederic Storm Konkurrenz machen. Wir errichten einen Tempel und predigen das Evangelium der Beobachter, und…«
»Lieber nicht.«
»Es war nicht mein Ernst. Wollen wir etwas trinken?«
»Ich glaube, wir können es beide gebrauchen«, sagte Kathryn.
»Meine Auswahl ist sehr begrenzt. Ersatzwhisky, Tequila, Traubenschnaps…«
»Irgendwas«, sagte Kathryn. »Ich mache mir eigentlich nichts aus dem Geschmack von Schnäpsen. Geben Sie mir einfach eine Spraydose.«
»Das ist kaum eine elegante Art zu trinken.«
»Ich bin kaum eine elegante Person zu nennen.«
Er lächelte und brachte ein Tablett mit Spraydosen. Sie nahm eine, und um nicht unhöflich zu sein, bediente er sich gleichfalls. Schweigend injizierten sie das Zeug in ihre Arme. Danach sagte er: »Ihr Mann war bei der Luftwaffe, sagten Sie?«
Sie nickte. »Theodore Mason. Er wurde über Syrien abgeschossen.«
»Das tut mir leid; dieser Krieg stand für uns unter einem unglücklichen Stern. Ich kannte Ihren Mann nicht. War er in Kirtland stationiert?«
»Bis er nach Übersee versetzt wurde.«
»Es ist ein großer Stützpunkt«, sagte er. »Ich wünschte, ich hätte ihn kennengelernt.«
»Warum sagen Sie das?«
Er errötete. »Ich weiß nicht. Einfach, weil er — weil er Ihr Mann war. Und es wäre vielleicht nett gewesen, wenn… Zum Teufel, ich rede wie ein schüchterner Schuljunge. Ein überständiger Jüngling von dreiundvierzig. Noch eine Dose?«
»Danke, im Moment nicht.«
Er nahm auch keine. Sie brachte ein Foto von ihrer Tochter zum Vorschein. Falkners Hand zitterte ein wenig, als er die Aufnahme mit den Fingerspitzen hielt und ein nacktes kleines Mädchen von zwei oder drei Jahren sah, das vor einem Busch stand und ihn angrinste.
»Ein schamloses Frauenzimmer, nicht?« sagte er.
»Ich versuche ihr etwas Anstand beizubringen. Vielleicht gelingt es mir in den nächsten fünfzehn Jahren.«
»Wie alt ist sie jetzt?« fragte Falkner.
»Drei.«
Die Unterhaltung geriet ins Stocken. Er versuchte nicht von den Dirnaern zu sprechen, und sie tat es ihm darin gleich, aber das Thema ließ sich nicht lange unterdrücken.
Schließlich sagte er: »Inzwischen werden sie ihren Entsatzstützpunkt erreicht haben und bei ihren eigenen Ärzten in Behandlung sein. Ob sie wohl über uns sprechen?«
»Ich bin überzeugt davon«, sagte Kathryn.
»Ich kann mir gut vorstellen, wie sie einander die gutherzigen zottigen Affen beschreiben, die sich um sie gekümmert haben.«
»Das ist nicht fair. Sie schätzen uns höher ein.«
»Wirklich? Sind wir für sie nicht einfach Affen? Gefährliche Affen, mit Bomben und Raketen?«
»Als Rasse, vielleicht. Aber nicht als Individuen. Ich weiß nichts von Ihnen und Glair, aber ich hatte immer das Gefühl, daß Vorneen mich respektierte. Daß er gewisse Zugeständnisse machte, weil ich ein Mensch bin, daß er aber nie auf mich herabsah oder sich insgeheim über mich lustig machte.«
»So war es auch bei Glair und mir. Ich nehme es zurück.«
»Sie sind ganz besondere Leute«, sagte Kathryn. »Warm, und freundlich…«
»Ich habe mich oft gefragt, wie die Kranazoi sein mögen.«
»Wer?«
»Die andere Rasse. Die galaktischen Rivalen. Hat Vorneen Ihnen nicht von der politischen Situation dort draußen erzählt, von dem kalten Krieg, oder wie man es nennen will?«
»Oh — ja, gewiß.«
»Es ist komisch. Wir wissen nicht mal, ob die Dirnaer die Guten oder die Bösen sind. Die beiden, die wir kennengelernt hatten, waren in Ordnung, aber nehmen wir mal an, die Kranazoi sind diejenigen, an die wir uns halten sollten? Wir haben keinen Einblick in ihre Affären. Darum nannte ich uns Affen. Dort draußen ist ein Tauziehen im Gange, und wir haben eine Ahnung davon, ohne jedoch zu wissen, um was es eigentlich geht. Und der Himmel ist voll von dirnaischen und kranazoischen Schiffen, die uns und einander beobachten. Wenn man daran denkt, schwindelt einen.«
»Vorneen sagte, daß die Verträge eines Tages abliefen und daß sie dann offen Kontakt mit uns aufnehmen würden.«
»Das hat Glair auch gesagt.«
»Glauben Sie, daß das bald sein wird?«
»In fünfzig Jahren vielleicht. Oder in hundert, in tausend Jahren. Ich weiß es nicht.«
»Ich hoffe, es wird bald sein.«
»Warum?«
»Damit Vorneen zurückkommen kann — Vorneen und Glair, beide, und damit wir sie wiedersehen.«
Falkner schüttelte düster seinen Kopf. »Das ist eine gefährliche Täuschung, die Sie nicht mit sich herumtragen sollten. Sie kommen nicht zurück. Selbst wenn die Verträge nächste Woche abliefen, würden Sie Vorneen nie wieder sehen. Und sie werden nicht ablaufen, nicht in absehbarer Zeit, denn zuerst müßten wir einen höheren ethischen Reifegrad erreicht haben, wie Glair mir einmal sagte. Wenn Sie die Welt kennen, wissen Sie, wie weit wir noch davon entfernt sind. Nein, seien Sie versichert, der Bruch ist endgültig. Er muß es sein. Eine Liebesaffäre zwischen Leuten von verschiedenen Welten hat keine Zukunft. Sie werden dafür sorgen, daß wir sie nie mehr sehen. Es gibt eine Wunde, wenn so etwas abgeschnitten wird, und sie wollen diese Wunde heilen lassen und nicht wieder aufreißen.«
»Glauben Sie wirklich, es wäre unmöglich gewesen?«
»Hören Sie«, sagte er, »es ist schon für zwei Menschen schwierig genug, eine Liebe am Leben zu erhalten. Es ist immer schwierig, sein Leben mit einer anderen Person zu teilen. Und wenn die andere Person nicht mal eine ist…«
»Ich glaube nicht, daß es so schwierig ist«, sagte Kathryn. »Und wenn die andere Person ein Dirnaer ist, nun, dann mag es mühsamer sein, aber…« Sie brach ab und seufzte. »Ich bin einfältig, ich weiß. Sie sind fort. Jeder von uns hatte ein seltsames und wunderbares Erlebnis, und nun müssen wir die Scherben zusammenkehren.«
Falkner fühlte, daß sie ihm ein Stichwort zugeworfen hatte, aber er konnte nicht darauf antworten, nicht jetzt, nicht so bald. Mit der Zeit könnten sie einander vielleicht näherkommen, aber vorläufig mußte er vorsichtig taktieren, sehen, was für ein Mensch sie war, bevor er riskieren durfte, sich noch einmal aufzuschließen. Ob sie es glauben wollte oder nicht, er wußte, daß es eine schwierige Sache war, sein Leben mit dem einer anderen Person zu verbinden.
»Es ist schon dunkel«, sagte sie. »Ich muß mich auf den Weg machen. Wenn ich nicht bald komme, wird Jill launisch.«
»Ich fahre Sie nach Hause.«
Draußen konnten sie den Sternenhimmel sehen, obwohl der junge Mond und die Lichter von Albuquerque mit seinem Funkeln konkurrierten. Unwillkürlich blickten sie beide auf. Er wußte, was sie dachte. Ihre Augen begegneten einander, und sie lachten beide.
»Das mit dem Vergessen gelingt uns nicht sehr gut, wie mir scheint«, sagte Kathryn.
»Noch nicht. Und wir werden sie nie wirklich vergessen. Für ein paar Wochen unseres Lebens sind die Sterne zu uns heruntergekommen. Das kann man nicht vergessen. Aber man muß darüber wegkommen. Die Sterne sind nun fort, und wir sind immer noch da.«
Sie stiegen in seinen Wagen.
»Dies hat mir gefallen, heute«, sagte sie.
»Mir auch. Wir werden es wieder einmal machen.«
»Bald.«
Falkner nickte. Er lächelte, als er den Starter betätigte und den Wagen auf die Straße rollen ließ. Auch sie lächelte. Über der Windschutzscheibe wölbte sich der gestirnte Himmel. Irgendwo dort draußen waren Glair und Vorneen.
Er wünschte ihnen eine sichere Heimreise.