19.

Glair lauschte ängstlich auf das melodiöse Klimpern der Türglocke. Wer konnte das sein? Tom nicht; Tom hatte einen Schlüssel. Ein Vertreter? Ein Hausierer? Ein Polizist? Sie war im Schlafzimmer und machte Gehübungen. Tom hatte ihr eingeschärft, niemanden einzulassen. Die Glocke erklang wieder, und Glair hoppelte besorgt zum Fenster und spähte durch die Jalousie.

Eine Erdbewohnerin mittleren Alters stand vor der Gartentür. Glair beschloß zu warten, bis die Frau wieder fortginge, aber wie sie noch hinsah, kamen ihr die breiten, gutmütigen Züge der Besucherin bekannt vor. Sie faßte sich an die Stirn.

Thuw? War das Thuw, die dort stand?

Thuw gehörte zur Sartak-Thuw-Leenar-Sexualgruppe. Glair hatte sie vor einigen Jahren kennengelernt, als sie alle zusammen einen Erholungsaufenthalt auf Ganymed verbracht hatten. Sie und Sartak hatten sogar…

Aber es konnte eine Täuschung sein. Glair humpelte zur Tür und spähte durch das Guckloch, dann fragte sie in die Sprechanlage: »Wer ist da?«

»Glair?« sagte eine warme Stimme. »Du kannst aufmachen. Wir haben dich gefunden, Glair.«

Die Frau sprach dirnaisch.

»Komm herein, Thuw!«

Glair sperrte die Tür auf, und im nächsten Moment war sie in Thuws Armen, und sie zitterte vor Freude und Erleichterung.

Thuw trat ein. Glair schloß die Tür.

»Wir haben einen Wagen draußen«, sagte Thuw. »Sartak und Leenar warten darin.«

»Wie habt ihr mich gefunden?«

»Das war nicht leicht.« Thuw lachte. »Ohne den fetten Kranazoispion hätte es wohl noch eine Weile gedauert. Ein findiger Bursche, man muß es ihm lassen. Wir folgten ihm einfach. Eine gute Idee, was?«

»Ein Kranazoispion…?«

»Der ist auch im Wagen draußen. Sartak hält ihn mit einer Granate in Schach. Er muß auf der Erde gelandet sein, um herauszubringen, was ihr hier wolltet. Irgendwie stieß er auf Gerüchte über einen AFAO-Offizier, der in der Wüste etwas gefunden haben sollte, und dann verfolgte er deine Spur bis hierher. Wir brauchten ihm bloß nachzugehen.«

Glair war blaß. »So leicht ist es also, alles über Tom und mich herauszubringen?«

»Tom?«

»Das ist der AFAO-Mann.«

Thuw zuckte die Achseln. »Mit etwas Arbeit bringt man alles heraus. Hauptsache, wir haben dich gefunden. Bald wirst du in Sicherheit sein. Für den Transport nach Ganymed ist alles vorbereitet. Wie schwer warst du nach der Landung verletzt?«

»Beide Beine waren gebrochen. Aber Tom hat mich gut gepflegt, und diese Körper heilen schnell, wie du siehst.«

»Fein. Auf Ganymed wirst du eine richtige medizinische Untersuchung bekommen. Wo hast du deinen Anzug?«

»Versteckt«, antwortete Glair. »Ich kann ihn holen. Er ist in gutem Zustand. Nur der Sender ist bei der Landung beschädigt worden.«

»Das haben wir gemerkt«, sagte Thuw. »Hol deinen Anzug, dann gehen wir zum Wagen. Und zieh dir irgendwelche Kleider an, damit wir nicht verhaftet werden, wenn wir durch die Stadt fahren. Wir bringen dich zu einem Treffpunkt in der Wüste, und in einer Stunde oder so bist du schon unterwegs nach…«

»Nein«, sagte Glair.

»Nein? Was meinst…«

»Ich muß warten, bis Tom nach Hause kommt«, sagte Glair. »Setz dich, Thuw. Laß uns ein wenig reden. Es ist doch nicht so eilig, oder? Du hast noch kein Wort über Mirtin und Vorneen gesagt. Sind sie am Leben? Weißt du, wo sie sind?«

»Mirtin ist schon auf Ganymed«, sagte Thuw.

Glair erschauerte vor Erleichterung. »Wie gut! War er nicht verletzt?«

»Sein Rücken war gebrochen. Aber er erholt sich gut. Eine andere Suchgruppe hat ihn vor ein paar Tagen gefunden. Sein Sender arbeitete noch, nur das Signal war verzerrt. Sie haben ihn in einer Höhle in der Wüste gefunden, nicht weit von einem Indianerdorf. Ich habe selbst mit ihm gesprochen. Er läßt dich grüßen, Glair.«

»Und Vorneen?«

»Den haben wir ohne fremde Hilfe ausfindig gemacht. Er ist hier in dieser Stadt, oder besser, in einem Vorort im Norden. Er wohnt bei einer Frau namens Kathryn Mason.«

Glair lachte. »Wie könnte es anders sein? Er findet immer eine Frau, auf jeder Welt! Hast du mit ihm gesprochen?«

»Noch nicht. Aber wir haben das Haus ausgekundschaftet. Er hinkt etwas, aber sonst scheint er bei guter Gesundheit zu sein. Nun könnt ihr drei euch eine Weile ausruhen.«

»Ja«, murmelte Glair. »Wir können uns entspannen. Wie habt ihr Vorneen gefunden?«

»Durch den örtlichen Kontaktkult«, sagte Thuw.

»Wirklich? Ist die Frau, bei der er wohnt, ein Mitglied?«

»Nein. Sie hat beim Kontaktkult auch nichts verlauten lassen, wenigstens nehmen wir das an«, sagte Thuw. »Wir schauten uns die Besucherlisten an, weil wir vermuteten, daß jemand, der einen Fremden aus einer anderen Welt findet, zum Kontaktkult gehen und Informationen erbitten könnte. Kathryn Mason war ungefähr die neunzigste auf unserer Liste, die wir beobachteten. Die Nachbarinnen sagten, ihr Benehmen sei in letzter Zeit etwas sonderbar, und ein paar Klatschbasen unter ihnen gaben uns zu verstehen, daß sie mit einem Mann lebe. Gestern abend waren wir mit einem Horchgerät dort, nachdem wir ihn schon nachmittags an einem Fenster gesehen hatten. Er ist es. Nun brauchen wir ihn nur noch zu holen, und…«

»Was ist mit dieser Frau?« fragte Glair. »Was weißt du von ihr?«

»Sie ist eine junge Witwe mit einem kleinen Kind.«

»Und wie ist sie? Warum hat sie Vorneen bei sich aufgenommen?«

»Wir hatten keinen Kontakt mit ihr«, sagte Thuw ungeduldig. Sie sah auf ihre Uhr. »Wann kommt dieser Mann zurück?«

»Nicht vor vier Uhr nachmittags.«

»Aber das ist…«

»Ich weiß. Es ist noch lange hin. Ich kann warten. Nehmt euren Kranazoi und setzt ihn irgendwo aus oder macht mit ihm, was ihr wollt, und kommt nach vier Uhr. Ich kann nicht fortgehen, ohne mich von Tom zu verabschieden.«

Thuw warf ihr einen forschenden Blick zu. »Aus Dankbarkeit, Glair, oder wegen etwas anderem?«

»Etwas anderem. Etwas Tieferem. Ich habe ihn recht gern:«

»Verliebt in einen Erdbewohner, Glair?«

»Sei vernünftig, Thuw, und verschone mich mit Fragen. Geh einfach fort und komm später zurück. Um fünf bin ich bereit.«

»Wie du willst. In der Zwischenzeit holen wir Vorneen.«

»Nein, das dürft ihr nicht tun«, sagte Glair.

Thuws Gesichtsausdruck wurde ärgerlich. »Warum nicht?«

»Ich will Vorneen holen. Vergiß nicht, er ist mein Partner. Das Recht nehme ich für mich in Anspruch. Und ich will auch mit der Frau sprechen, bei der er gelebt hat. Laßt die beiden in Ruhe; ich werde das schon machen.«

»Offen gesagt, Glair…«

Glair nahm ihren Arm und schob sie sanft zur Tür. »Thuw, es ist wunderbar, daß ihr uns aufgespürt habt und mitnehmen werdet. Aber es gibt gewisse Dinge, die wir selber tun müssen. Bitte, geht fort und kommt später wieder.«

Thuw paßte das alles nicht, aber sie ging. Glair verschloß die Tür hinter sich, humpelte ins Schlafzimmer und ließ sich auf das Bett fallen.

Es war geschehen. Man hatte sie gefunden. Und bald würde sie auf Ganymed in einem Krankenhausbett liegen, Spaziergänge machen und sich erholen. Fein.

Mirtin und Vorneen waren am Leben. Wunderbar!

Und nun hatte sie nichts weiter zu tun als Tom Lebewohl zu sagen. Sie wußte, daß sie sich in ein paar Wochen an ihn nur noch als einen gütigen, sorgenbeladenen Mann erinnern würde, der ihr in einer schwierigen Zeit geholfen hatte. Was sie jetzt für Liebe hielt, würde zu bloßer Zuneigung verblassen, wenn sie wieder mit Mirtin und Vorneen vereint war. Aber was wäre mit ihm? Wie würde er reagieren, wenn er sich so in die Tiefen seiner Verzweiflung zurückgeschleudert sähe? Wie würde er nach diesen Wochen wieder in die Einsamkeit seines Alltagslebens zurückfinden?

Sie wartete den ganzen langen Tag.

Und dann war er endlich da, sperrte die Tür auf, kam ins Haus, nahm sie in seine Arme, preßte sie an sich. Sie wartete, bis er sie geküßt hatte, bis er seinen Mantel weggehängt und sich mit einem Monolog über die Stumpfsinnigkeit und Blindheit des AFAO das Herz erleichtert hatte.

Dann sagte sie mit kühler, akzentloser Stimme: »Tom, meine Leute sind heute gekommen. Ich gehe nach Hause.«

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