10.

Vorneen schien jetzt zu schlafen, dachte Kathryn. Bestimmt wußte sie es allerdings nicht. In den vier Tagen, die sie ihn bei sich beherbergt hatte, war ihr lediglich eines klargeworden: daß man bei ihm nie wußte, woran man war.

Sie stand neben dem Bett und beobachtete ihn. Die Augen waren geschlossen. Die Augäpfel bewegten sich nicht unter den Lidern. Langsames, tiefes, regelmäßiges Atmen. Aber obwohl alle Symptome des Schlafes da waren, hatte sie manchmal den Eindruck, daß er sich nur schlafend stellte. Bei anderen Gelegenheiten hatte sein Einschlafen etwas Phantastisches, dann schien er sich einfach abzuschalten, als ob er eine Maschine wäre. Beides wirkte alles andere als menschlich.

Kathryn war mittlerweile fest davon überzeugt, daß sie Gastgeberin eines Wesens von einer anderen Welt war.

Es war eine so bizarre Vorstellung, daß es lange gedauert hatte, bis sie sich durchsetzen konnte. Sie hatte schon in der ersten Nacht mit dem Gedanken gespielt, und von Tag zu Tag war er mehr zur Gewißheit geworden.

Die orangefarbene Tönung seines Blutes. Der seltsame Anzug in ihrem Kleiderschrank. Die fremdartigen Werkzeuge, die herausgefallen waren, wie das kleine, taschenlampenartige Ding, das eine Art Lasergerät war. Die Glätte und Kühle seiner Haut. Die unverständliche Sprache, die er im Delirium gebraucht hatte. Delirium ohne Fieber. Der sonderbare Beinbruch, den sie so leicht wieder hatte einrichten können. Die komische Leichtigkeit seines Körpers.

Wie könnte sie vorgeben, daß alle diese Dinge bloße Seltsamkeiten seien?

In vier Tagen hatte er die Bettpfanne nicht einmal benötigt. Er hatte sie leer unter das Bett gestellt, und dort war sie noch immer. Sie schaute von Zeit zu Zeit nach, während er zu schlafen schien. Wie konnte ein Mensch vier Tage leben, ohne etwas auszuscheiden? Er aß regelmäßig und trank eine Menge Wasser, doch er sonderte nichts ab, nicht einmal Schweiß. Kathryn konnte manches Seltsame an diesem Vorneen übersehen, aber nicht das. Wo blieben die Abfallprodukte? Was für eine Art von Stoffwechsel hatte er? Sie hatte nie zu jenen gehört, die sich Spekulationen über andere Welten und andere Lebensformen hingeben; solche Ideen waren nie Bestandteil ihrer intellektuellen Ausrüstung gewesen. Aber es war unmöglich, der Schlußfolgerung auszuweichen, daß Vorneen von weither kam.

Sie beobachtete den Schlafenden.

Er sah sehr friedlich aus. Seit sie ihn am ersten Abend in das Bett gelegt hatte, hatte er es nicht verlassen. Kathryn schlief unbequem auf der Wohnzimmercouch, obwohl Vorneen vorgeschlagen hatte, daß sie das Bett mit ihm teile. »Es ist groß genug für zwei, nicht wahr?« hatte er gesagt. Ja, das war es. Sie fragte sich, ob er absichtlich so unschuldig getan hatte, oder ob es ihm, weil er kein Mann der Erde war, nie in den Sinn gekommen war, daß damit eine besondere Bedeutung verbunden sein könnte. Möglicherweise dachte er nicht in Begriffen wie Sexualität.

Sie hatte sich abgewandt, errötend wie eine alberne Jungfrau, als er mit diesem Vorschlag gekommen war. Ihre Reaktion verwunderte sie. Sie war jetzt seit einem Jahr verwitwet und schuldete Teds Erinnerung nichts. Sie konnte schlafen, wo immer sie wollte, genauso, wie sie es getan hatte, als sie neunzehn und ledig gewesen war. Doch sie war auf eine mysteriöse Weise prüde geworden. In den Monaten ihrer Trauer wäre ein Verhältnis mit einem Mann undenkbar für sie gewesen; sie hatte sich fast vollständig von der Welt zurückgezogen, hatte für sich und Jill ein warmes kleines Nest aus diesem Haus gemacht und war kaum einmal über das lokale Einkaufszentrum hinausgekommen. In letzter Zeit hatte sie sich allerdings öfter gesagt, daß es an der Zeit sei, diese selbstgewählte Isolierung zu durchbrechen und einen neuen Vater für Jill zu suchen. Nun, dieser aus dem Himmel gefallene Mann war kaum ein Kandidat für diese Verantwortung, aber sie sah darin keinen Grund, warum sie sich scheuen sollte, ihm näherzukommen oder auch mit ihm zu schlafen, wenn seine Neigungen in diese Richtung wiesen und sein gebrochenes Bein ihm eine solche Aktivität gestattete. Das Bein schien ohnehin überraschend schnell zu heilen; sie hatte es fest bandagiert, die Schwellung war zurückgegangen, und er klagte nicht mehr über Schmerzen.

Warum also scheute sie das Bett mit so mädchenhafter Zurückhaltung?

Kathryn glaubte es zu wissen, obwohl sie dieses Wissen gern mit anderen Erklärungen bemäntelte: Es war nicht, weil sie Angst hatte, mit Vorneen zu schlafen; es war, weil sie sich vor der Stärke ihres eigenen Verlangens fürchtete. Irgend etwas an diesem blassen, schlanken, unwahrscheinlich hübschen Mann übte eine große körperliche Anziehung auf sie aus. Und so war es vom ersten Moment an gewesen. Kathryn glaubte nicht an Liebe auf den ersten Blick, aber Verlangen auf den ersten Blick war eine andere Sache, und es hatte sie ergriffen. Sie war entsetzt über die Intensität dieser Gefühle. Wenn sie die Barriere zwischen sich und ihm nur ein wenig herunterließ, konnte alles geschehen.

Alles.

Zuerst mußte sie mehr über ihn erfahren.

Sie zupfte seine Bettdecke zurecht und nahm den Notizblock vom Nachttisch. ›Ich bin nach Albuquerque einkaufen gefahren‹, schrieb sie. ›Machen Sie sich keine Sorgen; in ein paar Stunden werde ich zurück sein. K.‹ Sie legte die Notiz auf das unbenützte Kopfkissen neben ihm und ging ins Kinderzimmer.

Jill, die ruhig gespielt hatte, ließ sich ohne Widerstreben den Mantel anziehen und hinausführen. Sie hatte die leichte Anpassungsfähigkeit einer Dreijährigen für Veränderungen der Umgebung und der Umstände. Sie erinnerte sich noch an ihren toten Vater, aber nur vage, und genau genommen beschränkte sich das Gedächtnisbild darauf, daß sie jemanden Papa genannt hatte. Würde Ted plötzlich zur Tür hereinkommen, würde Jill ihn wahrscheinlich nicht wiedererkennen. Das entlaufene Kätzchen verblaßte genauso in ihrer Erinnerung, nur in viel kürzerer Zeit. Was Vorneens ebenso unvermittelte wie unerklärliche Ankunft betraf, so schien Jill sich überhaupt keine Gedanken darüber zu machen. Sie hatte es als ein Phänomen ihrer Umwelt akzeptiert, wie den Wechsel von Tag und Nacht oder das Kommen des Postboten. Für Jill war Vorneen ein Besucher, jemand, der bei der Familie blieb, und nach dem zweiten Tag hatte sie alles Interesse für den Mann im Bett verloren.

Kathryn brachte Jill über die Straße zu einer Nachbarin, mit der sie eine unbestimmte, distanzierte Freundschaft unterhielt. Die Frau hatte vier Kinder unter zehn Jahren, und es schien ihr nichts auszumachen, ein weiteres zu behüten. »Können Sie Jill bis ungefähr fünf Uhr bei sich behalten?« fragte sie. »Ich muß in die Stadt.« So einfach war es. Jill winkte ihr nach.

Fünf Minuten später war Kathryn auf der Hauptstraße. Der batteriegetriebene Wagen summte mit achtzig Meilen in der Stunde an Bernalillo vorbei und tauchte in die Vorstadt von Albuquerque ein. Um diese Stunde war der Verkehr noch leicht. Graue Wolkenbänke trieben im winterlichen Himmel, schwer und Schnee verheißend. Kathryn fühlte sich beschwingt und angenehm erregt. Hier in der Stadt gab es Leute, die ihr über Fliegende Untertassen Auskunft geben konnten, und dies war ein guter Tag, um mit ihnen zu reden.

Als sie den Wagen in der großen Tiefgarage unter dem Rio Grande Boulevard abgestellt hatte, wanderte Kathryn ostwärts in die Altstadt. Im Telefonbuch war die Romero Street als Adresse des Kontaktkultes angegeben. Natürlich wurde er von seinen Anhängern nicht Kontaktkult oder gar UFO-Klub genannt; das waren Zeitungsnamen, und Kathryn konnte verstehen, daß die Leute solche Bezeichnungen verabscheuten. Der offizielle Name der Gruppe lautete »Vereinigung für die Bruderschaften der Welten«. Kathryn fand sie im Telefonbuch unter der Rubrik »Religiöse Organisationen«.

Eine polierte Bronzetafel neben der Tür eines heruntergekommenen alten Gebäudes zeigte an, daß sie an Ort und Stelle war. Kathryn blieb eine Weile unschlüssig davor stehen. Ihre Wangen wurden plötzlich flammendrot, als sie sich erinnerte, mit welch ätzendem Spott Ted von dieser Vereinigung gesprochen hatte, wie er sich über ihren mystischen Pomp, ihre Séancen in Stonehenge und Mesa Verde und ihre frömmelnde Mixtur aus altertümlichem Ritual und modernem wissenschaftlichem Klimbim lustig gemacht hatte. Ted hatte gesagt, daß die Hälfte der Mitglieder des Kontaktkultes Betrüger und die andere Hälfte ihre willigen Opfer seien, und daß er Frederic Storm, den Vorsitzenden, für den größten Betrüger von allen halte. Kathryn gab sich einen Ruck und ging hinein. Teds Ansichten spielten jetzt keine Rolle. Sie war nicht gekommen, um der Vereinigung beizutreten. Sie wollte bloß Informationen.

Die kostspielige Inneneinrichtung strafte die schäbige Fassade des Hauses Lügen. Kathryn sah sich in einem hohen Vorraum, der bis auf ein paar elegante Ledersessel und eine schimmernde Bronzestatuette auf einem Marmorsockel leer war. Diese Statuette stellte das Wahrzeichen des Kontaktkultes dar, eine nackte Frau mit geschlossenen Augen, die Arme zu den Sternen ausgestreckt. Kathryn hatte das Emblem immer für kitschig und albern gehalten, aber nun war sie — zu ihrem Unbehagen — nicht mehr so sicher. Auf drei Seiten des Raumes führten kostbare Mahagonitüren ins Innere des Gebäudes.

Sie wußte, daß sie beobachtet wurde. Ein Moment verging, und eine der Türen wurde geöffnet. Eine Frau von etwa vierzig Jahren kam heraus und lächelte ein professionelles Lächeln. Ihr Haar war streng zurückgekämmt, ihre Kleidung von moderner Einfachheit. Am Kragen trug sie das stilisierte kleine Modell einer Fliegenden Untertasse, das als Mitgliedsabzeichen der UFO-Gläubigen diente.

»Guten Tag. Kann ich Ihnen helfen?«

»Ah — ja«, sagte Kathryn unschlüssig. »Ich — ich hätte gern ein paar Auskünfte…«

»Gut. Würden Sie bitte mit mir kommen?«

Sie wurde in ein Büro geleitet, das einem Bankpräsidenten Ehre gemacht hätte. Die schlicht und sachlich agierende Frau nahm hinter einem würfelförmigen Schreibtisch Platz. Kathryn sah die grüblerischen, bewußt mystisch-entrückten Züge Frederic Storms aus einer meterhohen Fotografie von der Wand herabstarren. Der Führer, dachte sie. Heil!

»Sie sind ein wenig früh gekommen, um an unserer Abendfeier teilzunehmen«, sagte die Frau. »Um acht Uhr heute abend wird Frederic Storm auf dem Bildschirm zu sehen sein, und das sollten Sie nicht missen. Aber in der Zwischenzeit bin ich Ihnen gern bei Ihrer Orientierung behilflich. Haben Sie schon einmal einer Gruppe der Vereinigung angehört?«

»Nein«, sagte Kathryn. »Ich…«

»Dann handelt es sich nur um eine Routine, die rasch erledigt sein wird.« Die Frau stellte ein Aufnahmegerät auf den Tisch. »Wenn Sie uns ein paar Fragen beantworten, können wir Sie sofort als Mitglied aufnehmen und Sie an der Harmonie unserer Gruppe teilnehmen lassen. Ich nehme an, unsere grundsätzlichen Ziele und unsere Lehre sind Ihnen in Umrissen bekannt?« Die Frau nickte Frederic Storms Abbild bedeutungsvoll zu. »Vielleicht haben Sie einige von Frederic Storms Büchern über seine Kontakte mit unseren Brüdern aus dem All gelesen? Er ist ein wunderbarer Schriftsteller, würden Sie nicht auch sagen? Ich verstehe nicht, wie ein vernünftiger Mensch seine Bücher lesen kann, ohne zu erkennen, daß…«

Kathryn unterbrach sie. »Es tut mir leid, ich habe keines von seinen Büchern gelesen. Ich bin auch nicht zur Abendfeier gekommen, oder um Mitglied zu werden. Ich wollte nur ein paar Informationen.«

Der Ausdruck professioneller Wärme verschwand. »Arbeiten Sie für die Presse oder das Fernsehen?« fragte die Frau schroff.

»Sie meinen, ob ich Reporterin bin? O nein. Ich bin nur eine — eine gewöhnliche Hausfrau. Ich mache mir Sorgen über diese Weltraumdinge, die Untertassen und alles das, und ich weiß nicht, wo ich mit meinen Fragen anfangen soll, außer daß ich mehr darüber wissen möchte, ob es Wesen dort draußen im Raum gibt und was sie von uns wollen. Wissen Sie, ich wollte schon lange einmal vorbeikommen, und als ich vor ein paar Tagen diesen Feuerstreifen am Himmel sah, war es der letzte Anstoß. Aber ich bin wirklich unwissend. Sie werden mit mir ganz unten anfangen müssen.«

Die Frau vom Kontaktkult entspannte sich und gab ihre Abwehrhaltung gegen die vermutete Zeitungsschnüfflerin auf. »Vielleicht sollten Sie mit unserer Literatur beginnen«, sagte sie und nahm einen dicken Umschlag aus einem Schreibtischfach, um ihn Kathryn zuzuschieben. »Darin finden Sie alle für den Anfang wichtigen Broschüren. Und hier —« sie legte ein ziemlich umfangreiches, kartoniertes Buch auf den Umschlag — »haben Sie die letzte Ausgabe von Frederic Storms Werk ›Unsere Freunde, die Galaktiker‹. Ein sehr inspirierendes Buch.«

»Ich werde mir alle durchlesen.«

»Wir erheben eine Schutzgebühr von zwei Dollar für das Material.«

Kathryn war bestürzt. Proselytenmacher pflegten ihre potentiellen Gläubigen nicht so frühzeitig zur Kasse zu bitten. Sie schürzte die Lippen und kramte in ihrer Handtasche. Zwei zerknautschte Dollarnoten landeten auf dem Tisch.

»Dann haben wir auch noch einen viertelstündigen Informationsfilm, den wir alle halbe Stunde in unserem Vorführsaal im zweiten Stock zeigen. Die nächste Vorstellung beginnt in fünf Minuten.« Ein schnelles Lächeln. »Sie ist kostenlos.«

»Ich werde mir den Film ansehen«, versprach Kathryn.

»Fein. Wenn Sie anschließend das Gefühl haben, Sie würden sich gern eingehender mit dem beschäftigen, was Frederic Storm der Welt zu sagen hat, dann kommen Sie zurück. Ich werde Sie in diesem Fall als vorläufiges Mitglied eintragen. Das berechtigt Sie, an der heutigen Abendfeier teilzunehmen.«

»Gut«, sagte Kathryn. »Dürfte ich Ihnen nun eine Frage stellen? Es ist etwas über Fliegende Untertassen, nicht über die Vereinigung hier.«

»Aber bitte, selbstverständlich.«

»Dieser Lichtstreifen am Montagabend. Das war doch in Wirklichkeit kein Meteor, nicht? Glauben Sie nicht, daß es eine Fliegende Untertasse war, vielleicht eine explodierende?«

»Frederic Storm glaubt, daß es tatsächlich ein Fahrzeug galaktischer Besucher gewesen ist«, sagte die Frau spröde. Sie war wie ein Roboter, wiederkäute die Worte des Vorsitzenden und war stets bedacht, ihn mit seinem vollen Namen zu nennen. »Er hat gestern eine kurze Stellungnahme dazu veröffentlicht, und er plant Anfang nächster Woche im Rahmen einer Feierstunde ausführlicher auf das Ereignis und seine Bedeutung für uns einzugehen.«

»Und er sagt, es sei eine Fliegende Untertasse gewesen? Was ist aus der Besatzung geworden?«

»Er hat nichts über die Besatzung verlautbart.«

»Angenommen«, sagte Kathryn unbehaglich, »angenommen, die Mannschaft wäre abgesprungen. Ist das möglich? Ich meine, daß sie landen könnten und wie menschliche Wesen aussehen und vielleicht von uns entdeckt und in unsere Häuser kommen würden? Können Sie mir sagen, ob so etwas schon einmal vorgekommen ist?«

Sie fürchtete, daß sie zu direkt gewesen sei, und sie war darauf gefaßt, daß diese Frau sie bedrängen und verlangen würde, sofort zu dem galaktischen Besucher in ihrem Haus gebracht zu werden. Aber nein, da war kein Zeichen persönlichen Interesses, nur das Umschalten auf die Deklamation des passenden Glaubensartikels.

»Gewiß sind die Galaktiker schon viele Male auf der Erde gelandet und in menschlicher Form unter uns gekommen. Denn sie sind ja menschlich, nur weiter fortgeschritten, der Gottähnlichkeit näher, die das Endziel unseres Strebens ist. Frederic Storm würde sagen, daß eine sichere Landung der Wesen an Bord des Schiffes sehr wahrscheinlich sei. Aber wir haben nichts von ihnen zu fürchten. Sie müssen verstehen, daß diese Wesen wohlwollend sind. Aber kommen Sie jetzt, Sie versäumen sonst unseren Film. Wenn Sie anschließend in mein Büro kommen, wird Ihnen die Bedeutung dieses einzigartigen und wunderbaren Augenblicks in der menschlichen und außermenschlichen Geschichte viel tiefer bewußt sein.«

Kathryn wurde geschickt aus dem Büro manövriert und fand sich allein im leeren Vorraum wieder. Ein Wegweiser zeigte die Treppe hinauf, und sie folgte ihm in den Vorführsaal, einen großen, abstrakt aussehenden Raum. Die Rückwand bestand aus einem großen 3D-Bildschirm, davor waren etwa zwanzig Sitzreihen. Die Seitenwände waren mit den Emblemen der Vereinigung, Porträts von Frederic Storm, Himmelskarten und anderem Zubehör behängt. Vier andere Leute, alles ältere Frauen, waren anwesend. Kathryn setzte sich in eine der hinteren Reihen, und fast im gleichen Augenblick erloschen die Lichter. Auf der Leinwand wurde es lebendig.

Die Stimme eines Sprechers sagte mit unheimlich hallendem Klang: »Aus dem unermeßlichen Kosmos, durch die unvorstellbaren Tiefen intergalaktischen Raumes, kommen freundliche Besucher zu unserem bescheidenen Planeten.«

Auf der Leinwand: die Sterne. Die Milchstraße. Die Kamera richtet sich auf eine Gruppe von Sternen. Halbtotale. Plötzlich ein Blick auf unser Sonnensystem, die Planeten wie Perlen am Himmel aufgereiht. Saturn, Jupiter, Mars, Venus, die Erde mit unnatürlich hart nachkonturierten Kontinenten, ein offensichtlich zurechtgemachtes Bild, alles andere als eine echte Ansicht aus dem Raum. Und dann eine Fliegende Untertasse im Anflug auf die Erde, zuerst unendlich klein im Raum, ein bewegter Lichtpunkt, dann größer und immer größer. Kathryn mußte sich beherrschen, um nicht laut herauszulachen. Die Untertasse war ein komisches Ding mit vielen Bullaugen und blitzenden Lichtern.

»Wesen von gottgleicher Anmut, übermenschlich in ihren Fähigkeiten, wohlwollend, allwissend — besorgt um unsere von Konflikten erschütterte Zivilisation…«

Nun erschien eine Innenansicht vom UFO auf der Leinwand. Überall technologisches Spielzeug, Rechenanlagen, Armaturen, klickende Maschinerien und Meßgeräte. Und da waren die Untertassenleute: prächtige Exemplare übermenschlichen Lebens, muskulös und stattlich, mit gütigen, Weisheit ausstrahlenden Mienen.

Dann landete das Schiff auf der Erde, senkte sich wie eine Feder herab. Die Handlung wurde lebhaft: Farmer feuerten mit Schrotflinten auf die Besucher, grimmige Männer in Uniformen griffen sie an, hysterische Frauen kauerten hinter Bäumen. Und die galaktischen Besucher inmitten des Getümmels, ruhig, Geschosse und Bomben abwehrend, traurig lächelnd, die verstörten Menschen einladend, sich ein Herz zu fassen…

»In dieser Zeit der Krisen und des Zweifels trat Frederic Storm an die Öffentlichkeit, um sich als Mittler anzubieten…«

Der große Mann ging furchtlos auf die parkende Untertasse zu, lächelnd, die Hände grüßend ausgestreckt. Er zeichnete geometrische Figuren in den Sand, entbot den Fremdlingen mit lauter Stimme sein Willkommen. Ein Schnitt, und Frederic Storm war an Bord der Untertasse. Die Galaktiker schienen mindestens drei Meter groß zu sein. Feierlich drückten sie Frederic Storm die Hand.

»Einer feindseligen, von Not und Angst bedrückten Menschheit brachte Frederic Storm die Botschaft des Friedens. Am Anfang begegnete er nur Spott und Verleumdung, verkannt wie andere große Führer der Menschheit vor ihm…«

Eine aufgebrachte Menge zertrümmert die Windschutzscheibe von Storms Wagen. Steckt ihn in Brand. Im letzten Moment rettet Polizei den Propheten. Haßverzerrte Gesichter, drohend geschüttelte Fäuste.

»Aber da gab es jene, die die Wahrheit in der Mission dieses verfolgten und angefeindeten Mannes erkannten…«

Eine Aufnahme von Frauen, die in einem Supermarkt Schlange standen, um Storms Bücher zu kaufen. Schüler und Anhänger. Storm lächelnd unter ihnen. Storm am Rednerpult im überfüllten Los Angeles Coliseum. Das Tempo wurde fühlbar schneller. Aufbruchsstimmung in einer religiösen Bewegung.

Kathryn rückte unruhig auf ihrem Sitz hin und her.

Die Ein- und Ausblendungen jagten einander mit hohlköpfiger Perfektion. Storm wieder unter den Galaktikern, Storm an der Spitze seiner Anhänger in Gebet und Meditation, Storm im offenen Wagen, umjubelt, Storm in Großaufnähme, das Wort direkt an die Zuschauer richtend, alle Menschen beschwörend, vom Mißtrauen abzulassen und die wohlwollenden Galaktiker von ganzem Herzen willkommen zu heißen. Dann eine Folge von Einblendungen anderer Untertassen-Seher: Nervös angespannte Frauen erklärten, sie hätten die Galaktiker gesehen: »Ja, ganz bestimmt, mit meinen eigenen Augen.« Und hagere, zitternde Männer verkündeten, sie seien mit den Schiffen der Untertassenleute geflogen, »wirklich und wahrhaftig«. Eine abschließende Bildfolge zeigte eine authentische Feier der Vereinigung für die Bruderschaft irgendeiner religiösen Sekte, voll von gebrüllten Segenssprüchen und ekstatischen Behauptungen, von fuchtelnden Armen, schweißglänzenden Stirnen und glasig starrenden Augen, von verzückten Berichten über Kontakte mit den galaktischen Übermenschen. Der Film endete mit einer Rhapsodie dröhnender Orgelakkorde, die das Gebäude zum Erzittern brachten. Als die Lichter angingen, saßen die vier anderen Frauen bewegungslos und wie betäubt, als sei ihnen eine überwältigende Offenbarung widerfahren.

Kathryn ging schnell hinaus, lief die Treppe hinunter und schlüpfte durch den Vorraum ins Freie, bevor jemand sie sehen konnte. Sie erkannte, daß sie mit diesem Besuch ihre Zeit vergeudet hatte. Alles, was sie über den Kontaktkult gehört hatte, war Wahrheit: Es war nichts als eine Masche zum Geldverdienen, ein Versuch, einfältige und leichtgläubige Gemüter auszubeuten. Frederic Storm war ein Großbetrüger, und seine Anhänger waren entweder verdreht oder fanatisch und borniert, wie die meisten intelligenten Menschen schon immer gesagt hatten. Kathryn fand es auf eine bittere Weise amüsant, daß Vorneen im Garten einer Skeptikerin gelandet war. Was wäre geschehen, wenn er einem wahren Gläubigen vor die Haustür gefallen wäre?

Sie lachte darüber. Sicherlich wäre Storm über Nacht erledigt, wenn einer seiner Anhänger mit einem authentischen Galaktiker im Schlepptau zur Abendfeier erschiene! Es wäre, wie wenn jemand Jesus zum Hochamt mitbrächte; eine unangenehme Lage für die kirchlichen Autoritäten.

Zu dumm, daß die Fahrt nutzlos gewesen war. In ihrer hoffnungslosen Naivität hatte sie beim Kontaktkult vernünftige Beratung zu finden erwartet. Statt dessen hatte man sie um ein paar Dollar erleichtert und einen verkaufsfördernden Hokuspokus aufgezogen, wie er dem Gehirn eines Strategen für Zigaretten- oder Waschmittelwerbung hätte entspringen können. Soviel für die Vereinigung für die Bruderschaft der Welten, dachte sie, als sie ihren Wagen in den dichter gewordenen Nachmittagsverkehr einfädelte. Der Kontaktkult hatte nichts zu bieten. Sie war auf sich selbst angewiesen.

Nachdem sie Jill bei der Nachbarin abgeholt hatte, ging Kathryn in ihr Haus und begann sich über das Abendessen Gedanken zu machen. Sie ging ins Schlafzimmer. Vorneen war wach.

»Wie war es in der Stadt?« fragte er höflich.

»Ich habe nichts erreicht.«

»Was haben Sie da in der Hand?«

Sie merkte, daß sie die Broschüren und Prospekte hielt, die sie beim Kontaktkult gekauft hatte. Ihre Wangen erglühten. »Nichts Besonderes. Werbematerial.«

»Ich könnte etwas zu lesen gebrauchen.«

Kathryn suchte nach einem Ausweg, fand keinen und sagte: »Na schön. Meinetwegen.« Sie warf den Umschlag auf das Bett. Vorneen breitete die Druckschriften vor sich aus.

»Was ist alles das?« fragte er.

»Literatur über Fliegende Untertassen. Ich habe sie in Albuquerque vom Kontaktkult bekommen. Wissen Sie, was ein Kontaktkult ist?«

»Die neue Religion, nicht? Sie gründet sich auf angenommene Zusammenkünfte von Menschen und Wesen aus dem Raum.«

»Richtig«, sagte Kathryn.

»Warum interessieren Sie sich für solche Sachen?« fragte er listig.

Sie schaute ihm in die Augen. »Ich interessiere mich für vieles, aber mit diesen Leuten habe ich meine Zeit verschwendet. Sie versuchen einem das unsinnigste Zeug aufzubinden. Ihre ganze Religion haben sie selbst erfunden. Sie würden ein echtes galaktisches Wesen nicht erkennen, wenn es zu ihnen käme und Guten Tag sagte.«

»Sind Sie dessen sicher?«

»Ja«, sagte sie fest.

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