IV.

Sie brauchten zwei weitere Tage, um den Kamm des Ripergebirges zu erreichen, doch als sie nach einem langen, anstrengenden Marsch über ein kahles Felsplateau unter sich in einem Talkessel Burg Sternental erblickten, gestand sich Falk ein, dass allein dieser unglaubliche Anblick beinahe schon Lohn genug war für all die Mühen, Qualen und tagelangen Entbehrungen, die hinter ihnen lagen.

„Da ist es“, raunte Jael ungewohnt ehrfurchtsvoll, trat an den Rand des Felsvorsprungs, auf den sie gelangt waren, und ließ ihren Blick über die Magier-Enklave schweifen, „Burg Sternental...“

Falk trat neben sie. Der Anblick Sternentals übertraf alles, was er sich in seinen kühnsten Träumen vorgestellt hatte. Selbstverständlich hatte er sich in den letzten Tagen so seine Gedanken darüber gemacht, was sie wohl auf der anderen Seite des Berges erwarten mochte, aber jetzt musste er feststellen, dass keine seiner Vorstellungen auch nur annähernd mit der Wirklichkeit gleichziehen konnte. Die Burg war in jeder Hinsicht unvorstellbar, und den Blick über die unzähligen Zinnen, Türme, Dächer und Balkone der Enklave schweifen zu lassen, war, als werfe man einen Blick in eine vollkommen andere Welt.

Dabei war schon der Name an sich unwahr, denn Burg Sternental bestand nicht aus einer Burg allein, sondern gleich aus einem halben Dutzend Burgen, die zu den unterschiedlichsten Zeiten und in den verschiedensten Stilen in dem perfekt kreisförmigen Talkessel errichtet worden waren. Während eine der Burgen verspielte Schnörkel und üppige Verzierungen aufwies, herrschten bei der direkt daneben gerade, fast zweckmäßige Linien vor. Da standen Kreuzrippen- und Spitzbögen neben Stützsäulen und Rundbögen, Balustraden und Rusthitzierungen neben pompöser Pracht und Überschwänglichkeit. Sogar die Fenster der Burgen spiegelten die unvergleichliche Vielfalt dieses Ortes wider, da keins dem anderen gleich; da reihten sich kunstvolle Buntglasfenster neben schlichtem Bleiglas. Extravagante Fresken, aus unzähligen einzelnen Glasstücken zusammengefügt, zeigten in künstlerischer Meisterschaft Darstellungen der ancarianischen Historie: die Schöpfung der Welt, die Götterkriege, die Zeit der Zersplitterung, die erste Inquisition und die Entstehung von Burg Sternental.

Zwar waren die Burgen alle mehr in die Höhe als in die Breite gebaut – die niedrigste maß gut und gern hundert Schritte vom Fundament bis zur kupfereisernen Wetterfahne in Form eines Pentagramms auf der obersten Spitze –, doch da alle nebeneinander standen und durch ein chaotisches Wirrwarr von Stegen und Gängen miteinander verbunden waren, entstand der Eindruck, man habe eine einzige gewaltige Burg vor sich, die sich mit sechs verschiedenen Spitzen und Haupttürmen in den Himmel schob, der höchste dieser Türme so hoch, dass die Spitze beinahe die Wolken berührte.

Sonderbare sphärische Lichter in allen Farben des Regenbogens tanzten um die knospenförmige Spitze dieses Turms, wie riesenhafte Glühwürmchen, und als Zara genauer hinsah, schien es, als würde der Himmel über der Enklave verhalten wabern, wie die Luft an einem heißen Sommertag, als wäre die Atmosphäre mit knisternder Magie aufgeladen.

Doch das Bemerkenswerteste an Burg Sternental war, dass sich weder in der Stadt noch im gesamten Talkessel auch nur eine einzige Schneeflocke fand; der Boden rings um die Enklave war schwarz und fruchtbar, die Zinnen und Dächer der Burgen und Häuser ohne jedes Weiß. Auch sonst ließen sich keine Spuren des Winters entdecken, der die Gefährten hoch oben auf dem Pass mit eisigem Griff umfangen hielt: keine frostweißen Büsche und Sträucher, kein grau gefrorener Boden, keine filigranen Eisblumen an den unzähligen Fenstern. Dafür lag der Schnee auf dem rundum laufenden Kamm des Talkessels meterhoch. Es schien, als machte Väterchen Frost ganz bewusst einen Bogen um diesen Flecken Erde.

Ja, mehr noch, es sah so aus, als hätte in der Enklave gerade der Sommer Einzug gehalten, denn die riesigen, uralten Kastanien, die gleich einer Allee in die Stadt hineinführten, standen in voller Blüte, ebenso wie die dichte, haushohe Wildrosenhecke, die sich wie eine natürliche Stadtmauer um das Innere der Enklave zog, was umso erstaunlicher war, da in der Enklave zwar eine andere Jahreszeit zu herrschen schien, der Himmel über Sternental jedoch ebenso finster und wolkenverhangen war wie über dem Rest der Region.

Zara konnte sich auf das Wetterphänomen keinen anderen Reim machen, als dass die Magiegesetze in Sternental doch nicht so streng eingehalten wurden, wie Jael und die, die hinter ihr standen, bisher angenommen hatten. Doch sie behielt ihre Gedanken für sich; solange die Verbotenen Künste zu nichts anderem verwandt wurden, als schlechtes Wetter abzufangen, war ihr das völlig egal.

Sternental war nicht nur von kargem Stein umschlossen; von drei Seiten her war das Tal von tiefen Wäldern umgrenzt, die bis an die Felsen reichten. Es waren Wälder mit stattgrünen Laubdächern; auch sie zeigten keinerlei Anzeichen des Winters.

„Unglaublich“, murmelte Falk fasziniert. Seine Augen leuchteten wie die eines Kindes. „Nie im Leben hätte ich mir träumen lassen, dass es irgendwo in Ancaria solch einen Ort gibt.“

Zara konnte ihm nur zustimmen. So weit sie in all den Jahrhunderten, die sie nun schon auf Erden weilte, auch herumgekommen war, nirgends hatte sie etwas Vergleichbares erblickt; egal, wie weit man fortsegelte oder wie hoch man auf irgendwelche Berge stieg, soweit Zara das beurteilen konnte, war die Magier-Enklave Burg Sternental einzigartig.

Fasziniert beobachtete sie das Spiel der tanzenden Lichter rings um die zentrale Burg. Mit ihren unzähligen Erkern und Vorsprüngen und Türmchen aller Art schien sie der überbordenden Fantasie eines größenwahnsinnigen Architekten entsprungen zu sein. Die Lichter bewegten sich wie lebendige Wesen, tanzten in der Luft auf und ab, hin und her, schimmernd in allen Farben des Regenbogens, und Zara spürte, wie sie bei diesem Anblick eine seltsame, fast kindliche Euphorie überkam.

Von solchen Orten hatte sie geträumt, als sie noch ein Mädchen gewesen war, unbedarft und unschuldig, und in ihren Träumen hatten lauter gute, weise Zauberer mit spitzen Hüten und bodenlangen Barten diese Orte bewohnt, die Steine in weiße Häschen verwandelten und aus heiterem Himmel farbenfrohe Feuerwerke niedergehen ließen; Zauberer, die ihre Künste nur einsetzten, um die Menschen zu erfreuen, ihnen zu helfen und dem Bösen in der Welt die Stirn zu bieten.

Doch das waren nur die unschuldigen Träume eines Kindes gewesen, dies hier war die Wirklichkeit, und die war bei weitem nicht so rosarot, denn bei allem Zauber und aller märchenhaften Faszination war da auch etwas unsagbar Dunkles an diesem Ort, etwas, das sich weder recht begreifen noch konkret in Worte fassen ließ. Aber es war ohne Frage da, und je weiter Zara den Blick an der imposanten zentralen Burg nach unten schweifen Heß, desto mehr Belege fand sie dafür.

Es war beinahe, als wäre die Burg in verschiedene Ebenen aufgeteilt; während das Bauwerk in den oberen Bereichen majestätische Erhabenheit und verspielten Zauber ausdrückte, wurde das Gemäuer dunkler und schäbiger, je weiter man hinabstieg, je weiter man sich dem Boden näherte, bis sich schließlich am Fuß der Burg ein Wirrwarr einfacher, windschiefer Häuser mit staubigen Butzenfenstem und spitz aufragenden Schieferdächern ausbreitete, durch das sich ein Labyrinth schmaler verwinkelter Gassen zog wie Venen durch ein Stück marmoriertes Fleisch. Die Gebäude drängten sich wie Schutz suchend an die Mauern der mächtigen Burgen, nicht wirklich verwahrlost, aber doch auf bestem Wege dahin. Aus Hunderten schiefer Schornsteine stiegen grauweiße Rauchsäulen in den Himmel.

Die Gefährten standen eine ganze Weile nur da und genossen wie verzaubert den einzigartigen Anblick, bis sie unvermittelt eine eisige Bö aus ihren Träumereien aufschreckte – hier oben auf dem Pass war von dem Sommer, der unten im Talkessel herrschte, leider nichts zu merken.

Jael war die Erste, die wieder zu sich fand. „Wir müssen weiter“, drängte sie und schwang sich – von neuer Energie erfüllt – elegant in den Sattel ihres Pferdes. „Von jetzt an wird uns der Berg wohlgesonnen sein.“

Sie hatte Recht: Im Gegensatz zum Aufstieg bereitete ihnen der Weg vom Felskamm hinab in den Talkessel kaum Mühe. Der Pfad, der auf der anderen Seite des Berges so steil und beschwerlich in die Höhe führte, verwandelte sich vor ihnen in einen breiten, seicht abfallenden Weg, der sich in sanft gewundenen Serpentinen hinab in die Tiefe wand, und so, wie es immer kälter geworden war, je näher sie dem Gipfel kamen, wurde es jetzt stetig wärmer, als sie sich dem Fuß des Felsens näherten. Bald waren die letzten Reste Schnee auf ihren Schultern geschmolzen, und als sie schließlich drei Stunden, nachdem sie Burg Sternental ansichtig geworden waren, zum ersten Mal seit fast einer Woche wieder Erde und Gras unter den Hufen ihrer Pferde hatten, war es so warm, dass sie ihre dicken Wintermäntel ausziehen konnten; an diesem betörenden Frühsommerabend hatten sie dafür keine Verwendung mehr.

Froh darüber, den eisigen Klauen von Väterchen Frost auf so wundersame Weise entronnen zu sein, folgten sie dem Pfad durch duftende blühende Wiesen voller Sommerblumen bis zur Siedlung am Fuße der Burg. Ein Stadttor gab es nicht; dafür befand sich in der imposanten, wild wuchernden Hecke, die die Stadt wie eine natürliche Mauer umgab, ein von zwei haushohen steinernen Obelisken flankierter Durchlass. Als sie zwischen den riesigen Steinsäulen hindurchtrabten, stellte Zara fest, dass die Säulen über und über mit eingemeißelten kryptischen Schriftzeichen in einer uralten Sprache versehen waren, die schon tot war, als es Ancaria kaum gegeben hatte.

Jael aber überraschte ihre Begleiter, indem sie mit Blick auf die Zeichen mit respektvoll gesenkter Stimme vorlas: „Nur über verwinkelte Treppen gelangt man in höchste Höhen ...“

„Wie poetisch“, kommentierte Zara.

„Das ist der Wahlspruch der Magiergemeinschaft von Sternental“, erklärte Jael, während sie die Säulen passierten und in die Unterstadt trabten, die nicht im Mindesten so majestätisch und einladend wirkte wie die gigantische Burg, die über ihr aufragte. Die schmalen kopfsteingepflasterten Straßen und Gassen zwischen den windschiefen, aus grobem Backstein und Holzbohlen errichteten Häusern waren ausgetreten und löchrig. Viele Fenster der Häuser waren gesprungen und blind von Staub und Jahren, und hier und da ragten die Giebel der vielfach notdürftig geflickten Schindeldächer so weit auf die schmale, kaum zwei Meter breite Straße, dass sie fast mit denen der gegenüberliegenden Gebäude zusammenstießen und man zuweilen den Eindruck hatte, sich durch einen Tunnel zu bewegen.

Die Hufe der Pferde hallten hohl und klappernd von den schmutzigen Wänden der Gebäude wider, und ein seltsamer, süßlich-bitterer Geruch schwängerte die Luft, den Zara nicht recht einzuordnen vermochte. Erst dachte sie, er käme von den Abfallkübeln, die sich in den Gassen zwischen den Häusern aneinander reihten, doch dann erkannte sie, dass der Geruch aus den Schornsteinen der Häuser stieg, so als würde drinnen etwas auf dem Feuer köcheln, das nicht sonderlich für den Verzehr geeignet war.

Die meisten Häuser, an denen sie vorbeikamen, schienen Wohnhäuser zu sein, aber es gab auch einige Läden, in deren stockfleckigen Schaufenstern alte Folianten, Kräuter, Arzneien und seltsam anmutende Amulette feilgeboten wurden; Dinge, die eindeutig als Zauberutensilien zu erkennen gewesen wären, sahen sie hingegen nicht: keine in Alkohol eingelegten Krähenfüße, keine getrockneten Tollkirschen und auch kein vorgemahlenes Hexenpulver. Doch das hatte Zara auch nicht erwartet. Wenn hier irgendetwas Verbotenes vor sich ging, würde es wohl kaum so offensichtlich zur Schau gestellt werden, dass jeder x-beliebige Reisende sofort mit der Nase daraufstieß – nicht, dass sie annahm, dass sich allzu viele Reisende hierher verirrten. Doch das Böse wirkte meistens im Verborgenen, direkt inmitten der Ahnungslosen, und wenn man es erkannte, war es oft schon zu spät – so wie bei Salieri, dem verräterischen Priester von Moorbruch.

Zara hoffte, dass sie an diesem sonderbaren Ort wirklich einige Antworten fand; die Vorstellung, sich unverrichteter Dinge wieder auf den beschwerlichen Rückweg machen zu müssen, behagte ihr gar nicht. Doch sie war eigentlich überzeugt davon, dass Jael Recht hatte hinsichtlich Salieris Verbindung zum verbotenen Sakkara-Kult und dass sie Iliam Zak hier in Sternental auch ausfindig machen würden.

Während sie hintereinander her durch die schmalen Gassen trabten, schien es, als wären sie die einzigen Menschen in ganz Sternental. Niemand ließ sich auf den Straßen blicken, und wenn nicht hinter den staubigen Fenstern hier und da Feuerschein zu sehen gewesen wäre, hätten sie fast meinen können, die Siedlung wäre vollständig verlassen, eine Geisterstadt.

Nur einmal sah Zara hinter einem Gaubenfenster flüchtig ein Gesicht zwischen vergilbten Gardinen hervorlugen: das einer verhutzelten, faltigen Alten mit Geiernase und vorspringendem Spitzkinn, die sich – so schien es zumindest – mit ihren langen, scharfen Fingernägeln einen Apfel schälte. Doch als Zara noch einmal den Kopf hob, um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht geirrt hatte, war das Fenster dunkel und leer.

Dann kamen sie an einer Schenke vorbei. Über der wuchtigen Tür hing an einer rostigen Kette ein Holzschild, auf dem der Name der Taverne geschrieben stand: Zum räudigen Köter.

Zwar drang aus der Schenke kein einziger Laut – kein Gläserklirren, keine Musik, kein Stimmengemurmel –, doch dafür stieg den drei Reisenden der Duft von gekochtem Fleisch und warmem Honigbier in die Nase, und Falks Magen knurrte wieder einmal so laut, dass Thor die Ohren spitzte. Der atemberaubende Anblick der Enklave hatte den jungen Falschspieler und Abenteurer seinen Hunger für eine Weile vergessen lassen, doch nun rief Falk mit fast hysterischer Stimme: „Hier gibt’s was zu essen!“

Er blickte Zara an und fügte hinzu: „Ich sterbe vor Hunger. Ich finde, wir sollten uns erst einmal stärken und den einen oder anderen Humpen heben, zur Feier des Tages. Weil wir Sternental erreicht haben, ohne draufzugehen und so.“

„Später“, sagte Jael, und ihr Blick glitt die Gasse hinab. „Erst müssen wir noch jemandem einen Antrittsbesuch abstatten...“

Dieser Jemand war Godrik, der Enklavenvorsteher, der im höchsten Turm der höchsten Burg von Sternental residierte. Eine imposante, wenn auch kurze Allee riesiger knorriger Eichen mit ausladenden, sattgrün leuchtenden Kronen führte über einen kopfsteinbeleglen Ring, der die Burg umgab, hinauf zum riesigen, bogenförmigen Portal. Es war dreimal so groß wie ein Mensch und breit wie ein Scheunentor.

Auf dem Sims darüber kauerten links und rechts zwei gewaltige Wasserspeier, in grauen Stein gemeißelte Wächter mit Löwenkörpern und Dämonenfratzen, die Schwingen von Fledermäusen hinter dem Rücken gefaltet, doch jederzeit bereit, sie auszubreiten, sodass sich die grauenvollen Mischwesen in die Lüfte erhoben. Die Steinfiguren waren das Werk eines echten Meisters, so lebensecht, dass Falk beim Anblick ihrer wie zum Schlag erhobenen Klauen und den weit aufgerissenen zähnestarrenden Mäulern ein kalter Schauer überlief. Er hatte das Gefühl, die pupillenlosen steinernen Augen würden ihm bei jedem Schritt folgen, und vielleicht, so dachte Falk schaudernd, taten sie das tatsächlich. An einem Ort wie diesem, musste man da nicht mit allem rechnen?

Sie stiegen von den Pferden, banden die Tiere an einem der Bäume fest und näherten sich unter den wachsamen Blicken der Wasserspeier dem riesigen geschlossenen Portal aus eisenbeschlagenem schwarzen Eichenholz. In die Steinplatte zu Füßen der Tür waren ähnliche altancarianische Symbole eingemeißelt wie in die Obelisken, die den Eingang zur Enklave flankierten. „Der Weg, der uns weiterbringt, ist auch der Weg, der nach innen führt“, las Jael vor.

Falk rümpfte die Nase. „Irgendwie haben die’s hier mit solchen Sprüchen“, brummte er missmutig, noch immer pikiert darüber, dass sie nicht erst in die Taverne eingekehrt waren, um sich nach den Entbehrungen der letzten Tage endlich mal wieder satt zu essen.

Da tat sich das gewaltige Portal plötzlich wie von Geisterhand vor ihnen auf. Die beiden riesigen Torflügel schwangen mit einem verhaltenen Knarren nach innen, um den Blick auf eine riesige, fensterlose Halle freizugeben, die vom Schein mehrerer Fackeln, die in Ösen an den schwarzen Wänden steckten, erhellt wurde. Im Hintergrund der Halle befanden sich die breiten Stufen einer Wendeltreppe, die sich in weiten Spiralen in die Höhe wand. Ehrfurchtsvoll und auch ein wenig zögerlich traten die drei Gefährten über die Schwelle und schauten sich staunend um.

Die Wände und der Fußboden der Halle bestanden aus poliertem schwarzen Onyx, in dem sich ihre Spiegelbilder abzeichneten; wie geisterhafte Zwillinge ihrer selbst begleiteten sie das Trio auf dessen Weg in die Halle, während sich das gewaltige Portal ebenso geisterhaft wieder hinter ihnen schloss, wie es sich aufgetan hatte, ohne dass irgendwo irgendwelche Mechanismen oder Lebewesen zu sehen waren, die dafür verantwortlich gewesen wären.

In regelmäßigen Abständen brannten die Fackeln entlang der Wände, deren flackernder Schein die Halle in ein warmes ruhiges Licht tauchte und im Gegensatz zu den Spiegelbildern der Gefährten nicht von dem Onyx reflektiert wurden, so als würde sich das Licht auf mysteriöse Weise in den schimmernden schwarzen Tiefen des Steins verlieren. Kein Laut war zu vernehmen außer ihren Schritten, die trotz der Größe der Halle seltsam gedämpft klangen, als schritten sie über Teppiche statt über nackten Stein.

Doch das Imposanteste an der Halle war zweifellos die Wendeltreppe, die sich spiralförmig an der Innenwand des Turms nach oben schraubte, immer höher und hoher hinauf, so hoch, dass es fast schien, als würden die stetig im Kreis verlaufenden Stufen bis in den Himmel fuhren. Allein nach oben zu blicken bereitete Falk bereits Schwindel; er wollte gar nicht daran denken, wie es war, von dort oben hinab in die Tiefe zu schauen – oder wie lange es dauern würde, bis sie oben wären ...

„Hölle und Teufel“, murmelte er. „Wie viele Stufen mögen das sein?“

„Sechstausendsiebenhundertdreizehn“, sagte Jael prompt, auch wenn Falk es eigentlich gar nicht so genau hatte wissen wollen.

Zara warf der Seraphim einen fragenden Seitenblick zu. „Woher weißt du all diese Dinge über Sternental? Fast könnte man meinen, du warst schon einmal hier.“

„Das war ich auch“, gab Jael zu. „Vor sehr langer Zeit, als die Inquisition gerade zu greifen begann und hier noch nichts war außer der Großen Burg. Meine Schwestern und ich waren es, die dieses Tal als geeigneten Ort für die Enklave auswählten. Es schien uns ein sicheres Plätzchen zu sein, weit genug entfernt vom Rest des Reichs, als dass sich jemand hierher verirrt, und isoliert genug, dass diejenigen, die hierher verbannt werden, nicht ohne weiteres ihrer Wege ziehen können.“

Als Jael ihre „Schwestern“ erwähnte, zuckte Zara unmerklich zusammen, und für eine Sekunde fiel ein dunkler Schatten über ihr Antlitz, wie eine Wolke, die plötzlich an einem Sommertag den Himmel verdüstert. Doch dieser Schatten war so schnell wieder verschwunden, wie er gekommen war.

„Seit damals hat sich hier viel getan“, fuhr Jael fort. „Ob immer zum Guten, wird sich zeigen.“ Mit diesen Worten setzte sie sich wieder in Bewegung, durchquerte mit zügigen Schritten die große Halle und begann, die endlosen Stufen der Wendeltreppe hinaufzusteigen.

Zara und Thor folgten ihr unverzüglich; Falk hingegen verharrte noch einen Augenblick in der Mitte der riesigen schwarzen Halle, drehte sich mit großen Augen einmal um sich selbst und schüttelte den Kopf, als könnte er nicht glauben, dass es so etwas überhaupt gab. Dann rief Zara am Fuße der Treppe ungeduldig seinen Namen und stapfte die ersten Stufen empor. Nach kurzem Zögern folgte er ihr.

Die Treppe schraubte sich in die Höhe, und die Halle unter ihnen wurde zunehmend kleiner, je mehr Stufen sie hinter sich brachten. Und dann geschah etwas, das Falk einfach nicht begreifen konnte, auch dann nicht, als er versuchte, es sich mit Magie zu erklären: Er war in Gedanken noch mit der Frage beschäftigt, wie er diese sechstausendsiebenhundertdreizehn Stufen überstehen sollte, da er doch jetzt schon vor Hunger auf dem Zahnfleisch kroch, da mündete die Treppe vor ihnen auch schon in einen weiten Korridor, ebenso schwarz und spiegelnd wie die Halle. Am Ende des Korridors, weit in der Ferne, befand sich eine weitere schwere Doppeltür. Und während sich Falk noch verwirrt fragte, wie sie so schnell die Treppe hochgekommen waren und ob es sich nur um Einbildung handelte oder die Burg von innen tatsächlich um einiges größer war, als sie von außen wirkte, standen sie auch schon vor der großen Doppeltür, die sich vor ihnen ebenso geisterhaft auftat wie das Hauptportal der Großen Burg.

Nur dass dem Phänomen seine Entmystifizierung diesmal sogleich folgte, denn kaum hatte sich der linke der deckenhohen Türflügel einen Spaltbreit geöffnet, huschte eine Gestalt in einem weiten grauen Gewand in den Korridor, verstimmt – so schien es – vor sich hinbrummelnd. Es handelte sich um einen älteren Mann mit einem langen, zu mehreren Zöpfen geflochtenen Vollbart und einem mannshohen knorrigen Gehstock. Als er die Gefährten vor der Tür stehen sah, verstummte er abrupt und hielt einen Moment lang überrascht inne, bevor er sich sogleich wieder in Bewegung setzte und mit weit ausholenden Schritten den Korridor entlangeilte, auf die Treppe zu, jeder Schritt begleitet vom Klacken der Stockspitze auf dem Onyxboden.

Zara sah dem Mann einen Augenblick lang nach, während der Türflügel vor ihnen noch weiter nach innen aufschwang. Durch sie gelangten die drei in einen quadratischen Saal mit hoher stuckverzierter Decke und einem fugenlosen Fußboden aus nachtschwarzem Marmor, der von einem Netzwerk feiner weißer Äderchen durchzogen war.

Im ersten Moment wusste Zara damit nichts anzufangen, doch dann erkannte sie, dass die weißen Linien auf dem schwarzen Grund ein feines, meisterhaft herausgearbeitetes Muster auf dem Boden bildeten: einen riesenhaften Greif mit dem Körper eines Löwen und dem Kopf eines Adlers, auf dem Haupt eine Krone wilder Rosen, in den Pranken eine zweiköpfige Schlange, und sofort kam Zara Salieris Siegelring mit dem Symbol des Sakkara-Kultes in den Sinn, auf dem ebenfalls eine zweiköpfige Schlange zu sehen gewesen war, die sich um die Hörner eines Widderschädels wand.

Eine tiefe, volltönende Männerstimme erklang: „Bitte, so tretet näher!“ Der fensterlose Saal hatte die Ausmaße eines großen Bankettsaals und war leer bis auf einen massiven, mindestens acht Meter langen Schreibtisch aus Eichenholz direkt gegenüber der Tür, hinter dem in gleichmäßigem Abstand drei massige Stühle mit hoher lederbezogener Lehne standen, und auf diesen Lehnstühlen wiederum saßen drei ältliche bärtige Männer, die eine Macht und Autorität ausstrahlten, die nahezu körperlich spürbar war.

Zara nahm an, dass es sich um die Administration von Sternental handelte, um den Rat der Bruderschaft, und als die Gefährten nebeneinander näher an den Tisch herantraten, gestand sich die Vampirin ein, dass sie sich Zauberer doch ein wenig anders vorgestellt hatte. Irgendwie märchenhafter, mit langen weißen Barten, spitzen Zauberhüten und Umhängen voller Sterne und Monde darauf. Aber abgesehen von den Barten, die in diesen Kreisen offenbar so etwas wie ein Statussymbol waren, hatten die drei Männer hinter dem Tisch so gar nichts mit ihrer romantischen Vorstellung von Zauberkundigen gemein. Tatsächlich wirkten sie eher wie königliche Beamte oder Steuereintreiber.

Indes die beiden Männer links und rechts kleine kreisrunde Lederkappen trugen, die wirkten, als würden sie eine Tonsur bedecken, fiel dem mittleren Zauberer das lange schlohweiße Haar offen über die Schultern. Sein hageres, ausgezehrtes Gesicht mit den deutlich vorstehenden Wangenknochen hatte etwas bedrückend Asketisches, was durch die nachtschwarze Lederklappe, die das linke Auge verbarg, noch verstärkt wurde. Alle drei Männer waren in einfache graue Kapuzengewänder gekleidet, und neben jedem von ihnen lehnte ein mannshoher Stab am Tisch, genau wie jener Mann einen besessen hatte, der den Saal verlassen hatte. Zara fragte sich, ob es sich dabei um die berühmten Zauberstäbe handelte, von denen in all diesen Geschichten über Magier immer wieder die Rede war, doch die Vorstellung, dass man mit Hilfe dieser knorrigen Stöcke Ratten in Kaninchen verwandeln oder jemandem einen Schweineschwanz anzaubern konnte, erschien ihr zu unglaublich.

Nun standen sie nebeneinander vor dem wuchtigen Tisch, hinter dem die Zauberer saßen wie Könige, und der mittlere der Magier, der sie vorhin aufgefordert hatte, näher zu treten, ergriff wieder das Wort.

„Willkommen, Reisende“, sagte er, und obwohl er seine Stimme nicht erhob, hallten seine Worte in dem großen Saal ehrfurchtgebietend wider, wie ein Echo zwischen Berghängen. Beiläufig bemerkte Zara, dass die Iris seines verbliebenen Auges nicht ein-, sondern zweifarbig war: braun und grün. „Ich bin Godrik, der Enklavenvorsteher, und auch wenn ich mir kaum vorzustellen vermag, was ausgerechnet eine Seraphim nach so langer Zeit wieder hierher verschlagen hat, so freut es mich doch, zu sehen, dass Ihr die Fährnisse Eurer Reise gut überstanden habt.“

„Dann wisst Ihr also, wer wir sind?“, fragte Jael; wenn sie erwartet hatte, dass ihre Worte in dieser seltsamen Umgebung ebenfalls so eindrucksvoll widerhallten wie die des Zauberers, irrte sie. Ihre Stimme klang vollkommen normal, beinahe ein wenig verloren in der großen Halle.

Godrik nickte bedächtig, und seine Rechte schloss sich um seinen Stock, der im Gegensatz zu denen seiner „Beisitzer“ nicht aus knorrigem Baumholz bestand, sondern ein schnurgerader Stab aus polierter weißer Eibe war, der obere Teil mit filigranen Schnitzereien verziert. „Euer Ruf ist Euch vorausgeeilt, Jael, Wächterin des Lichts, Tochter der Delara. Schon seit einiger Zeit rechnen wir mit Eurem Besuch. Was uns hingegen überrascht ist die Gesellschaft, in der Ihr vor uns tretet.“ Der Blick seines zweifarbigen Auges heftete sich auf Zara, und seine Stimme sank ein paar Oktaven tiefer, als er sagte: „Ein Kind der Nacht in diesen Hallen ... allein das ist bereits so abwegig, dass ich es selbst kaum glauben kann. Aber Seite an Seite mit einer Seraphim ... das ist führwahr äußerst erinnerungswürdig!“ Nicht so sehr seine Worte, sondern vielmehr der Tonfall, in dem er sie sprach, zeugte von Vorsicht, Widerwillen – und Sorge. Vor allem von Sorge.

Jael klang überraschend unbekümmert, ja, fast ein wenig trotzig, als sie dagegenhielt: „Noch erinnerungswürdiger wird es, da diese Nosferatu hier die Einzige ihrer Art ist – das einzige Kind der Nacht mit einer Seele.“

Die beiden schweigsamen Beisitzer links und rechts des Enklavenvorstehers wirkten überrascht, Godrik hingegen verzog keine Miene. „Ist das so?“, sagte er und legte leicht den Kopfschief, als könne er Zaras Seele in dieser Haltung besser erkennen. Dann sah er den Wolf an, der neben Zara stand und ihr fast bis zur Hüfte reichte, bevor sein Blick weiter zu Falk und schließlich zurück zu Jael schweifte. „Nun, wie dem auch sei, Ihr seid hier. Jetzt stellt sich die Frage: warum? Was erwartet Ihr, in Sternental zu finden?“

„Antworten“, erklärte Jael knapp.

„Und aufweiche Fragen?“

„Hauptsächlich auf die, ob Iliam Zak noch in der Enklave weilt.“

Die buschigen Augenbrauen des Enklavenvorstehers rückten über der Nasenwurzel zusammen. „Zak?“ Er sprach den Namen mit einer Abneigung aus, die vermuten ließ, dass er und der ehemalige Führer des Sakkara-Kults nicht unbedingt die besten Freunde waren. „Darf man erfahren, was eine Hüterin des Lichts von unserem berüchtigtsten Einwohner will?“

„Informationen“, antwortete Jael ausweichend. „Also lebt er noch?“

„Zak? O ja, Zak lebt noch“, sagte er düster, und es klang, als wäre er über diesen Umstand nicht allzu glücklich. „Er muss inzwischen so alt wie die Welt selbst sein, aber er weilt noch immer unter uns. Er haust allein in einem Turm am Rande eines der Wälder, ein Stück außerhalb der Stadt. Allerdings hält er von der Bruderschaft der Magier ebenso wenig wie wir von ihm, und so gehen wir uns geflissentlich aus dem Weg. Es ist Jahre her, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe – oder sonst einer. Doch wir sind nicht böse darüber; Zak war in unserer Mitte nie willkommen. Zu schwer hat sein Verrat unsere ganze Zunft in Misskredit gebracht.“

„Welcher Verrat?“, wollte Zara wissen.

Godrik warf ihr einen Blick zu, als wollte er sie zurechtweisen, was sie sich einbildete, das Wort an ihn zu richten. Doch dann antwortete er ihr, wenn auch in einem Ton, als müsse die Antwort jeder in Ancaria wissen. „Natürlich sein Verrat an den Hohen Künsten. Dadurch, dass er versuchte, mit Hilfe der Magie und der Unterstützung der anderen Seite Einfluss zu erlangen, ohne Rücksicht auf das natürliche Gleichgewicht der Mächte. Dadurch, dass er sich am Ende sogar anschickte, den Thron des Königs an sich zu reißen. Damit verriet er unsere gesamte Zunft. Uns ging es nie darum, uns mit Hilfe der Hohen Künste persönliche Vorteile zu verschaffen. Vielmehr war uns wichtig, die Elemente zu ergründen, um besser zu verstehen, was wir sind, woher wir kommen und wohin wir gehen.“

„‚Der Weg, der uns weiterbringt, ist auch der Weg, der nach innen führt‘“, zitierte Jael den Sinnspruch auf der Schwelle der Großen Burg.

Godrik nickte bedächtig. „Was wir taten, taten wir zum Wohl der Menschen. Leider gibt es seit jeher einige, die uns und die Hohen Künste fürchten, weil sie dem Irrglauben verfallen sind, wir stünden mit Dämonen im Bunde.“ Er seufzte bitter. „Unwissenheit ist die größte Angst der Menschen; sie fürchten, was sie nicht kennen, und lehnen es deshalb ab.“

„Womöglich haben sie Grund dazu“, sagte Jael. „Nicht all den Brüdern und Schwestern eurer Zunft lag das Wohl der Allgemeinheit stets so am Herzen wie Euch, von dem Magier Zak ganz zu schweigen.“

Godrik nickte. „Ich muss zugeben, dass dies leider stimmt. Im Laufe der Jahrtausende gab es immer wieder Abtrünnige – Zauberkundige, die sich von den dunklen Mächten verführen ließen. Und die dunklen Mächte dienen nun mal nicht den Menschen, noch lassen sie sich von unsereins kontrollieren. Diese Abtrünnigen haben aus ihrem widerwärtigen Egoismus heraus der Welt und sich selbst Schaden zugefügt – wenn auch keiner so sehr wie Iliam Zak, dessen verbotenes Handeln schließlich den Ausschlag dafür gab, dass wir alle hier sind, in Sternental, wo wir auf ewig bleiben werden.“ Er versuchte, die Verbitterung in seinen Worten unter dem Deckmantel der Wut zu verstecken, doch es gelang ihm nicht recht.

„Und nun?“, fragte Zara. „Womit beschäftigt sich die Bruderschaft jetzt tagaus, tagein, da euch die Zauberei bei Höchststrafe untersagt ist?“

„Mit dem Gleichen wie vor tausend Jahren“, erklärte Godrik, „nur in der Theorie statt in der Praxis. Wir haben uns der Wissenschaft verschrieben, mit dem Ziel, das Unerklärliche zu erforschen, statt damit zu experimentieren, in der Hoffnung, eines Tages den Quell der Magie zu finden und ihn für alle Menschen auf friedliche Weise nutzbar zu machen.“

„Mit anderen Worten“, entgegnete Zara, „ihr versucht die Magie erklärbar zu machen, um irgendwann rehabilitiert zu werden und da weiterzumachen, wo ihr damals unterbrochen wurdet, nur mit offizieller Genehmigung – und natürlich zum Wohle der Menschheit.“

Der leichte Spott in ihrer Stimme ließ Godrik zusammenzucken. Er bedachte sie mit einem scharfen Blick und wandte sich demonstrativ wieder Jael zu. „Jetzt, da Ihr wisst, wo Ihr Iliam Zak findet, wäre es da nicht angebracht, mir als dem Enklavenvorsteher zu sagen, was Ihr von ihm wollt? Immerhin trage ich die Verantwortung für die Enklave und alles, was hier geschieht, und ich bin gern darüber informiert, was in meiner Ägide vor sich geht.“

Jael ließ sich nicht einschüchtern. „Wie Ihr wisst, genießt Iliam Zak seit Jahr und Tag die besondere Aufmerksamkeit der Königlichen Inquisition. Unser viel geliebter König ist ein vorausschauender Mann, der gern weiß, wo seine Feinde sitzen. Und Ihr habt selbst gesagt, dass Ihr Zak schon seit langem nicht mehr gesehen habt und ...“

Godrik unterbrach sie: „Wollt Ihr damit andeuten, er wäre vielleicht aus der Enklave geflohen?“ Der Gedanke schien ihn zu erheitern.

Jael zuckte mit den Schultern. „Dieses Gerücht ist zumindest dem König zu Ohren gekommen. Es gibt einige, die behaupten, Zak an den verschiedensten Orten des Reichs gesehen zu haben: in Hohenmut in der Kräutergasse; in Mascarell, wo er auf dem Friedhof die Grabstätten seiner Vorväter besuchte; auf einem Markt in Tyr-Fasul.“ Sie brachte ihre Lügengeschichte derart glaubhaft vor, dass selbst Falk darüber staunte. „Sternental ist kein Gefängnis, und jeder, der gehen will, kann gehen. Zwar wird er dadurch zum Vogelfreien, aber könnte das jemanden wie Iliam Zak von seinen Plänen abhalten?“

Godrik und seine beiden Beisitzer wechselten einen Blick. Dann winkte Godrik ab, vielleicht ein wenig heftiger, als angebracht war. „Iliam Zak geflohen? Unmöglich! Noch nie hat jemand der Enklave den Rücken gekehrt, und wenn er es versucht hätte, wüsste ich davon. Wir haben hier zwar keine Mauern und Tore, aber wir haben gewisse Mög...“ Er unterbrach sich selbst mitten im Wort, offenbar weil er zu der Ansicht gekommen war, dass es nicht ratsam war, weiterzusprechen. Stattdessen erklärte er: „Zak ist in seinem Turm, seit fünfhundert Jahren, und dort bleibt er bis zu seinem Ende, wann auch immer das kommen mag.“

„Euer Wort in allen Ehren“, sagte Jael, „aber es wäre dem König gewiss lieber, aus vertrautem Munde zu erfahren, dass das Gerücht, das am Hofe Kreise zieht, unzutreffend ist.“

„Gerücht, Gerücht...“ Godrik vollführte erneut eine Geste mit der Hand, als wolle er Jaels Worte vom Tisch wischen. „Nichts weiter als Gerede! Wenn Ihr tatsächlich glaubt, hier in Sternental sei etwas im Gange, das gegen die Magiegesetze verstößt, dann irrt Ihr! Selbst wenn ich meine Hand bestimmt nicht für Iliam Zak ins Feuer lege, für die Bruderschaft tue ich es – und auch dafür, dass alles in Sternental so ist, wie es sein soll! Merkt euch meine Worte: Es gibt immer einen Esel, der hofft, durch das Verbreiten eines Gerüchts interessant zu werden!“

„Man sagt auch, dass das Gerücht stets denjenigen als Letzten erreicht, mit dem es sich beschäftigt“, entgegnete Jael schlagfertig.

„Wie auch immer“, brummte Godrik, nicht bereit, auf Jaels Worte weiter einzugehen, auch wenn es in ihm brodelte, „natürlich steht es Euch frei, Euch im Namen des Königs in Sternental umzuschauen, sodass Ihr Seiner Majestät versichern könnt, dass all seine Sorgen unbegründet sind.“ Er nickte den dreien mit arrogantem Wohlwollen zu. „Brutus im Räudigen Köter hat Quartiere zu vermieten. Ich bin überzeugt, dass er Euch einen guten Preis machen wird. Und nun entschuldigt uns bitte.“

Damit war die Unterredung für den Enklavenvorsteher beendet. Ohne ein Wort des Abschieds winkte er in Richtung Tür, die sich daraufhin scheinbar von selbst auftat. Dann beugte er sich zu einem seiner Beisitzer, um ihm leise etwas ins Ohr zu flüstern; für die drei Gefährten hatte er keinen Blick mehr.

Einen Moment lang stand Jael unschlüssig da. Dann drehte sie sich um und durchquerte mit schnellen Schritten den Saal; die anderen folgten ihr. Sobald sie draußen im Korridor waren, schloss sich die Tür hinter ihnen, und endlich konnte Zara ihrem Zorn Luft machen; sie hatte ihn die ganze Zeit über mühsam unterdrückt, um der Seraphim nicht in die Parade zu fahren. „Liebe Güte, was für ein arroganter Kerl! Seine Überheblichkeit wird nur noch übertroffen von seiner Ignoranz!“

Jael schien im Gegensatz zu Zara nicht im Mindesten aufgebracht über die kaltschnäuzige Abfuhr, die der Zauberer ihnen erteilt hatte. Als sie durch den schwarzen Korridor zurück zur Treppe gingen, wirkte sie beinahe erleichtert, als hätte sie damit gerechnet, dass die Unterhaltung noch weit unangenehmer hätte verlaufen können.

Sie hatten das obere Ende der Treppe erreicht, als Zara ihre Neugierde nicht länger zügeln konnte. „Warum hast du ihn angelogen?“, fragte sie die Seraphim.

Die schaute sie fragend an. „Wen angelogen?“

„Na, diesen Zauberer! Warum hast du ihm nicht gesagt, warum wir hier sind?“

Jael gab ihr keine Antwort darauf, sondern sagte: „Es gibt Dinge, die wir besser anderswo besprechen sollten. Hier haben die Wände Ohren.“ Daraufhin blinzelte sie Falk verschwörerisch zu. „Da wir jetzt den offiziellen Teil hinter uns haben, können wir ruhigen Gewissens den einen oder anderen Happen zu uns nehmen. Vielleicht finden wir bei dieser Gelegenheit auch jemanden, der uns den Weg zu Zaks Turm erklärt.“

Falk rieb sich mit beiden Händen über den Bauch und grinste Jael breit an. „Na, endlich! Ich dachte schon, ich müsste am Ende doch noch den Hungertod erleiden!“

Die Aussicht auf einen vollen Teller und einen ebensolchen Magen beflügelte seine Schritte. Von neuem Elan erfüllt, spurtete er die Wendeltreppe nach unten, und erneut war der Weg nach unten erheblich kürzer, als man auf Grund der zahlreichen Treppenstufen annehmen musste. Doch Falks Gedanken konzentrierten sich jetzt aufs Essen, und Zara hatte es mittlerweile aufgegeben, nach Erklärungen für diese Dinge zu suchen; hier war Magie im Spiel, das war die einzige Erklärung, die es gab.

Sie traten durch das große Portal ins Freie, wo bereits eine weitere Überraschung auf sie warteten ...

Seit sie die Große Burg betreten hatten, war die Nacht über Sternental hereingebrochen. Nun brannte auch hier in einigen Fenstern der Unterstadt Licht, aber in den schmalen Gassen zwischen den Häusern nisteten tiefschwarze Schatten. Der Mond kam hin und wieder hinter den schnell dahinziehenden Wolken am Himmel zum Vorschein, doch er spendete kaum Helligkeit.

Das war nicht das Einzige, das sich verändert hatte. Zara spürte, dass es merklich kühler geworden war. Als sie sich umschaute, sah sie, dass die Blätter an den Ästen der alten Eichen, die den Weg zum Portal der Burg säumten, nicht mehr grün, sondern rotgolden waren, und noch während sie hinsah, fiel ein Eichenblatt zu Boden, blieb zu ihren Füßen liegen, ein zweites folgte kurz darauf und dann ein drittes. Zugleich kam ein leichter Wind auf, der ihre Begleiter frösteln ließ und den Geruch von Regen und feuchter Erde mit sich trug. Im vagen Lichtschein, der aus den Fenstern der Gebäude fiel, glänzte das Kopfsteinpflaster vom Nieselregen, der kalt und klamm aus den Wolken fiel.

Der Sommer in Sternental war vorüber.

Es war Herbst geworden ...

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