I.

Der Weg nach Burg Sternental führte sie in südliche Richtung. Wenn sie stets den Gestirnen folgten, die untergehende Sonne im Rücken, würden sie früher oder später zu der legendären Magier-Enklave gelangen, wo sich der Führer des Sakkara-Kults, der Zauberer Iliam Zak, seit Jahrhunderten im Exil befand.

Die drei Gefährten waren an diesem Wintertag von Moorbruch aus aufgebrochen. Der bezaubernde Anblick der verschneiten Landschaft, der sich ihnen darbot, ließ sie die schrecklichen Geschehnisse der letzten Zeit fast vergessen. Es war, als ritten sie durch eine Märchenwelt. Der klirrende Frost und die Kälte hatten Bäume und Sträucher in starre weiße Gebilde verwandelt. Hier und da hingen noch die gefrorenen Früchte des längst vergangenen Sommers an den schneebeladenen Zweigen, an denen sich nun die Vögel gütlich taten, für die es sonst nicht viel zu holen gab. Farne und Gräser waren von einer funkelnden Eisschicht überzogen, und der Schnee rings umher glitzerte, als wäre er mit zerstoßenen Diamanten bestäubt. Frostweiße Spinnweben spannten sich im Gesträuch, und der Boden war so hart gefroren, dass die Hufe der Pferde darauf klapperten wie auf Kopfsteinpflaster.

Sie folgten dem Pfad am Waldrand entlang, bis der Weg schließlich in den Wald führte und sich als schmaler Schlauch festgestampfter Erde durch das dunkle Dickicht der Tannen wand. Die Äste der Bäume hingen schneebeladen herunter, und am Himmel über ihnen ballten sich die Wolken zusammen. Doch vorerst hielt sich das klare kalte Wetter, und es stand zu hoffen, dass das noch eine Weile so bleiben würde.

Der Pfad führte sie durch den zunehmend dichter und dunkler werdenden Wald, der links und rechts des kaum drei Schritte breiten Weges bald eine undurchdringliche Mauer aus Bäumen, Gesträuch und wild wucherndem Efeu bildete. Es dauerte nicht lange, bis sich nicht mehr sagen ließ, was sie hundert Meter weiter vorne, hinter der nächsten Biegung, erwartete. Alles, was sie sahen, war das jeweilige Wegstück direkt vor ihnen, und sonst nichts. Doch zumindest konnten sie sich nicht verlaufen, wenn sie dem Pfad folgten, denn es gab nur diesen einen Weg.

In dieser ersten Nacht schlugen sie ihr Lager ein paar Schritte neben dem Pfad im dichten Unterholz auf, in einer natürlichen Nische, die zu drei Seiten von Dickicht eingeschlossen war. Die Tannenwedel über ihren Köpfen wirkten wie ein natürliches Dach und hielten Väterchen Frost auf Abstand, der fortwährend versuchte, mit seinen eisigen Messern durch ihre Kleidung zu stechen.

Falk war froh, als sie am Abend um das kleine Feuer saßen und sich wärmen konnten, während sie schweigend ihren Proviant für diesen Tag verzehrten. Rita, die Wirtin des Güldenen Tropfens, hatte ihnen ein Paket geschnürt, das sie einige Tage lang mit Wein, Brot, gesalzenem Pökelfleisch, Schinken und Räucherfleisch versorgen würde. Im flackernden Schein des kleinen Feuers saßen sie in ihrer „Höhle“, aßen in nachdenklichem Schweigen und ließen den Weinschlauch kreisen.

Um sie herum erklangen die Geräusche des Waldes – Rascheln von Blattwerk, verstohlenes Gehusche im Dickicht, Tierlaute aller Art. Geräusche, die einem vorgaukelten, dass hinter jedem Busch und Strauch ein wildes Tier auf der Lauer lag, das nur daraufwartete, sich auf sie zu stürzen.

Dabei war das einzige wilde Tier, das sie sahen, der große Wolf, der ihnen folgte, seit sie Moorbruch verlassen hatten. Die ganze Zeit über blieb er hinter ihnen, in gebührendem Abstand. Manchmal, wenn man sich nach ihm umsah, blieb er abrupt stehen, so als erwartete er, dass sie auf ihn anlegen würden, doch selbst wenn das Jael oder Falk in den Sinn gekommen wäre, Zara hätte verhindert, dass sie ihm ein Leid antäten. Die Vampirin hatte dem Wolf das Leben gerettet, und sie würde nicht zulassen, dass es ihm jetzt doch noch genommen wurde.

Der Wolf schien das zu spüren, denn je länger sie unterwegs waren, desto häufiger traute er sich näher heran, bloß ein paar Schritte zwar, aber er kam näher. Manchmal blieb er weiter hinter ihnen zurück, wenn er irgendetwas gewittert hatte, und zweimal dachte Falk, der Wolf wäre es leid geworden, ihnen zu folgen, und hätte beschlossen, einen anderen Weg einzuschlagen. Aber dann tauchte das mächtige Tier plötzlich wieder hinter ihnen aus dem Dickicht auf, groß und grimmig, und jedes Mal kräuselte ein kleines Lächeln Zaras Mundwinkel. Im Gegensatz zu ihren Begleitern schien sie die Gesellschaft des Wolfs zu begrüßen; sie warf ihm allabendlich sogar einen Teil von ihrem Fleisch hin, wenn sie irgendwo im Wald ihr Nachtlager aufgeschlagen hatten und ihr Mahl verzehrten.

Am ersten Abend warf Zara das Fleisch dreißig Schritte weit weg vom Lagerfeuer auf den Pfad. Der Wolf hatte sich ein gutes Stück von ihnen entfernt am Wegesrand in einer Erdmulde zusammengerollt, und sein Kopf ruckte hoch, als das Fleisch zwischen ihm und ihrem Lager auf den Pfad plumpste. Der Blick seiner goldschimmernden Augen huschte zwischen dem Fleischbrocken auf dem Weg und den Gefährten hin und her, die zusammengekauert an ihrem Feuer saßen, eingehüllt in ihre Decken. Zara ermahnte die anderen flüsternd, das Tier gar nicht zu beachten, dann nahm sie einen Schluck Wein, während sie aus den Augenwinkeln verfolgte, wie der Wolf die Situation misstrauisch abzuschätzen versuchte. Eine ganze Weile tat sich nichts, der Wolf rührte sich nicht. Nur seine Augen bewegten sich.

Erst gute zehn Minuten später erhob sich das Tier und ging vorsichtig auf den Fleischbrocken zu, die drei Gefährten nicht aus den Augen lassend, der Körper vom Schwanz bis zur Schnauze angespannt, als rechnete er mit einer Falle. Doch weder die Vampirin noch die Seraphim oder der Mensch schienen ihn zu beachten, während er sich langsam an das Fleisch heranpirschte, dann davor stehen blieb und einen Moment lang verharrte, ehe die gewaltige Schnauze plötzlich vorschoss und nach dem Fleisch schnappte – ein Haps, und weg war der faustgroße Brocken. Sofort wich das Tier wieder zurück, doch bevor der Wolf zu seiner Erdmulde zurücktrottete und sich wieder hinlegte, sah er noch einmal hinüber zu den Gefährten, als würde er Zaras Blick suchen. Und Falk, der den Wolf verstohlen aus den Augenwinkeln beobachtete, hätte schwören können, dass das Tier der Vampirin wie zum Dank zublinzelte.

Am nächsten Abend warf Zara das Fleisch zwanzig Schritte entfernt von ihrem Lager hin, und auch diesmal kam der Wolf nach einigen Minuten und holte sich den Brocken, obwohl er dafür nun näher herankommen musste. Dieses Spielchen wiederholte sich auch am dritten und vierten Abend, und jedes Mal warf Zara den Fleischbrocken kürzer, sodass das Tier von Tag zu Tag näher an sie heran musste, bis bloß noch zehn Schritte zwischen dem Fleisch und ihrem Lager waren.

Und im gleichen Maße, wie sich der Wolf an sie gewöhnte, gewöhnten sie sich an den Wolf. Hatte Falk in der ersten Nacht noch wach zu bleiben versucht und auf jedes Geräusch gelauscht, aus Furcht, der Wolf könnte sich auf sie stürzen, kaum dass sie in Morpheus’ Armen weilten, so legte sich seine Furcht vor dem wilden Tier, je länger sie unterwegs waren. Er war mittlerweile überzeugt davon, dass ihnen von dem Wolf keine Gefahr drohte; das Tier würde ihnen nichts tun.

Aber was wollte der Graupelz von ihnen?

Keiner von ihnen vermochte es zu sagen.

Am dritten Tag ging der Wald allmählich in einen Sumpf über; die Bäume und Sträucher, die den Trampelpfad all die Zeit über begrenzt hatten, wichen nun zurück und wurden spärlicher, bis sich rings um die Wanderer eine düstere Sumpflandschaft erstreckte, eine braunschwarze Fläche mit verkrüppelten Kiefern, kleinen Erdinseln inmitten wabernder Nebel und verzweigten Pfaden fester Erde, zwischen denen das Moor gluckste. In der Luft lag der moderige Geruch von toten Pflanzen, die in Brackwasser vor sich hinfaulten. Ein seltsames, unnatürliches Zwielicht herrschte. Hinter der dichten Wolkendecke am Himmel zeichnete sich die Sonne nur als blasser Schemen ab. Egal, wie weit der Tag auch fortschritt, es schien nie richtig hell zu werden – ein Eindruck, der von den Nebelschwaden, die über allem lagen, noch verstärkt wurde.

Man musste aufpassen, wohin man trat. Überall blubberte und gluckste es, als würde das stinkende dunkle Wasser zwischen den festen, sicheren Erdstegen kochen. Hier und da ragten verkrüppelte, längst tote Bäume aus dem Moor, oder Bäume und Buschwerk drängten sich auf Erdinseln inmitten des Sumpfes zu kleinen Wäldchen zusammen.

Es war eine trostlose Gegend bar jeden Lebens, wie es schien.

Bar jeden Lebens?

Nicht ganz. Als Falk gegen Ende ihres ersten Tages in den Sümpfen – dem vierten Tag ihrer Reise – gelangweilt den Blick schweifen ließ, machte er in dem wogenden Halbdunkel unversehens eine Bewegung aus. Seit sie Moorbruch verlassen hatten, waren sie keiner Menschenseele begegnet, Tiere hatten sie nur selten gesehen, und wenn sich die Gefährten unterhielten, dann einsilbig und mit wenigen Worten, sodass man die meiste Zeit über seinen eigenen Gedanken nachhing und daraufwartete, dass die Etappe dieses Tages zu Ende ging. Da war ein wenig Abwechslung fast eine willkommene Freude; so jedenfalls empfand es Falk, als er ganz in der Nähe mehrere weiß leuchtende vage Schemen ausmachte, die – einer Prozession gleich – durch den wabernden weißen Nebel schwebten.

Falk verkniff die Augen zu schmalen Schlitzen, um besser erkennen zu können, was sich dort im Nebel tat. Er war gerade zu dem Schluss gelangt, dass es Gestalten mit Laternen waren, deren Schein ihre Gewänder im Zwielicht unnatürlich weiß schimmern ließ, als eine Windbö heulend und jammernd durch das tote Land strich, und plötzlich wehten die weißen Lichter auseinander wie Nebelschwaden – nur um ein paar Herzschläge später an einer vollkommen anderen Stelle des Sumpfs wieder aufzutauchen.

Falks Begeisterung über die Abwechslung verwandelte sich in bedrückende Furcht. Geschichten, die ihm seine Großmutter erzählt hatte, kamen ihm in den Sinn – Geschichten über menschenfressende Geister, über Nachzehrer, die in Nebelgestalt durch die Schlüssellöcher in jedes Haus eindrangen, um sich an den Lebenden zu laben ...

„Bei allen Göttern“, murmelte Falk ängstlich. „Geister.“

Jael, die ein Stück vor ihm ritt, wandte sich halb zu ihm um. „So ungern ich dich auch enttäusche“, sagte sie süffisant, als hätte sie bereits damit gerechnet, dass er auf diese Täuschung hereinfallen würde, „aber das sind keine Geister.“

„Na, und was dann?“, wollte Falk wissen, während er zu gleichen Teilen fasziniert und furchtsam verfolgte, wie die seltsamen weißen Lichter zu einer unhörbaren Melodie durch den Nebel tanzten. „Um was sollte es sich bei diesen Gestalten denn dann handeln, wenn nicht um Geister?“

„Irrwische“, erwiderte Jael knapp.

Falk schauderte und verzog das Gesicht. „Klingt gefährlich.“

Jael lachte. „Nun, nicht viel gefährlicher als Sumpfgas“, sagte sie. „Denn darum handelt es sich – um sich selbst entzündendes Sumpfgas.“

„Und das ist nicht gefährlich?“, fragte Falk misstrauisch.

„So gefährlich wie ein Furz“, mischte sich Zara ein. „Und riecht auch so.“ Sie verzog angewidert das Gesicht, als ein zweiter eisiger Hauch die Irrlichter auseinander wehte und den Gestank von Schwefel und Verwesung zu ihnen trug. „Widerlich.“

„Oh“, machte Falk. Er schaute hinüber zu den seltsamen weißen Schemen, die lautlos durch den Sumpf schwebten. Irgendwie sahen sie immer noch aus wie Geister. Peinlich war es jedoch schon, dass er sich von aufsteigendem Sumpfgas hatte ängstigen lassen ...

Jael folgte seinem Blick. „Diese Irrlichter sind noch das Harmloseste, das hier lauert“, erklärte sie ernst. Als Falk sie daraufhin fragend ansah, sagte sie mit einer Stimme, die der seiner Schauermärchen erzählenden Großmutter gar nicht so unähnlich klang: „Dies ist eine gefährliche Gegend, und sie ist wenig erforscht, da es hier weit und breit nichts gibt, das für die Krone, die Bürger Ancarias oder sonst jemanden von Interesse wäre. Bloß Sumpf und unwirtliches Gelände. Wer sich hierher verirrt, will entweder nicht gefunden werden, oder er ist unterwegs nach Sternental, und beides wirft kein sonderlich gutes Licht auf den Betreffenden.“

Sie schnalzte mit der Zunge, als ihr Pferd dem sumpfigen Ufer zu nahe kam, und brachte das Tier mit einem Ruck am Zügel auf den rechten Pfad zurück, ehe sie fortfuhr: „In dieser Gegend sind im Laufe der Jahrhunderte etliche Menschen verschwunden, und obwohl in vielen Fällen sogar nach den Vermissten gesucht wurde, hat man nie auch nur eine Leiche gefunden. Sie alle sind auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Das hat diesen Sümpfen auch ihren Namen eingebracht – man nennt sie die Nimmermehrsümpfe.“

„Die Nimmermehrsümpfe“, wiederholte Falk ehrfurchtsvoll, und wieder sah er hin zu den „Geistern“, die lautlos über das Brackwasser schwebten. Er spürte, wie ein eisiger Finger sein Rückgrat hinabstrich, und schauderte. Fröstelnd raffte er den Kragen seines Mantels enger zusammen. Er konnte sich nicht helfen, irgendwie war gegen diese trostlosen Sümpfe selbst der Dunkelforst einladend gewesen.

Sie trabten weiter, doch während sie im Wald relativ rasch vorangekommen waren, konnten sie sich in den Nimmermehrsümpfen nur vorsichtig bewegen. Es ging nur langsam voran, sodass Falk zuweilen das Gefühl hatte, sich überhaupt nicht von der Stelle zu bewegen. Hinzu kam das unheimliche Halbdunkel, das die Trostlosigkeit um sie herum noch betonte und die Stimmung der Reisenden merklich drückte. Dies war kein Ort, an dem man freiwillig verweilen wollte, so viel stand fest.

„Thor“, murmelte Zara irgendwann, als sich die ersten Schatten der Nacht in das ewige Dämmerlicht schlichen.

Falk runzelte die Stirn. „Hm?“

Sie nickte in Richtung des Wolfes, der zwanzig Schritte hinter ihnen durch den Sumpf trottete. Obwohl sie in den vergangenen Tagen von früh morgens bis spät abends unterwegs waren, war von seinem Humpeln kaum noch etwas zu bemerken. Die Wunde, die ihm das Fangeisen zugefügt hatte, schien rasch zu verheilen. „So werde ich ihn nennen: Thor.“

Falk sah sich nach dem Wolf um. „Thor ... hm?“ Er dachte darüber nach. „Ja, Thor ist ein guter Name. Passt irgendwie zu dem Burschen. Ich kannte mal einen, der Thor hieß, ein riesiger muskulöser Kerl, groß wie ein Ork und mit Schultern, breit wie ein Kleiderschrank. Und genau das war sein Problem, denn Thors Libido war mindestens ebenso stark ausgeprägt wie seine Muskeln, was ihm den Zuspruch des Weibsvolks von ganz Pagania einbrachte. Die Frauen holten sich Thor reihum ins Bett, um zu sehen, ob er auch ansonsten mit körperlichen Vorzügen gesegnet war.“ Er machte eine Pause und schüttelte den Kopf, ehe er fortfuhr: „Nun, ob er nun so gut bestückt war, wie sich die Weiber erhofften, kann ich weder bestätigen noch verneinen. Sicher aber ist, dass er nach einem seiner Schäferstündchen von einem eifersüchtigen Ehemann zum Duell gefordert und im ersten Antritt erschossen wurde. Der gehörnte Ehemann war ihnen auf die Schliche gekommen, als er eines Tages früher als erwartet nach Hause kam und der riesige Thor sich nirgendwo verstecken konnte, da der Kleiderschrank im Schlafgemach zu klein für ihn war.“ Falk giggelte fröhlich. Als er Zara grinsend ansah und die Vampirin ihn nur verständnislos anstarrte, fiel sein Grinsen in sich zusammen. Er räusperte sich. „Thor“, sagte er wieder. „Guter Name ...“ Er wandte sich an Jael und wechselte abrupt das Thema: „Was ist an diesem Sakkara-Kult eigentlich so schlimm gewesen, dass sich alle vor ihm fürchteten? Ich meine, es hat im Laufe der Jahrhunderte immer wieder irgendwelche verrückten Zauberer gegeben, die versucht haben, die Krone an sich zu reißen.“

Jael nickte. „In Ancaria hat es tatsächlich schon viele magische Kreise, Hexenzirkel, Sekten und Kulte gegeben, die mit Hilfe dunkler Magie Macht erlangen wollten“, bestätigte sie. „All diese Gruppen strebten in irgendeiner Weise danach, die Herrschaft über Ancaria zu erlangen, doch im Gegensatz zu allen anderen wäre dies dem Sakkara-Kult seinerzeit um ein Haar sogar gelungen.“

„Was genau ist passiert?“, fragte Falk.

Jael wiegte den Kopf. „Nun, Einzelheiten des Falls wurden nie öffentlich gemacht und alle Beteiligten von König Aarnum I. selbst zu absolutem Stillschweigen verpflichtet. Doch wenn man so lange lebt wie ich und so viel herumkommt, hört man einiges, und nach allem, was ich weiß, war Iliam Zak einst ein getreuer Diener der Krone, bis er die Magie für sich entdeckte und sich von einem Tag auf den anderen gänzlich aus dem Hofleben zurückzog, um fortan das Leben eines Eremiten und Einsiedlers zu führen – zumindest schien es nach außen hin so. Im Verborgenen allerdings betrieb Iliam Zak wie besessen schwarzmagische Studien, und je mehr Wissen er sich aneignete, desto größer wurde seine Macht. Gerüchte besagen, er habe sogar einen Pakt mit der Hölle selbst geschlossen. Unterstützt von den dämonischen Kräften des Orkus, die seit jeher danach trachten, die Welt zu unterjochen, ging Iliam Zak später daran, ein Heer von Jüngern um sich zu scharen, da ihm klar wurde, dass er allein trotz all seiner Fähigkeiten nicht im Stande sein würde, den König um seine Krone zu bringen und selbst den Thron zu besteigen. Also versprach er allen, die sich ihm anschlossen, große Macht und Ländereien – ein Leben in Saus und Braus, dem selbst der Tod kein Ende setzen würde. Bald saßen seine Handlanger überall, sogar bei Hofe wimmelte es vor Sakkara-Jüngern, die im Stillen alles taten, um den großen Traum ihres Meisters Wirklichkeit werden zu lassen. Es ist nicht bekannt, wie genau Iliam Zak es anstellte, so viele seiner Anhänger in hochrangige Ämter zu hieven – ob mit Magie oder durch Erpressung und Bestechung –, doch nach einer Weile tanzte selbst der Vizekönig nach Iliam Zaks Pfeife. Er manipulierte die Menschen, blendete sie mit seinem Zauber und versprach ihnen, ihre geheimsten Wünsche zu erfüllen.“

Sie verstummte für einen Moment, um sich umzuschauen und ihr Pferd auf sicherem Pfad zu halten, während sie weiter durch den Sumpf ritten. Dann fuhr sie fort: „Doch Iliam Zak war ein kluger Mann. Er wusste, dass es ihm nichts nützen würde, den König einfach mit einem Aufstand aus dem Weg zu räumen. Egal, wie viele Anhänger der Sakkara-Kult im Reich auch haben mochte, das Gro der Menschen stand gegen sie, darunter die ancarianische Armee, die dem König seit jeher treu ergeben war. Iliam Zak war klar, dass die freien Völker niemals einen König anerkennen würden, der den Thron durch Tücke, List und vielleicht sogar Königsmord erworben hatte. Also ersann er einen perfiden Plan, um den König zu stürzen und sozusagen durch die Hintertür die Herrschaft zu ergreifen: Er zog den Bruder des Königs, Theodred, den Thronnachfolger, auf seine Seite und fädelte alles so ein, dass der Tod des Königs wie ein Unfall aussehen würde. Dann wäre Theodred König geworden, und Iliam Zak hätte im Hintergrund die Strippen ziehen können, bis der rechtmäßige König ihn zu seinem Nachfolger erklärte.“

Sie lachte leise. „Nicht, dass das vor ihm nicht schon viele andere versucht hätten, die über keine magischen Kräfte verfügten ... Doch Iliam Zak wusste seine Zauberkräfte geschickt einzusetzen, ohne dass er selbst jemals in Erscheinung trat, und am Ende zog sich die Schlinge um den Hals von König Aarnum I. immer enger zusammen. Angeblich stand bereits fest, wie er ums Leben kommen sollte – Iliam Zak wollte mit Hilfe eines Rituals dafür sorgen, dass sich in seinem Herzen so viel Druck aufbaute, dass es ihm in der Brust platzte, und all das im Tempel bei einer wichtigen Zeremonie, während sein angeblich schockierter Bruder neben ihm stand und vor den Augen der versammelten Bürger und Priesterschaft noch versuchte, dem Sterbenden das Leben zu retten. Und schon stünde die ganze Bevölkerung hinter ihrem neuen, aufopferungsvollen rechtmäßigen König, und Iliam Zak musste nur noch warten, bis Theodred lange genug auf dem Thron saß, dass es kein Aufsehen erregte, wenn er abdankte und stattdessen Zak zum König krönte. Es war ein perfekter Plan – eigentlich.“ Sie schüttelte fast unmerklich den Kopf, als könne sie die Kaltschnäuzigkeit dieses Vorhabens immer noch nicht fassen.

„Aber dazu kam es nie“, mutmaßte Falk.

„Nein“, bestätigte Jael. „Nur wenige Stunden vor der Tempelzeremonie bekam der König Wind von dem Plan; einer von Zaks Anhängern hatte sich wohl in weinseliger Laune bei einer Straßendirne verplappert, die sich vielleicht durch diesen Tipp Ansehen und Wohlstand erhoffte, und als die Verschwörer im Tempel auftauchten, um dem Schauspiel beizuwohnen, wurden sie schon von der königlichen Garde erwartet, die alle gefangen nahm. Man sandte auch Soldaten aus, um Iliam Zak zu verhaften, doch als sie bei seinem Haus ankamen, war er fort; allem Anschein nach hatte der Zauberer irgendwie davon erfahren, dass man ihm auf die Schliche gekommen war, und hatte sich umgehend aus dem Staub gemacht. Fortan war er auf der Flucht, während der König alle Verschwörer auf dem Scheiterhaufen verbrennen ließ und die Magiegesetze aus der Taufe hob, um zu verhindern, dass so etwas noch einmal geschah – und er dann vielleicht das Nachsehen hatte.“

„Also hat er die Gesetze aus reinem Egoismus erlassen“, stellte Falk fest. „All diese Zauberkundigen mussten den Flammentod sterben oder wurden über Jahre verfolgt und ins Exil verbannt, um zu verhindern, dass ihm jemand die Krone streitig machte.“

Er nahm an, dass ihm die Seraphim als treue Dienerin der Krone widersprechen würde, doch zu seiner Überraschung nickte Jael ernst.

Er schaute Zara an und sagte: „Du hast unter Aarnum I. als Ritterin gedient. Du bist mit seiner Armee in die Schlacht gezogen gegen die Burg Mhurag-Nar, wo du zum Blutsau... äh, zur Vampirin wurdest. Was sagst du dazu?“

Zara zuckte mit den Achseln. „Ich war Aarnum I. damals treu ergeben, und er rettete das Reich vor den Dunkelelfen. Sein ,Königliches Edikt wider die Nekromantie und Zauberei‘ wurde ausgerufen, nachdem ich zur Vampirin wurde – zum Blutsauger, wie du gerade sagen wolltest –, und ich erlebte mit, wie unbarmherzig und grausam Zauberkundige und solche, die man dafür hielt, verfolgt wurden. Doch sicherlich tat es Aarnum in dem Glauben, nur auf diese Weise das Reich und sein Volk schützen zu können.“ Sie schwieg einen kurzen Moment, bevor sie leise hinzufügte: „Erst unter Aarnums Erstgeborenem Morgast wurde die Verfolgung von Magiern und angeblichen Hexen richtig schlimm ...“

Falk fragte nicht weiter. Er sah, dass Zara in ihrer Erinnerung gefangen war. Eine Erinnerung an eine düstere Zeit voller Blut und Grauen. Sie wollte bestimmt nicht darüber sprechen.

Er griff in seine Rocktasche, holte einen Streifen Pökelfleisch hervor, den er in sein Taschentuch eingewickelt hatte, und schob ihn sich in den Mund, um nachdenklich darauf herumzukauen.

An diesem Abend ritten sie noch, als die Dunkelheit längst die Herrschaft über die Welt an sich gerissen hatte.

Erst als sie lange nach Einbruch der Nacht auf einen großen überhängenden Felsen stießen, schlug Jael vor, sie sollten hier ihr Nachtlager aufschlagen. Falk war dankbar dafür, denn seit Sonnenaufgang saß er im Sattel, lediglich unterbrochen von zwei kurzen Rasten, um den Pferden Wasser zu geben. Sein Allerwertester schmerzte, und seine müden Knochen sehnten sich nach ein wenig Ruhe. Alles, was Falk wollte, war, sich hinzulegen, sich der Länge nach auszustrecken und ein paar Stunden zu schlafen, bevor es morgen weiterging.

Sie schlugen ihr Lager im Schutz des Felsüberhangs auf, der sich wie ein schartiges Dach über ihnen wölbte, und versorgten als Erstes die Pferde, ehe sie sich daran machten, ein Lagerfeuer zu entzünden. Während Jael eine flache Senke für das Feuer aushob und einen Ring aus Steinen darum legte, um die Glut zu schützen, streiften Zara und Falk in Sichtweite zueinander durch das umliegende Dickicht und sammelten Feuerholz. Die meisten Äste, die sie fanden, waren feucht von Eis und Schnee, sodass das Feuer anfangs nicht richtig brennen wollte und nur beißender Qualm aufstieg, doch nach einer Weile prasselten die Flammen, und die Reisenden breiteten im warmen Schein des Feuers ihre Decken um das Lagerfeuer aus.

Selbst durch zwei Lagen Decken spürte Falk das hart gefrorene Erdreich, als läge er auf nacktem Boden, doch nach vierzehn Stunden im Sattel kam ihm selbst dieses harte Lager wie das Paradies vor.

Er hockte sich hin und wiegte den Kopf, dass seine Wirbel knackten. Er verzog gequält das Gesicht und griff sich in den Nacken, um ihn mit der Hand zu massieren. „Verdammte Reiterei“, brummte er missmutig. Er bereute beinahe seine Entscheidung, die Seraphim und die Vampirin nach Sternental zu begleiten, „Wenn die Götter gewollt hätten, dass wir uns reitend fortbewegen, hätten sie uns Hufe gegeben.“ Er streckte die Hände aus und hielt sie übers Feuer, um seine durchgefrorenen Finger zu wärmen.

Jael grinste. „Die Wege der Götter sind unergründlich“, sagte sie amüsiert und fing den Proviantbeutel auf, den Zara ihr von den Pferden aus zuwarf. Sie schnürte den Beutel mit flinken Fingern auf, holte Brot und Pökelfleisch daraus hervor. Falk entkorkte derweil den Weinschlauch mit den Zähnen, um gierig einen kräftigen Schluck zu nehmen; der Wein war viel zu kalt, als dass man ihn hätte genießen können, aber Falk grinste selig, als hätte er noch nie in seinem Leben einen besseren Tropfen getrunken. Er genehmigte sich einen weiteren Schluck, ehe er den Schlauch an Zara weitergab und den Beutel nach etwas Essbarem durchforstete. Seine Augen leuchteten auf. „Ah, Schinken! Lecker!“

Zara setzte sich im Schneidersitz auf ihre Decken, trank einen Schluck Wein, verzog angewidert das Gesicht und reichte den Wein an Jael weiter, die ohne große Begeisterung auf ihrem Brot herumkaute.

„Ich habe Thor schon seit einer ganzen Weile nicht gesehen“, sagte Zara irgendwann, nachdem sie eine Zeitlang schweigend getrunken und gegessen hatten.

„Vielleicht war er es leid, hinter uns herzulaufen, und er hat sich wieder auf den Heimweg gemacht“, mutmaßte Falk. „Oder er hat die Fährte einer feschen Wolfsdame gewittert und lässt es gerade ordentlich krachen.“ Er biss ein Stück Schinken ab und kaute laut. „Ich will ehrlich zu dir sein, Zara: Ich bin froh, dass das Vieh endlich weg ist. Irgendwie stört mich der Gedanke noch immer, tief und fest zu schlafen, während dieses Raubtier um mich rumschleicht.“

„Ich sagte schon, dass uns von Thor keine Gefahr droht“, erwiderte Zara.

„Schön und gut“, erwiderte Falk. „Aber weiß er das auch?“

Zara entgegnete nichts darauf. Stattdessen griff sie nach einem kleinen Zweig, der neben dem Feuer lag, hielt ihn in die Flammen und sah zu, wie diese über das Holz leckten. Ihre Miene war ausdruckslos; offenbar hatte sie keine Lust, weiter über dieses Thema zu reden. Vielleicht machte sie sich sogar ernstlich Sorgen um den Wolf. Wer konnte das bei Zara schon so genau sagen?

Falk biss ein weiteres Stück von dem Schinken ab, kaute darauf herum und ließ den Blick nachdenklich in die Ferne schweifen. Wie weit mochten sie wohl bereits von Moorbruch entfernt sein? Er konnte es nicht sagen, doch egal, wie viele Meilen es waren, die zwischen ihm und Ela lagen, es waren entschieden zu viele.

Der Gedanke an Ela ließ Falks Herz vor Sehnsucht schwer werden. Er legte den Rest Schinken beiseite, wischte sich die Hände an seinem Rock ab und hielt sich das rote Halstuch unter die Nase, das sie ihm beim Abschied umgebunden hatte. Der Geruch nach Zedern und Rosenseife, der von dem Stoff ausging, ließ ihn verliebt aufseufzen. „O Ela“, murmelte er verträumt, „ich wünschte, ich könnte bei dir sein und mich an dir wärmen, statt mir hier draußen den Arsch abzufrieren ...“ Er sog den Duft tief ein und lächelte so herzerwärmend dämlich, wie es nur jene vermögen, denen Amors Pfeil im Herzen steckt. „Ich glaube, ich habe mich verliebt...“

Zara schnaubte verächtlich. „Liebe...!“ Sie spie das Wort regelrecht aus, während sie mit ihrem Stock in der Glut herumstocherte. „Was ist an der Liebe schon so großartig?“, murmelte sie, mehr zu sich als zu den anderen, und starrte gedankenverloren in die Flammen. „Anfangs ist vielleicht alles schön und süß wie Zucker, und man kann nicht genug davon bekommen, doch irgendwann muss man dafür bezahlen. Irgendwann kommt der Punkt, an dem aus Liebe Leiden wird, und es tut so weh, dass es einen beinahe um den Verstand bringt. Und dann ist es irgendwann vorbei, und man fragt sich, warum man bereit war, derart zu leiden für eine Sache, die es überhaupt nicht wert ist ...“ Zara hob ruckartig den Kopf und verstummte plötzlich, den Blick in weite Ferne gerichtet, in eine andere Zeit, an einen anderen Ort. Als ihr gewahr wurde, dass Falk sie fassungslos anstarrte, vertrieb sie die Schatten der Vergangenheit mit einem verlegenen Blinzeln, warf den Stock in die Flammen und erhob sich mit den Worten: „Wir brauchen noch Feuerholz.“ Damit ließ sie ihre Begleiter am Lager zurück, verließ den Schutz des Felsüberhangs und verschwand im Unterholz.

Falk sah ihr nach, wie sie zwischen den Büschen außer Sicht verschwand, und runzelte die Stirn. „Sieht so aus, als wäre dieses Thema unserer Lady Langzahn ein wenig unangenehm“, meinte er.

„Das wäre es dir wahrscheinlich auch“, sagte Jael, „hättest du den einzigen Menschen verloren, den du je von ganzem Herzen geliebt hast, und das auch noch durch dein eigenes Verschulden.“

Falk schaute die Seraphim fragend an. „Wer war er?“

Jael wiegte den Kopf. „Sein Name war Victor“, erzählte sie schließlich. „Er war ihre große Liebe, die Liebe ihres Lebens. Sie kamen aus demselben Ort – Schönblick, weit im Südwesten des Königreichs – und kannten sich, seit sie Kinder waren. Er war der Sohn eines Waffenschmieds; im Grunde keine akzeptable Partie für ein Fräulein aus gutem Hause, wie Zara eins war. Aber irgendwann, als sie alt genug waren, entdeckten die beiden ihre Gefühle füreinander. Anfangs hielten sie ihre Liebe geheim, weil sie fürchteten, dass Zaras Eltern nicht mit einer solchen Verbindung einverstanden wären, doch es waren gute Menschen, und das Glück ihrer einzigen Tochter war ihnen wichtiger als alle gesellschaftlichen Konventionen. Sie stimmten ihrer Verlobung zu und legten zusammen mit dem jungen Paar den Termin der Hochzeit fest. Die Trauung sollte im Garten von Zaras Elternhaus stattfinden, im Frühsommer, in einem Meer aus weißen Kirschblüten.“

Falk lächelte. „Klingt nach der perfekten Romanze.“ Jael nickte düster. „Das war es auch – bis der Große Krieg über das Land kam. Zaras Familie stand seit Generationen in Diensten des Königs, und da ihr Vater keinen Sohn hatte, der der Familie Ehre machen konnte, entschloss sich Zara, diese Bürde auf sich zu nehmen. Auch Victor wollte dem Ruf zu den Fahnen folgen, doch sein Vater starb, und da er jetzt die Verantwortung für seine Mutter und seine Geschwister trug, musste Victor schweren Herzens in Schönblick bleiben, während Zara in den Krieg zog. Victor versprach ihr, auf sie zu warten, egal, wie lange es dauern würde, und sie schworen sich, ihr Eheversprechen einzulösen, sobald Zara wieder zurück war. Als dieser Tag dann schließlich kam, war Heirat allerdings das Letzte, woran sie beim Anblick ihres Verlobten dachte.“ Falk runzelte die Stirn. „Was ist passiert?“ „Sie hat ihn getötet“, sagte Jael mit harter Stimme. „Ihn – und alle Mitglieder ihrer beider Familien.“

Falk starrte sie ungläubig an. „Ist... ist das dein Ernst?“

Jael nickte. „Als Zara aus dem Krieg heimkehrte, war sie nicht mehr sie selbst; sie war jetzt ein Kind der Nacht, eine rastlose Tote, der nur noch eins Vergnügen bereitete: die Pein und der Schmerz anderer.“ Jael schwieg einen Moment, um ihre Gedanken zu sammeln, bevor sie mit leiser, ernster Stimme fortfuhr: „Nach ihrer Rückkehr stattete sie Victor einen Besuch ab. Im ersten Moment war er überglücklich, sie wieder zu sehen, doch das änderte sich rasch, als sie vor seinen Augen erst seine Mutter und dann seine Schwestern tötete, beginnend mit der ältesten. Erst dann war Victor selbst an der Reihe. Als er starb, muss er den Tod herbeigesehnt haben wie einen alten Freund.“ Jael schüttelte den Kopf, und sie wirkte dabei unendlich traurig. „Sie trank von keinem ihrer Opfer. Sie war nicht durstig; getrunken hatte sie bereits auf dem Weg in die Stadt. Alles, was sie Victor und seiner Familie antat, tat Zara zum Vergnügen, aus Freude daran, anderen Schmerzen und Leid zuzufügen.“

Falk schluckte trocken, während Jael mit düsterer Miene sagte: „Danach ging sie in ihr Elternhaus und setzte ihr blutiges Werk fort – sie tötete nicht nur Vater und Mutter, auch die Diener, die Köchin, die Haushälterin und alle Bediensteten, die sich sonst noch im Haus aufhielten.“ Wieder nahm Jael einen Schluck Wein. „Dann kehrte sie ihrem Heimatort vorerst den Rücken, wanderte kreuz und quer durch Ancaria und hinterließ eine Spur des Grauens. Zara lebte all ihre düsteren Begierden ohne Hemmungen aus. Weder Mann noch Frau waren vor ihr sicher. Viele Unschuldige fielen in dieser Zeit ihrem unstillbaren Blutdurst zum Opfer.“

„Woher weißt du das alles?“, fragte Falk. „All diese Dinge über Zara?“

„Weil ich Zara, ihr Leben und ihre Taten seinerzeit im Auftrag von König Valorian eingehend studierte“, erklärte Jael.

Falk runzelte die Stirn. „Im Auftrag des Königs?“

Jael nickte. „Nachdem Zara annähernd fünf Jahrhunderte lang mordend durch Ancaria gestreift war, einzig getrieben von ihrem Verlangen nach Blut und dem Leid anderer, beschloss König Valorian, dass es höchste Zeit war, ihrem grausamen Treiben ein Ende zu setzen. Das war jedoch leichter gesagt als getan. Viele hatten es bereits versucht und waren gescheitert, und auch die Inquisitoren waren mit dieser Aufgabe hoffnungslos überfordert. Also wandte sich der König an den Orden des Lichts, damit die Seraphim Zara zur Strecke brachten. Dazu aber mussten wir sie erst einmal finden. Doch Zara hatte eine Angewohnheit, die ihr letztlich zum Verhängnis wurde: Alle fünfzig Jahre kehrte sie nach Schönblick zurück, um eine Woche lang den Ort zu terrorisieren, ehe sie wieder weiterzog. Sechs von uns brachen nach Schönblick auf, um Zara zu stellen, und es gelang uns, sie auf dem Friedhof in der Gruft ihrer Familie in die Enge zu treiben. Wir gingen davon aus, dass wir dank unserer göttlichen Kräfte des Lichts leichtes Spiel mit ihr haben würden, doch wir unterschätzten ihre bösartige Blutrünstigkeit, was drei von uns mit dem Leben bezahlten, bevor es uns schließlich mit vereinten Kräften gelang, Zara zu überwältigen. Meine Gefährtinnen wollten sie auf der Stelle vernichten, allein schon aus Rache für die ermordeten Schwestern, und auch ich wollte, dass sie für ihre Verbrechen bezahlte, doch sie einfach zu töten, erschien mir bei weitem nicht ausreichend, um all das Leid zu sühnen, das sie im Laufe der Jahrhunderte verursacht hatte. Und deshalb gab ich ihr das zurück, was ihr die Nosferatu, die ihr einst den Blutkuss gab, genommen hatte: Ich zwang sie, von meinem Blut zu trinken, und weckte ihre Seele – und damit ihr Gewissen.“

„Und auf einmal bereute sie ihre Taten“, mutmaßte Falk fasziniert.

„Sie verlor vor lauter Abscheu und Entsetzen über das, was sie getan hatte, fast den Verstand“, bestätigte Jael. „Plötzlich lastete die gesamte Schuld von fünfhundert Jahren auf ihr, die Erinnerung an all das Leid, das die verursacht hatte. Voller Entsetzen über sich selbst floh sie aus Schönblick. Einige Zeit lang behielten wir sie im Auge. Als ich Zara das letzte Mal sah, versteckte sie sich vor der Welt in den stinkenden Katakomben unter Burg Krähenfels und ernährte sich vom Blut der Ratten. Das war vor rund vier Jahrhunderten. Später versuchte ich vergebens herauszufinden, was aus ihr geworden ist; sie war wie vom Erdboden verschluckt – bis sie plötzlich zusammen mit dir in Moorbruch auftauchte und die Barmherzige spielte.“

„Red nicht so über sie!“, sagte Falk, heftiger, als er beabsichtigt hatte. „Was auch immer sie damals getan hat, sie hat sich verändert. Sie ist jetzt eine von den Guten. Sie hilft den Menschen.“

„Ich weiß.“ Jael reichte Falk den Weinschlauch. „Ich frage mich, was sie in all diesen Jahrhunderten, in denen ich nichts von ihr hörte, getrieben hat.“

Sie verstummte, als in den Büschen ganz in der Nähe ein verhaltenes Rascheln erklang. Dann tauchte Zara aus dem Dickicht auf, in den Armen genug Holz, dass das Lagerfeuer die ganze Nacht durch brennen konnte. Obwohl Falk sich alle Mühe gab, sich nicht anmerken zu lassen, worüber sie gerade gesprochen hatten, verriet ihn irgendetwas in seinem Bück oder in seiner Miene. Denn als Zara das Holz neben das Feuer legte und sich auf ihre Decken sinken ließ, sagte sie mit einem knappen Seitenblick auf Falk: „Weißt du noch, wie ich dir neulich sagte, dass ich der schlimmste Albtraum bin, den du dir vorstellen kannst? Ich hoffe, jetzt glaubst du’s.“

Falk wurde rot im Gesicht, als hätte man ihn mit den Fingern im Honigtopf erwischt. Er fühlte sich ertappt. „Du hast gehört, worüber wir gesprochen haben?“

„Das brauchte ich gar nicht“, sagte Zara ruhig, „du schaust mich an, als könnte ich mich jeden Augenblick auf dich stürzen und dir das Herz rausreißen. Aber keine Sorge, inzwischen kann ich mich beherrschen.“ Ein bitterer Sarkasmus klang in ihren Worten mit.

„Ja“, sagte Falk, „weil du jetzt wieder eine Seele hast – und ein Gewissen.“

Zara warf der Seraphim einen schneidenden Blick zu. „Du redest zu viel.“

Jael zuckte mit den Schultern. „Ich wusste nicht, dass das unter Strafe steht.“ Sie hielt den Trinkschlauch in die Höhe und fragte mit einem unbefangenen Lächeln: „Noch jemand Wein?“

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