VIII.

„So ein verfluchter Kerl!“, wetterte Zara, kaum dass sich die Flügeltüren des Zeremoniensaals hinter ihnen geschlossen hatten. Die Seraphim wartete ein paar Meter weiter auf sie und setzte sich wieder in Bewegung, als Zara und Falk sie mit Thor erreichten. Sie ging auf die Wendeltreppe zu, stieg die Stufen hinab; die anderen trotteten hinter ihr her.

Wie Zara hatte auch Falk während der ganzen Unterredung mit Godrik und dem Rat der Bruderschaft versucht, seinen Ärger über die Ignoranz des Enklavenvorstehers im Zaum zu halten, um Jael das Wort zu überlassen. Doch jetzt, da sie wussten, dass sie von den Zauberern keine Hilfe zu erwarten hatten, machte der Zorn bei ihm – ebenso wie bei Jael – einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit Platz.

Doch anders als die Seraphim, die allen Ernstes geglaubt zu haben schien, Godrik mit einem beherzten Appell dazu bringen zu können, ihnen in dieser schwierigen Stunde beizustehen, war Falk keineswegs davon überzeugt gewesen, dass die Zauberer ihnen helfen würden. Vielleicht lag es daran, dass er im schlechtesten Sinne menschlicher war als die Seraphim, die in allem, was sie tat, doch irgendwie ihren göttlichen Idealen und dem Glaube an das Gute verhaftet war.

Falk hatte angenommen, dass man ihnen nach Jaels letzten Worten folgen und sie noch einmal nachdrücklich dazu auffordern würde, Sternental zu verlassen. Doch niemand hielt sie auf, als sie die Wendeltreppe hinabstiegen, und es war auch keiner in der unteren Halle, der sie daran gehindert hätte, die Burg zu verlassen.

Tatsächlich war es, als wäre die Enklave mit einem Schlag ausgestorben, was nicht so sehr damit zu tun hatte, dass niemand auf den Straßen unterwegs war – das war auch vorher so gewesen –, sondern vielmehr mit der Atmosphäre, die die Gelahrten beim Verlassen der Großen Burg erwartete. Es war, als wäre die Luft irgendwie aufgeladen, wie bei einem Gewitter – knisternd vor negativer Energie, die sich in einem gewaltigen Unwetter entladen würde, und mit jeder Minute, die der Abend näher kam, stieg die unterschwellige Spannung an. Zara glaubte fast, den bitteren Gestank von Schwefel in der Luft zu riechen, als hätte sich das Höllentor bereits einen Spaltbreit geöffnet und seinen stinkenden Odem in die Welt entlassen, als kleinen Vorgeschmack auf das, was da noch kommen würde ...

Statt auf ihre Pferde zu steigen und zu reiten, führten sie die Tiere an den Zügeln die frühlingshafte Allee hinab. Einige Knospen waren bereits aufgebrochen und schickten sich an, zu erblühen; das Gras zwischen den mächtigen uralten Kastanien war grün und voll, und die Luft trug bereits den ersten Hauch des Sommers in sich. Doch was sie bei ihrer Ankunft in Sternental mit kindlicher Faszination erfüllt hatte, ließ Jael jetzt völlig kalt. In Gedanken versunken, führte sie ihr Pferd durch das Spalier der Bäume und in das Wirrwarr der verwaisten Gassen; ihre Gefährten folgten ihr.

Sie gingen eine Weile schweigend einher, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, die sich doch alle um dasselbe Problem drehten. Es war, als müsste jeder von ihnen auf seine eigene Art mit der aussichtslosen Situation fertig werden.

Begleitet vom hohlen Klappern der Pferdehufe auf dem Kopfstein, gingen sie durch die Gasse mit den Kräuterläden, vorbei am Räudigen Köter, wo Brutus, der Wirt, hinter dem Tresen stand, und obgleich mit der Mittagsstunde auch der Sommer nahte, schien es, als würden die Schatten in der Gasse länger statt kürzer werden; statt wohliger Wärme verspürte Zara ein eisiges Frösteln, als sie sich dem Ortsausgang näherten, doch sie war sich nicht sicher, ob ihr das bloß so vorkam oder ob dem tatsächlich so war. Vermutlich bildete sie es sich nur ein.

Es war schließlich Falk, der das Schweigen brach. „Und jetzt?“, wollte er wissen, als am Ende der Gasse weiter vorn bereits die beiden Obelisken über die windschiefen Dächer aufragten, die den Eingang zur Unterstadt markierten. Er warf seinen beiden Begleiterinnen einen ernsten Blick von der Seite zu. „Was sollen wir jetzt machen? Einfach die Pferde satteln, Sternental den Rücken kehren und die Welt sich selbst überlassen?“ Es klang nicht so, als käme diese Option für ihn tatsächlich in Frage.

„Ja“, murmelte auch Zara, „was jetzt?“

„Ich weiß es nicht“, gestand die Seraphim finster, und dabei sah sie aus, als würde die Last der ganzen Welt auf ihren Schultern ruhen, bloß dass sie dieser Bürde nicht länger gewachsen war und zusammenzubrechen drohte. „Es ist alles so ... so unwirklich. Wie ein böser Traum.“ Sie seufzte, und es klang entsetzlich müde. „Ich fürchte, dies ist wirklich das Ende“, sagte sie. „Ich weiß nicht, was wir noch tun können. Solange wir nicht wissen, wo der Sakkara-Kult das Ritual zum Öffnen des Höllentors abhält, haben wir keine Möglichkeit, ihnen Einhalt zu gebieten. Die Zauberer werden uns nicht helfen noch sonst irgendjemand in der Enklave, und einfach auf gut Glück durch die Gegend reiten, in der Hoffnung, den geheimen Platz zu finden, an dem das Ritual stattfindet...“ Sie schüttelte traurig den Kopf. „Das ist sinnlos. Es könnte überall sein.“ Ihr trauriger Blick glitt über die Dächer zum dunklen Waldrand, der jetzt mehr denn je wie eine undurchdringliche Mauer wirkte, und sie sagte noch einmal, dieses Mal mehr zu sich: „Überall...“

„Aber wir müssen doch irgendetwas unternehmen!“, ereiferte sich Falk. „Wir können doch nicht einfach auf das Ende der Welt warten und nichts tun! Wenn wir tatsächlich die Einzigen sind, die den Kult aufhalten können, dann ist es unsere verdammte Pflicht, irgendeinen Weg zu finden! Heißt es nicht, dass die Götter denen helfen, die sich selbst helfen?“ Er sah Jael scharf an. „Was ist mit deinen Kontakten nach oben?“, fragte er.

Jael blinzelte. Sie verstand nicht recht. „Wie meinst du das?“

Falk deutete zum Himmel empor. „Die Alten Götter“, sagte er. „Können die uns nicht irgendwie helfen? Uns einen Wink geben, was wir tun sollen?“

Jael schüttelte den Kopf. „Von dieser Seite ist keine Hilfe zu erwarten. Wie ich schon sagte: Die Götter haben das Interesse an euch und eurer Welt längst verloren. Ihnen ist es nicht mehr wichtig, was mit dieser Welt oder denen, die darin sind, geschieht. Sie haben mit euch abgeschlossen.“ Das letzte Wort klang so endgültig, wie es gemeint war.

Doch Falk gab sich damit nicht zufrieden. Offenbar wollte es einfach nicht in seinen Kopf, dass es so enden sollte, und je trotziger er darauf beharrte, dass sie irgendetwas tun müssten, egal was, desto mehr gewahrte Jael, dass sie nichts tun konnten, absolut nichts.

Als Falk einfach nicht den Mund hielt, wirbelte sie schließlich mit zorniger Miene zu ihm herum, deutete drohend mit dem Zeigefinger auf ihn und blaffte böse: „Jetzt hör mir mal zu, du vorlauter Wicht: Wir können keinen Gegner bekämpfen, von dem wir nicht wissen, wo wir ihn finden! Wir haben unseren Teil getan, um das Schlimmste zu verhindern, aber es hat nicht genügt. Wir haben versagt, und je eher du das begreifst, desto besser!“

Falk zuckte erschrocken vor ihr zurück, überrascht über die unerwartet heftige Reaktion der Seraphim. Doch Zara hatte vollstes Verständnis für Jael. Die Seraphim war nicht wütend auf Falk – sie war einfach bloß verzweifelt, weil er Recht hatte; mit jedem Wort hatte er Recht, und genau das war es, das die Seraphim fast wahnsinnig machte.

Sie müssten etwas unternehmen, und sie waren bereit dazu, gleichgültig, welche Konsequenzen das für sie selbst haben würde – doch es gab einfach nichts, was sie tun konnten.

Diese Erkenntnis war einfach niederschmetternd.

Und es gab keinen Grund, darüber nicht frustriert zu sein.

Sie gingen schweigend weiter. Jenseits der Obelisken erstreckte sich die blühende Wiese bis zum Fuße des Gebirges, das grau und stoisch in den Himmel ragte, die Gipfel so wolkenverhangen wie eh und je, und mit einem Mal kamen ihnen die Mühen und Anstrengungen, die es sie gekostet hatte, hierher zu gelangen, so unglaublich vergebens vor. Was hatte das alles für einen Sinn gehabt, wenn sie am Ende doch nichts tun konnten? Wäre es angesichts dessen nicht vielleicht besser gewesen, gar nichts von alldem zu wissen, so ahnungslos zu sein wie der Rest der Bevölkerung? Wissen ist nicht immer ein Segen, das wusste Zara schon lange, doch so deutlich wie in diesem Moment hatte ihr diese Weisheit noch nie vor Augen gestanden.

Sie schickten sich gerade an, die Obelisken und damit die Stadtgrenze von Sternental zu überschreiten, als Zara in den dräuenden schwarzen Schatten der Gasse zwischen den beiden letzten, dicht zusammenstehenden Häusern eine verstohlene Bewegung bemerkte, wie von jemandem, der nicht gesehen werden wollte, und unwillkürlich kamen ihr Godriks Worte in den Sinn: „Ihr seid nicht länger in Sternental willkommen, und ich übernehme keinerlei Verantwortung für etwaige Fährnisse, die Ihr womöglich erleidet, wenn Ihr hierbleibt...“

„Achtung!“, sagte Zara so beiläufig wie möglich.

Doch es hätte ihrer Warnung nicht bedurft, denn auch den anderen war die Bewegung in der Gasse nicht entgangen. Falk griff instinktiv nach seinem Messer, während sich Thors Nackenhaare zu einer drahtigen grauschwarzen Bürste aufstellten und sich seiner Kehle ein drohendes Knurren entrang. Doch Zara bedeutete Falk mit einem unmerklichen Kopfschütteln, seine Klinge stecken zu lassen, und einen Moment später sah dieser auch, warum.

Der Mann, der unsicher zwei Schritte aus den Schatten zwischen den beiden Häusern trat, um sich ihnen zu offenbaren, war Salman, der Zauberer. Er sah sich nervös nach allen Seiten um, die Wangen voller hektischer roter Flecken. Er wirkte, als würde er jeden Moment damit rechnen, vom Blitz getroffen zu werden. Er gab ihnen ein Zeichen, dass sie ihm folgen sollten. Sein Blick schweifte einen Moment lang über die Hausdächer zur Burg. Dann zog er sich schnell wieder ins düstere Zwielicht der Gasse zurück, wie um dem allsehenden Blick der Burg zu entgehen.

Die Gefährten folgten ihm in die Gasse, wo Salman niedergeschlagen und mit hängenden Schultern auf einem alten Essigfass saß. Als sich die drei näherten, hob er den Kopf, und obwohl er ängstlich und übervorsichtig wirkte, machte er doch den Eindruck, als habe er für sich selbst eine Entscheidung getroffen.

„Wenn Godrik wüsste, dass ich mit Euch rede, würde man mich in der Enklave fortan wie einen Aussätzigen behandeln“, sagte er zur Begrüßung und schaute sich noch einmal ängstlich um, als fürchtete er, der Enklavenvorsteher könnte jeden Moment aus den Schatten in die Gasse springen.

„Ich glaube nicht, dass Ihr Euch darüber Sorgen zu machen braucht, angesichts des Umstands, dass das Ende der Welt unmittelbar bevorsteht“, sagte Zara spöttisch. Während sie mit einer Hand Kjell am Zügel hielt, lag ihre andere Hand auf Thors wuchtigem Haupt, um den Wolf zu beruhigen, der noch immer leise knurrte; er traute Salman nicht.

Salman schaute sie an, dann wandte er sich Jael zu, und ein Ausdruck ehrlichen Bedauerns trat in seine Züge, als er sagte: „Ihr hattet Recht mit dem, was Ihr oben im Zeremoniensaal gesagt habt – mit allem, auch dem, was Godrik betrifft. Anfangs haben wir einfach nicht wahrhaben wollen, dass der Kult ausgerechnet in unserer Mitte wieder Fuß fasst, nach all den Jahrhunderten, die wir damit zugebracht hatten, statt der Verbotenen Künste der Wissenschaft zu huldigen und uns von dem Ruf reinzuwaschen, uns mit Hilfe unserer Fähigkeiten Privilegien und Macht zu erschleichen, die uns von Rechts wegen nicht zustehen. Keiner von uns wollte die Wahrheit erkennen. Doch spätestens, als wir die ersten Toten aus unserer Mitte zu Grabe tragen mussten, regte sich Misstrauen. Einige von uns – wenn auch nicht viele – waren nicht länger bereit, die Augen vor dem zu verschließen, was sich nicht länger leugnen ließ. Wir wollten der Angelegenheit nachgehen und das Übel ausmerzen. Aber Godrik sprach sich dagegen aus. Er sagte, es wäre dumm, die Pferde scheu zu machen, solange wir nicht die Gewissheit hätten, dass die Gerüchte tatsächlich wahr wären. Er wollte nicht, dass etwas von alldem nach außen drang, wollte unserem Ruf nicht noch mehr schaden, solange es keinen triftigen Grund dafür gab. So behauptete er – doch in Wahrheit, so glaube ich, hat er einfach nur Angst.“

Zara runzelte die Stirn. „Angst wovor?“

Salman wiegte den Kopf. „Davor, versagt zu haben, natürlich. Godrik ist nun mal der Enklavenvorsteher – einer in einer langen Reihe von Vorstehern, von denen jedoch keiner je mit solchen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte wie Godrik jetzt, und wenn doch, dann wurde immer alles so erledigt, dass es niemand mitbekam. Godrik trägt die Verantwortung für alles, was hier in Sternental geschieht. Sich einzugestehen, dass das Böse allein durch seine Weigerung, es anzuerkennen, wieder erstarkt ist, ist seine größte Schmach.“

„Ist das nicht gerade die größte Stärke des Bösen?“, murmelte Zara. „Uns glauben zu machen, dass es das Böse gar nicht gibt?“

Statt darauf einzugehen, sagte Jael: „Das erklärt noch nicht, warum ihr – die anderen Zauberer – Godrik so hündisch ergeben seid. Warum hat niemand gegen ihn aufbegehrt, wenn ihr genau wusstet, dass seine Entscheidungen falsch sind?“

„Weil Godrik der Enklavenvorsteher ist“, erklärte Salman ungeduldig, als müsste das jedem klar sein. „Er ist die oberste Autorität in Sternental. Sein Wort ist Gesetz. Es gibt keine Wahrheit außer der seinen.“ Er hob mit einem entschuldigenden Lächeln die Schultern. „Wahrscheinlich kann das keiner nachvollziehen, der unser Schicksal nicht teilt, aber wenn man Hunderte und Aberhunderte Jahre im Exil verbracht hat, inmitten derselben hundert Häuser, tagaus, tagein umgeben von denselben Gesichtern, denselben Personen, die man bereits seit Ewigkeiten erträgt, dann ändert sich das Denken, die gesamte Einstellung eines Menschen, und man wird lethargisch.“ Er seufzte traurig, doch Jael beabsichtigte nicht, ihn weiterhin in Selbstmitleid schwelgen zu lassen – das hatte der Zauberer schon viel zu lange getan.

„Wenn Ihr Informationen für uns habt, die uns dabei helfen könnten, eine Katastrophe zu verhindern, dann sprecht“, forderte sie. „Uns läuft die Zeit davon, und wenn Ihr uns nicht helfen könnt, gibt es keinen Grund, die wenige, die wir haben, mit Euch zu verschwenden.“

Salman nickte, als hätte er für ihr Drängen vollstes Verständnis, und tatsächlich war die Furcht in seinem Blick einer unsicheren Entschlossenheit gewichen. „Ich will tun, was ich kann“, sagte er beherzt. „Was wollt Ihr wissen?“

„Wigalf sprach davon, dass es innerhalb der Enklave zwei Gruppierungen von Zauberern gibt“, erklärte die Seraphim. „Die, die sich dem Kult bereits angeschlossen haben, und jene, die dagegen aufbegehren. Wenn das stimmt, würde das bedeuten, dass wir nicht auf uns allein gestellt sind; dass es noch andere wie Euch gibt, die bereit sind, uns zu helfen. Und diese Unterstützung brauchen wir.“

Der Zauberer setzte zu einer Erwiderung an, und seine bedrückte Miene ließ darauf schließen, dass er in diesem Punkt nichts Erfreuliches zu verkünden hatte, doch Jael ließ ihn nicht zu Wort kommen. Sie brachte ihn mit einer strengen Geste zum Schweigen und sagte:

„Am wichtigsten jedoch ist für uns im Augenblick die Frage, wo wir die Verschwörer finden.“ Sie sah Salman durchdringend an. „Wo könnten sie ihr Ritual zum Öffnen des Höllentors abhalten? Es ist vermutlich ein abgelegener Ort, sodass sie ungestört sind. Es ist denkbar, dass diesem Ort eine besondere Magie innewohnt, um die Kräfte der Sakkara-Priester zu bündeln oder zu verstärken. Womöglich hat er für den Sakkara-Kult auch eine besondere Bedeutung; ein historischer Zeremonienplatz, eine Opferstätte oder dergleichen. Ihr, Salman, seid schon so viele Jahrzehnte hier, dass Ihr bestimmt den einen oder anderen Ort kennt, der in Frage käme.“ Eigentlich klang das eher wie eine Hoffnung als eine Feststellung; Jael wollte, dass es so war. Sie klammerte sich daran wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm.

Doch obwohl in diesem Augenblick alle Hoffnung auf Salman ruhte, rechnete insgeheim wohl keiner von ihnen ernsthaft damit, dass er ihnen tatsächlich weiterhelfen konnte. So viel Glück schien nach all dem Pech, das sie bislang gehabt hatten, einfach zu unwahrscheinlich.

Umso mehr überraschte es sie, als Salman, ohne lange zu überlegen, sagte: „Eine abgelegene mächtige Stätte, die für den Sakkara-Kult von Bedeutung ist ... Eigentlich kommt da bloß ein einziger Ort im gesamten Königreich in Frage.“

Alle schauten ihn neugierig an.

„Jetzt redet schon!“, drängte Zara den Zauberer, als Salman nicht sofort mit der Sprache herausrückte, so als wolle er es spannend machen.

Salman wiegte den Kopf. „Drakenschanze“, sagte er.

Falks Stirn legte sich in Falten. „Drakenschanze?“, wiederholte er, als hätte er Salman nicht recht verstanden oder wollte sicher gehen, dass er sich nicht verhört hatte.

Salman nickte. „Man sagt, dass in Drakenschanze die sterblichen Überreste sämtlicher Sakkara-Priester seit Anbeginn des Kults begraben wären. Alle Mitglieder des Kults, die vor und während der Inquisition den Tod fanden, wurden angeblich in der einst vom Hohepriester Iliam Zak mit schwärzesten Riten gesegneten Erde eines abgelegenen alten Friedhofs, der noch aus der Zeit der Alten Götter stammen soll, zu Grabe getragen, um Seite an Seite mit ihresgleichen zu ruhen, bis für sie die Zeit gekommen ist, sich wieder zu erheben und von neuem ihren Platz an der Seite ihres Meisters einzunehmen. Denn im Glauben der Sakkara-Sekte ist der irdische Tod nicht das Ende, sondern lediglich eine Ruhephase, die so lange währt, bis die Zeit gekommen ist, sein altes Leben in einer neuen Ordnung wieder aufzunehmen.“

„Wenn die letzte Stunde angebrochen ist“, murmelte Falk.

Salman nickte. „Doch seit Zak ins Exil verbannt und die Sekte offiziell zerschlagen wurde, ist es ruhig um Drakenschanze geworden, und niemand weiß genau, ob diese ganzen Geschichten rund um den Sakkara-Friedhof tatsächlich stimmen oder ebenso eine Legende sind wie so vieles, was man sich über den Kult erzählt. Gut möglich, dass nichts von alldem wahr ist – oder auch alles. Wer kann das sagen? Ich selbst kenne niemanden, der je dort war, und auch keinen, der je das Bedürfnis hatte, sich dorthin zu begeben. Wenn es diesen Ort wirklich gibt“, sagte Salman, und jetzt wurde seine Stimme leise und furchtsam, „dann muss es die finsterste Stätte sein, die man sich nur vorstellen kann, ein Hort von Grausamkeit und Tod und so schwarzer Magie, dass nur jemand, der nicht bei klarem Verstand ist, sich dorthin begibt.“

„Wie dieser Ishmael Thurlak?“, fragte Falk. „Ist der Kerl wirklich tot?“

Salman nickte. „Wie Godrik gesagt hat: Er starb schon vor Jahren ganz gewöhnlich an einer Lungenentzündung. Das ist gewiss. Ich war bei seiner Bestattung dabei; ich war einer derjenigen, die den Sarg trugen. Nicht, weil wir uns besonders nahe gestanden hätten“, fügte Salman hastig hinzu, wie um jeden möglichen Verdacht zu ersticken, „sondern weil es ja irgendjemand tun musste, und Thurlak hatte in der Enklave genauso wenig Freunde wie Iliam Zak. Zumindest damals; heute sieht die Sache wohl anders aus.“

Zara furchte die Stirn. „Aber wer führt den Kult dann, wenn sowohl Iliam Zak als auch Ishmael Thurlak tot sind?“

Salman zuckte mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung“, gestand er. „Doch wer immer es ist, er muss unglaubliche Macht besitzen, dass er es überhaupt nur wagt, sich mit den Dämonen des Chaos einzulassen. Das sind Kräfte, die so gewaltig sind, dass selbst die gesammelte Magie von Burg Sternental dagegen lächerlich wirkt.“

Allein die Vorstellung genügte, um ihn schaudern zu lassen. Er starrte zu Boden, das Gesicht in Schatten versunken, und hing seinen Gedanken nach.

Bis unversehens ein großer, fetter Rabe herbeigeflattert kam, mit einem Gefieder, so schwarz, dass es in einem matten Dunkelblau schimmerte. Der Vogel ließ sich auf der Dachrinne über ihnen nieder, stakste hin und her und blickte auf sie hinab, ein abgehacktes Krächzen ausstoßend.

Kra! Kra!

Der Zauberer zuckte so heftig zusammen, als wäre er geschlagen worden, und starrte den Raben mit ängstlichen, weit aufgerissenen Augen an. Schlagartig war seine ganze Entschlossenheit wie weggewischt; stattdessen hatte er plötzlich den gehetzten Blick eines Beutetiers, das das Nahen seines größten Feindes wittert.

„Ich muss gehen“, sagte Salman, ohne den Blick von dem Raben zu wenden.

Er sah aus, als hätte er einen Geist gesehen, und Zara fragte sich, ob es mit dem Raben womöglich mehr auf sich hatte, als es auf den ersten Blick schien. War er in Wahrheit Godrik, der sich in einen Vogel verwandelt hatte, um Salman, dem Aufmüpfigen, nachzuspionieren?

Der Gedanke schien lächerlich, und doch ... Noch vor kurzer Zeit hatte Zara geglaubt, sie selbst wäre das Wunderlichste und Absonderlichste, was es auf Ancarias Boden zu bestaunen gab. Doch sie brauchte nur hinüber zur Großen Burg zu schauen, um zu erkennen, wie einfaltig diese Annahme gewesen war. Tatsächlich gelangte sie mehr und mehr zu dem Schluss, dass es nichts gab, was es nicht gab; angesichts von Blutbestien, Zauberritualen mit Jungfrauenherzen und einer wahnsinnigen Sekte, die sich anschickte, das Tor zur Hölle zu öffnen, um eine Horde Chaos-Dämonen in diese Welt zu entlasen. Ein Zauberer, der willens und im Stande war, sich in einen Vogel zu verwandeln, war nicht abwegiger als ein Friedhof voller zum Leben erweckter Toter.

Sie besah sich den Vogel genauer, der über ihnen auf der Dachrinne saß und den Blick unstet zwischen ihnen hin- und herzucken ließ, und da fiel ihr auf, dass dem Tier das linke Auge fehlte!

Der Zauberer erhob sich, und einen Moment lang sah es so aus, als wollte er mit seinem Stock nach dem Vogel schlagen, doch dann wiederholte er nur noch einmal: „Ich muss gehen.“

Er war schon halb aus der Gasse, als Jael ihn mit zwei schnellen Schritten einholte, ihn an der Schulter packte und zu sich herumdrehte. „Wartet!“, sagte sie. „Noch einen Augenblick!“

Salman starrte sie gehetzt an, das Gesicht bleich wie Kalk, und mit hängenden Schultern stand er da.

„Was ist mit den anderen Zauberern?“, fragte Jael. „Jenen, die bereit sind, gegen den Kult vorzugehen? Werden sie uns helfen?“

Salman zuckte mit den Schultern. „Bedaure, aber Ihr solltet nicht auf Unterstützung zählen – Eure Hoffnung wäre vergebens.“

Jael hatte noch weitere Fragen – Dutzende sogar –, doch ehe sie noch dazu kam, eine einzige zu stellen, wirbelte Salman in einem Anflug von nackter Panik herum, riss sich dabei los und eilte mit ausgreifenden Schritten durch die Hauptgasse davon. Die Seraphim überlegte, ihn erneut aufzuhalten, aber sie ahnte, dass es keinen Sinn haben würde; Salman war durch das Auftauchen des Vogels derart beunruhigt, dass ihm die Angst schier aus den Augen leuchtete. Er ergriff vor dem Raben förmlich die Flucht, der just in diesem Moment krächzend und flügelschlagend von der Dachrinne aufstieg.

Salman beschleunigte seine Schritte, bis er lief. Beinahe konnte man meinen, der Mann hätte Todesangst, und vielleicht stimmte das sogar.

Zara wandte ihre Aufmerksamkeit dem Raben zu, der mit langsamen Schlägen seiner großen schwarzen Schwingen durch die Lüfte schwebte, in Richtung der Großen Burg, und wieder kam ihr in den Sinn, dass das, was sie für einen Vogel hielten, vielleicht etwas ganz anderes – jemand anderes – war. Dann verschwand der Rabe hinter den Schornsteinen, und nur noch das Klappern von Salmans Stock auf dem Kopfsteinpflaster, das seinen übereilten Abgang begleitete, war zu hören.

„Was, wenn das wieder eine Falle ist?“, sagte Falk nachdenklich. „So wie die Sache mit Wigalf und dem Friedhof? Was, wenn wir bereits von einer Horde Sakkara-Priester oder Höllendämonen oder noch Schlimmerem erwartet werden, wenn wir in Drakenschanze aufkreuzen?“

„Ich glaube nicht, dass wir uns darüber Gedanken machen müssen“, sagte Jael, plötzlich wieder so resigniert wie zuvor. Vor Salman hatte sie sich zusammengerissen, um sich den Sturm der Emotionen, der in ihr tobte, nicht anmerken zu lassen. Nun waren die drei Gefährten und der Wolf wieder unter sich, und die Verzweiflung schwappte erneut über Jael hinweg, wenn auch nun aus einem anderen Grund als zuvor. „Selbst wenn das Ritual wirklich in Drakenschanze stattfindet, was in keinster Weise sicher ist ... es ist vorbei.“ Sie stieß ein müdes Seufzen aus und lehnte sich gegen die brüchige Hauswand, als wäre sie mit einem Mal zu schwach, um sich aus eigener Kraft auf den Beinen zu halten. „Das war’s. Hier endet unsere Reise – und diesmal endgültig.“

Falk sah sie verwirrt an. „Häh?“, war alles, was er dazu sagen konnte.

„Drakenschanze ist einen Wochenritt von hier entfernt“, erklärte Zara, als sie seinen fragenden Blick bemerkte. „Mindestens. Der Ort liegt jenseits des Gebirges, tief in den Sümpfen der Dunklen Gebiete, noch ein gutes Stück weiter nördlich als Moorbruch, zwischen Schönblick und Finsterwinkel. Wir können niemals rechtzeitig dort sein, um das Ritual zu verhindern! Und deshalb ...“ Wieder dieses müde, traurige Seufzen. „Deshalb ist es für uns unmöglich, noch einzugreifen. Am besten kehren wir in die Schenke ein, bestellen uns Met, betrinken uns bis zum Umfallen und warten darauf, dass das Ende auch uns erreicht. Denn verhindern können wir es nicht.“

„Aber das kann es nicht gewesen sein!“, widersprach Falk trotzig. „Nach allem, was wir durchgemacht haben, um hierher zu gelangen, kann es nicht so enden!“ Er sah die Vampirin an, doch Zara zuckte bloß mit den Schultern, als spielte es keine Rolle, was er dachte, und auch Jael schwieg, doch ihre niedergeschlagene Miene verriet, dass die Seraphim derselben Meinung war wie die Vampirin.

Sie konnten die „letzte Stunde“ nicht verhindern.

Aus. Ende. Vorbei ...

Der alte Falk, der bloß an sich selbst und seinen Schnitt dachte und sich nie um die Belange anderer geschert hatte, hätte sich Zaras Meinung vermutlich angeschlossen und sich schon mal Gedanken darüber gemacht, wie man sich mit der neuen Ordnung am vorteilhaftesten arrangieren könnte. Aber der neue Falk – der Falk, der beweisen wollte, dass er doch etwas wert war; der Falk, der die Welt retten wollte – war nicht bereit, so schnell aufzugeben.

„Aber irgendwie müssen die Verschwörer auch dorthin gelangt sein“, sagte er. „Egal, wie weit Drakenschanze von hier entfernt ist, es muss einen Weg geben, um schnell dorthin und wieder zurückzugelangen. Ich meine, wenn plötzlich einige der Zauberer aus der Enklave zwei Wochen lang fehlten, nur um mal eben an irgendwelchen schwarzmagischen Ritualen in den Sümpfen teilzunehmen, wäre das selbst so einem Ignoranten wie Godrik aufgefallen, und dann hätte Salman vermutlich auch was darüber gesagt.“ Seine Stirn legte sich in Furchen, als er angestrengt darüber nachdachte. Dabei brabbelte er halblaut vor sich hin: „Aber wie nur? Was ist der Trick? Wie haben sie da gema...“ Und dann fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen, und als er den Kopf wieder hob, grinste er über das ganze Gesicht.

Magische Portale und wie man sie öffnet!“, sagte er triumphierend.

Jael sah ihn irritiert an. „Wie? Was?“

„Dieses Buch lag in Zaks Turmkammer auf dem Tisch“, erklärte Falk, mit einem Mal ganz aufgedreht. „Magische Portale und wie man sie öffnet. Ich nehme an, dass das Buch nicht einfach so in der Kammer lag, sondern weil Zak es dorthin gelegt hat; weil Zak es womöglich benutzt hat!“ Er war so begeistert von seiner Idee, dass seine Augen vor kindlicher Freude leuchteten. „Zak hat mit Hilfe dieses Buchs magische Portale geöffnet, um ohne Zeitverlust von seinem Turm zu jedem beliebigen anderen Ort im Königreich zu reisen. Damm haben ihn über die Jahre auch immer wieder Leute in irgendwelchen Regionen von Ancaria gesehen!“, hielt er Jael vor, als wollte er sie anklagen, dass die Seraphim nicht selbst schon längst auf diesen Gedanken gekommen war. „Weil er wirklich dort war, und zwar mit Hilfe von magischen Portalen. Und wenn Iliam Zak dazu im Stande war, durch ein solches Portal an jeden beliebigen Ort des Königreichs zu gelangen, dann können wir das auch!“ Falk grinste. „Es ist noch nicht zu spät!“, sagte er aufgeregt. „Noch haben wir eine Chance!“

Jael und Zara wechselten einen Blick, und Zara schob die Unterlippe vor und zuckte mit den Schultern, so als wäre sie bereit, Falks Theorie durchaus in Betracht zu ziehen.

Doch Jael schien von dem Gedanken, sich durch ein magisches Portal an einen anderen Ort zu begeben und sich damit Mächten auszusetzen, die jenseits ihrer Vorstellungskraft lagen, nicht im Mindesten angetan. „Selbst wenn Zak tatsächlich wusste, wie man magische Portale zu anderen Orten öffnet, heißt das noch lange nicht, dass wir dazu ebenfalls in der Lage sind“, sagte sie ernst. „Magie erfordert nicht nur das Wissen um die Dunklen Künste, sondern von demjenigen, der sie anwendet, auch ein gewisses Maß an natürlichem Talent. Das ist nichts, was man erlernen kann. Man muss dafür zaubern können. Man muss bereit sein, sich darauf einzulassen, und zwar mir allen Konsequenzen.“

Ihr Blick glitt über die Dächer der Gasse empor zur Spitze der Großen Burg, die jetzt, da sie wussten, dass auch der Zauber von Sternental ein ebenso flüchtiger wie trügerischer war, nicht mehr halb so majestätisch und erhaben wirkte wie bei ihrer Ankunft. „Es geht hier nicht darum, ein Kaninchen aus einem Hut zu ziehen oder irgendwelche Kartentricks vorzuführen“, sagte Jael nachdenklich und – so schien es – mehr zu sich als zu ihren Begleitern. „Das hier ist kein Hokuspokus. Man lässt sich mit Kräften ein, die weit jenseits unseres Verständnisses und unserer Vorstellungskraft liegen. Zauberei ist nicht für normale Menschen bestimmt, auch nicht für Vampire oder für ein Wesen wie mich.

In diesem Fall jedoch ...“, sagte die Seraphim, und als sie sich jetzt ihren Gefährten zuwandte, blitzte zum ersten Mal seit Stunden so etwas wie Hoffnung in ihren Augen. „In diesem Fall scheint es, als hätten wir gar keine andere Wahl, als diesen Weg einzuschlagen, um Schlimmeres zu verhindern. Hoffen wir bloß, dass einer von uns genug Zauber besitzt, um dieser Aufgabe gewachsen zu sein!“

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