Ein Aufprall. Ein Aufprall und Licht. Ich landete mit dem Gesicht in klebrigem Dreck, alle viere von mir gestreckt, obwohl ich im Fallen versucht hatte, mich auf den Rücken zu drehen, um den an meine Brust gepressten Reptiloiden zu schützen.
Da hatte ich allerdings auch schon begriffen, dass niemand mehr bei mir war.
An den Augenblick, als Danilows Hand, die sich so fest an meinen Arm geklammert hatte, verschwunden war, als der an meine Brust gepresste Zähler sich in Luft aufgelöst hatte, konnte ich mich nicht mehr erinnern. Ich lag in diesem kalten Matsch, kniff im blendenden Sonnenlicht die Augen zusammen, zog unwillkürlich die Knie an den Bauch, bis ich eine Embryonalstellung einnahm, und war kurz vor einem hysterischen Anfall. Man hatte uns auseinandergerissen. Mit der legeren Routine eines erfahrenen Chirurgen hatte man uns voneinander getrennt.
In meinen Schläfen hämmerte Schmerz. Mein Kopf schien ein gusseiserner Rohling zu sein, der gerade den Schmiedeofen, die Walze und die Presse durchlaufen hatte. Würgereize krampften meinen Hals zusammen. Ich war durch den Raum geschleudert worden, ziemlich weit offenbar, denn hier war die Luft ganz anders, geschwängert von schweren, unangenehmen Gerüchen. Die Schwerkraft entsprach der auf der Erde oder war sogar etwas größer. Das Licht, das mir auf die Augen fiel, kam mir selbst durch die geschlossenen Lider hindurch blendend hell vor.
Ich presste die feuchten, schmutzigen Hände gegen die Schläfen und hockte mich hin. Der Schmerz ließ nach, wenn auch langsam und widerwillig. Ein Zittern durchlief meinen Körper. Ob das Folgen des Übergangs waren? In diesem Fall würde ich den Jump immer bevorzugen … von heute an, für alle Ewigkeiten …
Die roten Kreise hinter meinen Lidern erloschen. Vorsichtig machte ich die Augen einen Spalt auf. Die Welt wirkte unscharf und verblasst, wie eine alte Photographie. Mit jeder Sekunde füllte sie sich jedoch mit grellen, satten, mit wilden Farben auf.
Ein Dschungel.
Ich war an der Grenze zwischen Dschungel und Sumpf aufgeschlagen, auf einem schmalen Streifen feuchter, mit hohem Gras bewachsener Erde. Die am Horizont aufgehende Sonne – ich spürte einfach, dass es nicht abends, sondern morgens war – leuchtete heller als auf der Erde und mit einer kaum wahrnehmbaren fahlen Nuance. Links zog sich die dichte, undurchdringliche dunkelgrüne Mauer dahin, prangten orange-gelbe Flecken der Blumen, rankten sich die weißen Peitschen von Luftwurzeln. Rechts erstreckte sich trügerisch von Gras gesäumtes, glattes grau-braunes Moor. Allein durch den löchrigen Grasteppich in Ufernähe, der vom Absturz eines gewaltigen Etwas zerfetzt zu sein schien, schimmerte der Sumpf. Erschaudernd fragte ich mich, ob nicht vielleicht zwei Menschenkörper in den Morast gefallen waren.
Nein, wohl kaum. Dafür wirkte der braune Matsch zu ruhig und unaufgewühlt. Außerdem waren die Maße der Lichtung zu groß: Da hätte schon ein ganzes Schiff abgestürzt sein müssen.
»Mist!«, flüsterte ich, während ich vom Rand des Morasts wegkroch. Wenigstens da hatte ich Glück gehabt. Schon in meiner Kindheit hatte ich das Moor nicht gemocht, vielleicht weil ich als kleiner Junge einen Film gesehen und mich gefürchtet hatte oder weil ich einmal, bei einem Spaziergang mit meinem Großvater, im Moor gelandet war … Mein Großvater hätte ein solches Abenteuer durchaus aushecken können, zu pädagogischen Zwecken. Die Psychoanalyse will ich lieber gar nicht erst bemühen. Auf alle Fälle mag ich keine Sümpfe.
Weiter weg vom Ufer war der Boden zwar fester, aber immer noch feucht und nachgiebig. Ich stand auf und wischte mir angeekelt den Dreck vom Gesicht. Dann sah ich mich um. Hier war niemand. Zumindest im näheren Umkreis nicht. Aber was für eine bizarre Landschaft. Nichts als Sumpf, bis zum Horizont nur Moor, ein ganzer Ozean von Dreck. Der Dschungel schien sich rund zwanzig Kilometer auszudehnen, dahinter erhoben sich Berge, nackte und bedrohliche Felsen.
»Großpapa!«, schrie ich. »Sascha! Danilow!«
Der Schrei blieb in der feuchten Luft hängen und löste sich auf.
»Mascha!«
Mir wurde es eng in der Brust. Nein, hier war niemand. Vielleicht gab es auf dem ganzen Planeten niemanden außer mir. Wenn man uns beobachtet hatte – und daran hegte ich kaum noch Zweifel – dann konnte man uns auch in unterschiedlichen Welten ausgesetzt haben. Aber wozu? Waren wir Teil eines Experiments? Wollte man unsere Reaktionen testen? Möglich war das natürlich. Nur gehörte dieses Experiment in die gleiche Kategorie wie ein Planet, der als Weltraumbahnhof dient – und ich glaubte nun mal nicht an solche Hyper-Zivilisationen.
Ich klopfte gegen meine Taschen, um mich zu vergewissern, dass die Dosen mit dem Essen noch da waren. Mehr war mir nicht geblieben. Also wirklich – was sollte das? Am Ende doch irgendein Survival-Experiment?
Ich riss ein paar Büschel von dem hohen Gras aus und wischte mir damit den Dreck ab. Das Gras war stinknormal. Gewiss, ich war kein Botaniker, aber nüchtern betrachtet, wirkte die Flora wie die auf der Erde. Ich durfte hoffen, dass im Dschungel auch keine Dinosaurier umherliefen.
Der Kopfschmerz ließ etwas nach, gab Ruhe. Damit beruhigte auch ich mich. Und nun bemerkte ich endlich, was mir schon längst hätte auffallen müssen.
Ich stand auf genauso einer Fläche wie auf dem Irrstern – ich stand mitten in einem Tor.
Das war schon komisch. Ich hätte nicht schlüssig erklären können, wodurch sich diese Stelle von ihrer Umgebung unterschied. Nicht einmal in Gedanken, für mich selbst, fand ich Worte. Ich spürte diesen dicht bewachsenen Fleck einfach, genau wie eine Kompassnadel ein Stück Eisen spürt.
Obendrein wusste ich, dass das Tor geschlossen war. Ich konnte auf dem Gras herumstapfen, springen, rennen oder mich auf dem Boden wälzen – es würde nichts passieren.
Zu diesem Transportsystem konnte man den Welten des Schattens nur gratulieren. Das waren nicht die schnöden »Telefonzellen« der Geometer, nein, das war etwas, das aus der umliegenden Realität selbst geschaffen worden war, aus ihrem Stein, Gras und Schmutz. Außerdem hinterließ dieses Tor im Bewusstsein eine Spur, ein Zeichen.
»Und? Was habt ihr nun davon?«, fragte ich, während ich mich umsah.
Nur zu gern wollte ich glauben, irgendjemand habe tatsächlich irgendetwas von alldem. Und dass von meinem Handeln und meinen Worten in diesem Moment etwas abhinge.
Mit ein paar Schritten trat ich in die Mitte des Tors. Erwartungsvoll blieb ich stehen.
Ich könnte hier Wurzeln schlagen, und es würde nichts passieren! Trotzdem hätte ich wahrscheinlich noch ewig so dagestanden und auf sonst was gewartet.
Doch genau in diesem Moment bewegte sich das hohe Gras am Rand des Waldes, ohne dass auch nur das geringste Lüftchen ging.
Was hatte ich doch gleich über Flora und Fauna gedacht? In null Komma nichts lag ich auf dem Boden und spähte in die grünen zitternden Halme hinein. Wir können die organischen Stoffe fremder Planeten nicht essen, das hatte ich vor gar nicht allzu langer Zeit meinem kleinen Nachbarn erklärt. Aber war das auch jedem außerirdischen Raubtier klar?
Das Gras beruhigte sich wieder. Prompt gaukelte mir meine Phantasie einen im Verborgenen auf dem Sprung lauernden Säbelzahntiger vor. Das war insofern noch gut, als es in der Galaxis ja genügend Monster gibt, bei deren Anblick du dich glatt einem Tiger in die Arme wirfst.
Wegzulaufen wäre dumm und obendrein gefährlich gewesen. Das Gleiche galt für die Idee, näher heranzugehen. Andererseits konnte ich ja wohl nicht stocksteif liegen bleiben oder mich in der Erde vergraben, oder?
Ich hockte mich erst hin, dann richtete ich mich zu voller Größe auf – manche Raubtiere schrecken ja vor einem größeren Gegner zurück – und ging los. Mit langsamen, aber möglichst sicheren Schritten.
Vielleicht konnte ich ihn abschrecken …
Doch dann erkannte ich, an wen ich mich heranschlich.
Im plattgedrückten Gras lag – die Arme ausgestreckt und in den Himmel hochschauend – ein junger Mann. Etwas jünger als ich, so zweiundzwanzig vielleicht. Aschfarbenes Haar und dunkle, leicht kupferfarbene Haut. Er trug eine grüne, sich kaum vom Gras abhebende Jacke, Hosen in derselben Farbe und schwere Schuhe mit abgelaufenen Sohlen. Seine Kleidung zeigte Spuren von eingetrocknetem Dreck, als sei der Mann durch den Sumpf gekrochen. Langsam richtete er den Blick auf mich. In den braunen Schlitzaugen spiegelte sich leichte Neugier wider. Danach starrte er wieder hoch in den Himmel.
Mich irritierte das dermaßen, dass ich selbst den Kopf in den Nacken legte.
Da gab es nichts, nur eine einzelne Wolke.
»Was ist denn mit dir?«, fragte ich, ihn in meiner Verblüffung duzend. Zu spät dachte ich daran, dass er mich ja nicht verstehen würde.
Und noch später wurde mir klar, dass ich weder Russisch noch Englisch, ja, nicht mal die Sprache der Geometer sprach.
»Ich liege hier«, antwortete der Mann leise.
Damit hatte ich Kontakt hergestellt!
Ich hockte mich hin, den Blick unverwandt auf den Unbekannten gerichtet. In meinem Kopf ballte sich eine gewaltige Dummheit zusammen, die ich natürlich auch noch aussprechen musste. »Schon lange?«
»Seit heute Morgen.«
Das Seltsamste war natürlich, dass ich ihn verstand. Kurz schoss mir der Gedanke durch den Kopf, Karel habe auch diesmal seine Finger im Spiel gehabt.
Aber warum sollte ich mich auf ihn beschränken? Hinter mir lag das Tor, das mich von einer Welt in eine andere gebracht und mir beigebracht hatte, es jederzeit wiederzufinden. Auf eine Veränderung in meiner Psyche mehr oder weniger kam es da ja wohl nicht mehr an.
Jetzt brauchte ich Rat wie nie zuvor. Aber der Cualcua, der Einzige, mit dem ich reden konnte, schwieg.
Der Mann stemmte sich auf die Ellbogen hoch und betrachtete mich etwas aufmerksamer. »Wie heißt du?«
»Pjotr.«
»Ich kenne dich nicht.«
Er sagte das ohne Interesse oder Misstrauen, teilte es mir lediglich mit. Als ob er mich kennen müsste und das unbekannte Gesicht ihn irritierte, wenn auch nicht übermäßig, sondern nur leicht.
»Ich bin zum ersten Mal hier.«
»Klar.« Er streckte sich wieder im Gras aus. Nach kurzem Zögern folgte ich seinem Beispiel. Hundert Fragen wirbelten mir durch den Kopf, die ich auf der Stelle loswerden musste. Aber jemanden auszuquetschen, heißt ja längst nicht, auch Informationen zu bekommen. Häufig genug ist das Gegenteil der Fall, und man gibt sie preis.
»Gefällt es dir hier?«
Jetzt schwang in seiner Stimme Neugier mit.
»Weiß ich noch nicht«, antwortete ich vage.
»Mir gefällt es. Schnee.«
»Was?«
Die einzige Wolke am Himmel versprach nun weiß Gott keinen Schnee.
»So heiße ich. Schnee. Ein bescheuerter Name, oder?«
»Ah … nö … wieso denn …?«
»Eltern, die ihren Kindern sprechende Namen geben, gehören vor Gericht und wegen Rowdytum angeklagt«, erklärte der Mann voller Abscheu. »Sie behaupten, dass, als ich geboren wurde, die ganze Erde mit dem ersten Schnee bedeckt war. Und das hat sehr schön ausgesehen.« Er verstummte kurz, um dann nachdenklich hinzuzufügen: »Nur gut, dass an diesem Tag nicht die Kanalisation geplatzt ist …«
Ich lachte. Nicht wegen seines Witzes, den er garantiert schon tausend Mal gebracht hatte. Nein, auf diese Weise entlud sich meine Anspannung.
Die Bewohner des Schattens waren uns Menschen von der Erde weitaus näher als die Geometer.
»Hat dein Name was zu bedeuten?«
»Nein.«
»Glückspilz. Hast du was zu futtern?«
»Ja.«
Der Mann katapultierte sich mit überraschender Energie hoch. »Warum hast du das nicht gleich gesagt? Dann rück mal raus damit!«
Ich zog die beiden Dosen aus meinen Taschen. Ich hatte keine Lust, etwas zu essen, schon gar nicht das Essen der Geometer. Die Begeisterung, mit der Schnee sich auf das Essen stürzte, ließ mich allerdings stutzen.
»Gibt es hier denn nichts zu essen?«
»Im Dschungel?« Der Mann blickte zu dem wuchernden Grün hinüber. »Doch. Aber das ist alles verseucht. Wenn du sterben willst, dann bedien dich … Aber sag mal, was für einen Rotz hast du hier eigentlich angeschleppt?«
»Das ist Universalnahrung«, knurrte ich. »Da ist alles Notwendige drin: Eiweiße, Fette, Kohlenhydrate, Spurenelemente. Und Wasser. Und Zellulose, damit der Magen voll ist.«
»Klar, da war für Geschmackstoffe einfach kein Platz mehr.« Trotz der Kritik aß der Mann mit erstaunlichem Appetit und kratzte die Dosen sogar mit den Fingern aus. »Trotzdem danke. Du denkst offenbar mit.« Er schlug mir auf die Schulter. »Da wirst du es noch weit bringen! Wenn du nicht in den Sümpfen verreckst.«
Schnee war das ganze Gegenteil der Geometer. Mal faul, dann – sobald es ums Essen ging – wieder voller Energie. Nach einem satten Schnaufen ließ er jede Menge langweiliger Witze vom Stapel. Mit irgendwelchen höheren Zielen schien er sich nicht zu belasten. In einer Gefühlsaufwallung brachte er es fertig, sein Gegenüber einfach zu umarmen. Ich sah ihn an, und mein Eindruck, jemand versuche mich für dumm zu verkaufen, verfestigte sich von Minute zu Minute.
Beobachtete man mich vielleicht tatsächlich? Und starrten irgendwo, Hunderte von Kilometern, ja, womöglich gar Hunderte von Lichtjahren entfernt, Danilow, Mascha und Karel ebenfalls in die Gesichter irgendwelcher verschwatzter und gutmütiger Unbekannter?
»Siehst du die Lichtung da?«, fragte Schnee. Zur Veranschaulichung seiner Worte schleuderte er die leere Dose in den Sumpf.
»Ja.«
»Da bin ich abgestürzt. Nachts. Ich bin kaum rausgekommen. Nur mit purer Willenskraft. Davon habe ich wirklich mein Leben lang geträumt: im Dreck zu ersaufen …«
Wir sahen uns an. Wahrscheinlich machte er das Unverständnis in meinem Blick aus.
»Die haben mich abgeschossen, Pjotr. Drei Grüne haben sich an mich gehängt. Einen habe ich runtergeholt, mit einem echt schönen Schuss … aber, seine beiden Kumpane haben mich runtergeholt. Irgendwie bin ich hinter die Frontlinie geraten.« Er lachte wie ein Kind aus vollem Hals. »Was hast du denn gedacht? Dass ich hier wohne und den Anblick der Wolken genieße?«
Jetzt sah ich seine Kleidung mit anderen Augen. Aber ja doch. Das war ein Tarnanzug. Anders konnte es gar nicht sein.
»Ich habe keine Ahnung …, ob sie im Stützpunkt mein Signal aufgefangen haben oder nicht … Bis Mittag warte ich noch, wenn dann keine Hilfe kommt, muss ich durch den Dschungel. Zu Fuß.«
Ich verstand kein Wort.
Abgeschossen?
Die Grünen?
Die Frontlinie?
Natürlich wäre es naiv, zu hoffen, Kriege hätten mit der Entwicklung der Zivilisationen aufgehört. Diese Illusionen hat man auf der Erde auch einmal gehegt. Wir haben uns allerlei Institutionen wie den Großen Ring und die Gemeinschaft der Intelligenten Welten ausgedacht. Wir haben gehofft, die Atombombe würde uns vom Krieg abbringen oder wir könnten nach der Entwicklung von Raketen auf Fußsoldaten verzichten. All das hat sich als Quatsch herausgestellt. Die Alari sind in der Lage, ganze Planeten in Staub und Asche zu verwandeln – aber die Hälfte ihrer Mannschaften in den Schiffen besteht aus Soldaten. Und die Daenlo … da weiß man nicht einmal, wo die Grenzen ihrer Zerstörungskraft liegen. Doch da sie zum Kämpfen zu faul waren, haben sie sich aus den kleinen Alari ihr Kanonenfutter herangezogen. Und wir auf der Erde? Was nützt es uns denn, von fremden Welten umgeben zu sein? Was nützt uns die Zugehörigkeit zu den intelligenten Rassen? Nichts nützt uns das! Im Kaukasus geht das Gemetzel schon ins dritte Jahrzehnt, Großbritannien droht in einzelne Grafschaften zu zerbröckeln, den USA fällt nichts Besseres ein, als ihre Truppen in die ganze Welt hinauszujagen, um ihre unermesslichen Interessen zu verteidigen.
Aber hier!
Ins Zentrum der Galaxis zu kommen und Worte, die einem derart zum Halse raushängen, Worte wie Frontlinie und Stützpunkt zu hören!
Einen Planeten zu sehen, der mit Hyper-Übergängen gespickt ist wie ein guter Käse mit Löchern, durch ein Tor zu gehen – und dann auf einen frisch abgeschossenen Piloten zu treffen! Zum Teufel noch mal, was für Luftgefechte wollten sie sich eigentlich bei ihrer Technik liefern?! Oder war es hier genau wie bei uns auf der Erde, wo man eine starke Waffe schultert – aber Streitigkeiten mit der Faust austrägt?
»Was guckst du denn so?«, wollte Schnee wissen.
»Ist der Stützpunkt weit weg?«, fragte ich geradeheraus.
»Zwei Wochen brauchen wir schon.«
»Und … haben wir eine Chance?«
»Natürlich nicht. Aber was schlägst du sonst vor?«
Die Versuchung war groß, einfach hinter mich zu zeigen, auf das Tor. Bei mir funktionierte es zwar nicht, aber die Einheimischen mussten doch wohl mit ihrem Transportsystem umgehen können.
»Na komm schon, Kopf hoch!« Schnee deutete mein Schweigen völlig falsch. »Sie finden uns bestimmt. Sag mir lieber, was du bei uns machen willst.«
Ich zuckte mit den Achseln.
»Fliegst du gern?«
»Kommt drauf an, womit.«
»Womit, das sehen wir dann. Entscheidend ist die Einstellung.«
»Hmm, ich fliege gern.«
»Gut.« Schnee nickte. »Dann nehme ich dich in meine Gruppe auf.«
Damit hielt Schnee das Gespräch wohl für beendet, denn er rieb sich die Hände sorgfältig am Gras ab, erhob sich und marschierte Richtung Ufer los. Was hieß das denn nun wieder? Sollten das alle Formalitäten gewesen sein? Du wirst in meiner Gruppe kämpfen, punktum. Keine Fragen, keine Papiere.
Ich betrachtete seinen Rücken und war versucht, die Komödie zu beenden. Erklärungen zu verlangen. Ihm zu sagen, wer ich war und woher ich kam, ihm klipp und klar zu sagen, dass ich alles durchschaue und dass das, was hier vor sich ging, nur ein Experiment war.
Aber jene Chance, die eins zu tausend stand, dass ich tatsächlich in ein hiesiges Kriegsgebiet gelangt war, hielt mich von einem übereilten Schritt ab.
»Glück gehabt!«, rief Schnee. Er drehte sich um und winkte mir zu. »He, Pjotr, wir haben Glück gehabt!«
Ich ging zu ihm und spähte nach vorn.
Über dem Sumpf bewegte sich was. Etwas, das eher an einen lecken Kahn erinnerte als an ein Raumschiff. Weder Aufbauten noch Triebwerke waren zu erkennen. Es war einfach ein Schiff, das über dem Modder schwebte.
Am Bug dieses profanen Transportmittels stand ein Mann. Er trug die gleiche Uniform wie Schnee. Sollte er das Schiff lenken, brauchte er dafür keinerlei Armaturen.
»Jetzt beginnt das Verhör.« Schnee sprach absichtlich laut. Trotzdem ließ eine bestimmte Anspannung in seiner Stimme mich daran zweifeln, dass ihm das tatsächlich nicht das Geringste ausmachte.
Am Rand des Ufers hielt der Kahn an, wobei er nach wie vor über der Erde schwebte. Der Mann in Uniform sprang herunter und kam auf uns zu. Mich befand er nur eines flüchtigen Blicks für würdig.
»Du lebst.«
»Ja«, bestätigte Schnee.
»Verdient hast du’s nicht.«
In der Stimme des Soldaten lag Verachtung. Er erinnerte mich ein wenig an Danilow, sowohl äußerlich – die kräftige Statur, das kurze Haar, die extrem gleichmäßigen Gesichtszüge – als auch von seinem Auftreten her. Selbstsicher, autoritär … eben genau wie der Oberst vor all unseren Abenteuern.
»Wer bist du?«
Diese Frage galt mir.
»Pjotr. Ich bin noch nicht lange hier.«
»Mir klar, dass du noch nicht lange hier bist …«
Der Mann warf einen Blick zur Seite – und ich begriff, dass er das Tor hervorragend sah. Und keinerlei weitere Erklärungen brauchte.
»Steig ins Schiff.«
Ich gehorchte. Aus der Nähe wirkte das Ding wie aus Papier zusammengeklebt. Mein Gewicht verkraftete es trotzdem problemlos, ja, es schwankte nicht einmal. Armaturen oder Triebwerke entdeckte ich genauso wenig wie Sitze. Ich baute mich an »Deck« auf und beobachtete das Geschehen.
Schnee musste Rede und Antwort stehen.
»Du hast dich aus der Zone, in der du Patrouille fliegen solltest, entfernt«, stauchte ihn der Neuankömmling zusammen. »Was hast du dir dabei gedacht? Du hast den Konvoi verlassen! Du hast dein Schiff verloren!«
»Ich habe einen von denen abgeschossen, Hauptmann.«
»Das rechtfertigt dich nicht! Wenn du danach heil zurückgekommen wärst …«
Der Mann drehte sich um und kam zum Schiff. Schnee blieb wie angewurzelt stehen.
»Ich sollte ihn hierlassen, diesen gottverdammten Kerl, damit er sich zu Fuß durchschlägt …«, sagte der Hauptmann versonnen. »Was meinst du dazu?«
»Ich glaube, das würde nichts nützen«, antwortete ich rasch.
Der Hauptmann warf einen Blick über die Schulter zurück zu Schnee. »Und was sagst du dazu?«
»Sie können’s ja mal versuchen«, schlug Schnee in einem Ton vor, in dem eine für mich nicht nachvollziehbare Drohung lag. »Das Recht dazu haben Sie …«
Einen Moment zögerte der Offizier. Auf seinem Gesicht spiegelten sich klar alle Gefühle wider, und ich war mir schon fast sicher, dass Schnee sich zu Fuß durch den Dschungel würde durchschlagen müssen.
»Ins Schiff mit dir! Du kannst von Glück sagen, dass der Alarm abgeblasen wurde …«
Schnee entspannte sich merklich. Und man musste ihm das nicht zweimal sagen. Sobald wir alle drei in dem fragilen Kahn waren, setzte sich dieser in Bewegung. Nicht tiefer in den Sumpf hinein, sondern am Ufer entlang. Obwohl die Beschleunigung eindeutig zu spüren war, ließ sich kaum eine Luftbewegung wahrnehmen. Bestimmt hatte das Schiff ein Kraftfeld generiert, das uns gegen den Wind abschirmte.
»Du scheinst mir der Verantwortungsvollere von euch beiden zu sein«, wandte sich der Hauptmann an mich. »Du bist also Pjotr?«
»Ja.« Ich überließ es ihm, zu entscheiden, welche Frage ich damit beantwortete.
»Ich kannte mal einen Pjotr. Oder hieß der doch anders?« Der Hauptmann dachte kurz nach. »Ein Albino, ein großer Mann mit roten Augen … Er sah leicht dämonisch aus, aber als Pilot war er einfach … Sind unter deinen Verwandten solche Typen?«
»Nein.«
Der Hauptmann nickte. Er spähte zum Ufer, woraufhin das Schiff rasant abdrehte und nun auf den Dschungel zuhielt. Die Bäume wuchsen hier direkt hinterm Sumpf, und überall wucherten die fahlen Wurzeln, zwischen denen etwas Winziges, etwas Lebendiges herumhuschte.
»Die vermehren sich wie die Karnickel! Gegen die ist einfach kein Kraut gewachsen«, klagte der Hauptmann. »He, Pjotr, du trägst dein Herz nicht gerade auf der Zunge.«
Ich zuckte mit den Achseln. Für die nächsten paar Tage war ich durchaus bereit, stumm zu werden – Hauptsache, ich erweckte keinen Verdacht.
»Er sagt, er fliegt gern«, mischte sich Schnee ins Gespräch. »Ich nehme ihn unter meiner Fittiche, Hauptmann.«
»Verdirb mir den Jungen nicht«, verlangte der Hauptmann in scharfem Ton. »Ein Draufgänger reicht mir völlig.«
Ihre Beziehung irritierte mich. Anscheinend hatte Schnee einen niedrigeren Rang und hätte sich eigentlich unterordnen müssen.
Er ließ jedoch nicht die geringsten Anzeichen von Unterwürfigkeit erkennen.
»Womit bist du geflogen?«
Auf eine Lüge wollte ich lieber verzichten. »Mit der Suchoi und der Spiral.«
»Kenn ich nicht.« Der Hauptmann runzelte die Stirn. »Wir haben nur Deltas. Du wirst umlernen müssen.«
Auch das war seltsam: Niemanden befremdete mein Wunsch, mich hinter den Steuerknüppel zu setzen und mich in den Kampf zu stürzen. Sie glaubten nicht einmal, dass ich damit nur ihre Befehle befolgte … nein, irgendwie hegten sie nicht die geringsten Zweifel daran, was hinter meinem Wunsch steckte.
Mit einem Mal flog das Schiff über fast klares Wasser hinweg. Der Schlamm, Dreck und der feuchte Grasteppich blieben hinter uns, vor uns erstreckte sich eine kleine Bucht, in die ein Fluss mündete. Das blaue Band schlängelte sich durch den Dschungel, offensichtlich zu den Bergen hin.
»Halten Sie an, Hauptmann, damit wir uns waschen können«, verlangte Schnee.
»Darauf werdet ihr verzichten müssen! Du mit Sicherheit!«
Das Schiff folgte im raschen Tempo dem Fluss. Wir mussten mindestens hundert Stundenkilometer draufhaben, zu beiden Seiten schoss das Ufer nur so ans vorbei. Selbst der durch das Kraftfeld eingedämmte Wind brannte nun in den Augen.
»In zwei Stunden sind wir da«, teilte uns der Hauptmann mit. »Ihr könnt euch entspannen.«
Schnee, der es sich ohnehin schon am Boden des Schiffs gemütlich gemacht hatte, forderte mich mit einem Nicken auf, mich ebenfalls zu setzen. Das tat ich.
»Du gefällst mir, Junge«, bemerkte der Hauptmann, ohne sich zu uns umzudrehen. »Und dir schwirren jede Menge Fragen durch den Kopf, was?«
»Ja«, gab ich zu.
»Du weißt, wo du gelandet bist?«
»Nein.«
»Wie üblich.«
Er sah mich an – und lächelte.
»Galis. So heiße ich. Hauptmann Galis, zeitweiliger Kommandant des 13. Stützpunkts.«
Das war offensichtlich das offizielle Begrüßungsritual.
»Pjotr. So heiße ich. Ehemaliger Pilot.«
»Flüge in der Atmosphäre? Im Raum?«
»Erst in der Atmosphäre, später im Raum.«
Galis blickte immer zufriedener drein.
»Warum ehemaliger? Versteh das nicht falsch, es ist nicht die Neugier, die mich …«
»Ich glaube, man hat mich inzwischen entlassen.«
»Weshalb?«
»Wegen Befehlsverweigerung.«
Schnee lachte fröhlich.
»Und welchen Befehl hast du verweigert?«
Das wuchs sich ja zu einem regelrechten Verhör aus. Ich versuchte, die Antwort möglichst vage zu formulieren.
»Ich habe entgegen meinem Befehl einen Flug unternommen, den ich für notwendig und richtig hielt.«
»Und wie ist es ausgegangen? Wer hatte recht?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ach ja, nicht umsonst heißt es, die Tore würden selten Leute zusammenführen, aber wenn doch, dann die richtigen«, bemerkte der Hauptmann kopfschüttelnd.
Schnee klopfte mir auf die Schulter. »Das ist wirklich Schicksal«, versicherte er mir freundlich. »Wir werden in derselben Mannschaft sein …«
Galis hockte sich vor uns hin. »Aber desertiert bist du hoffentlich nicht?«, erkundigte er sich mit einem Seufzer.
»Die Entscheidung darüber liegt nicht bei mir. Wieso? Hat das irgendeine Bedeutung?«, fragte ich trotzig zurück.
»Eigentlich nicht. Jetzt bist du hier …« Galis verengte die Augen zu Schlitzen, worauf die Luft zwischen uns anfing zu flimmern und sich zu einem Bild formte, einem Globus, der leicht schimmerte, als sei er aus trübem Glas. »Das ist unsere Welt.«
Ich verstand alles. Und ich wunderte mich über nichts. Nicht darüber, wie er dieses Bild herstellte, nicht über die Beschaffenheit des Planeten, der über unzählige winzige Inseln und ein paar kleine Kontinente verfügte, dazwischen von braunem Zeug angefüllte Senken. Anstelle von Meeren und Ozeanen gab es in dieser Welt nur Sümpfe.
An einer Stelle hakte sich mein Blick aber doch fest, nämlich an den winzigen blauen Funken und Punkten, mit denen die Kontinente und Inseln übersät waren. An den Toren. Das Netz war hier ebenso dicht wie auf dem sonnenlosen Planeten.
Wozu gab es in dieser Welt hier dann noch Schiffe?
»Das ist unser Territorium«, erklärte Galis. Der halbe Globus erstrahlte in orangefarbenem Licht. »Wir befinden uns hier …«
Ohne genau hinzusehen, zeigte er auf dem Globus auf eine Stelle unmittelbar an der Grenze des orangefarbenen Bereichs.
»Unser Gegner nimmt ein etwas größeres Territorium ein.«
Nun färbte sich der restliche Teil des Globus grün.
»Das ist die Lage, Pjotr. Wir kontrollieren mit siebzehn Stützpunkten die Frontlinie. Etwa genauso viele Stützpunkte hat der Feind …«
»Galis!«
Begriffsstutzig sah mich der Hauptmann an.
»Ich bin erst seit ein paar Stunden hier. Dürfte ich vielleicht ein paar Fragen stellen? Wer ist überhaupt euer Gegner?«
»Die Grünen.«
Etwas Komisches geschah: Ich spürte genau, dass das der einzige passende Ausdruck war. Mit doppelter Bedeutung und passend. Er gab die äußeren Merkmale der Feinde wieder, lieferte aber auch einen Hinweis auf ihre Einstellung zur Ökologie.
»Pass auf!«
Der Globus verschwand, an seine Stelle trat das dreidimensionale Bild eines Menschen. Eines grünhäutigen Menschen.
»Sie haben vor Jahrhunderten ihre Bewegung zur Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands auf den Planeten ins Leben gerufen. Unsere Welt ist eines der Hauptwiderstandszentren. Willst du mir etwa weismachen, du hättest noch nie was von den Grünen gehört?«
»Doch … aber ich habe nicht angenommen, dass das Ganze solche Ausmaße hat.«
Das Schiff fing an zu schaukeln. Es flog zu einer Sandbank und dann weiter am Ufer entlang. Der Dschungel lichtete sich.
»So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Die Grünen setzen alles daran, den ursprünglichen ökologischen Zustand wiederherzustellen. In ihrem Gebiet existieren bereits keine transformierten Formen von Flora und Fauna mehr. Wenn es uns nicht gelingt, sie aufzuhalten, wird das Gleiche auch mit unserem Teil des Planeten geschehen. Ein menschliches Wesen könnte dann nicht mehr überleben.«
»Sind die Grünen denn keine Menschen?«
Diese Frage hätte ich mir wohl besser verkniffen. In Galis’ Blick blitzte Verwunderung auf.
»Sie haben sich selbst verändert. Jetzt kommen sie bestens mit der endemischen Umwelt zurecht.«
»Sag mal, Pjotr, hast du denn noch gar nichts über unsere Welt gehört?«, fragte Schnee.
»Nicht das Geringste.«
Der Hauptmann und Schnee wechselten fassungslose Blicke.
»Ein Fehler kann hier nicht vorliegen«, behauptete Galis kategorisch. »Und letzten Endes geht uns das auch gar nichts an, Schnee.«
Schnee nickte. »Wie heißt denn deine Welt?«, fragte er nach kurzem Schweigen.
»Erde.«
»Ist mir klar, dass es die Erde ist. Aber wie heißt sie nach außen hin?«
Jetzt musste ich mir was einfallen lassen. Und zwar schnell. Die Zivilisation des Schattens war anscheinend heterogen. Man hielt mich für einen Menschen von einem anderen Planeten, noch dazu für einen – warum auch immer – absolut loyalen. Aber wenn ich jetzt nicht überzeugend erklären konnte, woher ich kam, dann …
Die Binnenklassifikation des Konklaves fiel mir ein. Danach trug die Erde die Nummer 189. Wie sie ausgerechnet dazu gekommen war, wusste ich nicht, schließlich gab es weitaus weniger intelligente Rassen. Aber immerhin war das eine recht ehrliche und zugleich irreführende Antwort.
»189.«
»Wer nennt euch denn so?«, fragte Galis schnaubend.
»Die Bewohner der anderen Planeten.«
»Also mir sagt das gar nichts«, gestand Galis. »Von deinem Planeten habe ich noch nie etwas gehört. Ich selbst bin hier geboren. Auf meiner Erde.«
»Welche Sprache sprecht ihr?«, wollte Schnee wissen. »Sprichst du mit uns in deiner Sprache?«
»Nein. Ich habe eure Sprache gelernt, als ich hierhergekommen bin.«
»Das habe ich mir gleich gedacht. Du hast eine zu korrekte Aussprache. Kannst du mal was in deiner Sprache sagen?«
Tolle Bitte. Im Moment meinte ich, sogar in ihrer Sprache zu denken. Russisch, Englisch und die Sprache der Geometer – diese Sprachen waren einfach verschwunden, die hatte ich schlichtweg vergessen.
Ich schloss die Augen und versuchte mir vorzustellen, Danilow stünde vor mir. Oder mein Großvater.
»Ich werde es versuchen«, sagte ich. »Bitte schön …«
Meine Worte kamen mir fremd vor. Dabei sprach ich Russisch.
Schnee stieß ein leises Brummen aus. Dabei handelte es sich allem Anschein nach um gesprochene Worte – und zwar in jener Sprache, die ich gerade eben selbst noch fließend gesprochen hatte.
Oh, verdammt …
Fürchterliche Kopfschmerzen explodierten in mir.
Galis Worte drangen wie durch Watte zu mir: »Diese Sprache habe ich auch noch nie gehört. Aber gut. Das spielt ja wohl keine Rolle, nicht wahr, Schnee! Dich hat schließlich damals auch niemand so in die Mangel genommen!«
Ich öffnete die Augen und sah die beiden an. Der Spuk war vorbei. Ich verstand ihre Sprache wieder. Nur in meinen Schläfen hämmerte noch der Schmerz.
»Mach dir keine Gedanken, Pjotr«, sagte Schnee. »Wir haben halt einfach noch nichts von deiner Welt gehört.«
Anscheinend fürchteten sie, mich beleidigt zu haben.
»Von seinem Planeten«, sagte Galis sanft, »hatte ich vorher auch kaum was gehört. Ich wusste, dass es die Regenbogen-Brücken gibt, das war aber auch alles. Deren Dialekt müsstest du mal hören …«
»Nun mal halblang, Hauptmann!« Schnee riss den Kopf hoch. »Da bin ich wirklich ganz anderer Ansicht!«
»Übrigens gibt es viele Welten, die sich durch nichts hervortun … Ich meine, die unserer Erde nichts zu bieten haben …«
Na bitte.
Allmählich löste sich das Rätsel. Der Schatten musste ein Konglomerat von Zivilisationen sein. Die Tore wurden ausschließlich für den interplanetaren Verkehr genutzt. Sie gaben einem die jeweilige Sprache mit, eine recht bequeme und naheliegende Lösung. Mich hielten die beiden für einen Freiwilligen, der ihnen helfen wollte … oder schlicht für einen Abenteuerlustigen.
Stimmte das?
Wahrscheinlich. Trotzdem irritierte mich noch etwas, gab es noch einige Ungereimtheiten.
»Sieh mal, Pjotr!«
Der Dschungel endete. Jetzt lagen gepflegte Felder vor uns, die mit Korn bestellt waren. In der Ferne, hinter diesem grünen Teppich, machte ich Gebäude aus.
»Das ist unser Stützpunkt.«
Im Grunde hätte er mir das nicht sagen müssen. Garnisonsstädte gleichen sich alle, in jeder Welt und bei jeder Rasse. Selbst die Kasernen der Soldaten von Hyxi in einem Kosmodrom waren auf Anhieb als militärische Anlage zu erkennen.
»Dahinter liegt die Stadt, am Fuß der Berge«, teilte mir Schnee mit. Er grinste. »Ein lustiges Städtchen. Es wird dir gefallen.«
»Im nächsten Monat kannst du dir sämtliche Amüsements abschminken«, drohte der Hauptmann.
Ich achtete nicht weiter auf ihr Geplänkel, das eher an den Streit von zwei Händlern auf dem Markt als an eine Auseinandersetzung zwischen einem Befehlshaber und seinem Untergebenen erinnerte. Ich spähte zum Stützpunkt hinüber.
Vor langer, langer Zeit, noch während der Studiums, hatte ich davon geträumt, Militärpilot zu werden. Nicht Kosmonaut, nicht Pilot von Passagierflugzeugen, sondern Militärflieger. In einer kleinen Garnison am Arsch der Welt, irgendwo an der chinesischen Grenze, denn damals hatten alle befürchtet, China würde weiter expandieren. Von mir aus auch irgendwo im Westen … Oder wenigstens in einer alten MiG, in der ich die wendigen kleinen Flugzeuge der ukrainischen Drogenbarone jagen würde. Kurz und gut, die übliche blutdürstige Teenager-Romantik, die von meinem Großvater noch geschürt wurde.
Später gab sich das natürlich. Außerdem hatte anscheinend niemand mehr die Absicht, gegen Russland Krieg zu führen, die Zeiten waren damals schon passe. Dennoch meldete sich hin und wieder dieses idiotische Gefühl, meinen Kindheitstraum verraten zu haben. Und selbst wenn ich mir hundert Mal in Erinnerung rief, dass ich meinem Land – und der ganzen Menschheit – im Kosmos weit mehr nützte, es der hypothetischen lichten Zukunft viel näher brachte, blieb ein schaler Nachgeschmack zurück.
Nun sah ich vor mir eine komisch anmutende Parodie auf all meine Teenagerträume. Eine Reihe langer Hangars, kurze Startbahnen, flachere Bauten, in denen vermutlich die Wohnungen und Diensträume untergebracht waren, kleine Radartürme und ein Maschendrahtzaun. Alles war aus demselben papierähnlichen Material angefertigt wie auch unser Schiff. Dieses Zeug täuschte also seine Zerbrechlichkeit nur vor, war aber eigentlich verdammt solide. Und obendrein mit Technik vollgestopft.
So gehen Wünsche in Erfüllung. Ich hatte in einer Grenzgarnison dienen wollen? Bitte sehr! Gut, die Garnison lag auf einem anderen Planeten. Dafür boten sich hier Gelegenheiten in Hülle und Fülle, irgendwelchen wahnsinnigen Ökos im gemeinsamen Kampf mit nicht minder wahnsinnigen Piloten Paroli zu bieten.
»Was amüsiert dich denn?«, wollte Schnee wissen. Wir schössen direkt auf den Zaun zu. Entweder würde das Schiff also das zwei Meter hohe Hindernis überwinden oder vor uns würde sich ein Durchgang öffnen.
»Das erinnert mich an einen … Ort, den ich kenne.«
Mit der Antwort zufrieden, nickte Schnee.
Vor dem Schiff öffnete sich ein Durchgang. Die Elemente des Zauns schienen zu schrumpfen und sich ineinanderzuschieben. Vermutlich konnte sich das Schiff nicht weit über die Erde erheben. Sobald es die Mitte des Stützpunktes erreicht hatte, hielt es an und senkte sich langsam zu Boden. Weit und breit war niemand zu sehen.
»Schnee, kümmere dich um den Jungen.« Galis trat als Erster auf die Steinplatten hinaus, mit denen diese Fläche, eine Art Platz, ausgelegt war.
»Das brauchst du mir nicht extra zu sagen, das ist mir sowieso klar.«
Der Hauptmann reagierte mit keinem Wort auf die Antwort. »Pjotr, wenn du mit mir reden willst, komm einfach vorbei«, lud er mich ein. »Ich würde mich freuen.«
Ich sah ihm nach, wie er sich mit festen, selbstsicheren Schritten entfernte, die Schultern durchgedrückt und in seiner ganzen Erscheinung der Inbegriff eines Kommandeurs.
»Ihr habt eine komische Vorstellung von Disziplin«, sagte ich zu Schnee. »Es hätte nicht viel gefehlt, und ihr beide hättet euch geprügelt.«
»Jetzt spricht doch nichts dagegen«, erwiderte Schnee kichernd. »Schließlich ist der Alarm aufgehoben.«
»Und sonst?«
Der entspannte Ausdruck kroch kurz vom Gesicht des Piloten. »Sonst – eine Ladung vor die Birne! Und zwar umgehend. Du stellst Fragen, Pjotr! Und komm bloß nicht auf die Idee, dich so zu verhalten, wenn sich die Basis im Verteidigungszustand befindet!«
»Danke«, sagte ich. Mich beeindruckte die Warnung nicht gerade. Nach Disziplin sah das alles nicht aus, nach Stand- oder Militärgericht schon gar nicht. »Sag mir aber Bescheid, wenn es so weit ist!«
»Das wirst du dann schon merken«, erwiderte Schnee gickelnd. »Komm jetzt …«
Der menschenleere Stützpunkt irritierte mich nach wie vor. Wir gelangten zu einem klobigen, einstöckigen Haus und gingen hinein. Neugierig sah ich mich um. Bei den Geometern hatte ich es nicht genießen können, einen fremden Alltag zu studieren, da mein Gedächtnis ja ausgeschaltet gewesen war und ich folglich nichts zum Vergleich hatte heranziehen können.
Hier war es allerdings ebenfalls recht schwierig, sich für etwas zu begeistern. Es ähnelte den Gegebenheiten auf der Erde viel zu sehr, ja, mehr noch: den Gegebenheiten zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Eine Mischung aus Garnisonsstadt und gemütlichem Hotel.
Gleich hinterm Eingang lag der Empfang. Es gab einen Tresen, hinter dem eigentlich der Diensthabende zu finden sein sollte. Über dem Tresen war eine energetische Barriere installiert, von der ein schwaches Flimmern in der Luft zeugte. Den Eingang selbst bewachte jedoch niemand.
»Nur wenn Alarm ist«, klärte mich Schnee auf, dem mein Blick nicht entgangen war. »Die strengen Vorschriften gelten nur für den Fall militärischer Handlungen. Ist das bei euch etwa anders?«
»Ja.«
»Macht nichts. Du wirst dich schnell daran gewöhnen …«
Das hatte ich eigentlich nicht vor – was ich natürlich für mich behielt.
»Gehen wir.«
Wir kamen an einer Halle vorbei – mit ihren Ledersesseln, den kleinen Tischen und dem großen Bildschirm an der Wand hätte sie einem Hotel für einfache Ansprüche durchaus Ehre gemacht – und erreichten eine Treppe. Warum bloß alle Rassen der Galaxis so auf Bildschirme versessen waren? Schließlich war die Technologie, mit der sich Darstellungen von guter Qualität direkt in die Luft projizieren ließen, doch ganz einfach. Selbst auf der Erde war sie ohne Hilfe der Außerirdischen entwickelt worden. Aufmerksam suchte ich die Wände nach einem Bild ab. Die fremde Kultur ist der sicherste Weg zum Verständnis.
Ein Bild entdeckte ich. Das Meer – oder doch nur der Sumpf? – im Mondlicht, ein silbriger Streifen auf dem Wasser, in der Luft ein Vogel. Solche Kunstwerke hatte ich tonnenweise zu den Hyxoiden gebracht. Mist. Diese Kultur war unserer einfach viel zu nah!
Mit jedem Schritt wurde mir unbehaglicher. Und zwar nicht, weil mir die Ausstattung völlig fremd gewesen wäre – sondern weil gerade das Gegenteil der Fall war. Hier gab es nichts Außergewöhnliches. Von dem Kraftfeld vor dem leeren Posten vielleicht einmal abgesehen … Allerdings hätte mich eine solche Barriere nach den Paralysatoren, die sich die Schlauköpfe vom FSB hatten einfallen lassen, auch im Sternenstädtchen nicht sonderlich überrascht.
Die Kulturen ähnelten sich?
Das war noch milde ausgedrückt!
Da waren ja die Unterschiede zum Alltag der Geometer noch größer gewesen. Dabei war der Schatten eine Zivilisation, die Hunderte von Planeten mit einem Netz aus Hyperraumtoren verband. Eine Zivilisation, die die kleinen, aber bissigen Geometer völlig nebenbei in die Flucht geschlagen hatte. Denn hätte es zwischen ihnen und den Geometern einen ernsten Konflikt gegeben, hätten sie mich nicht derart unbekümmert und sorglos aufgenommen.
Da war ich also auf ihrem Planeten. In einer Welt, in der sich Papierschiffchen mit der Geschwindigkeit von Rennwagen bewegten. Auf einem Planeten, auf dem die Hälfte der Bevölkerung die Natur an sich anpasst, während die andere Hälfte sich an die Natur anpasst. Nicht einmal mehr Neugier weckte hier das Auftreten eines Fremden. Und besagter Fremder lernte die hiesige Sprache, ohne es selbst auch nur zu merken.
Und nichts – absolut nichts – sprang ins Auge. Wände, Fenster, Türen. Übrigens Türen mit Angeln. Und die quietschten.
Im ersten Stock gab es eine weitere Halle. Auch sie bot die genormte Gemütlichkeit mit Sesseln, kleinen Tischen und einem ausgeschalteten Bildschirm. Ich blieb stehen und wartete.
»Kommt dir nicht alles bekannt vor?«, fragte Schnee.
»Ja. Fast alles. Darauf … hatte ich gar nicht zu hoffen gewagt.«
»Ich mag’s auch lieber, wenn’s immer gleich aussieht«, teilte Schnee mir mit.
Anscheinend unterhielten wir uns, ohne uns zu verstehen. Etwas in ihrem Leben führte dazu, dass mein Auftauchen nicht nur ein alltägliches Vorkommnis war, sondern nahezu geplant wirkte. Und dass ich auf ihrer Seite kämpfen und mit der fremden Technik zurechtkommen würde, schien von vornherein außer Frage zu stehen.
»Ich gebe dir Laids Zimmer«, sagte Schnee.
»Hat er denn nichts dagegen?«
»Nicht mehr. Er ist vor zwei Tagen über feindlichem Gebiet abgeschossen worden. Von den Satelliten aus wurde das Feuer gesichtet … Er ist zusammen mit seinem Schiff verbrannt, er ist nicht mehr rausgekommen. Nach einer solchen Sache kommst du nicht zurück.«
Schnee sprach in beiläufigem, gelangweiltem Ton. »Ach ja, da hatte man Laid halt abgeschossen und er war verbrannt!«
Ich sah ihn mit der schwachen Hoffnung an, es handle sich lediglich um eine Form von schwarzem Humor. Aber nein, damit macht man keine Scherze. Schnee meinte es völlig ernst.
»Wenn du in feindlichem Gebiet geschnappt wirst, ist es besser, du machst Schluss«, riet er mir. »Die Grünen machen sowieso keine Gefangenen.«
»Und ihr?«
»Wir schon.« Schnee lächelte. Allerdings gefiel mir dieses Lächeln nicht. »Wir gehen später im Gefängnis vorbei. Da sitzt eine von diesen Kröten. Ein Anblick, der sich lohnt. Außerdem muss man den Feind von Angesicht zu Angesicht kennen.«
Es war, als hätte ich es mit zwei verschiedenen Menschen zu tun. Der eine stritt sich mit dem Kommandanten und führte sich wie ein großspuriger Boy-Scout in einem Geländespiel auf. Der andere war kalt und blutdürstig.
»Lass uns jetzt erst mal dein Zimmer anschauen.«
Die Tür zu dem Zimmer, in dem früher der mir unbekannte Laid gelebt hatte, stand halb offen. Zeremonien mit fremden Räumlichkeiten, wie sie bei den Geometern üblich waren, gab es hier nicht. Schnee trat als Erster ein und sah sich um, als wohne er hier.
»Seine Sachen kannst du rausschmeißen. Oder behalten, wenn sie dir gefallen.«
Ich sah mich wortlos in dem mir zugewiesenen Raum um. Was für ein Chaos. Auch hier war die Einrichtung völlig normal, die Wände von neutralem Hellgrau, an der Decke Standardlampen, Holzschränke, zwei Sessel, ein breites Bett, das mich unwillkürlich an Champagner, Frauen und billige deutsche Pornofilme denken ließ. Vielleicht wegen der Photographien an den Wänden, halb nackte Schönheiten, meist rotblond. Unter ihnen befand sich auch ein Mann, in einem schneeweißen Anzug, der seine gewaltigen Muskeln jedoch nicht verbarg.
»Das ist Laid. Wie er leibt und lebt«, sagte Schnee grinsend. »Ich habe ihm immer gesagt, er donnert sich zu sehr auf.«
Er ging zur Wand und riss die Photos kurzerhand ab.
»Werden denn seine Freunde nichts dagegen haben?«, fragte ich, da ich mich noch immer unbehaglich fühlte.
»Außer mir hatte er keine Freunde«, antwortete Schnee.
Mein Wunsch, dem Thema auf den Grund zu gehen, löste sich in Luft auf. Wenn Schnee Laids bester Freund war, dann konnte einem der Tote im Nachhinein noch leidtun.
»Brauchst du Hilfe?«, erkundigte sich Schnee lächelnd.
»Nein, danke, ich komme schon zurecht.«
»Dann mach’s dir gemütlich. Frische Bettwäsche müsste im Schrank sein. Vielleicht passt dir von den Sachen was, ihr habt fast die gleiche Figur. Schlimmstenfalls lässt du sie ändern!«
Offenbar machte er mir das Angebot in vollem Ernst. Kriegten die Soldaten hier denn keine Uniform – wie in jeder noch so erbärmlichen russischen Garnison?
»Ich schau in einem Stündchen wieder vorbei. Dann gehen wir was essen.«
»Gut.«
Schnee verließ das Zimmer. Ich stand da und schaute auf die geschlossene Tür. »Ich darf wohl davon ausgehen, angemustert zu sein«, sagte ich halblaut.
Womit sie wohl kämpften? Worum es sich bei diesen Deltas wohl handelte? Um Flugzeuge, Hubschrauber, Raumschiffe, Bodeneffektfahrzeuge? Um Papier-Ufos?
Was sollte das nun schon wieder? Welche Rolle spielte es schon? Schließlich hatte ich ja wohl nicht die Absicht, gegen kleine grüne Männchen zu kämpfen, die von der Idee besessen waren, eins mit der Natur zu werden, oder?
Ich schüttelte den Kopf und verscheuchte das Phantasiebild. Dann inspizierte ich das Zimmer, schaute aus dem Fenster mit dem ach so malerischen Blick auf die Kasernen, die Startbahnen und den Platz. Das Schiff, mit dem wir gekommen waren, stand schon nicht mehr dort. Alles war leer und ruhig, der Wind trieb den Staub vor sich her. Eigentlich machte das Ganze sogar einen ziemlich sauberen und grünen Eindruck. Die Ökos von uns auf der Erde hätten hier beim besten Willen nichts gefunden, woran sie hätten herumkritteln können … Was gab es noch im Zimmer? Hinter einer unscheinbaren Tür entdeckte ich die Duschkabine. Auf einem Schlauch saß eine Brause, der Hahn war ganz normal. Das Waschbecken hatte dagegen keine Hähne, nur eine Öffnung unterm Rand. Anscheinend musste man die Hände auf die deutsche Art waschen, im gefüllten Waschbecken. Ich hasse das.
Auf einem Regal unterm Spiegel stand eine Flasche. Ich öffnete sie und schnupperte an der hellgrünen Flüssigkeit. Eine Art Shampoo. Ein Stück Seife fand ich auch. Ein Rasierer wäre jetzt noch schön, denn ich war inzwischen ziemlich zugewachsen. Das letzte Mal hatte ich mich noch auf dem Raumkreuzer der Alari rasiert, vor tausend Jahren … Nun erinnerte ich eher an einen kaukasischen Freischärler auf alten Propagandaplakaten.
Gut, wenigstens duschen konnte ich mich. Ich machte die Tür zu und zog mich aus. Als ich mir mit der Hand über die Wange fuhr, spürte ich den Dreitagebart. Was hätte es den Cualcua schon gekostet, die Barthaare zu beseitigen, als er mir mein eigentliches Äußeres zurückgab? Oder hatte er, während ich im Körper von Rimer steckte, akribisch berechnet, wie stark der Bart gewachsen sein musste?
Stören dich die Haare im Gesicht?
Cualcua!
Ich freute mich nicht einfach – ich wäre vor Freude beinahe in die Luft gesprungen. Ein Hilfsangebot, noch dazu bei einer winzigen, nicht lebenswichtigen Sache, stellte ein Novum im Verhalten meines Symbionten dar.
Ja. Kannst du den Bart entfernen?
Den Schnauzer und den Bart?
Ja.
Ich wollte es lieber nicht riskieren, auf seine Barbierfähigkeiten zu vertrauen. Sollte er mich ruhig glattrasieren.
Du kannst die Härchen jetzt abschütteln.
Ich fuhr mir mit der Hand übers Gesicht. Kleine Härchen rieselten zu Boden, genau wie nach einer Trockenrasur.
Sammel sie auf! Leg die Hand darauf! Ich brauche das Elastin, bat der Cualcua.
Nach kurzem Zögern klaubte ich ein Häufchen meines Barts zusammen und legte die Hand darauf. Sollte der Cualcua sich satt essen. Er war mein Partner. Und er hatte seine Bedürfnisse.
Ich hätte sie auch durch deinen Körper aufsaugen können, aber das hätte dir Schmerzen bereitet.
Komisch.
Sehr komisch.
Niemals – selbst dann nicht, als ich mit dem Tod konfrontiert war – hatte sich der Cualcua derart fürsorglich gezeigt. Entweder musste sich mein amöbenartiger Freund gebessert haben oder …
Was ist mit dir?
Er schwieg. Meine Hand zitterte, während der Symbiont aß. Wahrscheinlich saß der größte Teil seines Körpers gerade in meiner Hand.
Aber das dürfte ihn eigentlich nicht am Sprechen hindern!
»Sitze ich am Essenstisch bin ich stumm wie ein Fisch … He, mein Freund, für dich gelten diese Kinderregeln doch nicht!«, sagte ich laut.
Ich bin in Ordnung.
Du lügst.
Der Cualcua hüllte sich in Schweigen.
Der Traum jedes Schizophrenen ist es, mit sich selbst zu sprechen. Aber ich hatte nicht die Absicht, auf eine Antwort zu verzichten!
Ich habe Angst …
Die Stimme in meinem Bewusstsein war leise, kaum zu hören. Ein Flüstern nur.
Was?
Ich habe Angst!
Ich löste die Hand vom tadellos sauberen Boden, richtete mich auf und schaute in den Spiegel. Ob mich jemand auf der anderen Seite des Spiegels beobachtete? Quatsch. Das war nun mit Sicherheit völliger Quatsch.
Wovor hast du Angst, Cualcua?, fragte ich ihn so zärtlich, als spreche ich mit einem Kind. Du fürchtest dich doch nicht einmal vor dem Tod. Oder …
Meine Ahnung schien beängstigend wahrscheinlich!
Du hast die Verbindung zu deiner Rasse verloren? Du bist jetzt allein?
Was für ein Schock das für ihn gewesen sein musste! Er, ein Teil eines Ganzen, war plötzlich völlig von der Welt abgeschnitten!
Ich brauche dein Mitleid nicht. Du irrst dich sowieso. Wenn ein Teil autonom wird, dann kann er den Verstand nicht bewahren und stirbt. Und du stirbst dann ebenfalls.
Mein Mitleid wich sofort Panik und Hass. Dergleichen hielt der Cualcua für möglich? Und was, wenn er bei unserem Flug zum Kern die Verbindung zu seinem Ganzen verloren hätte? Hätte er, eine wahnsinnig gewordene Amöbe, meinen Körper dann von innen getötet?
Ja. Verzeih. Aber die Wahrscheinlichkeit für diese Wendung der Dinge ist eigentlich minimal. Das, was mich zu einem Ganzen verbindet, lässt sich nicht abschirmen.
Ich ertappte mich dabei, dass ich mir meine gekrümmten Finger in die Brust bohrte, bis es schmerzte. Ich musste diesen Klumpen fremden Fleischs finden, ertasten, zerreißen …
Beruhige dich!
»Was ist es denn? Wovor hast du Angst?«, schrie ich. »Los, sag’s mir! Ich habe das Recht, das zu erfahren!«
Das Tor.
Ich schwieg. Offenbar hatte er sich entschlossen, die Karten auf den Tisch zu legen. Mein Herz hämmerte wie wild.
Als wir durch das Tor gegangen sind … Das war ein Fehler.
Warum?
Ich …
Eine Pause. Dieses nahezu allmächtige Wesen würde doch wohl keine Schwierigkeiten haben, mir etwas zu erklären? Bei dem ungeheuren Wissen, das ihm zur Verfügung stand und von dem andere Rassen nicht einmal zu träumen wagen durften. Außerdem könnte er mich so geschickt anlügen, dass ich ihm niemals auf die Schliche kommen würde. Wir standen nämlich nicht einfach auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen – zwischen uns klaffte ein unvorstellbarer Abgrund.
Ich werde dich nicht anlügen. Ich lüge nie. Entweder schweige ich oder ich rede. Ich habe Schwierigkeiten mit der Wortwahl.
»Gib dir Mühe«, bat ich. »Ich werde es auch tun.«
Als du durch das Tor gegangen bist, bist du nicht nur im Raum verschoben worden, wie es bei der Rasse der Geometer geschehen ist.
»Verstehe.«
Das war … ich habe dich gewarnt, ich habe Schwierigkeiten, das richtige Wort zu finden. Als du da durchgegangen bist, war das eine Erfassung. Etwas hat dich erfasst. So kann man es wohl sagen …
Mich überwältigte ein Gefühl, das sich mit nichts vergleichen ließ. Als ob ich einen Schrei ausstoßen würde, ein lautloses Klagen, das alles in sich aufnahm, angefangen von vagen Kindheitserinnerungen bis hin zur Rasur mit der Hilfe des Cualcua. Plötzlich erinnerte ich mich an Dinge, die jener barmherzige Schuft, mein Gedächtnis, vor langer Zeit vor mir versteckt hatte. An Dinge, an die ich mich gern erinnerte. Und auch an manches, das ich lieber vergessen wollte …
Ich fiel zu Boden, schlug mir schmerzhaft die Knie auf und saugte gierig Luft ein. Nein …
Alles ist groß. Sehr groß. Eine Welt für Riesen. Und einer von ihnen steht über mir und streckt mir die Arme entgegen.
»Kommst du mit mir?«
Ich glaube, ich denke nach. Ich kann kaum sagen, worüber, denn mit meinen Gedanken stimmt etwas nicht, sie sind nicht wie sonst, ich denke nämlich nicht in Worten, sondern in Bildern, in Brocken von klaren und einfachen Gefühlen. Ich glaube, ich möchte mitgehen. Sehr gern sogar. So gern, dass ich am liebsten weinen würde. Aber ich habe Angst, es zu sagen. Oder ich schäme mich. Deshalb suche ich zu einer einfachen Geste Zuflucht: Mit einer Hand fasse ich nach der mir entgegenstreckten Hand, mit der anderen nach dem Bein der Frau im Kittel, die neben mir steht. Sie hat ein faltiges, altes Gesicht, in ihren Augen schimmern Tränen, trotzdem lächelt sie. Als freue sie sich für mich. Sie ist gut, ich habe sie sehr lieb. Aber noch lieber möchte ich mit dem Mann mitgehen, der mir die Hand entgegenstreckt. Und ich werde auch mit ihm mitgehen, das steht fest. Wenn die Großen sich etwas in den Kopf setzen, dann kann man weinen oder sich verstecken, aber sie kriegen trotzdem ihren Willen. So ist es immer …
Der Fußboden hier schien ebenfalls aus Papier zu bestehen. Trotzdem ist er kalt … und hart …
Wie jung du damals warst, Großpapa. Wenn ich heute an dich denke, dann sehe ich einen ganz anderen Mann vor mir. Wie unglaublich du abgebaut hast. Ob daran jener kleine Junge schuld war, den du dir im Alter von sechzig Jahren aufgehalst hast?
»Im April 1661 sind zwei Jesuiten, der Österreicher Johann Grueber und der Belgier Albert D’Orville, auf dem Landweg mit einem Geheimauftrag von Peking nach Rom aufgebrochen …«
Das Telefon klingelt. Ohne mich von dem Buch loszureißen, lange ich danach und drücke auf den Annahme-Knopf.
»Hallo!«
»Pjotr?«
Sofort wummert mein Herz los.
»Romka?«
»Hmm. Was machst du gerade?«
Ich setze mich im Sessel im Schneidersitz hin. Das Buch schiebe ich beiseite.
»Nichts. Ich lese.«
»Und? Ist es interessant?«, fragt Romka nach kurzem Schweigen.
»Ja. Ein Buch übers Reisen.«
Kann das ehrlich wahr sein? Ruft Romka mich tatsächlich an? Dabei hatte doch er recht, nicht ich. Also hätte ich nachgeben müssen, ihn anrufen und ihm etwas vorstammeln müssen, wobei ich möglichst vergessen sollte, dass ich die Nase meines besten – aber was heißt hier besten? Meines einzigen – Freundes! zu Brei geschlagen habe!
»Willst du es vielleicht auch mal lesen?«, frage ich schnell. »Dann komm einfach vorbei! Wir können es auch zusammen lesen!«
»Ich hab keine Zeit.« Romka taut etwas auf. »Also … weißt du … Danila und ich, wir wollen …« Er senkt die Stimme. »In diesen Keller gehen! Kommst du mit? Danila sagt, wir müssen drei sein.«
Als ob er sonst niemanden anrufen könnte. Aber spielt das eine Rolle? Ich will mich ja selbst wieder mit ihm vertragen!
»Gut! Aber morgen!«
»Warum denn?«
»Mein Großvater und ich haben gewettet, wer mehr über die Erforschung Tibets weiß … Ich muss noch ein paar Sachen lesen, heute Abend tragen wir unser Duell aus.«
Ich bedauere schon, dass ich davon überhaupt angefangen habe. Und wenn ich schon gegen Großpapa verlieren würde … na und, würde er mich eben auslachen …
»Du hast einfach Schiss«, sagt Romka plötzlich.
Und etwas Gemeines entschlüpft mir, noch bevor ich mir auf die Zunge beißen kann: »Das musst du gerade sagen … du Heulsuse …«
»Und du bist ein Mistkerl! Ein Feigling!«, schreit Romka. »Wir rufen jetzt Jurka an! Und du kannst bleiben, wo der Pfeffer wächst!«
Ich werfe das piepende Telefon auf den Tisch. Anschließend schnappe ich mir das verdammte Buch und schleudere es gegen die Wand.
Das war das Ende. Danach hatte ich keinen Freund mehr. Und sollte auch nie wieder einen haben.
Aber deshalb musste ich mich doch nicht so herumwälzen. Und warum lag ich überhaupt auf dem Boden, in einem fremden Zimmer, auf einem fremden Planeten?
So ist es also gekommen, Romka. Du bist mein einziger Freund gewesen. Vielleicht hat nicht mal mein Großvater was von dir gewusst. Er hätte bestimmt nicht gewollt, dass wir uns zerstreiten. Trotzdem … ist es nun mal so gekommen.
Das ist irgendwie peinlich. Obwohl ich damit gerechnet habe. Ich habe genau gewusst, dass es beim ersten Mal nicht richtig klappt. In allen Büchern steht, dass ein Mann den Vorgang anfangs nur schlecht kontrollieren kann, er muss das erst lernen. Aber warum habe ich mich vorher als großer Casanova aufspielen müssen?
»Hast du mich so sehr gewollt?«, fragt Nata. Sie streichelt mir mit der Hand über den Rücken. Sie wirkt enttäuscht, aber nicht sehr.
»Ja«, ergreife ich den rettenden Strohhalm. »Entschuldige, Nataschka …«
»Ach, vergiss es, es ist doch schön, wenn ein Junge dich so sehr begehrt. Wollen wir wetten, dass ich dir jetzt …«
Sie lacht, wirft sich auf mich, und meine Verlegenheit verzieht sich sofort, stattdessen meldet sich mein Verlangen zurück, vermischt mit dem Gedanken, wie die Welt von jetzt an wohl sein würde, schließlich muss sie sich verändert haben, anders geht es ja gar nicht, nach diesem Erlebnis, wahrscheinlich würde mir alles auf der Stirn geschrieben stehen … aber Lida würde es verstehen … nur sollte ich jetzt nicht an sie denken, das ist nicht fair …
Aufstehen! Ich musste unbedingt aufstehen! Mich bewegen, mir die Welt ansehen, nicht die blassen Schatten der Vergangenheit …
Verzeih mir, Nataschka, ich habe dich tatsächlich vergessen. Dir ist das natürlich egal. Denn du hast mich garantiert längst vergessen. Ich weiß ja, wie schnell du dich verliebst. Aber ich habe dich wirklich ein wenig geliebt. Als meine erste Frau. Verzeih mir bitte. Die erste Frau heiratet man nie. Ihr ist man nur dankbar. Aber das ist schließlich auch etwas …
»Was tust du als Nächstes, Flugschüler?«
»Ich gebe einen Warnschuss ab.«
»So. Das nicht identifizierte Flugzeug reagiert nicht und setzt seinen Flug in Richtung Staatsgrenze fort.«
»Ich verlange noch einmal, mir zu folgen … und ich gebe weitere Warnschüsse ab.«
»Warum schießt du das Flugzeug eigentlich nicht ab?«
Der Major lacht. Er genießt es, mich in die Enge zu treiben. Es ist nicht so, dass er mich nicht mag – das macht er mit allen. Aber besonders gern halt mit den besten Kursteilnehmern.
»Nein, ich schieße es nicht ab.«
Um mich herum schaukelt der Himmel. Der alte Zweisitzer fliegt in einer Höhe von zehn Kilometern. Eigentlich müsste ich steuern, aber der Major hat sich den Steuerknüppel geschnappt. Er hat nicht mehr oft die Gelegenheit zufliegen. Und auf mich wartet noch die ganze Zukunft.
»Übrigens hat die 67er keine Schusswaffen. Hast du mal versucht, Warnschüsse mit zielsuchenden Raketen abzugeben?«
Ich hülle mich in Schweigen.
»Gut. Du hast die Anweisungen genau befolgt. Das Flugzeug fliegt weiter Richtung Grenze.«
»Ich nehme mit dem Boden Kontakt auf.«
»Du kriegst die Antwort: ›Handeln Sie den Umständen entsprechende Das antworten sie immer, Flugschüler. Vergiss nie, du sitzt am Steuer und du allein trägst die Verantwortung. Manchmal natürlich auch noch der vor Angst schweißnasse Offizier, der am Mikro sitzt …«
»Ich nähere mich dem Flugzeug, um den Typ festzustellen.«
»Es ist mit gleicher Wahrscheinlichkeit ein Passagierflugzeug vom Typ Boeing, eine Maschine der Radaraufklärung oder der Landetruppen.«
»Das kläre ich jetzt.«
»Nein, Flugschüler. Es ist nachts, und du sitzt in einer alten Maschine … du kannst nichts feststellen. Was tust du als Nächstes? Zehn Sekunden! Das Objekt nähert sich neutralem Gebiet! Übernimm das Steuer.«
Warum spielt er das alte Spiel der koreanischen Boeing ausgerechnet mit mir? Warum? Ausgerechnet mit mir, wo meine Eltern abgestürzt sind … und niemand weiß, ob das einfach an Materialermüdung lag oder ob ein übereifriger Soldat der Luftwaffe … der sich in seiner alten Maschine am Himmel verirrt hatte, von der Unentschlossenheit der Bodenstation völlig ausgelaugt war, sich an den amerikanischen »Quarantänegürtel« erinnerte, der in den Jahren der Junta-Regierung eingerichtet worden war, an die frech gewordenen Chinesen …
»Die Zeit ist um!«
»Feuer!«
Ich drücke sogar den Knopf. Reflexhaft drücke ich, nachdem ich die Sicherung entfernt und damit das Flugzeug aus dem Takt gebracht habe – die Nase hebt sich zu dem nicht existierenden Zerstörer-, den roten Abschussknopf voll durch.
Natürlich passiert nichts. Der Knopf leuchtet, oberes gibt keinen Rückstoß von abgehenden Raketen. Niemand würde einem Zweisitzer bei einem Ausbildungsflug einsatzbereite Kampfraketen mitgeben.
Der Major sagt nicht gleich wieder etwas. Und als er es tut, liegt in seiner Stimme leichte Verblüffung.
»Das Ziel ist getroffen, Flugschüler. Das brennende Flugzeug stürzt ab. Was tust du als Nächstes?«
»Ich behalte das Ziel im Auge, bis es Bodenkontakt hat.«
»Hast du keine Angst zu sehen, was es war?«
»Doch.«
»Verzeih einem alten Idioten, Petja«, bittet der Major mit einem Seufzer. »Flieg zum Stützpunkt zurück!«
Unsicher fliege ich einen Bogen, meine Hände scheinen mir nicht mehr zu gehören, aber der Major korrigiert mich nicht. Um uns herum gibt es nichts als Himmel.
»Normalerweise behaupte ich, es war ein Passagierflugzeug«, gesteht der Major mit leiser Stimme. »Wir … wir müssen das sagen. Damit erst gar kein Übermut aufkommt. Das Land braucht keine Zwischenfälle.«
Ich schweige.
»Aber dir sage ich die Wahrheit«, teilt mir der Major sachlich und unmissverständlich mit. »Es war ein amerikanischer Bomber.«
Ich stand. Ich war schon aufgestanden.
Welchen Sinn hatte es, einen Bomber abzuschießen, der mit seiner todbringenden Fracht auf dem Rückflug war?
Einen ganz ummittelbaren natürlich.
Um jemandem eine Lektion zu erteilen.
Hast du es jetzt verstanden, Pjotr?
Ich war noch nicht wieder ganz zu mir gekommen. Ich sah mich in dem engen Bad um. Hier war niemand, nur die Stimme des Cualcua erschallte tief in meinem Hirn. Ein deutliches und leises Flüstern. Ich befand mich auf einem Planeten des Schattens. Die Erde mit ihren Problemen einer Spielwelt war unvorstellbar weit weg.
»Ich glaube schon. Was war das?«
Die Erfassung. Als du durch das Tor gegangen bist, ist genau das mit dir passiert. Nur hast du es nicht gespürt. Ich habe alles etwas grober gestaltet. Mit Absicht.
Mir war schwindlig. Erinnerungen sausten um mich herum, wirbelten durcheinander und machten mir das Herz eng. Schatten von Erinnerungen …
Jetzt kenne ich dich wesentlich besser. Ich habe dich erfasst – und kann es dir erklären. Stell dir vor, du hieltest ein Papierflugzeug in der Hand. Du holst aus und lässt es fliegen … So funktionieren die Kabinen der Geometer. Und jetzt stell dir vor, du würdest das Papier zunächst entfalten. Um alles zu lesen, was darauf steht.
Dann würdest du es wieder falten. Das sind die Tore vom Schatten.
»Und du hast Angst bekommen, weil jemand meine Gedanken gelesen hat?«
Nein. Denn das ist nichts Besonderes. Jedes intelligente Wesen, dessen Verstand mindestens eine Stufe höher angesiedelt ist als deiner, könnte dich erfassen.
Das heißt?
Ja. Auch ich bin erfasst worden.
Interessant. Der Cualcua war daran gewöhnt, die Welt zu betrachten, ohne im Gegenzug etwas zu fordern, aber auch ohne etwas zu geben … nichts Wesentliches jedenfalls, einzelne Zellenindividuen zählen schließlich nicht.
Mindestens eine Stufe, Pjotr! Begreif das. Es gibt eine ungeschliffene Kraft wie die Daenlo, Hyxoiden oder die Torpp. Dann gibt es die genial organisierte Rasse der Zähler. Aber sie sind zu stark auf ihre Individualität fixiert. Deshalb haben sie den Weg der Verstandsverschmelzung nicht beschritten. Bei allen Rassen gibt es einzelne Individuen mit einem großen geistigen Potenzial. Mitunter verfügen sie nur über ein absolut zu vernachlässigendes Wissen, dafür sind sie jedoch imstande, sich dem Neuen zu öffnen. Aber mich hat ein in sich geschlossener Verstand erfasst, der sich mit meinem vergleichen lässt, ihm aber weit überlegen ist. Er hat mich umgestülpt, absorbiert und wieder losgelassen. Mir blieb keine Möglichkeit, etwas dagegen zu unternehmen. Wenn ich es vorher gewusst hätte …
»Dann hättest du dich umgebracht. Jenen Teil von dir, der in meinem Körper lebt. Und wahrscheinlich wäre ich dann auch gestorben.«
Ich lachte. Also das amüsierte mich nun wirklich.
»Du hast dich daran gewöhnt, einfach in fremden Körpern zu hocken, nicht wahr, Cualcua? Die Welt zu beobachten und Wissen anzuhäufen? Passiv und die Ruhe genießend … Aber jetzt ist es vorbei mit der Ruhe, mein Freund. Wir sind jetzt gleich … gleichermaßen unbedeutend.«
Erschreckt dich das denn nicht?
»Weshalb sollte es? Ich bin daran gewöhnt, schwach zu sein.«
Ich drehte den Hahn der Dusche auf, und der Brause entströmte ein harter Strahl warmen Wassers. Genussvoll ließ ich es auf mich herabprasseln.
Was wirst du jetzt tun?
»Mich waschen.«
Und weiter?
»Den Betreiber dieses Theaters suchen.«
Ich glaube, das ist kein Theater, antwortete der Cualcua. Daraufhin verstummte er wieder, zog sich zurück in jene Tiefen, aus denen er so ungern auftauchte.
Na schön, wenn er es so wollte … Ich spritzte mir Shampoo auf den Handteller und seifte mich ein. Das sollte kein Theater sein? Da war ich aber ganz anderer Meinung. Wenn jemand mein ganzes Leben während des kurzen Moments bei einem Hyper-Übergang eingescannt hatte und nun wusste, wer ich war und woher ich kam, dann konnte das Ganze nur ein Experiment sein. Vermutlich hatte mein Großvater das geahnt.
Und die Geometer mussten aus Furcht vor dieser fremden Kraft geflohen sein. Sie hatten diese Kraft gespürt – und wollten es nicht riskieren, sich mit ihr einzulassen. Bekanntlich hilft gegen ein Brecheisen lediglich ein anderes Brecheisen. Aber die einzige Frage, die mich interessierte, war, ob ich hier auf Hilfe rechnen durfte.
Ein Verstand, welcher den des Cualcua übertrifft. Der konnte keinem Menschen gehören, davon musste ich ausgehen. Aber worum handelte es sich dann? Um ein gigantisches Gehirn in einem Kristalltank? Einen Computer in einem See aus Flüssighelium? Ein Plasma-Neuronen-System? Oder um eine Art künstlich geschaffenen Torpp? Das würde ich schon herausfinden. Wenn man mich nicht aus dem System gekippt oder getötet hatte, brauchte man mich anscheinend noch. Und sei es als Spielzeug. Als interessantes Tierchen, dem man einen Planenten als Käfig baut und Puppenmenschen gibt.
Du irrst dich. Diese Menschen unterscheiden sich in keiner Weise von dir. Sie sind echt.
Wahrscheinlich sollte ich mir die Ansicht des Cualcua zu Herzen nehmen. Gut, er war in Panik – aber trotzdem zwang ihn seine Natur, die Situation objektiv zu beurteilen.
Aber ich konnte ihm nicht verzeihen … nein, nicht das Geständnis, dass er mich hätte töten können, nur um sich der unbekannten Kraft nicht zu offenbaren. Das verstand ich ja. Und ich war sogar bereit, das als intelligente und ethische Entscheidung zu akzeptieren.
Dass er mich jedoch selbst erfasst hatte, stand auf einem anderen Blatt.
Dabei interessierte den amöbenhaften Cualcua all das gar nicht. Weder meine kindlichen Ängste und Streitereien noch meine Komplexe oder meine Selbstüberwindung scherten ihn. All das war ihm genauso egal wie mir die Häutungsprobleme der Reptiloiden oder die Knospung der Daenlo. Vor einem Alien ist es nicht peinlich, seine Seele bloßzulegen – er selbst hat ja keine.
Unangenehm ist es, sich an sich selbst zu erinnern. Sich zu erfassen.
Sollte da unten, auf dem Boden meiner Seele, wirklich noch alles vorhanden sein? Die Angst vor Einsamkeit und Heimatlosigkeit? Die Scheu, das eigene Wesen zu offenbaren, die Bereitschaft, sich selbst zu verleugnen – und zu töten? War ich wirklich so?
Denn so wollte ich nicht sein.
Für mich war es auch nicht leicht. Vergiss das nicht. Ich habe auch meine Probleme.
Ich legte den Kopf in den Nacken und schluckte das warme Wasser.
»Gut. Schließen wir Frieden. Wagen wir eine Annäherung-an-den-Frieden, wie die Geometer sagen. Aber lass uns vereinbaren …«
Der Cualcua ist einverstanden. Sobald du Hilfe brauchst, wirst du sie bekommen.
Warum mein Symbiont plötzlich in der dritten Person von sich redete, blieb mir ein Rätsel. Vielleicht war ja das Herumgewühle in meiner Seele auch für ihn nicht ohne Folgen geblieben …
»Auch Pjotr Chrumow ist einverstanden. Ich werde versuchen, alles über diese Welt in Erfahrung zu bringen. Damit du keine Angst mehr zu haben brauchst …«
Die fremde Kleidung durchstöberte ich ohne Scheu. Der Cualcua hatte mit seiner Erfassung irgendwelche tief verankerten Hemmungen in mir abgebaut. Es gab viele Sachen, teilweise zu groß, teilweise eindeutig getragen. Trotzdem fand ich sowohl in Folie eingeschweißte Unterwäsche als auch recht neu aussehende Hosen und einen Pullover. Beides hatte eine eher düstere Farbe, dunkelgrün, aber damit musste ich leben. Es war halt Armeekleidung …
Jetzt war ich bereit für den Alltag des Schattens.
Fünf Minuten hantierte ich am Fernseher herum, leider erfolglos. Anscheinend funktionierte hier tatsächlich alles auf mentalen Befehl. Ein Hyxoid wäre vielleicht hinter die Sache gestiegen, sie haben schließlich eine vergleichbare Technologie. Mir jedoch blieb nichts anderes übrig, als bedauernd aufzugeben. Schade. Ein Weilchen vor dem idiotischen Flimmerkasten zu verbringen – das ist zwar nicht der zuverlässigste, dafür aber ein sehr schneller Weg, um das Leben von Fremden kennenzulernen.
Bücher gab es in dem Zimmer überhaupt keine. Weder elektronische wie bei den Geometern noch normale. Vielleicht kannte der Schatten ja keine Bücher, vielleicht war es aber auch nur ein persönliches Manko des toten Laid.
Blieb mir also nur die Alltagskultur.
In den Schubfächern des kleinen Tischs, dessen Zweck mir schleierhaft war, fand ich einen Packen Photos. Die einzige Gewissheit, die sie mir gaben, war die, dass die hiesigen Frauen sich nicht von denen auf der Erde unterschieden. Ich zählte sechs Freundinnen von Laid und legte den Stapel beiseite. Diese Art sexuellen Anschauungsunterrichts hatten wir bereits in der Schule absolviert.
Ein kleines Gerät mit einer Mulde, in die eine transparente Plastikscheibe eingelegt war, konnte Gott weiß was sein. Vielleicht ein Player, vielleicht eine Taschenkaffeemaschine, vielleicht eine sensationell effiziente Waffe. In mir festigte sich lediglich der Verdacht, dass mir die hiesige Technik verschlossen blieb.
Also wirklich! Das hier musste eine besondere Form von Strafe sein! Bei den Geometern hatte es ja wenigstens noch die Lehrbücher für die Regressoren gegeben. Selbst wenn sie nicht mit der ganzen Wahrheit herausrückten und nur einen bestimmten Teil der Gesellschaft abhandelten, war mir doch Vieles klar geworden.
»Vergiss es!«
Das Gerät immer noch in Händen, drehte ich mich um. In der Tür stand Schnee, ebenfalls frisch geduscht und nach irgendeinem schweren blumigen Eau de Cologne duftend, in schwarzen Hosen und Hemd.
»Der Illusor ist nun mal für Laid gemacht. Außerdem – was interessieren dich seine Träume? Kauf dir lieber einen neuen.«
»Hmm.« Ich legte den Illusor weg.
»Du hast also was gefunden, das dir passt.« Schnee nickte zufrieden. »Hervorragend. Willst du was essen?«
»Ehrlich gesagt, nein.«
»Solltest du aber.« Schnee nahm das Essen offensichtlich ernst. »Ich wollte nämlich in die Stadt fahren …«
»Wenn du willst, begleite ich dich«, sagte ich rasch. Die Stadt – das war gut. Das bedeutete Informationen.
»Dann nimm das.« Schnee hielt mir eine weiße Plastikkarte ohne Aufdruck oder Bild hin. »Das ist Geld«, erklärte er mir. »Bei uns sieht das so aus. Bis unsere Bürokraten in die Gänge kommen, verhungerst du. Sagen wir mal, ich leihe dir das …«
Nun bestand kein Zweifel mehr, dass ich mich mit Fug und Recht wundern durfte. Worüber auch immer. So, wie die Welten des Schattens sich voneinander unterschieden, würde jede Frage völlig selbstverständlich klingen.
»Ich würde gern mehr über euern Planeten wissen, Schnee.«
»Dann mach dich schlau.«
Wir sahen einander schweigend an.
»Was denn? Ist der Fernseher auch blockiert?«, fragte Schnee verblüfft. Er drehte den Kopf.
Der Fernseher sprang an. Der Bildschirm leuchtete auf und schien zu verschwinden, als öffne sich ein Fenster. Voller Neugier sog ich das Bild in mich auf.
Ein großer Saal. Über die Bühne huschten bunte Lichtkreise. Zwischen diesen Lichtern sprang ein nicht mehr ganz junger Mann mit nacktem Oberkörper und in einer schwarzen, eng anliegenden Hose herum. Zunächst dachte ich, es sei ein Sänger, aber er stimmte nicht in die wilde, jedoch recht melodiöse Musik ein. Die hiesige Ballettvariante?
Das Bild wechselte. Abermals eine Bühne, nur kleiner. Diesmal trat wirklich ein Sänger auf. Ein Teenager in klassischem Anzug. Er sang bemüht, aber untalentiert.
Ein weiteres Bild. Ein langweiliger Raum in Schwarz und Weiß, ein junger Mann mit lebensfrohem lustigen Gesicht.
»Ich offeriere meine Hilfe bei der Durchführung von Festivitäten!«
Der Mann war überkandidelt und geschmacklos angezogen. Um den Hals trug er ein gelbes Jabot, alle Kleidungsstücke waren mit Spitze besetzt. Der Harlekin aus der Pinocchio-Inszenierung für Kinder. Er holte tief Luft und ratterte los:
Gedichte, Prosa auch nach Maß!
Wir grüßen Freunde und Kollegen.
Bei uns gibt es für jeden was,
drum greif jetzt gleich – sei nicht verlegen! –
zum Telefon und ruf uns an.
Die Lieferung kommt morgen schon!
Vor lauter Freude springst du dann
womöglich nackt auf den Balkon,
beauftragst uns schon bald erneut als treuer Kunde.
Du wirst sehen:
An Genres, Stilen und Ideen -
wir haben alles, was dich freut!
Daraufhin tanzten grelle kleine Blumen wie Schmetterlinge über den Bildschirm.
»Oha«, sagte ich bloß. »Oha.«
Schnee kicherte. Das Gedicht hatte ihn ebenfalls amüsiert, ihm ein kurzes und heftiges Vergnügen bereitet, vergleichbar dem, wenn man sich an einem Mückenstich kratzt.
Der nächste Kanal. Absolut unverständlich. Ein Stadion, über das Feld rannten Menschen. Männer, Frauen und Kinder. Sie fielen immer wieder hin, blieben reglos liegen und hielten sich bei den Händen. Nach einer Weile sprangen sie auf und rannten abermals in verschiedene Richtungen weiter. All das geschah ohne jede Musikuntermalung, in völliger Stille. Nur ein leichtes Rauschen war zu hören und schließlich eine nachdenkliche Stimme: »Die Mannschaft aus der Stadt Dsarran zeigt sich gut eingespielt. Die Frauen sind zwar nicht in Hochform, aber wie Sie sich erinnern werden, hatten sie gestern ihre Einzelauftritte …«
Schnee hustete. »Alles nur Amateure«, sagte er. »Aber es scheint zu funktionieren. Was interessiert dich denn? Wirtschaftsberichte, politische Kommentare oder eine historische Show?«
»Alles.« Ich zögerte. »Schnee, ich weiß einfach nicht, wie ich mit dem Bildschirm umgehen muss!«
»Aah …« Er nickte. »Entschuldige. Ich bin ein Idiot, bei uns auf den Regenbogen-Brücken gab es nämlich auch ein System der stimmlosen Bedienung. Also, wie willst du den Apparat bedienen? Mit der Stimme? Oder mit einem manuellen Interface?«
»Mit der Stimme.«
»Gib mal einen Befehl!«
»Hast du es etwa schon eingerichtet?«
Unwillkürlich trat ich näher an den Bildschirm heran. Im Stadion rannten die Leute immer noch umher. Aber jetzt konnte ich bereits drei Ströme in der Menge unterscheiden, drei Mannschaften, die aus ihren Körpern Figuren formten und gleichzeitig versuchten, den Gegner daran zu hindern, ihnen den Raum streitig zu machen.
»Politische Kommentare«, bat ich.
Der Fernseher gehorchte mir. Es baute sich das Bild von einem Saal auf, in dessen Mitte um einen Tisch eine Gruppe von Menschen saß. Unter ihnen auch …
»Hab ich’s mir doch gedacht!«, rief Schnee aus. »Vergrößere den Grünen!«
»Den Grünen vergrößern!«, wiederholte ich gehorsam. Das Bild wackelte, als mache sich der Kameramann hastig daran, meinen Befehl zu befolgen.
Das Gesicht des Mannes war in der Tat grün. Ein zartes Salatgrün, nicht unangenehm, trotzdem ließ es an einen Ertrunkenen denken. Eine platte Nase, ein extrem kleiner Mund, dazu aber riesige Augen. Kurze und sehr feine Haare, fast wie das Fell eines kleinen Tiers. Der Grüne saß nicht wie die anderen in einem Sessel, sondern auf einem hohen Holzhocker, was gar nicht zu der streng gehaltenen, offiziellen Szenerie passte.
Der Grüne stieß eine Reihe von Quieklauten aus.
»Diese miesen Kröten! Selbst bei Verhandlungen weigern sie sich, wie Menschen zu sprechen«, ereiferte sich Schnee.
Unverzüglich folgte die Übersetzung: »Der nicht-bevollmächtigte Vertreter ist betrübt und empört über die neuerlichen Verletzungen des Waffenstillstands. Der Angriff auf einen friedlichen Konvoi kappt die Wurzeln des Vertrauen zwischen unseren Rassen …«
»Zwischen den Rassen?«, hakte ich nach.
»Hmm, sie halten sich selbst nicht für Menschen«, bemerkte Schnee beiläufig. »Aber hör lieber zu! Die reden von mir!«
Er strahlte vor Begeisterung.
»Die Opfer innerhalb der Zivilbevölkerung …«
»Diesen friedlichen Konvoi hättest du mal sehen sollen!« Jetzt geriet Schnee ziemlich in Wut. »Zehn Panzer, die direkt an der Frontlinie am Meer ihre Saat ausstreuten! Denen reicht es einfach noch nicht, dass schon alles zugeschlammt ist! Schalte diese Missgeburten ab!«
Ich gehorchte widerwillig, und der Bildschirm schaltete sich aus.
»Wenn ich diese Kröte jetzt zwischen die Finger kriegen würde! Gehen wir, Pjotr! Ich will dir was zeigen!«
In Schnees Schlepptau verließ ich die Kaserne. Wir gingen über den Platz, der noch immer menschenleer und still dalag. Schnees exquisite Schimpftiraden dürften im ganzen Stützpunkt zu hören gewesen sein.
»Nun sag mal selbst, sind das nicht Mistkerle?«
Mir behagte das nicht. Über das Theater nachzudenken, das meinetwegen, wegen eines unbekannten Außerirdischen, inszeniert worden war, hatte mir ja durchaus gefallen. Aber selbst darin eine Rolle zu spielen …
»Hier lang!«
Wir kamen zu einem einzeln stehenden Gebäude und stiegen die Treppe runter in den Keller. Es gab ein paar Türen, vor denen wir jeweils ganz kurz stockten, was mir klarmachte, dass Schnee sie mit einem mentalen Befehl öffnete.
»Jetzt kriegst du echt was zu sehen«, kündigte Schnee mir finster an.
Hinter der letzten Tür lag ein Zimmer, in dessen Mitte ein funkelndes Kraftfeld verlief. Ein sehr gemütliches Zimmer. Obwohl ich geahnt hatte, wohin Schnee mich brachte, hätte ich nicht mit einem derart prachtvollen Gefängnis gerechnet. Natürlich handelte es sich bei den Fenstern nicht um solche, sondern um Bildschirme, die sich jedoch nicht von normalen Fenstern unterscheiden ließen. Die Möbel, der Teppich auf dem Fußboden und eine Tür, hinter der das Bad liegen dürfte. Auf dem Tisch ein Tablett mit Essen.
In der Mitte des Zimmers stand reglos eine Frau. Absolut nackt. Mit hellgrüner Haut. Sie war mager, alle Rippen zu sehen. Ihre Haltung hatte etwas Angespanntes, wie bei einem Menschen, der sich ekelt, weil er bis zu den Knien in Scheiße steht.
»Darf ich dir eine Pilotin der Grünen vorstellen, Pjotr? Die unerschrockene junge Dame will uns ihren Namen nicht verraten … Nenn sie also, wie du willst.«
Schnee trat an die Barriere heran und winkte der Frau zu.
»Was macht ihr mit ihr?«, fragte ich leise.
»Wir? Nichts.«
»Warum steht sie dann so da?«
»Das musst du sie schon selber fragen!«
Ich näherte mich ebenfalls der Absperrung. Die Frau sah mich an. Das regenbogenfarbige Kraftfeld verzerrte das Licht ein wenig, schien Geräusche aber durchzulassen.
»Wie heißt du?«, fragte ich sanft.
Die fest aufeinandergepressten Lippen bewegten sich. »Unwichtig.«
»Oh, sie spricht!«, freute sich Schnee. »Sie geruht, sich an die Sprache ihrer Vorfahren zu erinnern.«
»Ihr seid nicht unsere Vorfahren.«
»Ach nein?«
»Warum stehst du so da?«, fragte ich.
»Tot. Alles um mich herum ist tot«, brachte die Frau so monoton heraus, als wiederhole sie es bereits zum tausendsten Mal. »Das will ich nicht berühren.«
»Es ist ihr wirklich unangenehm …«, sagte ich zu Schnee. Doch als ich seinen Blick auffing, verstummte ich.
»Zu verbrennen ist noch unangenehmer!«
»Lasst mich hier raus«, sagte die Frau. Sie bat nicht, sondern teilte uns schlicht ihr Anliegen mit.
»Nur zu gern.« Schnee nickte. »Ein Angebot für den Austausch ist bereits rausgegangen. Im letzten Jahr sind auf euerm Gebiet mehr als zweihundert unserer Leute verschwunden. Wir tauschen dich gegen jeden x-beliebigen von ihnen aus.«
»Wir machen keine Gefangenen.«
»Nicht? Wie kommst du dann dazu, uns Forderungen zu stellen?« Schnee lachte leise.
»Tot. Alles um mich herum ist tot.« Die Frau schloss die Augen – und schien förmlich in Starre zu fallen.
»Gehen wir, mehr wird sie nicht sagen«. Schnee zog mich fort.
»Was geschieht jetzt mit ihr?«, fragte ich, während wir wieder nach oben gingen. »Wird sie ausgetauscht?«
»Nein. Sie ermorden ihre Gefangenen. Denn jeder nicht adaptierte Mensch schadet der von ihnen geschaffenen Biosphäre.«
»Dann wird sie …«
»Aber sicher. Sie wird sterben. Vor Hunger und Durst. Aber wie kommt sie dazu, uns Forderungen zu stellen? Unser Essen ist für sie nicht giftig. Vielleicht schmeckt es ihr nicht, mehr aber auch nicht. Von unserer Kleidung kriegt sie keine Dermatitis. Und davon, dass sie sich in einen der Sessel setzt, wirft ihre grüne Haut keine Blasen.«
Wie Schnee persönlich dazu stand, ließ sich seinen Worten nicht entnehmen. Möglicherweise lag sogar Mitleid mit der Frau darin, aber jedenfalls keine Barmherzigkeit.
Ich musste mir in Erinnerung rufen, dass das nicht mein Krieg war. Und dann – weil das nichts half –, dass das ja überhaupt kein Krieg war, sondern ein speziell für mich konzipierter Test.
»Wir nehmen eine Maschine«, kündigte Schnee an. »Wir machen einen Ausflug in die Stadt, da gibt es ein nettes kleines Restaurant … Wie dir schon aufgefallen sein dürfte, gibt es auf dem Planeten kein Meer mehr. Nur noch Sumpf, genau wie vor der Kolonisierung. Aber das Restaurant hat eigene Becken, da werden Fische und Krabben drin gezüchtet und ein Dutzend essbarer Algen.«
Gehorsam wie ein Automat folgte ich ihm. Die grünhäutige Frau wollte mir nicht aus dem Kopf, die gespannt wie eine Saite in dem »toten« Zimmer stand. Bei einem Mann wäre mir das Ganze eventuell nicht ganz so gemein vorgekommen …
Am Zaun des Stützpunkts warteten, achtlos in der Luft zurückgelassen, einige Schiffe. Metalldinger, weshalb sie überhaupt nicht an den Kahn erinnerten, mit dem wir hergekommen waren. Offene Kabinen, bequeme Sitze, Räder gab es natürlich nicht, stattdessen aber zwei Gitterrohre an jeder Seite. Entweder funktionierten sie mit einem Gravitationstriebwerk oder mit einem Luft- beziehungsweise Kraftkissen.
»Ich habe gedacht, wir würden so einen Kahn nehmen«, sagte ich.
»Wozu? Das ist das Transportmittel der Grünen. Galis hatte es nur genommen, um den Radargeräten ein Schnippchen zu schlagen. Schließlich sind wir hier im Grenzgebiet. Wenn er in einem zivilen Transportmittel geflogen wäre, hätten sie womöglich glatt zehn Tonnen Napalm auf ihn abgeschossen.«
Er sprang ins Cockpit.
»Ich komme lieber doch nicht mit, Schnee.«
»Warum nicht?«
»Ich gucke lieber noch ein bisschen fern. Ich habe keine Lust, ständig wie der letzte Dummkopf herumzulaufen, weil ich einfach nichts verstehe.«
Schnee überlegte.
»Steig nur kurz ein«, bat er.
Ich kletterte über den niedrigen Rand und nahm im Sitz neben ihm Platz. Es war ein ganz normales Schiff, genau wie ich es kannte, sogar mit einem Armaturenbrett, also konnte man es nicht nur mental steuern. Schön.
»Entschuldige.« Schnee entspannte sich. »Entschuldige, Pjotr.«
»Was denn?«
Er lächelte gequälte und sah für einen kurzen Moment wie ein kleiner Junge aus.
»Du hast dich seltsam verhalten. Die Grüne hast du angesehen, als ob … in die Maschine wolltest du nicht einsteigen. Und sie fürchten sich schließlich vor unserer Technik … bis zur Hysterie. Im Restaurant essen willst du auch nicht …«
»Soll das heißen, du hältst mich für einen Spion?« Meine Verblüffung war echt. Dieses verspätete Misstrauen wirkte noch unangemessener als die bisherige Vertrauensseligkeit.
»Also … ich bin ins Grübeln geraten …«
Ich fing an zu lachen und stieg wieder aus. »Ich habe mit ihnen wirklich nichts zu tun, Ehrenwort.«
»Soll ich dir was mitbringen?«, fragte Schnee reuevoll.
»Unbedingt was zu essen. Und …«
Ob es bei ihnen Bücher gab? Aber was bin ich nur für ein Idiot! Wenn in meinem Wortschatz der Begriff »Buch« existierte, dann musste er ja wohl auch für etwas stehen.
»Und Bücher zur Geschichte des Planeten.«
»Du bevorzugst dieses Medium?« Schnee nickte. »Eure Welt muss echt komisch sein.«
»Und wie!«, stimmte ich ihm zu.
»Gut. Ich besorge dir welche. Und noch mal: Entschuldige, Pjotr. Der Schatten macht uns alle ganz wuschig …«
Das Schiff stieg lautlos auf und schoss auf den sich eiligst öffnenden Zaun zu. Ich blieb mit offenem Mund zurück.
Bis jetzt war ich mir sicher gewesen, die Bezeichnung »Schatten« gehe auf die Geometer zurück. Schließlich gibt es etliche Namen für den Feind, das Dunkel, das Böse, der Schatten … Aber Schnee gebrauchte den Ausdruck auch.
Folglich mussten die Geometer versucht haben, das Leben der Zivilisation des Schattens zu verstehen. Sie hatten ihre Regressoren geschickt, von denen jedoch nur einige zurückgekehrt waren. Diese mussten genug zu berichten gehabt haben, um die kühnen Kämpfer der Freundschaft in Angst und Schrecken zu versetzen.
Wie sah eine Kultur aus, welche die Propheten des Friedenskampfes erschreckt? Wie die kriegerische Welt der Grünen und Technokraten hier? Niemals! Denn beide Seiten wären in kürzester Zeit zum Kampf mit Steinäxten zurückgeworfen worden.
Ich machte kehrt und ging zu der Kaserne zurück, in der man mir ein Zimmer gegeben hatte.
An die zehn Minuten schlug ich mich mit dem Fernseher herum, verfolgte einen idiotischen Sportwettkampf, ein Rennen im durchschnittenen Gelände, und verschiedene Varianten von Konzerten. Schnee hatte völlig recht, wenn er sie als Amateure bezeichnete. Irgendwann kam ich auf die Idee, von dem Gerät zu verlangen, mit mir zu interagieren.
»Ausgeführt«, teilte mir der Bildschirm mit weicher weiblicher Stimme mit.
Meine Laune besserte sich sofort. Jetzt konnte ich darauf hoffen, dass ich, wenn ich darum bat, mir die Entwicklungsphasen zu zeigen, nicht länger Wettkämpfe von Mannschaften unterschiedlichen Alters zu sehen kriegte, angefangen bei einjährigen Kleinkindern bis hin zu Tattergreisen. Diese Welt hegte fraglos eine Vorliebe für sportliche Spiele und unprofessionelle Schlagerdarbietungen. Noch die stimmloseste Sängerin von der Erde oder ein Jugendlicher, der einmal einen Selbstverteidigungskurs besucht hatte, würde hier jeden in die Tasche stecken.
»Ich möchte mich mit der Geschichte des Planeten vertraut machen«, bat ich, während ich im Sessel Platz nahm.
»Ein allgemeiner Kurs?«
»Ja.«
»Gesamtdauer?«
»Äh … eine Stunde.«
»Nur Dokumentationsmaterialien? Oder auch Spielfilmszenen und Rekonstruktionen?«
»Wenn sie zuverlässig sind.«
»Ich bereite es vor.«
Das war natürlich nicht nur ein Fernseher. Sondern eine Art Internetfernseher, wie er jetzt in den USA und häufig auch schon in Russland anzutreffen ist. Als ich mir vorstellte, wie der Computer auf dem ganzen Planeten nach Dateien für mich suchte und mir einen persönlichen Dokumentarfilm zusammenstellte, schüttelte ich den Kopf.
Was für eine unglaubliche Verschwendung von Ressourcen! Warum führten sie – bei einem derartigen Informationszugang, einer derart entwickelten Technik – diesen öden Krieg? Es hätte doch schon längst eine der beiden Seiten gewonnen haben müssen!
Cualcua! Könnte das Computersystem, mit dem ich jetzt kommuniziere, nicht derselbe Verstand sein, der dich erfasst hat?
Nein, antwortete mein Symbiont knapp und mit unverkennbarer Verachtung.
Wir sind aber stolz!
»Das Einführungsmaterial ist zusammengestellt.«
»Dann los!«
Im Zimmer wurde es dunkel. Jäh wurde mir klar, dass das Bild aus dem Apparat herausfloss und sich im ganzen Raum ausbreitete.
»Es folgt ein Bildungsprogramm«, informierte mich der Schirm.
Ich fand mich mitten im Kosmos wider. Allerdings nicht in dem, den ich kannte, den ich aus den Fenstern meines Schiffs sah. Sondern mitten im Kosmos vom Kern, in jenem Sternenreichen Wahnsinn, inmitten jener pulsierenden Lichter. Die Scheibe des Planeten lag unter mir, weshalb ich automatisch die Beine hochzog. Der Sessel war das letzte noch real wahrnehmbare Stück.
»Die Entdeckung des Planeten. Eine Rekonstruktion.«
Der Planet bewegte sich. Inzwischen befand ich mich in der Atmosphäre, stürmte über seine Oberfläche. Die Landschaft kannte ich nur zu gut – sumpfige Meere und Dschungel.
»Die erste Kolonisation. Vor zehntausenddreihundertundsechs Jahren.«
Ich schluckte einen Kloß hinunter.
Wie bitte?!
Fünftausend Jahre vor der Entstehung der Stadtstaaten in Mesopotamien, vor dem Alten Reich in Ägypten?
Da sollte die Zivilisation des Schattens bereits bestanden und das Universum bevölkert haben?
»Ein Kolonisationsschiff der Ur-Erde. Eine Rekonstruktion.«
Das sollten die Starken Rassen einmal sehen …
Im tiefsten Dschungel stand in einem Kreis aus verbrannter Erde ein riesiger Metallkörper, der bestimmt vierhundert Meter hoch war. Und ein solches Monstrum hatte auf diesem Planeten landen können?
»Die erste Stadt. Archivaufzeichnungen der Ur-Erde.«
Das würde meinem Großvater gefallen. Häuser, Straßen und Felder. Maschinen – übrigens mit Rädern – fuhren herum. In der Ferne schimmerte der halb zerstörte – oder genauer gesagt: der halb auseinandergenommene – kegelförmige Rumpf des Schiffs. Ja, genauso musste es gewesen sein. Als ich als kleiner Junge mit meinem Großvater die möglichen Varianten zur Kolonisation durchgegangen war, schien uns diese am überzeugendsten. Das Schiff musste der Ausgangspunkt für die Entwicklung der Industrie gewesen sein. Es lieferte Metall, das bereits zur Weiterverarbeitung aufbereitet war, Mechanismen, die vielfältig eingesetzt werden konnten, und Triebwerke, um den Dschungel abzubrennen. Es konnte als Gewächshaus für die Aussaat dienen, die Kajüten als provisorische Unterkünfte genutzt werden.
»Die erste Stadt. Ausgrabungen.«
O nein, das sollte mein Großvater besser nicht sehen. Verrostetes Metall, die Umrisse von Mauern, die im verwitterten Stein kaum noch zu erkennen waren, ein Denkmal – das jedoch ganz hervorragend erhalten geblieben war. Es stellte einen Mann mit siegesgewissem Gesichtsausdruck und einer imponierenden Waffe in der Hand sowie eine sich an ihn schmiegende Frau – der Inbegriff von Zärtlichkeit und Liebe – mit einem neugierig nach vorn schauenden Kind auf dem Arm dar. Ein solides Denkmal. Gutes Metall. Ich hatte nicht die geringste Idee, wie es diese zehntausend Jahre hatte überstehen können.
»Die erste Stadt, dreihundert Jahre nach dem Beginn der Kolonisation. Eine Rekonstruktion.«
Winzige, gotterbärmliche Hütten. Ein paar Steinbauten mit Dächern aus Metall. An mir ging ein Mann im Harnisch und mit einer Lanze in der Hand vorbei. Eine Frau, geradezu eine Karikatur jener, die das Denkmal verewigt hatte, verbeugte sich tief vor einem Wachtposten. Anstelle des Schiffs erhob sich nun eine aus Erde aufgeschüttete Pyramide, ein von Menschenhand angelegter Berg, über dessen Hang Punkte krochen. Auf dem Gipfel stand ein mit Metall verkleideter Tempel. Die Darstellung bewegte sich, ich schoss auf den Tempel zu. Ein Mann in prachtvoller Kleidung stand mit erhobener Waffe – die kannte ich inzwischen – da. Vor ihm hatten sich Pilger zu Boden geworfen.
»Die erste Stadt. Tausend Jahre nach dem Beginn der Kolonisation. Eine Szene aus dem Spielfilm Die Verdammten.«
Dschungel. Nichts als Dschungel. Die Umrisse des Berges ließen sich erahnen, aber nichts an ihm verriet noch seinen künstlichen Ursprung. Vor mir stand ein Mann, ein dreckiger, behaarter, nackter Mann mit einer groben Keule in der Hand. Es hätte gar keiner Ankündigung gebraucht, dass es sich hier um eine Spielfilmszene handelte. Alles wirkte fürchterlich übertrieben, ganz in den schlechtesten Traditionen Hollywoods. Die Büsche wogten und teilten sich. Ein Tier tauchte auf. Nicht sonderlich furchteinflößend, von der Größe und dem Aussehen her mit einem Puma zu vergleichen. Ich glaube, der Mann sah das genauso, denn er fuchtelte mit der Keule und stieß einen drohenden Schrei aus. Doch plötzlich sprang ihn von hinten ein zweites Tier an. Der Schrei riss ab, Blut spritzte.
»Ende der ersten Kolonisation.«
Sollte mein Großvater doch recht gehabt haben? War eine Kolonisation in dieser Form – nur mit einzelnen Schiffen, ohne enge Verbindung zur Metropole – zum Scheitern verurteilt? Oder präsentierte man mir lediglich die Bilder, mit denen ich rechnete und die ich akzeptierte?
»Die zweite Kolonisation. Vor viertausend Jahren. Eine Rekonstruktion und Aufzeichnungen aus den Militärarchiven.«
Vielleicht war die Landschaft noch immer dieselbe. Nur war sie nicht mehr wiederzuerkennen. Bis zum Horizont erstreckte sich eine glasig funkelnde Oberfläche, aus der die Spitzen von Metallkuppeln herausragten.
»Eine Militärbasis des Zweiten Imperiums. Eine Rekonstruktion. Archivaufzeichnungen von geringerer Zuverlässigkeit.«
Oho!
Der Himmel stand in Flammen. Der Himmel loderte. Über der Ebene glühten Kraftfelder. Wie aus dem Nichts tauchten die sich entschlossen vorwärtsbewegenden Silhouetten von Schiffen auf.
So musste eine Schlacht aussehen! Die ersten Pharaonen und König Hammurabi erklärten ihren Untergebenen, niemand anderes als sie herrsche über das Universum. Sie fuhren auf Streitwagen, überließen sich der Liebe und der Völlerei, beteten überstürzt und stumpfsinnig zu ihren zahllosen Göttern.
Die echten Götter jedoch fochten unterdessen ihre kleinen Sternenkriege aus.
»Die Militärbasis der Entwicklungsunion. Vor viertausend Jahren. Eine Rekonstruktion. Archivaufzeichnungen sind nicht zugänglich.«
Das wurde ja immer interessanter!
Äußerlich hatte sich nichts verändert. Die Ebene. Glas, Metall, Stein. Schiffe und Feuer.
Es folgte die Geschichte des Kriegs zwischen dem Zweiten Imperium und der Entwicklungsunion am Beispiel eines einzelnen Planeten. Anscheinend fiel er alle fünfzig oder hundert Jahren in neue Hände, wobei sich aber im Grunde nicht viel änderte. Es gab eine kurze Spielfilmszene, die jedoch hauptsächlich von der Liebe eines Offiziers der Spionageabwehr des Imperiums zu einem jungen Agenten der Entwicklungsunion handelte. Ja, richtig, von ihrer Liebe. Von der ganz normalen Liebe – denn der Offizier war eine Frau. Schon älter und, ehrlich gesagt, eine ziemliche Schreckschraube, dabei aber höchst charmant. Der fünfminütige Clip fesselte mich regelrecht, und ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass ich den Film gern zu Ende sehen würde.
Die dritte Kolonisation erfolgte vor zweitausend Jahren. Ihr Ergebnis hatte ich inzwischen kennengelernt …
»Die dritte Kolonisation. Vor zweitausend Jahren. Eine Rekonstruktion und Archivaufzeichnungen.«
Schiffe wurden diesmal nicht gezeigt, sondern ausschließlich Städte, obendrein schon ziemlich viele. Die Natur befand sich in einem Prozess der Veränderung, man konnte förmlich zusehen, wie der Dschungel verdorrte und recht freundlichen Wäldern wich. Die schlammigen Meere wurden sauber, die ersten Schiffe und Jachten befuhren sie. Diese Prozesse faszinierten mich, ob ich wollte oder nicht. Der Planet verwandelte sich nicht einfach im Handumdrehen in einen freundlichen Ort – sondern in das reinste Paradies. Und deswegen zettelte man einen Krieg an? Sie mussten den Verstand verloren haben, diese grünärschigen Ökos!
»Eintritt in den Schatten. Vor eintausendfünfhundert Jahren. Archivaufzeichnungen.«
Ich erschauderte.
Es schien alles unverändert. Ich kriegte genau dieselbe Landschaft vorgeführt … nein, halt!
Die Tore!
Ich spürte sie wie eine Kompassnadel den Magnetpol. Jene »Bereiche, die Energie absorbieren«, von denen das Schiff der Geometer gesprochen hatte. Die Flecken waren über den ganzen Planeten verstreut.
Ansonsten war jedoch alles gleich geblieben.
»Vor eintausendzweihundertundsechs Jahren. Entstehung der grünen Bewegung. Eine Rekonstruktion, Archivaufzeichnungen und Spielfilmszenen.«
Auf den Schatten wurde nicht mehr eingegangen. Als ob es völlig ausreichte, ihn zu erwähnen und nur ein ausgemachter Idiot danach noch Fragen haben könnte. Begriffsstutzig glotzte ich auf die auftretenden Ökologen, hörte mir ihr Lamento zum Tod der »ursprünglichen endemischen Umwelt« an, verfolgte die Experimente zur Schaffung von Naturschutzgebieten für Reliktenformen. Ihnen folgten Experimente zur Anpassung des menschlichen Organismus an die ursprüngliche Biosphäre. Mehrmals wurden Kundgebungen gezeigt, die sich zu Zusammenstößen und Schlägereien auswuchsen. Das Ganze wurde ausgesprochen ruhig und sachlich kommentiert. Ich hatte den Eindruck, die Informationen seien tatsächlich in einer untendenziösen Weise zusammengestellt worden. Und irgendwie hatten die Grünen ja recht: Auf dem Planeten könnte immer noch ein eigenes intelligentes Leben entstehen, aber da die Umwelt nun einmal zerstört worden war, musste man von dem, was noch übrig war, so viel wie möglich bewahren und sich eventuell selbst eine leere ökologische Nische suchen. Auch wenn das blanker Unsinn war, ihre Motive waren edel. Irgendwann nahm die Zahl der Grünen sprunghaft zu. Und zwar so stark, dass sie nun mit der Zahl der Bürger gleichzogen, die jede Veränderung ablehnten. Die ganze Zeit über wurde ich den Eindruck nicht los, die Frauen auf diesem Planeten seien einzig und allein mit dem Kinderkriegen beschäftigt, denn die Bevölkerung stieg offensichtlich in abnormem Tempo an. Die Städte wuchsen, es entstanden Zonen für normale Menschen und für Grüne. Nachdem ein Abkommen ausgehandelt worden war, trennten sich beide Bevölkerungsgruppen voneinander. Die Grünen erhielten die nördliche Halbkugel, die Technokraten – so hatte ich sie für mich genannt – die südliche. Anfangs entschärfte das die Situation. In den nächsten zweihundert Jahren bespöttelte und verhöhnte man einander, baute ein Kontrollsystem über das jeweils eigene Territorium und militärische Strukturen auf. Es wurden Szenen aus einer Komödie eingespielt, in der beide Seiten gleichermaßen als dumm, aber unschuldig dargestellt wurden. Ab und an wurde der Schatten erwähnt, aber stets nur eingebunden in den Kontext und vage, etwas in der Art wie: »Wir sind eine völlig einmalige Welt im Schatten …« oder »Was unterscheidet uns von allen anderen Welten des Schattens?« Sobald die Grünen die Transformation ihrer Kontinente und Küstengebiete abgeschlossen hatten, nahmen sie sich die Meere vor. Genau damit begannen die Probleme. Die Meere waren nämlich miteinander verbunden. Die einheimische Flora und Fauna, die bereits völlig vom Planeten verschwunden zu sein schien, breitete sich mühelos und gierig wieder aus. Man beschuldigte sich gegenseitig. Die Flugzeuge der Technokraten verbrannten sämtliche widerständigen fremden Lebensformen an ihrer Grenze, die Grünen »säten« neues Leben an ihrer. Und sie waren wesentlich erfolgreicher. Jedenfalls zeigten die Meere nun wieder den Zustand während der ersten Kolonisation.
Das war’s.
Der Film endete, die illusorische Welt um mich herum löste sich auf. Ich saß wieder im Zimmer vor einem laufenden Fernseher.
Damit hatte ich also die gewünschten Informationen erhalten. Jetzt konnte ich versuchen, sie auszuwerten. Wenn man alles auf die reinen Fakten reduzierte – wobei ich nicht vergessen sollte, dass die Bewohner des Schattens sich im Alltag wie ganz normale Menschen von der Erde aufführten, mit einer gehörigen Portion an Melodramatik und völlig normalen Gefühlen – was blieb dann übrig? Es gibt – oder gab – eine Metropole. Jene Ur-Erde …
»Einführungskurs zur Ur-Erde«, bat ich.
»Darüber liegen keine Informationen vor.«
Hoppla!
»Gar keine?«, fragte ich etwas dämlich. Der Apparat überlegte ein Weilchen.
»Indirekte. Die Ur-Erde ist die Heimat der menschlichen Rasse. Diese These begegnet in unterschiedlichen Formulierungen in Spielfilmen und Archivmaterialien.«
Was hatte der Film noch hergegeben? Ach ja, dieses Imperium …
»Einführungskurs über das Zweite Imperium und die Entwicklungsunion«, bat ich, obwohl ich die Antwort schon ahnte.
»Darüber liegen keine Informationen vor.«
»Indirekte?«
»Es handelt sich um zwei politische Kräfte, die im Kampf um die Herrschaft in der Galaxis zu aktiven Kriegshandlungen griffen. Erstmals wurden sie vor etwa viertausend Jahre erwähnt, letztmals vor etwa zweitausend Jahren. In manchen Perioden galt das Imperium als die progressivere Kraft, in anderen die Entwicklungsunion.«
»Du« – in meiner Aufregung fing ich an, den Apparat zu personifizieren –, »du hast mir Spielfilmszenen über das Zweite Imperium und die Union gezeigt. Das sind doch auch Informationen.«
»Die Spielfilmszenen sind unzuverlässig, weil sie einander widersprechen. Sie können nicht die Basis für einen Informationskurs bilden.«
Logisch. Dann wollen wir doch mal sehen, was passiert, wenn ich mich der Sache auf einem Umweg nähere …
»Einführungskurs zu anderen Planeten des Schattens!«
»Darüber liegen keine Informationen vor.«
»Hast du denn nur Informationen zu diesem Planeten?«
»Ja.«
Hervorragend. Alle Informationen über die Welt jenseits dieses Planeten waren nur indirekt. Damit schottete sich dieser Planet nicht nur ab, sondern legte eine Gleichgültigkeit an den Tag, die … Aber Schnee stammte doch von einem anderen Planeten! Von diesen … Regenbogen-Brücken … Also musste es doch eine Verbindung zur Außenwelt geben! Wie konnte man da auf jegliche Informationen über sie verzichten?!
Das warf mich um. Wenigstens elementare Neugier musste es doch geben! Wie leben unsere Artgenossen im Sternenimperium? Selbst wenn sie nicht auf Handel angewiesen waren, auf den Austausch von Wissen – aber sie mussten doch neugierig sein!
»Was ist der Schatten?«, fragte ich leise.
»Ein gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Verband, der die Grundlage der modernen Zivilisation bildet.«
Das war immerhin etwas. Mit dieser Definition dürfte ich doch weiterkommen. Feudalismus, Kapitalismus, Kommunismus und Technokratie. Der Schatten.
»Wann ist der Schatten entstanden?«
»Vor etwa eintausendfünfhundert Jahren.«
»Wodurch unterscheidet sich der Schatten von früheren Zivilisationsformen?«
»Der Schatten garantiert uneingeschränkte Freiheit und das Glück jeder einzelnen Persönlichkeit. Der Schatten bietet unbegrenzte Möglichkeiten zur Entwicklung und Vervollkommnung jedes Individuums.«
Aber sicher. Da brauchte man ja nur mal an die vor Hunger und Durst sterbende grünhäutige Frau in ihrer komfortablen Gefängniszelle zu denken. Oder an den Krieg, der sich schon tausend Jahre hinzog!
Ich stellte noch ein paar Fragen, aber entweder formulierte ich sie nicht gut oder dem Informationssystem standen tatsächlich keine konkreten Antworten zur Verfügung. Blieb zu hoffen, dass die Bücher, die mir Schnee versprochen hatte, mehr hergaben. Eine schwache Hoffnung, zugegeben. Wenn mir das Informationsnetz schon keine Antwort geben konnte, was versprach ich mir dann von Büchern?
Was befremdete mich sonst noch an der Geschichte des Planeten, so wie sie mir gerade präsentiert worden war?
Nun, vor allem der seltsame Verlauf der Entwicklung. Während die Anfangsphase ganz den Vorstellungen der Menschen von einer stellaren Expansion entsprach, geschah im Folgenden etwas Unbegreifliches. Gut, in der Periode der Sternenkriege konnte die Wissenschaft durchaus gebremst worden sein. Der ständige Abzug von Ressourcen, die massenhafte Vernichtung der Bevölkerung, Perioden des Niedergangs der Zivilisation … All das war zwar unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Aber was dann kam! Vor zweitausend Jahren war der Planet erschlossen gewesen, auf ihm hatte sich eine lebensfähige Gesellschaft herausgebildet. Dann war er in den Schatten eingetreten – und alle Entwicklungswege schienen gekappt. Der heutige Krieg wurde auf einem technischen Niveau geführt, das dem bei uns auf der Erde entsprach. Auch der Alltag ließ sich mit unserem vergleichen. Die Bevölkerung war nicht mehr gewachsen. Wie viele Kilometer Dschungel hatten wir passiert – wilden, verlassenen Dschungel, den bis auf ein paar Tiere niemand brauchte? Die kleine Stadt in der Nähe des Stützpunkts wirkte wie eine völlig normale Provinzstadt ohne jedes Hochhaus. Ob in dieser Stadt auch alle Energie für diese längst überholten Auseinandersetzungen mit den Grünen, Sportwettkämpfe und das Musizieren draufging?
Das konnte ich einfach nicht glauben! Gut, einem Teil der Bewohner mochte ein solches Leben gefallen. Wer auf einen Kick aus war wie Schnee, kam hier bestimmt auf seine Kosten. Aber es gab doch auch noch andere. Kinder wuchsen heran, die von interstellaren Flügen träumten – schließlich träumt jedes Kind irgendwann von den Sternen. Unter all den Laienkünstlern musste irgendwann eine Stimme von wahrer Kraft und Schönheit auftauchen, auch wenn sie ebenso fehl am Platze wäre wie eine Perle im Scheißhaufen. Den Wissenschaftlern hier musste es doch irgendwann reichen, pausenlos neue Waffen und Mittel zur biologischen Kriegsführung zu entwickeln.
Diese Welt hätte in ihre Bestandteile zerfallen müssen, und zwar innerhalb von zehn Jahren. Stattdessen hielt sie sich nun schon ein ganzes Jahrtausend!
Vor meinem inneren Auge sah ich klar und deutlich meinen Großvater. So, wie er früher gewesen war. In seinem Menschenkörper. Mein Großvater hätte nur ironisch gekichert, denn er hätte eine Antwort gewusst. Er hatte bereits auf dem Planeten ohne Sonne alles begriffen. Doch obwohl die Antwort ihm nicht gefallen hatte, wollte er unbedingt durch das Tor gehen.
Ich stand auf und ging zum Fenster. Ich versuchte, meine Augen zu entspannen, gleichgültig, und ohne etwas zu fixieren, in die Gegend zu schauen. Es funktionierte, fast auf Anhieb machte ich die Tore aus. Eins befand sich direkt hinter dem Zaun des Stützpunkts, ein zweites weiter weg, nahe der Stadt.
Aber warum funktionierte das Transportsystem nicht mehr? Es hatte mich anstandslos auf diesen Planeten gebracht … Warum eigentlich ausgerechnet hierher? Und wohin hatte es die anderen verschlagen? Zu den Grünen? Zu einem anderen Stützpunkt? Oder auf einen anderen Planeten?
Auf keine dieser Fragen hatte mir der Film eine Antwort gegeben. Mit ihnen würde ich mich an lebende Menschen wenden müssen. Selbst wenn ich es damit riskierte, wie jemand dazustehen, der fragte, warum wir eigentlich atmen und mit welcher Körperöffnung man Nahrung aufnehmen soll. Trotzdem musste ich danach fragen.
»Pjotr.«
In der Tür stand Galis.
»Hast du dich schon eingelebt?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Du hast dir die Gefangene angesehen«, konstatierte der Hauptmann. »Was denkst du jetzt? Dass wir grausame Sadisten sind?«
»Ich weiß nicht«, antwortete ich ehrlich. »Euer Krieg …«
»Jetzt ist es auch deiner.«
Ich schwieg.
»Es stimmt, wir setzen Gefangene den … für sie … unangenehmsten Bedingungen aus.« Galis seufzte und fing an, durchs Zimmer zu tigern. Er linste zum eingeschalteten Fernseher hinüber. »Du hast dich mit Geschichte beschäftigt … tüchtig … Pass auf, Pjotr, mir gefällt es auch nicht, dass diese unglückselige Idiotin verhungert, wenn das Essen direkt neben ihr steht. Dass sie auf Zehenspitzen dasteht, weil sie Angst hat, einen absolut harmlosen Teppich zu berühren. Aber was sollen wir denn machen? Kannst du mir das mal verraten? Dank dem Schatten haben wir uns ein für alle Mal von der Logik übereilter Schritte befreit. Wir haben diese verlockende Möglichkeit verloren … auch wenn ich mir noch so sehr wünschen würde … du ahnst gar nicht, wie sehr …«
Er biss sich auf die Lippe.
»Was meinst du denn, warum ich nicht fliege? Ich würde das einfach nicht aushalten. Ich würde mich nicht auf Patrouillenflüge beschränken. Ich würde ihren ganzen Kontinent in Schutt und Asche legen.«
Galis sprach in vollem Ernst. Und ich glaubte ihm sofort, dass seine Vision nicht aus der Luft gegriffen war.
Ein einziger Pilot, in einem einzigen Flugzeug … könnte tatsächlich einen ganzen Kontinent niederbrennen. Mir wurde unbehaglich zumute. Gleichzeitig wuchs meine Sympathie für Galis.
»Und sie wissen das …«, sagte Galis gedankenversunken. »Es ist natürlich beschämend, dass sich all die Verrückten hier bei uns versammeln. Aber was soll man machen? Hier ist mein Zuhause. Und es gefällt mir hier. Ich bin nicht Schnee … Er hat mit Sicherheit keine Wurzeln und wird sie auch nie mehr irgendwo schlagen. Er kämpft, isst und stolziert mit hocherhobenem Kopf an den hingerissenen Frauen vorbei …«
»Das Gleiche hat er von Laid gesagt«, verpfiff ich Schnee zu meiner eigenen Überraschung.
»Laid war ein ganz und gar klinischer Fall«, gab Galis offen zu. »Ich habe gleich gewusst, dass er es nicht lange bei uns aushalten würde. Wir sind viel zu harmlos für seinen Geschmack. Bei seiner Delta habe ich vor dem Start die schweren Geschütze blockiert.«
Galis setzte sich in den Sessel und sah mich forschend an. Er wirkte etwas verlegen.
»Und was haben Sie nun vor?«, fragte ich rasch.
»Durchhalten«, antwortete Galis so beiläufig, als habe er genau diese Frage erwartet. »Früher oder später werden die Grünen aufgeben. Sie werden begreifen, dass sich ihr Traum hier nicht verwirklichen lässt. Und die Hälfte der Welt ist ihnen nicht genug. Von mir aus sollen sie ruhig weiterziehen und ihr Glück woanders suchen. Es gibt ja schließlich genug Planeten, oder etwa nicht?«
Ich nickte unsicher.
»Und was suchst du hier bei uns?«, fragte Galis plötzlich. »Na, Pjotr? Irgendwie scheinst du nicht sonderlich erpicht aufs Kämpfen … Und dass du in die Stadt willst, kann ich mir erst recht nicht vorstellen. Also, mein Junge, erklär mir das mal. Wovon träumst du?«
Danach wird er mir dann wahrscheinlich eröffnen, dass ich in seinen Truppen nicht erwünscht bin …
»Ganz ehrlich?«
»Natürlich.« Der Hauptmann lächelte.
»Vom Glück für meinen Planeten.«
»Also …« Galis schüttelte den Kopf. »Also, da hast du dir ja was vorgenommen. Gut, gehen wir mal davon aus, dass du klüger bist als alle anderen. Dass sich alle auf deiner Erde irren. Und nur du recht hast.« Er lächelte wie jemand, der gerade einen unglaublich pointierten Witz gerissen hatte. »Aber was willst du dann bei uns? Hier findest du dein Glück nicht. Das mag anmaßend klingen … aber ich bin doch nicht blind!«
»Wenn ich nur selbst wüsste, was ich suche …«, flüsterte ich.
Galis nickte. »Das verstehe ich. Lass mich dir einen Rat geben, Pjotr … geh durchs Tor.«
Damit war der Vorschlag, den Planeten zu verlassen, auf dem Tisch.
»Das habe ich schon versucht.«
Galis rieb sich das Kinn. »Dann weiß ich auch nicht weiter. Dann habe ich mich geirrt. Gut. Vertrauen wir auf den Schatten.«
»Ja, vertrauen wir darauf«, erwiderte ich zögernd. Na! Nun sag schon noch irgendwas!
»Komm mit! Ich zeige dir deine Delta«, forderte mich Galis auf. »Solange du noch hier bist, wirst du die gleichen Aufgaben übernehmen wie die anderen Jungen. Vielleicht findest du dich dabei selbst …«
Diesen letzten Satz sprach er ohne jede Überzeugung aus.
»Gibt es viele Männer im Stützpunkt?«, wollte ich auf dem Weg zum Hangar wissen. Diese Leere kam mir allmählich merkwürdig vor.
»Im Moment ist hier niemand außer uns. Normalerweise sind dreihundertsechsundzwanzig Mann stationiert.«
Oho. Und ich hatte schon geglaubt, an diesem Krieg nehme nur ein Dutzend Fanatiker teil.
»Ohne dich«, fügte Galis nach einer kurzen Pause hinzu. »Vorerst zähle ich dich noch nicht mit, einverstanden?«
Das konnte er halten, wie er wollte. Ob er mich mitzählte oder nicht – so oder so war ich in dieser Welt ein Fremder.
Die Türen des Hangars glitten vor uns auseinander. Galis blieb kurz stehen. »Du bist nicht an das mentale Befehlssystem gewöhnt, oder?«, fragte er.
»Nein.«
»Gut. Der Code für den Einlass ist ›Alarm‹.«
»Ich werde es mir merken«, versprach ich, während ich gierig alles in dem spärlich beleuchteten Hangar in mich einsaugte. Der Raum war nicht sehr groß, das Gleiche galt für die hier untergebrachten Maschinen. Etwas kleiner als ein Zerstörer bei uns auf der Erde. Der Name Delta ging offenbar auf die dreieckige Form zurück. Wenn man wollte, hätte man kleine dicke Flügel ausmachen können. Eine verspiegelte Haube schloss das Cockpit ab. Die Deltas standen direkt auf dem flachen Bauch, Räder oder Stützen entdeckte ich keine.
»Soweit ich es verstanden habe, kennst du unsere Maschinen nicht«, bemerkte Galis.
»Absolut nicht.«
»Das hier ist deine.« Der Hauptmann trat an die am nächsten stehende Maschine heran und klopfte gegen die glatte Verkleidung. »Alle Maschinen hier drinnen sind neu. Das Cockpit öffnet sich auf das Wort … das Wort ›Gast‹.«
Ich unterdrückte ein Kichern.
Da Galis auf etwas wartete, sagte ich leise: »Gast …«
Die verspiegelte Haube schmolz, verwandelte sich in ein funkelndes, geschmeidiges Band, das nach unten kroch wie die Zunge eines metallenen Tiers.
»Steig ruhig ein«, schlug mir Galis in amüsiertem Ton vor.
Unsicher trat ich auf das glänzende Band und wollte schon hinaufklettern, doch das war nicht nötig. Das Band erzitterte unter mir und zog mich zum Cockpit hinauf. Ich verlor das Gleichgewicht und fiel in den breiten Sitz. Der rührte sich prompt unter mir und schloss sich um meinen Körper. Die »Treppe« hatte sich bereits wieder in die Haube zurückverwandelt. Von innen war sie perfekt durchsichtig.
»Und? Wie gefällt’s dir?«, wollte Galis von unten wissen.
»Höchst interessant«, brummte ich. Ob er mich überhaupt hörte?
Die Kabine war sehr klein, im Vergleich zu ihr war es in dem Scout der Geometer regelrecht geräumig gewesen. Es gab ein Pult – und zwei Trichter mit einer silbrigquecksilbrigen Flüssigkeit!
»Kommst du mit der Steuerung zurecht?«, erkundigte sich Galis. »Oder ist dir das System ebenfalls unbekannt?«
Ob er mir am Ende doch misstraute?
Mit einer entschlossen Bewegung versenkte ich die Hände in den Trichtern.
Ein pikender Schmerz. Ein kurzer Schwindelanfall. Ich spürte förmlich, wie die Delta mit meinem Bewusstsein verschmolz.
Du bist der Pilot?
Ja.
Wie intelligent war sie? Handelte es sich bei ihr um einen kastrierten Verstand wie bei den Schiffen der Geometer, eine vollständige Persönlichkeit oder nur um ein primitives Navigationssystem?
Wir sind eins.
Ja, bestätigte ich.
Es war, als stürze ich ab, als rolle eine Lawine von Tönen, Bildern und Eindrücken über mich hinweg. Nein, die Delta war nicht intelligent. Sie war nur ein Appendix des eigenen Körpers – aber was für einer!
Ich sah durch die Mauern des Hangars hindurch. Ich nahm die Bewegungen der Maschinen in den Straßen der Stadt wahr. Ich hörte Galis’ Atem und das Rascheln der Zweige an den Bäumen. Die Welt wurde riesig, doch sie stand mir offen, hatte sich mir unterworfen. Selbst im Schiff der Geometer hatte ich nicht ein solches Gefühl von Macht verspürt … Und gleichzeitig gab es etwas, das von mir abgeschnitten war, mir verschlossen blieb. Zum Beispiel die Sterne. Als ob die Delta nur mit halber Kraft lebte.
»Ich kann die Maschine nicht vollständig kontrollieren«, teilte ich mit. Die Worte kamen mir nicht über die Lippen, sondern aus dem Metallkörper des Schiffs. Sie dröhnten als erzürntes Gebrüll durch den Hangar. Galis machte ein schmerzverzerrtes Gesicht.
»Du sollst dir nur über ihre Kraft klar werden, Pjotr. Ja, ein Teil der Funktionen ist blockiert. Ich vertraue dir nicht vorbehaltlos. Aber für einen militärischen Patrouilleflug reicht es.«
Ich achtete nicht auf seine Worte. Ich wollte die mir zur Verfügung stehende Kraft ausprobieren. Mich bewegen … fliegen … den Himmel mit einem harten Schlag durchbohren, Berge einreißen, Wasser verbrennen …
»Das ist genug. Fürs Erste ist es genug. Steig aus.«
Ich wollte widersprechen. Nicht mit Worten, sondern mit Taten. Ich wollte durch die dünne Decke schießen, mich an den unterworfenen Naturgewalten ergötzen …
In letzter Sekunde kam ich wieder zu mir. Anscheinend hatte Galis damit gerechnet, dass ich einfach losfliegen würde. Mit Bedauern, fast mit körperlichem Schmerz kappte ich das Band zu der für mich allzu starken Delta. Die Welt schrumpfte mit einem lautlosen Schrei auf den winzigen Punkt des Cockpits zusammen. Ein Krampf schüttelte mich, der Sitz, der mich in einem festen Kokon umspannt hielt, gab mich langsam wieder frei.
»Steig aus!«, wiederholte Galis.
Die Kabine öffnete sich widerwillig. Ich erhob mich und fing voller Genugtuung Galis’ Blick auf, den ich so in seinen Erwartungen enttäuscht hatte. Über die elastische Zunge der Gangway kletterte ich nach unten.
»Eine gute Maschine, Hauptmann. Danke.«
Galis hüllte sich in Schweigen.
»Stimmt etwas nicht?«
»Ich war mir sicher, dass du dich nicht würdest beherrschen können«, erwiderte der Hauptmann mit größter Ruhe.
»Warum das?«
»Sie steht schon zu lange. Ein halbes Jahr im Hangar, ohne Flüge, ohne Piloten. Die Delta ist für den Kampf gemacht und übt entsprechenden Druck auf ihren Piloten aus.«
»Aber warum musste ich dann da rein?«, fragte ich leise.
»Wenn du losgeflogen wärst, dann … hätte ich sie aufgehalten.« Galis blickte mir in die Augen. »Wir brauchen keine Piloten, die nicht in der Lage sind, die ihnen anvertraute Waffe unter Kontrolle zu halten.«
»Wie hochanständig von dir.«
Ich bemerkte nicht einmal, dass ich anfing, mit dem Hauptmann im gleichen Ton zu reden wie Schnee.
»Einer muss ja anständig sein«, parierte Galis. »In Ordnung. Ich freue mich, dass du mit der Maschine zurechtgekommen bist. Jetzt schreib dir Folgendes hinter die Ohren: Das ist deine Maschine. Du bist mein Pilot. Ich bin dein König und dein Gott. Bei einem Alarm nimmst du innerhalb von zwei Minuten deinen Platz ein. Du sitzt im Cockpit und wartest. Du erhältst einen Auftrag und führst ihn aus. Ich würde dir nicht empfehlen, über den Befehl hinaus auf eigene Faust zu handeln, noch weniger, ihn nicht zu erfüllen. Einen Verstoß gegen meinen Befehl kann ich verzeihen. Ich kann es aber auch sein lassen. Du kannst nie wissen, was für Konsequenzen eine Verfehlung nach sich zieht.«
Er drehte sich um und ging weg.
Was für eine exquisite Einweisung!
Was für eine wunderbare Welt!
Doch was am schrecklichsten war – dass ich, als ich seine Worte hörte, vor Freude fast gezittert hätte!
Was hatten sie in dem Film über den Schatten gesagt? Uneingeschränkte Freiheit und Glück? Unbegrenzte Möglichkeiten der Entwicklung und Selbstvervollkommnung?
Großpapa, wie sehr ich dich jetzt brauchte!
Und zwar nicht denjenigen, zu dem du geworden bist, zu diesem giftigen Zyniker, der in einem fremden Körper eingesperrt ist. Sondern den alten, den, der du früher warst. Wie du in meiner Kindheit warst. Selbst wenn du damals deine eigenen Ziele verfolgt hast. Trotzdem bist du immer bereit gewesen, mich zu streicheln, zu trösten … und mir eine Antwort zu geben. Auf jede Frage.
Du hättest nicht so zu kokettieren brauchen, Großpapa. Du hättest einen hervorragenden Ausbilder abgegeben. Vielleicht habe ich deswegen so viel gegen die Geometer, weil ich in jedem von ihnen dich erkenne. Was für eine erbarmungslose Droge die Liebe doch ist. Vor allem die Liebe eines echten Ausbilders. Und man kann noch so oft betonen, wie schädlich Drogen sind, aber wenn man sie einmal probiert hat, ist man ihnen ausgeliefert. Selbst wenn man auf die süße Betäubung verzichtet, selbst wenn man sie verteufelt, wird man sich immer daran erinnern, wird man sich in Krämpfen winden, weil man sich danach sehnt, erneut die sorglose Euphorie des Krauts zu spüren, die stürmische Allmacht der Ekstase, die seelenvolle Betäubung des Alkohols … die warme Zärtlichkeit der Erziehung …
Was mich daran hinderte, den Schatten zu verstehen, war, dass mein Großvater die Antwort bereits kannte. Was mich daran hinderte, mir alles ohne Scheuklappen anzusehen, war, dass ihm der Schatten nicht gefallen hatte.
Und dann wollte ich noch – wollte es so sehr, dass mir die Knie zitterten und sich ein Kloß in meinem Hals bildete – das, was meine Kindheit ausgemacht hatte. Eine einfache und klare Welt. Endlose Freiheit – und sei es in der Zelle eines Heims. Ich konnte nicht selbstständig werden. Was hatte der Ausbilder Fed gesagt, mein einziges wahres Opfer: Ich hätte einen guten Ausbilder abgegeben. Ja, wahrscheinlich stimmte das. Der ewige Zögling oder der ewige Erzieher, im Grunde ist das ein und dasselbe.
Und ein Pilot der Delta zu sein, ein Rädchen in diesem ewigen Krieg – das gehörte in dieselbe Kategorie. Der strenge und anständige Hauptmann Galis, dessen Vertrauen ich mir inzwischen verdienen wollte … Das Gefühl, mir eine Kraft zu unterwerfen, selbst wenn sie auf seinen Befehl hin gestutzt worden war … Konnte die ganze Welt nur aus zwei Typen von Menschen bestehen, aus Ausbildern und Schützlingen, aus denen, die andere voller Weisheit zur Ordnung rufen, und aus denen, die sich frohen Herzens unterordnen? War das ganze Leben nur ein Hin- und Herpendeln zwischen diesen beiden Extremen, ein Wechsel von einer Rolle in die andere, aus einer Sklaverei in die nächste? Kinder und Eltern, Chef und Angestellter … Guten Tag auch, Eric Berne, der du klüger bist als Freud … Jeder Sex verblasst gegenüber der süßen Verlockung der Macht und vor dem freudigen Zittern der Unterwerfung … Er verblasst oder wird zu einem weiteren Schlachtfeld für die beiden einzigen möglichen Rollen …
Ich schüttelte sogar den Kopf, um diese aufdringlichen Gedanken zu vertreiben. Ich betrachtete die Delta. Wenn ich jetzt »Gast« sagen würde, mich ins Cockpit setzen … die geschenkte Kraft spüren würde …
Zum Teufel!
Zu schade, dass es hier keine Kameraleute gab, die meinen zornigen Abgang aus dem Hangar aufnahmen. Das nannte ich vor der Versuchung davonlaufen? Das war ja wie bei einem Raucher, der sein letztes Päckchen Zigaretten wegwirft – und genau weiß, wie lange der nächste Tabakladen geöffnet hat.
Im Sonnenlicht blinzelnd stand ich da und suchte die Reihen der Kasernen nach »meiner« ab. Als ich am Zaun das Tor spürte, fuhr ich zitternd zusammen.
Warum eigentlich nicht?
Diese Welt konnte mir nicht helfen. Ich musste weg von hier. Ich musste das Zentrum des Schattens suchen.
Gut, das Tor im Dschungel hatte nicht funktioniert. Aber warum sollte ich nicht trotzdem mal dieses ausprobieren?
Ich rannte los.
Mir war unklar, ob der Stützpunkt absichtlich in der Nähe von einem Tor errichtet worden war oder ob man es erst später eingerichtet hatte. Schließlich lassen sie sich nicht mit Worten beschreiben. Allenfalls könnte man sie mit einem Blick vergleichen, den man im Rücken spürt. Und den vermutlich auch jeder wahrnimmt. Als ob voller Schwung ein unsichtbarer Fleck vor den Maschendrahtzaun, auf die Betonplatten und in eine Ecke des Gebäudes geworfen worden war. Es war eine fremde, sich verbergende, schlummernde Kraft.
Na los, öffne dich vor mir. Soll Galis doch einen anderen Piloten für seine Delta finden, soll Schnee die Bücher, die er für mich besorgt, selbst lesen, das Essen, das er mitbringt, selbst verputzen, soll die grünhäutige Hysterikerin sich doch in dem »toten« Zimmer winden …
Ich trat in das Tor hinein.
Hier klangen meine Schritte anders. Hohl. Als sei die Luft dichter geworden.
Das war aber auch schon alles.
Ich rannte weiter zum Zaun. Ich klammerte mich an das Gitter, das gar nicht daran dachte, sich vor mir zu öffnen. Jetzt befand ich mich mitten im Zentrum des Tors – und nichts passierte.
»Ich weiß nicht, was ich dir raten soll …«
Galis stand am äußersten Rand des Tors. Er spürte es genauso gut wie ich. Und er hatte offensichtlich Angst hineinzutreten.
»Ruh dich ein wenig aus. Bleibe bei uns. Vermutlich habe ich mich geirrt … du würdest wohl doch einen hervorragenden Piloten abgeben.«
Anscheinend versuchte er eher, sich selbst als mich zu überzeugen. Mein verzweifelter Versuch musste ihn ungeheuer beeindruckt haben.
»Ich will hier weg!«, schrie ich.
Galis schüttelte den Kopf »Nein. Das willst du nicht. Denn wenn du es wolltest … dann würdest du es auch schaffen.«
Schnee schaute gegen Abend bei mir herein. Ich lümmelte mich in der Koje – falls für diese luxuriöse Liegestatt der nüchterne Flottenausdruck passte – und starrte an die Decke.
Schon seit einer Stunde ließen sich draußen Stimmen vernehmen. Die Männer aus dem Stützpunkt waren zurückgekehrt. Vielleicht lag es am Waffenstillstand, dass alle Ausgang hatten, vielleicht ging es hier aber auch immer so leger zu. Einmal klopfte es an meine Tür, wahrscheinlich hatte sich die Nachricht von dem neuen Piloten schon herumgesprochen. Ich reagierte nicht. Ich dachte nach, versuchte zu verstehen, wie ich aus dieser unerwarteten Falle herauskäme.
Die Tore hatten sich als reichlich kapriziös erwiesen. Sie entschieden nämlich selbst, ob sie einen Menschen von einer Welt in eine andere ließen oder nicht. Vielleicht verfügte ich einfach nicht über die Fähigkeit, sie zu bedienen – über die sonst alle verfügten. Vielleicht musste zwischen den Übergängen aber auch eine bestimmte Zeit liegen – ein gewisses Recht auf Beförderung war dann zwar gesellschaftlich verankert, aber durchaus nicht uneingeschränkt …
Ich war ein Schlappschwanz. Das Einzige, was ich zustande gebracht hatte, war, von den Geometern abzuhauen. Aber wenn es darauf ankam, wirklich hinter eine Sache zu steigen …
»Pjotr? Schläfst du?«
Es war schon dunkel. Im Gang brannte schwaches Licht, Schnees Silhouette hob sich als dunkler Fleck ab. Seiner Stimme nach zu urteilen, hatte er einen Kleinen gehoben.
»Nein. Ich denke nach.«
»Das lob ich mir!«, meinte Schnee, als er eintrat. »Warum ist es hier so dunkel? Kommst du mit dem System nicht zurecht?«
Seltsamerweise loderte der Nachthimmel hier nicht mit Myriaden von Sternen. Er dürfte nicht einmal sternenreicher sein als der Himmel der Erde. Entweder nahm der Schatten also nicht nur den Kern der Galaxis ein – ein sehr beunruhigender Gedanke –, oder etwas hatte sich vor die Sterne geschoben, staubige Atmosphäre vielleicht oder der nicht minder staubige Kosmos …
»Doch, schon, ich wollte nur kein Licht.«
»So was kommt vor.« Schnee seufzte mitfühlend. Er stellte etwas auf den Tisch. »Ich hab dir was zu futtern mitgebracht«, sagte er kichernd. »Nichts aus dem Restaurant, du musst schon entschuldigen, sondern nur aus der Kantine. Mann, ich bin da in ein Abenteuer reingerasselt … da habe ich alle Tüten verloren. Ist natürlich schade. Es hat gefüllten Fisch gegeben …«
Ich schwieg.
»Aber den Kognak habe ich gerettet!«, brüstete sich Schnee.
»Dann rück ihn mal raus«, bat ich zu meiner eigenen Überraschung. Ich öffnete die Flasche und trank einen Schluck. Was für ein mieses Gesöff. Obwohl – was verstand ich denn schon von starken Alkoholika? Danilow hätte womöglich genüsslich geschmatzt, große Augen gemacht und sich begeistert geäußert …
»Der Kognak ist beschissen«, räumte Schnee selbstkritisch ein. »Hier gibt es keinen anständigen mehr. Die Pflanzen mutieren ja ständig und gehen ein. Und importierter ist verdammt teuer.«
Importierter?
»Und wo kommt der dann her? Und wie wird er hier hergebracht?«
»Von überall. Die Schiffe der Handelsliga bringen ihn mit.«
Meine bedrückte Stimmung wich im Handumdrehen gehobener! Aber natürlich! Warum hatte ich, wie hypnotisiert durch die Tore, diese für das einzige Transportmittel des Schattens gehalten? Die Tore waren für Menschen. Und auch das nicht immer. Aber Waren lieferte man auf einem anderen Weg.
»Mein Planet hat keinen Kontakt mit der Handelsliga«, teilte ich Schnee die reine Wahrheit mit. »Was ist das denn?«
»Ihr habt euch vor der Liga abgeschottet?« Schnee wunderte sich ein wenig. »Deine Heimat muss komisch sein … Die Liga, das sind die freien Händler. Was man so hört, ist, dass sie an keinen Planeten gekoppelt sind …«
»Nehmen sie Fremde auf?«
Schnee antwortete nicht.
»Na?«
»Was soll das heißen? Hast du etwa schon genug von unserer Welt?«
»Die hat mir von Anfang an nicht gefallen.«
»Hmm. Also, Pjotr … vielleicht …«
Der Alkohol hatte ihn offensichtlich in eine melancholische Stimmung versetzt.
»Vielleicht hast du recht. Die Welt hier ist schon ziemlich bedrückend. Inzwischen bin ich sieben Jahre hier …«
Dann konnte er also entweder nicht knapp über zwanzig sein, wie ich bisher vermutet hatte, oder er musste schon als Teenager angefangen haben zu kämpfen.
»Galis sieht das natürlich völlig richtig. Eine mit Gewalt herbeigeführte Entscheidung – das funktioniert nicht. Die Grünen muss man ganz langsam zurückdrängen. Allerdings versuchen sie das jetzt schon tausend Jahre bei denen! Und es wird noch tausend Jahre so weitergehen!«
Er nahm einen Schluck aus der Flasche und hielt sie mir anschließend ungefragt hin.
Brav trank ich. Beim zweiten Anlauf brannte mir der Kognak schon nicht mehr in der Kehle. Mein Großvater sollte mich jetzt mal sehen!
»Methodisch … geplant … die muss man ganz gezielt vom Planeten jagen! Sie werden noch mehr Sümpfe anlegen, sich in Kröten verwandeln, Eier legen …« Schnee lachte heiser. »Weißt du, was ich wollte?«, fragte er mit tragischem Ton in der Stimme. »Als ich hierhergekommen bin, meine ich? Ich wollte eine Maschine. Ein Klassepilot werden. Und den Grünen so einheizen, dass sie sich alle auf einmal durch die Tore stürzen! Damit ich danach durch die Straße schlendern konnte – nein, nicht mit stolzgeschwellter Brust, sogar mit gesenktem Blick – aber trotzdem würden mich alle anstrahlen. Und jeder – jeder! – auf diesem Planeten würde wissen, dass er sein Glück mir verdankt! Glaub nicht, ich hätte mich auf meinen Lorbeeren ausruhen oder nur meinen Ruhm auskosten wollen. Nein! Aber jeder sollte wissen, dass er das alles nur mir verdankt! Mir!«
Er atmete tief durch. »Ich bin ein Idiot, nicht wahr?«, fragte er kläglich.
»Nein. Nur ein kleiner Junge.«
»Hmm. Ein kleiner Junge. Das war ich. Aber was ist mir dir? Träumst du nicht auch genau davon?«
Ich fuhr zusammen, als hätte ich einen Schlag erhalten.
Konnte Schnee recht haben?
Spielte womöglich allein dieser eine Wunsch eine Rolle – entgegen allem, was ich über mich selbst dachte? War ich – Danilow und meinem Land zum Trotz – nur deshalb hierhergekommen, um als alleiniger, als verdienter … Retter der Welt dazustehen?
»Nun schweigst du«, stellte Schnee zufrieden fest. »Also habe ich ins Schwarze getroffen!«
Wir nahmen beide noch einen Schluck. Ich würde mich einfach betrinken. Diesmal würde ich mich mit Sicherheit betrinken.
»Dürft ihr zu jeder Tageszeit trinken?«, wollte ich wissen. »Was ist denn, wenn es Alarm gibt?«
»Mal den Teufel nicht an die Wand! Wenn es Alarm gibt, dann werden wir schon nüchtern sein, darauf kannst du Gift nehmen!«
Na klar. Solche Helden hatte ich selbst schon erlebt. Nur gut, dass es da Bestimmungen gab: Sie flogen im Handumdrehen aus dem Ausbildungsprogramm.
»Wirklich, Pjotr, wenn du gehen willst, dann wünsche ich dir viel Glück!«, erklärte Schnee warmherzig. »Ich weiß nicht, was dich an der Handelsliga reizt … die sind auf ihre Weise auch verrückt … sie kämpfen gegen den Schatten …«
»Was?«
»Du hast schon richtig gehört! Wahrscheinlich mögt ihr sie deswegen nicht … diese Revolutionäre, diese lächerliche Bande. Allerdings sind sie ganz interessant, das ja …«
Seine Worte wurden von einem Heulen übertönt, einem tiefen Heulen, das durch Mark und Bein ging.
»Mist, und du hast’s beschrien!«, brüllte Schnee los. »Dabei haben wir gerade so nett …«
Das Heulen erstarb, als es einen kaum noch zu hörenden Ton erreicht hatte. Schnee stand da und presste die Flasche an sich. Nach einer Weile stellte er sie sorgsam auf dem Tisch ab. »Nach dem Einsatz genehmigen wir uns noch einen«, brummte er.
Seine Stimme klang absolut nüchtern.
Übrigens merkte auch ich nichts von dem kleinen Besäufnis. Wie das sein konnte, war mir ein Rätsel. Wahrscheinlich wurden aber gerade alle Piloten des Stützpunkts wieder nüchtern.
»Hast du schon eine Maschine bekommen?«, fragte Schnee.
»Ja.«
»Dann los!«
Galis’ Worte von den zwei Minuten drängten sich von selbst in mein Bewusstsein. Ich schoss los. Schnee packte mich am Arm und zog mich, sich tadellos in der Dunkelheit orientierend, hinter sich her. Mit dem Fuß stieß er die Tür auf.
Durch den Gang rannten Leute. Manche in Uniform, manche in Zivil, manche nur in Unterwäsche. Hauptsächlich junge Männer, aber auch eine Frau entdeckte ich. Sie blieb kurz neben mir stehen und holte Luft … Oh, oh, sie war nicht vom Laufen so atemlos und gerötet.
»Du bist neu hier? Meine Glückwünsche zum ersten Einsatz!«
»Verschieb die Zeremonien auf später!«, fuhr Schnee sie an. Daraufhin tauchten wir in den die Treppe hinunterwogenden Strom ein. Wie viele in die Kaserne zurückgekommen waren, seit ich mich meinen Grübeleien überlassen hatte.
Nachdem ich ein paar Mal geschubst worden war, fing ich ebenfalls an, meine Ellenbogen einzusetzen. Obwohl es nur rund zwanzig Sekunden dauerte, das Gebäude zu verlassen, hatte ich bereits den Eindruck, hoffnungslos zu spät zu meiner Maschine zu kommen. Die Anspannung, die die Leute ergriffen hatte, hing schwer und unangenehm in der Luft, fast wie Schweißgeruch, und zerrte an den Nerven.
»Beweg dich!« Schnee rannte in die Dunkelheit hinein, offenbar in Richtung seines Hangars. Ich blieb stehen und versuchte, mich zu orientieren. Lampen gab es keine, nur durch die Fenster fiel Licht. Der Stützpunkt, der so übersichtlich geplant schien, gewann im Dämmerlicht neue Dimensionen.
»Wo ist deine Delta?« Die Frau von vorhin packte mich am Ellbogen. Sie lächelte und tänzelte auf der Stelle. »He, Neuling?«
»Im Hangar mit den neuen Maschinen …«
»Das ist da drüben!«
Ich raste los. Ich konnte nur hoffen, dass sie sich nicht täuschte.
Wie aus dem Nichts tauchte der Hangar vor mir auf. Als sei er aus der Dunkelheit herausgewachsen.
»Alarm!«, schrie ich.
Die Türen glitten auseinander.
Der richtige!
Zumindest gab es hier drinnen Licht. Die in Reihen wartenden reglosen Deltas schienen genauso aufgelöst wie die Menschen. Vielleicht verlor ich allmählich den Verstand, aber ich bildete mir ein, die Kabine hätte sich geöffnet, noch bevor ich »Gast« ausrief.
Ein Ruck – und die hochziehbare Gangway lieferte mich im Sitz ab. Sofort veränderte sich die Welt, denn ich verschmolz mit meiner Delta.
Der Raum loderte. Die Deltas schössen eine nach der anderen mit katzenhafter Grazie aus den offenen Türen der Hangars hinaus und stiegen in die Luft auf. Über dem Stützpunkt flammte ein Feld aus Licht. Unser Schutzschirm. Vor jeder startenden Maschine öffnete sich kurz ein Durchlass im Schirm. Ich zählte siebenundvierzig Deltas, genauer gesagt, ich zählte sie nicht, sondern wusste ihre Zahl einfach, kaum dass ich mich danach gefragt hatte.
»Pjotr?«
»Schnee?«
»Wir haben eine Direktverbindung. Folge mir!«
Eine der Deltas schaukelte in der Luft und wartete auf mich. Ihre Farbe war irgendwie anders. Auf diese Weise soufflierten mir die Rezeptoren der Maschine, wo Schnee war.
»Pjotr, du liegst gut in der Zeit.«
Das war Galis!
»Ich warte auf den Auftrag.«
Eine Pause.
»Folge Schnee. Und du … ich wollte dich heute eigentlich nicht rauslassen … Also bleib in deiner Zone und flieg da Patrouille. Und wage es ja nicht, die Grenze zu überqueren!«
»Zu Befehl!«, stieß Schnee hervor. Und sofort, ohne jeden Übergang, rief er: »Pjotr, du hast Glück. Wenn der Hauptmann uns rausschickt, sieht die Sache ernst aus. Bleib hinter mir!«
Seine Delta schoss in den Himmel hinauf. Ich streckte mich nach ihm aus und spürte, wie die Welt sich in Bewegung setzte, die Erde nach unten fiel und die Mauern des Hangars flirrten. An der Tür blieb die Maschine kurz in der Luft hängen, als wolle sie vor den zurückbleibenden Deltas angeben. Vielleicht stimmte das ja sogar.
Der Himmel. Der unendliche Himmel.
Mit einem Mal begriff ich, wie sehr ich mich nach ihm gesehnt hatte!
Die kurze Landephase mit der Fähre hatte das Gefühl während eines Flugs einfach nicht ersetzen können. Das war lediglich ein Schlingern auf dem Kurs gewesen, mehr nicht. Und ein Flug als Passagier – das ist überhaupt etwas ganz anderes.
Wie sehr ich fliegen wollte! Den Steuerknüppel spüren … Gut, in Ordnung, hier gab es keinen Steuerknüppel. Aber ich wollte die Maschine selbst spüren, die Kraft der Triebwerke, das Heulen der zerrissenen Luft. Die Freiheit des Manövers genießen. Die Verschmelzung mit der Delta ließ sich in keiner Weise mit dem Gefühl vergleichen, das ich im Schiff der Geometer empfunden hatte. Dort hatte ich die Rolle des Zuschauers eingenommen, vielleicht auch die des Kommandanten. Jetzt fühlte ich mich eher wie ein Reiter, der ein Kriegspferd sattelte, das zu lange im Stall gestanden hatte. Selbst wenn das Pferd zugeritten war und unser beider Wünsche weitgehend übereinstimmten – loszustürmen, sich in die wahnsinnige Schlacht zu stürzen –, blieb es trotzdem so, dass es für jede Bewegung nötig war, zuvor den anderen Willen – einen gehorsamen, wenn auch eigensinnigen Willen – zu bezwingen.
»Bleib nicht zurück, Pjotr.«
Wir flogen über die Stadt, in der das Leben in Sekundenschnelle erlosch. Die Lichter gingen aus, die Menschen flüchteten von den Straßen. Ich brauchte mich nur etwas anzustrengen, und schon konnte ich jede Szene in der Nähe klar und deutlich erkennen. Das Stadion mit der Zuschauermenge, die in unterirdische Bunker strömte. Die Mannschaften rannten jeweils in ihre Katakomben … Gute Güte, das war der gleiche idiotische Wettkampf im Figurenbilden, den ich am Morgen im Fernsehen gesehen hatte! Über den Häusern spannten sich Energieschirme. Die Stadt schien sich auf eine Bombardierung vorzubereiten. Vielleicht tarnte sie sich aber auch nur. Durch die Straßen hasteten Menschen, die Tische von Straßencafes wurden umgerissen. Eine ältere Dame packte sich ein paar fliehende Kinder und zog sie mit sich durch eine Tür, unter einen aufflammenden Schutzschild.
»Wir sind dicht an der Front«, sagte Schnee sachlich. »Der Ausstoß der Mutagene erreicht die Stadt in maximal fünfzehn bis zwanzig Minuten. Wenn du es nicht schaffst, dich vor dem Zeug in Sicherheit zu bringen, wirst du selber ein Grüner … Die Maschinen der Zivilverteidigung treffen erst in einer halben Stunde ein. Sie sind jenseits der Berge stationiert, dort ist es ungefährlicher.«
Die Stadt verschwand, wir flogen in einem Bogen zu dem Schlammmeer. Ich ließ den Blick darüberschweifen. »Schade …«, bemerkte ich.
»Was meinst du, Pjotr?«
»Schade, dass ich nicht in der Stadt gewesen bin.«
»He! Also mit so einer Einstellung …«
»Entschuldige.«
Ich sagte kein Wort mehr. Wir näherten uns der Grenze.
Karten im herkömmlichen Sinne gab es nicht. Aber wozu hätte ich auch eine Karte gebraucht? Mithilfe der Delta sah ich alles im Umkreis von Hunderten von Kilometern. Die Maschine selbst identifizierte die nötigen Objekte, beispielsweise die Frontlinie, eine lodernde blaue Linie, die sich am sumpfigen Schlamm entlangzog.
»Unsere Zone.«
Schnees Delta schaukelte kurz und hing dann reglos in der Luft. Ich veranlasste meine, das Manöver zu kopieren, wobei ich sowohl meinen Bewegungsdrang als auch den der Maschine bezwingen musste.
»Unser Auftrag lautet, den Feind nicht über die Grenzlinie zu lassen«, informierte mich Schnee. »Wenn sie sie überschreiten – feuer, was das Zeug hält.«
»Klar. Und wenn sie es nicht tun?«
»Dann beiß die Zähne zusammen«, antwortete Schnee nach kurzem Zögern.
Außer uns war niemand hier, wir flogen in einer Höhe von etwa zwei Kilometern. Die übrigen Maschinen waren weit weg und sicherten ihre Grenzabschnitte.
»Wie mir das alles zum Hals raushängt …«, flüsterte Schnee. »Ich bring’s nicht fertig, von hier wegzugehen … das käme mir wie Verrat vor. Es weiter auszuhalten, aber auch nicht …«
Ich brachte die Delta vorsichtig etwas nach unten. Über dem Sumpf hängend, starrte ich in den braunen Matsch. Schnee hatte mein Manöver schweigend beobachtet.
Der Schlamm wimmelte von Leben. Er bedeckte nicht nur die Oberfläche, sondern reichte tief hinunter, Dutzende, Hunderte von Metern, und klammerte sich unten am Grund fest. In dem Geflecht von Fäden und Stricken krochen allerlei Schatten herum. Winzige orangefarbene Krebse, die von der über ihnen schwebenden Maschine in Panik versetzt worden waren, wuselten über die Oberfläche und tauchten in den Matsch. Es wimmelten Klumpen von Würmern, farblose, als seien sie aus Höhlen herausgekrochen. Transparente, geleeartige flache und schlüpfrige Wesen schlängelten sich durch den Dreck.
»Wunderschön, nicht wahr?«, fragte Schnee ironisch.
»Ja«, gab ich zu. In dem Wirrwarr fremden Lebens lag tatsächlich eine eigene Schönheit – eine ekelhafte, aber faszinierende Schönheit, etwa wie Kieferklauen oder Kiefertaster bei Spinnen, Tentakeln bei Quallen und Facettenaugen bei Insekten.
»Die Grünen fressen dieses Gewürm«, teilte mir Schnee mit. »Diese Kröte im Gefängnis würde beispielsweise mit allergrößtem Appetit eine Handvoll von diesen Würmern verputzen. Du kannst ja ein paar sammeln und sie ihr mitbringen.«
Er lachte. Ich zog die Delta wieder nach oben.
»Glaub nicht, dass ich immer so zynisch bin«, sagte Schnee. »Aber das alles … das gehört in ein Naturschutzgebiet. Aber das ist doch nichts für Menschen. Wenn die Grünen keine Menschen sein wollen, sollen sie andere wenigstens nicht daran hindern. Oder nicht?«
Die geleeartigen Viecher fielen mir wieder ein. Das Gewusel der Würmer.
Früher hätte man hier wahrscheinlich herrliche Bootstouren machen können. Angeln, im glasklaren Wasser schwimmen, seine Freundin bewundern, die sich sonnte …
»Stimmt.«
»Du hast mir von Anfang an gefallen«, gestand Schnee mit überraschender Wärme. »Ehrlich. Entschuldige, dass ich dich verdächtigt habe …«
»Vergiss es.«
»Nein, es tut mir wirklich leid … Da kommen sie, Pjotr!«
In seiner Stimme lag ein solcher Ekel, als habe Schnee selbst gerade eben eine Handvoll Würmer gegessen.
Vier Maschinen der Grünen flogen – auf ihrer Seite der Grenze – den blauen Streifen ab. Sie waren doppelt so groß wie unsere, aber gröber und massiver.
Ich hatte sie ja schon im Fernsehen gesehen, entweder in dem Dokumentarfilm oder in den Rekonstruktionen, und meiner Ansicht nach entsprachen die echten Maschinen ihnen absolut. Im Moment betrachtete ich sie allerdings nicht mit meinem Menschenblick.
Sie hatten mehr von einem tierischen Organismus als von einer Maschine. Runde, nach Bewegung gierende pfeilförmige Körper. Ein voluminöser Bauch, wie bei einem Biertrinker. Die auf elastischen Aufhängungen sitzenden Triebwerke standen vom Körper ab. Ein amorpher Auswuchs bildete das Cockpit. Und jede Maschine zog einen Schweif aus schäumender Flüssigkeit hinter sich her.
»Sie säen«, informierte mich Schnee knapp.
Die Maschinenkörper vibrierten deutlich, während sie die feine Suspension ausstießen. Der Wind wehte in Richtung Stadt, ergriff die Suspension geradezu spielerisch und trieb sie über den blauen Streifen.
»Schnee …«
»Das ist in Ordnung. Verdammt, ich meine natürlich, das ist nicht in Ordnung … Aber das Wetter hat keinen Einfluss auf den Grenzverlauf. Das wurde so vereinbart.«
Er versuchte verzweifelt, seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen und sich als erfahrener, erprobter Flieger darzustellen, der einem Neuling den Kriegsalltag vorstellt.
»Wir brauchen zwei Tage, um den Mist auszubrennen«, sagte Schnee.
Immer mehr von der Suspension rieselte zu Boden. Als die Maschinen der Grünen noch höher stiegen, war mir klar, dass sie absichtlich so dicht an uns vorbeiflogen.
»Die machen sich über uns lustig«, meinte auch Schnee.
»Können wir denn nichts dagegen tun?«, fragte ich. Das war ja wie während der Ausbildung, als man uns erklärt hatte, warum wir die amerikanischen Aufklärungsflieger, die die russische Grenze verletzten, unbedingt in Ruhe lassen müssen.
Schnee erwiderte kein Wort. »Mein Navigationssystem spinnt«, sagte er plötzlich. »Sind die noch auf ihrer Seite der Grenze, Pjotr?«
Ich schluckte erst einmal, bevor ich antwortete. Das hatte man mir auch während der Ausbildung beigebracht. »Schnee, ich habe die Frage nicht verstanden. Und ich verstehe nicht viel von Navigationssystemen.«
Schnee schnaubte. »Also meiner Meinung haben sie die Grenze überflogen.«
»Nach der Rückkehr wird man deine Maschine überprüfen«, erinnerte ich ihn.
»Manchmal passiert es, dass man nach einem Einsatz nicht nach Hause zurückkehrt. Manchmal stürzt man ab … manchmal hat man aber Glück und landet in Ufernähe.«
Alles klar. Du machst mir nichts vor, Flieger vom Planeten der Regenbogen-Brücken.
Doch ich wäre der Letzte, der dir daraus einen Vorwurf macht.
»Ich warte auf deine Befehle«, sagte ich.
»Gib mir Deckung.«
Seine Delta jagte zu der blauen Linie. Ohne zu zögern, überflog er die nicht markierte Grenze. Gleich darauf flammte ein Feuerstreifen am Himmel auf. Schnee schoss nicht direkt auf die feindlichen Maschinen, sondern nur in ihre Richtung, um sie von der Grenze abzudrängen. Ich wartete, und meine Delta wartete ebenfalls, spannte sich vor dem Sprung an …
Die vier feindlichen Maschinen führten ihr Manöver mit einer Behändigkeit aus, die ich angesichts ihrer Größe niemals für möglich gehalten hätte. Schon im nächsten Moment hielten sie auf Schnee zu. Noch schössen sie nicht, aber allein in ihrer Bewegung lag eine offene Drohung. Aber war das erstaunlich? Schließlich hatte Schnee die Grenze überflogen. Dass die Grünen davor auf einen günstigen Wind gewartet hatten, das zählte natürlich nicht.
»Sie greifen an«, teilte Schnee ausgesprochen sachlich mit.
Daraufhin ergriff ich die Initiative.
Wo die Maschine aufhörte, wo ich anfing – ich hätte es nicht mehr zu sagen vermocht. Ich streckte meine Hände aus, und die Delta verlängerte sie.
Das, was jetzt meine Finger waren, schloss sich um einen der fliegenden Pfeile der Grünen.
Es tat weh. Die Maschine der Grünen war durchaus keine wehrlose Beute, dieses Tier aus Fleisch und Metall, das seinen grünhäutigen Piloten beförderte. Als hätte ich einen Igel gepackt … Nein, ein harmloser Igel könnte nie so piken … Als hätte ich eine Handvoll Kohle ergriffen. Ich schrie auf, als ich die Feuerbarriere zusammenpresste, welche die fremde Maschine umgab. Was für ein schreckliches Gefühl. So musste sich ein Mensch fühlen, der einen anderen erwürgt hatte.
Trotzdem wusste ich, dass ich das Richtige tat.
»Danke, Pjotr …«
Schnees Delta war bereits ziemlich hoch gestiegen. Sie glitt dahin, verschmolz mit der Stratosphäre und ließ spielerisch die drei anderen Maschinen hinter sich. Seltsamerweise ignorierten die Grünen mich völlig.
Weil ich diese unsichtbare Grenze noch nicht überflogen hatte?
Die zerquetschten Einzelteile der gegnerischen Maschine segelten nach unten. Ich beobachtete, wie die Kugel des Cockpits in die Tiefe purzelte und sich im Fall aufblähte. Der Pilot schien sogar noch unverletzt zu sein. Aus dem aufgeplatzten Bauch der Maschine spritzte eine dunkle Flüssigkeit. Sie wurde jedoch nicht mehr fröhlich vom Wind davongetragen – jetzt waren es nur noch ein paar Tonnen Gift.
Ich stieg auf, gewann rasant an Höhe. Schnee war irgendwo über die Zwanzigkilometermarke geflogen, ohne die drei cyborgartigen Wesen abgeschüttelt zu haben.
Denen reichte es nicht, ihn zu verfolgen, nein, sie mussten Schnee offen angreifen. In einer keilförmigen Formation schickten sie ihre Geschosse der Delta nach. Sobald sich dieser funkelnde Keil über Schnee schob, brüllte er los.
»Was ist los?«, rief ich. Da wir mit derselben Geschwindigkeit flogen, würde ich es nie schaffen, mich in den Kampf einzumischen.
»Gleich …«
Einen Augenblick hing die Delta reglos in der Luft, dann ging sie in den Sturzflug. Die pfeilförmigen Maschinen hielten inne, so dass ich sie endlich einholen konnte.
Feuer! Eine Windbö, ein Strudel, ein alles versengender Regen, der hämmernd ins Firmament hochschoss! Ich holte aus dem unbekannten Innern meiner Maschine heraus, was aus ihr herauszuholen war, das spürte ich.
Gut!
»Schnee! Pjotr! Kommt sofort in unser Gebiet zurück!«
Das war Galis. Ließ er sich doch noch dazu herab, in unsere Auseinandersetzung einzugreifen? Oder hatte er eben erst entdeckt, was wir taten?
Eine der feindlichen Maschinen fing Feuer. Sie zuckte, drehte ab und flog zu ihrem Ufer zurück. Soll sie ruhig abhauen … Die beiden anderen manövrierten, fletschten die Zähne und schleuderten mir ganze Netze von Blitzen entgegen. Meine Delta wurde durchgeschüttelt. Ich spürte den Schmerz und schrie genauso auf wie Schnee gerade eben.
»Halte durch!«
Eine Feuerkugel zuckte über den Himmel, in der die Maschine der Grünen, die ich vor Kurzem noch nicht einmal gekannt hatte, zu Staub zerfiel. Doch auch mich traf ein weiterer Schlag, meine Delta vibrierte und begann abzusacken.
»Da hast du!«
Die Vielfalt der Waffen in der Delta war bemerkenswert. Ich spürte, wie aus den Flügeln Raketen losjagten – die ich als einen Teil von mir selbst wahrnahm, als einen zielstrebigen, gierigen, bissigen Teil. Eine Explosion. Die erste Rakete hatte ich voreilig abgeschossen, die Maschine der Grünen zitterte nur. Die zweite erwischte den Feind jedoch am Schwanz. Anscheinend geriet der Grüne in Panik. Aus dem Bauch der Maschine ergoss sich Matsch: Der Pilot warf seine Fracht ab. Die Maschine stieg weiter auf – und geriet unter den Beschuss von Schnee, wurde vom Dolch der reinen weißen Flamme aufgespießt. Eine fette schwarze Wolke war alles, was von ihr blieb.
»Denen haben wir’s gegeben, Pjotr! Und einer geht auf dein Konto! Wie fühlst du dich?«
»Ich halte durch!«
Das war allerdings leichter gesagt als getan. Die Delta führte sich auf wie ein schwer verletztes Tier. Und ihr ganzer Schmerz, die Anstrengung, mit der sie sich in der Luft hielt, teilte sich auch mir mit.
»Schnee! Pjotr! Seid ihr jetzt fertig?« Galis’ Stimme klang eiskalt.
»Es ist alles in Ordnung, Hauptmann«, antwortete Schnee rasch. »Die Grünen hatten die Grenze überflogen. Aber die Grenzverletzer sind vernichtet.«
»Der Satellit liefert mir ein etwas anderes Bild.«
»Sie sollten sich den Kampf längst mal aus einer Delta ansehen, Hauptmann«, konterte Schnee.
Es folgte eine Pause.
»Schlauberger. Kannst du aus deiner Delta denn sehen, was unter euch ist?«
Ich spähte ebenfalls nach unten. Das war nicht ganz einfach, das Blickfeld war eng und klein.
Es wimmelte nur so von fremden Maschinen. Wo kamen die denn auf einmal alle her? Aus dem Wasser? Zwei Dutzend in die Luft hochschießender Pfeile, die nicht durch Fracht beschwert waren, sondern rasch und zielsicher auf uns zukamen.
»Die haben auf uns gewartet«, presste Schnee heraus.
»Natürlich«, bestätigte Galis. »Schließlich haben bei einigen Piloten die Navigationssysteme einfach schon zu oft versagt! Macht, dass ihr da wegkommt! Und zwar fix!«
»Hauptmann, wir brauchen Hilfe!«
»Die könnt ihr euch abschminken! Ihr seid hundert Kilometer tief in fremdes Gebiet vorgedrungen! Kehrt sofort um! Ich werde euch erst kurz vor der Stadt Hilfe schicken.«
»Galis.« Schnee klang überraschend kleinlaut. Diesmal verlangte er nichts – sondern bat. »Pjotr schafft das nicht. Seine Maschine hat’s erwischt, mir ist absolut schleierhaft, wie er überhaupt noch fliegen kann.«
»Wir sind hier im Krieg. Und ihr habt gegen die bestehenden Regeln verstoßen …«
»Der Krieg kennt keine Regeln«, mischte ich mich ein.
»Willst du, dass unsere Kinder bei lebendigem Leibe verbrennen?«, fragte Galis. »Macht, dass ihr da wegkommt! Kämpft euch frei und kehrt zurück!«
»Hauptmann …«
»Nein. Ihr kriegt keine schweren Waffen.«
Mit aller Kraft versuchte ich, die Delta hochzuziehen. Oder wenigstens, einen Zahn zuzulegen. Aber die Maschine hatte bereits keine Kraft mehr. Und von unten stieg in einem dichten Netz der Feind auf …
»Hau ab, Schnee!«, bat ich. »Du siehst ja selbst … Ich geb dir Deckung.«
Wie dumm! Wie unglaublich dumm von mir! Sich auf den Weg zu machen, um eine mächtige Hyperzivilisation um Hilfe zu bitten, weil sie allein in der Lage ist, eine andere Hyper-Zivilisation aufzuhalten. Sich dann in einen belanglosen lokalen Konflikt zu verstricken. Und beim ersten Einsatz abzukratzen, bei dem Versuch, die einen Schwachköpfe gegen den anderen zu verteidigen.
»Schnee, hau ab …«
»Wie mich das alles ankotzt!«, seufzte er. Leise, sogar gelangweilt. »Du kannst mich mal am Arsch lecken, Galis! Das wollte ich dir schon längst mal sagen! Zerfleischt euch doch gegenseitig, solange ihr wollt! Ihr seid auch nicht besser als diese Grünen!«
»Bist du jetzt fertig?«
»Gleich werde ich fertig sein«, erwiderte Schnee mit alberner Fröhlichkeit. »He, Pjotr, leb wohl! Du bist ein anständiger Kerl … wir sehen uns in einer anderen Welt wieder …«
»Das verbiete ich dir!«, schrie Galis. »Schnee, du kennst die Regeln …«
»Geh doch zum …«
Der Wunsch war kurz, aber umfassend. Im nächsten Moment tauchte Schnees Delta unter meiner beschädigten Maschine hinweg, wackelte mit den Flügeln, hielt inne …
Die Welt erschauderte.
Ein leiser Engel erbarmte sich …
Die Geräusche erstarben, die Farben verblassten.
Unter Schnees Delta strömte ein gespenstisches Licht hervor, das den jauchigen Sumpf und die aufsteigenden Grünen überzog. Die gierigen Silhouetten der gegnerischen Maschinen wurden trüb, schrumpften in sich zusammen und verwandelten sich in diffuse Schatten.
»Wie gefällt euch die Flachheit?«, fragte Schnee überdeutlich.
Was es damit auf sich hatte, wusste ich nicht. In keinem der Lehrfilme über das Konklave war uns etwas gezeigt worden, das dieser Waffe auch nur ansatzweise gleichkam.
Mit einem Mal schwebten nur noch flache zweidimensionale Silhouetten in der Luft, die sogleich schmolzen. Der Sumpf sackte im Nu ab, klares Wasser brodelte an den Stellen hoch, an denen gerade eben noch Würmer gekrochen waren und sich Schlamm erstreckt hatte. Unter uns breitete sich ein riesiger, bis zum Horizont reichender Kreis sauberen Wassers aus.
Was hatte Schnee getan? Hatte er aus der uns umgebenden Welt eine Dimension herausgerissen?
»Ich habe dich gewarnt«, sagte Galis.
Schnees Delta seufzte schwer – und ging in einer Feuerkugel auf.
»Hauptmann! Hauptmann Galis!«, schrie ich. »Schnees Maschine … Hauptmann …«
»Ich habe die Maschine zerstört. Pjotr, komm sofort zum Stützpunkt zurück. Solltest du den Befehl verweigern, wäre ich gezwungen, auch dich zu vernichten.«
Ich keuchte. Der gepeinigte Stahlkörper jammerte.
»Du kannst mich mal am …« Daraufhin machte ich Galis mit der russischen Variante dieser Tätigkeit bekannt. Ich riss die Delta nach unten, auf die abstürzenden Teile zu.
Nein.
Nichts.
Diesmal hatte es Schnee vom Planeten der Regenbogen-Brücken nicht ans Ufer geschafft.
Galis schwieg. Mir war klar, dass ich Schnees Schicksal schon im nächsten Moment teilen konnte – und trotzdem sauste ich immer weiter aufs Wasser zu. Auf das saubere, kristallklare Wasser, in dem strudelnd zweidimensionale Schatten zu Boden sanken.
Es ruckte einmal – und die Delta gab mich frei. Das Cockpit öffnete sich, ich kletterte aus dem Sitz, hielt in der Bewegung inne und sog die kalte Meeresluft ein. Die Verkleidung der Maschine war außen heiß und völlig aufgekratzt, als sei sie abgeschmirgelt worden. Es roch nach Salz. Es roch nach einer sauberen, sterilen und gemütlichen Welt.
»Du Schwein!«, schrie ich. »Galis, du Schwein! Dein Planet ist ein Scheißhaus! Von mir aus könnt ihr in Scheiße untergehen!«
Durch die Dunkelheit segelten die Fetzen von Schnees Delta, fielen in die Tiefe. Von den Grünen war keine Spur zu sehen.
»Er war der einzige Normale hier, denn er ist nicht von eurer beschissenen Welt!«
Es gab niemanden, der mein Toben hätte hören können. Oder der meine Tränen hätte sehen können. Meine Delta hing direkt über dem Wasser und zitterte kraftlos.
»Ihr Dreckskerle!«, flüsterte ich.
Aber warum? Warum konnte ich nicht tun, was Schnee getan hatte? Diese ganze Welt verbrennen, mit der Flachheit überziehen, sie zerstören?
Und warum gab es keinen Ort, an den ich zurückkehren konnte – außer dem Stützpunkt?
Meine Delta hielt bis zum Ende durch. Ich fühlte mich, als würde ich einen Sterbenden zwingen zu rennen oder auf ein zuschanden gerittenes Pferd einpeitschen.
Einen Trost hatte ich allerdings: Auch ich spürte die Knute.
Direkt am Ufer, wohin Schnees Schlag nicht mehr gereicht hatte, wich das saubere Wasser wieder der Dreckbrühe. Die Delta gehorchte meinem Willen und ging abermals tiefer, worauf sich Feuerpeitschen über den Sumpf hermachten. Die Heimstatt der fremden Biosphäre ging in Flammen auf. Die trockenen Algen rauchten kurz, das Wasser kochte, die kleinen orangefarbenen Krebse brutzelten in ihren Panzern. Obwohl ich wusste, wie dumm das war, musste ich das tun. Ich ließ den verbrannten Streifen hinter mir und kehrte mit der Delta zum Stützpunkt zurück.
Das war nicht mein Krieg.
Das war nicht mein Planet.
Schert euch doch alle zum Teufel!
Über dem Stützpunkt loderte immer noch der Schutzschirm. Erwartungsvoll näherte ich mich mit der Maschine. Man hatte mir nicht erklärt, wie man das Kraftfeld ausschaltete. Vielleicht ließ es sich nur von innen regeln.
Dann würde ich halt verbrennen.
Das Kraftfeld öffnete sich. Die Delta schlüpfte durch den Spalt, blieb kurz in der Luft stehen und setzte dann schwerfällig auf dem Boden auf. Die Kabine öffnete sich von selbst, ohne meinen Befehl abzuwarten.
Die Maschine starb.
Das wurde mir klar, kaum dass ich ausgestiegen war.
Die Verkleidung blätterte in Flatschen ab wie die Haut von jemandem, der unter einem Ekzem leidet. Die Delta stieß ein tiefes, monotones Heulen aus. Die Gangway ruckte ein paar Mal nach hinten und wollte sich in die Kabine zurückverwandeln; irgendwann gab sie den hoffnungslosen Versuch auf und hing schlaff herunter.
»Leb wohl«, sagte ich zu meiner Maschine. »Aber am Ende … am Ende haben wir sie doch besiegt, oder?«
Es gab nichts, was ich hier noch hätte tun können. Und es gab nichts, weshalb ich hätte in die Kaserne zurückgehen sollen. Ich blieb auf dem Landestreifen stehen und sah zu, wie meine Maschine starb. Vielleicht wartete ich noch auf etwas … auf eine militärische Patrouille, Galis mit einem Blaster in der Hand oder Invasionstruppen der Grünen, die über diesen Vorfall außer sich waren. Aber es tauchte niemand auf.
Vielleicht war es besser so.
Eine Sache musste ich allerdings noch erledigen. Das begriff ich, sobald ich seitlich, neben dem kleinen Gefängnis, den schwebenden Kahn erblickte.
Es waren alles Mistviecher. Im Großen und Ganzen jedenfalls. Aber im Einzelfall hatte unsereins andere Maßstäbe.
Ich ging zum Gefängnis. Ich trat nach dem Kahn, der daraufhin schwankte. Wahrscheinlich wusste die grünhäutige Fliegerin, wie man damit umging.
Jetzt brauchte ich nur noch die Tür zu öffnen.
»Alarm«, sagte ich.
Nichts passierte.
»Auf. Eingang. Entriegelung. Einlass.«
Ich ratterte alles runter, was mir einfiel, aber die Tür dachte gar nicht daran aufzugehen.
»Die Mühe kannst du dir sparen. Sie reagiert nur auf mentale Befehle.«
Wie lautlos Galis sich anzuschleichen vermochte …
Ich drehte mich um. Der Hauptmann trug keine Waffe. Er stand neben dem Schiff und betrachtete mich mit unverhohlener Neugier.
»Und die Barriere unten kann nur ich aufheben«, fuhr Galis fort. »Also nützen deine Versuche rein gar nichts. Was hattest du denn vor? Sie umzubringen?«
»Sie laufen zu lassen.«
»Ach ja?« Er zog die Brauen hoch.
»Ja. Wozu … Es hat keinen Sinn, Einzelne so zu quälen …«
Die Worte kamen mir schwer über die Lippen.
»Und was ist mit Schnee?«
»Den haben nicht die umgebracht.«
»Ach nein? Ich musste das tun, Pjotr. Es ist mir gar nichts anderes übrig geblieben.«
»Ich habe dir ja schon gesagt, was du mich kannst … mit deiner ganzen Demagogie …«
»Ehrlich gesagt, habe ich nicht verstanden, was du damit sagen wolltest.« Galis zuckte mit den Schultern. »Ich bin kein Anhänger der gleichgeschlechtlichen Liebe, insofern ist dein Wunsch … sehr seltsam.«
Unwillkürlich brach ich in Lachen aus. »Schade, dass ich nicht weiß, wie ich dich beleidigen kann.«
»Dann sollte das eine Beleidigung sein?« Galis wurde etwas lebhafter. »Gut, geh ruhig davon aus, dass ich beleidigt bin, wenn du dich dadurch besser fühlst. Und jetzt kehrst du in die Kaserne zurück. Der Alarm ist aufgehoben. Du hast Glück gehabt, Pjotr.«
Wie einfach alles war. Sobald der Einsatz vorüber ist, kann man sich dem Kommandanten gegenüber Frechheiten herausnehmen und den Befehl verweigern …
Ich rührte mich nicht von der Stelle.
»Was soll das? Willst du diese Frau allen Ernstes befreien?«, fragte Galis verwundert. »Ich wollte sie jetzt sowieso rausholen. Deshalb wartet hier ja das Schiff. Ich trage sie jetzt gleich aus der Zelle, packe sie in den Kahn und gebe den Kurs zu den Grünen ein. Sie ist tot, Pjotr. Die Grünen sterben auf eine andere Weise als wir. Die Kräfte verlassen sie – und sie schalten sich dann einfach ab.«
Alles, was ich sagen wollte, blieb mir im Hals stecken. Wie sinnlos das doch alles war! Sie waren aus dem gleichen Holz geschnitzt wie die Geometer. Von sich selbst überzeugt – und zwar hundertprozentig.
Ich drehte mich um und ging zum Zaun. Ich würde jetzt einfach nach draußen klettern und mich in die Stadt begeben. Dort würde ich diese stellaren Händler ausfindig machen …
»So einfach kommt man von uns nicht weg, Pjotr.«
In Galis’ Worten schwang eine Drohung mit. Ich wirbelte abrupt herum, der Cualcua am Grund meines Bewusstseins schrie auf: Gefahr! Kampftransformation?
Galis näherte sich mir mit sicherem Schritt.
»Du schuldest uns nämlich noch etwas, Pjotr. Deinetwegen – ja, ganz genau, deinetwegen – ist ein guter Pilot gestorben. Du wirst jetzt seinen Sektor übernehmen. Du kommst erst von hier weg, wenn ich es dir erlaube. Oder … mit den Füßen zuerst.«
»Versuch nicht, mich aufzuhalten«, flüsterte ich. »Ich bitte dich, Galis, versuch es nicht …«
»Du Grünschnabel.« Galis wirkte nicht einmal wütend. »Seit dreihundert Jahren habe ich den Befehl für diesen Stützpunkt …«
Wie???
»Und noch nie ist mir eine Rotznase …«
Seine Worte brachten mich völlig aus dem Konzept. Er trat dicht vor mich und gab mir – ohne jedoch auszuholen – eine leichte Ohrfeige. »Ab in die Kaserne! Du stehst unter Arrest, Pilot!«
Meine Wange brannte. Ich sah Galis in die Augen. »Das hättest du nicht tun sollen, Hauptmann …«
Die Krallen rissen meine Haut auf, als ich die Hand hob. Den Grad der Beleidigung abzuschätzen und danach den Gegenschlag zu bemessen, das ist ein Vergnügen ausschließlich für Satte und Glückliche.
»Und steh ja nicht auf«, fügte ich noch hinzu.
Der Hauptmann lag am Boden und presste die Hand gegen das blutige Gesicht. Fassungslos sah er mich an.
»Du bist ja ein Metamorph, Junge …« Er lachte. »Bei diesen Spielen ist man besser zu zweit …«
Gefahr!, schrie der Cualcua.
Galis’ Körper zerfloss, wurde weich wie Wachs. Die Haut überzog sich mit Hornschuppen, die Augen verwandelten sich in schmale Schlitze, der Hals schrumpfte ein, die Haare fielen aus, und beinerne Stachel traten auf dem glänzenden Schädel zutage. Die Arme wuchsen, die Muskeln schwollen an, die Beine verkürzten sich. Vor mir stand ein monsterhaftes Wesen, ein Orang-Utan, der sich irgendwann in Richtung Krokodil entwickelt hatte …
»Und?«, zischte Galis. »Du bist zu forsch, Pilot. Solche wie dich brauchen wir nicht. Aber ich gebe dir noch eine Chance …«
Ich glaube, dann übernahm der Cualcua das Steuer. Mein Symbiont war in Panik geraten, in ganz ungekünstelte Panik. Aus meinen Händen schossen Protoplasmafäden.
Galis fegte die Tentakeln des Cualcua mit einer einzigen Bewegung seiner langen Arme beiseite. Ohne weiter Zeit fürs Reden zu verschwenden, stürzte er sich auf mich.
Er war schnell. Verdammt schnell. Sein Körper hatte selbst unter dem Hornpanzer nichts von seiner Geschmeidigkeit eingebüßt. Ich fiel hin, Galis’ Hände schlössen sich um meinen Hals.
»Für dich ist hier kein Platz!«, sagte Galis mit einer dumpfen, nicht-menschlichen Stimme.
Mich zu erwürgen stellte sich als relativ schwierig heraus. Der Cualcua kämpfte so gut er konnte. Genauer gesagt: so gut, wie es ihm mein Körper erlaubte. Mein Hals mutierte zu einem Holzklotz, zu einem festen Block. Trotzdem pressten sich Galis’ Finger weiter um ihn.
»Stirb!«, sagte Galis knapp und ohne Bosheit.
Was kannst du einem Wesen entgegensetzen, das über haargenau die gleichen Möglichkeiten verfügt wie du? Und sie weitaus besser einzusetzen vermag?
Kraft? Geschicklichkeit? Präzision?
Mit den Armen, die Galis nicht unter seine Kontrolle gebracht hatte, schlug ich auf seinen Schädel ein. Stahl hätte sich verbogen. Aber der Knochen hielt stand. Ich ließ eine Reihe von Schlägen auf die Stellen prasseln, an denen Menschen verletzlich sind.
Es führte zu nichts.
Ich fing schon an zu keuchen. Der Cualcua hob die Deckung der Atemwege auf und versuchte nur noch, die Wirbelsäule zu schützen.
Galis’ verzerrtes Gesicht schwebte über mir. Aus dem offenen Mund tropfte Speichel. Er erinnerte jetzt an ein Monster … an diesen zum Inbegriff gewordenen Alien aus dem alten und verbotenen Film … und diese Kreatur war extrem stark …
Unternimm was!, flehte ich. Cualcua, unternimm was!
Daraufhin ergriffen mich unerträgliche Schmerzen. Dabei hatte der Cualcua zunächst lediglich meine Mundhöhle verändert. Trotzdem fraß sich der Schmerz durch meinen ganzen Körper. Ein Mundvoll heißen Wassers – das ist nicht gerade läppisch, oder? Aber was ist mit einem Mundvoll Säure?
Ich spuckte aus, spie Galis den verdammten Cocktail aus dem eigenen zersetzten Gewebe und Königswasser ins Gesicht.
Jammernd sprang Galis auf. Seine Visage war nun eine einzige Wunde. Die versengten Schuppen rauchten, unter ihnen sickerte Blut hervor. Normales Menschenblut.
Wahrscheinlich gibt es in der Natur keine Wesen, die Säure spucken. Die menschliche Phantasie erwies sich da als der Realität überlegen. Und Galis hatte nichts dergleichen erwartet.
Ich wollte schreien, wollte ihm sagen: »Stirb, du Drecksack!«, aber mein Mund war nicht mehr in der Lage, Worte hervorzubringen. Ich stieß Galis zu Boden, bog ihm den Kopf nach hinten und spie in seinen im Schrei geöffneten Mund eine weitere Ladung Säure.
Jetzt konnte er nicht einmal mehr schreien. Wir kämpften schweigend, wobei uns beide das Gift von innen zerfraß.
Ich kann … nicht weitermachen. Dein Körper hält es nicht aus.
Ich schlug Galis’ Kopf auf den Beton. Rhythmisch und unermüdlich, während der Cualcua verzweifelt meine Wunden flickte. Aber auch Galis hielt durch, wurde mit der geschluckten Portion Säure fertig …
Was konnte das Fleisch eines Lebewesens nicht verwinden?
Strahlung? Strom? Mikrowellenstrahlung?
Das nützte alles nichts, denn damit würde ich mich auch selbst umbringen.
Plötzlich wurden wir in Licht getaucht. Die zurückkehrenden Deltas gingen über dem Stützpunkt runter.
Wenn ich ihm den Sauerstoff entzöge … ihn verhungern ließe … ihn zu Tode kitzeln würde … was zum Teufel konnte man mit einem lebenden Organismus sonst noch anstellen?
Ihn austrocknen. Ihn bei lebendigem Leibe fressen. Nein, bloß nicht, dann müsste ich mich mit Verdauungsbeschwerden herumschlagen. Denn was hatte ich meinem kleinen Nachbarn gesagt? Außerirdische organische Stoffe sind giftig …
Galis schaffte es allmählich, sich hochzurappeln, da ich ihn nicht länger am Boden halten konnte. Sein Gesicht verwandelte sich abermals, sein Mund wurde breiter, aus ihm ragten jetzt schiefe Fangzähne heraus, die Augen schützte eine harte, transparente Kruste …
Leute kamen auf uns zugerannt. Die Piloten sprangen aus den gelandeten Deltas, anscheinend besaßen sie keine eigenen Waffen – trotzdem würden sie mich in Stücke reißen, einfach aufgrund der Überzahl.
Galis schaffte es, sich auf mich zu wälzen und mich zu Boden zu pressen. Sein monsterhaftes Maul – mein Gott, er musste den Film über den Alien gesehen haben! – schob sich an mich heran. Ein Realität gewordener Albtraum, der Inbegriff des Todes …
Wenn du das Feuer bezwingen willst, musst du selbst zum Feuer werden. Wenn du den Tod bezwingen willst, musst du selbst zum Tod werden.
Die Meister der Kampfkunst hatten damit zwar etwas anderes im Sinn. Trotzdem war das eine Chance.
Ich machte es Galis nicht nach und verzichtete auf eine Transformation.
Ich versuche es … . seufzte mein Symbiont müde.
Galis’ Maul schnappte zu, und er riss mir ein Stück meines Gesichts heraus. Weh tat das nicht. Danke, Cualcua.
Wahrscheinlich hatten Galis und ich denselben Gedanken gehabt, denn er schluckte den herausgebissenen Teil meines Körpers hinunter. Wenn dein Gegner seinen Körper transformieren kann, dann ist es logisch, seine Masse zu verringern und die eigene zu erhöhen …
Mit verzweifelter Anstrengung schob ich Galis von mir runter und stieß ihn weg. Über meine zerfetzte Wange floss Blut, der Cualcua hatte es nicht geschafft, alle Gefäße zu schützen.
Dennoch lächelte ich. Bei meinem massakrierten Gesicht geriet mir das zu einem Teufelslachen.
Galis erstarrte.
»Ich …« Die Worte gluckerten, erstarben noch in meinem Mund, trotzdem versuchte ich zu sprechen. »G … G … Gift … du Schwachkopf … Hauptmann …«
Er schrie auf, krümmte sich und versuchte, das heruntergeschluckte Fleisch wieder auszuspucken.
Ich stand einfach da und sah zu, wie er starb.
Womit hatte der Cualcua mein Fleisch getränkt, das ich Galis so freundlich angeboten hatte?
Zyankali. Es war die einfachste Lösung.
Schubweise wuchs die Haut in meinem Gesicht nach. Die Blutung war bereits gestoppt. Ich drehte mich zu den heranstürmenden Piloten um und bleckte die Zähne. Sie blieben stehen.
Anscheinend war Hauptmann Galis hier der einzige Metamorph …
Beweg dich nicht! Ich muss unbedingt das Gift neutralisieren. Es sind viele Kapillaren betroffen.
Was für ein seltsames Gefühl … alles zerfließt, und ich bekomme einfach keine Luft mehr. Warum ringe ich nach Atem? Schließlich atme ich doch mit voller Brust ein …
Mit watteweichen Beinen torkelte ich zum Zaun. Hinter mir eilten die Piloten zu dem reglosen Galis.
Aber ich habe dich gerächt, Schnee … dich, der du nicht zu meinem Freund geworden bist …
Ihr habt eure Gesetze, ich meine.
Ich schaffe es nicht!, jammerte der Cualcua. Pjotr, ich schaffe es nicht, das Gift zu neutralisieren!
Ja und? Das war eben der Preis, den ich zahlen musste. Wenn ich fremdes Leben nahm, musste ich auch bereit sein, das eigene zu geben.
Ich humpelte noch immer weiter, obwohl es mir schon schwarz vor den Augen wurde und mein Bewusstsein sich vernebelte. Jedes Kind könnte mich jetzt umhauen, ein leichter Stupser würde genügen – und ich würde nicht mehr aufstehen.
Verzeih mir …
Na so was. Worte wie von einem Menschen.
Die Welt ging in einem weißen Leuchten auf. In meinen Ohren rauschte es. Nein, ich würde es nicht mehr bis zu diesem Zaun schaffen, ich würde hier hinfallen, mitten im Tor …
Pjotr!
Ich verlor das Bewusstsein.
Pjotr!
Pjotr!
Pjotr!
Weshalb wiederholte er ständig meinen Namen?
Wusste der Cualcua etwa nicht, dass man in Ruhe sterben muss. Vor allem jetzt, wo ich nicht mehr unter Atemnot litt und nicht eingeengt war, sondern in warmen Wellen davonzuschwimmen schien und glaubte, alles sei gut …
Nur mein Kopf schmerzte. Es hämmerte in den Schläfen.
Diesen Schmerz kannte ich schon.
Pjotr, komm zu dir! Hörst du mich? Antworte! Lebst du noch? Antworte!
Ob ich lebte? Anzunehmen. Denn selbst wenn es im Jenseits etwas geben sollte, dann bestimmt keinen sturköpfigen Cualcua. Dieser kleine, feige, gleichgültige Gott. Wie lange er sich hinter seiner Gleichgültigkeit verborgen hatte … aber jede Gleichgültigkeit hat ihre Grenzen. Und er brauchte mich nun einmal als wandelnde Unterkunft für seinen Verstand, der nicht in die grausame und riesige Welt hinauskriechen wollte. Trotzdem war es kaum zu glauben, dass er mich gerettet hatte.
Pjotr! Öffne die Augen! Steh auf!
Ich gehorchte. Schließlich würde kaum etwas Gutes dabei herauskommen, wenn der Cualcua mir auch noch bei der Steuerung meines Körpers behilflich wäre. Besser, ich schuf keinen Präzedenzfall.
Die Sonne ging unter.
Was für ein schöner Sonnenuntergang.
Ich lag im Gras, im trockenen, pikenden Herbstgras, das den flachen Hang eines Hügels bedeckte. In der Ferne zog sich ein glutrot und golden gesprenkelter Wald dahin.
Herbst?
»Wo ist der Stützpunkt, Cualcua?«
Ich setzte mich auf und fuhr mir mit der Hand übers Gesicht. Gerade eben hatte da noch eine Wunde geklafft.
Jetzt spürte ich nur noch eingetrocknetes Blut und darunter eine dicke Narbe.
»Die Haut ohne Spuren nachwachsen zu lassen, das wäre wohl zu viel verlangt gewesen?«, fragte ich.
Ich fühlte mich völlig ausgepumpt. Ausgewrungen und vertrocknet, ohne ein einziges Gefühl, eine einzige Emotion in mir. Die grünen Umweltschützer, Schnee, der seinen eigenen Namen nicht leiden konnte, die zusammengequetschte Delta, Hauptmann Galis, der versucht hatte, mich zu fressen – all das war weit, weit weg. Geblieben war nur diese Herbstwelt, ein fast russischer Herbst mit kühler klirrender Luft.
Die Wunde habe nicht ich verschlossen.
»Wer dann?«, fragte ich begriffsstutzig.
Das Tor ist in Funktion getreten. Du bist in eine andere Welt gekommen.
Mit einem Nicken akzeptierte ich seine Worte. Es konnte in der Tat nicht der Planet sein, den ich schon kannte. Nicht, weil ich anstelle des Dschungels ganz gewöhnlichen Wald sah, und auch nicht, weil es sehr still war. Sondern einfach weil jede Welt ihren eigenen Geruch hat. Sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn. Und hier roch es nicht nach Krieg.
»Und wer hat mich gerettet?«
Das Tor. Es hat deinen Organismus entgiftet. Es hat die Verletzungen geheilt. Und es hat alle von mir vorgenommenen Modifikationen rückgängig gemacht.
»Sind wir diesmal auch wieder erfasst worden, Cualcua?«
Ja.
»Wie viel Zeit ist vergangen, Cualcua?«
Wie viel wiegt ein Sonnenuntergang? Wie riecht der Laut der Flöte? Wie klingt die Berührung einer mütterlichen Hand?
»Du bist ja ein Dichter …«
Ich habe dich erfasst, Pjotr. fetzt kann ich mich auch in Bildern ausdrücken.
Ich stand auf und sah mich um.
Wie still es war.
Wie schön.
»Ob hier womöglich überhaupt niemand ist?«, fragte ich mit zarter Hoffnung. Der Cualcua antwortete nicht. Auch gut.
Der Wald, die Felder, ein Fluss, der sich in der Ferne dahinschlängelte. Es dämmerte, die Sonne versank hinterm Horizont, schneller als auf der Erde. Die ersten Sterne ließen sich bereits erkennen, obwohl der Himmel noch nicht ganz dunkel war. Ich war immer noch im Kern.
Trotzdem gefiel es mir hier.
Ich ging den Hang hinunter. Als ich mich kurz umsah, spürte ich das Tor. Warum hatte es so lange nicht funktioniert? Und warum hatte es mich am Ende doch gerettet?
Jemand beobachtete mich, jemand hatte Interesse an mir. Vielleicht war ich nur ein Spielzeug. Aber noch hatte man mich nicht satt und war sogar bereit, mich zu reparieren.
»Entferne die Narbe, Cualcua!«, bat ich.
Ich will das nicht.
»Was?«
Deine Wiederherstellung hat genau diesen Zustand vorgesehen. Das sollte ich nicht ohne gewichtigen Grund verändern.
»Du bist ein Feigling, mein Freund«, flüsterte ich.
Eine Rasse, die keine Furcht kennt, stirbt.
Ich ging zum Fluss. Ganz instinktiv, aus jenem fragmentarischen Wissen heraus, das ich mir aus Büchern zusammengeklaubt hatte. Fluss – Meer – Leben. Jedes Lebewesen zieht es zum Wasser. Und ich musste hier rauskommen, das war meine Pflicht. Schließlich wusste ich noch nicht einmal, was es mit dem Schatten auf sich hatte. Ich musste meinen Großvater finden, Danilow und Mascha. Ich musste zur Erde zurückkehren – und eine Verteidigung für die finden.
Keine geringen Aufgaben für einen Menschen, der knapp dem Tod durch Selbstvergiftung entgangen war.
»Glaubst du, den anderen ist genau das Gleiche passiert wie uns?«, fragte ich. »Oder sind sie nicht durch das Tor gegangen? Was meinst du, Cualcua?«
Mein Symbiont antwortete nicht. Aber ich brauchte auch gar keine Antwort.
»Eins verstehe ich nicht. Warum jagt man mich über verschiedene Planeten? Wenn eine fremde Intelligenz in der Lage ist, mich im Bruchteil einer Sekunde zu erfassen … Das ist ja fast, als würde ich mit einem Baukasten spielen, allerlei bauen und Figuren zusammensetzen … wobei von vornherein klar ist, was du bauen kannst und was nicht! Ich verstehe nicht, warum sie das machen! Wozu?«
Oder steckte gar kein tieferer Sinn dahinter? Keine Ahnung. Und der Cualcua wusste es auch nicht, deshalb schwieg er.
»Und die Geometer … verstehe ich auch nicht. Gut, sie sind auf diese Hyper-Zivilisation gestoßen. Auf Metamorphen … die Tore … die Deltas … Stimmt schon, die Deltas sind stärker als die Schiffe der Geometer … Aber selbst wenn zum Schatten dreihundert … oder fünfhundert Planeten gehören … sie wären nicht geflohen! Schwierigkeiten begeistern sie schließlich. Und der Schatten ist noch nicht mal ordentlich geschützt! Solange die Geometer nicht durch die Tore gegangen wären, hätten sie ihre Mission ohne Probleme durchführen können. Sie hätten die Gesellschaft unterwandert, die Regressoren hätten sich an die Arbeit gemacht … Was hat sie so in Panik versetzt? Selbst ich habe hier keine Angst …«
Der Cualcua antwortete nicht.
Ich war am Ende meiner Kräfte. Es gab zu viele Fragen, aber keine Antworten. Mir blieb nichts anderes übrig, als weiterzumarschieren.
»Das Wichtigste ist jetzt, das Ganze zu verstehen. Genau darunter haben wir Menschen immer gelitten, weißt du, Cualcua. Uns kommt es vor allem darauf an zu verstehen, denn wir meinen, dass wir mit allem fertig werden, wenn wir es erst einmal verstanden haben. Und wenn uns das nicht gelingt, fangen die Schwierigkeiten an. Denk an den Jump … wir haben ihn entwickelt und genutzt, aber wir haben ihn bis heute nicht verstanden. Genau deshalb sind wir zu … Fuhrleuten verkommen. Wir können nur von Glück sagen, dass die Aliens den Jump nicht verkraften.«
Da irrst du dich.
Ich geriet ins Stolpern.
»Was?«
Mindestens zwei weitere Rassen können den Jump überstehen. Die Zähler und wir.
»Du kannst … Verdammt.«
Klar doch. Als ich paralysiert worden war und wir Jumps Richtung Erde durchführten, da hatte der Cualcua ja in mir gesteckt!
Ich hatte mich bereits zu sehr an den Symbionten in meinem Körper gewöhnt. Nicht einmal ansatzweise hatte ich mich darüber gewundert, dass der Alien nach den Jumps immer noch gesund und bei vollem Verstand in mir lebte!
»Hast du den Jump überstanden, weil du ein Teil von mir bist?«
Nein. Erinnere dich an den Aufbau meines Verstands. Vor dem Jump habe ich mein Bewusstsein aus dem Teil entfernt, der sich in deinem Körper befindet. Danach bin ich wieder dorthin zurückgekehrt. Ich habe die Sprünge außerhalb abgewartet.
»Aber hättest du sie auch überstehen können?«
Das weiß ich nicht. Und ich möchte es auch nicht ausprobieren. Ein negatives Ergebnis würde in meinem Fall nicht nur den Tod eines einzelnen Individuums, sondern den Untergang der ganzen Rasse bedeuten.
»Damit ist nicht zu spaßen …« Ich beruhigte mich wieder ein wenig. »Aber ihr und die Zähler … ihr seid die Ausnahme von der Regel. Und ich glaube, niemand würde dich zwingen, mit Schiffen durchs Universum zu flitzen. Für die Zähler wäre eine andere Funktion auch zu nichts nütze.«
Es geht nicht allein darum. Glaubst du etwa wirklich, Pjotr, dass man nicht längst einen mechanischen Apparat hätte entwickeln können, der den lump übersteht? Eine rein mechanische Vorrichtung, mit der die Programme im Computer gebootet werden. Oder unintelligente biologische Lebensformen, die in der Lage sind, sich an den Sternen zu orientieren und Energie in den Jumper zu leiten?
»Das solltest du den Starken Rassen lieber nicht mitteilen«, blaffte ich ihn an.
Der Cualcua lachte.
Du kannst da ganz beruhigt sein. Glaubst du etwa, die Starken Rassen wären nicht längst von sich aus zu diesem Schluss gekommen?
»Aber was soll das dann alles?«, schrie ich. »Warum müssen wir mit den Schiffen durch die Galaxis hetzen? Hätte man für uns keine andere Rolle finden können?«
Eine Rasse, die keine Funktion hat, wird vom Konklave verstoßen. Dieses Schicksal haben schon viele Rassen geteilt, Pjotr. Ich erinnere mich noch an sie. Die Bernsteinkäfer … das war ein kollektiver Verstand, analog zu unserem. Aber sie haben die Raumflüge nicht verkraftet, und ihr Planet stellte nichts Wertvolles her. Oder Säugetiere wie ihr, die sich aber mit ihrer Rolle nicht abfinden wollten .. Dann gab es mal einen ganzen Planeten, der über Verstand verfügt hat. Ein Meer intelligenten Protoplasmas, mit dem jedoch niemand Kontakt aufnehmen konnte … deshalb haben die Alari den Befehl erhalten, ihn … Das Konklave ist berechnend, Pjotr. Es duldet keine Parasiten in seinen Reihen. Früher oder später wird dieser Schuss nach hinten losgehen, aber ich nehme an, wohl eher später.
»Aber was macht dann unsere Besonderheit aus, Cualcua?«
Hast du noch nie über die Weite des Sprungs nachgedacht? Über die Präzision, die für einen Jump von gut zwölf Lichtjahren nötig ist?
»Aber das kriegen wir doch gut hin …«
Halt dir das mal alles vor Augen, Pjotr. Eure primitiven Orientierungssysteme! Die Geschwindigkeit! Die Bewegung der Sterne in der Galaxis! Kein einziges Navigationssystem würde ein Schiff mit einem Sprung, der zwölf Lichtjahre ausmacht, an sein Ziel bringen.
Ich war geschlagen und vernichtet.
Leichteren Herzens hätte ich der Behauptung zugestimmt, die heilige Inquisition mache keine Fehler und die Sonne kreise um die Erde.
»Aber wir schaffen den Sprung, Cualcua! Wir fliegen – und wir kehren zurück.«
Jeder Logik zum Trotz. Der Statistik zum Trotz. Allen zum Trotz. Die Starken Rassen haben vollautomatische Schiffe mit Jumpern konstruiert. Die haben sich hoffnungslos im Kosmos verirrt. Sie wollten mit einem Jump den Deneb erreichen – und kamen beim Atair raus. Sie wollten von der Spica wegfliegen – und sind geradenwegs wieder darauf zugesteuert.
»Aber woran liegt das?«
Ebendas weiß ich nicht. Ich kann nur spekulieren. Der Jump ist vermutlich nicht nur einfach eine Bewegung im Raum. Es ist auch eine Interaktion mit dem Universum. Der menschliche Verstand dürfte ein ebenso untrennbarer Teil des Jumpers sein wie die magnetischen Energiespeicher auf der Basis von Supraleitern und die Antenne aus spiralförmig gedrehtem Silberfaden. Ohne Piloten bringt der Jumper ein Schiff in eine beliebige Richtung. Und darin liegt euer Geheimnis, Mensch. Euer Glück.
»Und trotzdem … warum …«
Für die Erde ist es besser, wenn diese Antwort nie jemand erfährt.
Ich nickte. Wahrscheinlich hatte der Cualcua recht. Wir mussten das als gegeben hinnehmen, durften keine Fragen stellen und keine Antworten suchen …
»Aber wie du weißt, Cualcua, können wir ohne Antworten nicht leben. Daran lässt sich nun mal nichts ändern.«
Ich musste unwillkürlich lächeln, als ich auf die angespannte Stille in mir lauschte.
»Und du weißt auch, mein Freund, dass das vermutlich ein noch größeres Rätsel als der Jump ist …«
Ich glaubte schon, er würde mir nicht antworten. Aber der Cualcua flüsterte ganz leise etwas, fast, als könnten wir abgehört werden.
Ja, das ist ein Rätsel. Aber es ist auch noch mehr. Es könnte nämlich auch die Antwort sein.
Der Fluss erwies sich als ganz normaler Fluss. Genau das, was ich jetzt brauchte. Als ich ihn erreichte, war es schon völlig dunkel – soweit das im Kern überhaupt möglich ist. Der Himmel flammte vor Sternen, das Wasser funkelte, schwappte über Sandbänke.
Ich kniete mich hin und trank. Das Wasser roch nach Sand, aber es war sauber und klar. Zum Teufel mit der Vorsicht, ich konnte es mir nicht leisten, auch noch vor außerirdischem Durchfall Angst zu haben.
Morgen würde ich den Fluss stromabwärts hinunterwandern. Wenn ich Hunger bekam, würde mir der Cualcua schon helfen, irgendeinen Fisch zu fangen. Falls es hier überhaupt welche gab.
Ich streckte mich im warmen Sand aus und schaute in den Himmel hinauf. Irgendwo dort oben verbargen sich auch die Sterne, an denen ich mich beim Sprung orientierte. Ich hielt mich an sie – ohne zu ahnen, dass das gar nicht nötig war. Dass der Erfolg nicht von der Ausrichtung der Antenne oder dem Verhältnis von Geschwindigkeit und Ausgangsimpuls abhing. Sondern dass es einzig und allein auf mich ankam.
Wir waren nicht nur Fuhrleute! Wir waren auch noch die Pferde!
Worüber der Russe sich freut, daran stirbt der Deutsche. Was einen Menschen high macht, lässt einen Alien den Verstand verlieren.
Wie absurd das alles war. Da hatten wir auf eine Erklärung für das Prinzip des Jumps gepocht, woraufhin die Wissenschaftler einfach eine Theorie entwickelt hatten, welche die Astronauten in ihrem Leichtsinn zu glauben bereit gewesen waren. Und die Theorie hatte funktioniert, weil jene ersten fünf Kamikaze-Piloten, die in der Blechdose von Shuttle hockten, es unbedingt wollten.
Aliens kriegen so etwas nicht zustande. Sie finden keine Bestätigung für irgendwelche abseitigen Hypothesen. Sie können die Lücke in ihren Kenntnissen nicht durch Glauben stopfen. Sie sind außerstande, sich einzureden, dass etwas genau so sein muss!
Ob Außerirdische deshalb keine Religion haben? Weil sie keine Gründe finden, an Gott zu glauben – und dann einfach nicht an ihn glauben?
Aber irgendwo musste die Antwort liegen … Ohne Antwort kam ich einfach nicht aus.
Warum sind wir uns so ähnlich? Aber was heißt ähnlich? Identisch! Der Schatten, die Geometer, die Menschen, sie ähneln sich wie ein Ei dem anderen. Selbst wenn ein Bild größer ist und das andere kleiner und das dritte ganz klein, steht die Identität doch außer Frage.
Mein Großvater wäre wahrscheinlich froh. Eine dritte humanoide Rasse …
Ich schlief ein. Es wäre sicherlich klüger gewesen, mich weiter vom Fluss zu entfernen, denn der Sand würde bald völlig kalt sein. Aber ich hatte keine Lust aufzustehen, das Spinnennetz des Schlafs zu zerreißen …
Gefahr!
Der Cualcua brauchte keinen Schlaf.
»Was?«, flüsterte ich, während ich mich auf den Bauch drehte und Ausschau hielt. »Wo?«
Am Fluss. Das Plätschern. Das Licht.
Als ich genauer hinschaute, machte ich im Sternenfunkeln eine gigantische dunkle Silhouette aus, die sich träge stromabwärts über den Fluss bewegte. Ein schwaches gelbes Licht schimmerte matt überm Wasser.
Ein Schiff?
Nein, dazu fuhr es zu leise.
Meine Phantasie malte mir prompt die Konturen eines monströsen Körpers aus, der sein funkelndes, auf einem Hörn sitzendes Auge ausfuhr. Warum erwartet man eigentlich immer als Erstes, ein Monster zu treffen?
Kampftransformation?
Es gefiel meinem Cualcua anscheinend, aus mir eine Waffe zu formen.
»Warte noch«, flüsterte ich. Wahrscheinlich zu laut, denn der grobe, klotzige Schatten war inzwischen nahe herangekrochen. Als meine Stimme erklang, rührte sich in ihm etwas. Das Licht kletterte höher … als suche das Auge mich.
Ich ging in die Hocke, bereit, vom Ufer wegzustürmen.
»He, ist hier jemand?«
Die Stimme war nicht sehr laut, wurde aber klar und deutlich über das Wasser getragen. Ich schauderte zusammen und blieb wie angewurzelt hocken.
»Ist da jemand?«, erklang es erneut, doch diesmal leicht verunsichert. Ich würde bestimmt unbemerkt bleiben, wenn ich mich nur nicht rührte. Das gelbe Feuer schweifte umher, suchte mich … und dann fuhr das Monster vorbei.
Und plötzlich löste sich das Rätsel.
Von wegen Monster!
Vor mir hatte ich ein Floß und einen Mann mit einer Laterne in der Hand!
»He!«, schrie ich. »He, da an Bord!«
Wir sprachen beide in einer Sprache, die sich von der unterschied, die ich bereits kannte. Das Tor hatte mich für einen weiteren Planeten des Schattens präpariert.
»Hehe!«, vernahm ich eine fröhliche Stimme. »Bist du allein?«
»Ja.« Ich sprang auf und lief am Ufer entlang. Das sich langsam entfernende Floß hatte sich unversehens ins Zentrum des Universums verwandelt. Nein! Nein, ich wollte nicht allein an diesem Ufer zurückbleiben. »Warte!«
»Ich habe keinen Motor«, rief mir der Unbekannte freundlich, aber leicht nervös zu. »Schaffst du es, hierher zu schwimmen?«
Ob ich das schaffte? Das sollte ja wohl ein Witz sein, oder? Bis zum Floß waren es keine zwanzig Meter … die könnte ich notfalls laufen …
Ich stürzte mich ins Wasser und rannte ein paar Schritte. Der Boden sank rasant ab, und ich tauchte unter Wasser.
Das Wasser war warm. Nun merkte ich auch, dass ich bereits völlig durchgefroren war.
Das gelbe Licht kam näher und verwandelte sich in eine kleine runde Laterne. Ich klammerte mich an den glitschigen Balken fest, als wollte ich das Floß entern. Es war ein Floß, wie es im Buche stand. Eine Hand streckte sich mir entgegen.
»Kriech rauf …«
Alles, was zählte, war, dass in dieser Stimme Wärme lag. Vielleicht etwas Nervosität … Aber wie hätte wohl jemand auf der Erde reagiert, wenn er eine Bootstour macht und in der tiefsten Ödnis mitten in der Nacht einem Unbekannten begegnet?
»Vielen Dank«, sagte ich, als ich aufs Floß krabbelte.
Der Mann hielt sich schweigend die Laterne vors Gesicht. Ich sagte nichts, wusste die Geste aber zu schätzen.
Es war ein Mann mittleren Alters, irgendwo zwischen dreißig und vierzig. Nach meiner Begegnung mit dem uralten Galis hielt ich mich mit Altersschätzungen bei der hiesigen Bevölkerung etwas zurück. Dunkle Haut, allerdings wohl nicht von der Sonne, sondern von Natur aus, glattes schwarzes Haar. Ein sehr ruhiges Gesicht, ernst, aber nicht angespannt. Nur tief in den Augen machte ich stechende Funken aus, als hätte er nicht sein ganzes Leben auf einem Floß verbracht und nervöse Fremdlinge aus dem Wasser gezogen. Er erinnerte ein wenig an Danilow, auch wenn er kräftiger war, viel kräftiger. Solche Männer gefallen jungen Frauen auf den ersten Blick. Ich würde wahrscheinlich nie so werden. Er trug nur Shorts aus silbrigem Stoff, was mich sofort an Nik Rimer und die Geometer denken ließ.
»Vielen Dank«, sagte ich noch einmal.
Der Mann schwenkte die Laterne langsam hin und her, um nun mich anzuleuchten. Blinzelnd ließ ich die Inspektion über mich ergehen.
»Du hast ja vielleicht eine Narbe, mein Freund«, sagte er voller Anteilnahme und senkte die Laterne. »Sie ist frisch, oder? Wer hat denn solche Zähne?«
»Ein Metamorph«, antwortete ich mit einem tiefen Seufzer.
»Verstehe. Geh davon aus, dass du glimpflich davongekommen bist. Ist er weit weg?«
»Er ist tot.«
Der Mann schwieg. Doch in seinem Blick las ich die Frage: Wie?
Nein, ich konnte ihn nicht anlügen.
»Ich … bin auch ein Metamorph. In gewisser Weise.«
»Verstehe. Bei uns ist das nicht üblich.«
»Gut. Ich habe auch nicht vor …«
Er nickte, als sei alles Gesagte nebensächlich, weshalb man nicht weiter darauf eingehen müsse. Wenn ich versprochen hatte, mich nicht in ein Monster zu verwandeln, gut, dann wäre diese Sache ja geklärt.
»Kelos. So heiße ich. Dieser Name bedeutet nicht das Geringste. In keiner einzigen Sprache der Welt des Schattens. Deshalb gefällt er mir auch.«
»Guten Tag, Kelos. Ich bin Pjotr. Das bedeutet ebenfalls in keiner Sprache des Schattens etwas.«
»Da irrst du dich. Im Dialekt der Ur-Erde heißt das Wort Hüter.«
Er lächelte.
»Hüter?«, wiederholte ich begriffsstutzig.
»Hüter, Bewahrer, Saboteur. Es kommt darauf an, welche Periode du nimmst, aber mir gefällt die erste Bedeutung am besten. Nein, ich bin nicht von dort. Guck nicht so erstaunt!«
»Tu ich ja gar nicht.«
Kelos nickte. »Bist du schon lange bei uns?«
»Erst seit Kurzem. Ich bin durch das Tor gekommen.«
»Verstehe. Das merkt man sofort. Du brauchst keine Angst zu haben.«
War das zu glauben? Er war es, der mich beruhigte!
»Und sprich etwas leiser, du weckst sonst meinen Sohn auf.«
Ich nickte. Ich schielte nach hinten, auf dem »Heck« des Floßes war eine Art Zelt errichtet worden. Automatisch fielen mir die Abenteuer von Huckleberry Finn ein.
»Natürlich«, sagte ich leise.
»Erleben wir gerade ein Abenteuer?«, erklang es aus dem Zelt.
Kelos breitete die Arme aus. »Das war’s dann wohl«, sagte er ohne allzu große Verärgerung. »Die Bitte wird wegen Hinfälligkeit zurückgezogen … Genau, Dari! Wir erleben ein Abenteuer!«
Aus dem Zelt krabbelte auf allen vieren ein Junge von etwa zehn Jahren heraus. Er war ebenfalls dunkelhäutig, wenn auch heller als Kelos. Nachdem er sich aufgerichtet hatte, musterte er mich eingehend.
»Ich befürchte, ich bin ein recht langweiliges Abenteuer«, brummte ich.
Der Junge schien da anderer Meinung zu sein. Im Nu war der Schlaf auf seinen Augen verschwunden.
»Ist das Ihre Uniform?«, fragte er laut.
»Dari!« Kelos stieß einen Seufzer aus.
»Entschuldigen Sie.«
Der Junge wurde verlegen. Ein netter Junge, der seine kindliche Offenheit und Direktheit noch nicht verloren hatte.
»Ich heiße Dari«, stellte er sich ein wenig förmlich vor.
»Pjotr«, antwortete ich im selben Ton.
Der Junge atmete tief durch. »Ist das eine Kriegsuniform?«, fragte er dann. »Oh …«
Kelos drohte ihm. »Kinder lassen nie locker«, meinte er mit gequältem Lächeln. »Besser, du antwortest ihm.«
»Ja«, sagte ich. »Und die Narbe an der Wange …«
Als ich Kelos’ Blick auffing, setzte ich fort: »Die ist von einem Monster, das es hier nicht gibt. Aber ich habe keine Waffe bei mir, Ehrenwort. Überhaupt habe ich nichts Interessantes dabei. Nicht mal einen Stein von einem anderen Planeten.«
»Schade«, sagte der Junge ernst. »Wo ich sie doch sammle.«
Die Laterne stellte sich als ziemlich kompliziertes Ding heraus. Auf ihr wärmte Kelos nämlich auch unser etwas spätes Abendessen auf, direkt in den Plastiktellern. Anscheinend taten sie eher so, als verfügten sie nur über primitive Technik, diese beiden seltsamen Flößer, Vater und Sohn.
Ich aß alles bis auf den letzten Krümel auf. Im Grunde schmeckte das Essen nach nichts, doch gastronomische Belange scherten mich im Moment nicht im Geringsten. Kelos beobachtete mich schweigend, der Junge, der unter dem strengen Blick seines Vaters das Verhör aufgegeben hatte, war inzwischen eingenickt.
»Das ist ein Ritual hier.«
»Was?«
»Eine solche Reise zu unternehmen, eine ganze Woche lang. Das kriegt mein Sohn zum Geburtstag geschenkt.«
Ich nickte. Dari war zu beneiden. Wahrscheinlich hatte Kelos auch schon ein solches Abenteuer geschenkt bekommen …
»Nein. Ich bin aus einer anderen Welt. Bei uns … bei uns machte man andere Geschenke.«
Unsere Blicke kreuzten sich.
»Ich kann keine Gedanken lesen. Abgesehen davon ist das sowieso Humbug. Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der zu dieser Form der Telepathie in der Lage gewesen wäre. Dir steht einfach alles ins Gesicht geschrieben, man sieht sofort, woran du gerade denkst.«
Ich glaube, ich wurde rot.
»Ich habe schon mit so vielen Menschen zu tun gehabt … jungen Menschen, wie du einer bist. Entschuldige, falls ich dich verletzt habe.«
»Und wo hast du mit ihnen zu tun gehabt?«, wollte ich wissen.
Kelos betrachtete seinen schlafenden Sohn.
»In der Armee. Meinem Kommando unterstanden viele junge Männer …«
Also verstand nicht nur er, in Gesichtern zu lesen. Ich hatte ebenfalls erkannt, dass er gewohnt war zu befehlen … selbst wenn sie unter ruhiger Gelöstheit verborgen lag.
»Sagt dir der Name Kristallene Allianz etwas?«
Er hatte diese Frage ganz angespannt gestellt.
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Gar nichts.«
Anscheinend stellte diese Antwort Kelos zufrieden.
»Das ist lange her, Pjotr. Und inzwischen fast vergessen … sieht man einmal von einigen Welten ab, die sich noch an sie erinnern.«
Mein Auftauchen hatte ihn aufgestört, und wie! Es hatte jene Verstecke in der Seele geöffnet, wo jeder seine Leichen verbirgt.
Und nicht immer Leichen im übertragenen Sinne.
»Du hast für die Kristallene Allianz gekämpft?«, hakte ich nach.
Kelos sah seinen Jungen erneut an. »Ich hätte erwartet, ein Gast würde erst einmal von sich erzählen …« Er rang sich ein Lächeln ab. »Ich fürchte, die Namen, Ämter und Planeten würden dir gar nichts sagen.«
Er sah zum Ufer hinüber, vielleicht um demonstrativ dem von ihm angefangenen Gespräch auszuweichen, vielleicht aber auch, weil er nach etwas Ausschau hielt. Im Sternenlicht wirkte die Welt märchenhaft, und diese Schönheit war nicht die tote des Irrsterns. Silbern schimmerten die Blätter an den Bäumen, die sich bis zum Wasser hinunterneigten, bizarre Schatten zitterten.
»Ich will den Pfad nicht verpassen«, erklärte er. »Wenn wir ihn nehmen, sind wir in zehn Minuten zu Hause. Wir sind nämlich schon auf dem Rückweg. Pjotr. Eine Geburtstagsfeier muss man im richtigen Moment beenden, das ist die entscheidende Kunst. Dann bleibt sie einem immer im Gedächtnis.«
»Macht ihr jedes Mal eine Fahrt auf dem Floß?«, fragte ich.
»Nein. Im letzten Jahr sind wir gewandert. Da haben wir übrigens auch einen Gast getroffen. Aber er … er ist nicht hiergeblieben.«
»Bei euch tobt nicht zufällig ein kleiner Krieg?«, wollte ich wissen.
»Nein.« Kelos schüttelte den Kopf. »Und dazu wird es auch nicht kommen. Niemals. Das ist ein sehr friedlicher Planet.«
»Schön, da kann ich euch nur beneiden.«
»Wieso das? Du bist doch jetzt hier, Pjotr. Und niemand jagt dich fort, das weißt du doch …«
Wusste ich das? Kaum. Sie waren hier ja durch die Bank ausgesprochen gastfreundlich, vor allem anfangs. Und alle liebten ihren Planeten. Nur befürchtete ich nach der Welt, aus der ich gerade kam, dass auch die Realität hier ihre Kehrseite hatte …
»Die Kristallene Allianz war eine auf Gewalt gegründete Vereinigung«, erklärte Kelos plötzlich. »Eine Tyrannei, wie sie im Buche steht. Dabei war sie ursprünglich als Gegengewicht zum Schatten gegründet worden.«
Er blickte mir in die Augen, offensichtlich in Erwartung einer Reaktion. Gut. Wenn ich jetzt noch wüsste, wie ich zu reagieren hatte …
»Komisch, dass ich noch nie etwas von ihr gehört habe …«
»Du bist offenbar noch sehr jung. Die Allianz ist vor fünfzig Jahren praktisch zerfallen. Damals habe auch ich meine Welt verlassen. Nicht freiwillig übrigens. Und nicht durch ein Tor.«
Mein Gott, wie alt war er denn? Er musste mindestens genauso alt sein wie mein Großvater. In meiner Brust zog sich etwas schmerzlich zusammen. Während mein Großvater schnaufend durch den Garten spazierte, brach dieser kräftige Mann mit seinem Sohn zu Wanderungen auf!
»In den besten Jahren vereinigte die Allianz an die einhundertundfünfzig Planeten … ›vereinigt‹ trifft es nicht ganz … eher an sich gebunden …«
Mein Kopf schwirrte. Was hatte ich bisher angenommen, wie viele Welten zum Schatten gehörten? Fünfhundert? Damit dürfte ich gewaltig danebengelegen haben! Wenn ein Imperium, zu dem einhundertundfünfzig Planeten gehörten, keine Spuren in der Geschichte hinterließ … Aber es existierte ja immerhin die sogenannte Chlystow-Grenze, benannt nach einem Soziopsychologen, der festgestellt hatte, dass ein Sternenimperium von mehr als siebenhundert Welten mit unterschiedlichen Kulturen zerfallen muss. Angeblich bewiesen die Daten über das Konklave, dass dieses Phänomen auch auf Aliens zutraf …
»Wir haben sogar die Tore in den unterworfenen Welten isoliert«, fuhr Kelos fort. »Kannst du dir das vorstellen? Am Anfang haben wir versucht, die Tore zu vernichten … Wie naiv wir da waren. Dann haben wir sie einfach eingezäunt, Sarkophage um sie herum gebaut, sie im Raum verkapselt … Aber natürlich sind die Tore da hindurchgewachsen, wenn auch langsam. Und erst am Ende sind wir dahintergekommen, welche Welten uns der Schatten überließ.«
Während ich Kelos betrachtete, begriff ich, was für ein Glück ich gehabt hatte. Ein unerhörtes Glück. Er würde mir alles erzählen. Er würde mir erklären, was es mit dem Schatten auf sich hatte und ob wir Hilfe von ihm erwarten durften.
War mir das Schicksal also doch hold gewesen.
Und wie immer drängte sich die Frage auf: War das ein Zufall?
»Was ist ein Sarkophag, Papa?«, fragte der Junge leise und verschlafen.
Kelos fuhr zusammen. »Eine Grabstätte für alte Könige«, antwortete er trotzdem völlig gelassen. »Oder für Gegenstände, die niemand mehr braucht.«
»Braucht die Tore wirklich niemand mehr?« Dari hob den Kopf und schaute seinen Vater provozierend an.
»Früher habe ich geglaubt, es braucht sie tatsächlich niemand.«
Ich war regelrecht hingerissen davon, wie er mit dem Jungen umging. Obwohl er das Thema eigentlich nicht vertiefen wollte, antwortete er dem Jungen klar und verständlich, ohne sich anmerken zu lassen, wie er über den Gesprächsgegenstand dachte.
Und dagegen hatte ich wahrlich nichts einzuwenden. Vielleicht weil es kein Gespräch zwischen Ausbilder und Schützling, sondern zwischen Vater und Sohn war.
Sie flößt einem Furcht ein, die Welt, in der man Lehrer den Eltern vorzieht.
»Papa, wir sind ja schon da!«, rief Dari plötzlich. »Papa!«
Kelos spähte das Ufer entlang und schüttelte den Kopf. »Ach, Plasma und Asche … Pjotr, schnapp dir die Stange! Und du, Dari, ans Steuer!«
Schon in der nächsten Minute versuchten wir verzweifelt, das Floß gegen die Strömung zu bewegen. Der Junge am Steuer war dabei natürlich keine große Hilfe. Aber ich wäre der Letzte gewesen, der darüber ein Wort verloren hätte. Sollte er ruhig mit den nackten Füßen über die glitschigen Balken rutschen und sich gegen das widerspenstige Ruder stemmen, fest davon überzeugt, uns nach Hause zu bringen.
Kelos packte den Rucksack und schulterte ihn. Er blieb, wie er war, nur mit Shorts bekleidet, die nächtliche Kälte machte ihm nichts aus. Dari zog sich einen Pullover über. Ich hielt mich etwas abseits und beobachtete, wie die beiden sich fertig machten.
Durfte ich davon ausgehen, sie zu begleiten? Oder würde die kurze Gastfreundschaft auf dem Floß keine Einladung zu ihnen nach Haus nach sich ziehen?
»Brauchst du eine förmliche Einladung?«, fragte Kelos direkt.
Meine Befangenheit löste sich sofort in Luft auf.
»Nicht unbedingt. Aber jetzt habt ihr mich auf dem Hals«, antwortete ich etwas nassforsch.
Der Waldpfad war schmal, aber klar zu erkennen. Anscheinend wurde er oft benutzt. Mir fiel auf, dass die Bäume, die etwa zehn Meter vom Fluss entfernt standen, im Sternenlicht so zart funkelten wie fein zerstampftes Glas im Licht eines Scheinwerfers …
»Ob Mama den Weg markiert hat?«, wollte Kelos von seinem Sohn wissen. »Was meinst du?«
»Nein, das habe ich gemacht, bevor wir losgefahren sind.«
»Pfiffikus!«
Abermals beschlich mich ein leicht bitteres, neidvolles Gefühl. Und ich hätte nicht zu sagen gewusst, wen ich mehr beneidete, Kelos oder Dari.
Vielleicht erlaubte ihr dämlicher Schatten es ja wirklich, Glück zu erlangen? Natürlich nicht überall. Eine derart ideale Gesellschaft gab es nicht. Aber vielleicht war diese Welt zum Leben geeignet.
»Gibt es hier viele Städte?«, fragte ich, mich nicht nachvollziehbaren Assoziationen überlassend.
»Überhaupt keine.«
Dari fasste nach der Hand seines Vaters. »Ist es interessant in der Stadt, Papa?«
»Meiner Meinung nach nicht sehr.«
»Warum bauen die Leute auf anderen Planeten dann Städte?«
»Sie fürchten sich vor der Einsamkeit.«
Eine gute Minute schwieg der Junge. »Und in einer Stadt gibt es keine Einsamkeit?«, fragte er dann.
»Gerade da gibt es welche. Nur merkst du es nicht.«
Ich konnte mich nicht zurückhalten und mischte mich mit dem gleichen kindlichen Enthusiasmus wie Dari ins Gespräch ein. »Sind hier alle dieser Ansicht, Kelos?«
»Ja. Natürlich.«
Dari ließ seinen Vater los und griff nach meiner Hand. Anscheinend traute er sich nicht, mich mit Namen anzusprechen, und hielt die Berührung für den besseren Gesprächsanfang. »Bist du daran gewöhnt, in der Stadt zu leben?«
»Im Großen und Ganzen ja. Aber dein Vater hat recht, es ist nicht der beste Ort zum Leben.«
»Bist du ein Soldat? Wie Papa?«
Ich hatte den Eindruck, Kelos äugte verstohlen zu mir herüber.
»Ich habe nicht sehr lange gekämpft«, sagte ich vorsichtig. »Das ist keine schöne Sache, der Krieg.«
Teufel auch, was ließ ich denn da bloß für Allerweltsweisheiten vom Stapel! Eine Sonntagspredigt für außerirdische Kinder …
»Stimmt, das sagt Papa auch«, erwiderte Dari. »Alle, die im Krieg waren, sagen das. Aber trotzdem haben sie alle gekämpft.«
Vielleicht dachte er einfach laut, vielleicht legte er auch eine Ironie an den Tag, die ganz und gar nicht kindgemäß war.
»Hat dir als Kind niemand gesagt, dass der Krieg schlecht ist, Pjotr? Papa hat man ja beigebracht, ein Soldat zu sein. Deshalb hat er auch gekämpft.«
»Lass den Mann zufrieden, Dari!«
»Langweilt es Sie denn, sich mit mir zu unterhalten?«, fragte der Junge.
»Nein, es langweilt mich nicht.« Ich seufzte. »In meiner Kindheit hat man mir beigebracht, dass der Krieg eine schmutzige, aber unvermeidliche Angelegenheit ist. Und dass du, wenn du Frieden willst, für den Krieg rüsten musst. Und dass man manchmal für die Wahrheit kämpfen muss.«
»Damit alle glücklich werden«, bemerkte Kelos amüsiert.
»Nein. Um sich selbst zu verteidigen. Gegen diejenigen, die dich glücklich machen wollen.«
»Und du bist sicher, dass die Kristallene Allianz nicht auch deinen Planeten beehrt hat?«, fragte Kelos. »Ich habe solche Worte schon von …«
Er verstummte.
»Was ist die Kristallene Allianz?«, fragte Dari prompt.
»Wir sind fast da.« Diesmal ignorierte Kelos die Frage. »Lauf und weck Mama.«
Wir traten aus dem Wald heraus. Genauer gesagt, wir traten nicht ganz heraus, denn der Wald dünnte sich lediglich aus, verwandelte sich in eine Art gepflegten Park. Vor uns lag, umstanden von Bäumen, ein Haus, nur ein oder zwei Stockwerke hoch, aber von enormer Ausdehnung. Ein wenig erinnerte es mit seiner finsteren Strenge der Linien und dem krampfhaften Versuch, wie eine Burg zu wirken, an alte englische Villen.
»Die Kristallene Allianz …«, verlangte der Junge energisch.
»Das erkläre ich dir nachher, Dari. Geh jetzt vor.«
Der Junge rannte los und verschmolz mit den Schatten der Bäume.
»Ich habe mich wohl verplappert«, brach ich das Schweigen.
»Nein. Das war … mein Fehler. Ich habe schon lange nicht mehr mit einem Soldaten gesprochen … schon gar nicht mit einem, der frisch von der Front zurück ist. Ich will darüber aber nicht in Daris Anwesenheit reden. Verstehst du das?«
»Nicht ganz.«
Kelos seufzte. »Es ist schwer, den Krieg nicht zu romantisieren.«
»Dafür reicht es, ihn einmal erlebt zu haben.«
»Schon möglich. Aber ich will nicht, dass Dari anfängt, von einer militärischen Laufbahn zu träumen.«
»Aber hier gibt es doch gar keinen Krieg.«
»Bei uns nicht! Sag mal, bist du wirklich so naiv, Pjotr?«
»Dann sprich halt überhaupt nicht über den Krieg«, schlug ich vor. »Soll der Junge doch glauben, die Welt sei gut und herrlich.«
Diesen Vorschlag hätte Kelos mir auch verübeln können, doch er schüttelte nur den Kopf. »Dazu habe ich auch kein Recht, Pjotr. Denn das wäre ein Lüge. Und wenn ich ehrlich sein soll …, dann bedaure ich die Zeit nicht, die ich in der Allianz verbracht habe.«
»Das spürt man«, bestätigte ich. »Deshalb ist es auch kein Wunder, dass sich dein Junge dafür interessiert …«
»Stimmt wohl. Ich habe wahrscheinlich Glück gehabt. Die Rebellen haben mich nicht hingerichtet … im Unterschied zu den Jungs aus der dritten Sonderbrigade auf Galeone. Die eigene Spionageabwehr hat mich nicht gefoltert, als die Allianz zu zerfallen begann und es zu Meutereien kam. Ich bin nicht in meinem Zerstörer von einem Hitzestrahl verbrannt worden … Ich wurde nur …«
Kelos sprach in einem Ton, als wollte er gleich sagen, »erschossen«. Er schaffte es jedoch nicht mehr, den Satz zu beenden.
In der dunklen Silhouette des Hauses flammte das gelbe Rechteck einer offenen Tür auf.
»Kelos!«
»Schluss damit, vertagen wir die Kriegserinnerungen!«, sagte Kelos schnell. Er rollte die Schultern und rückte sich den vollen Rucksack zurecht, damit er bequemer zu tragen war. »Sonst beginnen hier nämlich wirklich Kriegshandlungen.«
Es passiert nicht häufig, dass man ein absolut fremdes Haus betritt und sich auf Anhieb wohlfühlt. Denn das hängt sowohl von den Gastgebern als auch vom Haus selbst ab … wobei das Haus nur ein Spiegelbild seiner Bewohner ist. Ein klareres und ehrlicheres Abbild. Kein Wort, kein Lächeln lässt einen Wärme spüren, wenn die Möbel nur Kälte ausstrahlen.
Hier reichte die Wärme für alle.
Die Frau von Kelos, Rada, rief ein sehr seltsames Gefühl in mir hervor. Äußerlich wirkte sie noch ausgesprochen jung, vielleicht sogar zu jung für einen zehnjährigen Sohn. Allerdings wusste ich mittlerweile ja auch, dass es müßig war, über das Alter der Leute vom Schatten zu spekulieren. Es kam mir jedenfalls so vor, als unterhalte ich mich mit einer klugen, schönen, guten, aber völlig irrealen Frau. Als ob ich einen Filmstar auf dem Titelbild einer Zeitschrift anschaute … Mir war schleierhaft, wo das Leben aufhörte und wo die Kunst begann.
Das Haus lebte durch seine Bewohner. Es war durchtränkt von ihnen, sah mit ihren Augen, atmete aus den Kinderzeichnungen an den Wänden, den hübschen Aquarellen (ich war mir sicher, dass Rada sie gemalt hatte) und den Photos von rauen, aber wunderschönen Landschaften (bei denen ebenfalls kein Zweifel aufkam, wer sie gemacht hatte). Der Sessel lud förmlich zum Hinsetzen ein, auf den Tischen sah man das Essen und Trinken geradezu vor sich, die vielen Bücher wollte man am liebsten sofort lesen. Entweder lag ein Schatten meines eigenen Zuhauses auf dem Heim von Kelos oder ich war völlig am Ende meiner Kräfte, jedenfalls vergaß ich, kaum hatte ich es betreten, die Erde, das Konklave und die Geometer. Komplett. Genauer gesagt, ich versuchte, sie alle zu vergessen. Ich war einfach zu Besuch, bei guten und alten Freunden zu Besuch.
Das Essen lehnte ich ab, auf ein Gespräch hätte ich mich allerdings nur zu gern eingelassen. Ich wusste jedoch, was sich gehört. Den völlig überdrehten Dari, der noch aufgeregt zehn Minuten durchs Haus gestürmt war, hatte Rada bereits zu Bett gebracht. Nachdem ich einen Becher mit einem heißen Kräuteraufguss, der hier den Tee ersetzte, getrunken hatte, begab ich mich daher in das mir zugewiesene Zimmer. Wahrscheinlich war das ebenfalls ein Ritual auf diesem Planeten: Man hatte mit den Gastgebern noch einen Schluck Tee zu trinken. Eine Kultur, die patriarchale Verhältnisse imitierte, ist sehr auf ihre Bräuche bedacht, das hatten mein Großvater und ich früher einmal diskutiert …
Zum Duschen war ich bereits zu müde, deshalb zog ich mich nur noch aus und legte mich ins Bett. Im offenen Fenster leuchteten die Sterne.
Was es hier wohl für eine Wirtschaftsform gab? Bestimmt nicht den »Kommunismus« der Geometer, denn obwohl es dort für alle reichte, begnügten sich die Menschen mit zellenartigen Zimmern. Es musste etwas Realeres sein, vielleicht wie auf dem Planeten der Grünen. Wie viel wohl ein solches Haus kostete?
Ob ich hier eine Beschäftigung finden würde, die zu mir passte, und ein vergleichbares Haus kaufen könnte? Oder musste man dafür erst hundert Jahre für die Kristallene Allianz kämpfen? Schön, die Kristallene Allianz war zerfallen, kämpfen wir also für die Gläserne, die Zinnerne oder die Hölzerne … Durfte man erst danach die Ruhe genießen?
Pjotr, du bist inkonsequent.
Die Erfassung hatte sich auf den Cualcua wohl nicht gerade vorteilhaft ausgewirkt, denn er hatte es sich angewöhnt, meine Gedanken zu kontrollieren.
»Halt den Mund!«
Pjotr, du vergisst, warum wir auf dieser Welt sind.
»Hast du etwa Angst, dass ich auf alles pfeife und hierbleibe?«
Mein Symbiont hüllte sich in Schweigen.
»Keine Sorge«, beruhigte ich ihn, den Blick aufs Fenster gerichtet. Der Nachtwind zauste an der durchscheinenden, tüllartigen Gardine. »Ich werde nicht hierbleiben. Ich habe nicht vergessen, wer ich bin. Ich habe die Erde nicht vergessen.«
Die Erde ist ein herrlicher Planet, gab der Cualcua plötzlich von sich. Es gibt auf ihr zahlreiche Orte, die an Schönheit und angenehmen Lebensbedingungen diesem hier nicht nachstehen.
Ich brach in Gelächter aus.
»Du gibst ja einen tollen Fremdenführer ab! Hör auf damit. Ich bleibe nicht hier. Kelos hat diese Wälder, seine schöne Frau, die Reisen mit seinem Sohn und dieses gemütliche Heim vermutlich verdient. Aber ich nicht. Mir gefällt es hier … sehr sogar. Aber es ist, als ob du einen Blick in die Zukunft wirfst und denkst: Wie schön es wäre, an einem Kamin zu sitzen und die alten Knochen zu wärmen … Nur kriegen sie hier gar keine alten Knochen, Cualcua.«
Du unterschätzt den Ernst der Lage, Pjotr.
»Wie meinst du das?«
Erinnere dich daran, wie du das erste Mal durch ein Tor gegangen bist.
»Ja und?«
Damals warst du erregt. Voller Aggressivität und Tatendurst. Und genau das hast du dann auch bekommen.
»Lass das …« Ich vergrub das Gesicht im Kopfkissen. »Ich wollte keine fremden Zerstörer abschießen oder mit Metamorphen kämpfen …«
Wie sich zeigte, konnte der Cualcua auch missbilligend schweigen …
»Glaube ich wenigstens«, schob ich nach.
Erinnere dich daran, wie du das zweite Mal durch ein Tor gegangen bist!
»Daran erinnere ich mich nicht … Ich bin gestorben, Cualcua. Einfach gestorben. Ich weiß jetzt, wie das ist …«
Pjotr, du bist wieder genau in die Welt gekommen, die deinen Wünschen entsprach. Du wolltest Ruhe. Keine Feinde. Keine Kämpfe. Sondern diese Art von Sorgen und von Leben, um die man jemanden in aller Stille beneiden kann. Eine Atempause. Und genau die hast du bekommen.
Meine Müdigkeit war wie weggeblasen. Ich lag da und versuchte mich an das zu erinnern, woran ich mich auf gar keinen Fall erinnern wollte. Woran hatte ich gedacht, während ich starb? An nichts … da waren die Traurigkeit, der Schmerz und ein verzweifelter Schneid … ich hatte gesiegt …
»Manipuliert mich jemand, Cualcua? Schiebt mir jemand diese Pseudoweiten unter?«
Der Symbiont schwieg.
»Nun sag schon was! Schließlich bist du klüger als ich! He, Superintellekt! Das ist was anderes, als den Starken Rassen zu Diensten zu sein!«
Ich hoffe … Ich hoffe sehr, dass dich jemand beobachtet.
»Ja wunderbar! Was wäre denn die Alternative?«
Dass man dir dient. Deinen Wünschen gehorcht.
»Soll das heißen, du hast Angst, es könnte sich bei meiner Rasse um potenzielle Herren handeln?«, hauchte ich. »Cualcua … du bist ein Dummkopf. Interessiert dich eigentlich selbst, was hier passiert?«
Ich freue mich über jede Information. Aber mich beunruhigt, dass ich die Situation nicht unter Kontrolle habe.
»Aber vielleicht wolltest du ja genau das?«, schlug ich rachsüchtig vor. »Du bist jahrhundertelang ein unbeteiligter Beobachter gewesen. Und jetzt erlaubt man sich einen Spaß mit dir. Vielleicht gefällt dir das ja?«
Ob die Cualcua ein Unterbewusstsein haben?
Auch das ist möglich. Ich habe übrigens den genetischen Code von allen analysiert, mit denen du in Berührung gekommen bist, Pjotr. Von Schnee, Galis, Kelos und von Dari.
»Ich kenne das Ergebnis«, sagte ich. »Es sind alles Menschen.«
Oder ihr seid alle der Schatten. Gute Nacht, Mensch Pjotr.
»Gute Nacht … auch wenn du nicht schläfst. Was passiert eigentlich zu Hause?«
Der Cualcua zögerte. Es fiel ihm nicht leicht, gegen die eigenen Prinzipien zu verstoßen.
Die Starken Rassen wissen von den Geometern. Die Information ist bekannt geworden. Das rot-violette Geschwader der Alari bewegt sich, von den Torpp eskortiert, auf das Herz der Welten zu.
»Was ist das denn?«
Die Menschen nennen diesen Planeten Zitadelle. Dort tritt der Rat der Starken Rassen zusammen. Sie sind verängstigt, Pjotr. Mehr noch, sie wissen bereits von dir. Davon, dass du auf einer Erkundungsmission bei den Geometern gewesen bist und dich jetzt im Schatten aufhältst.
Auch das noch …
»Jetzt brauchst du dir wirklich keine Gedanken mehr darüber zu machen … dass ich meinen Auftrag vergessen könnte. Haben die Starken Rassen schon eine Entscheidung getroffen?«
Nein. In zwei Erdtagen soll der Kommandant der Alari Bericht erstatten. Danach treffen sie ihre Entscheidung.
»Wissen die Starken Rassen auch über dich Bescheid?«
Der Cualcua stieß ein Lachen aus.
Sie nehmen mich nicht ernst.
Es hat seine Vorteile, klein und brav zu sein. Oder wenigstens den Anschein zu erwecken.
»Gute Nacht«, sagte ich. »Und … mach, dass ich einschlafe … wenn du das kannst. Aber wenn du imstande bist, Zyankali herzustellen, müsstest du auch ein Schlafmittel hinkriegen. Also, versuch’s, sonst mache ich heute kein Auge zu.«
Dafür ist nicht unbedingt Chemie nötig …
Der beste Arzt der Welt ist ein Cualcua. Das ist eine unumstößliche Wahrheit. Ich schlug die Augen auf und stellte fest, dass die Sonne durchs Fenster schien. Ich hatte vorzüglich geschlafen, jetzt war ich hungrig und voller Tatendrang.
»Danke«, brummte ich.
Die Angewohnheit, laut mit dem Cualcua zu sprechen, konnte ich einfach nicht ablegen. Ob ich mir auf diese Weise eine Illusion von Unabhängigkeit bewahren wollte? So tun wollte, als würden meine Gedanken nicht gelesen und als könnte der Cualcua mich nicht hören, solange ich nicht laut sprach?
Ich machte das Bett, schlenderte durchs Zimmer und inspizierte – bereits gewohnheitsgemäß – die Sachen. Der Alltag ist nun mal die beste Visitenkarte einer Kultur. Das galt auch für die Erde: Die kleinen, armen Wohnungen in Russland mit den Bücherregalen als obligatorischem Attribut, die Bungalows in den USA mit ihrem tadellosen Interieur, der Luxustechnik und dem Stapel von Comics, diesem hundertprozentigem Surrogat ihrer Kultur. Das galt auch für die Geometer und ihre gründliche Kasernenaskese. Auf dem Planeten der Grünen gab es dann die bequeme mentale Bedienung von Geräten, komfortable Betten und sportlich-musikalischen Ringelpietz im Fernsehen.
Hier freute ich mich über zwei Dinge. Die gesamte Technik, mochte sie mir auch unbekannt sein, wurde genau wie auf der Erde bedient, mit Knöpfen und Sensortasten. Ich entdeckte etwas, das stark an eine Stereoanlage erinnerte, und schaffte es sogar, das Gerät einzuschalten. Wenn ich jetzt noch herausfände, wo und wie ich die pechschwarzen CDs mit den Aufnahmen einschieben musste, konnte ich die hiesige Musik hören.
Der zweite und noch erfreulichere Fund waren Bücher. Richtige Bücher, aus Papier. Streng gehaltene Einbände, Text und ein paar Illustrationen. Die Lektüre war merkwürdig. Ich konnte die Schrift entziffern, und sobald ich die Buchstaben, die ein wenig an die arabischen denken ließen, verband, bildeten sich gehorsam Wörter heraus. Dennoch rief das Ganze bei mir ein unangenehmes, fast körperlich wahrnehmbares Gefühl von Missfallen hervor. Das in mein Gedächtnis gepumpte Wissen revoltierte, denn es hatte sich noch nicht akklimatisiert. Ich betrachtete die versponnenen schwarzen Schnörkel, sagte mir in Gedanken die fremden, etwas zu scharfen Laute vor, und erst danach erfasste ich den Sinn des Gelesenen. Trotzdem brachte ich es nicht ohne Weiteres fertig, mich von den Büchern loszureißen. Und wenn sich hinter dem dunklen Glas nur eine einzige Enzyklopädie gefunden hätte, wäre ich überhaupt nicht mehr vom Schrank wegzukriegen gewesen. Aber bei den knapp hundert Werken handelte es sich ausschließlich um Belletristik. Mühsam las ich Band um Band an und stellte die Werke immer verständnisloser zurück.
»Graj hob die von Leidenschaft erfüllten Augen und blickte Lyra an. ›Unsere Liebe bringt einzig Kummer und Enttäuschung!‹, rief er aus.
›Nein!‹ Ihr Busen wogte vor Aufregung.
›Geliebte, wir müssen es hinnehmen … Ich gehe jetzt. Dein Vater hat recht. Ein Mann mit meiner Vergangenheit kann eine Frau wie dich nicht lieben.‹
Eine karge Mannesträne rollte über seine Wange …«
Nein, nein und noch mal nein! Das konnte nicht sein! Ich schnappte mir ein Buch nach dem nächsten, aber die grausame Wahrheit bestätigte sich.
»Sie hob den kleinen Kristallhammer und schlug gegen den Silbergong. Ein schwermütiger Ton hallte im Audienzsaal wider, den Higar mit jeder Pore seiner gemarterten Seele vernahm.
›Geliebte!‹, schrie er auf, während er die Ebenholztür aufriss.
Zalida ruhte in einem Himmelbett, ihr zarter Körper schimmerte betörend durch den spinnwebzarten, aus wertvoller Diamantseide gewebten Vorhang hindurch.
Schluchzend stürzte Higar auf sie zu, zerriss den Vorhang und fiel vor ihr auf die Knie.
›O Zalida, ich habe einen Kuss verdient …‹
›Warum musstest du den Vorhang zerreißen?‹, rief Zalida aus.«
Das konnte doch nicht wahr sein!
Entsetzt starrte ich den Schrank an, über den ich mich so gefreut hatte.
Liebesromane!
Nur war dieses Horrorgenre, gedacht für alte Jungfern und sentimentale Mädchen, auf der Erde anders aufgemacht! Nicht so akademisch und streng. Den Umschlag hatte eine tief dekolletierte Schönheit im Halbprofil zu zieren, damit sich auch ja jede Frau in ihr wiedererkennen konnte. Neben ihr musste ein prachtvolles Mannsbild stehen, zum Kusse über sie gebeugt und ganz den allgemeinen Vorstellungen des weiblichen Geschmacks entsprechend. Auf dem einen Titelbild bildeten ein Brünetter und eine Blondine das Pärchen, auf dem anderen ein Blonder und eine Brünette. Jedes hundertste Buch durfte mit einem rothaarigen Galan und einer Holden in einem Nachen gestaltet werden …
Asche auf mein Haupt! Wie konnte ich nur so auf die ungewohnte Gestaltung hereinfallen? Wollte ich diese Bücher lesen, um Information aus ihnen zu ziehen, könnte ich ebenso gut eine Nadel im Heuhaufen suchen. Das Einzige, was mir auffiel, war, dass der leidende Held die schmachtende Heldin verließ und durch ein Tor ging, worauf nach hundert oder zweihundert Seiten die Heldin ebenfalls durch ein Tor stürmte, um ihren Helden zu suchen. Und natürlich fand sie ihn. Wenn man wenigstens ein paar Worte darüber verloren hätte, wie man mit diesen Toren umging …
Es gab übrigens im Text keine einzige Illustration, auf der Menschen dargestellt gewesen wären. Es gab nur Landschaften, abstrakte Klecksereien und meisterlich ausgeführte Stillleben. Aber kein einziges Gesicht. Ob solche Darstellungen aus religiösen Gründen verboten waren wie bei den Moslems oder ob man einfach nicht auf die Idee gekommen war? Wenn Letzteres zutraf, würde ich hier meinen Weg machen. Allein mit der Idee, Liebesromane in grellen Umschlägen zu verpacken, würde ich so viel Geld scheffeln, dass ich mir ein Haus kaufen könnte … Verdammt! Wahrscheinlich hatte der Cualcua nicht ganz unrecht. Ich ließ mich gehen. Träumte von einem Haus. Dazu dann noch eine Trommel und eine junge Bulldogge, später würde ich heiraten …
Ich schloss den Schrank, kämmte mich und verließ das Zimmer. Aus irgendeinem Grund wünschte ich, die anderen würden noch schlafen. Es gehörte sich ja eigentlich nicht, aber ich wollte durchs Haus streifen, richtige Bücher suchen und versuchen, mit dem hiesigen Informationsnetz zurechtzukommen …
In der großen Halle, die wie bei den Amerikanern direkt hinter der Eingangstür lag, saß Rada. Sie las.
»Guten Morgen«, sagte ich leise.
Die Frau sah auf. »Guten Morgen, Pjotr. Hast du gut geschlafen?«
O ja, sie war garantiert älter als ich. Wesentlich älter. Unter dem trügerisch jungen Äußeren verbarg sich eine Lebenserfahrung, von der ich nur träumen konnte. In ihr steckte Kraft … neben ihr fühlte ich mich klein und schwach.
»Ja, danke. Ich fühle mich wie neugeboren.«
»Komm, ich mache dir Frühstück. Meine Männer schlafen noch.« Rada legte das Buch beiseite. Unwillkürlich schielte ich auf den Deckel, der ebenfalls sehr streng aufgemacht war. »Der Tempel von Annas Urahn. Ich wollte mal wieder einen der Klassiker lesen.«
»In dem Zimmer, in dem ich geschlafen habe, stehen auch viele Bücher«, tastete ich mich vor.
»Da? Ach ja …« Rada lachte. »Das letzte Mal hat meine Freundin dort geschlafen … sie hat uns im letzten Monat besucht. Aber das sind doch bloß Liebesromane!«
Immerhin, sie las diesen Kram nicht.
»Das ist mir auch aufgefallen. Sehen bei euch alle Bücher so aus? Ohne Bilder auf den Einbänden und … ohne Menschen in den Illustrationen?«
»Das sind doch nicht-adaptierte Ausgaben«, erklärte sie erstaunt. »Na, damit sie …« Rada geriet in Verlegenheit. »Jetzt rede ich schon wie mit einem kleinen Kind mit dir, Pjotr! Nimm’s mir bitte nicht übel!«
»Das tue ich nicht.«
»Das ist eine billige Ausgabe. Für den gesamten Schatten. Und sie verzichtet auf alle Illustrationen, die eventuell eine Rasse aufbringen könnten.«
Lass dir das erklären!, fiepte der Cualcua.
»Wäre das denn möglich?«
»Glaubst du wirklich, eine sentimentale alte Frau würde ein solches Buch lesen, wenn darin Bilder von zwei Spinnen enthalten sind, die sich küssen?«
Mit einer Antwort von mir rechnete sie nicht. Sie brach in Gelächter aus und griff nach meiner Hand. »Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, Pjotr. Ich weiß, du bist Soldat. Da ist es ja schon schön, dass du dich überhaupt für Literatur interessierst. Soll ich dir vielleicht für den Anfang ein paar interessante Bücher heraussuchen?«
Damit war ich also abgestempelt.
Meine Frage musste in die Kategorie fallen: Warum sind alle Buchstaben schwarz und trotzdem unterschiedlich? Nun sah sie in mir also nichts weiter als einen grobschlächtigen Soldaten – der ein zartes Interesse für Literatur zeigte.
Doch angesichts dessen, was Rada mir da gerade erzählt hatte, war das eine Nichtigkeit, die keine Beachtung verdiente.
Andere Rassen!
Der Schatten umfasste doch nicht nur humanoide Zivilisationen. Es gab auch noch Spinnen – und vermutlich auch Quallen, Vögel und Insekten.
Ich hatte einfach zwei Mal hintereinander Glück gehabt.
Ich folgte Rada ins Esszimmer. Der große Tisch deutete auf ganze Heerscharen von Gästen. Das Frühstück war deftig und schmeckte gut. Ich bewältigte ein ordentliches Kotelett und Salat, verzichtete aber auf die allzu ausgefallenen Süßigkeiten.
»Hast du schon Pläne?«, erkundigte sich Rada, die mir gegenüber mit einer Tasse Tee Platz genommen hatte. »Hast du schon mal über dein Leben nachgedacht?«
»Ich denke an nichts anderes«, gestand ich düster.
Rada nickte. Ihr Blick hakte sich an meiner Wange fest.
»Stört dich die Narbe nicht?«
»Nein. Nicht sehr.«
»Soll ich sie entfernen?«
Was hatte ich denn eigentlich von Menschen erwartet, die schon jahrhundertealt sind? Vor allem da man inzwischen eine solche Banalität wie eine Narbe selbst auf der Erde entfernen konnte.
»Später …«, antwortete ich ausweichend.
Rada seufzte. »Pjotr«, sagte sie, zum Fenster hinausschauend, »hier in der Nähe gibt es freies Land. Offiziell gehört es uns, daher würde es keine Probleme geben … Hast du etwas erspart?«
»Nein.«
»Macht nichts. Du kannst einen Kredit aufnehmen. Bestimmt hast du einen Beruf, mit dem sich auf unserem Planeten etwas anfangen lässt … Du baust dir ein Haus …«
»Gibt es zufällig auch eine heiratsfähige junge Frau in der Nähe?«, wollte ich wissen.
»In der Nähe nicht, aber …« Rada musterte mich eindringlich. »Eins verstehe ich nicht, Pjotr. Willst du etwa in die Welt zurückkehren, aus der du gekommen bist? Willst du Rache üben oder jemanden retten?«
»Nein. Jene Welt wird selbst für sich Rache üben. Und sie soll sich auch selbst retten, so gut sie es kann.«
»Dann verstehe ich überhaupt nichts mehr. Gefällt … gefällt es dir hier nicht?«
»Es ist alles sehr schön«, antwortete ich ehrlich. »Danke.«
»Haben wir dich vielleicht beleidigt?«
Mein Gott, allmählich wurde es Zeit auszurufen: »Wer? Diese freundlichen Menschen?«
»Es fällt mir schwer, in Worte zu fassen, wie dankbar ich euch bin, Rada.«
»Wofür?«
Ich schüttelte den Kopf. Es war wirklich schwer, Worte zu finden. Für die Wärme? Für die nicht gestellten Fragen? Für die Bereitschaft, einem Unbekannten zu helfen?
»Rada, ich habe meine Heimat. Den Planeten Erde … Ich weiß, das klingt vielleicht dumm, aber dieser Planet hat nun mal keinen anderen Namen. Und ich liebe ihn sehr.«
»Ist es dort gut?«
»Dort ist es schlecht, Rada. Es gibt dort mehr Schlechtes als Gutes. Aber man liebt ja etwas auch nicht wegen etwas.«
Die Frau schien irritiert. »Warum hast du deine Erde dann verlassen?«
»Weil ihr Gefahr droht. Eine dumme, zufällige und unabwendbare Gefahr. Ich habe gehofft, Hilfe zu finden.«
»Eine Gefahr von außen?« Radas Stimme klang jetzt sehr fest.
»Kann man so sagen. Obwohl wir auch jede Menge innerer Probleme haben. Aber im Moment geht es darum, ob die Erde überlebt.«
»Ist es etwas wie …« Rada verzog das Gesicht. »… die Kristallene Allianz? Ich habe gehört, zurzeit würde man die Nächtliche Alternative ins Leben rufen. Und anscheinend auch die Orange Gruppe …«
»Nein. Rada, hast du schon je von einer Welt namens Die Heimat gehört?«
»Nennt sie sich selbst so?«
»Ja. Ich nenne sie die Geometer … weil sie ihre Kontinente mit Zirkel und Lineal begradigt haben.«
Rada fing an zu lachen und schlug verlegen die Hände vors Gesicht. »Oh … entschuldige. Aber das ist wirklich albern … Nein, davon habe ich noch nie gehört, Pjotr.«
»Und vom Konklave?«
»Ist das die religiöse Sekte der Amphibien?«
»Nein, das ist eine Art Imperium. Zu ihm gehören die Starken und die Schwachen Rassen … die Hyxoiden, Daenlo und Torpp zum Beispiel …«
»Rassen können nicht in starke und schwache unterschieden werden.«
»Sie tun das aber.«
»Gut, dann verstehe ich dich«, sagte Rada. »Das ist in der Tat widerwärtig. Aber ich habe noch nie von alldem gehört. Wollen diese Menschen euch bekämpfen?«
»Sie wollen uns vernichten.«
»Das ist nun wirklich unangenehm«, meinte Rada seufzend.
Ihr Ton war bitter, aber in Maßen, als hätte ich ihr erzählt, die Aliens hätten die Absicht, alle Erdbewohner kahl zu scheren, oder befohlen, schnellstmöglich den Coca-Cola-Konsum einzuschränken. Unangenehm! Was sollte man dazu sagen? Ich hielt es immerhin für eine Tragödie, und sei es eine in kleinerem Maßstab.
»Guten Morgen, Pjotr.«
Ich drehte mich um. Kelos stand in der Tür. Er trug einen streng geschnittenen Anzug, der recht unpassend wirkte. Fehlte nur noch die Krawatte – und er könnte zum Bankett bitten.
Anscheinend stand er schon länger da.
»Ich wollte euer Gespräch nicht stören, Pjotr. Wie heißt der Planet der Geometer noch einmal?«
»Die Heimat.«
»Nein, ich meine, wie es in ihrer Sprache klingt. Sprichst du ihre Sprache?«
»Ja …« Ich stellte mir mit einiger Mühe Katti und Tag vor. »Die Heimat.«
»Doch, ich glaube, davon habe ich schon gehört.« Kelos machte ein immer nachdenklicheres Gesicht. »Gehören sie schon lange zum Schatten, Pjotr?«
Der Cualcua in mir seufzte, schwieg aber.
»Sie gehören nicht zum Schatten. Und mein Planet, die Erde, auch nicht.«
Kelos und Rada sahen sich an.
»Na, was habe ich gesagt?«, fragte Kelos. »Ich habe mir nämlich schon gestern Abend zusammengereimt, dass du von außerhalb kommst, Pjotr.«
»Wundert euch das denn gar nicht?«, rief ich aus.
»Warum sollte es?« Kelos rieb sich die Nasenwurzel. »Der Schatten ist groß, aber das Universum ist noch größer. Früher oder später … kommen neue Rassen dazu.«
Dari huschte nun auch ins Esszimmer. Er sah mich verlegen an und schlich zu seiner Mutter. »Guten Morgen«, murmelte er und schmiegte sich gegen Rada.
Ich schwieg.
Ich war nicht in der Lage, etwas zu sagen.
Meine ganze Raffinesse, meine ganze Tarnung – ich hätte sie mir getrost sparen können!
Und die beiden zeigten sich nicht einmal besonders neugierig!
»Wir müssen unter vier Augen miteinander sprechen, Pjotr.« Kelos nickte Rada zu: »Dann wird es leichter für ihn sein.«
»Ja, natürlich.« Rada, die mir so jung vorkam, sah mich mit den Augen einer alten und weisen Frau an. Zerstreut hielt sie ihren Sohn im Arm. »Vertrau Kelos, Pjotr. Wenn du Hilfe brauchst, wird er alles tun, was möglich ist.«
In ihrem Blick lag Schmerz.
»Warum?«, fragte ich, während ich mich erhob.
An ihrer Stelle antwortete Kelos: »Weil ich alte Schulden abzahle.«
»So ist der Jump zu unserem Fluch geworden. Und zu unserer Rettung …«
Aus unerfindlichen Gründen hatte ich ihm zunächst vom Jumper erzählt. Am Anfang hatte eine Gruppe armer Wissenschaftler gestanden. Sie wollten eine abstrakte mathematische Formel in die Praxis umsetzen – und das war dabei herausgekommen.
Kelos’ Zimmer lag im zweiten Stock, direkt unterm Dach. Das Dach allerdings fehlte im Moment, war eingezogen, so dass die Sonne hereinschien. Kelos saß am Tisch, drehte einen groben Metallarmreifen in den Händen und hörte mir schweigend zu. Ich sah ihm ebenfalls nicht in die Augen.
»Die Starken Rassen haben uns die Rolle von Fuhrleuten zugewiesen. Wir haben immer geglaubt, das hinge mit unserer einzigartigen Fähigkeit zusammen, den Jump zu ertragen. Aber wie sich herausgestellt hat, bilden wir selbst auch einen Teil des Jumpers.,.«
»Die Koordinaten? Die Stabilität des Sprungs?«
»Ja.«
»Dann ist alles klar. Euer Bewusstsein steht in Wechselwirkung mit dem Schatten.«
»Wie?«
»Ihr habt die ursprüngliche Form bewahrt. Das ist die ganze Erklärung … Im Moment des Übergangs tretet ihr kurz mit den Toren in Kontakt … Erzähl erst mal weiter. Ich erklär dir nachher alles.« Kelos streifte sich den Armreif über und drehte die Hand hin und her, als müsse er entscheiden, ob ihm der Schmuck stünde oder nicht.
Ich schluckte meinen Speichel hinunter und fuhr fort: »Alles lief mehr oder weniger problemlos … soweit das eben möglich ist. Bis dann diese Rasse aufgetaucht ist … die Geometer. Andere Schwache Rassen sind auf sie aufmerksam geworden. Sie haben sich wohl gedacht, dass sich damit das Kräfteverhältnis verändert … und haben uns in dieses Abenteuer hineingezogen. Wir und die Geometer sind physisch nämlich identisch!«
»Verstehe. Dann sind die Geometer also geflohen?« Kelos grinste. »Das ist bemerkenswert. Sie müssen in der Tat einen stark ausgeprägten Selbsterhaltungsinstinkt besitzen. Nimm’s mir nicht übel, aber mir gefallen sie …«
»Mir nicht. Die Geometer dürften etwas genauso stark sein wie das Konklave! Inzwischen wissen die Starken Rassen über ihr Auftauchen Bescheid. Damit können wir nicht mehr zu einem Kompromiss gelangen. Die Erde wird als möglicher Verbündeter der Geometer vernichtet werden.«
»Bist du da sicher?«
»Ja. Das Konklave kennt kein Erbarmen. Es ist eine sehr alte … und sehr grausame Einrichtung.«
»Eine interessante Situation.« Kelos legte sein Spielzeug beiseite. »Was ist das übrigens für ein Wesen, das in deinem Körper lebt?«
»Ein Symbiont … ein Cualcua … das ist eine der Schwachen Rassen …«
Kampftransformation!
»Halt den Mund!«, brüllte ich. »Misch dich hier nicht ein!«
»Sag deinem Freund …« Kelos kniff die Augen zusammen. »Ach nein, er hört mich ja sowieso … Er braucht nicht in Panik zu verfallen! Und er soll keine Schlägerei anfangen.«
Er fuchtelte beiläufig mit der Hand, als wolle er etwas Unsichtbares verscheuchen. Ein weißes Licht hüllte seine Finger ein. Es verströmte Wärme.
»Ich habe für die Kristallene Allianz gekämpft«, rief Kelos meinem Symbionten in Erinnerung. »Wenn du glaubst, Cualcua, wir hätten noch nie Metamorphen des monopersonalen Typs getroffen …«
Auf seiner Handfläche rollte jetzt ein blendender kleiner Plasmaball hin und her.
»In mir steckt noch zu viel von einem alten Kämpfer, als dass du mich hinterrücks überfallen könntest … und dabei mit dem Leben davonkommen würdest.«
Die Feuerkugel riss sich von seiner Hand und stieg hoch in die Luft. Irgendwo über dem Haus platzte sie mit einem trockenen Knistern.
Wer betäubter und erschrockener war, hätte ich nicht zu sagen vermocht. Wahrscheinlich doch ich. Der überwiegende Teil des Cualcua befand sich nun einmal weit, weit weg von hier.
»Die Situation ist mir jetzt klar, Pjotr.« Kelos schien den Cualcua vergessen zu haben. »Eine traurige Situation. Habt ihr nicht versucht, euch mit den Geometern zusammenzutun? Wenn sie in der Lage wären, euch gegenüber dem Konklave zu helfen …«
»Nein!«
»Warum nicht?«
»Kelos, ihre Welt ist etwas Ungeheuerliches.«
»Sie ist immer noch besser als der Tod. Ich weiß ein wenig über ihre Zivilisation. Auf unserem Planeten lebt ein ehemaliger Regressor der Geometer. Ja, Pjotr, du hast ganz richtig gehört. Ich erinnere mich nicht an den Namen … ich habe das für keine wesentliche Information gehalten … Inka, genau! So hieß er! Inka.«
Der Name kam mir bekannt vor … Er stieg aus der Tiefe meines Gedächtnisses an die Oberfläche.
»Du hast noch nicht begriffen, warum sie geflohen sind? Glaubst du etwa, sie hätten sich mit irgendeiner Allianz, Union oder Föderation angelegt, hätten eins zwischen die Hörner gekriegt und in Panik den Kern verlassen? Pah! Dazu wäre es nur gekommen, wenn ihre Ideologie sich wirklich allgemein durchgesetzt hätte … Aber darauf haben sie es ja gar nicht angelegt, Pjotr. Sie sind allesamt Kinder, denen man irgendwann einmal Wärme vorenthalten hat. Einsame Wesen, die gewöhnt sind zu glauben, sie hätten Freunde. Unglückliche, sich ihrer selbst nicht sichere Individuen, die nur zu gern wiederholen: ›In der Einheit liegt die Kraft, wir sind alle eine große Familie.‹«
Kelos seufzte.
»Gut, ich will es dir erklären … kurz und der Reihe nach. Diese Informationen wirst du in den meisten Informationsnetzen nicht finden, sie sind normalerweise nicht allgemein zugänglich. Unsere Zivilisation ist sehr alt, Pjotr. Vielleicht ist es sogar tatsächlich die älteste in der Galaxis …«
»So wirkt sie aber gar nicht …«, flüsterte ich.
»Natürlich nicht. Was hast du denn erwartet vorzufinden? Planeten, die mit einer Kruste aus Stahlhöhlen überzogen sind? An jeder Ecke Weltraumhäfen? Ätherische Geschöpfe, die über die Harmonie der Sphären sinnieren? All das hatten wir schon. Wir haben es sogar noch … Und genauso hat alles angefangen, Pjotr. Die Ur-Erde hat Schiffe ausgeschickt, diese haben Kolonien geschaffen. Der humanoiden Rasse haben sich andere angeschlossen … du brauchst da nur an euer Konklave zu denken … Kriege wurden geführt. Man hat die Natur unterworfen. Es hat Aufstände gegeben. Unionen und Imperien. Also die ganze normale Spirale der Entwicklung. Zunächst haben Staaten um die Vorherrschaft gekämpft, später Planeten. Zunächst haben Städte gebrannt, später Sterne. Die goldenen Jahrhunderte zogen sich dahin, bis Perioden des Niedergangs einsetzten. Das klassische Schema, und alle wussten, dass man die Natur des Menschen nicht überwinden kann und es immer so bleiben wird, bis wir das Universum selbst ins Nichts verwandelt haben … Gibt es bei euch Unterhaltungsliteratur, die Dinge beschreibt, die noch nicht geschehen sind?«
»Ja, die Science Fiction.«
»Hervorragend. Ich denke nämlich, alles, was ihr euch ausgedacht habt, hat es bei uns schon in der einen oder anderen Form gegeben. Und plötzlich … ja, genau, dieses verteufelte Plötzlich! Alles geschieht ja immer und überall plötzlich, doch jedes Mal staunen wir aufs Neue darüber … So, wie ihr euch den Jumper ausgedacht habt, haben wir die Tore entwickelt. Sie sind natürlich viel komplizierter. Das gilt selbst für die Anfangsphase, als die Tore noch eine materielle Form hatten, einen Bogen, über den sich ein Hyperfeld spannte … Später haben wir es geschafft, die Tore zu einem Teil der Umwelt zu machen, so dass sie nicht mehr zerstört werden können und ewig bestehen …«
Kelos bedeckte das Gesicht kurz mit den Händen. »Trinkst du Alkohol?«, fragte er dann.
»Jetzt würde ich gern welchen trinken«, gestand ich. Das wollte ich wirklich gern, nicht um Kelos Gesellschaft zu leisten, sondern um meine Gefühle zu betäuben.
Zwischen den Regalen mit den Büchern und allerlei bizarrem Kinkerlitz kam auch eine kleine Bar zum Vorschein. Kelos holte eine Flasche und zwei hohe schmale Gläser heraus. Er goss uns eine glasklare sämige Flüssigkeit ein. »Viel Glück«, prostete er, stieß aber nicht an.
Ich trank mein Glas auf einen Zug leer. Ein brennender Likör, der stärker als Wodka war. Säuerlich und süß.
»Ich habe mir gedacht, dass das in eurer Welt das übliche Entspannungsmittel ist«, sagte Kelos. »Also, Pjotr, die Tore sind etwas sehr Raffiniertes. Sie bringen einen Menschen nicht einfach von einer Welt in eine andere. Sie entscheiden auch, wohin genau er zu schicken ist.«
»Das habe ich schon begriffen.«
»Das Bewusstsein desjenigen, der sie betritt … nein, es wird nicht gescannt, das wäre zu einfach ausgedrückt …«
»Es wird erfasst.«
»Ja, das trifft es vermutlich besser. Jeder, der ein Tor betritt, wird in die Welt geschickt, die seinen Wünschen entspricht. Und nirgendwohin sonst. Natürlich entspricht eine Welt nie hundertprozentig deinen Wünschen, aber es kommt doch zu einer maximalen Annäherung. Du hasst jede Technik? Dann wirst du an den Busen der Natur geschickt. Dort kannst du auf Pferden reiten und, wenn du möchtest, in einem Wald räubern und lernen, mit Pfeil und Bogen zu schießen. Aber auch der gegenteilige Fall ist denkbar: Du kommst auf einen Planeten, der eine einzige Universität darstellt. Du beschäftigst dich ausschließlich mit Wissenschaft. Es hat damals zwei wesentliche Kräfte gegeben, die Entwicklungsunion und das Zweite Imperium. Die Tore wurden in allen Welten gesät … eine wahre Titanenarbeit. Fast die gesamte Gruppe der Wissenschaftler, die damit begonnen hat, ist umgekommen. Das Imperium und die Union haben sich im Kampf gegen die Tore zusammengeschlossen, zum ersten und letzten Mal. Der Imperator, der anfangs die Schöpfer der Tore unterstützt hat, hat seinen Fehler irgendwann eingesehen. Da war es jedoch bereits zu spät. Die Tore ließen sich selbst in der Urvariante praktisch nicht mehr zerstören. Das Imperium und die Union durchlebten eine stürmische und blutige Agonie, die sich ein ganzes Jahrhundert hinzog. Wenn die Tore nur ein schlichtes Transportmittel gewesen wären … wäre der Schatten vielleicht nie entstanden. Aber erneut sollte sich alles als weitaus komplizierter erweisen, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Die Erfassung drückte nämlich auch den Toren einen Stempel auf. Sie … sie kopieren das Bewusstsein desjenigen, der durch sie hindurchgeht. Sie integrieren jede neue Persönlichkeit in ihren Verstand.«
Ich sagte kein Wort.
»Du bist da jetzt auch drin, Pjotr. Du bist zu einem winzigen Teil dessen geworden, was längst über die Grenzen des Vorstellbaren hinausgewachsen ist.«
»Diese Welt … in die ich zuerst geraten bin …«
»Etwas in dir wollte genau das. Einen realen, wenn auch primitiven Feind. Und gleichzeitig die Gewissheit, wie sinnlos ein solcher Krieg ist. Du hast bekommen, was du wolltest. Und als Zugabe den Sieg über den Metamorphen. Stimmt’s nicht? Wahrscheinlich verkörpert er eine Angst von dir … einen Komplex …«
Ich zuckte zusammen, als hätte ich einen Schlag erhalten. »Aber sie kämpfen weiter, Kelos!«, schrie ich los. »Ich habe bekommen, was ich wollte – aber sie bringen sich ununterbrochen um!«
»Das heißt nur, dass dort diejenigen leben, die genau das wollen, Pjotr. Jedem das Seine …«
Ich erschauderte.
»Sie finden Gefallen an dieser brutalen und gefährlichen Form des Widerstands … Ihre Qualen und der hoffnungslose Kampf bereiten ihnen Freude … Es sind emotional arme Menschen … ohne jede Begabung …«
»Und bereit zu sterben?«
»Ach ja, das hätte ich beinahe vergessen.« Kelos zögerte kurz. »Wie soll ich dir das erklären, Pjotr?«
Alles in mir verkrampfte sich, denn ich wusste bereits, was er sagen würde.
»Es gibt keinen Tod. Diejenigen, die durch ein Tor gegangen sind, sterben nie.«
Warum schwieg ich?
Ich müsste doch einen hysterischen Anfall kriegen. Auf die Knie fallen und Gott preisen … den es unter diesen Bedingungen garantiert nicht mehr gab und nie geben wird …
Guten Tag, Paradies. Guten Tag, Hölle. Guten Tag, Schatten.
»Du bist bereits ein Teil des Schattens, Pjotr … Man kann dich umbringen. Aber danach fängst du ein neues Leben an. Auf dem Planeten, den du dir wünschst. Zusammen mit deinem Feind, damit ihr beide euern Kampf zu Ende austragen könnt. Oder auf einem beschaulichen, friedlichen Planeten, auf dem diejenigen leben, die des Tötens müde sind. Als Mensch, als Vogel, als denkender Kristall …«
Kelos trat an mich heran und legte mir die Hand auf die Schulter.
»Auch du bist schon gestorben, Pjotr«, sagte er sanft. »Ich weiß nicht, was dir mit diesem Metamorphen passiert ist … aber ich habe den Blick erkannt, mit dem du mich angesehen hast. Es gibt keinen Tod. Ich bin schon dreimal erschossen worden. Ruhig und höflich. Ohne besondere Bosheit. Einmal bin ich gemeinsam mit meinem Schiff umgekommen … aber auch das ist nicht der Rede wert. Die Welt ist einfach verblasst …«
»Es gibt keinen Tod«, sagte ich. Leere und banale Worte. Gut, dann gab es ihn eben nicht … Es gibt ihn sowieso nicht, entweder liegt er noch vor uns, oder wir leben bereits nicht mehr. »Und was ist mit denjenigen … die nicht durch ein Tor gegangen sind?«
»Das weiß ich nicht. Früher hatten die Tore einfach keine Bedeutung für sie. Aber in was sich die Tore heute verwandelt haben und woher sie ihre Informationen haben, das kann ich nicht sagen. Aber …«
Also habt ihr nur nicht lange genug gelebt. Ihr, meine verhinderten Eltern … der echte Pjotr Chrumow … ihr alle, die ihr auf dem kleinen Planeten Erde gelebt habt und gestorben seid. Wissenschaftler und Bauern, Dichter und Soldaten, Sklaven und Tyrannen. Ihr habt an Gott geglaubt oder Atheismus gepredigt, ihr habt von der Unsterblichkeit geträumt, habt eine Philosophie geschaffen wie Fjodorow, oder habt fremdes Leben getrunken wie Gilles de Rais … Ihr Heiligen und Henker, ihr Genies und Tölpel … ihr alle habt nicht lange genug gelebt! Jetzt seid ihr dort, hinter jener Grenze. Und ich bin hier. Im gemütlichen Schatten.
Ich bin durch ein Tor gegangen.
Das Konklave wird die Erde in Schutt und Asche legen, die Geometer werden die Planeten des Konklaves vergiften und auf den Ruinen ihr kleines Imperium der Freundschaft errichten, und ich werde leben. Gut essen und weich schlafen. In fremden Armeen kämpfen und an fremden Universitäten studieren.
Alles ist erlaubt, ja?
Wenn mir der Sinn danach steht, ein Tyrann zu sein, komme ich in eine Welt voller Sklaven. Wenn ich ein Sklave sein möchte, lasse ich mich in Ketten schmieden. Ich lasse mir Scheinfüßchen wachsen und mutiere zu einer Amöbe. Oder ich lege mir vier weitere Beine zu und lerne, ein Spinnennetz zu weben. Oder ich werde wieder ein Mensch. Ich schaffe mir einen Harem an, gründe eine Religion und verfasse einen Sonettenkranz. Ich baue ein Haus, pflanze einen Baum, erziehe einen Sohn.
Vor mir lag die Ewigkeit.
Ich weinte, in dem weichen Sessel zusammengekrümmt. Kelos streichelte mir über die Schulter, als beruhige er ein Kind. Aber für ihn, der bereits Jahrhunderte gelebt hatte, von den Toten auferstanden war und Planeten niedergebrannt hatte, war ich ja auch ein Kind. Wer stand damals an der Spitze der Kristallenen Allianz, Kelos? Wie kommt es, dass ich die Antwort kenne?
Es zog kurz, weil die Tür aufging. Kelos seufzte. Kinderarme umschlangen mich.
»Warum weinst du denn, Pjotr? Papa, warum weint er?«
»Er hat mehr gefunden, als er wollte, Dari. Das tut immer weh.«
»Weine nicht, Pjotr.«
Du kannst mich nicht verstehen, Junge, denn du weißt von klein auf, dass es den Tod nicht gibt.
Jedes Wissen muss zu seiner Zeit kommen. Und jeder kriegt, was er verdient. Aber warum riechen diese Worte dann nach verbranntem Fleisch?
Ich hatte mehr gefunden, als ich gesucht hatte.
Alle Sterne lagen in meinen Händen.
»Warum hilfst du ihm nicht, Papa?«
»Man muss nicht immer helfen, Dari. Manchmal muss man sich auch abwenden und warten.«
»Das ist unfair!«
»Aber dafür ist es richtig, mein Junge.«
»Dann lieber falsch, aber fair!«
Kelos seufzte.
»Das haben wir früher auch einmal gedacht … Pjotr und ich müssen uns ernsthaft unterhalten, Dari, ein Gespräch unter Erwachsenen. Also geh bitte raus.«
»Papa, aber du …«
»Dari.«
Der Junge verließ das Zimmer.
»Danke«, sagte ich. Es hatte mir nichts ausgemacht, vor Kelos zu weinen. Aber vor dem Jungen … das war etwas anderes.
»Dann lieber falsch, aber fair …« Ich hörte, wie etwas gluckerte. »Möchtest du noch einen Schluck?«
»Nein.«
»In der Kristallenen Allianz haben wir auch diese Auffassung vertreten. Wir haben geglaubt, die Tore seien ein Fehler. Eine Falle, eine Versuchung, eine Sackgasse. Wir haben einen Planeten nach dem nächsten erobert … und versucht, eine monolithische Gesellschaft aufzubauen, anstelle der einheitlichen Vielfalt‹, wie der Schatten damals genannt wurde. Erst später haben wir verstanden, was eigentlich vor sich geht. Der Schatten hat nämlich gar nicht gegen uns gekämpft. Er hat uns lediglich die Welten überlassen, die nach Kampf dürsteten. Wir waren selbst ein Teil des Schattens geworden, eine Schaufensterpuppe, der man alle negativen Gefühle überstülpen konnte. Damals ist bei uns alles in sich zusammengebrochen. Wir haben unsere Idee verloren – und ich will jetzt gar nicht darüber streiten, ob sie richtig war oder nicht. Die Allianz war zu einer Bande von hedonistischen Psychopathen verkommen. Wir wurden in einer Schlacht vernichtend geschlagen, die Handelsliga entstand, deren erstes Opfer wir wurden. Später gaben wir Planet um Planet auf. Der Schatten wollte das so, denn die Menschen hatten genug vom Krieg.«
»Du hast versprochen, mir zu sagen, was die Geometer in die Flucht geschlagen hat …«
Ich löste meine Hände vom Gesicht und sah ihn an. Die Tränen wischte ich nicht weg. Diese Regel kennt jedes Kind: Wenn sie von allein trocknen, sieht man nicht, dass du geweint hast.
»Hast du das wirklich noch nicht verstanden, Pjotr? Ihre Herrscher sind in Panik geraten, weil die Agenten Der Heimat nicht nach Hause zurückgekehrt sind. Der Schatten sieht jedem auf den Grund der Seele, Pjotr. Er erkennt, was sich da wirklich verbirgt. Die Agenten wollen diese ihre Freundschaft im Grunde ihres Herzens nicht. Sie vermissen die Liebe, die ganz gewöhnliche Liebe zwischen den Menschen. Und bei uns ist es nicht schwierig, sie zu bekommen … Ein kleiner Teil von ihnen ist zurückgekehrt, diejenigen, für die Die Heimat tatsächlich die beste aller Welten war. Aber die anderen sind hiergeblieben. Manche voller Freude, andere aber irren von einer Welt zur nächsten und sind davon überzeugt, dass sie eigentlich zurückkehren wollen … Es ist uns kaum aufgefallen, als die Geometer aufgetaucht sind, Pjotr. Hier und da hat man zwar etwas mehr über sie gesprochen, andernorts hat man aber noch nie von ihnen gehört.«
»Genau wie man von uns noch nichts gehört hat?«
»Ja. Dass so fern vom Kern eine verwandte Zivilisation existiert, ist eine interessante Neuigkeit – die allerdings auch nicht für alle Welten neu ist.«
»Eine verwandte Zivilisation?«
Kelos nickte.
»Aus der Zeit des Ersten Imperiums … sogar noch vor dessen Gründung … Wir sind damals auseinandergestoben wie Funken über einem Lagerfeuer. Hunderte, Tausende von Schiffen verschwanden in der Dunkelheit und verloschen. Aber manchmal fällt ein Funke eben auf trockenes Moos. So ist wahrscheinlich die Rasse der Geometer entstanden. Es scheint kaum möglich, dass zwei intelligente Kulturen zur gleichen Zeit auf einem Planeten aufkommen können – aber bei ihnen war genau das der Fall.«
»Ich weiß.«
»Und bei euch muss es auch so gewesen sein. Eine andere Möglichkeit für eine vollständige biologische Übereinstimmung sehe ich nicht. Ihr seid weder unsere Nachfahren noch unsere Vorfahren, sondern unsere Cousins.«
»Und wird die Zivilisation des Schattens bereit sein, ihren Verwandten zu helfen?«
»Dabei, den anderen Familienmitgliedern eins in die Fresse zu hauen?«, fragte Kelos ironisch. »Aber lass uns mal ernsthaft darüber nachdenken, Pjotr. Ich möchte dir wirklich helfen, glaubst du mir das?«
»Ja.«
»Auf unserem Planeten brauchst du keine Hilfe zu suchen. Dir persönlich bieten wir natürlich immer welche an. Wir genießen es, den Gequälten und Erschöpften zu helfen. Denn in ihnen erkennen wir uns selbst wieder … Aber etwas Globaleres? Nein, Pjotr, nein.«
»Wer kommt außer euch noch infrage?«
»Auf anderen Welten … Es gibt viele Welten, die bis heute den Kosmos erobern. Ihre Geschwader suchen Abenteuer, sie löschen sich gegenseitig in Schlachten aus und schnappen einander Planeten weg. Das ist ein sehr verlockender Weg der Entwicklung – in einem bestimmten Alter. Diese Welten solltest du besuchen. Es wird sich bestimmt eine finden, die der Erde mit Freude zu Hilfe eilt. Sie werden eine Expedition ausstatten, einen Ring aus Militärbasen um die Erde ziehen und allen Aliens tüchtig einheizen … Wenn du dich anstrengst, findest du auch einen Planeten, dessen Bewohner, ohne zu zögern, das Konklave hinwegfegen würden. Irgendwelche Chauvinisten in der Gestalt von Menschen … die alle Spinnen, Amöben und Reptilien in Asche verwandeln!«
Der Cualcua in mir fiepte.
»Das möchte ich nicht, Kelos.«
»Dann brauchst du eine technisch entwickelte Welt, die über eine starke Flotte verfügt und eine humane Politik vertritt. So etwas sollte sich finden lassen.«
Kelos schien mit seinem Ratschlag zufrieden zu sein.
»Sie werden auch die Geometer zur Ordnung rufen … möglicherweise fliehen die dann ja noch weiter. Natürlich entkommt man dem Schatten am Ende doch nicht. Der Schatten ist dabei, sich in der ganzen Galaxis auszubreiten. Langsam, aber sicher. Wir werden alle in ihm landen.«
Ich schwieg.
»Was beunruhigt dich daran?«
»Kelos, soll denn das das Ende allen Lebens sein? Ihr selbst stagniert doch! Bei euch ist der technische Fortschritt geradezu künstlich eingefroren worden! Ich habe einen Film über das Erste Imperium gesehen – ihr habt euch nicht im Geringsten verändert!«
»Wir? Plasma und Asche … Versteh das doch, Pjotr, alle leben genau so, wie sie es sich wünschen! Wir wollen gar nichts anderes. Uns gefällt es in diesem Körper. Uns gefällt es, das Leben von Menschen zu leben! Und wenn wir genug davon haben …«
Kelos ging auf und ab, die Hände auf dem Rücken verschränkt.
»Ich habe solche Welten gesehen … Die Kristallene Allianz ging damals allmählich unter. Für uns gab es keine Möglichkeit, durch ein Tor auf einen Planeten zu gelangen, wo man schon vergessen hatte, wie ein Mensch aussieht. Aber wir glaubten, genau das sei die Lösung. Deshalb habe ich … ein Schiff genommen …«
Seine Stimme war trocken geworden, die Sätze abgekackt. Noch einmal durchlebte er seine Vergangenheit, in der sich Dinge ereignet hatten, die sich kein Kriegstreiber auf der Erde träumen lassen würde.
»Wir haben uns durch die Kehrseite des Raums bewegt. Ich habe versucht, mit dem Schiff zur Ur-Erde zu gelangen. Aber es hat nicht geklappt … wir haben uns einfach verflogen. Wir haben es geschafft, die Piroge zu erreichen … das ist eine der ersten Kolonien, eine sehr alte Welt. Damals wurden die Schiffe der Kolonisten nach Seeschiffen benannt: Galeone, Gleitboot, Kutter, Karavelle … Und die Planeten wurden zu Ehren des ersten gelandeten Schiffs benannt. Wir kamen wieder im normalen Kosmos heraus …«
Kelos war stehen geblieben und starrte aus dem Fenster.
»Der Planet brannte, Pjotr. Über die ganze Oberfläche ergoss sich ein Plasmameer. Feuerlawinen begruben die Berge unter sich, Flammen tanzten über die Meere. Protuberanzen schlugen durch die Atmosphäre, als hätten wir schon keinen Planeten mehr vor uns, sondern einen Stern … Ich habe geglaubt, dass die Bewohner des Planeten dem Untergang geweiht seien. Dass sie eine technisch bedingte Katastrophe erlitten hätten. Oder bei ihnen ein Krieg tobte. Ich konnte nicht mitansehen, wie diese Welt in einem Meer aus Feuer ertrank … trotzdem näherten wir uns. Im besten Kreuzer der Allianz, der sogar die Photosphäre der Sterne durchdringen konnte … wir näherten uns …«
Ich sah das, wovon er redete. Ich konnte mir diese lodernde Welt vorstellen. Und den Kreuzer, der über ihr schwebte, eingehüllt in Kraftfelder, ein Kreuzer voller Menschen … einfacher Menschen, die versuchten, ihr Imperium auf den Scherben des Schattens aufzubauen …
»Auf dem Planeten war alles unversehrt, Pjotr. In den Wäldern schwirrten Vögel herum, in den Meereswellen spielten Delphine. Die Städte standen … alte Städte … ich habe immer davon geträumt, sie einmal zu sehen … Durch die Straßen gingen Menschen. Kannst du dir das vorstellen?! Die Welt ging in Flammen auf- und merkte es nicht einmal! Als ob es in zwei voneinander isolierten Räumen geschähe. Dabei haben wir doch das Feuer gesehen, und der Schutzschild hat unter der Last geächzt. Doch durch die von Plasma durchwogten Straßen schlenderten die Menschen. Wie Automaten. Wie Aufziehpuppen, die niemand mehr braucht, bei denen die Feder aber noch nicht abgelaufen und der Mechanismus noch intakt ist … Es war schrecklich. Und schmerzlich – als ob man uns mit der Nase in unsere eigene Armseligkeit gestukt hätte. Wir versuchten, mit diesen Menschen in Kontakt zu treten, aber niemand bemerkte uns. Dann schlug vom Planeten eine Protuberanz empor … und die Kraftfelder hielten nicht mehr stand. Sie ging mitten durch unser Schiff durch. Es leuchtete kurz auf, dann stand alles in Flammen … doch selbst wenn uns der Schweiß ausbrach – dann nur wegen der Angst. Es war ein Gefühl, wie es einige verspüren, wenn sie durch ein Tor gehen. Als werde man erfasst. Irgendwann war alles vorbei. Wir hatten gesehen, was wir sehen wollten – und flogen wieder ab. Diejenigen, die in dieser Welt lebten, brauchten und fürchteten die Gesellschaft von Menschen nicht mehr. Beim Abzug feuerten wir auf den Planeten, was das Zeug hielt. Weil wir gekränkt und wütend waren. Ebenso gut hätten wir versuchen können, ein Meer anzuzünden. Und du behauptest … wir seien stehen geblieben. Wer will, der geht auch weiter, Pjotr. Der eine früher, der andere später.«
»Aber du willst nicht weitergehen?«
»Nein. Ich weiß nicht, warum nicht. Aber ich habe den Menschenkörper und alle Annehmlichkeiten, die mit ihm verbunden sind, noch nicht satt.«
»Kelos, bist du sicher, dass dein Sohn diesen friedlichen und beschaulichen Planeten nicht verlassen will? Dass er keine Abenteuer im Kosmos suchen will?«
Kelos stierte auf die Tür. »Mein Sohn …«, sagte er mit schmerzerfüllter Stimme. »Rada und ich hatten sechs Kinder, Pjotr. Und früher oder später … ist jedes von ihnen weggegangen. Uns genügt diese Welt. Aber für sie war sie zu klein und zu langweilig.«
Wozu hatte ich bloß diese Frage gestellt?!
»Man kann auch so leben. Indem man die kleinen menschlichen Freuden sucht. Kleine Kinder aufzieht, die in die große Welt hinausgehen und eines Tages als körperloser Schatten durch deinen Planeten hindurchfegen … und sich genauso wenig an dich erinnern wie du dich an deinen Teddy, den du einst so geliebt hast. Nachdem unsere jüngste Tochter uns verlassen hat, haben wir beschlossen, es damit bewenden zu lassen. Wir wollten keine Kinder mehr in die Welt setzen.«
»Aber Dari …«
»Er ist nicht mein Sohn. Er ist überhaupt kein Mensch.« Kelos schielte zu mir hinüber. »Lass dich nicht durch die Äußerlichkeiten unserer Welt täuschen, Pjotr. Auf meinem Tisch steht eine Stereoanlage. Wenn du die Augen schließt, glaubst du, es würde ein Orchester spielen. Dabei ist das Ding innen völlig leer.«
»Dari …«
»Für ihn gilt genau das Gleiche. Er ist ein Phantom. Ein Ersatz. Ein Spielzeug für Menschen, die ihrer Nostalgie erliegen. Er wird ewig Kind bleiben. Und niemals ein Mensch werden.«
Das traf mich wie ein Schlag.
Wohin war ich nur geraten? Bei wem suchte ich Hilfe und Mitleid?
Was war ich doch für ein Idiot …
»Wir spielen ein wenig Wissenschaft, auch wenn all unsere Entdeckungen in anderen Welten schon längst wieder in Vergessenheit geraten sind. Wir kämpfen für den Erhalt der wilden Natur … die ohnehin nicht sterben würde, selbst wenn wir es wirklich darauf anlegten. Wir bewahren die Familien und nehmen nicht zur Kenntnis, dass das Nachbarmädchen schon ein halbes Jahrhundert lang sechs Jahre alt ist. Wir verstecken uns vor der Welt, Pjotr. Uns jagt jede Alternative Angst und Schrecken ein, wir hassen alle Veränderungen. Wir fahren mit einem Floß den Fluss hinunter, machen in den Wäldern ein Lagerfeuer und jagen Wild, niesen, wenn wir erkältet sind, und treiben Sport. Und wir haben furchtbare Angst zu sterben, Pjotr! Weil niemand weiß, wohin ihn das Tor bringt! Niemand weiß, was er im Grunde seines Herzens will!«
Kelos beugte sich abrupt über mich und fragte leise: »He, Pjotr, du siehst das Feuer nicht, oder? Ich habe schreckliche Träume, lieber Cousin vom Planeten Erde! Ich träume von jener Stadt am Grund des Plasmameers, ich träume von Marionetten, die durch die Straßen ziehen, streiten, lachen, mit Kindern spielen … Aber du siehst das Feuer nicht, oder, Cousin? Dich versengt die Flamme nicht? Vielleicht sind wir schon alle tot, Pjotr? Und das, das alles ist eine Fiktion! Ein vertrockneter Kokon, aus dem der Schmetterling bereits vor langer Zeit geschlüpft ist, eine abgeworfene Schlangenhaut, die du nur im Schatten für ein lebendes Wesen hältst … Und mein inexistenter Sohn, dem ich beibringe, ein Lagerfeuer mit nur einem einzigen Streichholz anzuzünden, mit dem ich fröhliche Lieder singe und im Regen spazieren gehe … vielleicht ist Dari der einzige lebendige Mensch, und um ihn herum existieren nur Puppen, eine Papapuppe, eine Mamapuppe …«
Er hatte wahnsinnige, vor Schmerz schwarze Augen. Seine Wange zuckte nervös.
»Siehst du das Feuer, Pjotr?«
»Ich sehe einen Feigling!«
Die Dunkelheit in seinen Augen begann zu schmelzen.
»Warum, Pjotr? Wer bist du, mir Feigheit vorzuwerfen? Bist du mit deinem Schiff verbrannt? Weißt du, wie dein Herz zerreißt, wenn es von einer Kugel getroffen wird? Weißt du, wie es zerreißt, wenn du dein Kind verlierst? Hast du Welten gesehen, die nicht nur über deine Kräfte gehen, sondern über deinen Verstand? Was hast du vollbracht, um mir Feigheit vorzuwerfen?«
»Ich gehe weiter.«
Er stand zu nahe bei mir, als dass ich mich aus dem Sessel hätte erheben können. Ich stieß Kelos weg und sprang auf.
»Ich gehe weiter, mein guter älterer Bruder! Ich blicke auf eure Welten – und werde meinen Blick nicht von den Flammen abwenden! Wenn du kein Feuer willst, brauchst du dennoch kein Wasser zu holen! Wenn ich mich in einen Wagen setzen kann, dann gehe ich nicht zu Fuß, und wenn ich spazieren gehen will, werde ich nicht den Wagen zu Klump schlagen! Ich bin selbst eine Puppe gewesen, lieber Cousin! Eine großartige, gehorsame, fleißige Puppe. Gut, ich habe noch keine Schiffe durch die Photosphäre von Sternen gesteuert! Ich habe sie nur auf einer Autobahn gelandet und in einem Autobus voller Tomaten gebremst. Aber weißt du was? Auch das war schrecklich! Und ich habe niemanden verloren in meinem Leben; ich hatte keine Freundin, keine Eltern, keine Kinder! Ich habe nur mich selbst verloren … zwei Mal. Einmal auf der Erde, als ich einen fremden Platz eingenommen habe. Dann in Der Heimat, als ich in einen fremden Körper geschlüpft bin. Und weißt du was? Sich selbst zu verlieren – das tut auch weh. Danach fängst du an, anders zu leben … bewusster. Ich wünsche den Geometern nichts Schlechtes. Aber ich wünsche auch der Erde nichts Schlechtes. Und auf euer Paradies verzichte ich, denn es riecht mir hier zu sehr nach Schwefel!«
»Du kommst nicht mehr aus dem Schatten raus, Pjotr. Du hast ihn schon in dir.«
»Von mir aus. Aber ich bin nicht in ihm!«
Kelos schüttelte den Kopf. In seinem Blick lag keine Bosheit – sondern Neid.
»Ich war auch einmal so, Pjotr. Als wir die Allianz gegründet haben … als wir die Welten, die sowieso schon frei waren, mit der Peitsche zur Freiheit getrieben haben … Geh durch ein Tor, Pjotr! Finde eine Welt, die euch verteidigen will! Und warte … warte, bis der Schatten zu deiner Erde kommt!«
»Wir selbst werden zu euch kommen«, versprach ich.
Kelos nickte müde.
»Du bist ein guter Junge. Ich erkenne mich in dir wieder. Falls ich dich gekränkt haben sollte, verzeih mir. Ich wollte dich nicht verletzen, darauf gebe ich dir mein Ehrenwort.«
Meine Wut löste sich in Luft auf – und zurück blieb nur Schmerz.
»Ich bin dir dankbar, Kelos. Aber eine Frage habe ich noch …«
»Ich kenne die Antwort nicht. Und ich will sie auch nicht wissen.«
Sein Gesicht zitterte erneut.
»Kannst du also doch Gedanken lesen?«
»Vierhundert Jahre sind ein ausreichend langer Zeitraum, um schon alle Fragen gehört zu haben.«
»Ich frage trotzdem … Dari … ist er dazu verdammt, eine Marionette zu sein?«
»Ich kenne die Antwort nicht. Und ich will sie auch nicht wissen.«
»Kelos, dieses Feuer … es hat dich doch verbrannt.«
Er nickte. »Ja. Vielleicht sogar vollständig. Und jetzt bin ich nur noch Asche. Du darfst Schlösser aus Asche nicht berühren, Pjotr. Sie können sehr schön sein, aber man kann nicht in ihnen leben.«
»Vielen Dank für den Rat. Wenn ich in diesem Feuer verbrenne, werde ich an dich denken. Und für deine Gastfreundschaft danke ich dir auch. Ich gehe jetzt, Kelos. Ich habe nur sehr wenig Zeit. Zwei, drei Tage … danach schlägt das letzte Stündlein für die Erde. Ich muss mich also beeilen.«
Ich wandte mich um und ging zur Tür. Kelos seufzte laut, doch ich drehte mich nicht noch einmal zurück. Als ich die Tür öffnete, erblickte ich Dari, der rittlings auf dem Treppengeländer saß. Nein, ich glaube, er hatte nicht gelauscht. Sonst würde er nicht so lächeln. Er war ein braver Junge … fast wie ich früher.
»Fall nicht«, sagte ich.
»Pjotr …« Kelos rief mich mit lauterer Stimme als nötig. »Pjotr, warte doch … drei Tage … das schaffst du nie.«
In seinem Gesicht rührte sich nichts. Aber in seinem Blick lag alles – und dafür war ich ihm dankbar.
»Ich kenne andere Gesellschaften wie die Kristallene Allianz. Und genau sie brauchst du als Verbündete. Sie werden dir helfen, Pjotr, daran besteht kein Zweifel. Aber das braucht Zeit. Monate, im Glücksfall Wochen. Aber drei Tage, um Hilfe zu finden – das ist völlig illusorisch. Eine rigide Gesellschaftsstruktur kann ihre Ressourcen durchaus mobilisieren, um einer anderen Welt zu helfen. Nicht um des Profits willen, sondern um der Ideen willen. Aber in deinem Fall würde es zu lange dauern, bis sie ihre Entscheidung getroffen haben.«
»Die Erde gibt es in einer Woche nicht mehr …«, flüsterte ich. »Kelos, das Konklave ist ebenfalls eine rigide Struktur. Aber es wird nicht zögern …«
»Es tut mir sehr leid, Pjotr. Du musst es versuchen. Riskier etwas! Geh aufs Ganze! Finde von mir aus ein Schiff, das in der Lage ist, ganz allein deine Welt zu verteidigen, und entführe es! Aber erwarte kein Wunder!«
»Wie stehen meine Erfolgschancen?«
»Null.«
Ich konnte ihm nicht länger in die Augen sehen. Kelos hatte wirklich Mitleid mit mir. Und Mitleid wollte ich nicht …
Ich sah Dari an.
Ach ja, mein Junge, du begreifst nicht – und wirst es nie begreifen – dass du nicht echt bist. Du wirst nicht erwachsen werden, dich nicht auf die Suche nach Abenteuern begeben, und du wirst das Herz deiner allzu menschlichen Eltern nicht brechen. Warum aber liegt in deinen Augen dann das gleiche Mitleid wie in denen von Kelos? Wie kannst du etwas von fremden Schmerzen wissen? Warum hat man dir beigebracht zu leiden? Puppen brauchen keine Seele, mein Junge. Puppen brauchen nur frische rote Wangen, einen gesunden Appetit und müssen Mama und Papa sagen können …
»Hast du Kummer, Pjotr?«, fragte Dari.
Ich nickte.
»Weil man deinen Planeten umbringen will?«
Richtig. Man will ihn umbringen. Mit allem, was es an Gutem und Schlechten auf ihm gibt. Und ich kann nicht einmal zusammen mit ihm sterben, Dari … Denn ich werde jetzt umherirren wie der Ewige Jude, und ich weiß nicht, warum mir dieser Schmerz zugedacht wurde und wer es vielleicht wissen könnte …
»Kannst du ihm denn nicht helfen, Papa?« Dari griff nach meiner Hand. »Papa, erinnerst du dich noch, wie du gesagt hast, dass man immer einen Ausweg findet? Hast du mich damals angelogen?«
»Pjotr ist nicht schwächer als ich, Dari. Und wenn es einen Ausweg gibt, dann wird er ihn finden.«
Was du doch für ein interessanter Mensch bist, Kelos! Wann lügst du? Wenn du mir erzählst, dein Sohn sei nur eine Marionette? Oder wenn du mit ihm sprichst wie mit einem richtigen Menschen?
»Und du kannst ihm nicht helfen?«
»Brauchst du meine Hilfe, Pjotr?«
Ich habe kein Recht, dich darum zu bitten, Kelos. Dich hat ein Feuer verbrannt, das auf mich noch wartet. Man darf ein Schloss aus Asche nicht berühren.
»Ja.«
»Papa!«
Richtig so, Dan. Nimm das nur alles für bare Münze. Glaub, dass das Universum einzig und allein für dich gemacht ist und dass dein Vater jede Ungerechtigkeit darin ausbügeln kann. Denn du bist dafür geschaffen, das zu glauben.
»Dari …« Kelos trat an uns heran. Er sah mich an, mit einem amüsierten, provozierenden Blick. »Dari, du wirst dann also der Mann im Hause sein. Mach Mama keinen Kummer. Wenn ich fortgehe … komme ich wahrscheinlich nicht so bald wieder. Trotzdem werdet ihr auf mich warten. Abgemacht?«
Sag mal, Kelos, bist du jetzt völlig übergeschnappt?! Du wirst niemals hierher zurückkehren! Du bist über das Leben eines Menschen hinausgewachsen, du bist inzwischen selbst Plasma und Asche. Und du, Dari, du hast vorm Einschlafen zu viele Märchen gehört! Zerreiß die Fäden nicht, die dir eine Illusion von Leben geben! Lass meine Hand los und falle deinem Vater schluchzend um den Hals, damit es ihm nicht mal in den Sinn kommt, von hier fortzugehen …
Aber natürlich schwieg ich.
Natürlich löste sich Dari von mir und fiel Kelos um den Hals. Gut so, mein Junge, und jetzt bring es zu Ende!
»Komm so schnell wie möglich wieder zurück, Papa!«
In Kelos’ Augen loderte ein schwarzer Abgrund.
»Lauf, Dari, und bring den Flyer her. Sei aber leise.«
Der Junge nickte. Er ließ seinen Vater los und sah mich an. Freust du dich jetzt, mein Junge, dass du deinen Kopf durchgesetzt hast? Du hältst deinen Vater für einen Helden, aber auch Helden kommen manchmal nicht nach Hause zurück …
»Papa wird dir helfen, Pjotr. Er hilft allen.«
»Danke, Dari«, flüsterte ich. »Du weißt selber nicht, was du für ein richtiger Junge bist.«
Sobald der Junge das Treppengeländer heruntergerutscht war, wandte ich mich Kelos zu. »Warum? Warum tust du, was er will? Er ist doch nicht mal echt!«
»Dafür bin ich immer noch ein Mensch.«
»Kelos, wenn du ein Mensch bist … dann besuche ich dich in fünf Jahren mal. Und du wirst hier sein. Und Dari wird fünfzehn sein.«
»Mit dir habe ich mir vielleicht was eingehandelt«, sagte Kelos mit gequälter Stimme. »Aber das liegt alles am Schatten, Pjotr, nur an ihm. Er hat gewusst, wohin du gehen musstest. Und er hat gewusst, wie er mich erwischt.«
»Dann bist du wirklich noch ein Mensch.«