Ich hatte geglaubt, dass Kelos fliehen wollte. Sich heimlich von Rada wegstehlen würde. Schließlich beging er eine Riesendummheit … noch dazu eine eklatante. Jahrzehnte hatte er sich hier versteckt, war durch kein Tor gegangen, hatte den Planeten nie verlassen – und alles nur, um in sich das Menschsein, das ihm entglitt, zu bewahren. Um das zu bewahren, was es in ihm schon längst nicht mehr gab. Dass in ihm noch viel von einem alten Kämpfer steckte, darauf kam es ja gar nicht an. Viel wichtiger war, dass er einen Blick in seine Zukunft geworfen hatte.
Ein Flammenmeer. Plasma und Asche. Marionettenkörper, die ihr Leben als Körper weiterleben … Ach, ihr Philosophen und Soziologen, wie sehr habt ihr über geistige und materielle Werte gestritten. Über die Konsumgesellschaft und die geistige Entwicklung. Hier seht ihr eine ideale Lösung. Eine plakative, betont schöne Lösung. Ein Flammenmeer, die Heimstatt eines anderen, nichtmenschlichen Verstands. Konservierte Körperhüllen, die ewig durch die Geschäfte streifen, fünfe gerade sein lassen, Schauspielern applaudieren und Politiker auspfeifen … Eine Karikatur für Touristen. Oder war es womöglich gar keine Karikatur, sondern ganz im Gegenteil ein verlockendes und gutes Bild …
Kelos wusste, was er früher oder später tun würde. Diesem Wissen würde er nie entkommen. Ob ich nur als Vorwand gedient hatte? Als Anlass für ihn, aufzustehen und das gemütliche Haus zu verlassen, in dem es ihm zu eng wurde?
Aber Kelos verabschiedete sich von seiner Frau.
Ich verzog mich derweil in den Hof. An dem Haus war mir die ganze Zeit etwas seltsam vorgekommen, und während ich vor der Tür wartete, begriff ich endlich, was. Es gab keinen Zaun, hinterm Haus begann gleich der Wald. Und die Haustür schloss auch niemand ab.
Vielleicht gab es hier keine Kriminalität – was seltsam wäre, denn auf den Planeten des Schattens mussten doch Verrückte und Verbrecher auftauchen –, vielleicht waren die Vorrichtungen zum Schutz und zur Überwachung auch zu raffiniert für mich getarnt. Oder Kelos hatte einfach vor niemandem Angst. Bei seinen Möglichkeiten würde mich das nicht wundern …
Einen Moment – einen kurzen Moment nur – packte mich Verzweiflung. Alles, was ich unternommen hatte, war Kinderkram gewesen. Hier, im Herzen der Galaxis, hatten sich vor langer Zeit Stürme gelegt, die man sich auf der Erde nicht einmal vorstellen konnte. Hier waren Imperien entstanden und wieder untergegangen, hier hatte man den Tod in eine kurze Atempause vor einem neuen Leben verwandelt. Ich kann mich von der Losung »Jedem nach seinen Bedürfnissen« begeistert oder entsetzt zeigen. Aber hier ist sie in die Praxis umgesetzt worden. In den Welten des Schattens sind vor langer Zeit neue Götter aufgekommen, die sich als Menschen ausgeben. Und jeden Tag kommen Menschen zur Welt, denen nichts anderes übrig bleibt, als zu einem Gott zu werden.
Weit, weit weg, im stellaren Kleinkleckersdorf, entschieden ach so wichtige Generäle, nach welchem Artikel sie mich in Abwesenheit zum Tode verurteilen. In einem anderen Nest, wo die Pfützen etwas kleiner sind, entschieden nicht minder wichtige Herrscher der Starken Rassen, aufweiche Weise sie die Erde auslöschen würden.
Aber hier, wo ich jetzt war, sprach sich Kelos mit seiner Frau aus, verabschiedete sich von seinem illusorischen Sohn und bereitete sich darauf vor, für immer fortzugehen.
Dieser Gedanke machte es mir leichter.
Wie groß auch immer die Macht einer Rasse sein mag, wie viele Zivilisationen auch zu einem frischgebackenen Tausendjährigen Reich gehören mögen – all das bedeutet nichts. Ist ein Wahngebilde.
Denn solange man ein Mensch bleibt, sind die vordringlichsten Probleme die, um die sich der Himmel einen Dreck schert. Und wenn ich ehrlich war, interessierte mich das Schicksal meines Hundes weit mehr als der ewige Kampf der Grünen für ihre Umwelt …
Sollten sie doch ruhig alles vollbringen, was man sich nur ausdenken kann! Sollten sie doch die Sterne auf einen großen Haufen zusammenwerfen, sollten sie doch aus Planeten Kuchen backen. Sollten sie für sich doch perfekte Frauen und ideale Kinder schaffen, sollten sie doch Jahrtausende leben und zu Fuß mit Überlichtgeschwindigkeit dahinjagen. Sollten ihre Imperien doch einen Knoten in die Milchstraße machen, sollten doch von einem ihrer Nieser die Supernovae verglühen.
Wünsche gutes Gelingen!
Ich jedoch brauchte nur eins: einen kleinen Planeten, der zurzeit wahrlich keinen Grund hatte, auf sich stolz zu sein. Einen Planeten, von Menschen geschaffen, die aus dem Kern geflohen waren. Den Planeten, auf dem Pjotr Chrumow geboren und gestorben war …
Eine Luftwelle gab mir einen Schubser. Als ich mich umdrehte, sah ich einen Apparat, der gerade landete.
Ein verdammt schönes Ding, da konnte man sagen, was man wollte.
Ein silbriger Ring, drei Meter im Durchmesser, die graue Unterseite gerippt, die Oberseite eine transparente Kuppel. Eine Klapper für den kleinen Gargantua. Ich entdeckte weder Triebwerke noch Stützen. Ihre Technologie musste sich nicht mehr äußerlich manifestieren. Etwas Vergleichbares hatten die Geometer zwar auch schon erreicht, doch was bei ihnen den Gipfel der Errungenschaften bedeutete, wirkte hier ebenso alltäglich wie ein Dreirad.
Die transparente Kuppel löste sich lautlos auf. Also war auch sie ein Kraftfeld! Dabei war ich mir sicher gewesen, dass es sich um Plastik oder Glas handelte!
Dari kletterte vorsichtig über den Rand und sprang herunter. Voller Stolz sah er mich an.
»Eine tolle Maschine«, sagte ich.
Ob ich damit vielleicht gerade einen alten Klapperkasten lobte?
»Pjotr …« Der Junge rückte nicht gleich mit der Sprache heraus. »Nehmt ihr mich vielleicht mit?«
In seiner Stimme lag nicht gerade viel Hoffnung.
Das hätte mir wirklich noch gefehlt. Es wäre das fulminante i-Tüpfelchen auf dem allgemeinen Wahnsinn: Ich gehe ich weiß nicht wohin, suche ich weiß nicht was und wähle mir als Begleiter … wen?! Einen ausgedienten Kämpfer, der Angst hat, zum Übermenschen zu werden, plus seinen Phantomsohn, der niemals ein Mensch werden würde.
»Ich glaube, du musst zu Hause bleiben, Dari. Deine Mama wäre sonst sehr traurig, wenn sie allein bleiben müsste.«
Der Junge nickte. Als sich unsere Blick kurz begegneten, fuhr ich zusammen.
Was hatte Kelos da bloß zusammengefaselt? Dari war ein Mensch!
Ja konnte das sein?
War es womöglich gar nicht Kelos, der schon Jahrhunderte gelebt hatte und sich jetzt verzweifelt bemühte, ein normales Leben zu imitieren, sondern Dari, der sich seine kleine illusorische Welt geschaffen hatte und mir jetzt großherzig eine seiner Puppen überließ?
Was für ein Wahnsinn.
Ein schwarzer Brunnen, in den endlos fallen konnte …
Was war überhaupt echt in der Welt des Schattens? Wer war ein Mensch, wer eine Marionette? Ob ich vielleicht unter einem schwarzen Sternenhimmel auf kalten Steinen lag und man mir einen Film zeigte, um neugierig meine Reaktion zu studieren? Befand ich mich am Ende bei den Geometern in Gefangenschaft und saß da, an einen Laborsessel gefesselt, während die weisen Ausbilder entschieden, was sie mit mir anstellen wollten: mich freilassen, mich in ein Lager stecken oder mich töten?
Lass das, Pjotr. Ich kann deine Hypothesen nicht widerlegen, aber das ist ein tödlicher Weg. Mir sind zwei Rassen bekannt, die umgekommen sind, weil sie den Glauben an die Realität des Universums verloren hatten.
Mir steckte ein Kloß im Hals, und ich schluckte. Mein Herz hämmerte, wollte mir aus der Brust springen.
Der Cualcua hatte recht. Der menschliche Verstand ist nicht das beste Instrument, um über Objektivität und Subjektivität der Welt zu urteilen.
Dari löste den Blick von mir und fing an herumzuzappeln. Ich sah zum Haus hinüber und erblickte Kelos.
Mir blieb die Spucke weg. Der alte Kämpfer hatte seine Uniform aufbewahrt!
Entweder war das Gespräch mit seiner Frau zwar inhaltsschwer, aber mehr als kurz gewesen, oder er hatte sich währenddessen umgezogen.
Sein Anzug, aus durchscheinendem, in der Sonne funkelndem Stoff gewebt, sah aus wie eine Membran aus zusammengeschmiedeten Brillanten – falls dergleichen möglich wäre. Die geschliffenen Flächen flammten bei jeder Bewegung auf. Unwillkürlich wandte ich den Blick ab.
»Einen zweiten Anzug dieser Art habe ich nicht. Leider.«
»Geht der Name Kristallene Allianz auf diese Uniform zurück?«
»Nein, Pjotr. Der Kristall war das Symbol der Reinheit unseres Vorhabens.«
Dari betrachtete seinen Vater mit unverhohlener Neugier. Anscheinend hatte er ihn schon einmal in diesem Aufzug gesehen – wenn auch noch nicht oft.
»Will Rada nicht noch herauskommen, um mich mit einem tadelnden Blick zu bedenken?«, erkundigte ich mich.
Kelos schüttelte den Kopf. »Du bist auch nur ein Spielzeug des Schattens, genau wie wir. Mach dir also keine Sorgen. Niemand wirft dir irgendetwas vor.«
Er trat an den Jungen heran und zerzauste ihm kurz das Haar. »Mach’s gut, mein Junge. Ihr wartet auf mich, ja?«
Vielleicht jagte das Ergebnis seiner Bitte Dari jetzt doch Angst ein. Er sah zu mir herüber, als hoffte er, ich würde das Hilfsangebot noch ablehnen.
Verzeih, mein Junge, magst du nun echt sein oder nicht. Aber momentan bin ich nicht bereit, mich selbst zu opfern …
»Kommst du bald wieder, Papa?«
»Ich komme wieder. Wenn ihr auf mich wartet.«
Wie hatte es ein Dichter ausgedrückt?
Und keinen Menschen konnte retten
die Hand, von ferne Glück verheißend,
und keinen Menschen konnte retten
das fern versprochne Wiedersehen.
Auch ich hatte der Erde versprochen zurückzukehren. Aber was wollte ich machen, wenn es nichts mehr gab, wohin ich zurückkehren konnte?
»Steig ein, Pjotr!«
Der Flyer schwebte einen halben Meter über der Erde. Eine Gangway fehlte. Ich sprang auf den silbrigen Ring hoch und starrte reglos ins Innere des Schiffs.
Es gab weder Armaturenbretter noch Sitze. Tiefe Dunkelheit, schwarze Dunkelheit, über die die Sonne keine Macht hatte. Eine beinah körperliche Dunkelheit, fast wie ein Bausch geschwärzter Watte. Nur dass es solche Tinte nirgends auf der Welt gab.
»Setz dich!«
Gut, der Junge hatte schließlich auch keine Angst gehabt, sich in das Ding zu setzen …
Ich machte einen Schritt. Als würde ich in kaltes Wasser hineinwaten – nur dass sich diese Dunkelheit als überraschend warm erwies. Eine weiche und elastische, eine angenehme Dunkelheit. Als ich ein wenig in die Knie ging, spürte ich, wie mein Körper auf eine unsichtbare Stütze traf. Ich musste nur in der Bewegung innehalten, und der Raum um mich herum gerann und schuf mir ein erstaunlich bequemes Ambiente.
»Steig ganz ein!«, verlangte Kelos. Er hatte den Grund meines Zögerns endlich begriffen. »Das ist nur der Schutzschild. Keine Angst!«
Ich tauchte völlig in die Dunkelheit ein.
Oh!
Im Innern war es gar nicht dunkel. Der Flyer schien völlig durchsichtig zu sein, nur am Boden sah es etwas dunkler aus, als schaue ich durch Rauchglas. Mit einiger Mühe machte ich den silbrigen Ring der Maschine aus, vermutlich das einzige materielle Element. Nichts schränkte die Bewegungen ein, gleichzeitig erlaubte es der Raum, in jeder Position zu verharren, liegend, sitzend oder mit dem Kopf nach unten hängend.
Es war ungewohnt, aber bequem. Aber verdammt noch mal, unsere Formsessel waren auch nicht unbequem!
Kelos stand immer noch neben Dari, sagte ihm etwas, zärtlich und zugleich ernst, ermunterte ihn, überzeugte ihn …
Wie seltsam. Diejenigen, für die es schon zu spät war, noch ein Mensch zu sein, verhielten sich weitaus besser als die meisten Menschen. Konnten wir womöglich nur jenseits dessen, was Menschen zugedacht war, nur, wenn wir uns schon voller Panik zurückwandten, schätzen, was uns einst möglich gewesen war, was wir da aber gar nicht gebraucht hatten.
Ging es denn wirklich nicht anders? Musste man sich unbedingt mit lebendigen Ankern an die Menschheit binden?
Und was gewann, was verlor Kelos am Ende wirklich?
In den Genuss welcher Freuden würde er kommen, wenn er seinen menschlichen Körper hinter sich ließ? Waren alle unsere Gefühle, unsere Liebe und Freundschaft womöglich nur ein jämmerlicher Schatten dessen, was wir eigentlich erreichen konnten? Würde Kelos selbst ungeachtet eines ewigen Lebens jene Jahre und Minuten bedauern, die er damit verschwendet hatte, einen Menschen zu spielen?
Ich wusste es nicht. Und ich wollte es nicht wissen. Kelos tätschelte Dari die Schulter und kam zum Flyer.
Der Himmel. Der unendliche Himmel.
Wir waren schon so hoch gestiegen, dass der Tag verblasste. Die Sonne loderte im Zenit, konnte die Sterne aber nicht überstrahlen. Die gelbe Scheibe, die bunten Funken … Gibt es im Schatten Welten für Dichter und Maler? Welten, in denen orangefarbener Regen niedergeht, grüne Blitze zucken, bunte, mit den Brillanten der Sterne bestäubte Sonnen einen Reigen tanzen? Gibt es Welten reiner Schönheit, wahnsinniger Inspiration, leidenschaftlicher Verehrung, übermächtigen Grams und heiliger Liebe? Selbstverständlich. Genauso wie Welten der ewigen Kriege, wie Planeten, die als Gefängnisse dienen, wie Heimstätten blutiger Tyrannen und religiöser Fanatiker, wie Welten, die voll Schmerz und Sturheit eine menschliche Welt darzustellen versuchen …
Der Schatten.
Die Bezeichnung geht nicht auf den finsteren Irrstern zurück. Eher auf jenen Schatten, der in jeder Seele lebt. Der Schatten schenkt jedem die Freiheit der Selbstverwirklichung, da hatte das Informationsnetz nicht gelogen. Tritt in das Tor ein – und wenn du wirklich fortgehen willst, gelingt dir das auch. Du kommst an den Ort, wo deine Träume Wirklichkeit geworden sind, wo du langersehnte Freunde und Feinde findest …
»Wohin fliegen wir, Kelos?«
Er lag halb aufgerichtet in der Luft, schaute nach oben, zum Himmel hinauf, der bereits schwarz war, zu jenem Eckchen in der Unendlichkeit, in dem Kelos’ Planet schlummerte.
»Zur Station der Handelsliga.«
»Ich habe gedacht zu einem Tor …«
»Nein, Pjotr. Zu einem Tor kann man immer zu Fuß gehen … Ich hoffe wirklich darauf, wieder nach Hause zurückzukehren. Aber dazu muss ich die Tore meiden.«
Als Kelos die Arme ausbreitete, funkelte die brillantene Membran.
»Außerdem darf ich nicht sterben, Pjotr. Denn ich werde kaum als Mensch auferstehen. Das verstehst du doch, oder?«
»Ja. Verzeih mir.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Du hast mir keine Wahl gelassen, Junge. Nicht die geringste. Wenn ich dir nicht helfen würde, müsste der Mann, der ich die letzten fünfzig Jahre gewesen bin, sich schämen. Doch selbst wenn ich mit dir aufgebrochen bin, besteht kaum Hoffnung für uns … Immerhin ist es aber der Schritt eines Menschen. Dich trifft dabei keine Schuld. Vielleicht war wirklich die Zeit gekommen, eine Wahl zu treffen.«
»Was hat die Handelsliga uns zu bieten, Kelos?«
»Sie stellt eine Alternative dar. Eine schwache Alternative zum Schatten und zu den Toren. Sie bekämpft den Schatten nicht, wie es damals die Kristallene Allianz getan hat. Trotzdem bewegt sie sich zwischen den Welten und ist zumindest so stark, dass die Herrscher neu entstandener Imperien sie in Ruhe lassen. Die Leute dort wissen viel.«
»Und würden sie uns auch helfen?«
»Eventuell. Ihr Motto ist: Nicht nur der Schatten dient dem Menschen. Insofern kannst du jederzeit mit einem Schiff der Liga in die Welt gelangen, die du brauchst. Außerdem … haben viele meiner Freunde aus der Allianz diesen Weg gewählt. Sie haben sich denjenigen angeschlossen, die uns zerschlagen haben. Ich war vermutlich zu stolz für diesen Schritt …«
»Aber worum soll ich sie bitten, Kelos? Können sie mir eine Kampfflotte für den Schutz der Erde überlassen?«
»Das ist nicht ihre Methode«, entgegnete Kelos. »Nein, Pjotr, letzten Endes sehe ich nur eine einzige Möglichkeit für deinen Planeten. Er muss in den Schatten gehen.«
»Was?«
»Wie aufrichtig du dich wundern kannst!« Kelos lachte. »Pjotr, es ist absolut unrealistisch, in so wenigen Tagen jemanden zu finden, der eine weit entfernte Welt verteidigen würde. Selbst im Schatten ist das unrealistisch. Aber wenn deine Welt in den Schatten kommt, dann ist sie sicher.«
»Wieso das?«
»Ein Planet, auf dem es Tore gibt, ist nicht mehr ungeschützt. Nicht jedes Schiff kann sich ihm nähern. Nicht jede Waffe kann etwas gegen ihn ausrichten. Und selbst wenn dein Konklave bis zur Erde kommt, wird es niemanden mehr töten können. Es wird euch nur eine neue Geburt schenken.«
»Aber dafür sind die Tore nötig?«
»Ja. Früher dauerte es sehr lange und war es sehr kompliziert, sie zu errichten. Aber heute ist es ungeheuer einfach. Es heißt, gerade die Handelsliga sät die Tore auf den neuen Welten, und zwar sowohl auf besiedelten wie auch auf unbewohnten, eben auf allen, die vielleicht einmal für die Bewohner des Schattens von Bedeutung sein könnten.«
»Sie sind gegen den Schatten – aber sie bauen die Tore auf?«
»Aber gewiss. Ihr Weg des Widerstands legt es nicht auf ein Kräftemessen an. Die Liga bietet eine Alternative, unternimmt aber nichts gegen die etablierten Verhältnisse.«
Kelos verstummte. Ich rechnete mit weiteren langatmigen Überzeugungsversuchen, aber sie blieben aus. Er hatte mir den einzig gangbaren Weg vorgeschlagen … zumindest sah er das so.
»Und du? Warum bist du eigentlich gegen den Schatten?«
»Ich? Dagegen?«
»Die Kristallene Allianz, die Vernichtung der Tore …«
Kelos seufzte. »Meine Gefühle tun hier absolut nichts zur Sache.«
»Trotzdem.«
»Vor langer Zeit, Pjotr … vor sehr langer Zeit wurde auf einem kleinen Planeten, der gern im Schatten leben wollte … ein Junge geboren. Er wuchs heran, nach den Gesetzen seiner Welt. Er spielte Krieg, lernte schießen, trat einer Gruppe junger Agenten der Spionageabwehr bei … Das war so üblich. Eines Tages traf er ein Mädchen. Ein ganz normales Mädchen aus seiner Welt. Banal, nicht wahr?«
»Normal«, hielt ich dagegen.
»Was dann kam, war noch banaler. Sie wurden beide älter. Der jungen Frau stand ein Vertrag mit einem seltsamen Planeten bevor … Heute erinnert sich niemand mehr an diesen Planeten, aber damals rief allein das Wort ›Sultanat‹ Furcht und Abscheu hervor. Überall, außer in der Heimat des Jungen und des Mädchen, denn die pflegte ihre Kinder zu verkaufen. Die besten Soldaten der Galaxis. Der Frau war es offen gestanden egal, auf welcher Seite sie Blut vergoss. Aber der Mann musste zu den Regenbogen-Brücken aufbrechen, und das hieß, sie würden sich im Kampf gegenüberstehen. Ihre Gefühle spielten dabei keine Rolle, denn die beiden waren bereits vor ihrer Geburt verkauft worden. Deshalb sind sie geflohen.«
Er sprach ruhig und unaufgeregt, als ginge es nicht um ihn. Aber wer konnte schon sagen, wie man nach vierhundert Jahren auf die erste Liebe zurückblickt?
»Der junge Mann hatte zu diesem Zeitpunkt schon die ersten militärischen Implantate erhalten. Er war bereit, diejenigen zu töten, die sich ihnen in den Weg stellten. Sie hatten keine Angst. Nicht einmal die Schande fürchteten sie, obwohl die Tore in ihrer Welt immer als Ausweg für Feiglinge und Gescheiterte galten. Niemand hielt sie auf. Sie gingen zu einem Tor, genauer zu einem Müllhaufen, der an der Stelle des Tors aufgeschüttet worden war. Das war ganz normal. Es gab keine Wachhunde, keine Roboter und keinen Zaun, sondern nur Müll. Sie kletterten auf diesen Scheißhaufen hinauf, hielten sich bei den Händen und wussten, dass vor ihnen eine neue Welt lag. Eine Welt nur für sie beide. Ich weiß nicht, woran das Mädchen dachte, und woran der Junge dachte, habe ich inzwischen vergessen. Aber wahrscheinlich träumte er vom Meer. Auf ihrem Planeten gab es kein Meer … Und das Tor enttäuschte ihn nicht. Es öffnete sich. Der Junge stand am Ufer eines Meeres und seine Hand …«
Kelos hob langsam die Hand.
»Und seine Hand, die Stahlbalken verbiegen und Taue zerreißen konnte, hielt die Hand des Mädchens nicht mehr. Was dann kam … war vollends banal. Er stürzte ins Tor zurück. Nicht einmal für das Meer hatte er Augen, das tatsächlich in seiner Nähe rauschte. Und das Tor öffnete sich. Jeden Tag öffnete sich ein Tor für ihn, und der Junge hastete von einer Welt in die nächste. Er wusste, dass er das Mädchen finden musste, dass er einfach dazu verpflichtet war. Denn ohne sie waren alle Geschenke des Schattens für ihn sinnlos. Sowohl die Wolken, jene Schwärme funkelnder Vögel, die im Wind mit fliegenden Inseln um die Wette jagten, als auch die wilden Wälder, in denen halbnackte Menschen im Einklang mit der Natur lebten, oder die riesigen Städte, wo Häuser den Blick auf den Himmel versperrten, oder die Wasserfälle, die über Felsen aus Edelstein rannen, oder das kleine Haus am Rand eines unendlichen Felds, wo man dem Jungen zu essen gab und lange versuchte, ihn zu trösten … Manchmal hatte der Junge den Eindruck, er habe schon den gesamten Schatten durchwandert, aber dann begriff er, dass das einfach unmöglich war. Er weinte und lachte, trat ins Tor und wartete, schließlich musste das Mädchen ihn auch suchen, anders konnte es ja gar nicht sein … Ab und zu packte ihn Wahnsinn, und es verschlug ihn in Welten, in denen Krieg tobte, wo er sich in den Kampf stürzte, ohne den leisesten Schimmer zu haben, gegen wen oder wofür er kämpfte. Er wurde zu einem guten Soldaten, sogar Legenden waren über ihn in Umlauf … ein paar kurze Jahre lang. In einer Welt wurde er zum Kriegsherrn ernannt. Dort ist er geblieben. Wenn der Schatten ihn nicht zu seinem Mädchen bringen wollte, dann würde er den Schatten eben in Stücke reißen. Der Junge schwor sich, ein neues Imperium zu schaffen, das ganze Universum zu erobern und sein Mädchen zu finden. Er hatte ja keine Ahnung, wie viele Jungen vor ihm schon einen solchen Schwur geleistet hatten …«
»Du hast sie nicht gefunden?«, fragte ich.
»Nein. Später, als der Junge erwachsen und klüger geworden war, als er seine Freundinnen nicht mehr versehentlich mit dem Namen dieses Mädchens ansprach, da verstand er, was passiert war. Er hatte geliebt … er hatte in einem blendenden Licht gelodert … und das Mädchen hatte im Widerschein geleuchtet. Er durfte ihr deswegen keinen Vorwurf machen. Denn sie hatte ja wirklich geglaubt, vor ihnen läge ewiges Leben und ewige Liebe. Aber der Schatten … der Schatten kannte die Wahrheit. Und er hatte ihr die Freiheit geschenkt.«
»Und nun kannst du sie nicht vergessen? Du kannst dem Schatten nicht verzeihen?«
»Nein. Ich habe sie vor langer Zeit vergessen, Pjotr. Ich erinnere mich kaum noch an ihr Gesicht. Rada und mich verbinden hundert Mal mehr Erinnerungen, mehr Freuden und Schmerzen als diesen Jungen und dieses Mädchen. Aber etwas anderes, das kann ich nicht verzeihen, Pjotr. Jenen Augenblick … nachdem ich zum ersten Mal durch ein Tor gegangen war. Der Geruch des Meers, das Branden der Wellen, der glutrote Himmel … die Sonne ging gerade unter … diesen Augenblick der Euphorie … diesen kurzen Augenblick, als alles vor uns lag und wir zu zweit waren. Aber dann sah ich auf meine Hand, die leer und zur Faust geballt war. Der Sonnenuntergang erlosch, das Meer starb, der Junge schrie vor Schmerz auf. Das … das kann ich nicht verzeihen, Pjotr.«
»Der Schatten bringt kein Glück.«
»Der Schatten gibt dir Freiheit. Aber was man mit dieser Freiheit anstellt, das entscheidet jeder selbst. Wenn dein Glück aus der Unfreiheit von jemand anderem gemacht ist, dann hast du eben Pech gehabt.«
»Aber er bringt kein Glück.«
»Richtig. Wenn du eine ideale Welt gesucht hast, Pjotr, die euch hilft, die Wohlstand bringt, Sicherheit und Glück, dann hast du dich geirrt. Zumindest in einem Punkt.«
»Ich habe nur Freiheit gesucht, Kelos.«
»Was willst du dann? Die hast du gefunden. Aber ob sie dir viel Freude bringt?«
»Viel nicht, nein. Und jetzt weiß ich nicht mehr, was ich suchen soll.«
Wir schwiegen beide. Der Flyer flog über den Planeten, um uns herum funkelten die Sterne. Die fernen, schönen, freien, von einer einzigen Kette verbundenen Sterne. Was sollte man wählen, wenn keine Entscheidung die richtige war?
Den strengen Traum der Geometer?
Den bösen Pragmatismus des Konklaves?
Die gleichgültige Laissez-faire-Haltung des Schattens?
Wenn es nur zwei Alternativen gibt, kann man immer auf eine dritte hoffen.
Aber nur in Märchen besiegt der dritte Sohn den Drachen, stellt sich der dritte Wunsch als der richtige heraus.
In den Welten der Unfreiheit, in den Welten der scharf beschnittenen Rechte, in den Welten der zügellosen Anarchie sind die Menschen immer und überall zum Leiden verdammt. Sie sind verdammt zu verlieren, zu suchen und sich zu irren. Schmerz zuzufügen und Qualen auszuhalten. Ich jedoch brauche etwas, das mir niemand zu geben vermag. Ich brauche ein Paradies – und das Paradies gibt es einfach nicht.
»Du hast es schwer«, sagte Kelos. »Das ist mir klar. Und trotzdem rate ich dir … und es ist der einzige Rat, den ich dir geben kann … akzeptiere den Schatten. Er wird dir keine Steine in den Weg legen. Wenn ihr glücklich werden wollt, dann werdet ihr es auch werden. Es ist besser, es ist unsagbar viel besser, als für immer zu sterben.«
»Das hat mein Großvater auch gesagt … nachdem er im Körper eines Reptiloiden gelandet war. Seinen Rat könnte ich jetzt brauchen.«
»Dann geh das Risiko ein! Betritt ein Tor! Wenn du deinen Großvater wirklich finden willst …«
»Woher soll ich wissen, was ich wirklich will?«
»Oh! Du wirst erwachsen, mein Junge. Du solltest übrigens diesen grünen Stern vor uns im Auge behalten …«
Ich nickte. Wenn Kelos glaubte, ich könnte Sterne nicht von Raumstationen unterscheiden …
»Bis zu ihm sind es noch rund hundert Kilometer«, bemerkte ich.
»Etwa zehntausend.«
Mein Gott, wie konnte ich mich so geirrt haben?!
»Hat er etwa vier Kilometer im Durchmesser?«
»Ja, sofern das Wort ›Durchmesser‹ überhaupt zutrifft …«
Es wäre in der Tat unangemessen, bei dieser Station von einem Durchmesser zu sprechen. Sie erinnerte eher an eine Figur aus einem Lehrbuch der Stereometrie, vielleicht auch an das Skelett eines Seeigels. Aus dem vielkantigen Zentrum der Station ragten nämlich Stacheln heraus, die an der Grundfläche hundert Meter dick waren. Die mattgrüne Verkleidung war höckerig und uneben.
»Sie hat fast etwas von einem Lebewesen«, bemerkte ich.
»Das ist ein Tribut an die Tradition. Die Liga hat es eigentlich seit langer Zeit aufgegeben, Bioschiffe zu züchten.«
Ich verschluckte mich. Ob ich mir wohl je etwas ausdenken könnte, was es im Schatten nicht schon gab?
Und ob mir der Schatten je etwas zeigen konnte, was ich mir nicht ausdenken konnte?
Der Flyer schwebte langsam durch die Stacheln. Es gab nichts, was sich mit einer Schleuse vergleichen ließ, im Gegenteil, uns kam ein breiter Auswuchs entgegen.
»Es sind keine schlechten Menschen«, sagte Kelos. »Auch wenn nicht alle von ihnen Menschen sind …«
»Warum ist die Station so groß?« Ich konnte den Blick nicht von dem Gebilde wenden, dem wir uns näherten. Gleich würden wir aufgespießt … »Handelt ihr viel mit ihnen?«
»Du hast Ideen. Unsere Welt stellt kaum etwas her, das von Interesse ist. Die Stationen der Liga sehen alle gleich aus, unabhängig davon, wie wichtig ein Planet ist. Es hat sich gezeigt, dass das günstiger ist, als wenn sie die Stationen der Welten, die plötzlich wichtig für die Liga werden, umbauen.«
Wir glitten in den Fangarm hinein, den die Station nach uns ausgestreckt hatte. Eben noch war vor uns etwas Hartes gewesen, doch schon im nächsten Moment waren wir in der zylindrischen, hell beleuchteten Schleuse.
»Jetzt kommt das Interessanteste«, kündigte Kelos an. »Versuche, dich nicht über ihren Anblick, ihr Auftreten oder ihre Fragen zu wundern. Unser Planet hat dich durch nichts überrascht, aber du bist durch ein Tor auf ihn gelangt. Das hier ist jedoch eine Welt, die nicht für dich bestimmt war.«
Kelos streckte sich geschmeidig nach oben und tauchte aus dem Kraftschild des Flyers auf. Ich folgte ihm. Oben war das Schiff bereits offen. Wir standen in der Schleuse, einer ganz normalen Schleuse, die sich niemand anders hätte ausdenken können.
Worüber sollte ich mich hier wundern?
Wenn Kelos glaubte, ich wäre noch dazu in der Lage, dann irrte er sich. Von mir aus könnten Luke Skywalker und Darth Vader hereinkommen oder ein Paar lustiger Teufel angerannt kommen und, sich an den Händen haltend, zu tanzen anfangen, oder eine mit Waffen behängte Metallspinne könnte hereinkriechen – ich würde mich nicht wundern. Schließlich war das der Schatten.
Die Wand wackelte und wölbte sich. Durch sie hindurch trat eine menschliche Gestalt ein. Das war ja schon mal ein guter Anfang.
Eine junge, unattraktive Frau in einem weißen geschuppten Overall, eine Waffe, eine Art kurzläufiger Maschinenpistole, im Anschlag.
»Ich begrüße euch auf der Station der Liga«, sagte sie sachlich. »Nennt eure Namen.«
Ich wunderte mich nicht. Schließlich hatte ich versprochen, mich nicht zu wundern. »Soll ich dir auch noch meinen Ausweis zeigen, Mascha?«
Der Blick der Frau hakte sich an meinem Gesicht fest.
»Was ist?«, wollte ich wissen. »Müssen wir uns noch mal vorstellen?«
»Pjotr … Petja …«
Ihre Lippen zitterten. Die MPi entglitt ihr und schlug hart auf dem Boden auf.
Kelos rührte sich nicht von der Stelle, als wir uns umarmten. Anscheinend wartete er auf eine Erklärung.
Mascha hielt mich fest umfasst und weinte. Ich konnte es nicht glauben! Mascha Klimenko, Majorin des Geheimdienstes, vor Kurzem noch meine Gefängniswärterin, lag mir in den Armen und weinte. He, Mascha, hast du das Halsband mit dem Sprengstoff schon vergessen?
Ich erinnere mich nicht, wie ich selbst in Tränen ausbrach.
Es war ein Wunder, unser Treffen in Welten, in denen Milliarden und Abermilliarden von Lebewesen existieren. Aber zufällige Wunder gibt es nicht.
Einer von uns beiden hatte den anderen finden wollen. Und wahrscheinlich war nicht ich das gewesen. Mir war es nämlich völlig egal, ob ich Mascha wiedersah oder ob sie für immer durch den Schatten irrte. Sollte es ihr wirklich so wichtig gewesen sein, mich wiederzusehen? Wichtiger als Kelos, der seine junge Freundin in Tausenden von Welten gesucht hatte?
»Ich … ich hätte mir nie verziehen …«, flüsterte Mascha.
»Ihr kennt euch?«, fragte mich Kelos. »Das … das ist deine Gefährtin?«
»Worüber wunderst du dich da? Schließlich sind wir im Schatten …«, brummte ich, während ich Mascha über den Rücken strich. »Komm, beruhige dich, Mascha. Es ist alles in Ordnung, wir haben uns ja wiedergefunden …«
»Ich habe geglaubt, das alles aus ist … dass du verloren gegangen bist … aber ich habe versprochen, dich zu finden …«
Mein Gott!
Schämst du dich denn nicht, Schatten?
Was bedeutet dir eigentlich die Liebe von zwei Kindern, die ihren Planeten verlassen haben? Was bedeuten dir einzelne Planeten, wenn es Tausende und Abertausende gibt? Was bedeutet dir all das – im Vergleich zum heldenhaften Pflichtbewusstsein einer Mitarbeiterin des russischen Geheimdienstes?
Du bist komisch, Schatten. Die junge Frau Mascha, die zu wenig Wärme und Liebe abgekriegt hat, hat den Dienst an der Heimat zu ihrer Liebe erklärt. Die junge Frau Mascha ist damit genau in die Welt gelangt, in die auch ich kommen musste.
Ich stieß Mascha nicht weg und sagte kein Wort.
Vielleicht ist das komisch, aber selbst eine solche Liebe verdient Respekt.
»Ist ja schon gut«, versicherte ich noch einmal.
»Pjotr …« Mascha riss sich von mir los. Sie sah zu Kelos hinüber, flüchtig nur, denn mehr Aufmerksamkeit schien er ihrer Ansicht nach nicht zu verdienen. »Ich bin so froh. Andrej Valentinowitsch meint nämlich, dass nur ich dich finden könnte … dass du ihn nicht mehr magst und deshalb nie in die Welt kommen würdest, in der er sich aufhält … aber ich wollte nicht durch diese Tore gehen, ich habe Angst vor den Dingern!«
»Das sagt er? Ist mein Großvater denn hier?«
»Ja.« Mascha fing an zu lachen. »Aber sicher … du weißt ja noch gar nicht … Petja, wenn du wüsstest … wir waren in einer Welt … es war so grauenvoll … aber jetzt …«
Zu meinem Großvater also war ich unterwegs gewesen.
Natürlich nicht auf Anhieb. Zuvor musste ich durch die Welt, in der ich Galis umgebracht hatte, denjenigen, den mir das Schicksal (oder das Tor?) vorherbestimmt hatte, damit er mir strenge und zärtliche Befehle erteilte, die Welt, in der ich Schnee verloren hatte, mit dem ich mich hätte anfreunden können, ja, müssen. Und auch Kelos war nötig gewesen, mit seinem illusorischen Sohn, der alte und verängstigte Kelos, der Angst hatte zu lieben. All das hatte nur dazu gedient, dass ich am Ende doch zu meinem Großvater zurückkehrte.
Allem zum Trotz, was am Anfang gestanden hatte, als der gequälte und einsame Mann sich ein lebendes Spielzeug gekauft hatte, den zukünftigen Kämpfer für seine Ideale. Dem Schmerz zum Trotz, den wir einander so reichlich zugefügt hatten, dem Gespinst von Lügen zum Trotz, in dem wir beide gefangen waren.
Verzeih mir, Mascha, was ich über deine FSB-Tätigkeit gedacht habe. Auch wenn wir uns nie sehr nahestehen werden, werden wir einander in Zukunft doch nicht mehr verraten.
Ich fürchte mich nicht vor dir, Schatten. Ich fürchte mich nicht und ich begehre dich nicht, denn letzten Endes bin ich stärker als du.
»Also was ist, lässt du uns in die Station?«, fragte ich.
»Ja, natürlich.« Mascha lachte glücklich. »Gehen wir! Dein Großvater ist momentan bei der hiesigen Führung und schwatzt ihnen die Ohren voll … Wie er sich freuen wird!«
Aha! Du sprichst also wieder von meinem Großvater. Immerhin etwas.
»Das ist mein Gefährte.« Ich nickte zu Kelos hinüber. Das Wort »Freund« mied ich lieber, denn ich fing an, es zu fürchten. »Er will der Erde helfen. Er hat sich einen Ausweg ausgedacht, vielleicht nicht gerade den besten, aber …«
Mascha und Kelos gaben sich schweigend die Hand. Kelos sah mich an und sagte, in allzu sichererem Ton, damit wir seinen Worten auch ja glaubten: »Die Einsamkeit, Pjotr. Euch hilft, dass ihr im Schatten völlig allein seid. Seine Welten sind zu groß für euch, er führt euch unweigerlich zueinander.«
Die irdischen Stationen waren eine Mischung aus einer Kaserne, der Werkstatt eines verrückten Computerbastlers und einem unvollendeten Schiff während der Stoßarbeit. Das Innere des alarischen Kreuzers hatte mich an einen Felsen erinnert, durch den sich zahllose Höhlen zogen. Und auch die Station der Handelsliga hatte ihren eigenen Charakter.
Sie war ein Weg. So seltsam es klingt … einfach nur ein Weg.
Die gigantischen Stacheln erwiesen sich als hohl. Hin und wieder gab es in ihnen Leuchtplatten. Wir gingen über eine der Seitenflächen, die als Boden diente. Die Gravitation war hier etwas geringer als auf der Erde. Weiter oben musste die Schwerkraft jedoch abrupt nachlassen, denn eine mir entgegenkommende Frau sprang plötzlich los, fuchtelte mit den Armen und schwebte an die oben liegende Fläche. Der lange bunte Rock, der sofort an eine Zigeunerin auf der Erde denken ließ, flatterte kokett hoch. Ich legte den Kopf in den Nacken und sah, dabei gegen ein Schwindelgefühl ankämpfend, wie die Frau sich fünfzig Meter über uns an der Decke hinstellte.
»Was für eine erstaunliche Umsetzung der Schwerkraft!«, rief Mascha aus. »Es erinnert an den O’Neill-Zylinder, den die Amerikaner bauen … nur dass es hier keine Rotation gibt …«
»Das Gravitationsfeld an der Oberfläche weist einen starken Gradienten auf«, erklärte Kelos achselzuckend. »Ist das bei euch nicht üblich?«
»Wir sind überhaupt nicht imstande, die Schwerkraft zu kontrollieren«, gab ich zu.
»Und was tut ihr dann im Kosmos?«
»Wir fliegen«, antwortete ich mürrisch.
»Nein, ich meine die reinen Alltagsprobleme. Wie geht ihr zum Beispiel zur Toilette?«
»Verschone mich damit!«, flehte ich. »Versuch bitte, selbst dahinterzukommen!«
Da Kelos meine Reaktion absolut unbegreiflich war, musste ich sie ihm erklären: »Diese Frage stellen uns alle Kinder und auch einige Erwachsene …«
Hatte ich am Ende also doch noch was gefunden, worüber ich ihn aufklären konnte!
»Im letzten Jahr wurden wir durch die Schulen gejagt, um dort Vorträge zu halten. Wir brauchten mehr Piloten … dafür war eine intensive Werbekampagne nötig. Ich habe vorbereitete Antworten, jeweils für die jüngeren Schüler, für Teenager …«
»Lass sein. Ich kann selber denken.«
Wir gingen immer weiter. Ab und zu ragten an den Wänden des Tunnels quer zum Weg farbenfrohe, hübsche Häuschen auf. An einem von ihnen saß ein älterer Schwarzer, der eine Pfeife schmauchte. Der Rauch stieg in einer aparten Spirale auf.
Nein, Kelos, es gibt hier nichts, worüber ich mich wundern könnte. Ein alter außerirdischer Schwarzer, der an der Hauswand Pfeife raucht – na und?
Mascha hatte sich inzwischen anscheinend auch schon an die Station der Handelsliga gewöhnt. Ob das vielleicht ihre Idealwelt war? Leere, aufwendige Konstruktionen, Bewohner, die sich kaum füreinander interessierten, die allgemeine Atmosphäre einer Kosakensiedlung – war das ihr Milieu?
Aber sollte ich mich darüber etwa wundern? In dem Fall brauchte ich mich nur daran zu erinnern, wo ich selbst beinahe geblieben wäre …
»Wie sich dein Großvater freuen wird«, sagte Mascha. »Nein, Pjotr, du kannst dir nicht vorstellen … Das wird eine Überraschung … auch für dich, übrigens …«
Sie lächelte verschmitzt.
»Ich habe meine Überraschung schon bekommen, als ich dich mit der MPi erblickt habe.«
»Das …« Mascha wog die Waffe in der Hand. »Also das ist ein Schockentlader. Anscheinend wagt sich niemand, die Handelsliga anzugreifen, deshalb darf sogar ich die Neuankömmlinge empfangen.«
»In dieser Welt greift sie niemand an«, mischte sich Kelos ein. »Es gibt aber auch Stationen, die im permanenten Krieg mit den umliegenden Planeten leben.«
»Ich habe davon gehört …«
O ja, Mascha war bereits gut ins Leben der Liga integriert. Und in ihrer Stimme schwang echte Anteilnahme mit.
»Wenn ich es richtig verstanden habe, verfügst du über gewisse Kampferfahrungen, Kelos?«
»In Maßen«, antwortete Kelos im gleichen Ton, in dem er seinem Sohn erklärt hatte, was ein Sarkophag ist.
»Ist die Handelsliga in der Lage, der Erde zu helfen?«
»Pjotr und ich haben das schon durchgespielt. Nein. Die Liga verfolgt eine andere Politik. Und die Welten, die in der Lage zu einer Intervention wären, muss man viel zu lange suchen. Eurer Erde bleiben aber, wenn ich es richtig verstanden habe, nur zwei, drei Tage …«
Mascha blieb wie angewurzelt stehen. »Nur drei Tage?«
»Ich habe mit dem Cualcua gesprochen«, erklärte ich ihr.
»Ja, und?«
Ach ja. Von den anderen wusste ja niemand, wie das wahre Wesen dieser kleinen gehorsamen Rasse beschaffen war.
»Er steht in Verbindung … zu anderen Individuen seiner Rasse.«
»Und?«
»Die Starken Rassen haben von den Geometern erfahren. Das Geschwader der Alari ist zurückbeordert worden, um Rechenschaft abzulegen. Anscheinend ist das sofort geschehen, nachdem wir das Schiff verlassen hatten.«
»Drei Tage … uns bleiben nicht mehr als drei Tage? Aber Andrej Valentinowitsch hat gesagt, wir brauchen mindestens zwei Wochen …«
»Gehen wir, Mascha«, bat ich sie sanft. »Je eher wir alles mit meinem Großvater besprechen, desto besser.«
Das Leben bei der Handelsliga musste entweder sehr gemächlich sein oder Mascha kannte keinen schnelleren Weg. Bis zum Zentrum der Station brauchten wir fast eine Stunde. Wir gingen meist zu Fuß, zweimal mussten wir allerdings auch riesige, leere Fahrstühle nehmen. Es begegneten uns nun häufiger Bewohner der Station, die sich jedoch nach wie vor nicht sonderlich für uns interessierten. Ob gerade dieses demonstrative Desinteresse an den Angelegenheiten anderer Mascha anzog? Wir bekamen allerlei Seltsames und Interessantes zu sehen, zum Beispiel Menschen mit veränderten Körperproportionen, Gebäude, die aus den Mauern und der Decke herauswuchsen, oder eine Gruppe von Jugendlichen, die in der Mitte des Tunnels entlangflog, wobei sie sich nicht selbst bewegten, sondern von einem Feld gezogen wurden. Einmal tauchte in der Ferne ein riesiges, mindestens nilpferdgroßes Wesen auf. Da ich es mir jedoch nicht länger ansehen konnte, wusste ich nicht zu sagen, ob es ein Alien oder bloß ein Roboter von bizarrer Form war.
Wir gelangten direkt zum Zentrum der Station. Jetzt beschrieb der Tunnel spiralförmig angeordnete Kreise. Kelos nahm all das mit absoluter Gelassenheit, er hatte schon genug solcher Stationen gesehen.
Was ich Mascha eröffnet hatte, schien alle anderen Gesprächsthemen im Keim erstickt zu haben. Ich erzählte ihr in knappen Worten, was ich erlebt hatte, und hoffte, sie würde im Gegenzug ebenso offen sein. Aber Mascha hörte mir nur nickend zu, ohne von sich etwas preiszugeben. Anscheinend fielen ihre Abenteuer weitaus stärker ins Gewicht, zumindest ihrer eigenen Einschätzung nach.
»Was ist mit Danilow?«, stellte ich die Frage, deren Antwort mir im Grunde schon klar war.
»Keine Ahnung. Es gibt hier immerhin mehr als zweihunderttausend Planeten.«
»Wirklich? Sind es inzwischen so viele?«, fragte Kelos beiläufig. »Der Schatten wächst …«
Ich schwieg. Ungeheuerlich. Verglichen damit nahm sich das Konklave wie ein mickriges Dorf gegenüber Moskau, Nowosibirsk oder auch der Hauptstadt aus.
»Am Anfang hat mich das auch erschreckt«, gab Mascha zu. »Aber du musst eins bedenken, Pjotr: Nur selten hat ein Planet des Schattens mehr als eine Million Bewohner.«
Logisch. Warum eingepfercht in Städten leben, warum sich auf einem einzigen Planeten zusammenquetschen, wenn einem eine solche Auswahl zur Verfügung steht? Und je geringer die Zahl der Bevölkerung war, desto einfacher ließen sich alle Menschen zufriedenstellen.
»Es gibt auch große Welten, meist die Zentren eines Imperiums oder einer Union. Aber über tausend Planeten sind nur von einem einzigen Menschen besiedelt!«
»Jedem Psychopathen seine eigene Welt … Ihr wisst ja schon recht gut über die Verhältnisse Bescheid.«
»Andrej Valentinowitsch sagt, dass die Handelsliga über die meisten Informationen verfügt. Zumindest über die Informationen, die ein Mensch verarbeiten kann. Es gibt nämlich auch Planeten, auf denen die Bewohner sich zu etwas weiterentwickelt haben, das ‚wir uns nicht einmal mehr vorstellen können.«
»Das weiß ich auch schon.«
»So, gleich sind wir da …«
Endlich sahen wir das Ende vom Tunnel vor uns. An dieser Stelle hatte er einen Durchmesser von rund zehn Metern, an den Wänden hingen keine Hütten mehr. Noch im Tunnel selbst, ganz kurz vorm Ausgang, bemerkte ich, dass etwas nicht stimmte. Mascha schielte immer wieder zu mir herüber, Kelos lächelte.
Was sollte das? Worüber sollte ich mich ihrer Ansicht nach denn wundern? Über den blauen Himmel, den ich in der Tunnelöffnung ausmachte? Über die frische Luft? Das Vogelgezwitscher?
Innerlich grinsend folgte ich Mascha und Kelos mit gelangweiltem Gesichtsausdruck. Der Tunnel mündete in einen flachen Trichter, durch den wir auf den Planeten gelangten. Kurz wurde mir schwindlig, anscheinend aufgrund des abrupten Wechsels des Gravitationsvektors.
Doch schon gleich darauf war wieder alles bestens.
Was für ein Wunder!
Unter uns Gras, über uns ein klarer blauer Himmel mit Schäfchenwolken. Ein breiter Fluss floss träge dahin, auf ihm bewegten sich die dreieckigen Silhouetten von Segeln, Jachten vielleicht oder Windsurfbretter. Ein grüner Wald. In der Ferne kleine Häuser, schmale, aparte Türme mit Fahnen …
»Wie hübsch«, sagte ich.
Sowohl Mascha als auch Kelos sahen mich völlig verzweifelt an. Ich drehte mich um und schaute in den Trichter. »Tief« unten zog sich ein grell beleuchteter Gang entlang. Jemand kletterte nachdenklich zu uns herauf.
»Aber ich bin doch begeistert«, stellte ich klar. »Wirklich! Kelos, ich habe mal einen alten Kinderfilm darüber gesehen, in dem eine Gruppe von Jugendlichen mit einem Photonenraumschiff zu einem anderen Stern fliegt. Das … war eine fiktive Geschichte, so etwas hat es nie gegeben. Jedenfalls war in diesem Film auf dem Schiff auch ein Illusionsraum eingerichtet worden. Es gaukelte dir absolut überzeugend vor, dich im freien Raum zu befinden …«
Sie lächelten beide. Sie wechselten sogar verständnisvolle Blicke. Bei Kelos ließ ich das durchgehen. Aber wie kam Mascha dazu loszukichern?
»Sieh dich einmal genauer um, Pjotr«, bat mich Kelos.
Ich ließ meinen Blick erneut durch die illusorische Welt schweifen. Und …
Es war wie ein Stromschlag: Ich spürte Tore. Ein Tor, dann noch eins, ein drittes … Nicht weit von uns entfernt, am Fluss, hinterm Wald …
»Das ist keine Illusion.«
Ein Zittern ergriff mich, kalte Gänsehaut rieselte mir über den Rücken. Ich drehte mich abermals um und blickte in den Trichter des Tunnels – und fuhr jäh zurück.
Denn ich erblickte einen Ort, weit, weit weg von hier …
Eine andere Welt …
»Dies hier ist der Planet der Handelsliga«, erklärte Mascha feierlich. »Jede Station hat einen direkten Zugang zu ihm.«
»Eine der Alternativen zu den Toren«, ergänzte Kelos. »Früher oder später wird die Liga die Welten auch untereinander mit ihren Tunneln verbinden. Was für Folgen das haben wird, vermag ich nicht zu sagen. Aber wie du dir denken kannst, wünsche ich ihnen Erfolg. Denn für mich hängt einiges davon ab.«
»Guter Gott …«, flüsterte ich bloß. Das Tor verbarg ja gnädigerweise den Moment des Übergangs. Und sie wirkten dann doch nicht ganz so profan, nicht wie ein Loch im Raum, wie ein Kaninchenbau für eine neugierige Alice …
»Genau deshalb«, erklärte Kelos triumphierend, »glaube ich, dass ihr den Schatten akzeptieren solltet. Ein System des Ortswechsels, das man selbst nicht kontrollieren kann, birgt jede Menge Nachteile. Dieses System hier wird sich jedoch bestimmt weiterentwickeln, und dann braucht niemand mehr die Tore zu fürchten. Wenn du auf einen Hyperverstand baust oder Unsterblichkeit erlangen willst, dann gehst du durch ein Tor. Aber wenn du von einer Welt in eine andere reisen und dabei deinen bewussten Wünschen folgen willst, dann solltest du dich an die Handelsliga halten.«
»Aber man könnte ihr System doch schon jetzt als Transportmittel einsetzen!«, rief ich, während ich von dem Trichter zurücktrat. »Oder etwa nicht? Man brauchte doch nur zu einer Station zu fliegen, hierherzukommen und könnte dann von diesem Planeten aus zu einer anderen Station gelangen …«
»Die Liga sieht solche Reisen bisher nicht gern«, sagte Mascha. »Anscheinend hat sie Angst vor den Konsequenzen. Was ist – wollen wir weiter?«
Wir hielten auf eines der Häuser zu, einen kleinen eingeschossigen Ziegelbau, komfortabel, aber einfach, wie das Haus auf der Datscha eines Menschen mit mittlerem Einkommen.
»Wir dürfen hier wohnen«, erklärte Mascha. »Um uns zu akklimatisieren, sie selbst wohnen nämlich lieber in den Stationen …«
Das Haus umgab ein kleiner Garten mit blühenden Bäumen, die auf den ersten Blick an Apfelbäume erinnerten. Aus dem Haus erklangen Stimmen.
»Andrej Valentinowitsch ist mal wieder richtig in Fahrt«, sagte Mascha leise. »Du … geh nur rein! Soll er ruhig mal eine Überraschung erleben!«
Sie nickte Kelos zu, der daraufhin gehorsam stehen blieb.
Eine Überraschung … Ich hatte meine Überraschung eigentlich schon erlebt, als ich von den Geometern zurückgekehrt war.
Du bist allerdings wirklich menschlicher geworden, Mascha! Als ob von der tatkräftigen, aber unangenehmen Frau, die ich vor zwei Wochen zum ersten Mal gesehen hatte – und mich weiß Gott nicht in sie verliebt –, die Hülle abgefallen wäre. Schicht für Schicht abgeblättert … die Kälte, die Unbarmherzigkeit, der Ernst … Wenn wir dich jetzt noch aus dem FSB rauskriegen … obwohl ja behauptet wird, die ließen niemals jemanden gehen …
Sie brauchte einen netten Kerl. Keinen Ehemann, sondern einen richtigen Kerl. Damit sie lernt, sich an eine fremde Schulter zu lehnen, zu kokettieren, zu flirten, Teller zu zerschmeißen … und schließlich auch Seifenopern zu sehen.
Langsam umrundete ich das Haus. Ich musste nirgendwo hinstürzen, ein paar Minuten würden weder über das Schicksal der Erde noch über das meines Großvaters entscheiden.
»… im Unterbewusstsein?«, drang eine bekannte Stimme an mein Ohr. »Humbug! Und dabei geht es nicht darum, ob ein Mensch die Wahl seines Schicksals seinem Unterbewusstsein überlassen darf! Denn mit gewissen Einschränkungen wird er auch das kontrollieren können. Insofern werden die widerwärtigsten eurer Welten eingehen oder irgendwann isoliert dastehen. Nein, allein die Möglichkeit einer uneingeschränkten Wahl ist eine Falle!«
Ich lehnte mich gegen die Hausmauer und schloss die Augen. Na siehst du, Großpapa, es ist alles in Ordnung. Du suchst noch immer nach deinen Idealen. Wir sind wieder zusammen. Daran hat uns kein Schatten hindern können.
»Die Wahl wird ja auch nicht uneingeschränkt sein.« Eine harte, machtvolle Stimme, die allerdings ein wenig verlegen klang. »Andrej, Sie verwechseln abermals die Begriffe! Wir werden nicht alle Planeten des Schattens miteinander verbinden. Nur die, die …«
»Ihr wollt wieder einen Filter einbauen? Ihr Optimisten! Dann werden eure Tunnel eingehen. Entweder bietet ihr einen vollständigen, adäquaten Ersatz für die Tore an, der bis hin zur Zahl der Zugänge auf jedem Planeten reicht, oder ihr könnt euch das Ganze sowieso abschminken.«
Ich trat einen Schritt vor. Da sah ich den Reptiloiden. Der Zähler saß da, die lange Zunge hing ihm heraus, und er hörte aufmerksam zu. Irgendwann drehte er mir das dreieckige Gesicht zu.
»Ich wünsche euch von ganzem Herzen Erfolg! Ich bezweifle nicht, dass es prinzipiell eine Alternative gibt … aber bisher … sehe ich keine! Tut mir leid, aber ich sehe sie einfach nicht!«
Nein!
Der Zähler schwieg doch!
Das Maul des Reptiloiden verzog sich zu einem Lächeln.
Ich stürzte vor.
Ein Korbtisch, darauf eine glasklare Karaffe mit dunkelrotem Wein. Zwei Korbsessel. In einem saß, nach vorn gebeugt und die Hand in linkischer Weise fest um das leere Glas geschlossen, ein mir unbekannter, grauhaariger Mann. In dem anderen flegelte sich ein Mann, der vor der nächsten Tirade am Wein nippte und mir vage bekannt vorkam …
Eine Szene aus einem Stummfilm.
Mein ehemaliger Opa ließ das Glas fallen. Er sprang auf, ohne sich darum zu scheren, dass er sich Wein übers Hemd geschüttet hatte. Er lächelte so verlegen, als hätte ich ihn in seinem Zimmer erwischt, wie er eine Pfeife schmaucht und sich ein Gläschen Kognak gönnt.
»Großvater …«, sagte ich mit hölzerner Stimme. »Wein ist doch schädlich für dich.«
»Jetzt nicht mehr.«
Vierzig Jahre war er jetzt, höchstens. Nicht einmal mein Vater könnte er noch sein, vom Großvater ganz zu schweigen. So kannte ich ihn bisher nur von jenen alten Photos, die er ungern hervorholte.
»Petja …«
Ich brachte es nicht über mich, ihn zu umarmen, denn es war fast, als stünde vor mir ein Fremder. Die vertrauten Züge waren völlig entstellt – wenn auch nur durch die Jugend. Wäre mein Großvater in meiner Kindheit so gewesen, wäre ich wahrscheinlich ganz anders aufgewachsen. Aber jetzt war es zu spät. Alles kommt immer zu spät.
Mein Großvater machte ein paar Schritte auf mich zu.
»Pit … ich bin doch immer noch der Alte …«, sagte er leise. »Pit, stell dir einfach vor, dass der alte Tattergreis eine Schönheitsoperation hat machen lassen.«
Herr im Himmel! Ich führte mich ja schon auf wie Mascha! Was hatte ich ihr über Form und Inhalt gesagt? Darüber, dass die Seele wichtiger ist als der Körper? Sollte das also alles nur leeres Geschwätz gewesen sein? War ich bereit, meinen Großvater als alten Mann oder im Körper eines Aliens zu akzeptieren – aber nicht so, gesund, stark und energiegeladen? War ich eifersüchtig darauf, dass er seine Jugend zurückgewonnen hatte? Nun gut, nicht seine Jugend, sondern sein Mannesalter? Sorgte ich mich um meine Unabhängigkeit? Denn dieser Chrumow würde sich mit neuer Energie an meine Erziehung machen. Sehnte ich mich nach dem alten, ans Haus gebundenen und, wenn ich ehrlich sein wollte, hilflosen Großvater? Was sprach da aus mir? Welche Teufelchen tanzten jetzt in meinem Unterbewusstsein?
»Großpapa, diesmal hast du mich wirklich überrascht …«, sagte ich. »Aber warum machst du nur halbe Sachen? Fünfundzwanzig … das wäre ein noch besseres Alter …«
Mein Großvater kicherte.
»Weißt du, Pit«, sagte er im gewohnten, verschlagenen Ton, »wenn du viele Wahlmöglichkeiten hast, dann bietet dir jedes Alter seine Vorteile. Werde erst mal so alt wie ich, dann verstehst du das.«
Der Gesprächspartner meines Großvater gesellte sich zu uns und blieb zwischen uns stehen. Er sah mich fragend an. »Pjotr Chrumow?«
»Ja.«
Er schüttelte den Kopf, als könne er meine Worte nicht glauben.
»Wie du siehst, Krej, schuldest du mir eine Kiste Wein«, frohlockte mein Großvater.
Der grauhaarige Mann nickte und studierte mit ungezügelter Neugier mein Gesicht. »Ihr seid noch nicht einmal Blutsverwandte …«, bemerkte er. »Verzeihung, ich bin Krej Saklad, Mitarbeiter der Handelsliga.«
Wir begrüßten uns per Handschlag.
»Ich lasse euch jetzt allein. Das ist nur richtig«, entschied Krej.
»Krej Salat«, alberte mein Großvater, als sich der Mitarbeiter der Liga entfernte. »Diese naiven Optimisten! Sie leben Jahrhunderte, sind aber immer noch grün hinter den Ohren. Er hat nicht geglaubt, dass du mich finden würdest. Sogar gewettet hat er mit mir. Kannst du dir das vorstellen?«
Ich nickte. Wir standen immer noch da, mieden verlegen den Blick des anderen und konnten uns nicht aufraffen, zur Sache zu kommen.
»Na los, ich gieß dir erst mal einen Wein ein …« Mein Großvater wurde mit einem Mal ganz hektisch. »Sie verstehen hier etwas von den Freuden des Lebens … diese im Grunde so liebenswerten Menschen …«
Er wandte sich dem Tisch zu, irgendwie verkrampft und ungeschickt, für jede Bewegung zu weit ausholend, ihr zu viel Kraft verleihend – mein Großvater vermochte den neuen Körper noch nicht mit den Verhaltensweisen in Einklang zu bringen, die er sich in seinem Alter zugelegt hatte …
»Großpapa!«, rief ich und warf mich ihm in die Arme. »Großpapa!«
Er drückte mich fest an sich, vergaß, wie viel Kraft jetzt in seinem Körper steckte, in den die Tore reichlich Energie und lugend gepumpt hatten …
»Großpapa, ich bin so froh, dass du so … so geworden bist«, flüsterte ich. »Teufel auch, dafür könnte ich diesen Schatten sogar lieben … Wenn du zurück bist und an der Uni Vorlesungen hältst, wirst du dich vor Studentinnen nicht retten können …«
»Psst! So was darfst du nicht in Maschas Gegenwart sagen, sonst kann ich mir sowohl die Vorlesungen wie auch die Studentinnen abschminken …«
Wir sahen uns an.
Wollte ich mich etwa darüber wundern?
»Über meine Lippen kommt kein Wort mehr«, versprach ich.
»Verzeiht, dass ich euer zutiefst persönliches Gespräch unterbreche …«
Ich drehte mich um, gab meinen Großvater aber noch nicht frei. Der Reptiloid saß zu unseren Füßen, mit der beleidigten Miene eines geliebten Hundes, den man plötzlich nicht mehr beachtet.
»Hallo, Karel«, begrüßte ich ihn.
»Ich freue mich, dich zu sehen. Sag mir, Pjotr, belastet es unsere Beziehung, dass ich nicht mehr als temporäre Heimstatt für Andrej Valentinowitsch fungiere?«
Ich ging in die Hocke und berührte die weichen grauen Schuppen. Die Hand streckte ich lieber nicht aus – das hätte zu sehr nach »Sei ein braver Hund und gib Pfötchen!« ausgesehen.
»Ich freue mich auch sehr, Zähler«, erwiderte ich. »Und nimm mir den Zähler nicht krumm. Das ist ein Kompliment. Du hast dir die Aufgabe vorgenommen, die für mich am wichtigsten ist, und du bist zu einem Ergebnis gelangt. Erinnerst du dich noch, wie du mich gefragt hast, wie die Menschen zu eurer Rasse stehen. Ich weiß nicht, was die Menschen allgemein antworten würden … aber ich … ich stehe in deiner Schuld. Oder betrachte dich als Freund. Wie es dir besser gefällt.«
Der Zähler stellte sich auf die Hinterpfoten und streckte sich zu meinem Ohr hoch. Sein Geflüster war kaum zu hören. »Der Stern, den ihr Spica nennt. Der Gasgigant, der Einzige im System. Der Gasgigant, der von einem Ring umgeben ist.«
Hitze durchflutete mich. Das war nicht einfach die Geste eines einzelnen Reptiloiden gegenüber einem einzelnen Menschen.
»Danke. Du weißt ja auch, wo mein Zuhause ist.«
»Willst du auch Pjotr dein Geheimnis anvertrauen, Karel?«, fragte mein Großvater. »Nur zu, du brauchst keine Angst zu haben. Er wird es hüten.«
Aus dem Maul des Reptiloiden kam ein Schmatzlaut. Er zögerte so offenkundig und deutlich, dass ich keinen Zweifel mehr hegte: Diesmal spielte er die menschlichen Emotionen nicht nach, diesmal tobte in ihm tatsächlich ein Kampf. Eine Schlacht, die sich nach seiner inneren Uhr Jahrhunderte hinzog.
»Wir sind keine Lebewesen, Pjotr.«
Mein Großvater nickte, als er mein entgeistertes Gesicht sah.
»Gasgiganten bringen kein Leben hervor. Wir sind Nachfahren von etwas, das einst eine Maschine war. Eine Maschine aus dem Schatten.«
Die lebenden Computer des Kosmos! Na klar!
Die Zähler!
Die erstaunliche Fähigkeit, mit Maschinen zu interagieren, das unstrittig nicht vorhandene Bedürfnis zu atmen und zu essen! Die Unfähigkeit, mit den Cualcua eine Symbiose einzugehen!
Warum hatte ich das nicht schon früher begriffen?
Der Zähler wartete, den Blick fest auf mein Gesicht gerichtet.
»Das ändert nichts, Karel«, sagte ich. »Absolut überhaupt nichts.«
Alles in dem Haus war neu und trug einen so klaren Stempel der Gewohnheiten meines Großvaters, dass ich mir einen fragenden Blick nicht verkneifen konnte.
»Es wurde alles extra für mich angefertigt«, erklärte mein Großvater, der sich in einem Ledersessel lümmelte. »Ohne jede Widerrede. Du kannst dir nicht vorstellen, wie angenehm es ist, wenn du dich nicht mit idiotischen Installateuren herumzuschlagen brauchst, nicht durch Geschäfte mit ihren dämlichen Verkäufern streifen musst …«
Ich nickte. Das Verhältnis meines Großvaters zu den Angehörigen aus dem Dienstleistungsbereich war mir nur zu gut bekannt.
»Sieht fast so aus, als wolltest du dich hier länger niederlassen …«
»Petja, ich wollte nur auf dich warten«, widersprach mein Großvater, der zum Zeichen des Protests sogar die Hand gehoben hatte. »Ich habe gehofft, dass du früher oder später …«
»Mir haben zwei Tage gereicht«, sagte ich.
Mascha und Kelos waren im Garten geblieben. Sie besaßen so viel Taktgefühl, uns die Zeit zu geben, was zwar kaum erstaunlich für Kelos, aber nach wie vor bemerkenswert für Mascha war.
Durch die halb offene Tür sah ich das Schlafzimmer. Na toll! Das hatte noch gefehlt. Eine Spiegeldecke, ein riesiges Bett, die Sorte, die mein Großvater früher als »Lenin ist mit uns« verspottet hatte, Kristall-Kinkerlitzchen an den Wänden, Bilder, Blumen …
»Dein Geschmack konnte sich wohl so richtig austoben, wie?«, fragte ich.
Mein Großvater folgte meinem Blick und geriet in Verlegenheit. »Pit … zum Teufel auch, du bist schließlich kein Kind mehr … du wirst doch wohl verstehen, was es heißt, seine Jugend zurückzugewinnen?«
»Leider nur theoretisch. Gut, lassen wir das, Großpapa. Erzähl mir lieber, was hier passiert ist! Wo seid ihr gewesen, Mascha und du? Wie hast du es geschafft, in den paar Tagen bis zur Führung der Handelsliga vorzudringen?«
»Stopp!« Mein Großvater gebot mir Einhalt. »Alles schön der Reihe nach, ja?«
Es fiel mir schwer, ihn weiter Großvater zu nennen. Am liebsten hätte ich wie damals auf dem Kreuzer der Alari die Augen geschlossen und mich an den früheren Andrej Valentinowitsch erinnert. Aber ich widerstand der Versuchung. Das hier war für immer. So würde mein Großvater von nun an sein.
»Als Erstes sind wir in eine höchst sonderbare Welt geraten … Hat Mascha dir schon davon berichtet?«
»Seltsamerweise nicht. Alles, was ich weiß, ist, dass es ihr da überhaupt nicht gefallen hat.«
»Wenn es nur das wäre! Das Problem ist vielmehr … Ich mag die Aliens als Klasse nicht, als gesellschaftliche Erscheinung, die auf völlig anderen moralischen Prinzipien fußt. Einzelnen Vertretern der Außerirdischen stehe ich jedoch durchaus positiv gegenüber. Aber Mascha fasst die Aliens nicht als Persönlichkeiten auf und reagiert nahezu allergisch auf den nicht-menschlichen Körper. Gut, aber lassen wir das, außerdem ist dir die Sache sowieso bekannt. Hör zu, Pit, ich habe verstanden, worum es sich beim Schatten handelt, und zwar schon auf diesem Irrstern. Als Transportnetz taugen diese Tore nicht mehr als ein Mikroskop, wenn du einen Nagel einschlagen willst. Es gibt zu viele in jeder Welt, und gleichzeitig sind es zu wenig, um wirklich bequeme Ortswechsel zu garantieren. Wenn zwischen zwei Toren fünfzig Kilometer liegen, halten wir Menschen das schon nicht mehr für ein funktionstüchtiges Transportsystem. Und deine Freunde, die Geometer, konnte nur eins in Panik versetzen: Welten, in denen ihre heroischen Regressoren massenweise desertieren. Nicht im Kampf sterben, sich nicht zwischen Millionen von Welten verirren, sondern desertieren, weil sie nämlich alles verachten, was ihnen mit der Erziehung eingebläut worden ist. Versuchen wir uns doch einmal vorzustellen, was zu einer solchen … Massenemigration von Tausenden von Menschen führen kann. Obendrein von grundverschiedenen Menschen! Denn alle Nivellierungen der Geometer spielen sich ja an der Oberfläche ab! Tief in sich drin sind diese Menschen aber die Alten geblieben! Einer schreibt heimlich Gedichte und trägt sie seinem Computer vor, ein anderer träumt verschämt von Ruhm und Ehre oder von einem weichen Plätzchen im Saal des Weltrats, wieder ein anderer möchte – und zwar unbedingt –, dass ihm sein geliebter Ausbilder mit dem Rohrstock den schwieligen Regressorenarsch versohlt …«
Mein Großvater kicherte, hochzufrieden mit dem letzten Satz.
»Man kann die Menschen aber nicht so gleichmachen! Man kann nicht aus allen entweder Teufel oder Engel machen! Die Menschen werden sich immer voneinander unterscheiden. Also müssen auch die Fallen für sie unterschiedlich sein. Außerdem müssten sie rasch und unwiderruflich zuschnappen. Sie müssten jedem Raum bieten, sich selbst zu verwirklichen. Einige der Geometer, die nicht zurückgekehrt sind, werden noch immer als Regressoren arbeiten … Die Armen! Auch für sie fand sich eine Welt, die den technischen Fortschritt satt hat und sich nach Petroleumlampen sehnt, nach Ritterturnieren und wilder Jagd auf zottelige Mammuts. Und das war mir von Anfang an klar, Pit. Deshalb hat mich der Trick mit diesen Toren ja auch nicht überrascht. Was mich eher irritiert hat, war, dass Mascha danach noch bei mir war. Und dass ich immer noch im Körper des Zählers steckte.«
»Also hast du darauf gehofft, dein altes Aussehen zurückzuerhalten?«
»Selbstverständlich. Ansonsten wäre ich nie durch das Tor gegangen. Aber die Welt, in die wir gerieten, stellte sich wirklich als merkwürdig heraus …«
Mein Großvater stülpte die Lippen vor. Die Mimik eines alten Mannes im Gesicht dieses jungen, kräftigen Kerls verlieh ihm etwas von einer Karikatur.
»Es war eine Welt von Metamorphen, mein Junge. Ein Planet, dessen Bewohner ihr Äußeres variierten wie eine zu Geld gekommene Schönheit mit Kleidung und Schminke. Ein interessantes Schauspiel … Mascha hat es allerdings panisch erschreckt. Wie du dir vorstellen kannst, war es für sie nötig, sich selbst davon zu überzeugen, wer ich eigentlich bin. Das hat ihr einfach keine Ruhe gelassen. War ich ein Trugbild im Körper eines Reptiloiden oder der echte Andrej Valentinowitsch? Folglich ist sie in eine Welt gekommen, in der sie ihre Schlüsse ziehen konnte. Ich wiederum brauchte diese Welt, um mein menschliches Äußeres zurückzugewinnen.«
»Aber vielleicht bist du auch einfach nur in diese Welt gekommen, weil du mit ihr zusammen sein wolltest?«
»Vielleicht.« Mein Großvater wich meinem Blick aus. »Ich habe ihre Panik gespürt. Und ich habe etwas in dieser Art erwartet … Kurz und gut, wir sind zusammengeblieben. Wir haben einiges zu sehen bekommen. Von simplen Tiermenschen wie Tiger- oder Vogelmenschen und allerlei Amphibienmenschen … bis hin zu purer Exotik. Was es alles für Wesen gibt, Petja! Zum Beispiel eine Art Mensch … allerdings mit zwei Köpfen. Das waren zwei Verliebte, verstehst du! Für immer zusammen – bis zum ersten Streit. Sie gaben einen freundlichen Hermaphroditen ab, der mit sich selbst turtelte. Sie haben es gewollt und sind miteinander verschmolzen. Jetzt laufen sie mit einem pausenlosen Orgasmus herum. Dann kommt die nächste Phase. Ein Hügel schiebt sich durch eine Ebene, ein Berg von braunem Fleisch, alles voller Falten und Spalten, aus denen Schleim heraussickert, nicht einfach so, sondern damit die Reibung verringert wird. Eine Masse von gut fünfzig Tonnen. Das ist eine Familie. Mutter, Vater, Kinder, die alten Eltern, Cousins und Cousinen, Großneffen … Was sich in diesem Ding abspielt, ist mir schleierhaft. Vielleicht überhaupt nichts. Vielleicht ist das ein Wesen, das sich völlig selbst genügt, ein sehr freundliches und neugieriges Wesen obendrein. Und stell dir vor, Petja, niemand hat uns angegriffen. Niemand hat versucht, uns zu fressen oder zu assimilieren. Man hat mit uns geredet und uns Hilfe angeboten. Als sich dann herausstellte, dass in dem Körper des Reptiloiden ein weiterer Verstand steckte … da hat man für mich diesen Körper angefertigt. Und Karel hat, wofür ich ihm dankbar bin, mein Bewusstsein in diesen Körper gepumpt.« »Man hat ihn angefertigt?«
»Ich weiß, worauf du hinauswillst.« Mein Großvater hüstelte. »Karel hatte Gewebeproben von mir. Darum hatte ich selbst gebeten, vor meinem Tod sozusagen. Ich habe gehofft, in dem Reptiloiden so lange zu überleben, bis wir es gelernt haben, neue Körper zu züchten.«
»Wir können das auch jetzt schon. Hast du etwa noch nie von den Gerüchten gehört, die über den japanischen Premierminister zirkulieren oder über den amerikanischen …«
»Das sind Gerüchte«, fiel mir mein Großvater ins Wort. »Der einzige Mensch, der sein Leben tatsächlich durchs Klonen verlängert hat … nein, besser, du kennst seinen Namen nicht. Es ist ein sehr reicher Mensch, ein bekannter Philanthrop. Aber das könnte ich nicht. Über den Kopf meiner jungen Klone streichen und dann den Ärzten befehlen, wer als Erster auf den OP-Tisch kommt … Nein, Petja. Dann schon lieber zu den Würmern, in die Erde.«
»Das glaube ich dir gern«, sagte ich. Die Nonchalance, mit der mein Großvater den Klatsch aus der Boulevardpresse zurückwies und mir die Wahrheit über einen mir unbekannten Milliardär erzählte, erschreckte mich.
»Kurz und gut, ich habe dieses Geschenk erhalten.« Mein Großvater betrachtete seine Hände. »Ein sehr schönes Geschenk. Trotzdem wollte ich mich nicht länger auf diesem Planeten aufhalten. Deshalb sind Mascha und ich weitergezogen … und diesmal hatte ich wirklich Angst, wir würden in unterschiedlichen Welten landen. Aber wir hatten Glück. Wir sind direkt hierher gelangt, auf den Planeten der Handelsliga. Und das war vermutlich das Beste, was uns passieren konnte, denn sie haben sich unsere Geschichte voller Neugier angehört.«
»Und wollen sie uns helfen?«
Mein Großvater seufzte.
»Nun sag schon, was haben sie versprochen?«
»Fast nichts. Sie haben nicht die Absicht, sich in einen Krieg einzumischen. Sie ziehen zwar über den Schatten her, halten ihn für eine aufgezwungene Ordnung, glauben aber, ihr System der freien Ortsveränderung werde ihn früher oder später verdrängen … Diese Hohlköpfe! Denn entweder sie erreichen mit ihren Tunneln den gleichen Standard, wie ihn die Tore bieten, oder sie werden mit ihnen niemanden hinterm Ofen hervorlocken. Sie schlagen uns vor, in den Schatten einzutreten.«
Ich nickte. »Kelos … und er ist kein schlechter Mensch … rät das Gleiche.«
»Natürlich. Eine Alternative gibt es nicht, Petja.«
Wir sahen einander an.
»Ich verstehe dich ja«, sagte mein Großvater sanft. »Irgendwie sieht das so gar nicht nach einem Paradies aus, oder? Aber das ist auch kein Paradies. Halte von mir aus die Welten der Geometer für die Hölle und die Welten des Schattens für das Fegefeuer. Und dann triff deine Entscheidung! Du hast dich einmal durchgesetzt. Wir haben uns gegen ein Bündnis mit den Geometern entschieden und sind hierhergekommen. Nun sind wir zu den Wurzeln zurückgekehrt. Hier ist die menschliche Rasse entstanden. Vielleicht sogar alle Rassen des Universums. Ob das Leben wirklich eine so seltene Sache ist? Ob womöglich alle, denen wir im Kosmos begegnet sind, Sprösslinge ein und derselben Wurzel sind? Die von hier abstammen, von der Ur-Erde …«
»Das hier ist die Ur-Erde?«
»Genau.«
Alles, was ich meinem Großvater hatte antworten wollen, wirbelte in meinem Kopf durcheinander. Ich sprang sogar auf und rannte zum Fenster.
Der Himmel, der Wald, der Fluss …
»Ich habe gedacht, auf der Ur-Erde würden die fortschrittlichstem Bewohner des Schattens leben … Diejenigen, die bereits ihr menschliches Äußeres verloren haben. Kelos hat mir von einem Planeten erzählt, auf dem …«
»Sie haben hier ja auch gelebt. Vielleicht tun sie das sogar immer noch. Nur sind wir nicht imstande, sie noch zu bemerken.«
Ich erwiderte kein Wort. Ich beobachtete Mascha und Kelos, die im Garten standen, Wein tranken und sich unterhielten. Der Reptiloid saß zwischen ihnen, drehte den Kopf hin und her, erinnerte weder an ein intelligentes Lebewesen noch an einen Roboter, sondern an ein gutmütiges Haustier.
»Es gibt keinen Ort mehr, an den wir jetzt noch gehen könnten, Pit«, sagte mein Großvater. Er kam zu mir und legte mir den Arm um die Schultern. »Du hast dir alle Mühe gegeben, mein Junge. Du hast alles getan, was nötig war. Aber wir sind in einer Sackgasse gelandet. Der Weg endet hier. Du bist in die größte Spielbank im Universum gekommen. Die Karten sind ausgeteilt, und am Tisch gibt es nur noch zwei freie Plätze. Freiwilliges Sklaventum oder aufgezwungene Freiheit. Mehr nicht.«
Ich schwieg.
»Natürlich kannst du aus dem Spiel aussteigen, Petja. Du kannst bleiben, um im Casino zu arbeiten. Bedenke aber, dass das eine Niederlage bedeutet.«
Ich schwieg.
»Entscheide, Petja! Du hast das Recht, eine Entscheidung zu treffen. Du bist besser als ich, reiner und offener. Es ist an dir, diesen Schritt zu tun. Entscheide! Vielleicht wird die Handelsliga wirklich eine Alternative zum Schatten. Oder wir erfinden etwas anderes. Aber fürs Erste … fürs Erste kommt es nur darauf an zu überleben. Die Erde zu erhalten.«
»Wie kommen wir in den Schatten?«, fragte ich.
Mein Großvater seufzte. »Genau das ist die schwierigste Frage, Petja.«
Wie schön die Abende hier waren. Unter diesem Himmel, der bereits blutrot glühte und mit einem Spinnennetz aus Wolken überzogen war, unter diesem Himmel, den Sternenfunken sprenkelten. Hier sollte man das Leben in vollen Zügen genießen. Problemlos vermochte ich mir auf diesem Planeten meine Bekannten aus der georgischen Abteilung von Transaero oder unsere russischen Piloten vorzustellen, wie sie Schaschlik grillten, Bier und trockenen Wein tranken, Lieder zur Gitarre sangen und sich Witze erzählten, die nur in diesem kleinen Kreis verständlich waren.
Ein schöner Traum.
Seltsamerweise fügte sich der meist schweigende und durch nichts aus der Ruhe zu bringende Kelos leicht und umstandslos in unsere Gesellschaft ein. Jetzt saßen an dem Tisch im Garten auf der einen Seite mein Großvater, ich, Mascha, Karel und Kelos, uns gegenüber – in demonstrativer Einsamkeit – Krej Saklad, der Mitarbeiter der Liga.
»Ich schulde euch einige Erklärungen«, sagte Krej. Sein Blick wechselte zwischen Kelos und meinem Großvater hin und her, als wolle er klarstellen, wen er für die wichtigsten Ansprechpartner hielt. »Es hätten sich durchaus mehrere Menschen versammeln können, die die Führung verkörpern. Aber das wäre eine reine Formalität. So bin ich zwar allein, aber ich bitte darum, mir zu glauben, dass meine Entscheidungen als Gesamtentscheidungen der Handelsliga gelten.«
»Davon gehen wir aus«, versicherte mein Großvater. »Weiter im Text.«
Er saß mehr als lässig da, eine Hand um Mascha gelegt, in der anderen eine Pfeife, aus der Rauch aufstieg. Wem willst du eigentlich was vormachen, du junger Herr Großpapa? Ich lese doch in deinen Augen, wie nervös du bist!
»Die Handelsliga steht allen intelligenten Rassen wohlwollend gegenüber. Sowohl humanoiden als auch anderen Lebensformen …« Er nickte höflich zu Karel hinüber. »Wir freuen uns über mögliche Kontakte zur Erde, zum Konklave und zu den Geometern. Aber …«
Natürlich. Immer gab es ein Aber, niemals ging es ohne ab.
»Alle bisherigen Versuche, eine ausschließlich auf militärischer Stärke basierende Alternative zum Schatten zu entwickeln, sind ruhmlos gescheitert. Darum ist das nicht unser Weg. Wir schaffen eine friedliche Alternative, die auf Handel und Kultur basiert. Früher oder später« – er sah meinen Großvater an – »wird sie sich in der ganzen Galaxis durchsetzen. Der Verstand ist entstanden, damit wir Entscheidungen treffen, die unseren klar erkannten Bedürfnissen entsprechen, und nicht, damit wir der animalischen Seite einer Persönlichkeit nachgeben …«
Mein Großvater gähnte demonstrativ.
»Deshalb …« Krej hob leicht die Stimme. »… interveniert die Handelsliga nicht auf militärische Weise, es sei denn, ihre Interessen werden angegriffen …«
»Ihr gebt uns keine Schiffe«, fasste mein Großvater zusammen. »Nicht wahr? Habe ich das richtig verstanden?«
»Absolut.« Krej blieb auch jetzt die Freundlichkeit selbst. »Ihr seid keine Welt des Schattens. Bislang jedenfalls nicht.«
»Sie werden auch keine Welt des Schattens werden, wenn wir ihnen jetzt nicht helfen«, bemerkte Kelos leise. »Ihr Planet wird ausgelöscht. Für immer. Zusammen mit Milliarden von intelligenten Lebewesen.«
Krej wäre beinahe zusammengezuckt. Trotzdem erwiderte er mit unerschütterlicher Überzeugung: »Eine beträchtliche Zahl intelligenter Lebewesen ist bereits unwiderruflich gestorben. Zumindest unserer Ansicht nach unwiderruflich. Das ist leider eine bittere Wahrheit der Geschichte.«
»Aber diesmal besteht die Chance, das Blatt zu wenden«, entgegnete Kelos. »Zwei oder drei schwerbewaffnete Schiffe der Liga, die in der Nähe der Erde auftauchen, und jede Absicht, diesen Planeten zu vernichten, wäre im Keim erstickt. Warum wollt …«
»Ganz einfach, weil wir dann zu einem neuen Imperium würden. Zu einer zweiten Kristallenen Allianz!«
Sie maßen einander über den Tisch hinweg mit Blicken.
»Dann lässt du sie lieber sterben?«, fragte Kelos.
»Wir sind keine Götter. Und wir trachten auch nicht danach, es zu werden!«
»Dann bitten wir eben darum, die Erde in den Schatten aufzunehmen!«, beendete mein Großvater kurzerhand das Geplänkel der beiden. »Wäre dann die legale Grundlage für euch gegeben, uns zu helfen? Würden sich dann Abenteurer finden?«
»Sicher. Aber ihr gehört eben noch nicht zum Schatten. Das ist ja das Problem …«
Krej sah mich an.
»Pjotr Chrumow, wenn ich es richtig verstanden habe, schwebt die Erde deinetwegen in Gefahr?«
Was sollte ich darauf antworten? In gewisser Weise hatte er ja recht. Das Konklave war durch die Tatsache in Panik geraten, dass die Menschen bereits Kontakt zu den Geometern aufgenommen hatten. Und die Menschen – das war ich. Das arme kleine Konklave, das die armen kleinen Geometer fürchtete … und dabei den Blick vom Kern der Galaxis abwandte. Warum hatte das Konklave eigentlich noch nie eine Expedition hierher geschickt? Wussten sie, was hier auf sie wartete? Ahnten sie es?
»Stimmt, meinetwegen ist alles so gekommen. Und jetzt bitte ich euch um Hilfe.«
»Wir haben niemals irgendwen in den Schatten aufgenommen«, antwortete Krej freundlich. »Man nimmt zwar allgemein an, die Liga würde sowohl mit dem Schatten zusammenarbeiten wie auch versuchen, ihn zu verdrängen … Dass die Liga in neuen Welten Tore einrichten würde und sich bereithielte, ihre Tunnel anzulegen … Das ist nicht wahr. Vor langer, langer Zeit sind lebende Menschen in klobigen Schiffen von Planet zu Planet geflogen und haben die Tore errichtet. Diese Zeiten sind zusammen mit jenen Menschen und jenen Schiffen vergangen. Heute ist alles anders. Und das schon seit Jahrhunderten. Wenn Wesen aus einer neuen Welt auf einen Planeten des Schattens kommen, treffen sie eine Entscheidung. Die Tore … ich habe keine Ahnung, wie sie heutzutage beschaffen sind! Sie stellen einen eigenen Verstand dar. Sie sind mehr als Leben. Sie sind ein Gott, in einem ganz primitiven Verständnis. Wir sehen die äußere Form der Tore …« Er drehte den Kopf und deutete zielsicher in Richtung Waldrand.
Ja, ich sah es. Wir alle sahen es, dieses Etwas, diese veränderte Materie, diesen verzerrten Raum, diesen kleinen Fleck Erde, wo das Tor stand.
»Wir nehmen hier Gäste auf.« Krej lächelte. »Wie euch … zum Beispiel. Wir bieten ihnen ein gemütliches kleines Haus, ein komfortables Nest oder ein geräumiges Aquarium. Gäste mit menschlichem Körper und in jeder sonst vorstellbaren Form. Aber das sind Kleinigkeiten. Selbst der Umstand, dass wir hier auf der Ur-Erde sind, fällt nicht ins Gewicht. Es ist nur ein Symbol, ein Zeichen der Ursprünge … Hier kommen die Vertreter neuer Rassen her. Und sie erhalten die Tore. Sie selbst! Wir selbst sind nur Fuhrleute.«
Das Wort ließ mich zusammenzucken.
»Sie erhalten die Tore und bringen sie in ihre eigene Welt. Das ist alles. Wir helfen ihnen dabei. Aber wir verteilen keinen Platz im Schatten. Das liegt nicht in unserer Macht.«
»Aber warum erhalten wir dann kein Tor?«, polterte Mascha los. »Erklär mir das mal, Krej! Du hast uns doch so wohlwollend aufgenommen … und dafür danken wir dir … aber unsere Welt schwebt in akuter Lebensgefahr! Das interessiert dich wohl überhaupt nicht?! Warum eigentlich nicht?«
»Ob ihr die Tore bekommt, hängt einzig und allein von euch ab. Ich wollte nicht darauf zu sprechen kommen …« Krej wirkte verlegen. »Aber … wenn ihr den Schatten nicht wollt … wenn ihr ihn nur aus Furcht erbittet, nicht aus Liebe …«
»Warum müssen alle Götter so grausam sein?«, fragte mein Großvater in scharfem Ton. »Na, Krej? Warum wollen sie alle, dass sie aufrichtig und reinen Herzens geliebt werden, dass man einen Kotau macht, seine Kinder opfert und ihnen für sein Leid dankt? Es stimmt, wir lieben den Schatten nicht! Aber wir sind auch nicht die ganze Erde! Und sogar wir sind bereit, den Schatten zu akzeptieren!«
»In dem Fall seid ihr eben nicht bereit.« Krejs Stimme zitterte nicht einmal. »Warum, das kann ich nicht sagen. Weil ich selbst nicht weiß, woran es liegt. Vielleicht, weil ihr nicht alle vollständig erschienen seid …«
»Es gibt hier zweihunderttausend Planeten! Und auf jedem von ihnen Tausende von Toren! Wie sollen wir Danilow da finden?« Mascha kannte jetzt kein Halten mehr. »Was wollt ihr eigentlich von uns? Müssen wir geschlossen per erhobener Hand abstimmen? Sollen wir unisono darum flehen, in den Schatten aufgenommen zu werden? Saschka kann doch sonstwo sein! Er kann in einem Wagen mit fahrenden Schauspielern herumziehen! Er kann seine Haremsdamen durchvögeln! Er kann für irgendeinen popeligen König kämpfen oder lernen, eure Raumschiffe zu fliegen! Woher sollen wir das denn wissen?«
»Ihr braucht es gar nicht zu wissen«, antwortete Krej leise. »Das ist nicht nötig. Genau darum geht es ja … Passt auf!«
Er machte keine einzige Bewegung, sagte kein einziges Wort. Es breitete sich einfach ein Licht in der Abendluft aus – und dann sahen wir es.
Wir sahen die Felsen, schwarz wie die Nacht, obwohl dort noch Tag war …
Das Bild setzte sich in Bewegung, glitt um uns herum. Wir hatten das untrügliche Gefühl, Teil des Ganzen zu sein, als habe man uns durch den Raum bewegt, als habe man uns in der Luft über den Felsen, über den gramgebeugten Figuren, aufgehängt.
»Sie sind vor fast einem Monat zu uns gekommen …«, erläuterte Krej. »Sie haben lange versucht zu verstehen, was mit ihnen passiert, und noch länger haben sie gebraucht, um alle zusammenzukommen. Und jetzt … werden sie auch die Tore erhalten. Da bin ich sicher. Ich habe das schon oft genug erlebt …«
Bei den Figuren, die auf den schwarzen Felsen verteilt waren, handelte es sich nicht hundertprozentig um Menschen. Freilich, sie hatten zwei Arme, zwei Beine, einen Kopf und zwei Augen … große Facettenaugen.
»Da ist ja ein eigenständiger Zweig der Entwicklung«, sagte Krej in leicht vorwurfsvollem Ton. »Sie stammen nicht von der Ur-Erde ab … wie ihr …«
Die Figuren kratzten mit ihren langen dünnen Fingern am Stein und sahen immer wieder nach oben, hinauf zum Himmel, zu uns, den unsichtbaren Beobachtern.
Der nicht-menschliche Blick und die abgehackten Bewegungen gingen mit einer bezwingenden, fremden Schönheit einher. Die Haut dieser Wesen war blauschwarz, sie verschmolzen mit dem toten Gestein und kratzten immer weiter, hämmerten auf den Fels ein, flehten ihn an …
»Ihr Verhalten … ist nur eine Möglichkeit«, erklärte Krej scharf. »Ein Ausdruck ihrer Mühen. Sie brauchen den Schatten. Sie brauchen die Tore.«
Etwas geschah. Der Stein barst. Ein Stück Felsen löste sich. Ein alles durchdringendes Geräusch voll fremder Freude und fremdem Jubel erklang. Ihre Hände griffen nach einer funkelnden, blutroten, kirschkleinen Kugel. Dann folgte Stille, eine fast heilige Stille. Die Figuren erhoben sich. Fünf schmale, hochgewachsene nicht-menschliche Wesen schritten über die Felsen – und in den Händen des einen flammte, den Tag überstrahlend, ein Feuersame auf.
»Sie haben die Tore bekommen«, sagte Krej ruhig. »Das ist alles. Jetzt beginnt ihr Weg in den Schatten. Mit allen Nachteilen … Aber wenn ihr wüsstet, wie sie bisher gelebt haben … was sie mit ihrem Planeten angestellt haben … dann würdet ihr verstehen, dass der Schatten für sie ein Segen ist.«
Das Bild verblasste. Wir waren wieder in dem Garten … Keine Ahnung, wie es den anderen erging, aber ich empfand einzig und allein Neid. Vielleicht hatte ich genau davon mein Leben lang geträumt … mit einem Samen für ein Tor, für eine Tür in andere Welten aufzubrechen. Und es konnten sich von mir aus in diesen Welten sämtliche Schmerzen, Laster und Dummheiten des Universums zusammenballen – sofern nur eine von tausend Welten dem Guten zugeneigt war … dem heimatlosen Kind ein Zuhause bot, dem armen Poeten ein Stück Brot, dem Erniedrigten Gerechtigkeit …
»Ihr wollt von mir wissen, wie ihr die Tore erhalten könnt?«
Die Erde durchwandern, mit einem lodernden Feuer in der Hand. Den Samen in den Boden stecken und zusehen, wie ein körperloses Tor auflodert. Ein Meer von Möglichkeiten. Ein Meer von Freiheit.
»Ihr müsst warten. Hoffen. Wenn ihr die Tore wirklich braucht, werdet ihr sie bekommen …«
»Krej!« Kelos’ Stimme riss mich aus meinen Träumereien. Er erhob sich. »Besinn dich! Sie sind noch nicht bereit! Sie sind Kinder, sie sind Babys, ihre Geschichte ist ein Lichtfunke in der Dunkelheit! Jahrtausendelang sind die alten Schiffe unserer Rasse durch die Galaxis gekrochen – um die Samen des Lebens auszustreuen. Sie können es nicht annehmen – so auf der Stelle. Sie brauchen Zeit, und sie brauchen Hilfe. Die Kompromisslosigkeit der Jugend – kannst du denn nicht verstehen, was sie bedeutet? Gerade du!«
»Ja, gerade ich, du mein unsterblicher Kriegsherr!«
Krej sprang auf und verneigte sich spöttisch.
Alles, was ich hätte sagen wollen und können, jede inständige Bitte und jeder Fluch – alles war aus meinem Kopf entschwunden. Denn vor unseren Augen spielte sich der Schlussakt eines alten Dramas ab.
»Wir bitten um Verzeihung, Kriegsherr! Die Liga wird den Weg der Kristallenen Allianz nicht gehen!«
»Krej Saklad, als ich dich, einen verrotzten Bengel, aus der Pestbaracke gerettet habe, da habe ich nicht darüber nachgedacht, ob das richtig war oder nicht, ob dein Leben es wert ist, dass ich …«
»Wie es eben typisch für dich ist, Kriegsherr!«
Wo waren nur seine Höflichkeit und Gelassenheit geblieben? Die beiden Männer, deren Alter in Jahrhunderten zu zählen war, beschimpften sich jetzt wie zwei besoffene Halbwüchsige.
»Vielen Dank auch! Als man mich auf die Folterbank gespannt hat, da habe ich dich nicht verraten, Kriegsherr! Als ich die Rebellen bei lebendigem Leibe verbrannt habe – ganz langsam, Kelos, genau wie du es befohlen hast – damit sie nicht einmal mehr daran dachten, in ihre Heimatwelt zurückzukehren, da habe ich nicht gezögert! Denn ich habe gewusst, dass du das einzige Licht in der Finsternis bist, dass nur du das Recht hast zu entscheiden, was gut ist und was böse! Wir sind deinen Weg gegangen – und im Dreck gelandet. Und jetzt gehen wir in die entgegengesetzte Richtung! Ich wünsche diesen Menschen nur Gutes – aber ich werde sie nicht mit Gewalt beglücken! Tut mir leid, Kriegsherr! Befiehlst du mir jetzt, meinen Abschied zu nehmen? Oder mich zu erschießen?«
»Dazu ist es zu spät!«
Die Stille schallte lauter als jeder Schrei. Krej und Kelos waren wie auf Befehl beide verstummt.
»Die Liga hat ihre Entscheidung getroffen«, sagte Krej leise.
»In dir ist nichts mehr von einem Menschen«, erwiderte Kelos.
»Kelos! Wie kommst ausgerechnet du dazu, mir das zu sagen?«
»Eure Pläne sind Unsinn. Ihr seid auch ein Teil des Schattens … und nicht gerade sein bester.«
»Sie haben die Möglichkeit …«
Ich hörte den beiden nicht weiter zu, sondern stand auf und schob die Hand meines Großvaters beiseite, die auf meinem Knie lastete. Halte durch, alter Mann! Ich bitte dich, halte durch! Dann rannte ich los.
Das Tor schimmerte in der Dunkelheit. Es war nah, so nah …
»Pjotr!«
Ich rannte, und die Zweige peitschten mir ins Gesicht. Das Tor kam immer näher.
»Pjotr!« Ein Schlag traf mich an der Schulter. Kelos hatte mich eingeholt. »Bleib stehen! Du wirst sonst nie wieder zurückkommen! Denk daran, was ich dir erzählt habe! Pjotr, ich kann da nicht mitkommen!«
Er wäre beinahe ins Tor hineingestolpert. Ich schaffte es, stehen zu bleiben und ihn wegzuschubsen. Entweder wollte er sich also nicht wehren, oder seine Kampfreflexe waren doch nicht allmächtig. Kelos fiel direkt an der Grenze des veränderten Raums, noch vor der Linie, hinter der die Zukunft auf ihn wartete, diese blendende und nichtmenschliche Zukunft. »Warte hier!«, bat ich. »Das ist mein Weg.« Ich machte einen Schritt – und weißes Licht schlug mir in die Augen. Wie weh es tut, wenn man dich erfasst …
Das Geschrei des Cualcua brachte mich wieder zur Besinnung, diese Schreie, die ich mittlerweile kannte.
Pjotr! Pjotr! Pjotr!
»Schrei nicht so …«
Die Worte blieben mir im Hals stecken. Mein Mund war voller Schnee. Ich lag am Fuße eines Hügels und erinnerte mich sogar vage daran, wie ich ihn hinuntergestürzt war, mich überschlagen hatte, über die Schneewehen geholpert, auf unter dem Schnee verborgene Steine geschlagen war, vor Schmerz geschrien hatte …
Die Rezeptoren sind betäubt. Die Regeneration des beschädigten Gewebes erfolgt.
Der Cualcua gab aber nicht lange Ruhe.
Pjotr! Pjotr!
»Halt endlich das Maul!«
Als ich mich hochrappelte, schmerzte mein ganzer Körper. Wenn ich bei betäubten Rezeptoren dermaßen litt – was war dann mit mir geschehen?
Oho!
Als ich den Hang hinaufspähte-, gewann der Cualcua meine uneingeschränkte Hochachtung. Meinen armen Körper nach einem solchen Fall wieder zusammenzubasteln – das war eine hübsche Arbeit für einen Gerichtspathologen. Ich war einen zweihundert Meter hohen Hang hinuntergestürzt, der derart steil war, dass kein noch so fanatischer Bergsteiger sich getraut hätte, ihn zu erklimmen. Zumindest nicht bei diesem Wetter.
Ein Schneesturm setzte ein. Nein, das war falsch, er setzte nicht ein, sondern er war hier zu Hause. Der Wind war zwar nicht sehr stark, aber das diffuse Gefühl, er würde sich selbst in Wochen nicht legen, wollte mich nicht verlassen. Winzige Hagelkörner schlugen mir in die Augen. Die trübe rote Scheibe der Sonne hing gotterbärmlich am Himmel. »He, Cualcua, erinnerst du dich noch an den Frischen Wind?«, fragte ich. »Sind wir vielleicht bei den Geometern gelandet?«
Die Schwerkraft und die Atmosphäre sind hier anders.
»Aha. Danke.«
Vielleicht war ich ein kompletter Vollidiot. Und zur Strafe bekam ich jetzt ein kurzes und inhaltsarmes Leben in einer Schneewüste … für ein paar Stunden, bis ich erstarrte.
»Dann verrat mir doch bitte, ob es hier Leben gibt!«
Der Cualcua antwortete nicht gleich. Wahrscheinlich benutzte er nicht nur meine Sinnesorgane, vermutlich sah er sich auch noch mit seinen eigenen Augen um, beschaffte sich mit Mitteln, die mir nicht zur Verfügung standen, Informationen …
Ja. Dreh dich nach links. Noch weiter. Stopp! In dieser Richtung, etwa einen Kilometer entfernt.
So angestrengt ich auch in die Richtung spähte, ich vermochte nichts zu erkennen.
Aber jetzt gab es keine Alternative mehr. Wenn du erst handelst und dann nachdenkst – was soll dabei schon Gutes herauskommen?
Ich schleppte mich durch den Schnee. Der Cualcua erfüllte mir meine Bitte und schwieg. Die Arbeit an meinem Körper setzte er jedoch fort, und ich spürte, wie meine Wahrnehmungsfähigkeit zurückkehrte und gleichzeitig die Kälte verschwand. Es war seltsam … das hatte ich schon einmal erlebt … ein Deja-vu … Nein, das war wirklich nicht die Welt der Geometer. Natürlich nicht. Aber wenn man ehrlich ist, bedeutet der ganze Schatten doch nun, im Kreis herumzulaufen. Die endlose Aufführung eines seit Langem einstudierten Stücks. Aus dem man nur herauskommt, wenn man aufhört, ein Mensch zu sein. Aber was tut man, wenn man genau das nicht will? Die Philosophen, Psychologen und Schriftsteller haben gut reden, wenn sie über das Schicksal der Menschheit sinnieren. Sie würde aussterben, über sich hinauswachsen, weitergehen, eine neue Stufe der Entwicklung erreichen … Ich will das nicht! Ich … ich will das nicht! Aber es gibt keinen anderen Ausweg, und deshalb werde ich mir den Kopf an den Felsen der Ur-Erde einschlagen, den Samen für die Tore herauskratzen, mich erniedrigen und betteln, dass man uns wenigstens diese Rettung, die mir so widerwärtig ist, zuteil werden lässt …
Durch den Schneeschwaden hindurch nahm ich vor mir dunkle Schatten wahr. Ich blieb stehen und rieb meine tauben Hände gegeneinander. Das sah aus wie Türme. Und Baracken. Ein Dejà-vu. Heda, Wendige Freunde …
»O …«
Dieser Laut, ganz in meiner Nähe, ließ mich zusammenfahren. Ich ging in die Hocke. Stöhnte da jemand?
Nein.
Ach du mein Heimatland,
So ungebunden weit …
Das klang eher nach einem Lied. Als ob jemand, der kaum Gehör oder Stimme besaß, in der Kälte versteinerte Worte vor sich hinmurmelte.
Du freies, großes Land …
Schließlich entdeckte ich den Sänger. Eine gekrümmte, eingeschneite Figur, in einem überdimensionalen, groben Pelzmantel. Es sah nicht so aus, als sei der Mann erfroren. Er saß auf einem Holzklotz, das Gesicht den Baracken und Türmen zugewandt, und murmelte in einem fort, murmelte ohne jede Intonation, vom Gesang zu breiigen Klagen übergehend.
»Kalt … verflucht … kalt …«
Für Menschen, die mit sich selbst sprechen, habe ich immer eine irritierende, mit Mitleid vermischte Sympathie empfunden. Wenn du mit deinem Leben zufrieden bist, suchst du den Gesprächspartner nicht in dir selbst, denn dieser Gesprächspartner ist zu schrecklich, zu unerbittlich.
Es folgte ein leises Knistern, als wickle jemand etwas aus in der Kälte steif gewordener Plastikfolie aus. Dann Geschnaufe, bevor der Mann in sein gefrorenes Essen biss. Danach wieder Geschnaufe.
Ich näherte mich ihm langsam von hinten. Als mich nur noch ein Schritt von ihm trennte, bemerkte ich das funkelnde Metall. Auf den Knien des ausgehungerten Sangesburschen lag eine Waffe, eine kurzläufige MPi. Ich erstarrte.
Ein Wachtposten. Es war nur ein Wachtposten.
Wäre es ein Wendiger Freund gewesen, wäre alles einfacher gewesen. Wesentlich einfacher. Wenn er schweigend dagesessen hätte oder auf und ab patrouilliert wäre, dann wäre es ebenfalls einfacher gewesen. Aber so … Von hinten über einen unbekannten Mann herfallen, der in unbequeme Kleidung gemummelt war und leise an einem Stück gefrorenen fetten Fleischs nagte, das wollte ich nicht.
Ich holte aus, zögerte dann aber. Hier stirbt ja niemand für immer. Das durfte ich nie vergessen. Und genau deshalb durfte ich das nicht tun, denn es würde alles rechtfertigen, alles, was man sich nur vorstellen kann, denn gerade das war das schrecklichste Geschenk der Tore: dass hier alles erlaubt war. Andererseits musste ich es tun, denn ich musste ja weitergehen …
Der Posten drehte sich um. Ich konnte gerade noch das erstaunte, grobe Gesicht erkennen, den Mund, der sich zu einem Schrei öffnete – dann schlug ich zu. Die Pelzmütze minderte die Wucht des Schlags zwar, aber entweder hatte ich mich gewaltig ins Zeug gelegt oder mein Gegner war ein ausgesprochener Schwächling. Jedenfalls brach der Posten im Schnee zusammen, ohne noch ein Wort herauszubringen.
»Wünsche angenehme Träume«, flüsterte ich, während ich die MP an mich nahm. »Träume ruhig von einer anderen Welt … einer warmen, zärtlichen Welt … und begib dich dorthin.«
Nach etwa zehn Schritt stieß ich auf einen Stacheldrahtzaun. Fünf Stränge, an denen Schnee klebte und die deswegen an eine Neu Jahrsgirlande erinnerten.
»An die Arbeit, Symbiont!«, befahl ich. »Abrechnen werden wir im Jenseits …«
Sobald meine Finger eine schwarze, glänzende Kruste überzog, berührte ich das eisige Metall und zerknipste einen Strang nach dem nächsten.
Nur gut, dass der Zaun nicht unter Strom stand. Und dass es keine Sender gab. Alles war so primitiv, dass es mich fast anekelte.
Glaubst du, dass du an den richtigen Ort gekommen bist?, fragte der Cualcua.
»Ja.«
Ich stiefelte durch die Schneewehen, aber wenigstens gab es hier Trampelpfade. Irgendwann fiel mir eine Einzelheit auf, die diesen Ort von den Sanatorien der Geometer unterschied. Ein Stück weiter, jenseits des Stacheldrahtes, ragten Fabrikgebäude auf. Die typischen Umrisse, der aus Schornsteinen aufsteigende Rauch, das schwache Sonnenlicht, das sich in den großen Fenstern spiegelte. Nein, wahrscheinlich beschäftigte man sich hier nicht mit der Begradigung der Uferlinie und zählte auch keine Erbsen.
Ich ging auf gut Glück weiter, ohne mich um Deckung zu kümmern. Vermutlich hatte man mich sowieso schon von den Wachtürmen aus entdeckt, mich allerdings nicht für einen Fremden gehalten.
Es war Tag. Und das war schlecht. Man würde arbeiten. Und ich wollte weiß Gott nicht alle Fabriken abklappern. Sonst würde ich mir am Ende noch eine Kugel einfangen. Die Möglichkeiten des Cualcua waren schließlich auch begrenzt, und der Eifer, der mich durch das Tor gebracht hatte, konnte wieder versiegen. Allerdings arbeitete man hier wohl rund um die Uhr …
Ich betrat die erstbeste Baracke. Eine Wache machte ich nicht aus. Drinnen war es warm, gelbe Lampen spendeten ein trübes Licht. Es stank. Und zwar ausgesprochen heftig, nach ungewaschenen Körpern, Tabak und Feuer, ein schwerer Geruch, fast wie verbranntes Masut; das Ganze ließ an einen Eisenbahnhof denken.
Mit zur Decke gerichteter MPi stand ich kurz da. Aus einem Etagenbett aus rohem, dreckgeschwärztem Holz drang ein gleichmäßiges, monotones Schnarchen herüber.
Wie ähnlich sich doch Waffen sind, in allen Welten.
Ich zog den Abzug durch, und ein Feuerstreifen schlug hoch zur Decke. Es war eine Waffe mit Munitionskugeln, nur dass die Kugeln loderten, als sie sich in die Decke bohrten. Sie flammten auf wie der Sternenhimmel, der so prächtig über dem Schatten leuchtete.
»Aufstehen!«, schrie ich.
Die Gefangenen purzelten wie Erbsen aus ihren Betten. Ich ließ meinen Blick über die verängstigten Gesichter schweifen, über diese einfachen, dummen Gesichter, wie es sie zuhauf auch auf Mütterchen Erde gab.
Warum war das Mütterchen eigentlich für uns die Erde und für die Geometer die Sonne?
Jene Grenze, die mit Worten nicht zu beschreiben war …
»Danilow!«, schrie ich. »Saschka!«
Die Gefangenen wichen vor mir zurück und drängten sich in einer Ecke der Baracke zusammen.
»Saschka!«, wiederholte ich, wobei ich eine zweite Salve in die Decke feuerte. Knisternd rieselten Funken herab.
»Pjotr?«
Ich ging durch die Baracke, die MPi im Anschlag. Bei einer Pritsche setzte ich mich auf den Rand. Wenigstens hatte sich Danilow das untere Bett sichern können. Alle Achtung.
»Hallo, Pjotr«, sagte er.
Danilow lag auf einer groben Felldecke. Er trug einen grau-blauen Overall und derbe Schuhe.
»Stehen Sie auf, Oberst!«, sagte ich. »Die Hilfe ist eingetroffen!«
Danilow sah mir in die Augen.
»Und wo sind deine Züge mit dem Kerosin, mein Junge?«
»Im Arsch. Steh auf! Es gibt keine Züge, Sascha. Ich habe nicht die Absicht, dich freizukaufen.«
»Das ist ungerecht, Pjotr.«
»Natürlich.« Ich hatte nicht vor, mich mit ihm zu streiten. »Es gibt keine Gerechtigkeit und wird sie auch nie geben. Ich nehme dich von hier mit. Und wenn ich dafür hundert Wachtposten umlegen muss, werde ich das tun. Glaubst du mir das?«
»Ja. Wir sind Gefangene unseres Schicksals, Pjotr. Verstehst du das denn nicht?«
»Nein, das verstehe ich nicht. Und deine Träume sind mir scheißegal.«
»Pjotr … jeder muss seine Rechnungen begleichen …«
Sprach da wirklich Saschka Danilow? Der Liebling aller? Der Herzensbrecher und vorbildliche Familienmensch? Dem alle jungen Piloten nacheiferten? Der Held der Krimkrise?
»Jeder trägt Schulden ab. Stehen Sie auf, Oberst! Die Heimat braucht Sie.«
»Ich kenne meinen Preis, Pjotr. Dreißig Waggons mit Kerosin.«
»Masut.«
»Kerosin, Petja … Die Jagdflugzeuge brauchen Kerosin …«
Ich zog Danilow am Kragen ein Stück hoch und schüttelte ihn. »Komm zu dir, Soldat!«
Wie kann ich dich brechen, Saschka Danilow, Oberst des FSB und unübertroffener Fuhrmann? Wie kann ich dich aus diesem Albtraum herausziehen, aus dieser Welt, in der du ein Verbrecher bist und ein Held und ein Henker und ein Opfer? Wie kann ich dich brechen – um deiner selbst willen? Um der Erde willen?
»Uns hat niemand Gerechtigkeit versprochen, Sascha …«
»Eben!«
Entspannt und völlig unerschüttert lag er auf seiner Pritsche. Bestand auf dem Recht, seinen Albtraum zu leben. Bestand auf seiner persönlichen und verdienten Zwangsarbeit.
»Saschka …«
Ohnmacht und Panik ließen mich fast in Tränen ausbrechen. War doch alles umsonst gewesen? Ich konnte mich aufbrauchen. Mich in den einen Wunsch verwandeln, Oberst Alexander Danilow zu finden, obwohl ich mit ihm weder verwandt noch verschwägert war. Alles war möglich. Nur dass für ihn diese Welt eben die einzig richtige und die einzig reale war. Die Welt, in der er unverdrossen für den dumpfen Seufzer der Vakuumbombe bezahlte, die die Hetman Masepa in Asche verwandelt hatte, jenes Symbol der militärischen Ambitionen der Ukraine, aber auch für die Menschen, in deren Adern das gleiche Blut fließt wie in unseren, die aber niemals durch ein Tor gehen werden …
Ja, Saschka, du bist ein Kriegsverbrecher. Das lässt sich nicht schönreden. Ich wäre es auch geworden, wenn ich etwas früher geboren worden wäre. Dann würde auch ich mich jetzt vor Scham und Verzweiflung winden, ohne zu wissen, wie ich meine Heimat lieben kann, die zwar immer noch bereit ist, für mich zu zahlen, mich aber nicht mehr beschützen will …
»Saschka …«
Was konnte ich ihm sagen? Er hätte mein Vater sein können, und nie im Leben würde ich sein Freund werden. Er war ein Verräter und ein Verbündeter in einer Person. Ein Kämpfer und ein Verbrecher, ein Ritter des Ruhmesordens und jemand, der am Ende doch nicht vor dem Londoner Tribunal gestanden hat, wo die Amis Russen und Ukrainer mit solch heiliger Freude in den Tod geschickt haben …
Alexander, du verhinderter Sieger, wie soll ich dir erklären, was ich verstanden habe? Wie soll ich dir klarmachen, dass die Welt aus Kälte und Schwefel, aus Feuer und Peitsche besteht, aber dass man sie trotzdem lieben muss, als wäre sie aus Salb- und Rosenöl? Wie soll ich dir begreiflich machen, dass wir sowohl den Preis als auch die Belohnung von jetzt an für immer in uns tragen, dass es nicht nötig ist, die alten Spiele wieder und wieder zu spielen? Er ist nicht Kay, ich bin nicht Gerda, die ins Reich der Schneekönigin gekommen ist …
»Sascha, wir haben uns alle wiedergefunden. Alle.«
Er nickte schweigend.
»Mein Großvater hat einen neuen Körper bekommen. Kannst du dir das vorstellen?«
Leichte Verwunderung funkelte in seinen Augen auf.
»Noch dazu einen jungen Körper. Er sieht jetzt jünger aus als du. Seine Gegner können einem leidtun … Mein Großvater hat immer gesagt, er würde seinen Sieg nicht mehr erleben. Jetzt hat er genug Zeit für alle Siege der Welt.«
»Und Maschka?«
»Sie klebt an ihm«, teilte ich ihm fröhlich mit. »Aber das war ja zu erwarten. Ich glaube, das hält nicht lange, aber im Moment würdest du sie nicht wiedererkennen.«
»Mich auch nicht.«
»Nein, du bist immer noch der Alte. Allerdings solltest du dich jetzt nicht weiter hier, rumlümmeln. Steh auf! Das Tor ist nicht weit, aber wir haben nicht mehr viel Zeit.«
»Wozu?«
»Um einen Samen für die Tore zu kriegen. Und ihn zur Erde zu bringen. Die Starken Rassen sind kurz davor, die Liquidation unseres Planeten anzuordnen …«
»Die Starken …«
»Nun steh schon auf! Steh auf, Soldat!« Diesmal verlangte ich es nicht im Befehlston, sondern bat ihn. »Saschka! Komm schon! Willst du etwa, dass ich hier alle umniete, bevor du dich endlich vom Fleck rührst? Und das mache ich, darauf kannst du Gift nehmen! Auf den Wachtürmen stehen nur diejenigen, denen das Spaß macht!«
»Und auf den Pritschen liegen nur diejenigen …«
»Entscheide dich, Saschka! Du musst selbst von hier fortgehen wollen. Mit Gewalt kann ich dich nicht zwingen …«
Er schwieg.
»Mach schon! Denk an die Erde! An deine Frau, deine Kinder, dein Schiff! Was liegt dir sonst noch am Herzen?«
Keine Ahnung, auf welches Wort er ansprang. Kaum auf »Frau«. Vielleicht auf »Kinder«. Oder auf »Schiff«.
Danilow stemmte sich ächzend hoch und setzte sich auf die Pritsche. Er schielte zu seinen Mitgefangenen hinüber, blickte dann aber weg.
»Müssen wir weit gehen?«
»Da kannst du hinkriechen!«
»Ich habe keinen Symbionten, Pjotr! Ich könnte unterwegs erfrieren.«
»Dann werden wir einen Wachtposten finden und ihn bitten, seine Kleidung mit dir zu teilen.«
»Wie jung du bist, Pjotr«, bemerkte Danilow seufzend. »Wie jung …«
In seiner Stimme lag ein Anflug von Neid. Trotzdem stand er auf.
Sie warteten auf uns.
Alle, bis auf Krej.
Ein Lagerfeuer brannte, mein Großvater saß da und schürte das Feuer mit einem bereits schmurgelnden Zweig. Mascha schmiegte sich halb liegend, halb sitzend an ihn. Zu ihren Füßen hatte sich der Zähler ausgestreckt. Kelos ragte etwas abseits wie eine steinerne Statue auf.
Was für ein friedliches, idyllisches Bild …
Unser Auftauchen bildete einen scharfen Kontrast dazu. Ich schleifte Danilow, der von einem Bein aufs andere sprang und fluchte, was das Zeug hielt, mehr oder weniger hinter mir her. Sein zerfetzter, schneebedeckter Overall war blutverschmiert.
»Das kann nicht wahr sein«, sagte Kelos. Er kam uns entgegen und blieb am Rand des Tors stehen.
Mein Großvater und Mascha rannten zu uns ins Tor hinein. Sie hakten Danilow unter und schleppten ihn zum Lagerfeuer. Für mich hatte mein Großvater nur einen einzigen Blick übrig, einen dankbaren, aber knappen Blick, als hätte er keine Sekunde daran gezweifelt, dass ich zurückkehren und Danilow mitbringen würde.
»Wer war das?«, fragte Mascha. Sie stützte Danilow mit der Geschicklichkeit einer erfahrenen Krankenschwester.
Danilow runzelte die Stirn, schwieg aber.
»Es hat keinen Kampf gegeben«, antwortete ich. »Das kommt von den Felsen. Vom Eis. Sascha ist abgestürzt … wir können von Glück sagen, dass es nicht tödlich ausgegangen ist.«
»Warum zum Teufel hast du mich ausgerechnet zu diesem Tor geschleppt?«, zischte Danilow. »Ich bin schließlich kein Bergsteiger! Außerdem hätten wir einfach in ein Auto steigen können …«
Ich sparte mir die Antwort. Natürlich hätten wir genau das tun müssen. Wir hätten uns den Jeep der Wachen schnappen und über den unberührten Schnee zum nächsten Tor jagen sollen. Aber ich war das idiotische Gefühl nicht losgeworden, wir sollten den Weg zurück nehmen, den ich gekommen war.
Kelos drängelte Mascha beiseite und setzte sich neben Danilow. Der Oberst grummelte etwas, verstummte dann aber und starrte den Fremden an. Kelos tastete rasch sein Bein ab.
»Das ist nicht schlimm. Du hast dir nichts gebrochen.«
»Das weiß ich …« Danilow schob Kelos’ Hand weg. »Vielen Dank.«
»Großpapa«, flüsterte ich, »bist du dir sicher gewesen, dass ich Saschka finden würde?«
»Ja.«
»Aber wieso?«
»Du bist daran gewöhnt, eine Sache zu Ende zu bringen.«
»Das ist keine Antwort.«
»Na schön.« Mein Großvater seufzte. »Du kennst keine Niederlagen, weißt du. In deinem Leben hat es keine normalen, keine richtigen Niederlagen gegeben. Wenn du etwas wolltest, hast du es auch bekommen. Mit kindlicher Naivität und mit der Gewissheit, dass du die Welt vollständig durchschaut hast. Du kannst dich davon überzeugen, dass die Entscheidung, die du einmal getroffen hast, die einzig richtige ist und sich ohne Zweifel in die Tat umsetzen lässt. Das ist alles. Sicherlich wird sich das irgendwann auf sehr schmerzhafte Weise rächen, Pit. Aber noch reicht dein Selbstvertrauen, noch vertraust du stark genug auf deine Entscheidungen, dass du durch das Tor gehen kannst. Besser als wir alle und als die meisten Einheimischen hier.«
Ich weiß nicht, ob er wirklich dieser Meinung war oder ob er nur versuchte, eine Erklärung für mein Glück zu finden. Auf alle Fälle klang es viel zu einfach, wie aus einem alten Film, wo die Helden durch Wände gehen konnten, sofern sie nur fest genug daran glaubten.
»Es liegt nicht an mir, Großpapa. Nicht nur an mir. Wenn Danilow nicht gewollt hätte, dass ich ihn mitnehme … wenn ihr nicht auf uns gewartet hättet …«
»Ja, das stimmt. Du hangelst dich an einem unsichtbaren Faden entlang, der zwischen uns gespannt ist. Vielleicht hat dein Freund recht … wir sind hier zu einsam, um einander wirklich verloren zu gehen. Wir haben Angst. Wir haben einfach Angst.«
»Aber jetzt …«
Mein Großvater zuckte mit den Schultern. Mascha verband Danilow das Bein. Dieser sagte kein Wort, sondern hörte Kelos zu, der stets mit allen eine gemeinsame Sprache fand.
»Großvater …«, sagte ich, denn ich spürte, dass etwas nicht stimmte. »Was ist denn los?«
»Wir sind jetzt alle zusammen«, antwortete mein Großvater.
»Und?«
»Das sage ich auch: Und! Wo bleiben nun Tore? Tu dich auf, Erde, erscheine, Tellerchen mit dem blauen Rändchen! Gebt uns die Tür in unsere Welt! Erbarmt euch der Waisen und Tumben!«
Mein Großvater drehte sich mir zu und legte mir die Hände auf die Schultern. »Du bist ein guter Junge, Petja«, sagte er leise und nachdrücklich. »Ich bin stolz auf dich. Ich liebe dich. Du bist in der Lage, für einen Freund durch Feuer und Wasser zu gehen, oder Saschka, der dich doch verraten hat, hierher zu bringen. Wo hast du ihn eigentlich aufgetrieben? Lass mich raten. In einem Konzentrationslager? Ja, wir alle sind Helden vom Scheitel bis zur Sohle. Die Retter der Menschheit. Gebt uns, gebt uns diese Tore!«
Alle schwiegen. Alle hörten meinem Großvater zu.
»Nur, dass unser Problem ganz woanders liegt!« Er hatte seine Stimme erhoben. »Eigentlich wollen wir nämlich diese Tore überhaupt nicht! Krej hat die Wahrheit gesagt: Wir haben Angst davor, zu einem Teil des Schattens zu werden. Und das heißt, wir werden hier hocken, bis wir schwarz sind, bis wir endlich glauben … bis wir aus tiefstem Herzen davon überzeugt sind, dass es nichts Richtigeres und Natürlicheres auf der Welt gibt!«
Kelos erhob sich schweigend und entfernte sich vom Lagerfeuer.
»Darauf werden wir lange warten müssen, Petja … sehr lange, wie ich fürchte. Und nichts kann uns da helfen. Uns nicht – und auch der Erde nicht.«
»Erklärt mir jetzt endlich, worum es eigentlich geht!«, blaffte Danilow.
Mein Großvater und Kelos konnten über die Handelsliga sagen, was sie wollten.
Aber in einer Sache hatte Krej recht. Ihre Tunnel konnten – mussten – einen Ausweg aufzeigen.
Man darf einem Menschen nicht diese Freiheit anbieten, wie die Tore sie verstanden. Man darf die Entscheidungen nicht dem Unterbewusstsein überlassen, dieser Handvoll Müll am Schädelgrund. Wir haben gelernt, vor sehr langer Zeit schon gelernt, uns nicht so zu verhalten, wie wir es gern möchten, sondern so, wie es nötig ist, und genau darin unsere wahre Freiheit gefunden. Selbst das einmütige Sklaventum der Geometer bietet der echten Freiheit mehr Schlupflöcher als die Welt des Schattens, in der absolut alles erlaubt ist. Denn sich so zu verhalten, wie man möchte, ist die wahre Sklaverei.
Man macht sich damit zum Sklaven seiner selbst.
Wie sehr ich den Schatten – seine eigentliche Grundlage ebenso wie die aus dem Nichts geschaffenen Tore – auch ablehnen mochte, momentan war ich bereit, alles für einen Feuersamen zu geben. Mit dem ich zugleich Schutz, Unsterblichkeit und eine Chance erwerben würde … und zwar nicht für mich. Schließlich hatte ich das alles ja schon bekommen, einfach indem ich durch ein Tor gegangen war.
Das ganze Problem bestand jedoch darin, dass der Schatten uns nicht wollte. Wir hatten ihn nicht verdient, denn wir hatten ihn nicht erfleht. Vielleicht … wenn noch jemand anders unter uns gewesen wäre, jemand, der dieser Gratisgabe wenigstens etwas mehr Begeisterung entgegengebracht hätte, stärker an die außerirdischen Wohltaten geglaubt hätte … Vielleicht hätte er dann diesen Feuersamen erhalten. Aber wir wollten ihn nicht. Und deshalb würden wir ihn auch nicht bekommen.
Niemand war ins Haus gegangen. Wir saßen immer noch vorm Lagerfeuer. Danilow war zwar einmal zum Haus gehumpelt, dann aber gewaschen und umgezogen zu uns zurückgekommen. Ich beteiligte mich nicht am Gespräch, sondern lauschte schweigend den endlosen Erklärungen, mit denen mein Großvater und Mascha Danilow überhäuften. Kelos hüllte sich ebenfalls in Schweigen. Eine Weile lief er herum, dann setzte er sich neben mich. »Du bist trotz allem ein tüchtiger Kerl«, sagte er leise. »Durch ein Tor zu gehen und zurückzukommen … Tüchtig.«
In seiner Stimme schwang kein Neid mit. Wahrscheinlich hatte er schon vor Jahrhunderten verlernt, neidisch zu sein.
»Genützt hat es aber nichts«, entgegnete ich.
»Stimmt. Das wiederum habe ich erwartet.«
»Kehr zurück, Kelos! Vielen Dank für alles. Du hast getan, was du tun konntest.«
Er zuckte vage mit den Schultern. »Wollt ihr mich loswerden?«
»Wieso geht du ein solches Risiko ein? Du bist immer noch am Leben. Und du bist nicht durch ein Tor gegangen. Noch gibt es für dich die Chance, nach Hause zurückzukehren.«
»Habt ihr diese Chance?«
»Nein.«
Kelos nickte. Er hob die Hand. Auf dem Handteller erglomm ein Licht, ein winziges Fenster, das sich in der Luft öffnete.
»Ist das eine Waffe?«, fragte ich mit gedämpfter Stimme.
»Nein. Das gehört zum Informationssystem der Handelsliga. Es ist sehr einfach zu handhaben … ihm liegen die Systeme der Kristallenen Allianz zugrunde. Sieh mal …«
In dem winzigen, formbaren Bildschirm bewegten sich die fünf hochgewachsenen, kantigen dunkelhäutigen Schatten. Ein Feuerpunkt glühte in den Händen desjenigen, der voranging. Die riesigen Facettenaugen spiegelten dieses Licht wider.
»Sie kehren zu ihrem Schiff zurück«, sagte Kelos. »In ein, zwei Tagen … ich weiß nicht, wie schnell das Schiff ist … wird ihr Planet ein Teil vom Schatten.«
Wir sahen einander an.
»Der Samen der Tore ist nicht an einen bestimmten Planeten gebunden«, ergänzte Kelos leise. »Es ist bloß ein Samen. Der in jede Erde gesteckt werden kann.«
Ich schüttelte den Kopf.
Kelos ballte die Hand zur Faust, worauf der in der Luft hängende Bildschirm erlosch und sich in eine lodernde kleine Kugel verwandelte. Die fast wie ein Samen aussah.
»Überleg es dir«, sagte er müde.
»Sie werden beobachtet.«
»Das bezweifle ich. So weit geht die Liebe der Liga für den Schatten nicht.«
»Wo … wo sind sie?«
»Ich könnte es herausfinden.«
»Kelos … warum tust du das?«
»Ich bin ein Mensch.«
»Mir musst du das nicht beweisen. Wirklich nicht, das kannst du mir glauben!«
»Sich selbst muss man das aber sein Leben lang beweisen, mein Junge.«
Er öffnete die Faust wieder, und etwas, das wie ein trockenes, flammendes Blatt aussah, glitt in die Dunkelheit und löste sich dort auf.
»Ihr braucht das dringender. Früher einmal galt für die Kristallene Allianz das Versprechen, niemandem Hilfe zu verweigern. Niemandem. Wenn unsere Hilfe oft auch grausam und blutig war … wenn die Allianz auch nicht mehr besteht … Aber ich lebe noch.«
»Auf Danilow verzichten wir besser«, sagte ich leise. »Er darf nicht mitkommen … unter keinen Umständen darf er in einen Kampf ziehen. Meinen Großvater möchte ich nicht dabeihaben. Bleiben du, ich und Mascha.«
»Sie ist ein sehr ernsthaftes Mädchen.« Kelos nickte. »Wir drei, das sollte vollauf genügen.«
»Was ist mit Waffen?«
»Meine trage ich immer bei mir. Und du bist ein Metamorph.«
Hältst du dein Versprechen, Cualcua?
Ja.
»Wie kommen wir hin?«
»Ich könnte uns eine Maschine organisieren. Das Transportnetz der Liga …«
»Klar. Es ist dem der Allianz nachgebildet. Also dann – los!«
Ich stand auf und ging zu Mascha. Mit einem Blick bedeutete ich ihr, sich mit mir ein Stück abzusondern. Mein Großvater beobachtete uns verstohlen, sagte jedoch kein Wort. Wahrscheinlich hatte er Angst, jede Frage seinerseits könne bizarre Eifersüchteleien auslösen.
»Was gibt’s denn, Pjotr?«, wollte Mascha wissen, sobald wir uns rund zehn Meter von den anderen entfernt hatten.
»Wir haben einen Plan …« Ich geriet ins Stocken.
»Haben dich diese fünf Blödmänner mit dem Samen inspiriert?«
Die kluge Mascha. Mein Großvater wusste ganz genau, wen er unter seine Fittiche nahm.
»Ja. Bist du einverstanden?«
»Andrej Valentinowitsch bleibt aber hier.«
»Natürlich.«
»Was ist mit Danilow?«
»Lieber nicht.«
Wir verstanden uns ohne viele Worte. Die Zeit raste uns davon, bei uns beiden fing das Herz schon vorab an zu hämmern.
»Also wir zwei?«
»Und Kelos.«
»Können wir ihm vertrauen?«
»Ja. Ihm schon, aber sonst niemandem. Er sorgt für eine Maschine und kennt die Route.«
»Ich könnte das auch übernehmen«, gab Mascha zu bedenken. »Danach müssen wir von hier weg, Pjotr. Unverzüglich. Wir müssen Andrej Valentinowitsch und Saschka holen und dann nichts wie weg … Aber nicht durch ein Tor. Besser, wir nehmen einen Tunnel zu einer anderen Station der Liga. Dort schnappen wir uns ein Schiff, fliegen zum Irrstern … und dann nach Hause.«
»Kelos müssen wir unterwegs noch in seiner Welt absetzen.«
»Gut. Wir nehmen den Tunnel, durch den wir auch hergekommen sind.« Mascha nickte. »Ich bin gleich wieder da.«
Sie eilte davon, hinein in die Dunkelheit.
»Wohin willst du denn?«
»Ich hole die MPi, du Dussel. Ist dir etwa nicht aufgefallen, dass diese Fünf bewaffnet waren?«
»Nein.«
»Ich hab’s aber gesehen.«
Ich blieb allein zurück, und sofort durchrieselte mich ein kalter Schauder. Mein Gott, worauf ließen wir uns hier ein? Der verrückte Kelos, der sich über Jahrhunderte daran gewöhnt hatte, Probleme mit Gewalt zu lösen … Mascha mit ihrer pathologischen Kampfeslust … und ich. Immerhin konnte ich für mich keine sonderliche Waffenliebe geltend machen.
Wir befanden uns in einer Welt des Schattens. In seiner allerersten Welt. In der sich obendrein zwei Gruppen trafen: diejenigen, welche die Tore erschaffen hatten und inzwischen auf eine andere, völlig unvorstellbare Entwicklungsstufe aufgestiegen waren, und die Vertreter der Handelsliga, die uns näher waren, dafür jedoch eine fürchterliche Macht repräsentierten. Man würde uns auslöschen, noch bevor wir unser Ziel erreicht hatten. Oder bei dem Versuch, den Samen zu klauen. Vielleicht würde man uns auch die Wiedergeburt verweigern … oder uns in irgendeinem Nest auferstehen lassen … Vorwärts zur Verwirklichung der Gesetze des Karma!
»Pjotr …« Kelos war lautlos an mich herangetreten. »Wo ist Mascha?«
»Hier.« Sie tauchte fast genauso lautlos auf. Ihre Hand hielt die Maschinenpistole fest gepackt.
»Verstehe.« Kelos sah sie billigend an. »Mir nach.«
Das ist dumm!, schrie es in mir auf. Trotzdem folgte ich Kelos. Er und Mascha berieten sich mit raschen Worten.
»Pjotr! Mascha!«
Mein Großvater. Er spürte, dass etwas im Busch war.
»Schneller!«, verlangte Kelos. In der Dunkelheit zeichnete sich die Silhouette eines Flyers ab, genauso einer wie der, mit dem wir zur Station der Liga gekommen waren. »Steigt ein!«
Ich tauchte in die verdichtete Dunkelheit ein, schwebte in dem elastischen Raum. Mascha stieg ein, zuckte zunächst irritiert zusammen und versuchte dann, eine bequeme Position zu finden. In einer solchen Maschine war sie noch nie geflogen.
»Wir haben es nicht weit«, sagte Kelos, der zwischen uns Platz nahm. »Ich denke, wir sind wieder da, noch bevor eure Freunde sich überhaupt Sorgen machen können.«
Sobald wir in dem transparenten Flyer saßen, wurde es um uns herum rapide heller. Was für eine kunstvolle Bildbearbeitung. Tief im Dunkel machte ich die blendende Blume des Lagerfeuers und die an ihm erstarrten Schatten von Danilow und meinem Großvater aus, die hilflos in die Nacht spähten.
»Jetzt nur nicht den Schwanz einziehen«, brummelte Mascha. Die MPi hielt sie zwischen die Knie gepresst, gerade strich sie sich rasch übers Haar. Etwas Unpassenderes hatte ich noch nie gesehen. »Fliegt dieses Aquarium schnell?«
»Keine Sorge, Fischlein, das tut es«, antwortete Kelos grinsend.
Der Flyer stieg in die Luft. Im Nu an Höhe gewinnend, drehte er nach Westen ab. Ja … bei uns war schon tiefe Nacht … Aber dort, wo sich die fünf schwarzhäutigen Aliens aufhielten, war es noch hell … von wegen: nicht weit …
»Sag mal, Kelos, die mit dem Samen … die sind doch schon durchs Tor gegangen, oder? Werden sie wiederbelebt – wenn sie sterben?«
»Ich weiß es nicht.«
»Eine gute Antwort«, bemerkte Mascha. »Also, mein Spielzeug tötet nicht. Überlasst alles mir.«
»Ich fürchte, ihre Spielzeuge sind etwas tödlicher«, entgegnete Kelos. »Wir werden uns der Situation anpassen.«
»Ob wir sie vielleicht einfach bitten sollen, uns den Samen zu geben?«, fragte Mascha. Doch ohne die Antwort abzuwarten, seufzte sie: »Schon gut.«
Der Flyer bewegte sich durch die Nacht. Die blauen Schatten, die durch die Risse in der Wolkendecke leuchtende Sternenfülle, die Lichter am Boden – diese Welt war im Grunde recht dicht besiedelt, sie gab ihre Ödnis nur vor.
»Wenn du wegen dieser Geschichte Ärger kriegst … komm einfach zur Erde«, sagte Mascha ernst. »Wir vergessen nicht, wer etwas Gutes für uns getan hat.«
Sie sprach in einem derart selbstsicheren Ton, als bekleide sie mindestens das Amt des amerikanischen Präsidenten.
Kelos hüllte sich in Schweigen.
»Außerdem sind die am Ende selbst schuld«, fuhr Mascha fort. »Ich meine, die Liga. Bei ihren Möglichkeiten wäre es doch eine Kleinigkeit für sie gewesen, der Erde zu helfen. Sie haben uns ja direkt zu diesem Schritt gezwungen!«
»Jede Welt betritt den Schatten auf ihre eigene Weise …«, bemerkte Kelos leise. »Die eine durch Liebdienerei und inständiges Bitten. Die andere durch Arbeit und Plackerei. Wieder eine andere … durch Raub oder Diebstahl. Insofern müssen wir uns keine Gedanken machen.«
Mascha erwiderte kein Wort. Und falls sie etwas sagen wollte, um ihre Nerven zu beruhigen, unterdrückte sie diesen Wunsch.
»Wir landen in ihrer Nähe«, erklärte Kelos. »Wir müssen rasch handeln, ohne zu zögern. Pjotr, bist du bereit?«
»Ja.«
Danach sagte niemand mehr ein Wort. Der Flyer flog dahin, die bläuliche Finsternis löste sich auf, wich einer normalen Dämmerung. Die schwarzen Felsen erstreckten sich unter uns.
»Genau wie in meiner Jugend«, sagte Kelos. Er stand auf – und eine Welle wogte förmlich über seinen Körper hinweg. Seine Haut leuchtete stahlgrau auf, seine Augen schienen zu versteinern, die Handflächen wurden breiter, wie bei einer aufblasbaren Gummipuppe.
»Bist du ein Roboter?«, schrie Mascha.
»Ein Cyborg«, antwortete Kelos kalt. »Ein Cyborg, der versucht, ein Mensch zu sein.«
Der Flyer ruckte und ging tiefer. Die Beschleunigung spürten wir nicht, das Kraftfeld absorbierte sie völlig. Nur die Felsen kamen rasant näher.
»Viel Glück«, sagte Mascha plötzlich. Sie streckte sich aus und wollte Kelos berühren. Aber die Kabine schmolz bereits, und etwas drückte uns nach oben.
Eine ausgesprochen interessante Methode der Landung …
Einen Moment lang meinte ich, ich könnte meinen Körper nicht mehr kontrollieren und würde mit dem Kopf gegen den Felsen prallen. Es wäre ein bemerkenswertes Ende für dieses Abenteuer gewesen.
Aber das Kraftfeld, das uns nach draußen geschleudert hatte, setzte seine Arbeit noch fort. Es wirbelte mich herum, bremste mich und stellte mich auf dem Felsen ab, ganz akkurat, mit dem Gesicht zu den fünf Fremden.
Es muss höchst beeindruckend ausgesehen haben …
Wir standen uns auf einem schmalen Gebirgspfad gegenüber. Auf der einen Seite ragte eine Steilwand auf, auf der anderen klaffte ein fast senkrechter Abgrund. Der Flyer versperrte den Pfad von hinten. Die fünf reglosen Aliens befanden sich dicht vor uns.
Nein, ihre Haut war nicht schwarz, sondern dunkelblau. Funkelnd, als sei sie lackiert. Die Facettenaugen, groß wie Untertassen, rührten sich nicht, sondern blickten starr vor Entsetzen. Ihre Extremitäten schienen ein Gelenk zu viel aufzuweisen.
Waren das überhaupt Menschen?
Ich war ihnen am nächsten. Von demjenigen, der mit dem Samen in der Hand voranschritt, trennte mich nur ein guter Meter. Die kleine Feuerkugel loderte wie ein vom Himmelsrand gefallener Stern. Was für ein kaltes, blendendes Feuer!
»Gib her!«, sagte ich und streckte die Hand aus. Natürlich war es dumm, auf einen Kompromiss zu hoffen. Trotzdem musste ich das sagen. »Gib her! Wir brauchen es dringender.«
Der schmale, zahnlose Mund öffnete sich. Wir sprachen jetzt dieselbe Sprache, dieses Geschenk verweigerte der Schatten niemandem.
»Nein.«
Ich nahm den Geruch wahr. Einen flüchtigen, säuerlichen Geruch. Mir war völlig unklar, wie diese beinahe chitinartige Haut überhaupt Schweiß absondern konnte. Aber es war der Geruch der Angst.
»Wir werden ihn uns so oder so holen«, verkündete ich. »Ihr bekommt einen neuen. Gib her!«
Die Aliens trugen keine Kleidung. Nur geschuppte Riemen, die aussahen, als seien sie aus Schlangenhaut gefertigt, umhüllten ihre Körper. Daran hingen unzählige Taschen, Behältnisse und Hüllen.
Die schmalen lilafarbenen Hände glitten über die Riemen …
»Runter!«, schrie Mascha.
Statt mich zu ducken, sprang ich vor, packte den Fremden mit dem Samen und zog ihn von den anderen weg. Die schmalen Hände erwiesen sich als überraschend kräftig. Da wir direkt an der Feuerlinie miteinander kämpften, traute sich niemand, einen Schuss abzugeben.
»Das ist unser!«, brüllte der Fremde. »Unser. Ist. Das. Das. Ist. Unser …«
Es war leichter, ihn zu Boden zu werfen, als ihm den Samen zu entwenden. Sobald wir beide hinfielen, brach über unseren Köpfen der Feuersturm los. Flammenblitze zuckten, Maschas MPi ratterte gleichmäßig. Wir rollten über den Felsen, immer näher an den Abhang heran. Unsere Gefährten klärten derweil die uralte Frage: Wer hat recht – und wer hat mehr Rechte?
Unser Kampf dauerte nicht lang. Wir stellten ihn fast gleichzeitig ein, beide von dem Wunsch beseelt, uns über den Stand der Dinge zu informieren.
Drei Blauhäutige lagen auf dem Felsen. Wahrscheinlich hatte Mascha sie erwischt, denn es waren keine Wunden zu sehen.
Kelos und der letzte Alien gingen noch immer aufeinander los. Vor Kelos flackerte die weiße funkelnde Wand eines Kraftschilds. Vor dem Alien ragte das gleiche Ding auf, allerdings in Gelb. Anscheinend hatten die beiden Kontrahenten den Schild des anderen nicht einschlagen können und umrundeten einander jetzt nur noch. Wer wohl wen zuerst abdrängte? Vom Pfad in den Abgrund …
Ich zweifelte nicht am Ausgang des Kampfes.
Schritt für Schritt bewegte sich der Alien auf den Abgrund zu. In Kelos’ Miene zeigten sich keine Gefühle mehr, sie war zu einer erbarmungslosen Metallmaske geworden. Ein Schritt. Noch einer.
Der Fremde schwankte am Rand des Abgrunds. Er begriff genauso gut wie ich, dass er dem Tod geweiht war. Und genau wie ein Mensch wollte er sich auf gar keinen Fall ergeben.
Der gelbe Schild schrumpfte zu einem Punkt zusammen und zog sich zurück. Ein wuchtiger Schlag von Kelos fegte den Alien vom Pfad.
Doch den Bruchteil einer Sekunde vor diesem Angriff durchbohrte der flammende gelbe Punkt den weißen Schild und grub sich in Kelos hinein.
Ich schrie auf, als ich sah, wie unser einziger Verbündeter Feuer fing. Die Flamme züngelte hoch, verbrannte ihn von innen, der blauhäutige Alien war bereits in die Tiefe verschwunden, lautlos auf dem Felsen aufgeschlagen, aber das Feuer wollte immer noch nicht erlöschen.
»Kelos!« Mascha schleuderte die MPi weg und stürzte zu ihm. Kelos wich zurück, als fürchte er, sie zu versengen. Er fiel auf die Knie.
Hat dich das Feuer also doch erwischt, den Cyborg, der ein Mensch zu sein versuchte, den Menschen, der als Soldat geboren wurde … Das Schicksal holt jeden ein, sosehr man sich auch vor ihm versteckt. Und es begleicht alle angehäuften Schulden …
Ich betrachtete den am Boden liegenden Alien. In den Facettenaugen, in denen sich kein Gefühl widerspiegelte und auch nicht widerspiegeln konnte, stand Verzweiflung. Ich schmetterte seinen Kopf auf die Steine, einmal, zweimal, bis seine Augen trüb wurden.
Erst dann gestattete ich mir, zu Kelos zu eilen.
Die Flamme war erloschen. Kelos lag reglos da, nur seine rechte Hand zitterte in Krämpfen. Sein Körper schien im Innern explodiert und von zahllosen Wunden zerfetzt zu sein. Aus einigen floss Blut. Bei einigen schimmerte aufgerissenes Metall durch.
»Kelos …«, flüsterte ich. »Kelos, mein Freund …«
Noch lebte er. Und er sah mich an. Nicht um mich anzuklagen, nicht um Mitleid zu erheischen – sondern um sich zu verabschieden.
»Wohin man auch geht …«, hauchte Kelos.
»Hör zu!«
»Ja …«
Ich griff nach seiner Hand – die unsagbar schwer war. Wie viel er wohl wog? Wie viel war an ihm Fleisch, wie viel Eisen?
»Du bist ein Mensch …«
»Ich … war …«
»Du bist ein Mensch, Kelos.«
»Ich spüre nicht mal Schmerzen, – Pjotr. Ich habe … sie ausgeschaltet. Was bin ich schon für ein Mensch …«
»Kelos! Hör mir zu, du Idiot!«
Das Leben kroch mit jedem Tropfen Blut aus ihm heraus. Mit jedem Stück Eisen, das seinen Geist aufgab. Was hatte er sich da nur in den Kopf gesetzt, dieser Schwachkopf? Wer von uns ist denn ein Mensch? Derjenige, der von Geburt an im selben Körper steckt? Oder derjenige, der versucht, ein Mensch zu sein?
»Kelos, sie warten auf dich. Hast du das vergessen? Wenn du nicht nach Hause zurückkehrst … wird deine Frau dir folgen.«
»Sie ist dazu bereit …«
»Entscheide nicht für andere! Entscheide niemals für andere!«
»Mich hält nichts mehr, Pjotr.«
Seine Worte klangen immer leiser und leiser. Er ging fort, und ich wusste nicht, was ich sagen sollte, wie ich ihm das vermitteln sollte, woran ich glaubte, was seine Rettung bedeutete, den einzigen und unveränderlichen, den ewigen Anker in all unseren Welten …
»Sie warten auf dich, Kelos. Deine Frau wartet auf dich. Wenn du durchhältst, hält sie auch durch.«
»Aber wozu?«
»Wage es ja nicht!«, schrie ich. »Hör mir zu! Ich weiß nicht, was dir teuer ist und was nicht, aber merk dir eins: Die Tore sind ein Faden – und solange jemand diesen Faden festhält, solange jemand auf dich wartet …«
Er lächelte, und in dem zerfetzten Gesicht nahm sich das Lächeln absurd aus.
»Sie warten auf dich, Kelos. Glaub mir!«
»Entscheide nicht für andere … niemals …«
Ich stand auf.
Sah Mascha an.
»Ich konnte nichts mehr machen«, flüsterte sie. »Pjotr, ich habe geschossen … aber dieser Mistkerl hatte einen Kraftschild.«
Mistkerl?
Das nun wirklich nicht. Sie haben ihre Welt verteidigt. Jenes Stückchen Glück, das sie für sie erobert hatten. Wir sind stärker gewesen als sie. Wir haben gewonnen. Der Himmel ist daraufhin nicht zerrissen, die Erde hat sich nicht unter uns aufgetan. Der geschenkte Samen ist kein Zauberamulett, das man nicht stehlen kann. Man kann es, ohne Weiteres.
Jeder betritt den Schatten auf seine eigene Weise.
Ich näherte mich dem reglosen blauhäutigen Wesen. Ich bog die geballte Faust auf und schälte aus den gekrümmten Fingern den Klumpen kalten Feuers.
Der Körper des Aliens erzitterte. In die riesigen Augen kehrte der Verstand zurück.
»Er lebt noch!«, schrie Mascha. »Erschlag ihn, Pjotr!«
Der Blauhäutige rührte sich nicht. Er lag nur da und wimmerte leise. Wahrscheinlich klang so ihr Weinen. Nur die dünnen Finger knisterten, die sich immer fester um den Samen pressten.
»Als ob euch irgendeine Gefahr droht!«, schrie ich. »Wofür braucht ihr den überhaupt?«
Das Wesen stöhnte und schmiegte sich dicht gegen den Felsen. Das Licht des Samens, von seiner Hand verborgen, war kaum noch zu sehen. *
»Erschlag ihn!«, verlangte Mascha noch einmal.
»Könntest du das?«, zischte ich. Darauf schwieg sie.
»Brauchen …«, flüsterte das Wesen mit einem Mal. »Brauchen ihn … Dringend. Brauchen. Dringend …«
Es ging nicht auf die Übersetzung zurück, dass das Wesen in abgerissenen Sätzen sprach, denn wir verstanden uns jetzt problemlos. Es lag am Aufbau seiner Gedanken … an der Natur dieser Wesen … sie trennte einfach zu viel von uns …
»Schlecht … Sehr. Sehr. Schlecht. Schlecht. Tod. Kommt. Tod. Kommt.«
Entweder konnte ich ihre Gefühle nicht verstehen oder sie ließen sich mit diesem scheibenartigen Mund nicht ausdrücken, so dass dem Alien nur Worte blieben, sinnlose und klägliche Worte, mit denen er mich nie überzeugen würde, genau wie ich Kelos nicht hatte überzeugen können, der für immer fortgegangen war, dieser Cyborg, der aufgehört hatte, Mensch zu spielen – wie auch jetzt die Welt der Blauhäutigen aufhören würde zu existieren. Ja, ich glaubte ihm, dass es schlimm um seine Welt stand, vielleicht sogar noch schlimmer als um unsere, aber in dieser Situation konnte ich mich nicht um ihre Probleme kümmern – denn ich musste die Erde retten.
Und wer immer nach mir kam, sollte mich segnen oder verfluchen, um Vergebung für mich bitten oder herzlich über die untergegangene Rasse lachen … Wovon es wohl abhängen würde, ob man mir vergab oder mich auslachte? Wenn man nur dorthin blicken könnte, in jene Welt, die sonnig und klar sein wird! Wenn man nur den Ausdruck ihrer Gesichter sehen könnte!
Was sollte ich jetzt tun?
»Gib ihn mir«, sagte ich. »Gib ihn mir. Wir brauchen ihn. Brauchen. Ihn.«
Die Faust öffnete sich. Ich nahm die winzige Kugel an mich. Nein, sie war nicht kalt, sondern warm … lauwarm.
Aber immerhin nicht kalt.
Dieser Klumpen weichen Feuers. Dieser Same für die Tore.
Hinter mir seufzte Mascha. Sie streckte die Hand aus – und zog sie wieder zurück. »Sollen sie doch alle verflucht sein …«, flüsterte sie. »Komm, Pjotr, lass uns gehen …«
Ich rührte mich nicht. Mascha ging zu Kelos, beugte sich über ihn und hievte den Körper hoch. Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete ich, wie sie ihn zum Flyer schleifte.
Wie hast du es ausgedrückt, Kelos? Jeder betritt den Schatten auf seine eigene Weise? Mancher durch inständiges Bitten, mancher durch Arbeit und mancher durch Diebstahl. Und ich brauchte mir deswegen keine Sorgen zu machen.
Ich hatte dorthin geblickt, wohin man nicht zu blicken vermag, in die allerfernste Ferne. Unsere Nachfahren würden lächeln.
»Soll doch alles verflucht sein«, stimmte ich Mascha zu.
Ich hielt dem Blauhäutigen den Samen hin.
Die Facettenaugen funkelten, gerieten in Bewegung, spiegelten das Licht des Samens wider.
»Gibst du ihn mir? Zurück?«
»Ja. Zurück«, sagte ich.
Und ich ließ den Samen auf die offene Hand fallen, worauf die Finger sich gierig um ihn schlössen, blitzschnell das verbergend, was wir beide brauchten.
Nur dass das Licht daraufhin nicht verschwand. Auf meinem Handteller leuchtete eine zweite Feuererbse, die förmlich an meiner Haut festklebte.
Der Blauhäutige öffnete hektisch die Hand, als wolle er sich überzeugen, nicht Opfer eines Taschenspielertricks geworden zu sein.
»Einer? Und noch einer? Zwei? Samen?«
»Zwei«, bestätigte ich.
Kurz beschlich mich die Angst erneut. Ich hatte keinen winselnden, verletzten und angeschlagenen Feind vor mir, sondern einen Gegner. Jetzt spürte auch ich die Wärme in meiner Hand. Schon nicht mehr die fremde, sondern die eigene.
Und ich wusste, dass ich diese Wärme nicht hergeben wollte. Sie niemandem überlassen wollte.
Ohne aufzustehen, rückte ich im Entengang von dem Blauhäutigen ab. Der stemmte sich ein wenig hoch und angelte mit der freien Hand etwas aus einem seiner Gürtel. Teufel auch!
Aber er schoss nicht.
Ich kroch zum Flyer. Ich richtete mich ein wenig auf, mich dabei am Rand der Kabine festhaltend. Wir erstarrten beide, wie zwei verschreckte Tiere, die sich jeweils ein Stück der Beute geschnappt hatten, aber wahnsinnige Angst davor hatten, der Gegner könnte alles für sich beanspruchen. Von wegen – intelligente Vertreter großer Zivilisationen! Zwei Schakale, die sich um die Reste einer Antilope schlugen, solange der Löwe schlief …
Falls die hiesigen Götter nicht schliefen, hatten sie bei unserem Anblick inzwischen dermaßen viel gelacht, dass sie dessen müde waren.
Mit einem Satz sprang ich in die Kabine und tauchte in die rettende Weichheit des Dunkels ein. Durch die transparente Schiffshülle beobachtete ich, wie der Blauhäutige im Schutz der Felsen den Pfad hinaufsprang.
»Hast du ihm den Samen etwa zurückgegeben?«, schrie Mascha. Als ich meine Faust öffnete, verstummte sie. Nach einer Weile fügte sie etwas kleinlaut hinzu: »Aber ich habe doch gesehen, dass …«
»Wir haben einen eigenen bekommen, Mascha. Einen für uns.«
Sie sah Kelos an, den toten Körper, der zwischen uns lag.
»Dann ist er also vergebens …?«
»Es geschieht nie etwas vergebens.«
Natürlich hätten wir den Samen in jedem Fall erhalten, selbst wenn Kelos nicht bei uns gewesen wäre. Davon war ich fest überzeugt.
Nur hätten wir ihn dann auf eine andere Weise erhalten. Nämlich genau so, wie wir es geplant hatten, indem wir ihn anderen, die den Schatten genauso dringend brauchten wie wir, stahlen.
»Verdammt!« Mascha brach unvermittelt in Gelächter aus und lehnte sich gegen eine unsichtbare Stütze. »Das vergesse ich immer wieder … hier stirbt ja niemand für immer …«
Den Blick fest auf den toten Körper gerichtet, konnte sie nicht aufhören zu lachen. »Ich hoffe, er ist schon zu Hause und wäscht sich nach den Taten in der Schlacht …«
Ich ließ sie reden, schließlich musste Mascha ihre Anspannung abbauen. Sollte sie es ruhig auf diese Weise tun. Den Toten würde es nicht stören. Wenn Kelos wirklich als Mensch wiedergeboren worden war, würde es ihn nicht stören. Und wenn sich sein Verstand zur nächsten Stufe aufgeschwungen hatte … was kümmerte ihn dann das hysterische Gelächter einer Frau, die gleich in Tränen ausbrechen könnte?
»Ich hoffe auch, dass er zu Hause ist«, sagte ich mit hölzerner Stimme. »Gut, es reicht, Mascha.«
Sie verstummte gehorsam.
»Ja, entschuldige. Das war hässlich von mir. Fliegen wir zurück, Pjotr. Uns bleibt nicht viel Zeit.«
»Kannst du mit diesem Ding umgehen?«
»Ein bisschen. Man hat es mir erklärt.«
»Dann flieg ganz ruhig, ohne jede Hast. Wir sind schließlich nicht auf der Flucht.«
Mascha runzelte die Stirn.
Ich hob die Hand und öffnete sie kurz. Der purpurrote Stern verströmte sein kaltes Licht.
»Wir haben ihn nicht gestohlen. Wir haben einen eigenen Samen bekommen, und niemand wird es wagen, ihn uns wegzunehmen. Schließlich sind solche Idioten wie Kelos und ich … eine seltene Erscheinung, sogar aufs gesamte Universum gerechnet.«
»Lass ihn mich mal sehen …«
Ich zog meine Hand weg. Mascha sah mich verständnislos an.
»Nein. Lieber nicht. Besser, du spürst das nicht.«
»Was nicht?«
»Diese Gier.« Ich lächelte. »Stinknormale Gier. Ihretwegen … ihretwegen weißt du, wie wichtig das Ganze ist. Wenn du den Samen in die Hand nimmst, hörst du auf, dich zu fragen, ob in ihm etwas Gutes oder etwas Böses steckt. Du willst ihn verbergen … verstecken … in die Erde graben. In deine Erde. Damit er dort keimt.«
Maschas Schultern zitterten, als liefe ein Kälteschauder über ihren Körper, der vergeblich versuchte, aus ihr auszubrechen.
»Ich … also … ich muss ja auch fliegen …«, sagte sie mit veränderter Stimme.
Es tagte.
Die Nacht hatte alles in sich geborgen, was man sich nur vorstellen konnte: die Expedition, um Danilow zu holen, eine Schlägerei um den Samen, den Tod von Kelos.
Jetzt endete ihre Zeit. Nun galt es zurückzukehren. Richtig.
Nach Hause.
Dort unten warteten drei Menschen und ein Reptiloid, und ganz kurz flammte in mir die wahnsinnige Hoffnung auf, Kelos sei als Mensch wiedergeboren worden und zu uns zurückgekommen …
Es war Krej.
Ich stieg aus dem Flyer. Mascha hielt sich mit der MPi im Anschlag einen Schritt hinter mir. Meine Wache … Mit einem Mal fühlte ich mich alt, sehr alt, älter als mein Großvater, älter als Kelos und Krej, älter als die Ur-Erde.
»Habt ihr ihn euch also geholt«, sagte Krej. »Habt ihr es am Ende also doch getan.«
Wie schön, dass auch sie sich ab und an irren.
Ich öffnete meine Hand und hielt ihm den Samen hin. Er würde ihn nicht berühren, das wusste ich.
Schweigend betrachtete Krej den kleinen Feuerball. Der Samen veränderte ständig seine Farbe, leuchtete mal orange-gelb, mal purpurn, mal rauchig blutrot.
»Auf diese Weise also?«, fragte Krej.
»Ja«, erwiderte ich.
Er sah meinen Großvater an. »Soweit ich es verstanden habe, kehrst du nun zu deinem Planeten zurück, Andrej.«
»Ja«, antwortete mein Großvater mürrisch. Ich würde noch etwas von ihm zu hören kriegen, dass er mit Krej reden musste, ohne über die vollständige Information zu verfügen.
»Dann werden wir später noch Zeit haben, unseren Disput zu beenden.«
Danach kam Mascha an die Reihe. Krej schenkte ihr einen Blick voller Wärme. »Du gehst?«, fragte er.
»Natürlich.«
»Ich hatte den Eindruck, unsere Welt gefalle dir ganz gut. Habe ich mich da also doch geirrt?«
»Nein. Aber …«
»Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen, das ist wirklich nicht nötig. Du kannst ja mit der Technik der Liga umgehen. Man wird euch ein Schiff zur Verfügung stellen.«
Mascha senkte schweigend den Kopf. »Krej, in dem Flyer liegt der Körper von Kelos.«
Krejs Gesicht erzitterte.
»Hat er das Spiel am Ende also doch verloren … Keine Sorgen, wir beerdigen ihn.«
»Er hat uns geholfen, in den Schatten einzutreten.«
»Einem Menschen in seinem Alter bekommt es nicht gut zu sterben.«
»Aber manchmal ist es ganz nützlich, um ein Mensch zu bleiben!«, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen.
»Wer weiß?« Krej zuckte mit den Achseln. »Auf alle Fälle hat er so gehandelt, wie er es für richtig hielt. Er ist ein letztes Mal als Wohltäter aufgetreten … noch dazu für einen ganzen Planeten.«
Vielleicht hatte Krej ja guten Grund, das zu sagen. Ich wusste von Kelos schließlich nicht all das, was er, Krej, wusste. Ihr Streit zog sich bereits Jahrhunderte hin. Außerdem versuchte Krej eine Alternative zum Schatten zu finden, statt sich in dieser allzu idyllischen Welt zu verkriechen.
Und dennoch musste ich bei seinen Worten lächeln. Unverwandt sah ich ihm in die Augen. Er war es dann, der den Blick senkte, als er mein Lächeln bemerkte. Ganz langsam schloss ich die Finger um den Samen. Erst dann fragte ich: »Ist das denn nicht genug, Krej?«
Alles wiederholt sich. Wir gingen durch den Tunnel der Liga, an dem Faden entlang, der zwischen der Raumstation und der Ur-Erde gespannt war. Wir waren zu fünft. Ich ging vornweg, mit dem Samen in der Hand, mir folgten, gleich einer Eskorte, mein Großvater, Danilow und Mascha; Karel bildete den Abschluss unserer Prozession.
Sah man von Kleinigkeiten wie der äußeren Erscheinung ab, entsprachen wir hundertprozentig dem Zug der blauhäutigen Aliens.
Ab und an kamen uns Menschen entgegen, manchmal auch Wesen, die mit den Menschen nur den Verstand gemein hatten. Ab und an lächelte uns jemand einen Gruß zu, die meisten gingen jedoch an uns vorbei, ohne auf uns zu achten.
Eine neue Welt würde in den Schatten eintreten – das war eine Lappalie. Diesem Schicksal entging ohnehin niemand.
»Fliegen wir mit dem Schiff der Liga zur Erde?«, fragte Mascha.
»Nein«, antwortete ich kopfschüttelnd. »Auf uns wartet das Schiff auf dem Irrstern.«
Mein Großvater brummte etwas, als missfalle ihm meine Entscheidung ganz gewaltig. »Wozu denn das, Pjotr?«, fragte er widerwillig. »Soweit ich es verstehe, würden wir damit auch nicht schneller ans Ziel gelangen.«
»Man soll die Pferde nicht mitten im Rennen wechseln«, versuchte ich zu scherzen.
»Irgendwie kommt es mir komisch vor, dass du einen Samen für die Tore bekommen hast«, meinte mein Großvater, der mich nun eingeholt hatte und mir die Hand auf die Schulter legte. »Wo du ihn doch gar nicht wolltest.«
»Ich habe mir halt Mühe gegeben.«
»Ich kenne dich, Pjotr! Du kannst nicht gegen deine Überzeugung handeln. Du kannst dich nicht zwingen, an die Notwendigkeit des Schattens zu glauben!«
»Vielleicht ja doch?«
»Das irritiert mich ja gerade so …« Mein Großvater seufzte. »Ich hätte nie im Leben vermutet, dass ich in einem jungen Hirn weniger Gedanken haben würde. Pjotr, ich spüre … dass etwas nicht stimmt. Aber ich kann meinen Eindruck nicht in Worte fassen.«
Wir blieben stehen.
»Aber Pjotr hat es so sehr gewollt, Andrej Valentinowitsch«, mischte sich Mascha vermittelnd ein. »Er hat gewollt, dass Sie stolz auf ihn sind …«
Oho. Wann würde sie wohl endlich lernen, ihn nicht mehr zu siezen? Wenn sie meinen Onkel auf die Welt brachte?
»Maschenka«, mein Großvater bedachte sie mit einem Blick wie früher, eine Mischung aus Mitleid und Zärtlichkeit. »Glaub ja nicht, ich sei eifersüchtig auf meinen Enkel, auf meinen Schüler, wegen seines Siegs. Nein, wirklich nicht, das musst du mir glauben.«
Inzwischen hatten wir das Ende des Tunnels fast erreicht, waren am breitesten Teil angelangt, wo sich über uns und an den Wänden die Hütten, Häuser und Zelte zusammendrängten. Ein kleiner Junge, der mit dem Kopf nach unten an der »Decke« saß, sah uns neugierig nach. Er hob einen Stock auf, wollte schon damit nach uns werfen, fing dann aber meinen Blick auf und stürzte ins Haus.
Ob das ein richtiger Junge war? Oder ein Phantom? Mit der Vermehrung stand es bei ihnen ja nicht so gut … bei ihren unsterblichen Kindern.
»Gib mir den Samen mal, Petja«, sagte mein Großvater.
Ich fuhr zusammen.
»Pit …«
»Das ist … meiner …«
Die Worte kamen mir von selbst über die Lippen. Mein Großvater wechselte einen Blick mit Mascha. Danilow nickte, als hätte er dergleichen erwartet.
»Du willst diesen Samen nicht … vorübergehend … deinem Großvater überlassen? Deinem Ausbilder? Pit?«
Meine Hand zitterte, als ob in meinem Innern gerade etwas explodierte, kollidierte, als ob zwei unabänderliche Normen aufeinandertrafen, von denen die eine unweigerlich kapitulieren musste.
»Vor-vor-vor …«
Ich fing an zu stottern, als ich meinem Großvater die offene Hand entgegenstreckte. Die kräftigen Finger nahmen den Samen an sich, drehten ihn …
»Komisch, ich spüre gar nichts, Petja«, teilte mir mein Großvater gutmütig mit. »Absolut nichts. Natürlich, ich bin neugierig, in gewisser Weise sogar begeistert … ach, verflixt und zugenäht, mit dem Ding haben sie sich wirklich was einfallen lassen … Aber mehr auch nicht!«
Ich erwiderte nichts. Mit den Augen verschlang ich den Samen. Er war meiner, man hatte ihn mir geschenkt, und ihn aus der Hand zu geben … Wie hieß es doch in dem alten Märchen von dem Zauberring? Mein Schatz …
»Warum hat der Schatten dir nachgegeben?«, fragte mein Großvater. »Warum hat er dir nachgegeben und dich gleichzeitig unterworfen? Warum rührt sich bei mir … und ich liebe die Erde nicht weniger als du, Pit … Warum rührt sich also bei mir nichts?«
»Ich weiß es nicht …«
Ich begann zu zittern. Wenn mein Großvater bloß nichts Falsches mit dem Samen anstellte! Nichts Undenkbares! Er könnte ihn zerquetschen, löschen, zerbrechen … selbst wenn er fester als Stahl und heißer als ein Stern war … aber mein Großvater verstand nicht, wie wichtig der Samen war!
Weit hinten, in einem Winkel meines Bewusstseins, wusste ich, dass etwas Seltsames mit mir geschah. Aber es fehlte mir die Kraft, weiter darüber nachzudenken.
»Nimm ihn, Pit. Ich will nicht, dass du mich so ansiehst.«
Das ungute Gefühl legte sich wieder, sobald der Samen in meine Hände fiel. Ich atmete tief durch und spürte, wie Schamesröte mein Gesicht überzog.
»Also, was bedeutet das? Kannst du mir das nicht erklären, Pit?«
»Doch … ich glaube, ich kann es erklären«, sagte ich zu meiner eigenen Überraschung.
Die Worte bildeten sich nicht neu, sondern schwammen aus meinem Gedächtnis heraus, wo sie sehr gut begraben gewesen waren:
»Doch dein Schatten
an der Wand
belauert jeden Augenblick
jeden Moment meiner Tage
und mein Schatten
macht das Gleiche
und bespitzelt deine Freiheit.«
Mein Großvater nickte. Er verzog das Gesicht, als sei er geschlagen worden. »Was für ein Regressor er doch gewesen ist, Petja«, flüsterte er. »Der beste Regressor der Geometer. Was für Idioten … dass sie ihn nicht zu schätzen wussten …«
In seinen Augen spielte der Schmerz sein Spiel. Und dieser Schmerz traf mich mit voller Wucht … denn es gibt keinen größeren Schmerz als den des Ausbilders … Dabei wollte ich doch um jeden Preis, dass er mich verstand. Dass er mich verstand und lobte und sich nicht länger grämte. Deshalb sagte ich:
»Doch so wie die Stunden einander nachschleichen
ohne je gemeinsam zu schlagen
verfolgen sich unsere Schatten
wie zwei Hunde aus demselben Wurf
losgelassen von derselben Kette
eingeschworene Feinde der Liebe beide
einzig und allein treu ihrem Herrn
ihrer Herrin
zwei Hunde
die geduldig
wenn auch zitternd in ihrer Qual
auf die Trennung der Liebenden warten.«
»So bist du also durch die Tore gekommen, Pit.« Das Gesicht meines Großvaters zitterte in Qual. »Aber natürlich … mit dieser Pflicht … mit dieser Kraft … was hast du denn?«
Cualcua!
Abermals zerriss mir eine Drahtbürste die Haut, bearbeitete Schmirgelpapier sie, glättete eine Feile sie unbarmherzig von der Innenseite.
Du hast doch den Befehl erteilt!, erwiderte mein Symbiont gekränkt. Du wolltest das Äußere von Nik Rimer.
Wirklich? Wollte ich das? Aber warum eigentlich nicht?
»Schließlich kehren wir in dem Schiff der Geometer zurück«, erklärte ich. »Warum soll ich da nicht schon vorher in die Haut von Nik schlüpfen?«
»Ja … natürlich.« Mein Großvater schloss kurz die Augen. »Du hast recht … Pjotr.«
»Und jetzt sollten wir besser schnell ins Schiff!«, bat ich. Warum machten sie bloß so traurige Gesichter? Warum wirkten meine sehr-guten-Freunde Mascha und Danilow, die so treue Freunde waren, dass sie einen Fehler mit Gewalt korrigieren würden, denn nur so gekränkt? »Wir müssen so schnell wie möglich zum Schiff!«
Ich döste die ganze Strecke über. Mit halbem Auge beobachtete ich meine vor mir sitzenden sehr-guten-Freunde. Das Innere des Schiffs der Liga ließ mich völlig kalt, sowohl die Steuerungssysteme, die für Mascha eingestellt waren, wie auch die Fortbewegungsprinzipien. Alles in dieser Welt ist zu verstehen. Alles wiederholt sich. Die äußere Form hat keine Bedeutung. Ein Schiff muss fliegen – wie es das bewerkstelligt, ist absolut zweitrangig. Der Mensch muss für das allgemeine Glück kämpfen – was auch immer mit ihm passiert.
Das Schiff verstand sein Handwerk.
Und ich das meine.
Meine sehr-guten-Freunde unterhielten sich mit gedämpfter Stimme. Glaubten sie wirklich, ich würde sie nicht hören?
»Es ist ein Fehler, den Menschen nur als Körper wahrzunehmen«, sagte mein Großvater. Er war weise. Er verstand, worauf es ankam … »Aber ein noch größerer Fehler ist es, den Menschen nur als Gedächtnis zu sehen, als Summe seines Wissens, als Ansammlung von Informationsbytes. Wenn wir einen Schritt weitergehen und behaupten, die Persönlichkeit werde durch die Sprache geprägt, dann kommen wir der Wahrheit weitaus näher.«
»Babylon-7«, sagte Mascha.
»Das stimmt zwar, ist jedoch zu vage. Denn die Sprache – das ist die Gemeinschaft, nicht das Individuum. Dafür bedarf es einer weiteren Einzelheit … der letzten. Der Kreativität. Es ist etwas nötig, das ein Individuum geschaffen hat, das nur durch seinen Verstand entstehen konnte. Damit kommen wir wiederum der Seele sehr nahe … gefährlich nahe. Der arme Junge Nik Rimer … dieser Regressor und Dichter. Er hat es nicht einmal geschafft, richtig zu sterben.«
»Ich könnte zu Pjotr gehen und mich eine Weile mit ihm … unterhalten«, sagte Karel.
Ich schlug die Augen auf und starrte den Reptiloiden an. Sein Maul verzog sich zu einem hastigen Lächeln.
»… nur würde das nichts nützen«, beendete Karel den Satz.
Abermals versank ich in Halbschlaf. Allerdings flehte ich – nur in Gedanken – das Schiff an.
Schneller, flieg schneller. Ich muss den Samen abliefern. Mein Planet ist in Gefahr. Es ist meine Pflicht, ihn zu retten.
Ihn zu erhalten, für das Universum und für die Freundschaft.
Pjotr, das Konklave mobilisiert seine Kräfte. Ein großer Teil der Torpp hat die Photosphäre ihrer Sterne verlassen. Die Alari haben zwei Geschwader gebildet … eine Hauptflotte und eine Hilfsflotte. Die Hyxoiden und Daenlo machen ihre Flotten bereit.
Vielen Dank. Aber wir werden es schaffen.
Es ist nicht nötig, mich darüber aufzuklären, welche Flotte meine Heimat niederbrennen wird und welche … welche …
»Pjotr!«
Sie standen alle dicht neben mir. Das Licht in dem ovalen Cockpit trübte sich. Auf den Bildschirmen flammten Sterne auf.
Guter Gott! Wie nahe sie waren! Wollten sie mir etwa den Samen wegnehmen?
»Pjotr«, wiederholte mein Großvater. »Wir sind da. Wir sind in der Nähe des Schiffs der Geometer.«
Ungeschickt erhob ich mich aus meinem Sitz.
»Wir können unsere Reise auch in diesem Schiff fortsetzen«, warf Mascha ein. »Die Liga stellt ihre Schiffe allen zur Verfügung, die einen Samen für die Tore bei sich haben.«
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Wir sind also schon da?«
»Du hast geschlafen«, sagte mein Großvater leise. »Weißt du, du hattest ein Gesicht wie ein kleines Kind. Ich wollte dich nicht wecken …«
Der Zähler zu Füßen meines Großvater durchbohrte mich mit seinem Blick.
»Und ich habe auch Karel nicht erlaubt, dich zu wecken«, fügte mein Großvater noch hinzu. Er trat zur Seite, damit ich vorbeigehen konnte.
Langsam ging ich zur Schleuse.
»Pjotr!«
Ich drehte mich nicht um. Die erste Luke. Die zweite. Dieses fremde Schiff … ein wenig Angst hatte ich doch vor ihm. Ich musste hier raus … so schnell wie möglich …
Die Luke nach außen öffnete sich – und ich blickte in den Himmel.
Ein schwarzer – ein tiefschwarzer – Himmel. Die blassen Sterne standen am Himmel – zu zweit, zu dritt, in Gruppen zusammen, doch all das brachte ihnen nichts, die Schwärze blieb mächtiger als sie. Weitaus mächtiger.
Ich sprang auf die steinerne Erde des Irrsterns, drehte mich zurück und reichte Mascha die Hand. Das Schiff der Liga lag direkt auf dem Boden, eine kantige Nadel aus Spiegelglas. Das Sternenlicht tanzte in den Seitenflächen.
Die anderen kamen nach mir aus dem Schiff, diese so nahen und so fernen Freunde …
»Gehen wir!«, sagte ich. Meine Stimme zitterte, ich hatte nicht mit dieser Aufregung gerechnet, die jedoch fragte natürlich nicht, ob sie willkommen war.
Der Scout der Geometer stand fünfzig Meter von uns entfernt, einsam und verloren in der öden Ebene. Wie viele von ihnen hier wohl schon gewartet hatten … von diesen toten, verkümmerten Schiffen, zu denen ihre Piloten nie zurückgekehrt waren?
»Pjotr.« Mein Großvater streckte die Hand nach mir aus. Ich erschauderte und warf mich ihm entgegen, warf mich der Liebkosung des Ausbilders entgegen. »Wohin willst du fliegen?«
Ich schwieg.
»Wem bringst du diesen Samen, – Pjotr? Wer hat ihn an sich genommen? Wie soll ich dich jetzt nennen? Pjotr Chrumow? Oder Nik Rimer?«
Großpapa, bitte … das ist doch nicht nötig … quäl mich doch nicht so …
Woher soll ich wissen, wer gerade in mir steckt?
Was bedeuten schon Namen?
»Pjotr? Nik?«
»Die Heimat wartet auf mich«, antwortete ich. »Sie ruft mich.«
»Nik Rimer«, entschied mein Großvater mit müder, gebrochener Stimme. »Du bist tot, Nik Rimer. Vor langer Zeit gestorben. Deine Heimat hat dich abgeschrieben, hat hinter deinem Namen in der Liste der Kämpfer für die Freundschaft ein Häkchen gemacht. Du bist schon lange tot.«
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich … ich bin nicht tot. Pjotr und ich, wir sind eins. Ich habe den Samen genommen. Er … er gehört mir …«
»Von dir ist zu wenig übrig geblieben, Nik Rimer.« Der Blick meines Großvaters gab mich nicht frei. »Du kannst nicht wiederbelebt worden sein, nachdem du durch das Tor gegangen bist. Du bist schon lange tot!«
»Dann lebe ich halt an seiner Stelle.«
»Pjotr! Ich will jetzt mit dir reden! Hörst du? Du hast deine eigene Erde. Und die ist in Gefahr.«
»Die Heimat lässt niemanden im Stich«, entgegnete ich. Rückwärts ging ich auf den Scout zu. »Habt keine Angst!«
Die Frau namens Mascha sah meinen Ausbilder an, fragte ihn wortlos etwas.
»Nein«, sagte Andrej Chrumow. »Nein. Erstens wird niemand von uns mit ihm fertig. Er ist jetzt ein Regressor, dagegen können wir nichts machen …«
Pjotr Chrumow hat einen klugen Großvater.
»Und zweitens … erlaube ich das nicht. Es reicht. Ich habe ihn oft genug verraten.«
»Und wenn verraten retten heißt?«, fragte Danilow – mit der Stimme des unechten Kindes Dari, das nach der Grenze zwischen »richtig« und »fair« suchte.
»Dann darf man ihn nicht retten.«
In den Scout kam Leben, das Cockpit öffnete sich.
»Habt keine Angst!«, rief ich noch einmal. Der Samen in meiner Hand brannte. Der Regressor Nik Rimer kehrte am Ende doch noch aus der Welt des Schattens zurück. Er kehrte zurück – mit jener unerbetenen Beute, welche die Ausbilder so sehr fürchteten, dass sie Die Heimat ihretwegen an den Rand des Universums geschleift hatten.
Aber der Junge Nik Rimer war jetzt nicht mehr allein. Und nie wieder würde er allein sein.
Und er wollte auch nicht, dass andere in Einsamkeit leben mussten.
Der Regressor Nik Rimer nahm im Sitz Platz und versenkte die Hand in das kolloidale Terminal.
Ich begrüße dich an Bord, Kapitän.
Hallo, Bordpartner.
Auf den Bildschirmen sah ich die Freunde von Pjotr Chrumow. Sie standen in einiger Entfernung, neben einem fremden Schiff, völlig reglos, als hofften sie, ich würde gleich zurückkehren.
Was für eine alberne Hoffnung.
Tag und Han, die offiziell erlaubten Freunde von Nik Rimer, warteten ebenfalls, dass er zurückkehrte. Genauso wie sie alle auf ihren gemeinsamen Freund namens Inka warteten … ihren Freund, der für immer in einer Welt des Schattens geblieben war. Die Frau, die ihres schönen jungen Körpers überdrüssig war, wartete geduldig auf Kelos. Ihr fiktiver Sohn wartete auf seinen Vater, den eine ewige Flamme verbrannt hatte.
Wartet ruhig.
Uns allen ist Hoffnung geschenkt worden – die Hoffnung zu warten.
Soll ich den Start vorbereiten, Kapitän?
Ja, Bordpartner.
Die Starken Rassen warteten verängstigt auf den Feind, die Schwachen Rassen warteten voller Hoffnung auf ihre Freiheit. Die Zähler warteten darauf, die absolute Wahrheit zu erkennen, die Schiffe der Geometer warteten auf Kurzweil. Die Geometer warteten auf die echte, märchenhafte Freundschaft, der Schatten wartete auf neue Schmetterlinge, die in sein Licht flogen.
Wir alle warteten auf etwas. Unsere Erwartungen zehrten an uns, wir verfluchten sie, doch waren wir unfähig – absolut unfähig –, auf die betörende Droge zu verzichten. Die Sterne standen vor uns, die Sterne standen über uns, ein ganzer Himmel stand voll von Sternen, Milch und Honig flössen, die allumfassende Liebe siegte, der Große Ring … der auch der Ring der Macht war …
Pjotr Chrumow in mir lachte.
»Nach Hause, Schiff«, sagte ich. »Nach Hause. Mir geht es nicht gut. Ich werde verrückt.«
Soll ich dich heilen?
»Ich brauche Schlaf. Einfach nur Schlaf. Ich habe seit zwei Tagen nicht geschlafen …«
Wie gut das tat!
In diesen dunklen Abgrund zu fallen, begleitet von den leisen Geräuschen des Starts, abzutauchen ins Dunkel, dabei den Feuersamen fest umklammernd …
Aber warum wartete dort, jenseits der Finsternis, eigentlich jemand auf mich? Allen zum Trotz …
Ich wachte auf, ohne dass mich jemand weckte.
Riss mich aus einem Albtraum, in dem ich Nik Rimer gewesen war, der wiederbelebte Regressor der Geometer, der mich aus dem Jenseits eingeholt hatte. Im Traum hatte ich meinen Großvater und meine Freunde im Stich gelassen, im Traum war ich zu Der Heimat aufgebrochen, um sie zu retten – und nicht die Erde.
Als es mich im Sitz auf und ab schüttelte, schmiegte dieser sich in dem vergeblichen Versuch um mich, die Stöße abzufangen. Ich saß im Scout der Geometer.
Und das hieß, mein Traum war Wirklichkeit!
»Du Dreckskerl!«, schrie ich den gänzlich unschuldigen Rimer an. Den armen Nik, der seine Pflicht bis zum Schluss erfüllte, im Leben wie im Tod. »Wie konntest du!«
Der Scout fing an herumzuwirbeln wie ein Holzspan in einem Wasserstrudel. Auf den Bildschirmen ließ sich rein gar nichts erkennen, die zeigten mir nur ein einziges flammenschwarzes Karussell.
»Was passiert hier, Bordpartner?«
Wir werden angegriffen.
»Warum hast du mich nicht geweckt?«
Das ist eigentlich kein Angriff. Uns greifen die Schiffe Der Heimat an. Das zählt nicht als Angriff.
In meinem Schmerz und meiner Verzweiflung stöhnte ich sogar auf. Der ach so kluge Computer der Geometer hatte sich erneut seine Scheuklappen aufgesetzt.
»Warum werden wir angegriffen?«
Die Heimat glaubt, an Bord befinde sich ein Nicht-Freund. Ich teile ihr mit, dass das ein Irrtum ist. Wahrscheinlich ist bei sämtlichen angreifenden Schiffen das Kommunikationssystem gestört. Es besteht kein Grund zur Sorge. Das ist eigentlich kein Angriff.
Ob auch Nik Rimers Schiff so reagiert hätte, wenn es diese Art zärtlicher elterlicher Ohrfeigen gesetzt hätte? Oder hätte sich jener Partikel von Niks Seele, der über das Schiff zu mir gelangt war, diesem Wahnsinn widersetzen können?
»Vollständige Verschmelzung!«, schrie ich.
Daraufhin löste ich mich im Himmel auf.
Der Himmel loderte.
Unter mir bewegte sich Die Heimat, die liebe gute Heimat, mit den klaren korrekten Konturen der Kontinente, mit den aparten Netzen der Wolken, die Heimstatt des Guten und der Gerechtigkeit, der Freundschaft und des Glücks. Ich berührte sogar die Atmosphäre, ein wenig nur, ganz am Rand …
Über uns zogen, dicht an den Planeten geschmiegt, winzige Schiffe dahin, die nicht größer waren als ich. Schiffe Der Heimat. Feuer speiende Schiffe. Zwischen den Scouts machte ich die Schiffe unserer Freunde aus, einen Torus von den Wendigen Freunden und einen fünfzackigen Stern von den Kleinen Freunden.
Mit dem ganzen Eifer wahrer Freundschaft versuchten sie, mich zu töten.
Feuer frei zum Gegenangriff!
Ein Angriff auf die eigenen Schiffe ist unmöglich!
Wer wagt es da, mir zu widersprechen? Der kastrierte Verstand meines Schiffs? Wach auf, Freundchen, wie kommst du dazu, dich mit mir zu streiten?!
Gemäß den drei ersten Postulaten des Regressorentums … Gemäß dem Prinzip der Guten Absichten, dem Prinzip des Geringeren Übels und dem Prinzip der Umkehrbarkeit einer Wahrheit … greifen wir die Schiffe Der Heimat nicht an. Wir führen nur unter möglichst realistischen Bedingungen Übungsmanöver durch. Gegenangriff!
Entweder bildete ich es mir ein oder das Schiff ergab sich, noch bevor ich alle Argumente vorgetragen hatte. Und es ergab sich obendrein froh und freudigen Herzens.
Als Erstes geriet der »Kringel« der Wendigen Freunde unter Beschuss. Ich erinnere mich nicht einmal mehr, womit wir das Schiff erwischten, mit dem Laser-Entfernungsmesser oder dem Röntgen-Radar. Auf alle Fälle hatte es uns nichts entgegenzusetzen. Der Kringel verkohlte, von seinen viel beschäftigten Herren im Ofen vergessen. Er zerfiel in eine Wolke aus Asche.
Warum schämte ich mich überhaupt nicht?
Gemäß dem Prinzip der Moralischen Flexibilität?
Das erste Mal in meinem Leben wurde mir klar, dass die Begriffe »oben« und »unten« auch im Kosmos ihren Sinn haben. Und wie! Unten war dort, wo der Planet lag. Unter mir. Deshalb konnten die Schiffe Der Heimat ihre Laserwaffen auch nicht einsetzen, denn wenn sie nur einmal danebenschössen, gingen auf dem Planeten die Städte in Flammen auf, würden die Sanatorien beschädigt und die Internate zerstört. Oder – Gott bewahre – ein Ausbilder getötet …
Ich zerschlug die Angreifer, indem ich hemmungslos vor dem Planeten Deckung suchte, noch dazu mit einer irrsinnigen Freude, die Mascha – oder Kelos – zu schätzen gewusst hätte.
He, Nik, schämst du dich etwa? Hast du dich deswegen in die Tiefen meines Gedächtnis verkrochen? Wo bist du? Das ist etwas anderes, als maushafte Alari abzumurksen!
Anscheinend gab es für einen solchen Fall keine Instruktionen. Zu spät erkannten die Schiffe der Geometer den gestohlenen Scout, zu lange zögerten sie, konnten sie sich nicht entscheiden, wie sie vorgehen sollten.
Die Schiffe, die Patrouille geflogen waren, schössen in alle Richtungen auseinander. Offenbar wollten sie sich unter mich schieben …
Lande!
Die Landung ist versehentlich verboten worden. Ich versuche unablässig, die Erlaubnis einzuholen.
Was entspricht bei ihnen dem Prinzip der Umkehrbarkeit der Wahrheit?
Die Landung auf dem Gelände eines Kosmodroms ist verboten worden. Aber wir landen ja auf dem Planeten.
Wo?
Irgendwo.
Die Koordinaten?
Beim Internat Weißes Meer.
Wahrscheinlich hatten wir beide diese Entscheidung getroffen. Nik Rimer, für den das Internat allem zum Trotz der einzige Lichtblick in seinen Erinnerungen geblieben war. Und Pjotr Chrumow, der sich im Weißen Meer versteckt hatte …
Der Scout ging tiefer. Wir kamen unseren Verfolgern zuvor, notwendigerweise, da alle Schiffe hier vom gleichen Typ waren und wir einen winzigen Vorsprung hatten. Am Ende würden wir natürlich trotzdem nicht entkommen. Schließlich hatten wir nicht die Absicht, Kinder als Geiseln zu nehmen!
Wobei die besten Geiseln in dieser Welt sowieso Ausbilder waren. Die garantiert in beispielhafter Weise versuchen würden, die Kinder mit ihren Körpern zu schützen. Wo sie doch so gut und großherzig sind.
Schade, dass ich ihnen diese Freude nicht machen kann.
Bordpartner! Ich muss unbemerkt landen. Im Interesse Der Heimat.
Ich flog in einem Feuerwirbel, in einem Plasmakokon, durch die Atmosphäre. Noch immer griff mich niemand an. Aber bald – schon sehr bald – würde sich das ändern.
Zu Befehl!
Haben wir eine reale Chance?
Nein.
Hör mir zu, Bordpartner! Geh beim Internat etwas tiefer! Versuch, unsere Verfolger abzuhängen! Ich brauche zwei Sekunden … zwei Sekunden in einer Höhe von zehn … nein, besser von zwanzig Metern … bei einer Geschwindigkeit von maximal hundert Stundenkilometern …
In meiner Aufregung griff ich auf die irdischen Maße für Zeit und Entfernung zurück. Trotzdem verstand das Schiff mich.
Und mein Symbiont, der Cualcua, ebenfalls. Ich bekam seinen Protest mit, spürte seinen heftigen Dämpfer, sobald ihm aufgegangen war, was ich vorhatte. Was ist denn? Bist du etwa der Meinung, man kann nicht im Flug aussteigen?
Das geht nicht. Bei einer Verringerung der Geschwindigkeit wären wir angreifbar. Und tiefer dürfen wir über den Wohnhäusern nicht gehen.
Verzweiflung packte mich. Was sollte ich jetzt tun? Ich öffnete meine Hand und stierte auf den lodernden Samen. Ihm war das egal. Er würde unter Umständen sogar einen Fall aus der Stratosphäre verkraften.
Aber ich nicht. Und die Kräfte des Cualcua waren auch nicht unbegrenzt.
Was nun, Nik Rimer, der du aus der Tiefe meines Gedächtnisses, aus dem Jenseits heraus für deinen Planeten kämpfst? Was jetzt? Wie verhält sich ein Regressor in einer solchen Situation?
Und der Regressor Nik Rimer streckte sich aus seiner kalten und hoffnungslosen Ferne heraus nach mir aus.
Bordpartner, bereite alles für eine offensive Landung vor! Geh nach dem Plan zur Invasion auf einem Planeten der Nicht-Freunde vor!
Zu Befehl!
Häng die Verfolger ab!
Eine Geschwindigkeitssteigerung ist unmöglich. Die Schwelle der Stabilität der Atmosphäre darf nicht überschritten werden.
Mach es trotzdem! Es ist eine militärische Übung.
Es ist verboten.
Es ist die Pflicht gegenüber Der Heimat.
Es ist verboten.
Anscheinend fand das Schiff Gefallen daran, mit mir – oder mit Nik? – dieses einfache Spiel zu spielen. »Tu es!« – »Das ist verboten.« Mal sehen, wer als Erster aufgibt.
Wir müssen eine sehr dringende Untersuchung durchführen.
Es ist verboten.
Ich befehle es.
Es ist verboten.
Das ist ein Befehl des Weltrats.
Er ist nicht bestätigt.
Warm? Wärmer? Heiß?
Willst du selbst die zulässige Geschwindigkeit überschreiten?
Anscheinend kam das nicht von Nik, sondern von mir.
Jederzeit!
Dann tu es!
Zu Befehl!
Plasma wurde hinter der Triebwerkverkleidung ausgestoßen. Die Kugel des Planeten drehte sich und kehrte mir, als er näher kam, seine flache Seite zu. Und leise – so leise, wie damals, beim Eintreten in den Schatten – flüsterte mir das Schiff zu: Siehst du, wie einfach es ist?
In der Tat, es war einfach.
Wir schössen übers Meer. Schon nicht mehr sehr hoch, zwei, drei Kilometer vielleicht. Weißkämmige Wellen brandeten, denn das Meer wollte die geometrisch makellosen Kontinente nicht hinnehmen, wieder und wieder schickte es seine Truppen gen Ufer … Unsere Verfolger waren verschwunden, zurückgeblieben, hatten sich verirrt in ihren Instruktionen und Verboten, die es nicht zuließen, dass eine schlichte Frage siegte: Willst du es?
Wir hatten es gewollt.
Bereiten Sie sich zum Absprung vor, Kapitän.
Nik Rimer wusste, wie man sich vorbereitete. Ich nicht.
Ich vernahm ein leichtes Gelächter.
Die Aufforderung ist bedeutungsleer. Sie ist ein Tribut an die Tradition.
Und was tust du danach?
Ich manövriere. Kampfhandlungen ohne Piloten sind verboten.
Wirst du es schaffen zu entkommen?
Ein Flug ohne Piloten ist verboten.
So war das also. Eine knappe Grabinschrift, selbst gewählt. Ob ich Mitleid mit dem Schiff empfinden sollte?
Aber das würde mir nicht gelingen. Ein Verstand, der nicht an sich selbst glaubte, sondern sich mit dem Spiel der Allmacht zufriedengab, verdiente kein Mitleid.
Vielen Dank für die Offenheit. Es ist komisch, vom Produkt der eigenen Gedanken verachtet zu werden. Ich werde mir diese Frage durch den Kopf gehen lassen … Halte dich zum Absprung bereit, Kapitän.
Im Bruchteil einer Sekunde begriff ich, dass der Scout mit einem stinknormalen Schleudersitz ausgestattet war. Der Sitz stürzte in die sich öffnende Verkleidung und sackte nach unten. Es war völlig windstill. Um mich herum entstand eine elastische Mauer. Die Stabilisierung war perfekt, der Sitz fiel, ohne sich zu drehen. Unter mir erstreckte sich das Ufer, ragten die bekannten Kuppeln und der Turm des Internats auf. Über mir schmolz der Scout.
Gut. So weit ist alles klar. Aber wo war der Fallschirm?
Die Erde kam unerbittlich näher. Ich fing an herumzuzappeln und versuchte, mich aus dem Sitz zu befreien. Meine Hände begaben sich eigenständig auf die Suche nach Gurten, obwohl der Scout solche Dinger gar nicht besaß. Der Samen, den ich fest gepackt hielt, behinderte mich zwar, trotzdem war ich nicht imstande, ihn fallen zu lassen. Gurte … wo zum Teufel steckten die bloß? Meine Reflexe arbeiteten schneller als mein Verstand, denn ich wollte die Gurte lösen und aus dem Sitz springen, als sei ich aus einem Zerstörer katapultiert worden.
Was dachte ich mir hier eigentlich? Ohne Fallschirm …?
Ich garantiere nicht für die Wiederherstellung deines Körpers, zischte der Cualcua.
Die Schneefläche kam so schnell heran, als fiele ich mit zusätzlicher Beschleunigung. Vielleicht traf das sogar zu. Es wäre nicht schlecht, für einen Soldaten bei einer echten Invasion … Aber wie unterdrückten die Geometer die Fallenergie am Ende? Über die Triebwerke? Mit Fallschirmen? Flügeln? Mit moralischer Widerstandskraft?
Ganz von selbst fielen mir alle realen und irrealen Märchen ein, die bei uns Piloten in Umlauf waren. Ein Flieger, der auf einem verschneiten Abhang landete, ein Flieger, der auf einem gepflügten Feld landete, ein Flieger, der in einem Heuschober landete …
Die Heimat kam schnell heran. Ihre Gastfreundschaft versprach ein kurzes, aber intensives Vergnügen.
Meine Angst verflog. Schlagartig. Sie erzitterte und löste sich im endlosen Himmel auf.
Ich fiel bereits. Ja … ganz genau. An den Sitz gegurtet, hilflos … vor Kälte und Atemnot bewusstlos … fiel ich. Und die unberührte Schneefläche unter mir freute sich ebenso über unsere Begegnung wie Die Heimat der Geometer.
Ich hatte keine Angst.
Ich war schon mal gestorben.
Und ich wusste, wie innig mich meine heimatliche Erde liebte.
… Der Sitz blähte sich auf und schwoll zu einer elastischen Kugel an, die sich mir über den Kopf stülpte. Es gab zwar einen Aufprall, aber nur einen sanften, kaum zu spüren. Danach war das Licht sofort wieder da, die weiche Hülle verschwunden, geplatzt. Ich war mit dem Gesicht im Schnee gelandet. Durch die Luft wirbelten winzige Fetzen und rieselten zu Boden.
Was war das nun wieder gewesen? Ein ganz gewöhnlicher aufblasbarer Bremsballon für einen Fall aus einer Höhe von zwei Kilometern? Nein, mit Sicherheit nicht. Das konnte einfach nicht sein. Er hätte mir nicht mehr geholfen als der hydraulische Verschluss den Helden bei Jules Verne, die sich mit einer Kanone zum Mond schießen. Der Sitz musste es irgendwie geschafft haben, die gesamte Fallenergie zu schlucken … Irgendwelche Felder mussten am Werk gewesen sein. Ein Bremskokon.
Meine Ohren waren etwas verstopft. Ansonsten ging es mir bestens. Der leichte, sogar angenehme Frost, der klare Himmel … Ich erhob mich und schüttelte mir die Fetzen des hauchzarten, federleichten Stoffs vom Kopf. Ich sagte – und hörte mich selbst wie aus weiter Ferne: »Glück muss man haben.«
Bis zum Internat waren es noch zwei Kilometer. Ich fragte mich, ob man meinen Fall überhaupt hatte bemerken können.
Wahrscheinlich schon. Sofern ich nicht plötzlich im Fall unsichtbar geworden war – was ja durchaus hätte sein können, wenn es sich hier um die übliche Prozedur zur heimlichen Landung auf einem fremden Planeten handelte.
Die auf dem Schnee verstreuten Stofffetzen verschwanden nach und nach. Ich brauchte den Fallschirm also nicht zu verstecken.
Mich selbst aber schon. Natürlich könnte ich mich auch zu einer Transportkabine durchschlagen und versuchen, noch einmal einen Scout zu kapern …
Oder … ja was denn, zum Teufel? Sollte ich etwa ausholen und den Samen wegschmeißen? Oder sollte ich ihn doch besser behutsam in einem unvorstellbaren Feld der Wunder vergraben? Und mich anschließend stellen?
Der Samen in meiner Hand glühte. Rasch schirmte ich ihn ab.
»Eene, meene, meck – und du bist weg«, sagte ich leise. »Oder muss ich dich doch vergraben?«
Der Feuerklumpen des Schattens schwieg. Er war es nicht gewohnt zu antworten. Und Nik Rimer sagte ebenfalls kein einziges Wort.
»Hör mal, wir brauchen dich wirklich …«, sagte ich. »Das musst du verstehen … und du auch, Nik … schließlich seid ihr am Leben. Außerdem könnt ihr für euch selbst einstehen. Aber die Erde steht ohne jeden Schutz dar. Niemand verteidigt sie – außer mir.«
Sie schwiegen alle, denn die Götter lassen sich nun mal nicht zu einem Menschen herab, und für die Toten ist es sehr schwer, mit den Lebenden zu streiten.
Hoch am Himmel entstand ein Geräusch – und verschwand hinterm Horizont. Die Jagd auf mein Schiff war eröffnet.
»Nehmen wir das als Zeichen …«, sagte ich. »Fassen wir das als Einwilligung auf … Cualcua, kann ich bis Anbruch der Dunkelheit unterm Schnee liegen? Sorgst du für Wärme?«
Ja.
Kurz und knapp. Ich suchte den Schnee mit misstrauischen Blicken ab. Sämtliche Spuren waren bereits beseitigt, von den Einbuchtungen am Boden einmal abgesehen, die von dem Bremskokon, der mich gerettet hatte, herrührten. Ich kniete mich hin und fing an, mich im lockeren Schnee einzugraben. Tief unten, direkt auf dem Boden, streckte ich mich aus. Keine Ahnung, wie das auf andere wirkte – aber alles war besser, als aus einer unberührten Schneefläche aufzuragen.
Der Cualcua ließ mich nicht im Stich. Ich spürte die Kälte wirklich nicht. Nur mein Herz hämmerte, so dass ich wohl nicht einschlafen würde, und meine Haut brannte, denn mein Symbiont ließ mir kein Fell wachsen, was ich insgeheim befürchtet hatte, sondern beschleunigte einfach meinen Blutfluss. Außerdem schien er noch die Wärmeerzeugung gesteigert zu haben. Das war sie also, die perfekte Diät: Man brauchte bloß im Schnee zu liegen. Bis zum Abend würde ich drei Kilo des eigenen Fleischs verbrannt haben …
Nachdem ich mich also im Schnee eingegraben hatte, richtete ich mich aufs Warten ein.
Ab und an döste ich trotzdem ein, wobei mich verworrene, beunruhigende Träume heimsuchten. In ihnen zwang mich jemand, irgendwo hinzugehen, um irgendwas zu tun. Die Welt war verzerrt, abgeschlossen, sie erinnerte an eine Kette von kalten, niedrigen Höhlen. Ich lief durch sie hindurch, ohne den Ausgang zu finden, litt unter meiner Hilflosigkeit, während mir die Zeit, die mir ohnehin knapp zugemessen worden war, durch die Finger rann. Irgendwann wachte ich auf, rührte mich in meiner kleinen schmelzenden Schneehöhle, hob den Kopf, den ich auf meine Hände gebettet hatte, und betrachtete sie. Eine Hand pulsierte in purpurnem Licht, der Samen leuchtete durch die Haut. Ich spähte aus dem Schnee heraus und fühlte mich wie ein Strauß, der seinen Kopf tief im Sand vergraben hat.
Um mich herum war niemand. Das Internatsgebäude wirkte wie verlassen. Aber war das so undenkbar? Nachdem man den Tod des Ausbilders Fed entdeckt hatte, hätte man es durchaus evakuieren können. Und was für eine hübsche Überraschung das wäre, wenn ich gleich einer Aufklärungsgruppe aus hartgesottenen Regressoren in die Arme liefe …
Ich tauchte abermals im Schnee unter und versuchte einzuschlafen. Der Tag zog sich unerträglich in die Länge. Wahrscheinlich war der Scout schon abgeschossen worden. Ob die Geometer herausbekommen hatten, dass im Cockpit kein Pilot saß? Würden sie jetzt meine Flugbahn durchkämmen – schließlich wussten sie doch über die Invasionsmöglichkeiten Bescheid. Viele Fragen und keine Antworten. Ich redete mit mir selbst, rief Nik Rimer, der sich in meiner Seele versteckte, und stellte dem Cualcua sinnlose Fragen. Von mir selbst erfuhr ich nichts Neues, Rimer schwieg, und der Cualcua ließ sich nur zu einsilbigen Antworten herab, als quäle ihn ebenfalls etwas. Manchmal glaubte ich, alles, was passiert war – Mascha und Danilow, die sich als Mitarbeiter des FSB erwiesen hatten, der Schatten, der eine halbe Million Planeten in sich vereinigte, mein Großvater, der gestorben war und einen neuen jungen Körper erhalten hatte –, sei nur ein Traum. Ein Fiebertraum … denn eigentlich sei ich aus dem Lager der Geometer geflohen und würde jetzt im Schnee erfrieren. Vielleicht gab es auch keinen Pjotr Chrumow und hatte ihn auch nie gegeben, und ich war der verrückte Regressor Nik Rimer, der die Hand gegen seinen Ausbilder erhoben und daraufhin seine verdiente Strafe erhalten hatte …
Dann öffnete ich jedes Mal die Augen und schaute auf den Feuersamen. Er war real, realer als die vereiste Schneekruste um mich herum, realer als meine von der Blutstauung gerötete Handfläche, auf der er lag. Der Samen war das, worauf es ankam, während ich … nur ein wandelndes Zubehör war, das ihn in diese Welt gebracht hatte.
Irgendwann kam der Augenblick, da ich aus dem Schnee auftauchen konnte und sah, dass die blutrote Scheibe des Mütterchens hinter den Horizont kroch. Die Sonne war ebenfalls ein Samen, mächtig und leidenschaftslos, und auch sie vertrieb alle verwirrenden Nebel.
»Gib mich frei, Rimer …«, bat ich. »Gib mich frei, Schatten … gebt mich frei …«
Ich wollte weinen. Ich wusste nicht, ob ich das tun sollte, was Rimer wollte, und verstand nicht einmal, ob er das noch wollte. Schließlich musste es einen Grund haben, dass er verschwunden war. Wovon auch immer er geträumt haben mochte, welche Gedichte er in seiner Einsamkeit auch geschrieben haben mochte, er blieb das Fleisch vom Fleisch dieser Welt. Es war sein gutes Recht, ihr die Tore zu geben. Es war sein gutes Recht, sie mir zu geben. Nur Rimer konnte entscheiden, wessen Heimat in den Schatten eintrat.
Wenn das doch bloß alles bald vorbei wäre! Egal wie, Hauptsache vorbei. Vielleicht verfügte ich ebenso frei wie die Schiffe der Geometer. Vielleicht war ich eine Marionette wie der Junge namens Dari. Vielleicht war ich genauso glücklich wie Nik Rimer. Egal, wenn nur alles endete.
Ich stand auf. Mir war schlecht, der Kampf gegen die Kälte verlangte am Ende doch seinen Tribut. Es dämmerte bereits, und es fing an zu schneien … jetzt musste ich aufbrechen. Was auch immer mich erwartete.
Natürlich war es dumm, wieder den Weg durch die Kanalisation zu nehmen, aber ich kannte keinen anderen Eingang in diesen Kuppelbau. Sollten die Geometer allerdings dahintergekommen sein, wie der Fremde ins Internat eingedrungen war, dann wäre die Kanalisation jetzt entweder nicht mehr frei zugänglich oder mit Kameras gespickt. Auf dem Weg zur Glaskuppel machte ich noch einmal halt und dachte nach.
Es schneite immer heftiger. Es kam mir so vor, als wäre ich erst gestern hier gewesen …
Gestern? Nein! Es war ja schon vor einer Woche gewesen! Vor einer Ewigkeit! Mir war inzwischen alles egal.
Ich fand den bekannten Verschlag, der jetzt vollständig unter Schnee begraben war. Ich pflügte mich durch die Schneewehe, wobei ich jede Sekunde damit rechnete, dass ein Fangeisen zuschnappte oder mich ein Paralysator erwischte. Aber nein, nichts geschah. Da war die Tür, die Klinke. Ich zog sie auf und hörte das Rauschen des fließenden Wassers. Na gut, dann wollen wir die Geschichte mal als Farce wiederholen.
Aber gab es wirklich keinen anderen Weg? In das Gebäude führten drei Türen … die allerdings auf mich nicht reagieren würden. Vielleicht hätte ich sie in der Gestalt des Ausbilders Fed öffnen können, aber Fed war tot. Seine Fingerabdrücke waren garantiert längst aus dem Gedächtnis der Schlösser gelöscht worden.
Gut, komme, was da wolle.
Ich schlüpfte in den Verschlag, schloss die Tür hinter mir und sprang ins Wasser. Der Strom empfing mich, als sei er ein alter Freund von mir, voller Wärme und mit kameradschaftlichem Getätschel. Es spülte mich den engen Tunnel hinunter. Wer hätte das gedacht? Seid ihr wirklich so arglos, Geometer?
Ich wurde in den kleinen runden Raum mit dem Gitterboden ausgespuckt. Das Wasser brauste heulend über mich hinweg und rauschte weiter die Kanalisation entlang. Ich blieb liegen und sah mich um. Hier war niemand. Was irritierte mich dann?
In mir keimte ein ganz zarter Verdacht auf.
Nein, das war undenkbar! Unmöglich!
Aber hatten sie den Körper des Ausbilders Fed womöglich doch noch nicht gefunden?
Zählten sie ihn vielleicht immer noch nicht zu den Toten, mich aber nicht mehr zu den Lebenden?
Wer kontrolliert schon einen Ausbilder? Schließlich ist er ja über jeden Verdacht erhaben! Wenn der Ausbilder Fed beschlossen hatte, das Internat zu verlassen, dann war das eine zutiefst schmerzliche, jedoch absolut persönliche Entscheidung. Er würde zurückkommen und es erklären. Sicher, Katti hatte mich gesehen … noch dazu sowohl in der Gestalt Nik Rimers als auch in der Feds und meiner eigenen. Ob man ihr vielleicht einfach nicht geglaubt hatte? Oder sollte sie den Vorfall verschwiegen haben?
Kaum anzunehmen.
Auch die Jagd auf meinen Scout ließ sich durchaus erklären. Da näherte sich ein Schiff und behauptete, in ihm sitze der Regressor Nik Rimer. Dabei war doch allen bekannt, dass der Regressor Rimer gestorben war, als er sich im Sanatorium befand.
Seltsam … komisch … aber gut möglich.
Ich ging zur Schachtöffnung und stellte mich kurz unter den festen, breiten Strahl. Die Apathie und Gleichgültigkeit wichen von mir, wurden von der kalten Dusche fortgespült.
Komm schon, Petja … durchlauf diesen Kreis bis zum Ende.
Ich packte die kalten Bügel und kletterte die Filteranlage hoch. Unter der Luke wartete ich einen Moment in einer unbequemen gekrümmten Stellung.
Alles schien still zu sein. Ab und an meinte ich etwas zu hören, aber so leise und vage, dass es wohl eher das Blut war, das in meinen Schläfen rauschte.
Ich stemmte den Deckel nach oben, eine Handvoll Erde rieselte mir in den Ausschnitt, ich steckte den Kopf hinaus und fand mich unter der Kuppel wieder.
»Huch!«
Ein zarter Schatten huschte direkt vor meiner Nase vorbei. Beinahe hätte ich meinem ersten Impuls nachgegeben und ihn geschnappt und festgehalten.
So war es ja immer. Am einfachsten war es, etwas zu schnappen und festzuhalten.
Stattdessen öffnete ich jedoch meine Hand, und das orangefarbene Licht des Samens vertrieb die Dunkelheit.
Der rotblonde Junge, der da vor mir zurückwich, gegen einen Baum stieß und daraufhin erstarrte, tastete unbeholfen mit den Händen nach dem Weg. Ich erkannte ihn auf Anhieb. Etwas in mir verkrampfte sich.
»Till, hab keine Angst«, bat ich leise und kletterte endgültig aus dem Schacht heraus. Mit dem Fuß schob ich den Deckel wieder an seinen Platz. Der Junge beobachtete meine Bewegungen, allerdings ohne sonderliches Interesse.
Wahrscheinlich kannten alle Kinder im Internat dieses Große Geheimnis, den Filterschacht der Kanalisation.
»Ich habe keine Angst«, antwortete der Junge mit gedämpfter Stimme. »Wer sind Sie denn?«
»Ein schrecklicher Erdgeist.«
Er lächelte zaghaft.
»Und wenn du schreist, zerfalle ich in meine Einzelteile und verwandle mich in verfaultes Holz«, fuhr ich fort. Ich ging in die Hocke. Mit Kindern ist es wie mit Hunden … Verzeiht mir, ihr Geister von Pestalozzi und Makarenko. Aber man darf sie nicht dominieren. Man darf sie nicht durch die eigene Größe einschüchtern.
Schon gar nicht, wenn man mitten in der Nacht aus der Erde auftaucht, durchweicht, schmutzig und mit einer tierischen Entschlossenheit im Gesicht.
»Ich werde nicht schreien. Ich habe keine Angst.«
»Warum hast du denn geweint?«
Till rieb sich rasch die Augen mit dem Hemdsärmel ab. Er antwortete jedoch völlig ruhig, wenn auch leicht verärgert: »Kennen Sie das nicht? Manchmal … möchte man einfach weinen.«
»Das kenne ich, Till«, antwortete ich. »Es war eine dumme Frage. Entschuldige … dass ich dich gestört habe.«
»Macht nichts.« Der Junge hockte sich jetzt ebenfalls hin, hielt aber Abstand zu mir. »Und wer sind Sie? In Wirklichkeit, meine ich.«
»Ein nasser und hungriger Landstreicher. Er ist draußen herumgelaufen, dieser arme Kerl, schon ganz blau vor Kälte und zittert am ganzen Körper. Kennst du das?«
Nein, natürlich kannte er das nicht. Die Geometer haben keine angestaubten Weihnachtsgeschichten. Till sah mich an, als suchte er in meinem Gesicht nach vertrauten Zügen. Aber woher sollte er den toten Regressor Nik Rimer kennen?
»Sind Sie ein Ausbilder?«
»Nein. Ehrenwort.«
Er nickte. Das glaubte er mir. Neugier und Angst kämpften in ihm mit der Höflichkeit. Die Neugier siegte, wie immer.
»Und wer sind Sie?«
»Ein außerirdischer Kundschafter.«
Eine Sekunde lang schwieg der Junge. Trotzdem überzeugte ihn diese Version schon eher als die vom bösen Erdgeist.
»Ein außerirdischer?«
»Ganz genau.«
»Ein Regressor oder Progressor?«
»Nur ein Kundschafter. Ein Beobachter.«
»So was gibt es nicht.« Till schüttelte den Kopf. »Das wissen doch alle. Es ist aus ethischen Prinzipien unmöglich, sich nicht einzumischen, nach dem Garada-Riz’schen Gesetz …«
Mit einem Mal beruhigte er sich.
»Sie sind ein Ausbilder. Sie machen eine Prüfung mit mir. Ich weiß doch, dass das Unterricht ist. Unterricht in ethischer Wahl, wie ich mich verhalte, wenn …«
»Und wie verhältst du dich?«
Till hatte seine Angst anscheinend überwunden. Er rutschte näher heran. Seine hellen Hosen waren bereits über und über mit Dreck beschmiert, was Till aber nicht störte.
»Das ist eine schwierige Entscheidung«, sagte er leidenschaftlich. »Also … wie Garada bewiesen hat … wenn eine andere Zivilisation eine Ethik vertritt, die sich von unserer unterscheidet, wird sie sich nicht einmischen. Es kommt entweder zu einem primitiven militärischen Konflikt um die Einflusssphären oder zu gutnachbarschaftlichen Beziehungen. Denn eine Einmischung nützt niemandem etwas. Aber wenn die Ethik mit unserer vergleichbar ist, dann muss man sich einmischen … schließlich kann niemand mit ansehen, wie seine Brüder leiden. Das rechtfertigt jede Einmischung. Habe ich das richtig erklärt?«
»Ja«, sagte ich. »Es ist unmöglich, sich nicht einzumischen.«
»Aber dann hat Riz die Konsequenz aufgezeigt … dass wir nämlich, wenn wir anderen Rassen helfen, auch akzeptieren müssen, dass jemand sich bei uns einmischt … Das ist … äh … ein Falsches Axiom!«
»Und warum ist es falsch?«
»Weil es falsch ist«, gab Till erstaunt zurück.
»Und warum ist es ein Axiom?«
»Weil es sich nicht widerlegen lässt!«
Ich grinste. Die Welt der Falschen Axiome und der logischen Fehler. Das ist fast meine Welt.
»Und wie verhältst du dich jetzt? Ausgehend vom Garada-Riz’schen Gesetz?«
Till schniefte und wischte sich die letzten Spuren der kürzlich vergossenen Tränen aus dem Gesicht.
»Ich weiß es nicht. Ich muss den Erwachsenen von Ihnen Mitteilung machen. Weil Sie ein außerirdischer Kundschafter sind und versuchen könnten, uns zu verändern. Aber dann verstoße ich gegen die Konsequenz von Riz … weil wir dann nämlich den zukünftigen Freunden von vornherein die Freiheit bei der Wahl der Ethik absprechen …«
»An der Stelle hilft dir dann aber das Prinzip des Geringeren Übels weiter«, bemerkte ich vertrauensvoll. »Oder das Prinzip der Umkehrbarkeit der Wahrheit. Es ist sehr leicht, sich selbst alles zu beweisen … was man gern möchte.«
Darauf loderte es in Tills Augen auf. »Sie sind ein Regressor!«, stelle er fröhlich fest. »Ich kenne diese Prinzipien, denn von denen habe ich in den Lehrbüchern gelesen. Das sind die Prinzipien der Regressoren!«
Vor Aufregung hätte er beinah nach meiner Hand gefasst. Er stoppte die Bewegung jedoch in letzter Sekunde. Ich konnte zwar ein Regressor sein, der Held aller Kinderphantasien, aber ich war eben doch kein Ausbilder.
»Und sind Sie zu uns gekommen, um … nein, ich sage kein Wort mehr!«
Die letzten Worte stieß er in einem verlangenden Ton aus: Na, kommen Sie, fragen Sie mich schon, was ich denke!
Und ich fragte.
»Sie suchen sich einen Jungen aus!«, platzte Till heraus. »Das weiß ich, denn das habe ich auch gelesen! So machen die Regressoren es, wenn es nötig ist, sich auf einem anderen Planeten einzunisten, und zwar nicht allein, sondern fast mit einer Art Familie, wie im Altertum, als sich Gruppen aus Männern und Frauen zusammentaten und manchmal auch noch Kinder aufnahmen! Sie wollen einen Jungen finden … oder ein Mädchen …« Seine Stimme verlor kurz ihre bisherige Fröhlichkeit. »… die das Kind von Ihnen spielen …«
Till sah mich zweifelnd an.
»Oder den kleinen Bruder …«
Ich schwieg. Der Samen in meiner Hand glomm, amüsiert und arrogant. He, Pjotr Chrumow! Bist du immer noch so überzeugt davon, dass die Erde den Schatten dringender braucht? Dass die Erde ohne dich nicht heil aus dieser Geschichte herauskommt? Und bei den Geometern im Großen und Ganzen alles in Ordnung ist?
»Glauben Sie nicht, dass ich noch zu klein bin«, sagte Till aufgebracht. »Ich kenne mich sehr gut aus in Geschichte. Vor allem im Burgenzeitalter. Die anderen Jungen und ich, wir spielen es sogar nach …« Plötzlich sank seine Stimmung auf den Nullpunkt. »Laki ist sogar noch besser in Geschichte als ich«, gab er selbstkritisch zu. »Und Fal, das ist ein Künstler. Wenn er einen Baron oder einen Priester spielt, nimmt man ihm das sofort ab. Man vergisst sogar, dass das alles nicht echt ist. Außerdem redet er keinen Quatsch. Und nie verhaspelt er sich. Mir passiert das manchmal.« Nach einer kurzen Pause fuhr er unsicher fort: »Grik versteht viel von der alten Technik … wenn es dort schon Maschinen gab …«
Der Junge war schon dort. Auf dem Planeten der zukünftigen Freunde, bei denen ein Regressor so schnell wie möglich mit der Arbeit loslegen sollte. Na gut, so schnell nun auch wieder nicht … schließlich wollte er dort erst mal ein Weilchen leben … so tun, als habe er eine Familie.
»Ob es dort auch große Familien gibt?«, fragte Till.
Wo dort, mein Junge? Auf dem Planeten Erde? Das kommt ganz darauf an. Aber diesen Planeten wird es bald nicht mehr geben. Nein, Quatsch, ich habe ja den Samen, wir treten in den Schatten ein, und alles wird gut. Alle Entarteten kriegen eine Welt nach ihrem Gusto, jeder Politiker erhält seine Bühne, und ohne Idioten und Politiker wird es sich endlich leben lassen … Ich könnte dich sogar mit zur Erde nehmen. Deine Freunde vielleicht auch. Mein Großvater würde sich vermutlich über das neue pädagogische Kampffeld freuen …
»Pass auf, Till, ich gebe dir jetzt noch keine Antwort, ja?«, schlug ich vor.
Er wurde wieder ganz aufgeregt. Er hegte offensichtlich keinen Zweifel, dass er mit jeder seiner Hypothesen den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.
»Haben Sie da eine Taschenlampe?«
»Etwas in der Art.«
»Darf ich sie mal sehen?«
»Besser nicht. Noch nicht.«
Till nahm die Zurückweisung gleichgültig hin. Für ihn war dieser Feuerball nur eine ungewöhnliche Taschenlampe – also nichts im Vergleich zu der Perspektive, die sich ihm da gerade eröffnet hatte.
»Was sitze ich denn hier rum?«, sagte er plötzlich sehr ernst. »Sie sind ja schon ganz durchgefroren. Und bestimmt wollen Sie auch etwas essen?«
»Richtig geraten.«
»Gehen wir.« Till sprang auf und fasste mit einer bewusst beiläufigen Geste nach meiner Hand. »Schnell! Wir verstecken Sie in unserem Zimmer.«
»Und wie kommen wir am Posten vorbei?«, wollte ich wissen.
»Heute hat Fal Aufsicht«, erklärte mir Till lächelnd. »Er wird uns nicht melden. Was glauben Sie denn, wie ich mitten in der Nacht rausgekommen bin?«
»Und was ist mit den Kameras? Till, mein Junge, das ganze Internat wird überwacht.«
»Das wissen wir doch«, sagte Till stolz. »Aber wir haben im Moment keinen festen Ausbilder. Wir hatten einen, einen sehr, sehr guten! Den Ausbilder Fed. Aber er ist weggegangen, und wir haben noch keinen richtigen Ersatz bekommen …«
Genau!
Sie hatten Fed also noch nicht gefunden!
Und komisch, auch diesmal empfand ich keine Reue. Im Gegenteil, ich war stolz. Darauf, dass ich in der Gestalt von Fed in nur knapp einer Stunde eine solche Reputation erworben hatte!
»Und die Aushilfsausbilder, die sind so … die passen nicht ordentlich auf … Wir haben da nämlich ein System, damit sie uns nicht sehen können, wenn wir es nicht wollen. Ehrenwort, es wird Sie niemand bemerken!«
Ich war zu müde, um diesen Worten nicht zu glauben. Außerdem hatte Till an meiner Hand offenbar nicht die geringste Absicht, allein abzuziehen.
»Gut. Überredet.«
»Aber schnell«, wiederholte Till. »Fal wird bald abgelöst, da müssen wir schon drin sein …«
Ich stand unter der Dusche und genoss das heiße Wasser. Es wäre schön gewesen zu baden, aber was nicht ist, das ist nicht. Hier gab es nur eine Duschwanne auf dem Boden. Niks Zimmer war nicht so asketisch gewesen. Kindern schadete es wohl, ein Bad zu nehmen?
Auf einem kleinen Regal lagen vier identische Stück Seife, standen vier Flaschen Shampoo. Der Flüssigkeitspegel in jeder Flasche war exakt derselbe. Ich stellte mir Till vor, wie er akkurat den vorgeschriebenen Klecks Shampoo abmaß, und schüttelte den Kopf.
Meine Kleidung, die mit mir sämtliche Abenteuer seit meinem Aufenthalt auf dem Planeten der grünen Umweltschützer überstanden hatte, steckte ich in die Waschmaschine. Rimer hatte keine Waschmaschine gehabt. Anscheinend ging man hier davon aus, Erwachsene würden besser auf ihre Sachen achten und müssten sie nicht so oft waschen.
Eine halbe Stunde später machte ich einen recht anständigen Eindruck und erinnerte in keiner Weise mehr an einen Erdgeist. Trotz des wenig vertrauenerweckenden Gerumpels der Waschmaschine kam meine Kleidung sauber und fast trocken aus ihr heraus. Ich nahm den Samen in die linke Hand und zog mich an, wobei er mich natürlich störte – aber ich konnte ihn nun einmal nicht aus der Hand geben.
Triff endlich deine Entscheidung, Nik Rimer!
Führe deine Welt in den Schatten oder gib mich frei!
Nik schwieg.
Seufzend strich ich mir die Haare glatt und verließ das Bad.
Das Zimmer, in dem die am schwersten zu erziehenden Kinder des Internats Weißes Meer lebten, hatte mir schon bei meinem ersten Besuch in der Gestalt des Ausbilders Fed gefallen. Dieses ganze mittelalterliche Ambiente, das die vier Jungen so liebevoll aufgebaut hatten: der »Strohteppich« auf dem Fußboden, die Lampen mit den sorgfältig verborgenen Glühbirnen, die gestrickte Gardine vorm Fenster, der Tisch und die Betten aus grobem Holz …
Jetzt saßen alle vier auf einem Bett und warteten auf mich. Fal war von seinem Wachtdienst zurückgekehrt und offenbar von den anderen schon in die Situation eingeweiht worden. Wie sich gezeigt hatte, ließ er sich wirklich durch nichts aus der Ruhe bringen. Als Till und ich vom Kuppelbau in das Gebäude hereingekommen waren, hatte er nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Er hatte zu Till hinübergeschielt, der den Finger an die Lippen gelegt hatte, und dann zur gegenüberliegenden Wand gestarrt …
»Es ist alles in Ordnung«, teilte mir ein blonder Lockenkopf mit. »Wir haben alte Aufzeichnungen der Überwachungsanlagen. Wie wir schlafen … Die laufen jetzt. Falls mal jemand auf den Bildschirm schaut, wird er nichts merken.«
»Danke, Grik, das denke ich auch.«
Ich setzte mich auf den Boden und blickte die Kinder erwartungsvoll an: Na, dann quetscht mich mal aus.
Die Jungen sahen sich an.
»Woher kennen Sie uns denn?«, fragte Grik.
»Wir haben uns bereits kennengelernt, Jungs. Vor einer Woche.«
Verständnislose Blicke.
»Wir haben darüber gesprochen, wie man eine Entscheidung trifft. Und darüber, dass das Schicksal der Welt manchmal von einem einzigen Menschen abhängt …«
»Ausbilder Fed?«, fragte Till plötzlich. »Sind Sie das, Ausbilder?«
»Das glaube ich nicht«, sagte Grik scharf. »Nein!«
»Ich schon!« Till sprang vom Bett auf, stürzte zu mir, setzte sich dicht neben mich und griff nach meiner Hand. »Damit ihr’s nur wisst!«
Ihm kam es einzig und allein auf die zärtliche Berührung an. Für ihn spielte es keine Rolle, ob ich log oder die Wahrheit sagte, solange er mich nur für einen Ausbilder halten durfte … Mit der Hand, die den Samen nicht hielt, zerzauste ich ihm das Haar. »Ich brauche euern Rat, Jungs«, sagte ich. »Sonst habe ich niemanden, den ich fragen könnte. Und ihr … müsst schließlich hier leben. Das ist eure Welt. Ich habe nicht das Recht …«
»Erzählen Sie erst mal«, sagte Fal. »Das wird bestimmt ganz spannend.«
Auch er rutschte jetzt vom Bett runter und legte sich auf den Fußboden – und zwar so, dass er weder neben mir noch abseits lag. Grik und Laki blieben auf dem Bett sitzen und rückten sogar näher zusammen. Die übliche Verteilung einer Gruppe in einer ungewöhnlichen Situation.
»Unterbrecht mich aber erst einmal nicht«, bat ich. »Es fällt mir so schon schwer genug. Hört euch zunächst alles an, danach könnt ihr mich fragen, wenn ihr etwas nicht verstanden habt.«
Sie nickten alle, sogar die beiden Skeptiker.
»Ich bin ein Mensch. Aber ein Mensch von einem anderen Planeten. Wir sind technisch nicht so weit entwickelt wie ihr, fliegen aber auch ins All …«
Ich berichtete so knapp und sachlich wie möglich. Ich durfte meine Erzählung nicht in einen Vortrag verwandeln, der die ganze Nacht in Anspruch nahm, da es ohnehin genug gab, was ich den Jungen mitteilen musste. Von der Erde, auf der in gewisser Weise bis heute ihr geliebtes Burgenzeitalter herrschte, auch wenn wir von einem Stern zum anderen flogen. Vom Konklave, das Hunderte von Zivilisationen mit unerbittlichen Gesetzen an sich knebelte. Nicht aus Bosheit, natürlich nicht … eher aus der bitteren Notwendigkeit heraus. Davon, wie die Schwachen Rassen nach dem Auftauchen der Geometer in unserem Kosmos Hoffnung geschöpft hatten und ich in der Gestalt des toten Regressors Nik Rimer aufgebrochen war, ihre Welt zu erkunden …
Sie glaubten mir nicht auf Anhieb. Ich sah, wie sich auf ihren Gesichtern Staunen, Begeisterung angesichts meiner Phantasie und schließlich die erschütternde Einsicht, dass all das der Wahrheit entsprach, abwechselten. Vielleicht half mir ihr kindliches Vertrauen. Vielleicht spürten sie mein Unvermögen zu lügen. Irgendwann glitt Laki vom Bett und setzte sich zu uns, am Ende kapitulierte selbst Grik, zudem gleich vollends: Er setzte sich neben mich und umarmte mich. »Wir helfen dir, Regressor Pjotr!«, flüsterte er, problemlos zum Du übergehend. »Ihr werdet zu unseren Freunden! Und dem Konklave bringen wir auch bei, unsere Freunde zu sein!«
Er hielt sich in dem Moment nicht mehr für einen kleinen Jungen, der unter ständiger Beobachtung stand, sondern für einen mutigen Regressor …
Ich widersprach ihm nicht. Ich fing jetzt an zu erzählen, wie ich ihre Welt wahrgenommen hatte, zunächst mit den Augen Nik Rimers, der sein Gedächtnis verloren hatte, später mit denen des Menschen Pjotr Chrumow.
Die Kinder fingen an herumzuzappeln.
Wahrscheinlich war ich grausam. Aber wenn der Tumor wuchert, muss man zum Chirurgen.
»Bei uns hat es auch Konzentrationslager und Gefängnisse gegeben. Es … es gibt sie sogar immer noch. Aber wir nennen sie nicht Sanatorium.«
»Aber was soll man denn tun, wenn ein Mensch krank ist? Wenn er böse ist? Wenn er andere stört, wenn er sogar zu einem Mörder werden kann? Wir sind nicht mehr so klein, wir wissen, dass es so was gibt!«, rief Till, der mir fest in die Augen blickte.
»Dann soll man es nicht Krankheit nennen«, antworte ich bloß.
Ich erzählte von den Wendigen Freunden, die unterschiedslos auf Fische wie auf Menschen Jagd machten. Mit einem runden Dutzend Sätzen legte ich das rosafarbene Gebäude der Freundschaft, das die Ausbilder so mühevoll errichtet hatten, in Schutt und Asche. Bis ich sah, dass ich damit allmählich aufhören sollte. Till hatte schon wieder feuchte Augen, dem unerschütterlichen Fal zuckte das eine Lid.
Ich bin kein Chirurg. Es spüre selbst den Schmerz.
Schließlich kam ich auf den Schatten zu sprechen. Den Verrat meiner Freunde ließ ich aus, das ging letztlich nur uns etwas an. Ich erzählte von der unendlichen Kette von Welten, von Welten, in denen man Krieg führte, von Welten, in denen die Liebe herrschte, von Welten, in denen man Ackerbau betrieb … sich in der Nase bohrte … Erbsen zählte … eine unverständliche Wahrheit verstand …
»Man kann alles machen, was man sich wünscht?«, fragte Grik.
»Genau.«
»Und wenn es das, was ich möchte, nirgends gibt?«
Die Frage klang nicht so, als sei sie völlig aus der Luft gegriffen. Ich antwortete so überzeugt wie möglich. »Dann wird sich etwas Ähnliches finden. Oder … eine leere Welt. Für dich ganz allein.«
»Für mich allein, das will ich nicht …«, antwortete Grik finster. »Aber so wie es sich anhört, ist dieser Schatten gar nicht mal schlecht.«
»Er ist nicht schlecht und nicht gut. Er ist …«Mit einem Mal fand ich ein treffendes Bild. »Er ist ein Filter. Genau wie in eurer Kanalisation. Nur ist der Filter bei euch für den Müll, während im Schatten die Tore als Filter für Menschen dienen. Sie wissen sofort, wer wohin muss. Wer was braucht. Sie sieben die Menschen durch und verteilen sie, der eine bekommt einen Krieg, ein Blutbad – und jeder steht dabei immer auf der für ihn richtigen Seite –, ein anderer darf unterm Sternenhimmel Gedichte schreiben, bis er die Nase voll davon hat. Dieser Filter ist erbarmungslos, Kinder. Nicht jeder ist stark genug, ihn zu überstehen. Vielleicht hätte ein Mensch gegen sich gekämpft und es geschafft, sich nicht in einen Tyrannen oder in einen Schuft zu verwandeln. Der Schatten hilft jedoch allen. Er kennt keine Ethik, hat sie auch nie gekannt …«
Ich streckte meine Hand vor und öffnete die Faust, obwohl die kleine Bestie in mir aufheulte und verlangte, ich solle den Samen auf keinen Fall aus der Hand geben.
Die Feuerkugel fiel auf den Boden. Sie kullerte zwischen die »Strohhalme« des zotteligen Teppichs.
»Das ist ein Tor. Man hat es mir gegeben … oder nicht mir, sondern Nik Rimer. Ja, wahrscheinlich Rimer, er hat nämlich auch darauf bestanden, den Samen hierher zu bringen. Aber jetzt weiß ich nicht, was ich mit ihm machen soll.«
»Und wie bringt man ihn zum Wachsen?«
Das war Grik. Er ging immer sachlicher an die Dinge heran als die anderen Jungen.
»Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, ich verstehe es, wenn es so weit ist. Zunächst müssen wir aber eine Entscheidung treffen.«
Erst jetzt begriffen sie, was ich von ihnen wollte.
»Irgendwo dort im Kern, unter dem Himmel, der von Sternen lodert …«
»Ich erinnere mich daran«, fiel mir Till ins Wort. »Wir alle erinnern uns daran. Die Heimat ist in fünf Etappen verlegt worden, in der ersten hatte sich der Himmel noch nicht verändert …«
»Das stimmt nicht, da hatte er sich auch schon verändert«, korrigierte ihn Grik. »Bei dir waren Hemd und Hose damals ja noch eins, aber ich bin schon drei gewesen, und ich erinnere mich genau!«
Drei von ihren Jahren, das entspricht sechs bei uns auf der Erde. Die Geometer hatten ihr System fast sieben richtige Jahre lang durch den Raum bewegt, das war ja nicht irgend so ein Scout … Ich wartete, bis die Jungen ihre Anspannung in diesem komischen Streit abgebaut hatten, dann fuhr ich fort: »Unter dem Himmel, der von Sternen lodert, im Kern der Galaxis gibt es einen Planeten … ich weiß nicht, wie er heißt. Es kommt aber auch gar nicht darauf an, welchen Namen man seiner Erde gibt. Und wenn doch jemand fragt …«Ich grinste. »… dann könnt ihr sagen, sie hat die Nummer W-642. Und wenn euch dieser Jemand daraufhin nicht anlächelt, braucht ihr nie wieder mit ihm zu reden.«
Sie hörten mir zu. Aufmerksam, wie einer Offenbarung. Aber genau die wollte ich ihnen ja auch zuteil werden lassen.
»Auf diesem Planeten gibt es viele Wälder, Flüsse und Berge. Ich habe außerdem den starken Verdacht, dass es dort Meere gibt. Und ich würde sogar vermuten, dass sich dort ein paar Wüsten und Gletscher finden. So ist er also, dieser Planet … nichts Besonderes, natürlich nicht … Übrigens haben alle Kontinente auf ihm eine absolut ungleichmäßige Form, kein Haus sieht wie das andere aus, und niemand kommt auf die Idee, das Gras vorm Haus zu mähen …«
Sie hörten mir zu. Sie hörten mir wirklich zu. Viel aufmerksamer als vorhin, als ich über die Sternenkriege, die Kristallene Allianz und die Menschen, die sich in einen reinen Verstand verwandelten, gesprochen hatte.
Und was ist mit dir, Nik Rimer, hörst du mich auch?
Gebrochen und abermals gebrochen, verraten und vergessen, der beste Regressor der Geometer, der trotz allem in seine Heimat zurückgekehrt war.
Hörst du mich?
»Dort steht ein Haus. Auch dieses Haus ist nichts Besonderes. Allerdings ist es groß. Ein zweistöckiges Steinhaus, in dem drei Menschen wohnen. Eine Familie. Vater, Mutter und ein Sohn. Jeder von ihnen hat seine eigenen Probleme. Der Mann, Kelos, hat Angst, dass er irgendwann kein Mensch mehr ist. Vor ihm liegt ein endloser Weg, das weiß er … und er hat sehr, sehr große Angst, ihn einzuschlagen. Dieses seltsame Unglück gibt es nämlich auch, dass man Angst hat, man selbst zu sein. Wahrscheinlich ist er zu sehr daran gewöhnt, die Verantwortung für andere zu übernehmen und schwierige Entscheidungen zu treffen. Auch das kommt nämlich vor.«
Vielleicht hörte mich Rimer nicht. Aber diese Jungen, die hörten mir zu. Mit gespitzten Ohren.
»Außerdem lebt in diesem Haus Rada. Eine schöne junge Frau. Sie liebt Kelos sehr. Und sie hat Angst, dass er weitergeht … und sie ihm folgen muss. Sie will nämlich nirgendwohin gehen. Es gefällt ihr, ein Mensch zu sein, aber im Schatten ist es peinlich, das zuzugeben.«
»Die sind dumm«, verkündete Laki. Er hatte jetzt auch beschlossen, am Gespräch teilzunehmen. »Das stimmt doch, oder? Sie sind doch dumm?«
»Sie sind müde«, korrigierte ich ihn. »Das kann jedem passieren. Dann haben sie noch einen Sohn namens Dari. Er ist etwas jünger als ihr. Mit ihm haben wir wirklich ein Problem. Das ist hier allerdings sehr schwer zu erklären, das muss man mit eigenen Augen sehen und verstehen. Das wäre also dieser Planet …«
Ich schaute die Jungen an und lächelte.
»Ich glaube, wenn eines Tages vor ihrem Haus vier Jungs auftauchen würden … mutige Jungs, die allerdings ein bisschen verloren wirken … dann wären sie bestimmt nicht enttäuscht. Vielleicht würden sie sich sogar sehr freuen.«
Zugegeben, ich war ein Schwein.
Und dafür brauchte ich mich nicht mal zu verstellen.
Ich presste aus ihnen die Antwort heraus, die ich hören wollte. Ich versprach diesen unglücklichen Jungen nicht das, was mit ihnen passieren könnte, wenn sie durch das Tor gingen, sondern das, wovon sie träumten. Eine Mama, einen Papa, ein Haus.
Aber der Schatten bedeutet doch, dass passiert, was man will? Oder nicht?
»Kehrst du dorthin zurück, Pjotr?«, fragte Till leise.
»Irgendwann. Ich muss Kelos noch die Hand drücken. Und ihm sagen, wie dankbar ich ihm bin. Außerdem ist es immer schön, sie zu besuchen …«
Der Anker. Ich warf den Anker aus. Ich spannte den Faden zwischen den Welten. Ich wob eine neue Realität, nicht nur für diese »schwierige Gruppe« im Internat der Geometer, sondern auch für Kelos, für mich selbst, für alle, die je durch ein Tor gehen würden.
In der christlichen Religion gibt es den Begriff der »spirituellen Zeit«. Wollte man diesen Terminus in die Sprache der Wissenschaft übersetzen, dann wäre es eine Zeit, die keine Richtung hat. Und das Kausalitätsprinzip funktioniert in ihr auf eine höchst ungewöhnliche Weise.
Im Moment lebte ich förmlich in dieser spirituellen Zeit. Bald versuchte ich, diese Jungen aus der zärtlichen Welt der Geometer herauszuziehen, bald, Kelos aus dem Feuer zurückzuholen.
Wer kennt die Antwort, wenn sie im Schatten verborgen liegt?
»Wenn du es jetzt willst …« Till streckte die Hand zum Samen aus. Doch noch bevor er ihn berührte, zuckte er zurück. »… könnten dann überall auf Der Heimat Tore entstehen?«
»Wahrscheinlich.«
»Warum willst du es denn nicht?«
Das war nicht einmal mehr eine Frage. Das war eine Anklage. Eine Herausforderung. Eine Beleidigung, die mich bis ins Mark traf. Und da wurde mir klar, dass Nik Rimer sich durchgesetzt hatte. Der Samen wartete. Und ich stritt mich nicht länger mit ihm …
»Es ist nur zu begrüßen, dass Pjotr nichts tut, was nicht rückgängig zu machen ist.«
Die fremde Stimme in meinem Rücken traf mich wie ein Peitschenhieb. Die Gesichter der Jungen wurden lang, versteinerten, verloren von einer Sekunde zur nächsten ihre Lebendigkeit.
»Das Schlimmste, was man tun kann, ist unüberlegt zu handeln. Die Fähigkeit, unüberlegte Handlungen zu vermeiden … und den Moment der Entscheidung hinauszuzögern … das ist eine große Kunst.«
Ich wandte mich um. Der Cualcua murmelte etwas darüber, wie schwierig es sei, in dem unvollkommenen menschlichen Körper die Kontrolle über eine Situation zu behalten, und dass er bereit sei, die Kampftransformation einzuleiten … Ich hörte gar nicht hin, ich sah nur den Mann an, der durch die Tür kam.
Ich kannte ihn. Flüchtig.
Von meinem Besuch des Weltrats her.
Big, der Kommodore der Fernaufklärung.
Ein kräftiger, blondhaariger Mann mit offenem, wohlwollendem Gesicht.
Wenn ich mich nicht irrte, der ehemalige Vorgesetzte von Nik Rimer.
Am erstaunlichsten fand ich, dass auch die Kinder ihn kannten. Griks Augen strahlten, Fal lächelte, Laki stand auf. Till dagegen blieb an meiner Seite, wanderte nicht ab.
»Guten Tag, Jungs«, begrüßte Big sie zärtlich. Selbst wenn er kein Ausbilder war, erfreute er sich größter Beliebtheit.
»Guten Tag, Kommodore Big!«, antwortete die gesamte »schwierige Gruppe« fast einstimmig.
Mich beschlich ein seltsames Gefühl. Nein, nicht das von Verrat … eher als mache man sich über mich lustig.
Da war ich auf Der Heimat aufgetaucht, die Schlange der Versuchung in Gestalt von Nik Rimer … Ein Apfel hatte mir nicht gereicht, diese Kinder der Geometer in Versuchung zu führen …
»Kommodore Big, ist das hier eine Unterrichtsstunde?«, fragte Till forsch.
»Nein, Kinder. Das ist keine Unterrichtsstunde. Das ist alles die Wahrheit. Ihr habt mit einem fremden Kundschafter gesprochen.«
Till sah mir in die Augen.
»Ich habe euch das von Anfang an gesagt!«
Nun rückte auch er vorsichtig von mir ab.
Aber was hatte ich denn erwartet? Sie verhielten sich ja völlig korrekt. Solange die Situation an der Grenze zum Spiel blieb, durften sie Gott weiß was glauben. Dass es in der Welt Hunderttausende von Planeten gibt, die man gar nicht alle ändern kann. Und dass die Wendigen Freunde gemeine Raubtiere sind, die man nicht achten, sondern mit Napalm verbrennen sollte.
Aber dann kam ein Erwachsener, noch dazu der planetenweit bekannte Held Kommodore Big. Und der rückte mit einigen wenigen Worten wieder alles an seinen Platz.
»Ich darf doch auch weiterhin auf Ihre Vernunft zählen, Pjotr?«
Big blieb an der Tür stehen. Dabei hatte er mit Sicherheit keine Angst vor mir, denn etwas in jeder seiner Bewegungen brachte den bedingungslosen Glauben an seine Kräfte zum Ausdruck. Eher wollte er wohl nicht, dass ich mich vor ihm fürchtete.
»In welchem Sinne?«
»Ganz direkt. Ich will nicht hoffen, dass Sie sich nun auf den Samen stürzen werden.« Sein Blick huschte zu dem auf dem Teppich glühenden Punkt. »Oder hinter den Jungen Deckung suchen.«
Ich fühlte mich mies.
»Den Samen werde ich nehmen, Sie müssen schon entschuldigen.«
Ich streckte die Hand aus und hob die Feuerkugel auf. Big sagte kein Wort.
»Die Kinder können aber ruhig gehen. Ob Sie es mir glauben oder nicht, aber ich habe Terroristen noch nie leiden können.«
»Kommodore Big, sollen wir gehen?« Es war Grik, der die Frage stellte.
Wie leicht gebt ihr eure Burg auf, Jungs. Ohne Kampf, ohne Panik, ohne Tränen. Widerstandslos gebt ihr ihn auf, den Raum des Spiels, in dem ihr bereit seid, Autoritäten anzugreifen, Alternativen zu suchen und eure eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen.
Blendwerk. Alles ist nur Blendwerk, Jungs. Denn eigentlich war das eine Unterrichtsstunde für mich. Man darf nämlich nicht glauben, dass die älteren Generationen weise sind, man darf nicht denken, dass die jüngeren vorurteilsfrei sind.
»Nein. Setzt euch und hört zu. Ihr habt schon zu viel gehört, um jetzt zu gehen.«
Die Ironie des Satzes wusste nur ich zu schätzen. Die Kinder verteilten sich gehorsam auf ihren Betten. Natürlich hatte Big nicht gemeint, die Kinder wüssten schon zu viel. Nein, eher dürfte er ihnen wohl noch mehr eintrichtern wollen.
»Was wollen Sie?«, fragte ich.
»Ich?« Big bedachte mich mit einem finsteren Blick. »Pjotr … Sie stellen seltsame Fragen. Trotzdem werde ich antworten. Ich würde zu gern Nik Rimer sehen. Diesen braven Jungen Niki, der Die Heimat liebt.«
»Es ist nicht meine Schuld, dass er gestorben ist. Ihr seid in einen fremden Kosmos vorgedrungen. Ihr habt Kundschafter ausgeschickt … mit dem idiotischen Auftrag, Gefangene zu machen. Nik Rimer hat sich alle Mühe gegeben. Er hat völlig allein ein ganzes Geschwader angegriffen. Dabei wurde er selbst gefangen genommen … und leider auch getötet.«
Big nickte. Dabei bewegte er den Kopf derart heftig, dass ihm die langen blonden Haare über die Schultern flogen.
»Ich habe mich gegen diese Art von Unternehmung ausgesprochen. Wirklich. Glauben Sie mir das?«
Warum auch immer, aber ich glaubte ihm. Vielleicht weil Big das Gesicht eines guten Menschen hatte. Ein offenes Gesicht.
»Aber ich habe noch mehr Fragen. Wie ist der Ausbilder Fed gestorben?«
Er wusste es. Zumindest er wusste es. Der Gesichtsausdruck der Kinder jedoch veränderte sich sofort.
»Eine Hirnblutung. Ich wollte das nicht. Ihn hat die Angst umgebracht … die Anspannung.«
»Ich glaube es.« Es war, als habe sich Big vorgenommen, einen guten Eindruck zu machen. »Seine Gesundheit ließ leider zu wünschen übrig. Schon seit vielen Jahren. Wir hätten an einen Urlaub für ihn denken sollen, an eine Behandlung, aber …«
Er verstummte. Ich konnte beim besten Willen nicht begreifen, worauf er eigentlich hinauswollte.
Ob er einfach Zeit schinden wollte?
»Vielleicht sollte ich etwas erzählen …«
Big seufzte und hockte sich direkt vor die Tür hin. Unwillkürlich fiel mir ein, wie ich selbst in die Hocke gegangen war, als ich mit Till gesprochen hatte. Seltsamerweise entkrampfte ich mich daraufhin.
Das lag natürlich nicht an der demonstrativ unterwürfigen Pose Bigs. Er war sehr kräftig, allerdings stand ich ihm kaum nach.
Nein, mir war einfach die Ironie der Situation aufgegangen. Wir versuchten beide, mit den gleichen Mitteln Kontakt herzustellen. Aber ich bin kein Kind mehr, Big.
»Das Wichtigste vorweg. Pjotr, du behauptest also, alles, was du gesagt hast, entspricht der Wahrheit?«
»Ja.«
»Aber wie …?«
Er verstummte. Und mit einem Mal lächelte er so traurig, dass es mich ganz beklommen machte.
»Beinahe hätte ich dich eben Nik genannt. Ich habe mich längst daran gewöhnt, dass er tot ist, aber trotzdem …«
Etwas in mir verkrampfte sich. Etwas von Nik. Dennoch schwieg ich.
»Wie bist du durch die Kontrolle gekommen? Ich meine nicht den genetischen Test, sondern die Untersuchung deines Gedächtnisses. Als man dich ins Sanatorium geschickt hat, habe ich vermutet, dass irgendwas mit dir nicht in Ordnung ist. Daraufhin habe ich mir selbst die Aufzeichnungen angesehen. Aber das waren alles seine … Assoziationsketten, logischen Reihen, emotionalen Reaktionen … Also, wie?«
»Alles, was von ihm gerettet werden konnte, lebt jetzt in mir. Ist er eigentlich viel geflogen?«
»Ja. Nik liebte einsame Patrouillenflüge. Er liebte das Kundschaften.«
»Er hat mit seinem Schiff geredet. Aus Langeweile, aus Einsamkeit … er hat ihm seine Gedichte vorgetragen … sich mit ihm gestritten … es angestachelt …«
»Er hat sich … mit seinem Schiff gestritten?« Big schüttelte den Kopf. »Das ist … typisch Niki.«
»Ich weiß nicht, ob ich das Recht habe, das zu sagen, aber ich glaube manchmal … er lebt noch.«
»Du bist fremd in unserer Welt, Pjotr«, sagte Big. »Aber in gewisser Weise bist du mein Kollege. Deshalb will ich ganz offen sein. Ich habe dein Gespräch mit den Kindern belauscht … und ich weiß, warum es nötig war.«
Ach ja, meine kleinen Genies, die ihr die Kameras ausgetrickst habt.
»Du suchst eine Rechtfertigung. Ich verstehe das … Dann hast du also noch nicht entschieden, was du mit dem Samen anstellen willst. Zum Glück hast du es noch nicht.«
Ich warf den Feuerball in meiner Hand hoch und wartete ab.
»Es war schwierig, alles unter einen Hut zu bringen, Pjotr. Mein Schützling Nik Rimer war verschwunden – und dann kehrte er zurück, wenn auch mit einem kaputten Gedächtnis. Er griff seinen Ausbilder an. Daraufhin kam er ins Sanatorium. Dort meuterte er. All das ließ sich durchaus noch erklären. Aber was danach kam … sich gegen die Wendigen Freunde durchzusetzen … zu fliehen …«
Big schüttelte den Kopf.
»Als dann der Ausbilder Fed verschwunden ist, habe ich Verdacht geschöpft. Den Wendigen Freunden musste man die Informationen wie Nicht-Freunden aus der Nase ziehen. Es war ein Schock, ein großer Schock, für diese kleine stolze Rasse, auf einen Menschen zu treffen, der ihnen überlegen war, der sie mit bloßen Händen töten konnte. Damit rückte plötzlich alles an seinen Platz. In der Gestalt von Nik war ein Alien auf Die Heimat eingedrungen. Nik hatte unser Leben nicht akzeptiert und war geflohen. Der Pilot, der sein Bewusstsein verloren hatte, der verschwundene Scout … ich habe all diese Puzzlesteine zusammengefügt … Aber niemand hat mir geglaubt, Pjotr. Trotz allem hat mir niemand geglaubt. Fed würde eine schwere Krise durchmachen, hieß es, und suche deshalb die Einsamkeit. Das Mütterchen musste dem Piloten das Hirn versengt haben. Kinder aus dem nächsten Internat hätten den Scout gekapert … Da waren nämlich tatsächlich vor Kurzem ein paar Kinder geflohen. Es hätte wirklich alles Mögliche passiert sein können. Und der Weltrat schrieb deshalb auch einfach alles einem Zufall zu. Doch ich ahnte, dass die einzelnen Teile zu einem Ganzen gehörten …«
»Hat Katti denn nichts von mir erzählt? Sie hat mich doch gesehen …«Ich verstummte. Nein, die Freundin von Nik Rimer konnte auf gar keinen Fall geschwiegen und nicht von dem Fremden berichtet haben, der in der Gestalt von Nik und Fed … Trotzdem kam es mir vor, als hätte ich sie mit meiner Frage verraten.
»Ich habe angenommen, du wüsstest es.« Bigs Augen wurden für einen Moment kalt.
»Was denn?«
»Katti Tamer, Ärztin und Exobiologin … ist von uns gegangen.«
Ich zuckte zusammen.
Die schwarze Schale in der Nacht. Die dunkle Flamme an ihrem Boden. Die in der Luft funkelnden Sandkörner … fallende Sterne … Abschied …
Nein!
Dieses monströs große Krematorium! Der Tod, der zu einem Schauspiel wird! Das durfte nicht wahr sein!
Kattis Gesicht, das ans Glas der Transportkabine gepresst war. Ihr Schrei: »Niki!«
Ein Krematorium. Schön und gut. Aber dieses Krematorium war nicht nur für die Toten. Sondern auch für all diejenigen, die aus dem Leben gehen wollten. In diesem Punkt legten die Geometer eine erstaunliche Toleranz an den Tag. Keine Zäune, keine Wachen … nur ein Schritt, weg von dem schwarzen Stein, dem Feuer entgegen …
»Katti Tamer, Ärztin und Exobiologin, Abschied …«
Ich war einen endlosen Strand entlanggegangen. Verbittert, konzentriert, bereit, ein Schiff zu stehlen und nach Hause zurückzukehren.
Katti hatte den Schritt ins Feuer getan.
»Du hast es also nicht gewusst …«
Niki Rimer, Regressor der Geometer, der am Boden meines Gedächtnisses schlief, wachte auf und fing an zu schreien. Lautlos, so dass nur ich allein diesen Schrei zu hören vermochte.
Big ließ den Blick über die Kinder schweifen. Zusammengekauerte, verängstigte Gestalten. »Also, Jungs«, sagte er. »Lasst mich auch etwas über die Freiheit sagen. Meist sind das nur schöne Worte. Man kann immer sagen, es gibt zu wenig Freiheit, man müsste mehr davon haben … Nur muss man dann eben auch Kummer und Tod hinter sich lassen.«
»Daran seid ihr doch schuld.«
»Wir?«
»Euer Planet … Katti … sie hat es nicht ertragen … dass Niki lebt und zugleich tot ist …«
»Wie leicht du es dir machst, Pjotr! Der Ausbilder Fed hat nicht durchgehalten und ist gestorben. Katti hat es nicht ertragen und ist aus dem Leben gegangen. Aber dich trifft keine Schuld.«
Nik Rimer in mir verstummte. Er schrumpfte zusammen, versteckte sich … klammerte sich an die letzten kleinen Inseln seiner Seele.
»Als ich erfahren habe, dass der vermisste Scout wieder da ist, dass er in das Gebiet über dem Internat vordringt und an Bord den Regressor Rimer meldet, da habe ich verstanden, wo ich dich suchen muss. Dich … und nicht den im Kampf gestorbenen Nik. Der Verbrecher kehrt an den Tatort zurück. Das wusste ich – und deshalb habe ich dich gefunden.«
»Und was geschieht jetzt, Big? Du hast mich gefunden. Du hast unser Gespräch belauscht. Und weiter?«
»Du bringst nur Kummer, Pjotr. Du bist in unsere Welt gekommen, ohne dass wir dich darum gebeten oder dich eingeladen hätten. Noch dazu … mit diesem Ding.«
Ich betrachtete den Samen.
»Du wirst ihn nicht benutzen«, sagte Big. Absolut gelassen und fest. »Du würdest es gar nicht können. Du bist nicht aus unserer Welt. Der Schatten kommt nicht mit Gewalt zu einem, und das war das Einzige, was uns gerettet hat. Glaubst du etwa, du bist der Erste, der ein solches Geschenk erhalten hat? Nein, Pjotr, auch ich habe schon einen solchen Samen erhalten. Willst du wissen, wo er jetzt ist? Er ist in den Strahlen Des Mütterchens verbrannt. Ich habe gewusst, dass wir den Schatten nicht brauchen. Deshalb konnte ich mich von diesem Geschenk auch wieder trennen. Auch ich bin durch die Tore des Schattens gegangen, Pjotr. Ich weiß nicht, wie viele Planeten du gesehen hast, ich selbst war auf zwölf Welten. Und sie alle hielten nur Dreck und Schmerz für mich bereit. Es waren Welten, die Hilfe brauchten. Irgendwann werden wir sie auch leisten können.«
Aber sicher!
Nik Rimer – und ich mit ihm – hatte nur Bigs Weg wiederholt. Und jeder stieß im Schatten nur auf das, worauf er zu stoßen wünschte. Der Kommodore Big fand ein Betätigungsfeld für Einmischung, einen Ort, dem Freundschaft gebracht werden musste.
»Das Internat ist isoliert, Pjotr. Völlig. Ich bin allein gekommen, denn ich glaube, du bist vernünftig genug, um auf jeden Widerstand zu verzichten. Gewiss, du hast deine speziellen Möglichkeiten … Aber du wirst hier trotzdem nicht rauskommen.«
»Und was ist mit dem Falschen Axiom von Riz?«, schrie Till.
Big sah den Jungen wohlwollend an. »Hier muss man vom Prinzip des Geringeren Übels ausgehen.«
Na siehst du, Till, habe ich es dir nicht gesagt?
»Du hast dich tapfer geschlagen, Pjotr. Aber jetzt ist dein Spiel aus. Und zwar nicht, weil wir stärker sind, sondern weil wir die Wahrheit auf unserer Seite haben. Es fehlt dir am Glauben, nicht wahr? Du bist auch nicht begeistert vom Schatten. Also sollten wir darauf verzichten, die Zahl der Fehler zu vergrößern.«
Er stand auf, seufzte und streckte die Hand aus. »Gib mir den Samen. Er gehört dir nicht, Pjotr. Und du könntest die Tore in unserer Welt sowieso nicht aktivieren.«
»Wovor hast du dann solche Angst, Big?«, fragte ich.
»Vor deinen Fehlern. Vor neuen Opfern. Du hast schon zu viel Böses angerichtet, Pjotr. Du hast diesen Jungen hier deine Seite der Wahrheit präsentiert, deinen Blick auf unsere Welt. Auf eine harte, zynische Weise.«
»Habe ich damit den Samen des Zweifels gesät?«
Das verstand Big nicht. Es war eine Wendung von uns auf der Erde, wörtlich in die Sprache der Geometer übertragen.
»Jetzt müssen sich die besten Ausbilder Der Heimat dieser Kinder annehmen.«
»Keine Sorge, ihr werdet es schon schaffen. Ich nehme an, ihr habt auch Sanatorien für Kinder.«
»Du bist ein Zyniker, Pjotr. Aber dann denk wenigstens an deine eigene Welt! Schließlich sind wir voneinander abhängig und müssen miteinander auskommen. Wir müssen Freunde werden, Kämpfe austragen und nach Glück streben. Lass es uns so machen: Du gibst mir den Samen. Er wird vernichtet werden. Und wir beide begeben uns gemeinsam zum Zentrum der Fernaufklärung. Wir reden über deine Rasse, darüber, was wir einander geben können. Halte uns nicht für dogmatisch, Pjotr. Wir müssen eure Welt nicht unbedingt ins Steinzeitalter zurückwerfen. Wir können auch …«
Er brannte ein wahres Feuerwerk an Möglichkeiten, Vorschlägen und Alternativen ab. Beziehungen zwischen gleichberechtigten Partnern, Freundschaft, Hilfe … schließlich wird die Erde momentan von anderen Rassen völlig unterjocht … All das, was mir mein Großvater schon gesagt hatte, als er mir vorschlug, das kleinere Übel zu wählen. Die Welt der Geometer sei nicht statisch, sie entwickle sich. Ob sie denn so schlecht sei? Und ob ich mich dafür verbürgen könne, dass die Erde nach gerechteren Gesetzen lebe?
Ja, vielleicht hast du in gewisser Weise sogar recht, Big. Eure Welt sucht sich ihren Weg. Genauso unbeholfen wie unsere, aber immerhin widersetzt sie sich dem Schatten mit seiner gleichgültigen Laissez-faire-Haltung.
Und ich habe wirklich kein Recht, euch in den Schatten zu treiben, vor dem ihr so verzweifelt geflohen seid. Denn in mir steckt nicht dein Glaube, der dafür jedoch nötig wäre.
Alles, was er jetzt sagte, war im Grunde gar nicht für mich gedacht. Ich würde ihm sowieso nicht entkommen.
Aber ich musste mich ergeben und meinen Fehler vor diesen Jungen eingestehen, denen ich hatte weismachen wollen, ihre Welt sei unvollkommen.
»Gehen wir … gehen wir, Niki …«
Das hätte er lieber nicht sagen sollen. Er verzog das Gesicht, als wollte er sich für seine Worte entschuldigen. Aber Nik Rimer in mir erschauderte und kam heraus.
»Der Altruist Big«, sagte ich. »Warum hast du etwas gegen diesen Spitznamen? Schließlich nennen wir dich mit gutem Grund so. Du hast immer auf den besten Entscheidungen bestanden, den geringsten Verlusten, und Geduld gegenüber fremden Bräuchen gefordert. Aber deinen Spitznamen magst du nicht …«
»Pjotr!«
»Nik. Nik Rimer. Du hast recht, Pjotr Chrumow kann für unsere Welt keine Entscheidung treffen. Aber ich, ich schon.«
Nik Rimer warf den Samen hoch. Er warf ihn hoch – und fing ihn wieder auf. Der Feuerball sprühte spitze Funken.
»Du hast recht, Big, ein einfacher Mensch kann diese Entscheidung kaum treffen. Die Entscheidung, die ganze Welt zu ändern. Für diese normalen Menschen gibt es den Schatten. Aber wir sind ja schließlich Regressoren. Wir sind daran gewöhnt, für ganze Welten zu entscheiden. Das ist ein bemerkenswertes Gefühl, nicht wahr?«
Ich wartete die ganze Zeit, dass Big auf mich losstürzte. Denn er hatte gewaltsame Entscheidungen niemals gemieden, sein Altruismus hatte ihm diesen Weg durchaus nicht versperrt. Aber noch glaubte er einfach nicht, Nik vor sich zu haben.
»Ob wir deshalb vor dem Schatten geflohen sind? Nicht nur, weil die fremden Welten, die nach ihren eigenen Bräuchen leben, eine Beleidigung für uns darstellen. Sondern einfach weil im Schatten … jeder entscheidet … wenn auch nur für sich selbst.«
»Tu das nicht, Niki! Fall nicht in deine kindliche Rigorosität zurück. Die Heimat braucht den Schatten nicht.«
»Wir sind längst im Schatten untergegangen, Big. Wir alle. Seit dem Tag, als das Wort eines Älteren für uns zum Gesetz geworden ist. Seit wir uns daran gewöhnt haben, den Ausbildern vorbehaltlos zu glauben … seit wir in den Lehrern Götter erkannt haben, seit wir in jedem, den wir trafen, einen Freund gesehen haben und jeden Stern als Herausforderung auffassten. Wir haben dafür gesorgt, dass unsere Blindheit ewig währt. Aber ich ertrage nichts, was ewig währt, Big! Neulich, vor gar nicht langer Zeit, habe ich meinem Schiff ein Gedicht vorgetragen. Willst du es auch hören, Big? Als Zuhörer taugst du nicht weniger als mein Schiff, trotzdem habe ich dir nie meine Gedichte vorgetragen …«
Big schwieg. Doch Nik Rimer, der seine Gedichte niemals, seit seiner weit zurückliegenden Kindheit nicht, anderen vorgetragen hatte, fing an:
»In der Jugend
scheint die Kindheit fern
dem Heranwachsenden verhasst
und er will ihre Stimme nicht hören
die Stimme der Kindheit
das bin nicht mehr ich sagt er
das ist ein kleiner Junge der nicht weiß was er sagt
aber der Kleine sagt stets was er weiß
selbst und zumal wenn er schweigt
Der Heranwachsende wird älter
nicht alle Schreie hat er abgewürgt
nicht jedes Lachen jede Träne erstickt
Die Pädagogen
wollen ihn ins große Einerlei stoßen
er will nicht im Gleichschritt denken
er will nicht auf Befehl träumen
er will die Kindheit.«
Nik Rimer lachte, er zwinkerte dem Jungen Till zu.
Der Samen stieg abermals in die Luft auf. Big behielt ihn im Auge, bereit vorzustürzen, sollten der wahnsinnige Nik und der Alien Pjotr, die nun zu einer Person verschmolzen waren, ihn auf den Boden fallen lassen. Denn genau darin bestand wohl die symbolische Handlung, die den Samen zum Keimen brachte: Er musste auf den Boden fallen.
Pjotr Chrumow fing den Samen wieder auf.
Nik Rimer ließ ihn auf den Boden fallen.
Die Feuerkugel tauchte Funken sprühend in den zotteligen »Strohteppich« ein.
Eine zweite hielt ich fest in der Hand.
Big sank auf die Knie und streckte die Hand nach dem Samen aus. Es knisterte, als er den Stoff des Teppichs zerriss. Der glänzende, glatte Fußboden war sauber. Kein Samen war zu sehen. Nirgends.
Da gab es nur ein kaum wahrzunehmendes Etwas, das durch den Stein wuchs und durchs Plastik, durchs Metall und Holz, durch Die Heimat von Nik und Big, von Tag und Han, von Katti und Fed. Es durchdrang den Planeten, warf ihm ein dichtes Netz aus Toren über.
»Leb wohl, Niki«, flüsterte ich. »Leb wohl, Nik Rimer. Du hast deine Pflicht erfüllt.«
Nik Rimer verschwand zusammen mit seinem Samen. Er war in Die Heimat zurückgekehrt, die nun zu einem Planeten des Schattens wurde. Er war für immer zurückgekehrt.
»Was hast du getan! Das lässt sich nicht rückgängig machen, Rimer!«
»Das hat er gewusst«, bestätigte ich. »Er hat es lange vor sich hergeschoben. Aber das ist die Wahl, die er getroffen hat, Kommodore Big.«
Big stand auf. Er befand sich bereits in dem winzigen, langsam wachsenden Fleck des Tors. Mit ihm passierte rein gar nichts, was mich nicht wunderte. Der Kommodore Big liebte Die Heimat so, wie sie war. Und genau so liebte ja auch ich die Erde.
»Geht sofort hier raus, Kinder«, flüsterte er. »Es werden alle in die Kuppel evakuiert. Rasch!«
Durch die Tür drang Lärm herein. Es stimmte, Big war allein zu uns ins Zimmer gekommen – aber man hatte alles, was hier geschehen war, beobachtet. Inzwischen tobte bereits das Chaos im Internat!
Und was erst noch alles auf der komfortablen, einmütigen, starken Heimat losbrechen würde!
»Geht raus, Kinder!«, schrie Big, ohne seinen hasserfüllten Blick von mir zu lösen.
Ja, begriff er denn nicht, was er da verlangte? Das Tor nahm bereits die ganze Zimmermitte ein. Um hinauszugehen, mussten die Jungen durch das Tor hindurchgehen. Vielleicht würde ihnen das ja sogar gelingen.
Ich hielt das jedoch kaum für möglich. Till, Grik, Fal und Laki, passt jetzt gut auf! Entscheidet! Denn ihr spürt das Tor doch schon.
Also ruft es euch.
»Du wirst das zu verantworten haben«, sagte Big. »Vielleicht habe ich unrecht … vielleicht werde ich bestraft, aber du wirst dich dafür verantworten müssen! Du kommst hier nicht weg!«
Er glaubte anscheinend wirklich, er könne mit mir fertig werden. Verwunderlich war das nicht. Regressoren kriegen schließlich einiges beigebracht.
Ich lachte und trat einen Schritt vor, direkt in die Mitte des Tors. Die Welt hüllte sich in ein weißes Licht.
»Glaubst du das wirklich, Big? Da irrst du dich aber gewaltig!«
Und die Welt der Geometer wurde weggespült, verschwand im Schatten.
Bildete ich mir das nur ein oder hörte ich die Stimme Nik Rimers, die beinahe meine eigene Stimme war? Eine leise, ferne Stimme:
»Und das Gedächtnis
wie ist es beschaffen das Gedächtnis
wie sieht es aus
wie wird es später aussehen
das Gedächtnis
Vielleicht war es grün wegen der Ferienerinnerungen
vielleicht ist es inzwischen ein großer blutiger
Weidenkorb mit einer kleinen gemordeten Welt darin
und einem Etikett mit dem Wort Oben
mit dem Wort Unten
sowie dem Wort Zerbrechlich in großen roten
Buchstaben
in blauen Buchstaben
oder malvenfarbenen
warum nicht malvenfarbenen
möglicherweise auch grauen oder rosigen
schließlich habe ich jetzt die Wahl.«
Triff deine Wahl, Nik Rimer. Denn von heute an hast du das Recht zu wählen – für alle Zeiten.
Im Unterschied zu mir. Jeder Gang durch das Tor bedeutet eine Erfassung. Und diesmal konnte ich mich selbst verstehen.
Sie hatten auf mich gewartet. Sie hatten einfach auf mich gewartet, die beiden Tage, an denen ich nicht da war. Jeder Logik zum Trotz und obwohl es sich um den Regressor Nik Rimer gehandelt hatte, der von ihnen weggegangen war, Pjotr Chrumow mit sich ziehend und ihnen den Samen stehlend.
Sicher, im Grunde war ihnen keine andere Wahl geblieben. Sie hätten nicht einmal das Schicksal der Erde teilen können, da wir ja alle bereits durch ein Tor gegangen und zu einem Teil des Schattens geworden waren. Wie seltsam sich das gefügt hatte: Obwohl wir den Schatten nicht wollten, ihn ablehnten, waren wir dazu verdammt, sein entscheidendes Geschenk zu akzeptieren. Die nie endende Wahl. Trotzdem hätte ich das nicht gekonnt. Ich hätte es nicht fertiggebracht zu warten – wenn ich nicht mehr an die Rückkehr glaubte.
Ich war ja immerhin unterwegs gewesen. Ohne zu glauben, ohne zu hoffen – aber wenigstens hatte ich mich bewegt.
Ich kletterte den Hang hinunter, hielt auf jene Stelle zu, wo im Sternenschatten die Facetten des Schiffs der Liga funkelten. Es lag auf dem Boden und erinnerte an ein schlafendes Tier, an ein Tiefseemonster am Meeresgrund. Das Schiff kam mir fremd vor, es sprach nichts in meiner Seele an. Ein totes Stück fremden Eisens.
Die Figuren der Menschen, die am Lagerfeuer saßen, boten mir den einzigen Orientierungspunkt, auf den ich mich zubewegen, den ich spüren konnte.
Selbstverständlich brannten sie kein Holz ab. Auf dem Irrstern des Schattens gab es kein Leben, würde es wahrscheinlich auch nie welches geben. Schließlich musste es doch wenigstens eine Welt ohne die geringste Spur von Leben geben. Das Lagerfeuer mit seiner gleichmäßiger Flamme nährte sich von weißen, gleich aussehenden Stangen. Anscheinend mochte auch die Handelsliga ein lustiges Feuerchen.
Ich setzte mich zu ihnen und streckte die Hände zum Feuer aus.
»Wer bist du diesmal?«, fragte mein Großvater.
Unsere Blicke trafen sich.
»Nik Rimer ist fortgegangen. Endgültig.«
Mein Großvater nickte. »Und du? Wer bist du?«
»Dein Enkel, Großvater.«
Ich betrachtete ihre Gesichter. Wahrscheinlich war es nur gerecht, dass ich sie verraten, sie verlassen hatte, fortgegangen war – und zurückgekehrt.
Wenn sie mir verzeihen, wären wir quitt.
Mein Großvater umrundete das Feuer, setzte sich neben mich und legte den Arm um mich. »War es sehr schwer, Pit?«
Ich nickte. Ja, das war es gewesen. Natürlich. Einen fremden Traum zu morden, ist immer schwer. Vor allem wenn es auch deiner war … teilweise.
»Die Geometer sind im Schatten, Großvater. Nik Rimer hat es so entschieden.«
Mascha kam zu uns und legte mir die Hand auf die Schulter. »Und, Petja? Hat sich der Samen wieder geteilt?«
»Ja.« Ich ließ die Feuerkugel über meine Hand rollen. »Genau das hat er getan, er hat sich geteilt.«
Der Zähler ging direkt durchs Feuer. Er hielt es nicht länger für nötig, uns etwas vorzuspielen. Er legte sich zu meinen Füßen hin und hob das dreieckige Gesicht. »Frag den Cualcua, Pjotr. Wie viel Zeit bleibt uns noch?«
»Keine«, antwortete ich unbekümmert. »Gar keine. Die Starken Rassen sind bereits zusammengekommen, um eine Entscheidung zu treffen. Wir schaffen es nicht mehr rechtzeitig. Unter gar keinen Umständen. Niemand kann sich im Bruchteil von Sekunden durch den Raum bewegen. Bevor wir die Zitadelle erreichen, werden die Starken Rassen die Erde vernichtet haben und über die Geometer hergefallen sein. Sie tun mir wirklich leid. Sie haben es sowieso schon nicht leicht.«
»Warum müssen wir zur Zitadelle?« Mein Großvater runzelte die Stirn. »Willst du etwa vor die Starken Rassen treten und ihnen klarmachen, was für nette Kerle wir sind?«
»Ich weiß, dass das dumm ist. Aber zur Erde kommen wir auch nicht schneller. Und was könnten wir da schon ausrichten?«
»Aber der Samen …«
»Nimm ihn!« Ich legte den Samen in die Hand meines Großvaters. »Bringst du es vielleicht fertig, die Erde dem Schatten zu übergeben?«
»Nein. Aber schließlich hast du ihn ja auch bekommen!«
»Nein, Großpapa, nicht ich habe ihn bekommen. Den ersten hat Nik Rimer erhalten, der für seine Heimat keinen anderen Ausweg gesehen hat. Und den zweiten … den hat sich der Cualcua genommen. Das war ein völlig natürlicher und unkomplizierter Schritt für ihn. Je größer der Raum ist, umso besser für ihn.«
Nur Danilow schwieg und betrachtete mich von der anderen Seite des Lagerfeuers. Er schien enorm gealtert, der Abgott der Transaero. Hohlwangig und bleich, als seien alle Kräfte aus ihm herausgepresst worden.
Dafür nickte er als Erster, um zu signalisieren, dass er verstanden habe.
»Der Schatten kommt zu denjenigen, die ihn wollen«, erklärte ich geduldig. »Niemand von uns ist imstande, ihn anzunehmen. Denn wir haben viel zu viele schreckliche Welten in dieser Lotterie gewonnen. Und selbst wenn wir den Samen zur Erde bringen, wird er nicht wachsen. Wir sind einfach nicht in der Lage, ihn keimen zu lassen.«
»Bist du dir sicher?«
»Ja, Großpapa, das bin ich!«
»Dann ins Schiff!« Mein Großvater sprang auf. Seine Bewegungen wirkten überhaupt nicht mehr ungeschickt, er hatte sich inzwischen an den neuen Körper gewöhnt.
»Wir schaffen es nicht«, erinnerte ich ihn müde. »Verstehst du das denn nicht? Noch bevor wir eintreffen, werden die Starken Rassen die Entscheidung fällen, dass …«
»Aber wir können doch nicht einfach hier rumsitzen!« Mein Großvater warf mir den Samen zu, und ich fing ihn auf. »Wie kannst du nur …«
»Wartet!« Danilow erhob sich. »Du hast vielleicht recht, Pjotr. Wir werden es nicht schaffen. Und Andrej Valentinowitsch hat auch recht. Aber wenn es mit dem Transport nicht klappt, dann vielleicht mit einer Verbindung?«
»Was denn für eine Verbindung?« Mein Großvater winkte ab.
Ich hatte jedoch verstanden.
Cualcua?
Er schwieg, mein treuer Gefährte und Gehilfe, der sich herabgelassen hatte, mir bei ein paar Nichtigkeiten behilflich zu sein, beispielsweise jemanden zu töten oder im Schnee zu schlafen. Mein Symbiont, der jede aktive Handlung ablehnte. Ein Partikel eines uralten Verstands, der in jenen Welten des Schattens lebte, die seit Langem die menschliche Existenzform hinter sich gelassen hatten. Er schwieg, denn er wusste, was ich verlangen würde.
»Cualcua!«, schrie ich. Der Wechsel von dem dumpfen Fatalismus, mit dem ich aus dem Tor zum Feuer gestiefelt war, zu dieser letzten wahnsinnigen Hoffnung erfolgte viel zu abrupt.
Ich kann mich nicht einmischen. Das ist undenkbar. Wir dienen allen, aber nur, wenn es um Kleinigkeiten geht. Wir reparieren Reaktoren, bringen Raketen an ihr Ziel, dolmetschen …
»Dann dolmetsche, du Mistkerl! Etwas anderes verlange ich von dir ja gar nicht! Ich bitte dich nicht, das Geschwader aufzuhalten, das die Erde angreifen will, ich fordere nicht von dir, die Starken Rassen einzuschüchtern! Du sollst nur dolmetschen! Das tun, was du immer tust!«
Für die Starken Rassen dolmetschen? Zwischen euch liegt die halbe Galaxis!
Spielt das für dich wirklich eine Rolle?
Für mich nicht. Suchst du derart verzweifelt nach einer Möglichkeit, deinen Planeten zu retten?
Ja!
Gut. Dann versuche ich es. Ich werde … ich werde für dich dolmetschen.
Es war, als würde ich ausgeknockt. Ein Moment absoluter Leere, als der Cualcua sein zersplittertes Bewusstsein, das im ganzen Universum verteilt war, umstülpte. Mit gebotener Vorsicht gewährte er mir Zugang zu etwas, das er bislang vor allen Außenstehenden abgeschirmt hatte.
Dann sah ich Licht.
Nein, ich sah es nicht, dazu fehlten mir die Augen, ich spürte es. Der Cualcua suchte mir meine Körperteile aus und schuf mich neu. Denn jetzt befand ich mich nicht mehr auf dem Irrstern im Kern, sondern in der Welt, die wir die Zitadelle nennen.
Warum eigentlich?
Ich stand vom Boden auf. Es war fremde Erde, fremdes Gras, ein harter und kurzer blauer Borstenteppich, der da unter mir lag. Ich war nackt, mein Körper kam mir fremd vor … und das war er auch. Natürlich hatte mich der Cualcua nicht durch den Raum gebracht. Er hatte mich lediglich kopiert.
Du musst doch sehen, mit wem du sprichst. Und die Starken Rassen sollen auch sehen, mit wem sie es zu tun haben.
Die Ironie in den Worten des Cualcua ließ sich kaum fassen. Mittlerweile hatte ich jedoch gelernt, sie zu bemerken und zu schätzen wie ein einsames Goldkörnchen im Flusssand.
»Vielen Dank«, sagte ich tonlos, während ich vor die Starken Rassen trat.
Am Himmel leuchtete keinesfalls die Sonne. Nein, es war ein Torpp, ein Vertreter der seltsamsten und wahrscheinlich stärksten Rasse des Konklaves. Ein intelligenter Plasmoid, eine zehn Kilometer große Wolke reiner Energie, die Kraftfelder wie ein Korsett zusammenhielten. Manche vermuteten, es seien die Torpp, die im Konklave eigentlich das Sagen hatten. Andere hingegen hielten sie für hirnlose Sklaven der organischen Rassen. Ich hätte nicht zu sagen gewusst, was stimmte, aber wahrscheinlich waren sie nicht besser oder schlechter als wir. Es waren einfach lebende Sonnensplitter … Der Torpp schwebte irgendwo außerhalb der Atmosphäre, leuchtete aber nicht schwächer als das Gestirn der Erde. Aufweiche Weise er die Vorgänge auf dem Planeten wahrnahm, vermochte ich mir kaum vorzustellen.
Hier, in dieser endlosen Ebene, hatten sich die Vertreter aller anderen Starken Rassen versammelt. Acht Rassen hatten einen organischen Körper. Der Raum war unterteilt worden, rauchige Wände gliederten ihn in Sektoren – die alle unterschiedliche Maße hatte. Das allein wäre bereits eine verblüffende Entdeckung für jeden Diplomaten von der Erde. Gab es etwa auch noch innerhalb der Starken Rassen eine Hierarchie?
Da drüben waren die Hyxoiden. Sechs oder sieben Individuen, mit der purpurroten Bemalung der intellektuellen Elite. Allgemein glaubte man, die gebürtigen Hyxoiden seien nicht besonders intelligent, aber auch die Cualcua wurden ja in der Regel für hilflose Missgeburten gehalten …
Ein Daenlo. Ein einziges Wesen. Sein Rumpf war größer als der eines Nashorns, ansonsten konnte man ihn aber gut mit diesem Tier vergleichen. Allerdings saß auf dem Maul kein knöcherner Auswuchs, sondern eine Krone aus langen, beweglichen Tentakeln.
Die Jentsh … Die Jentsh? Gehörten diese verhärmten Ingenieure, die wie alptraumhafte Hybride aus einer Biene und einem Affen aussahen, etwa auch zu den Starken Rassen? Nein … das konnte nicht sein … wahrscheinlich nur eine äußerliche Ähnlichkeit … oder doch nicht?
Die runde Fläche, in der ich stand, war ebenfalls solide durch rauchende Wände von den übrigen Sektoren abgetrennt. Ich machte noch fünf weitere nicht-menschliche Wesen aus, aber sie repräsentierten Starke Rassen, von denen man auf der Erde noch nicht einmal gehört hatte. Uns waren lediglich die Bezeichnungen von zwei dieser Rassen bekannt – aber die würden wir wohl nie identifizieren können.
Ich war nicht allein in dem Kreis. Neben mir stand ein Alari. Das schwarze Fell war gesträubt, an seinem Hals pulsierte der formlose Klumpen des Cualcua, der als Dolmetscher fungierte. Es war komisch, an einen Cualcua in der dritten Person zu denken, da ich doch im Moment selbst sein Produkt war. Ob sich der Cualcua, der meinen Körper geschaffen hatte, aus ebendiesem Klumpen abgespalten hatte?
»Kommandant des rot-violetten Geschwaders«, sagte ich, »ich bin zum Rapport gekommen.«
Vielleicht hatten diese zu groß geratenen Mäuse allesamt Nerven aus Stahl, vielleicht besaß nur der Kommandant besonders kräftige. »Rechtzeitig«, erwiderte er nur.
Der Torpp am Himmel leuchtete heller. Vermutlich herrschte hier gerade Nacht, vielleicht hatte man aber auch extra auf die Nacht gewartet, damit diese Starke Rasse, die nicht in der Lage war, sich auf den Planeten zu begeben, gesehen werden konnte.
Warum nannten wir diesen Planeten eigentlich Zitadelle? Bis zum Horizont erstreckte sich eine Ebene, die geradezu glatt geschliffen wirkte. Nur in der Ferne ließ sich der Kegel eines einsamen Berges erkennen. Verteidigungsanlagen, zyklopische Gebäude oder andere Elemente einer Festung der Kräfte des Konklaves fehlten völlig.
Der einzelne Daenlo setzte sich in seinem Sektor in Bewegung. Er stapfte nach vorn, wobei sich der nebelhafte Rauch vor ihm auftat und hinter ihm wieder schloss, nachdem er zusammen mit dem Alien eine Welle strengen würzigen Geruchs durchgelassen hatte.
»Du sprichst im Namen der Schwachen Rasse der Menschheit?«
Auch er griff auf einen Dolmetscher zurück. Bei ihm baumelte der Cualcua am Rist.
»Ich spreche im Namen der Menschheit«, entgegnete ich. »Ich bin Pjotr Chrumow.«
»Wir kennen dich. Der Cualcua hat uns mitgeteilt, er würde als Vermittler auftreten und uns dein Bild übermitteln. Ansonsten würde von dir hier nämlich nichts als Asche bleiben. Der Torpp schläft nicht.«
Unwillkürlich sah ich zum Himmel hinauf, zu der in die Augen stechenden Feuerwolke. Ich glaube, auch die Augen des Daenlo – flache, gleichsam verspiegelte Augen schielten hinauf.
»Ich werde einige Fragen stellen. Aufgrund meines Amts als Beauftragter für die Schwache Rasse der Menschheit. Die Hyxoiden haben mich mit allen Vollmachten ausgestattet, da sie zu empört sind, um angemessen reagieren zu können.«
Die Hyxoiden sahen überhaupt nicht empört aus. Eher verwirrt. Dennoch widersprach ich nicht.
»Ich werde dir auf alle Fragen antworten, Beauftragter für die Menschheit.«
»Hast du die Definition der Menschheit als Schwache Rasse bewusst weggelassen?«
»Ja, Daenlo. Ganz bewusst. Denn diese Schwache Rasse hat – genau wie drei andere Rassen, die nicht weniger schwach sind – schon recht viel fürs Konklave geleistet.«
»Das zu sagen, wagst du nur, weil du so weit weg bist.«
Die Krone aus Tentakeln richtete sich in meine Richtung aus und schlang sich um meinen Körper. Kurz darauf zog sie sich wieder zurück, über die Erde schlingernd und aufgerissene Grasstreifen hinterlassend.
»Aber wir haben nun einmal großes Interesse an deinem Bericht. Vor allem daran, warum die Cualcua ihren Gleichmut aufgegeben haben. Warum helfen sie dir?«
Mehr wollte er nicht wissen?
Was für eine kinderleichte Frage.
»Ich muss weit ausholen, um diese Frage zu beantworten, weiser Daenlo, Beauftragter für die Menschheit, denn ich kenne die Antwort nicht. Aber vielleicht findet ihr sie.«
»Wir haben Zeit, Mensch Pjotr Chrumow. Also sprich! Wenn Präzisierungen nötig sind, werde ich nachfragen. Sprich!«
Die Daenlo waren in gewisser Weise genauso behäbig wie die Nashörner bei uns auf der Erde, deren Karikatur sie abgaben. Sie konnten jedoch auch genauso wütend werden.
»Alles hat auf Hyxi-43 begonnen, Daenlo. Ich befand mich auf dem Rückflug von einem Auftrag. Nachdem ich den ersten Jump hinter mir hatte, hörte ich im Cockpit ein Geräusch. Wie sich herausstellte, stammte es von einem Zähler …«
»Ein Zähler hat den Jump überstanden?«
Das ließ ihn nicht gleichgültig!
»Ja, Daenlo. Er hat den Jump überstanden und ist nicht wahnsinnig geworden. Aber ich erzähle lieber alles der Reihe nach.«
»Sprich!«
»Der Zähler hat mir gesagt, dass er Andrej Chrumow treffen muss … meinen Großvater …«
Die Fangarme holten aus. »Andrej Chrumow ist der Mensch, der dem Konklave unnötige Grausamkeit vorwirft?«
»Ja.«
Wie schade, dass mein Großvater nicht hier war. Es hätte ihn gefreut zu hören, welcher Ruf ihm vorauseilte.
Ich hatte ja gewusst, dass mir eine lange Nacht bevorstand – aber ich hatte nicht angenommen, dass sie so lang werden würde …
»Wir wollten mit den Geometern kein Bündnis eingehen.«
»Warum nicht? Diese Rasse ist identisch mit eurer. Damit ist sie euer natürlicher Verbündeter.«
»Ihre Moral ist nicht weniger grausam als die des Konklaves.«
»Glaubst du also auch, dass wir grausam sind?«
Ich schaute in die flachen Augen.
»Ja, Daenlo, Beauftragter für die Menschheit.«
Die Nacht verstrich, und über der Zitadelle ging die Sonne auf. Ein trüber, ferner roter Stern. Neben dem strahlenden Koloss des Torpp nahm er sich wie ein Irrtum aus.
»Der Kommandant der Alari hat mich in den Rang eines Offiziers erhoben«, fuhr ich fort, »damit er mich beauftragen konnte, den Kern zu erkunden.«
»Damit hat er seine Kompetenzen überschritten«, hielt der Daenlo fest. Nach kurzem Schweigen erklärte er jedoch mit unverändert gelangweilter Stimme: »Ich habe mich geirrt. Der Kommandant einer unabhängigen Kampfeinheit darf Erkundungsmissionen durchführen und dafür Vertreter der Schwachen Rassen rekrutieren. Kommandant, du bist rehabilitiert. Du kannst den Kreis der Anklage verlassen.«
Die schwarze Maus neben mir bewegte sich. »Starker Daenlo, als sein Vorgesetzter muss ich bei dem Verhör des Menschen Pjotr Chrumow anwesend sein.«
»Du darfst bleiben. Dir wird Nahrung und Wasser gebracht.«
Um mein leibliches Wohl war man nicht in dieser Weise besorgt. Allerdings hatte der vom Cualcua geschaffene Körper auch keinen Bedarf an Nahrung. Ich erzählte alles. Die Sonne versank schon wieder am Himmel. Der Torpp trieb über den Himmel, vielleicht langweilte es ihn, dem zähen Gespräch organischer Wesen zu folgen.
»Ein Mann der Rasse der Geometer, Nik Rimer, hat seinen Planeten in den Schatten geführt …«
»Heißt das, der Planet der Geometer ist von nun an geschützt?«
Eine gute Frage. »Sie waren nie ungeschützt«, antwortete ich achselzuckend. »Aber jetzt … An Stelle der Starken Rassen würde ich die Geometer jetzt nicht angreifen.«
»Ist das ein Rat – oder eine Drohung?«
»Ein Rat.«
»Gut. Fahr fort!«
Als ich zum Ende kam, senkte sich die Nacht ein zweites Mal herab. Ich weiß nicht, ob die anderen Aliens zwischendurch einmal schliefen. Der Daenlo jedenfalls hatte mich keine Sekunde allein gelassen.
»Sag uns, was die Rasse der Cualcua mit ihrem Samen für die Tore vorhat!«
»Ich weiß es nicht …«
»Frage den Cualcua!«
Begriffsstutzig glotzte ich den Daenlo an, dessen Widerrist ja ein amorpher Sack zierte.
»Sie sprechen nie mit uns. Seitdem ihre Welt zerstört und der Kosmos ihr Zuhause wurde. Sie dienen uns, aber sie antworten uns nicht. Frage ihn!«
Ich erzitterte, als ich seine Worte begriff. Die Rasse der Cualcua hatte keinen Planeten mehr, zu dem sie den Samen hätte bringen können. Sie lebten überall … in jeder Welt des Konklaves. Wer kam schon ohne die Dienste dieser kleinen Kamikazeflieger aus, dieser beflissenen Dolmetscher, dieser treuen Sklaven? Vielleicht die fünf Rassen, deren Leben nicht auf einer organischen Grundlage basierte …
Cualcua?
Sag ihm, dass ich es noch nicht entschieden habe.
»Er hat es noch nicht entschieden«, wiederholte ich. »Er hat es bisher noch nicht entschieden.«
»Das Konklave möchte nicht in den Schatten eintreten«, sagte der Daenlo. In einem Ton, als beschwere er sich bei mir. »Selbst wenn unsere Vorfahren aus dem Kern gekommen sind … wollen wir noch nicht in den Schatten eintreten. Frage ihn, wann er es entscheidet! Wie viel Zeit braucht er dafür noch?«
Frage ihn, was Zeit ist, antwortete der Cualcua.
»Er fragt, was Zeit ist, Starker Daenlo …«
Der Daenlo schwieg. Hat vielleicht deine Rasse die Welt der Cualcua niedergebrannt, Starker? Brauchte sie diese Welt womöglich nicht? Und wir lieben ja immer nur das, was wir brauchen …
Wie treffen sie ihre Entscheidung? Beraten sie sich? Stimmen sie ab … mit einer erhobenen Pfote oder einem erhobenen Fangarm, indem sie Protuberanzen wegschleudern oder Scheinfüßchen emporheben?
»Mensch Pjotr Chrumow, Vertreter der Menschheit, eure Handlungen sind über das hinausgegangen, was das Konklave den Schwachen Rassen erlaubt.«
Ist das mein Urteil?
»Aber deine Handlungen haben dem Konklave keinen Schaden zugefügt. Im Gegenteil …«
Der Daenlo verstummte.
»Mensch Pjotr Chrumow, sag dem Cualcua, dass wir erfahren haben, was wir erfahren wollten, und seine Dienste als Dolmetscher nicht länger benötigen. Die ursprüngliche Anklage gegen die Schwachen Rassen, die als Menschheit, Alari, Zähler und Cualcua bekannt sind, wird zurückgezogen. Wir werden eine Entscheidung treffen. Du bist frei.«
Ich schaffte es gerade noch, einen Blick auf den Alari zu werfen und ihm die Hand hinzustrecken. Vielleicht um mich zu verabschieden, vielleicht, weil ich den Kommandanten, der bis zum Ende bei seinem Offizier geblieben war, einfach berühren wollte.
Dann trübte sich die Welt auch schon ein. Der Cualcua hielt die Kopie meines Körpers nicht länger aufrecht.
Nun warteten einige Probleme mit meinem Originalkörper auf mich. Die Sterne leuchteten immer noch am Himmel des Kerns, die gleichmütigen und schönen Sterne, und in ihnen lag nichts, weder Provokation noch Liebe.
Es waren Sterne, mehr nicht.
Ich lag auf der Erde, eingehüllt in eine Art Decke. Neben mir brannte das Lagerfeuer, an dem drei reglose Figuren erstarrt waren.
Dem Zähler fiel als Erstem auf, dass ich wieder zu mir kam. Er eilte mit seinem flinken, lautlosen Gang auf mich zu und sah mir ins Gesicht.
»Es ist alles in Ordnung«, flüsterte ich, auch wenn ich es selbst nicht ganz glaubte. Meine Kehle war trocken, mein Körper schien aus Watte. Nur meine Hand, mit der ich den Samen fest umklammerte, war aus Stein. »Es ist alles gut, Karel …«
Jemand packte mich und half mir, mich aufzusetzen. Sie alle blickten mich genauso flehend und verlangend an wie der Zähler.
»Anscheinend … haben sie sich erst einmal abgeregt.« Ich versuchte zu lächeln. »Damit haben wir … eine Atempause. Sie müssen ihre Entscheidung erst noch treffen …«
Mascha reichte mir Wasser. Ich trank etwas und hörte auf das leise Geflüster des Cualcua.
Der Samen, Pjotr …
Was?
Lass ihn hier. Leg ihn neben das Feuer. Auch ich werde meine Entscheidung treffen.
Warum hilfst du mir so sehr? Cualcua?
Es ist eine erfolgreiche Symbiose gewesen.
Ich lächelte. Ich glaube, er spürte dieses Lächeln. »Sascha, Großpapa, helft mir aufstehen«, bat ich. »Ich habe diesen Himmel satt. Es wird Zeit, nach Hause zurückzukehren.«
»Glaubst du etwa, man wird uns da mit offenen Armen empfangen?« Danilow grinste finster. »Da wäre es ja wirklich besser, im Schatten zu bleiben … Für die eine Station, die wir zerstört haben, werden wir für sämtliche Misserfolge im Kosmos bezahlen müssen … angefangen bei der leidgeprüften Mir.«
»Warum jagt mir diese grandiose Aussicht eigentlich keine ebenso große Angst ein?«, fragte ich im Aufstehen. »Egal … Zum Glück habe ich ja einen Kumpel in Swobodny. Mit dem werde ich Tomaten ausfahren.«