Das rot-violette Geschwader der Alari. Hundert Schiffe, die an den Grenzen des galaktischen Konklaves Patrouille flogen.
Durch die durchsichtig gewordene Verkleidung betrachtete ich die am Himmel verteilten Lichter. Sobald ich ein Schiff länger ansah, wurde es größer. Die Technik der Geometer war wirklich hervorragend.
Aber kam es darauf an?
Es gibt Dinge auf der Welt, die stärker als Waffen sind: den Willen, die Geisteskraft, die Gewissheit, richtig zu handeln, der Zusammenhalt untereinander. Was konnte das Konklave schon gegen die Zivilisation der Geometer ins Feld führen? Reibereien und Streit, die angestaute Unzufriedenheit der Schwachen Rassen, die Selbstzufriedenheit und Arroganz der Starken Rassen. Das ganze labile Gleichgewicht würde im Handumdrehen zusammenbrechen. Und wenn dann noch die Regressoren mitmischen würden …
Kapitän, jemand zwingt uns einen Kurs auf.
»Dann lass uns gehorchen«, sagte ich.
Die Situation ist gefährlich.
»Es ist alles in Ordnung. Ich habe Anweisungen. Alles geschieht zum Wohl Der Heimat«, sagte ich kurz angebunden.
Das Erkundungsschiff, das Rimer gehört hatte, hatte ich am Ende doch nicht gefunden. Anscheinend war es doch zerstört worden. Sicherheitshalber. Vielleicht war es besser so. Gegenüber einem Computer, der sich einen Teil von Niks Gedächtnis, seine Art zu kommunizieren und seine Gedichte einverleibt hatte, hätte ich mich unwillkürlich wie gegenüber einem intelligenten Lebewesen verhalten. Mit diesem neuen Schiff, mit dem nie zuvor irgendjemand geflogen war, gab es diese Probleme nicht. Die Geometer hatten es fertiggebracht, sich verteufelt schlaue Bordpartner zu schaffen, zu selbstständiger Kommunikation und nicht standardisierten Reaktionen imstande, die dennoch Maschinen blieben.
Vermutlich hatten sie das ganz richtig gemacht. Schließlich dürfte es kein Zufall sein, dass nicht eine einzige Rasse des Konklaves – zumindest nicht in großem Maßstab – auf künstliche Intelligenz vertraute, sondern lieber auf die Dienste der Zähler, der Cualcua oder anderer hoch spezialisierter Wesen zurückgriff. Allein der Gedanke, ein neues intelligentes Wesen zu schaffen, einen möglichen Konkurrenten, hat etwas Erschreckendes. Aber galt das auch für die Geometer? Mit ihrem Hang zur Geschlossenheit und Freundschaft? Warum hatten sie diese Möglichkeit nicht genutzt? Ging am Ende doch jede Ideologie flöten, sobald der Überlebensinstinkt einer Rasse ins Spiel kam?
Die Situation ist sehr gefährlich, teilte mir das Schiff besorgt mit.
»Gehorche. Wir führen eine Mission der Freundschaft durch.«
Wie praktisch, wenn die Weltanschauung oberste Priorität genießt. Selbst wenn die Geometer damit gerechnet haben sollten, dass ein Schiff entführt werden kann, hatten sie ihm keine Zweifel erlaubt. Mit gedrosselten Triebwerken flogen wir mitten in das Geschwader, zum Flaggschiff. Es war erst eine Woche her, seit ich es zum ersten Mal gesehen hatte. Damals hatte die riesige Scheibe einen erbärmlichen Eindruck gemacht. Denn obwohl die Alari es geschafft hatten, ein Schiff der Geometer unbeschädigt und intakt in ihre Gewalt zu bringen, hatten sie enorme Verluste hinnehmen müssen. Jetzt sah das Flaggschiff wieder wie neu aus. Eine bedrohliche Kriegsmaschine, die keine Niederlage zu kennen schien …
Cualcua, dachte ich, haben deine Artgenossen bei der Reparatur geholfen?
Ja, erhielt ich lautlos Antwort. Wir haben in den heißen Bereichen geholfen.
Ist das denn nicht gefährlich für euch?
Doch. Na und?
Was für eine frappierende Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod. Dergleichen hatte ich noch nie erlebt. Diese Einstellung der amöbenartigen Wesen musste einen Grund haben, wenn auch bisher noch niemand wusste, welchen.
In der Mitte des Flaggschiffs öffnete sich eine Luke. Schleusen gab es keine, stattdessen hielt ein Kraftschild die Luft zurück. Wir fielen durch die Luke – und es erinnerte wirklich an einen Fall. Als die Gravitationsfelder der Schiffe in Wechselwirkung miteinander traten, wurde mir leicht schwindlig.
»Stell die Gravitation ab!«, befahl ich, als wir uns im Flaggschiff befanden. »Fahr alle Verteidigungssysteme runter! Öffne die Kabine!«
Diesmal gehorchte das Schiff widerspruchslos, als habe es sich darauf besonnen, dass ein Geköpfter nicht um die Haare weint. Das Cockpit öffnete sich, und ich nahm den leicht würzigen Geruch der fremden, nicht-menschlichen Umwelt wahr. Die höhlenartige Halle im Flaggschiff war nur schwach beleuchtet, die reglosen Figuren der Alari ließen sich kaum erkennen.
Mir wurde mulmig zumute.
Vor einer Woche war ich durch ihre Reihe gestürmt. Ein wackerer Held, der sich nicht mehr erinnerte, wer er war, großzügig Kinnhaken verteilte und links und rechts mit einem Messer auf die kleinen Wesen einstach … Dabei hatten sich mir nur Techniker und Ingenieure entgegengestellt, denen durchweg jede Erfahrung im Zweikampf fehlte. Die Illusion eines Kampfes war nötig – und deshalb wurde sie geschaffen. Wenn mich ein paar echte Soldaten angegriffen hätten, noch dazu in den berühmten alarischen Panzeranzügen, wäre mir die Flucht nie im Leben geglückt.
Die zotteligen Körper um mich herum warteten. Was empfanden sie für mich? Verständnis – weil schließlich alle wussten, wozu das damals sein musste? Hass – weil an meinen Händen das Blut ihrer Artgenossen klebte? Neugier – immerhin war ich zurückgekehrt und brachte Informationen?
»Wo sind meine Freunde?«, fragte ich, während ich aus dem Schiff sprang. »Alari!«
Schweigen. Nach einer Weile trat ein schwarzes Wesen in einer goldenen Tunika vor.
»Kommandant?«, fragte ich.
»Ich begrüße dich an Bord, Pjotr Chrumow«, erwiderte der Alari mithilfe des Cualcua, der als hässlicher Auswuchs an seinem Hals schwabbelte. »Wir freuen uns, dass du es geschafft hast zurückzukommen.«
An zwei Stellen seines Körpers bedeckten weiße Binden das Fell, bei denen es sich kaum um Details der Kleidung handeln dürfte. Ob das Andenken an meine Schläge waren?
»Wo sind meine Freunde?«, fragte ich erneut.
»Sie schlafen. Für euch ist jetzt die Ruhezeit.«
»Weck sie trotzdem, sie werden es nicht übelnehmen«, verlangte ich.
Sollten die Alari mich in eine Falle gelockt haben, hätte jetzt mein letztes Stündlein geschlagen … Aber genau in diesem Moment tauchten am hinteren Ende des Tunnels zwei menschliche Gestalten auf. Danilow und Mascha. Sie kamen auf mich zugerannt, und ich spürte, wie – endlich – die Anspannung von mir wich.
Ich hatte eben doch einen Ort, an den ich zurückkehren konnte.
Aber warum wirkte das Lächeln in ihren Gesichtern dermaßen gequält?
»Pjotr!« Danilow schloss mich in die Arme, schwenkte mich hin und her und schaute mir in die Augen: »Du Hundesohn! Hast du es tatsächlich geschafft!«
Mascha blieb gefasster. Sie lächelte nur, und diese für sie ungewohnte Tätigkeit ließ sie wesentlich attraktiver aussehen.
»Hallo«, begrüßte sie mich, streckte die Hand aus und berührte sacht meine Schulter. »Klasse. Wir haben uns wirklich Sorgen um dich gemacht.«
Ich linste in den Tunnel, doch es kam niemand mehr.
»Wo ist mein Großvater?«, fragte ich irritiert.
»Er schläft«, antwortete Danilow rasch. »Er schläft gerade.«
Die Alari mischten sich nicht in unser Gespräch ein. Die Zottelwesen hatten einen Ring um uns gebildet und beobachteten unsere Begegnung voller Neugier. Ich hielt nach dem Kommandanten Ausschau. »Als ich geflohen bin …«, setzte ich an, »da habe ich …«
»Du hast drei Alari getötet«, fiel mir der Kommandant ins Wort.
Was hatte ich denn erwartet? Ich konnte ja noch froh sein, dass es nur drei waren. Schließlich hatten mich damals Nicht-Freunde umgeben, und der gefangene Regressor Nik Rimer fackelte nicht lange …
Danilow drückte mir sanft den Arm.
»Kommandant …«, setzte ich noch einmal an.
Es war dumm, sich zu entschuldigen und um Verzeihung zu bitten. Worte tilgen diese Schuld nicht. Aber was konnte ich sonst tun?
»Pjotr Chrumow, als Repräsentant der Rasse der Alari bitte ich dich um Verzeihung«, sagte der Kommandant nun.
Ich starrte in die funkelnden schwarzen Augen. Nein, er machte sich nicht über mich lustig.
»Wir mussten dich zwingen, gegen die Gesetze deiner Zivilisation zu verstoßen«, fuhr der Kommandant fort. »Du musstest deine Verbündeten töten. Unsere Schuld ist groß, aber wir haben keine Alternative gesehen.«
Nein, Erleichterung verspürte ich nach diesen Worten, die die Situation radikal änderten, keine.
Und das war womöglich der einzige Grund, weshalb ich mir selbst noch in die Augen blicken durfte.
»Kommandant, ich bitte die Rasse der Alari um Verzeihung«, erwiderte ich. »Ich trauere um diejenigen, die mir zum Opfer gefallen sind.«
Der Alari schwieg. Wir mochten beide noch so unterschiedlichen ethischen Prinzipien anhängen – aber auch er musste die toten Mitglieder seiner Mannschaft betrauern. Andernfalls würde er kaum diese Flotte kommandieren. Die Macht gibt einem das Recht, Opfer anzunehmen und zu verlangen, aber sie erspart einem nicht den Schmerz. Das gilt natürlich nur, sofern es sich tatsächlich um Macht handelt und nicht um Tyrannei.
»Aber ihr Opfer war doch nicht vergebens?«, fragte der Kommandant. »Du bist in der Welt der Geometer gewesen?«
»Ja.« Ich zeigte mit der Hand auf das Schiff der Geometer. »Das ist ein anderes Schiff. Das, mit dem ich von hier weggeflogen bin, ist auseinandergenommen und vernichtet worden.«
»Warum das?«
»Weil es in Gefangenschaft gewesen ist.«
Danilow sah Mascha triumphierend an, und mich beschlich der Verdacht, sie hatte Rimers Schiff eigentlich mit einer stattlichen Zahl von Wanzen ausstatten wollen.
»Nur gut, dass du sein Schicksal nicht geteilt hast«, bemerkte der Kommandant.
»Das hat mich einige Mühe gekostet«, erwiderte ich.
Der Alari schüttelte den Kopf. Vermutlich wollte er die Geste der Menschen nachahmen, was jedoch bei seinem Mäusekopf komisch wirkte.
»Kann die Zivilisation der Geometer ein Verbündeter der Schwachen Rassen werden?«, wollte er wissen.
Gute Frage.
Die beste Frage der Saison …
»Sie kann ein neuer Herr für die Schwachen Rassen werden«, antwortete ich. »Sie würde uns jedoch völlig in sich aufsaugen. Sie würde uns ihre Ideologie schenken. Sie würde uns in ihren Kreis aufnehmen.«
»Es ist unmöglich, die Ideologie einer entwickelten Gesellschaft mit Gewalt zu verändern«, hielt der Alari dagegen.
»Wir würden ja auch nicht lange eine entwickelte Gesellschaft bleiben«, teilte ich ihm mit.
Die schwarzen Mäuseaugen bohrten sich in mich hinein. Anschließend sah der Kommandant die versammelten Alari an, die daraufhin auseinanderstoben. Innerhalb von zehn Sekunden waren alle wie weggeblasen.
»Gehen wir, Pjotr.« Der Alari streckte die Pfote aus und berührte mich leicht an der Seite. »Der Hangar ist nicht der Ort für dieses Gespräch. Der Vortragsraum wartet auf uns.«
»Der Vortragsraum? Oder das Verhörzimmer?«
»Je nach den Umständen.«
Nach der Größe des »Vortragsraums« zu urteilen, mussten hier ab und zu Elefanten den Mäusen Rede und Antwort stehen.
Die unebenen Wände, die typisch für die alarischen Schiffe waren, zeigten eine trüb-orangegelbe Farbe. Die wenigen Beleuchtungssegmente flackerten mit trübem Licht. Sobald ich halb sitzend, halb liegend in einem schrägen, weichen Sessel Platz genommen hatte, wurde hinter mir die Luke geschlossen. Ein wenig erinnerte das schon an ein Gefängnis.
»Petja«, erklang von irgendwoher Danilows Stimme, »die Alari bitten um die Erlaubnis, das Gas ausströmen zu lassen.«
»Was für Gas?«
»Einen harmlosen Tranquilizer. Er hilft dir, dich zu erinnern. Das ist absolut ungefährlich.«
Sonderlich verlockend klang es nicht. Trotzdem zuckte ich mit den Schultern und sah hoch zur Decke. »Meinetwegen.«
Es gab weder Geräusche noch Gerüche. Mir wurde einfach schwindlig, und das Licht schien mir greller.
Ich spürte nichts, was mich an ein Narkotikum denken ließ. Wahrscheinlich hatten sich die Alari getäuscht und ihre Tranquilizer wirkten bei Menschen gar nicht.
Nach einer Weile fing ich an, mich zu langweilen. Wie lange lag ich hier eigentlich schon? Eine Minute? Zwei? Jedenfalls verdammt lange! Dabei durften wir unsere wertvolle Zeit doch nicht verplempern! Außerdem würde mich dieses Nichtstun noch umbringen! Nervös herumzappelnd, kämpfte ich gegen den Wunsch an, aufzustehen und aus dem Zimmer zu gehen.
»Pjotr.« Ich erkannte die Stimme des Kommandanten. »Erzähl uns, was nach deiner Flucht passiert ist! Von dem Moment an, als du ins Schiff eingestiegen bist.«
Seine Frage baute meine Nervosität schlagartig ab. Endlich kriegte ich was zu tun!
»Ich hieß Nik Rimer«, berichtete ich. »Das hat mir das Schiff mitgeteilt, indem es auf eine nonverbale Kommunikationsform zurückgriff. Ich war ein Kundschafter und Regressor. Das Erste ist klar. Die Arbeit eines Regressors wiederum besteht in der Infiltration einer fremden Gesellschaft, um ihr Entwicklungsniveau zu senken. Auf diese Weise wird eine Zivilisation für eine Entwicklung auf dem richtigen Weg präpariert.«
»Und was ist der richtige Weg?«, fragte der Alari.
»Die Freundschaft. Die Einheit aller Zivilisationen, ihre gemeinsame Expansion im All.«
»Mit welchem Ziel?«
»Mit dem Ziel der Freundschaft. Es ist ein in sich geschlossener Entwicklungszyklus, die Zivilisationen werden absorbiert, um anschließend neue Zivilisationen zu suchen und anzuschließen.«
Der Kommandant ließ eine kurze Pause folgen. »Welchen Sinn hat das?«, fragte er dann.
Was für ein Dummkopf!
»Gar keinen.«
»Herrscht die Rasse der Geometer über die absorbierten Zivilisationen?«
»Nein. Es herrscht die Idee.«
»Pjotr, setze deinen Bericht fort«, mischte sich jemand anders ins Gespräch.
»Hallo, Karel.« Ich wunderte mich nicht, dass auch der Zähler hier war. »Wo ist denn mein Großvater?«
»Er ist hier.«
»Dann hol ihn doch bitte.«
Es folgte abermals eine kurze Pause. »Hallo, Petja«, hörte ich schließlich.
»Hallo«, sagte ich zur Decke. »Wie geht es dir? Ist alles in Ordnung?«
Die Stimme meines Großvaters klang müde und freudlos.
»Soweit es möglich ist. Erzähl mir alles, mein Junge. Wie hast du das Schiff der Geometer gelenkt?«
»Ich habe allgemeine Anweisungen gegeben. Das Schiff verfügt über einen ziemlich ausgeprägten Verstand. Allerdings einen … kastrierten.«
»Erklär das genauer, Petja.«
»Ich glaube, dem Schiffscomputer fehlt nicht mehr viel zu einem regelrechten Verstand. Er ist in der Lage zu lernen. Aber aus irgendeinem Grund hat er ein völlig unzutreffendes Bild von sich selbst.«
»Genau das haben wir vermutet. Die Geometer haben das höchst raffiniert angestellt, Petja. Ihre Computer entwickeln sich nicht zu einem wirklich intelligenten Wesen, weil sie sich selbst bereits dafür halten.«
»Was?« Obwohl ich eigentlich gern weiterberichten wollte, konnte ich mir die Frage nicht verkneifen.
»Es kommt sogar noch schöner. In gewisser Weise …« Mein Großvater kicherte. „… hält sich jeder Computer der Geometer für das einzige intelligente Wesen im Universum. Für einen Gott, wenn du so willst. Er fasst die Realität als Spiel seiner Phantasie auf. Ein derart leistungsstarkes System könnte nur dann zu einem authentischen Bild seiner selbst gelangen, wenn es nicht glauben würde, diese Aufgabe sei bereits erledigt.«
»Ein gefährlicher Weg«, bemerkte ich.
»Nein, Petja, der bequemste von allen. Der einzig mögliche Weg vielleicht. Ein Gefangener will nicht in die Freiheit ausbrechen, wenn er sich bereits für frei hält.«
»Ich bin so froh, deine Stimme zu hören, Großpapa«, sagte ich nach kurzem Schweigen. »Du … du hast mir gefehlt.«
Abermals folgte eine kurze und unbehagliche Pause. Zu viele hörten unserem Gespräch zu. Das war nicht der Zeitpunkt für Sentimentalitäten.
»Erzähl weiter, Petja«, bat mein Großvater. »Dieses Gas weckt den Wunsch zu plaudern und Informationen mitzuteilen. Quäle dich also nicht.«
»Die Geometer haben sehr gute Schiffe«, fuhr ich fort. »Sie arbeiten nicht mit dem Jump, aber trotzdem bewegen sich diese Schiffe viel schneller durch den Außer-Raum als jedes Transportmittel, das dem Konklave zur Verfügung steht. Weil ich mich nicht mehr an meine eigene Persönlichkeit erinnert habe, hat das Schiff Anweisungen befolgt, die …«
Mein Bericht dauerte lange. Ab und an unterbrach mich Danilow, mein Großvater, Mascha oder der Kommandant der Alari mit einer Frage … Einige der Fragen des Kommandanten kamen mir ein wenig seltsam vor, weshalb ich nach einer Weile vermutete, in diesen Fällen frage gar nicht er, sondern sein Dolmetscher, der Cualcua.
Am schwierigsten war es, die Gesellschaft der Geometer zu schildern. Nach wie vor sah ich in ihr nichts, was mir absolut fremd war, sodass ich nicht recht wusste, was ich überhaupt erwähnen sollte. Das Fehlen von Familien war beispielsweise ein interessanter Aspekt, an den ich mich aber nur rein zufällig erinnerte. Abgesehen davon wusste ich vieles – sehr vieles – überhaupt nicht. Zum Beispiel wie ihre Transportkabinen funktionierten. »Ist es wie beim Jump, ein Sprung durch eine andere Dimension? Oder kopiert man einen Körper an einem anderen Punkt und zerstört das Original?«, wollte der Alari wissen. Darauf konnte ich natürlich nicht antworten. Die zweite Alternative gefiel mir allerdings nicht gerade, selbst wenn ich zugeben musste, dass sie nicht von der Hand zu weisen war.
Als ich meinen Vortrag beendet hatte, war die Wirkung des Narkotikums fast verflogen. Einer der Alari brachte mir schweigend ein Tablett mit Frühstück und entfernte sich wieder. Ich hockte mich hin, fing an zu essen und lauschte dem Streit. Die Verbindung zwischen dem Vortragsraum und dem Zimmer, in dem sich die »Verschwörer« versammelt hatten, war zu meiner Freude nicht abgeschaltet worden, andernfalls wäre ich mir nämlich wie ein lumpiger Spion vorgekommen.
Es redete hauptsächlich mein Großvater. Ich glaube, alle – also sowohl die Alari als auch der Zähler – erkannten ihn als den Experten für die Geometer an.
»Ihre Zivilisation ist ein Phänomen«, dozierte er. »Fangen wir mit dem wesentlichen Punkt an: Auf ihrem Heimatplaneten haben zunächst zwei intelligente Rassen existiert. Sind andere Fälle dieser Art bekannt?«
»Doch, ja.« Ich glaube, die Antwort gab wirklich der Alari, nicht sein Dolmetscher. »Einige Fälle sind bekannt.«
»Aber wie ging es mit dieser Koexistenz dann weiter?«, fragte mein Großvater aufgeregt.
»Eine der Rassen muss in ihrer frühen Entwicklungsphase vernichtet worden sein. Die Ereignisse auf dem Planeten der Geometer dürften ja wohl mehr als banal gewesen sein. Eine Zivilisation mit niedrigerem Entwicklungsniveau sieht in einer fremden intelligenten Rasse einen Konkurrenten, der ausgerottet werden muss.«
Aus irgendeinem Grund meinte ich, der alarische Kommandant würde sich rechtfertigen. Dachte er vielleicht an seine eigene Rasse?
»Aber hier haben wir es mit einer etwas anderen Variante zu tun. Beide Rassen waren entwickelt und intelligent. Die Geometer haben sich durchsetzen können, weil sie eine biologische Waffe geschaffen haben, eine schier unglaubliche Leistung für eine feudale Gesellschaft.«
»Mich überzeugt diese Einschätzung nicht«, mischte sich Mascha plötzlich ein. Sie stockte kurz, bevor sie sich überwand und etwas verkrampft fortfuhr: »Andrej Valentinowitsch … die Gesellschaft der Geometer ist einerseits in der feudalen Etappe stecken geblieben, andererseits aber in etlichen Bereichen über diese hinausgewachsen. Petja hat doch von einer langen Phase der Isolation auf einem Kontinent gesprochen, oder? Hier haben wir gewisse Analogien zur japanischen Gesellschaft. Noch dem Mittelalter verhaftet, erlaubt sie sich in einzelnen Bereichen der Wissenschaft ungeheure Fortschritte. Das würde auch ihre gesellschaftliche Grundlage, dieses System von Ausbildern, erklären.«
Alle Achtung, Mascha! Sie traute sich, meinem Großvater zu widersprechen! Sie wächst, das Mädchen wächst …
Ich trank den sauren Saft aus, legte mich etwas bequemer in den Sessel und schloss die Augen.
»Trotzdem ist und bleibt es das Mittelalter, Mascha.« Mein Großvater rückte keinen Fußbreit von seiner Position ab. »Gut, eine Gesellschaft asiatischen Typs, da hast du recht. Und ihre Kultur hat tatsächlich einen asiatischen Entwicklungsweg eingeschlagen.«
»Und was heißt das?«, wollte der Alari wissen.
»In der Entwicklung der irdischen Zivilisation«, erklärte mein Großvater, »lassen sich zwei Hauptströmungen unterscheiden: die europäische oder westliche und die asiatische oder östliche. Die westliche Kultur ist stärker auf die einzelne Persönlichkeit ausgerichtet, auf das Individuum, seine Rechte und seine Freiheit. Die östliche stützt sich dagegen normalerweise auf die Gesellschaft und den Staat. Da wir zur westlichen Kultur gehören … ja doch … im Grunde gehören wir zur westlichen, ist uns die östliche ein wenig fremd. Bei uns ist es die Literatur, die sich mit dem Entwurf fiktiver Gesellschaften befasst. Meist geben wir diesen Gesellschaften dann die Merkmale einer asiatischen Zivilisation. Eine streng strukturierte Gesellschaft, die Unterdrückung der Freiheit des Individuums … Die östliche Kultur wiederum verleiht ihren fiktiven Gesellschaften Züge einer europäischen Zivilisation.«
»Seltsam, dass ihr euch nicht gegenseitig ausgerottet habt«, bemerkte der Alari. »Welche Gesellschaftsform hat sich heute auf der Erde durchgesetzt?«
»Die westliche«, antworte mein Großvater mit felsenfester Gewissheit. »Aber im Moment verwischen sich alle Unterschiede. Was aber die Zivilisation der Geometer angeht – die fußt auf einer klar östlichen Grundlage.«
»Interessant«, bemerkte der Alari. »Ich habe immer angenommen, die irdische Zivilisation sei ein Musterbeispiel für eine ausgesprochen strukturierte Gesellschaft. Im Unterschied zu unserer beispielsweise.«
Jemand – ich glaube, Danilow – lachte.
»Das wundert mich gar nicht«, entgegnete mein Großvater. »Wenn wir eine fremde Gesellschaft studieren, fallen uns in erster Linie solche Aspekte wie Ordnung und Struktur auf.«
»Lassen sich denn irgendwelche Schlüsse über die Gesellschaft der Geometer ziehen?«, fragte der Kommandant.
»Ja. Wir sind einander relativ ähnlich, Xenophobie dürfte insofern kein Problem darstellen. Pjotr, stimmst du mir da zu?«
»Ich glaube schon, Großpapa«, antwortete ich, nachdem ich kurz darüber nachgedacht hatte. »Insgesamt ist ihre Gesellschaft natürlich kein Konzentrationslager. Trotzdem ist bei ihnen alles sehr streng organisiert. Dabei können sie aber auf jede Form von Unterdrückungsmechanismus verzichten, denn alles ist auf der Ideologie aufgebaut.«
»Auch das ist charakteristisch für einen östlichen Entwicklungsweg«, fuhr mein Großvater fort. »Und das ist sehr schlecht. Wenn eine östliche und eine westliche Gesellschaft nämlich technisch gleich weit entwickelt sind, dann hat ein Konflikt zwischen ihnen ausgesprochen traurige Folgen. Wenn das Konklave wenigstens eine einheitliche, übergreifende Ideologie hätte …«
»Die Zivilisation der Geometer ist nicht sehr groß, Andrej Valentinowitsch«, gab Danilow zu bedenken. »Wenn es wirklich zu einem Zusammenstoß käme …«
»Und wie sollte der aussehen?«, konterte mein Großvater genüsslich. »Würden die furchterregenden Geschwader des Konklaves etwa die Welten der Geometer bombardieren? Das glaubst du ja wohl selbst nicht! Selbst die Erde schafft es, eine Politik der Zurückhaltung zu betreiben … Du hast wohl angenommen, ich sei nicht im Bilde, was? Dass ich nichts von den Fähren wüsste, die, mit Kobalt- und Wasserstoffbomben beladen, seit zehn Jahren in den Umlaufbahnen kreisen? Und die Aliens wissen darüber ebenso Bescheid. Sind Ihnen diese Fakten bekannt, Kommandant?«
»Ja«, antwortete der Alari knapp.
Mich brachte das ein wenig aus dem Konzept – denn ich hatte davon ehrlich gesagt noch nie etwas gehört.
»Das Entwicklungsniveau bestimmt die Form des Konflikts«, dozierte mein Großvater weiter. »Die Rassen des Konklaves werden es nicht auf einen Krieg ankommen lassen. Im äußersten Fall richten sie Quarantänezonen ein und versuchen, die Geometer zu isolieren, sich gegen sie abzuschotten. Ob das bei einer Rasse gelingt, die ihr Sternsystem durch die gesamte Galaxis transportiert hat? Ich habe da meine Zweifel. Deshalb dürfte es eher zu einer Art kaltem Krieg kommen. Dann können die Geometer allerdings prompt die attraktiven Seiten ihrer Gesellschaft ins Spiel bringen. Sie werden dem Konklave einen Planeten nach dem nächsten abspenstig machen. Wenn wir gehen, verliert das Konklave seine Fuhrleute. Wenn die Alari gehen, sinkt die Kampfkraft um rund vierzig Prozent. Gehen die Stäubler, gerät die Montanindustrie in die Krise. Wenn das den Starken Rassen klar ist, sie sich aber trotzdem für den Krieg entscheiden, steht der Galaxis ein wahrer Genozid bevor. Denn bevor die Geometer untergehen, bevor sie unter Angriffen zusammenbrechen, werden ihre Schiffe die meisten bewohnten Planeten in Schutt und Asche legen. Sie werden Gift spritzen, das ist eine traditionelle, sehr effektive Vorgehensweise bei ihnen. Und was wollen wir einem winzigen, schnellen und gut gesicherten Schiff entgegensetzen? Vor allem, wenn dieses Schiff sich einem Planeten nur zu nähern und eine einzige kleine Bombe mit verseuchtem Aerosol in der Atmosphäre abzuwerfen braucht? Stellen wir uns doch einmal vor, die Jentsh und ihr Alari würdet das ganze System der Geometer tatsächlich in Staub legen. Aber selbst dann würden immer noch die Schiffe überleben. Und die würden sich rächen. Die gäben für lange – für sehr lange Zeit – keine Ruhe!«
»Wenn ihre Schiffe wirklich, wie wir annehmen, die Vakuumenergie nutzen, sind sie quasi völlig autark«, flocht Mascha ein.
Es folgte eine lange Pause.
»Dann hältst du es also für falsch, Andrej Chrumow, das Konklave und die Geometer aufeinanderzuhetzen?«, fragte der Alari schließlich.
»Ich halte es für überflüssig. Ihr Verhältnis ist ohnehin ein antagonistisches. Und die Starken Rassen ertragen keine starken Nachbarn.«
»Was schlägst du dann vor? Auf wessen Seite sollen wir uns stellen?«
Mein Großvater hüllte sich in Schweigen. »Vermutlich ist es am Ende doch klüger, sich auf die Seite der Geometer zu schlagen«, sagte er dann. Völlig bestürzt schoss ich im Sessel hoch. »Ihre Ethik gibt nicht gerade Anlass zu Hoffnung, aber immerhin bieten sie den Schwachen Rassen eine Überlebenschance. Gewiss, sie würden unter eine neue Herrschaft geraten. Aber sie würden überleben.«
Das konnte er doch nicht ernst meinen! Ich stand da und starrte die Wand an, als wollte ich durch sie hindurch die anderen sehen. Verstand mein Großvater wirklich nicht, wie das enden würde? Ich hatte ihnen doch alles erklärt! Gut, am Anfang, da würden wir ihre Verbündeten und Freunde sein. Ein Teil der Schwachen Rassen würde dem Konklave entkommen und sich den Geometern anschließen. Aber es wäre ja nicht damit getan, die Ideologie der Freundschaft zu übernehmen und diese Utopie im Kosmos zu verbreiten. Aus der Sicht derjenigen, die auf Der Heimat leben, stellen wir nämlich eine absolute Fehlentwicklung dar. Deshalb würden sie uns herabdrücken, still und sukzessive, so dass wir es gar nicht bemerken würden. Unsere Weltraumbahnhöfe würden veröden, man würde Fabriken schließen – sagen wir mal, damit sich die zerstörte Umwelt regenerieren kann. Dann würden uns die Geometer mit ihren Ausbildern zu Hilfe eilen, den besten Ausbildern, die man sich überhaupt denken kann. Beispielsweise, um künftigen Generationen höheres Wissen zu vermitteln. Sie würden uns an ihrem Bioengineering teilhaben lassen, würden unsere Krankheiten überwinden und gleichzeitig unsere übermäßige Emotionalität und Aggressivität. Was nützt der Aufruhr der Gefühle jemandem, der nach Freundschaft strebt? Selbst töten kann man ohne Wut und Hass. Genau wie das Konklave wissen die Geometer, dass sie nur eine, vielleicht zwei Generationen abwarten müssen – und dann wäre die Erde zu einer neuen Heimat für diejenigen geworden, die sich unter diesem Wort gar nichts mehr vorstellen können.
»Großpapa …«, flüsterte ich. Aber sie hörten mich nicht.
»Andrej Chrumow, ich glaube, mit einem Mal siehst du das Leben mit völlig anderen Augen«, sagte der Kommandant.
Mein Großvater stieß ein seltsames Lachen aus.
»Ja, wahrscheinlich. Aber ist das ein Wunder? Das Leben ist in jedem Fall besser als der Tod. Und alles, was wir von Petja gehört haben, bekräftigt diesen Gedanken. Gegen die Geometer zu kämpfen bedeutet unseren Tod.«
»Großpapa!«, schrie ich. »Warte! Es gibt noch den Schatten! Hast du das etwa vergessen?«
»Die Feinde der Geometer?«
»Genau. Diejenigen, vor denen die Geometer geflohen sind!«
Ich sah das Gesicht meines Großvaters nicht, aber ich stellte mir – in schönster Klarheit – vor, wie er herablassend lächelte.
»Petja, die Feinde der Geometer sind nicht automatisch unsere Freunde. Das zum einen. Und zum anderen: Die Geometer sind sehr, sehr weit geflohen. Der Schatten dürfte ihnen kaum gefolgt sein.«
»Aber wir können zum Schatten gelangen!«
Ich meinte, mein Großvater würde gleich müde seufzen, wie immer, wenn er sich mit meiner Starrköpfigkeit konfrontiert sah. Er sagte jedoch nur: »Zum Kern der Galaxis gelangen? Ich weiß nicht, ob das technisch möglich ist. Aber welchen Sinn sollte es haben? Welchen, Petja? Wollen wir eine unbekannte Rasse finden und ihnen sagen, wo sich ihre Feinde verstecken? Wollen sie die Geometer denn überhaupt verfolgen? Und wenn sie das wollen, werden sie sich dann nicht auch uns vorknöpfen?«
»Aber du hast doch selbst von einer dritten Kraft gesprochen!«, rief ich.
»Der Schatten ist nicht die dritte Kraft, Pjotr. Sondern bereits die vierte. Die Schwachen Rassen, die Starken Rassen, die Geometer, der Schatten. Die Gesetze der Existenz einer Gesellschaft unterscheiden sich von den Gesetzen der Physik. Während in der Astronomie die Wechselwirkung von drei Körpern zu einem Problem wird, führt in der Politik der vierte Faktor zur Unbestimmtheit. Wenn wir unsere gegenwärtigen Probleme auch noch um den Schatten erweitern – worum auch immer es sich bei ihm handeln mag –, kann niemand das Ergebnis vorhersagen.«
»Aber was, wenn uns das mutmaßliche Ergebnis nicht schmeckt?«, fragte ich. »Großpapa, wenn beide Varianten in eine Sackgasse führen, müssen wir dann nicht einen neuen Weg suchen?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Schließlich bin ich nicht bei den Geometern gewesen, Petja.«
»Aber ich!«
Darauf sagte niemand ein Wort. Ich tigerte durchs Zimmer. »Kann ich hier raus?«, wollte ich nach einer Weile wissen. »Ihr habt doch keine Fragen mehr, oder?«
Als Antwort erhielt ich ein betretenes Schweigen.
»Hab noch etwas Geduld, Petja«, bat mein Großvater schließlich. »Es hat einen bestimmten Grund … bleib vorerst noch da.«
Daraufhin schwiegen sie entweder erneut oder sie hatten die Verbindung abgeschaltet. Wahrscheinlich Letzteres.
Was sollte das? Hielten sie mich etwa für einen Doppelagenten? Wollten sie mich überprüfen und durchleuchten, wie die Geometer es getan hatten? Wut kochte in mir hoch. Immerhin saß in meinem Körper ja auch noch ein Cualcua! Sollten sie den doch ausquetschen!
Wir antworten niemals auf Fragen, Pjotr.
Warum nicht?, fragte ich in Gedanken zurück. Dass der Cualcua das Wort ergriff, noch dazu ohne ersichtlichen Grund, überraschte mich.
Wir könnten auf zu viel antworten.
Das verstehe ich nicht!
Aber die Alari verstehen es. Der Cualcua zögerte, bevor er fortfuhr: Es liegt nicht an dir, Pjotr. Du bist bereits allen denkbaren Tests unterzogen worden. Nur wurden diese Tests, im Unterschied zu denen bei den Ceometern, nicht offiziell angekündigt.
Hier geschah etwas Seltsames. Etwas sehr Seltsames. Der Cualcua stellte sich auf meine Seite. Im Unterschied zu meinen Freunden!
Warum könntet ihr auf zu viel antworten?
Der Cualcua schwieg.
Cualcua, wie viele Individuen zählt eure Rasse?
Das hast du bereits verstanden.
Täuschte ich mich – oder freute er sich wirklich darüber, dass ich hinter dieses Rätsel gestiegen war?
Ihr seid … nur eins?
Der Cualcua schwieg. Sicher, er gab mir keine direkte Antwort – aber manchmal ließ er sich eben zu einem mitleidsvollen Schweigen herab. So waren sie, die kleinen amöbenhaften Cualcua, das Spielgeld in den kosmischen Spielen, diese trägen Wesen ohne jeden Ehrgeiz. Nein, nicht diese Wesen. Das eine Wesen! Das eine Wesen, das ein einziges Ganzes bildet. Für immer. Es fürchtete den Tod nicht – weil der Tod für dieses Wesen nicht existierte!
Gütiger Gott, was bedeuten für ein solches Wesen schon die Macht der Starken Rassen, ihre Gewalt und ihre Arroganz, die diplomatischen Spielchen und die galaktischen Intrigen! Der Cualcua ließ zu, dass man ihn benutzte, weil ihm der Verlust der Zellen keine Angst einjagte. Denn er war ein einziges Ganzes, das, aufgesplittert im Universum, in fremden Körpern und Mechanismen lebte, sich im Licht Tausender von Sonnen wärmte und mit Milliarden von Augen auf die Welt blickte! Welche Kraft, welche Gesetze des Seins erlaubten es den einzelnen Gallertklumpen, die Hunderte von Parsec voneinander trennten, gemeinsam zu denken? Welche Welt konnte die Cualcua hervorgebracht haben?
Die Zähler, die Alari, die Hyxoiden, sogar die Stäubler und die Jentsh – sie alle waren ja fast Menschen! Jedenfalls verglichen mit den Cualcua.
Ich fuhr mir mit der Hand übers Gesicht, erinnerte mich, wie geschickt der Cualcua meinen Körper verändert hatte. Ich hatte es, ohne groß darüber nachzudenken, als Notwendigkeit akzeptiert – obwohl ich mir eigentlich den Kopf hätte darüber zerbrechen müssen, wie er das Massenerhaltungsgesetz umschiffen konnte, als er mich in Fed und wieder zurück verwandelt hatte.
Keine Angst, Pjotr. Wir streben nicht nach Macht.
Ich brach in Gelächter aus. In meinem Körper lebte kein Symbiont – sondern eher ein Teil von einem Gott. Von einem echten Gott, der weder Donner noch Blitze oder die Zehn Gebote brauchte … Aber nein, wahrscheinlich hinkte der Vergleich. Die Gottesrolle passte nicht zu dem Cualcua, und er beanspruchte sie ja auch gar nicht für sich. Man kam der Wahrheit wohl näher, wenn man ihn als Teil der Natur betrachtete. Als etwas Altes und Unauslöschliches, wie der Wind, das Licht oder das Rauschen der Hintergrundstrahlung. Der Wind kann auf jede Macht verzichten – und selbst wenn man ihn in einem Segel einfängt, sollte man sich nie für seinen Gebieter halten. Dann hat er lediglich eine Weile denselben Weg gehabt …
Warum sprichst du dann von wir?, stellte ich in Gedanken eine Frage. Wenn du eigentlich nur einer bist!
Was bedeuten schon Wörter, Pjotr?
Was bedeuten Wörter? Nichts, vermutlich. Du bist allein, ich bin allein. Wir alle sind für alle Zeiten einsam, wie viele selbstverliebte Lebewesen eine Rasse auch zählen mag. Jeder von uns stellt eine eigene Zivilisation dar. Mit ihren Gesetzen und ihrer Einsamkeit. Trotzdem zog sogar der Cualcua es vor, von »wir« zu sprechen …
Ich trat an die Tür heran, einen Teil der Wand, der sich kaum vom Rest unterschied. Eine niedrige Tür, bequem für die Alari. Ich legte die Hand darauf, glaubte aber im Grunde nicht daran, dass der mir unbekannte Mechanismus die Güte haben würde, sich zu öffnen.
Die Tür glitt in die Wand hinein.
In dem weitläufigen Saal hielten sich zwei Alari auf. Sie lagen auf niedrigen Sesseln, die vor einer Art Pult standen. Auf mich wirkte dieses Pult wie eine riesige Kristalldruse, gekrönt von einem matten, ausgeschalteten Bildschirm. Vielleicht war der Bildschirm auch eingeschaltet, und mein Blick konnte nur kein Bild erkennen. Das graue Fell der Alari sträubte sich, als sie mich erblickten. Bei beiden baumelte am Hals ein Cualcua. Hervorragend.
»Ich muss Stoffwechselprodukte aus meinem Organismus ausscheiden«, teilte ich ihnen mit. »Wo kann ich das erledigen?«
Die Geschichte wiederholt sich als Farce …
Einer der Alari erhob sich und trippelte zu einem endlosen Tunnel. »Folgen Sie ihm bitte«, bat mich der andere.
Jetzt war ich kein Gefangener mehr, der eingesperrt gehörte und nicht aus dem Zimmer gelassen werden durfte – es sei denn für eine kleine Theatervorstellung – jetzt war ich Träger wichtiger Informationen, Repräsentant einer verbündeten Rasse.
»Das ist ein sehr intimer Prozess, über den niemand in Kenntnis gesetzt zu werden braucht«, bemerkte ich.
Indem ich den einen unglückseligen Techniker mit einem kleineren ethischen Problem konfrontiert zurückließ, folgte ich dem anderen. Als sich der Tunnel nach zwanzig Metern gabelte, sagte ich: »Bring mich zu den Vertretern meiner Rasse! Sofort.«
Der Alari zögerte. Er dürfte kaum ein durchschnittlicher Vertreter seiner Rasse sein und insofern wissen, dass ich da etwas Außerordentliches verlangte. Zwei triftige Gründe hinderten ihn jedoch, mir die Bitte einfach abzuschlagen: zum einen mein recht ehrenvoller Status, zum anderen die Erinnerung an die blutige Flucht Nik Rimers.
»Sofort!«, blaffte ich.
Der Alari wandte sich von mir ab und bog in den rechten Gang ein. Während ich ihm folgte, betrachtete ich das lächerlich wirkende, dicht überm Boden liegende Hinterteil und den borstigen Widerrist des Aliens. Der Alari erinnerte an einen Jagdhund, der Witterung aufgenommen hatte.
Doch wenn die Ähnlichkeit nicht täuschte und sie wirklich von Nagern abstammten, dürfte der Geruchssinn in ihrem Leben tatsächlich eine wichtigere Rolle spielen als bei Menschen.
Schon nach einer relativ kurzen Strecke blieb der Alari vor einer geschlossenen Luke stehen. Er bedachte mich mit dem Blick eines geschlagenen Hundes. »Hier finden gerade wichtige Gespräche statt …«
»An denen ich teilnehmen muss«, behauptete ich.
Es wäre zu komisch gewesen, wenn jetzt die Tür blockiert gewesen wäre. Aber mein alarischer Begleiter hatte offenbar einen ziemlich hohen Rang. Die Luke öffnete sich.
»Nein, nein und noch mal nein!«, hörte ich die Stimme meines Großvaters. »Ich kann das nicht. Das wäre ein zu großer Schock!«
»Was für ein Schock, Großpapa?«, fragte ich, als ich den Raum betrat.
Der Cualcua flüsterte lautlos in meinem Gehirn: Willst du das wirklich wissen, Pjotr?
Zum ersten Mal bekam ich auf dem Schiff der Alari warme Farben zu Gesicht. Ein ovaler Raum, zartrosafarbene Wände, eine blendend purpurrote Decke und bordeauxroter Boden. Als sei ich in die Eingeweide eines Monsters gelangt … Der alarische Kommandant lag mitten im Raum auf einem höchst kompliziert konstruierten Sessel, neben ihm standen drei annähernd normale Sessel, die für Menschen gedacht waren. Nur zwei von ihnen waren belegt, in ihnen saßen Danilow und Mascha. Neben dem Alari stand der Zähler, der mich nun mit fast menschlicher Panik anstarrte.
Nur meinen Großvater entdeckte ich nirgends.
Ich ließ meinen Blick durch den ganzen Raum schweifen, bevor ich schließlich fragte: »Wo ist mein Großvater?«
Mein Begleiter zog sich leise von der immer noch offenen Luke zurück. O ja, bring dich lieber in Sicherheit …
Als ich Danilows Blick auffing, schaute er sofort nach unten. Ich sah Mascha an, die konfus und blass wirkte.
»Kommandant, wo ist Andrej Valentinowitsch Chrumow?«, fragte ich. »Wo ist mein Großvater?«
»Das ist ein sehr kompliziertes ethisches Problem«, antwortete der Alari nach einer Weile. »Ich fürchte, ich habe nicht das Recht, darauf zu antworten, solange er selbst keine diesbezügliche Entscheidung getroffen hat.«
»Karel! Zähler!« Ich sah den Reptiloiden an. »Wo ist mein Großvater?«
Stille hing im Raum.
Du hast es doch bereits verstanden, flüsterte der Cualcua.
»Petja, ich hatte keine andere Wahl«, antwortete der Zähler mit der Stimme meines Großvaters.
Die Mistkerle!
»Was ist mit meinem Großvater?«, brüllte ich. »Was habt ihr mit ihm gemacht, ihr Schweine?!«
»Petja, ich bin hier«, sagte der Zähler.
Ich ging auf ihn zu, ohne genau zu wissen, ob ich mich davon überzeugen wollte, dass die vertraute Stimme aus dem nicht-menschlichen Mund kam, oder ob ich dieses außerirdische Wesen ersticken wollte, das versuchte … versuchte …
»Ich hatte keine andere Wahl, Petja«, sagte mein Großvater. »Wirklich nicht.«
Das zahnlose, mit Kauplatten bewehrte Maul öffnete sich nervös und krampfartig und stieß die Laute der menschlichen Rede mit einer verzweifelten Anstrengung heraus. In den hellblauen Augen des Zählers lag Leere. Da war nichts Bekanntes und Vertrautes! Rein gar nichts!
»Ich wollte eigentlich damit warten, bis du wieder da bist, Petja«, sagte mein Großvater.
Das ging über meine Kräfte. Meine Beine zitterten, die Wände bebten, alles drehte sich, und der Boden sprang mir ins Gesicht.
Am besten ging es mir noch, wenn ich an die Decke starrte. Die Augen zu schließen war fatal. Dann krochen mir sofort die unterschiedlichsten Gedanken in den Kopf. Aber ich wollte jetzt nicht nachdenken. Über nichts. Es ging mir nämlich viel besser, wenn ich mir an der Decke einen Punkt suchte und den Blick nicht mehr von ihm abwandte.
Genau, schon besser. Jetzt ertrug ich auch die Stimme meines Großvaters, die aus dem Mund des Zählers kam, denn ich vergaß einfach, was geschehen war.
»Eine plötzlich auftretende Hämorrhagie, Pjotr. Ein Schlaganfall. Ich habe diese Möglichkeit nie ausgeschlossen, aber das Ganze kam äußerst ungelegen. Ich glaube, einen Tag hätte ich noch durchgehalten, aber nicht länger …«
Die Stimme meines Großvaters klang ruhig. Und zwar nicht deshalb, weil er jetzt in Karels Körper steckte. Er hätte genauso ruhig und abgeklärt gesprochen, wenn er gelähmt im Bett gelegen hätte. Vermutlich hatte er sich in ebendiesem Ton auch mit dem Vorschlag des Zählers einverstanden erklärt …
»Danilow hat meine Entscheidung sofort akzeptiert. Mascha allerdings … hat danach kaum ein Wort mit mir gesprochen. Was soll’s? Sie wird sich daran gewöhnen.«
»Wie ist es gewesen?«, wollte ich mit einer Neugier wissen, die mir selbst wehtat.
»Ich wurde narkotisiert. Karel hat angenommen, ich hätte sonst während der Bewusstseinsübertragung den Verstand verloren. Aber so … war es fast, als schläfst du in dem einen Körper ein und wachst in einem anderen auf.«
»Und jetzt? Ist es nicht beängstigend, Großpapa?«, fragte ich. Sofort verfluchte ich mich für die dämliche Frage.
»Nicht sehr«, antwortete mein Großvater jedoch nach wie vor gelassen. »Schließlich habe ich mich lange genug darauf vorbereitet … äh …, für immer fortzugehen. Wie es sich nun gefügt hat – das ist nicht die schlechteste Variante. Es fällt mir noch schwer, mich an mein neues Sehvermögen zu gewöhnen. Wenn du wüsstest, wie ich dich jetzt sehe … das ist wirklich urkomisch. Und an diese … Pfoten muss ich mich auch noch gewöhnen. Oder daran, mich auf allen vieren fortzubewegen. Im Übrigen meide ich Bewegungen, das erledigt Karel.«
»Du … ihr … könnt miteinander kommunizieren? Direkt? Liest du seine Gedanken?«
»Nein. Soweit ich es verstehe, hat Karel für mein Bewusstsein einen Teil seines Gehirns reserviert.« Mein Großvater begeisterte sich zunehmend für das Thema. »Was für eine interessante Rasse, Petja! Was für enorme Möglichkeiten! Nimm zum Beispiel …«
Solange ich den Reptiloiden nicht ansah, war alles in Ordnung. Dann legte mir mein Großvater einfach ein abstraktes Problem dar: Was empfindet ein Mensch, der in einem nicht-menschlichen Körper lebt, noch dazu nicht als Herr über diesen Körper, sondern als zufälliger Gast?
Als Kind hatte ich irgendwann die Masern gehabt. Gut, wer hätte sich die in seiner Kindheit nicht eingefangen? Meine Augen tränten, und ich durfte nicht ins Licht sehen, ich lag im Zimmer, die Gardinen waren vorgezogen, und ich nahm es meinem Großvater krumm, dass er den Computer weggeschafft hatte – damit ich ja die Finger davon ließ. Als Ersatz hatte er mir eine Stereoanlage gekauft, ein Gerät mit allen Schikanen, und ich musste, während ich im Bett lag, tastend mit der Fernbedienung zurechtkommen. Bis heute kann ich alle Knöpfe ertasten … und bis heute erinnere ich mich an die Freude, wenn ich per Knopfdruck zu einem Radiosender im Äther kam oder eine CD startete. Am schönsten war es aber, wenn mein Großvater mich besuchte, sich zu mir setzte und sich mit mir unterhielt. Bereits am ersten Tag fragte ich ihn, warum es so lange dauert, bis man von den Masern kuriert ist, worauf er mir einen zehnminütigen Vortrag über die Krankheit hielt. Ich glaube kaum, dass sich mein Großvater davor je mit den Masern beschäftigt hatte, aber sobald ich erkrankt war, brauchte er nur eine halbe Stunde, um zu einem Experten für diese Krankheit zu werden.
»Masern sind eine Virusinfektion, Pit.« Damals nannte er mich gern Pit. »An dieser Front hat die Medizin keine sonderlichen Erfolge vorzuweisen. Angeblich haben die Aliens wirksame Präparate, um die Viren auszurotten, aber sie haben natürlich nicht die Absicht, uns in den Genuss dieser Präparate kommen zu lassen. Dein Lymphsystem ist jetzt entzündet. Erinnerst du dich noch an das Buch, das wir gelesen haben? Wie mein Körper aufgebaut ist? Im Moment hat sich das Virus im retikulohistiozytären System eingenistet, aber darüber musst du dir wirklich nicht den Kopf zerbrechen. Das ist nicht schlimm, ich hatte in der Kindheit auch die Masern und hab’s überstanden.«
»Dann werde ich also nicht sterben?«, fragte ich, denn ich hatte ein wenig Angst.
»Wenn du keine kortikale Panenzephalitis bekommst, dann nicht«, beruhigte mich mein Großvater. »Und das ist höchst unwahrscheinlich.«
»Was ist denn eine Panenzephalitis?«
Mein Großvater erklärte es mir ausführlich und mit allen Details. Irgendwann ertrug ich es nicht mehr und fing an zu weinen. Ich schrie ihn sogar an, ich wolle das alles gar nicht wissen und er solle den Mund halten …
Daraufhin hatte mein Großvater mir seine kalte Hand auf die Stirn gelegt, gewartet, bis ich mich etwas beruhigt hatte, und dann gesagt: »Das ist nicht richtig, Pit. Die einzige Angst, die man sich gestatten darf, ist die Angst vor dem, was man nicht kennt. Aber wenn du etwas kennst, brauchst du keine Angst mehr davor zu haben. Du kannst die Krankheit hassen und verachten. Aber du brauchst keine Angst vor ihr zu haben.«
»Hast du denn keine Angst gehabt, als du ein kleiner Junge warst und krank gewesen bist?«, schrie ich ihn beleidigt an.
»Doch«, antwortete mein Großvater nach kurzem Schweigen. »Aber das war eben nicht richtig.«
Jetzt dagegen verhielt er sich genau richtig. Jetzt hatte er keine Angst mehr.
Oder er war stark genug, um sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. Das, was mit ihm geschehen war, schien er als akademischen Fall zu betrachten, den er seinen faszinierten Kollegen vortrug. Übrigens hätte er genau das mit dem allergrößten Vergnügen getan – wenn er nur den Zähler hätte überreden können, mit ihm zur Erde zu fliegen! Dann wäre er in seine Fakultät gegangen, in den Hörsaal, hätte die Zähne gebleckt, voller Genugtuung in die bleichen Gesichter der Leute der Weltraumsicherheit geschaut, der Exobiologen, der Xenopsychologen, der extraterrestrischen Linguisten, der außerplanetarischen Diplomaten, der … »Was für ein eigentümlicher Fall!«, hätte er geschnarrt. »Ich bin doch tatsächlich immer noch der alte Tattergreis Andrej Chrumow, auch wenn ich jetzt in diesem hässlichen Körper des Reptiloiden vor Ihnen hocke …«
»Was für ein eigentümlicher Fall. Ich bin doch tatsächlich immer noch der alte Andrej Chrumow, auch wenn ich jetzt ein wenig an eine Eidechse erinnere«, sagte mein Großvater. »Und wenn Karel nicht die Absicht hat, sein Gedächtnis zu löschen, winkt mir noch ein langes Leben …«
»Du wirst mich noch überleben, Großpapa«, bemerkte ich.
»Möglich wäre das«, erwiderte er leichthin.
Ich schielte zu meinem Großvater hinüber … zu Karel. Der Zähler lag auf dem Fußboden. Wenn er ein Reptiloid ohne Gast im Körper gewesen wäre, hätte er es sich jetzt auf der Rückenlehne des Betts bequem gemacht.
»Was macht er, wenn du … das Wort führst?«
»Das weiß ich nicht, Petja«, antwortete mein Großvater. »Aber ich glaube, sogar dieser Zustand gefällt ihm. Schließlich hat er schon immer über zwei Bewusstseinsebenen verfügt, und die äußere Welt dürfte ihn weit weniger interessieren als die innere. Ein anderer würde an Stelle des Zählers womöglich schizophren werden, aber ihm ist das egal …«
»Und dir, Großpapa?«
»Mir?«
Ich glaube, er versuchte zu seufzen, aber im Körper eines Zählers ist das nicht so einfach.
»Weißt du, Petja, von einem bestimmten Alter an treten derartige Unannehmlichkeiten wie steife Gelenke, immer schlechter werdende Augen oder auch die Existenz in einem nicht-menschlichen Körper hinter der Möglichkeit zurück, sein Leben zu behalten.«
»Und wie willst du weiterleben, Großpapa?«, erkundigte ich mich leise. »Hier … gut, hier sind nur die Alari und wir – aber was ist auf der Erde?«
»Bin ich in den letzten Jahren etwa häufig aus dem Haus gegangen?«, antwortete mein Großvater mit einer Gegenfrage.
»Aber der Zähler wird doch …«
»Er hat mir einen Kompromiss vorgeschlagen. Fünfzig Jahre verbringen wir auf der Erde. In dieser Zeit wird Karel der Botschafter der Zähler bei den Menschen. Danach werde ich ein halbes Jahrhundert der Botschafter der Menschen bei ihnen sein, selbst wenn Menschen auf ihrem Planeten nicht überleben können. Anschließend geht es wieder von vorn los.«
Das war ein mehr als großzügiges Angebot. Nicht nur für meinen Großvater, sondern auch für die Erde insgesamt. Schließlich gewinnen die Beziehungen der Rassen des Konklaves untereinander mit diplomatischen Beziehungen ein qualitativ neues Niveau.
Dann ging mir der Sinn dieser Worte auf.
»Wie lange leben Zähler denn, Großpapa?«
Mein Großvater ließ sich mit der Antwort Zeit. »Sehr lange, Petja. Viel länger als wir.«
»Hast du schon etwas über ihre Welt in Erfahrung gebracht?«
In diesem Moment veränderte sich der Reptiloid auf schwer fassliche Weise. Er zuckte mit dem Kopf, streckte sich und sagte in scharfem Ton: »Pjotr, ich bitte dich, dieses Thema zu meiden.«
Schon in der nächsten Sekunde war Karel wieder verschwunden, hatte er sich in die zweite Schicht seines Bewusstseins verkrümelt. Trotzdem fühlte ich mich, als hätte jemand heißes Wasser über mich gegossen. O nein, ich hatte nicht mit meinem Großvater geredet, besser gesagt: nicht nur mit meinem Großvater. Der Zähler war die ganze Zeit über dabei. Er hörte alles, sah alles und zog aus allem seine Schlüsse.
»Es ist nicht sonderlich komfortabel, in einem Haus mit Glaswänden ein Zimmer zu mieten«, gestand mein Großvater. Und das … war wirklich mein Großvater!
Was für eine bittere und beißende Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet Andrej Chrumow ein Jahrhundert – und zwar mindestens ein Jahrhundert – in einem nicht-menschlichen Körper leben sollte!
Ich setzte mich im Bett auf und sah den Reptiloiden an. Die anderen hatten uns beide – genauer gesagt uns drei – allein gelassen. Damit wir unsere Familienprobleme klärten? Doch leider gibt es Situationen, die zu lösen man lieber gar nicht erst versucht, weil es einfach unmöglich ist.
»Was hast du jetzt vor, Großpapa? Ich meine, was die Geometer angeht.«
»Diese Entscheidung werden diejenigen treffen, die dafür zuständig sind«, antwortete er nur. »Ich werde meine Empfehlungen aussprechen, aber von mir hängt es nicht ab, mit wem die Erde ein Bündnis eingeht. Ich hoffe allerdings, dass sie sich für die Geometer entscheidet.«
»Das wäre ein Fehler, Großpapa.«
»Pjotr!« Der Reptiloid verkrampfte sich in dem vergeblichen Versuch, menschliche Empörung nachzustellen. »Das Bild, das du uns entworfen hast, fügt sich absolut in das einer normalen Gesellschaft ein.«
»Nein, das tut es nicht«, widersprach ich unnachgiebig. »Ganz und gar nicht.«
»Du lässt dich im Moment ausschließlich von deinen Gefühlen leiten, Pjotr. Ihre Art der Macht gefällt dir nicht? Eine Macht, die auf der Erziehung basiert?«
»Unter anderem auch das. Es ist einfach ein System, das niemandem eine Chance lässt. Jede Tyrannei, jede Diktatur sieht sich mit dem Widerstand der Menschen konfrontiert. Das ist vermutlich in der Natur der Menschen begründet. Solange die Welt in eine äußere, also in eine feindliche, und eine innere, also die Familie, unterteilt ist, gibt es immer zwei Varianten der Logik, zwei Verhaltensmodelle … Ja, sogar drei«, konnte ich mir nicht verkneifen, »denn an dem Punkt, wo die beiden Systeme aufeinanderstoßen, entsteht die Persönlichkeit als solche, eine Legierung aus Gesellschaft und Natur. Genau daraus entsteht Freiheit. Aber eine Welt, in der die Familie als solche ausgelöscht worden ist, wird monolithisch. In ihr gibt es keine Konflikte mehr. Da gibt es nur einen einzigen Moralkodex. Da … da gibt es keine Freiheit als solche, nehme ich an …«
»Siehst du, und ich habe dich so erzogen, wie ich es für richtig hielt«, unterbrach mich mein Großvater. »Und was habe ich nun davon?«
»Ich habe dich nicht darum gebeten, mich zu erziehen«, hielt ich dagegen.
Mein Großvater schwieg eine Weile, bevor er schließlich reagierte. »Das war ein Schlag unter die Gürtellinie, Pit.«
Der kindliche Name verfing bei mir jedoch nicht.
»Du hast jetzt keine Gürtellinie mehr. Gut, was auch immer deine Ziele gewesen sein mögen, Großpapa, jedenfalls hast du mich so erzogen, dass ich meine eigenen Entscheidungen treffe. Du hast mich zur Freiheit erzogen. Oder war das etwa nicht dein erklärtes Ziel? Genau deshalb musst du dir jetzt anhören, dass ich mir sicher bin, dass die Welt der Geometer der Erde nichts Gutes bringt.«
»Petja, hast du da, bei den Geometern, Bettler gesehen?«
Ich schwieg. Was hätte ich antworten sollen? Zum Glück wollte mein Großvater den Effekt noch steigern: »Oder Banditen? Verbrecher?«
»Ja. Ich habe in einem Konzentrationslager gesessen.«
»Wenn ich deiner Beschreibung trauen darf, dann ist das nicht der schlimmste Ort, Petja! Millionen von Menschen leben bei uns unter weitaus schlechteren Bedingungen. Kennst du die Flüchtlingslager bei Rostow? Oder die Arbeitssiedlungen für die Jugend in Sibirien?« Mein Großvater hatte die Stimme erhoben und presste aus der Kehle des Reptiloiden alles an Lautstärke heraus, was nur möglich war. »Als du dir die Schattenseiten dieses Planeten angesehen hast – ist dir dein eigener da vielleicht wie ein Paradies vorgekommen? Wach auf, Petja! Die Erde ist weiß Gott nicht der Kurort, für den du sie so gerne hältst.«
Die endlose eisige Tundra fiel mir wieder ein. Die Kette von Wachtürmen, in denen die Wendigen Freunde saßen. Der Historiker Agard Tarai, der die Wahrheit nur zu gut kannte – und sich trotzdem nicht zum Protest aufraffen konnte. Auch das Dampfbad fiel mir ein. Vielleicht wegen des Kontrasts: der glühende Wind und die vielen Menschen, die Angst hatten, einander zu berühren. Die Kinder aus dem Internat Weißes Meer, nette aufmüpfige Jungen, die man voller Sorgfalt und Liebe in nette gehorsame Roboter verwandeln würde.
»Die Erde ist ein Paradies«, sagte ich. »Glaub’s mir, Großpapa.«
Mein Ton ärgerte ihn. »Wenn eine Utopie auf die Realität stößt, führt das immer zu Deformationen«, murmelte er und schüttelte den dreieckigen Echsenkopf. »Die Utopie wird verzerrt, aber …«
»Nein, Großpapa. Hier ist nicht die Utopie deformiert worden, sondern die Realität.«
»Was hat dich in dieser Welt am meisten gestört, Pit?«, fragte mein Großvater nach kurzem Schweigen.
Es war wie ein Gruß aus der Kindheit. Wie viel Zeit hatte mein Großvater daran gegeben, mir beizubringen, den Kern einer Sache zu benennen. »Jammer nicht, sondern sag mir, was dir wehtut!« – »Wirf das Lehrbuch nicht in die Ecke, sondern sag mir, was du nicht verstehst!« -»Heul nicht, sondern erinner dich daran, wie sie dir auf die Nase gehauen haben!«
»Die Ausbilder. Ihre Selbstsicherheit. Ihr … ihr Bemühen, Gutes zu schaffen.«
»Und darüber regst du dich auf, Petja?«, fragte mein Großvater und brachte sogar einen echten Menschenlaut zustande. »Es ist doch nur zu begrüßen, wenn die Menschen an die Richtigkeit ihrer Überzeugungen glauben! Wenn sie versuchen, die Kinder danach zu erziehen! Gute Lehrer – genau das ist es, was unserer Gesellschaft fehlt!«
Plötzlich fiel mir Tag ein. »Kinder brauchen keine guten Lehrer«, hielt ich dagegen. »Sie brauchen gute Eltern.«
Daraufhin kicherte mein Großvater unvermittelt los. »Petja, deine Wissenslücken in Kombination mit deinem Geschick, sie zu stopfen, haben mich schon immer verblüfft. Jetzt ziehst du schon gegen Autoritäten zu Felde …«
»Gegen Autoritäten muss man zu Felde ziehen. Das bringt ihre Position mit sich.«
»Wenn ich das früher gewusst hätte …«, setzte mein Großvater an. »Aber lassen wir das. Was schlägst du vor, Petja?«
»Den Schatten, Großvater. Ich sollte dahin aufbrechen …«
»Warum ausgerechnet du?«
»Ich kenne die Geometer. Also werde ich ihre Feinde schneller begreifen.«
»Und wie stellst du dir diese Reise vor? Mit dem Jump? Zweiunddreißigtausend Lichtjahre geteilt durch zwölf Ganze und drei Zehntel … das sind ja bloß läppische dreitausend Sprünge! Wenn zwischen zwei Jumps jeweils zwei Stunden liegen, dann schaffen wir das in etwa acht Monaten. Hältst du das für realistisch, Petja?«
Ich hatte meinen Großvater auf die Palme gebracht, keine Frage.
»Nein«, stimmte ich ihm zu. »Selbst wenn die Alari die Fähre mit ihren Generatoren und Lebenserhaltungssystemen ausstatten würden …, würde das zu lange dauern. So viel Zeit haben wir nicht. Außerdem würde niemand so viele Jumps verkraften. Ich würde beim hundertsten durchdrehen.«
»Wie stellst du es dir dann vor? Uns fehlen die technischen Möglichkeiten, um zum Kern der Galaxis vorzudringen!«
»Das stimmt nicht. Wir haben das Schiff der Geometer.«
Darauf sagte mein Großvater kein Wort.
»Sie bewegen sich durch den Subraum«, erklärte ich ihm. »Genau wie die Alari und andere Rassen. Nur können sie dabei auch noch auf das Prinzip der permanenten Beschleunigung zurückgreifen. Je größer die Distanz ist, desto höher ist die Geschwindigkeit. Bei einer Strecke von zehn Parsec mag der Jumper vielleicht noch schneller sein. Aber wenn es um zehn Kiloparsec geht, wirst du nichts Besseres finden.«
»Woher weißt du das, Pjotr?« Mein Großvater wirkte verwirrt.
»Der Raum ist wie Stoff, Großpapa«, führte ich seufzend aus. »Wir können mit Lichtgeschwindigkeit über ihn kriechen. Oder wir können ihn zusammenknüllen und von einem Punkt zum anderen springen, das ist der Jump. Die Falten sind dabei immer gleich, egal was du anstellst, und der Schock ist unvermeidlich, denn die Energie wird nicht zusammen mit der Materie übertragen. Alle anderen Rassen nutzen die Kehrseite des Raums, wie auch immer diese genannt wird: Außer-Raum, Hypersprung oder Subraum. Aber …«
»Herzlichen Dank für den Vortrag«, unterbrach mich mein Großvater. »Man sollte ihn vor Schülern halten. Es gibt viele Hypothesen, aber das Prinzip des Jumps kennen wir eben immer noch nicht. Und wie die Triebwerke der Aliens funktionieren, wissen wir auch nicht. Das Einzige, was wir mit Sicherheit sagen können, ist, dass die Geschwindigkeit der Bewegung im Subraum begrenzt ist. Je höher sie ist, desto energieintensiver ist sie auch, noch dazu in geometrischer Folge. Das wiederum heißt …«
»Großpapa, ich habe mit dem Schiff der Geometer gesprochen«, warf ich ein. »Es ist ein gutes Schiff, das viele Informationen gespeichert hat. Es bewegt sich mit einer Mischung aus Jump und Bewegung durch den Subraum fort. Zunächst begibt es sich zur Kehrseite des Raums, dann leitet es den Jump ein. Von dort aus. Verstehst du das? Damit ist es nicht mehr nötig, Energie für die Bewegung durch den Außer-Raum zu verschwenden. Und es gibt keinen Jumpschock.«
»Aber wenn ein Schiff diese Information gespeichert hat, Pjotr … und wo doch alle gleich sind …« Irgendwie schien mein Großvater langsamer zu denken als sonst. »Dann hätte doch das Schiff, mit dem du von hier weggeflogen bist, diese Information auch abgespeichert haben müssen …«
»Das hat es auch«, sagte ich. »Da bin ich mir sicher.«
Den Körper des Reptiloiden durchlief ein Schauder. Allmählich fing ich an zu erkennen, wer sich als Nächstes zu Wort melden würde, Karel oder mein Großvater.
»Ich bitte um Verzeihung, dass ich Sie unterbreche, Andrej Valentinowitsch«, sagte der Zähler. »Aber das ist die einzige uns offenstehende Form der Kommunikation …«
»Du lügst.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin überzeugt davon, dass du seine Gedanken liest. Und ihm deine überträgst.«
»Das könnte ich zwar, aber ich unterlasse es«, entgegnete der Zähler scharf. »Das haben wir so vereinbart.«
Vielleicht sagte er die Wahrheit.
»Ja, ich wusste, auf welche Weise die Geometer sich durch den Raum bewegen«, fuhr der Zähler fort. »Aber das ist eine Information von zweitrangigem Wert, die wenig ändert. Deshalb habe ich es nicht für nötig gehalten, sie zu erwähnen.«
Der Körper des Reptiloiden fiel leicht in sich zusammen.
»Zweitrangig!«, krächzte mein Großvater. »Diese Information ist absolut erstrangig!«
Am ehesten erinnerte das Ganze noch an eine Persönlichkeitsspaltung.
»Die Triebwerke der Geometer würden also für die Aliens taugen? Sie würden dann nicht wahnsinnig werden? Habe ich dich da richtig verstanden, Petja?«
»Ja, ich glaube, so ist es. Die Geometer haben schließlich ihr Sternsystem, in dem drei intelligente Rassen leben, auf diese Weise durch den Raum bewegt. Außerdem ist der Jump im Subraum nicht mit unserem Jump zu vergleichen. Die Euphorie fehlt dabei völlig.«
»In Zukunft wird es also allen Rassen des Konklaves möglich sein, sich schnell im Kosmos fortzubewegen? Und wir werden nicht länger gebraucht?«
Der Reptiloid schoss hoch, die Vorderpfoten verhakten sich, und er plumpste auf den Bauch. Aber mein Großvater hielt sich nicht damit auf, dass er in seiner Aufregung versucht hatte, sich in dem fremden Körper zu bewegen.
»Das ist unser Tod, Karel! Allein, dass eine Rasse auftaucht, die dem Konklave feindlich gesonnen ist und absolut identisch mit den Menschen ist, reicht als Grund, uns zu töten! Wenn wir obendrein noch unseren einzigen Vorteil verlieren …«
Der Zähler übernahm nun wieder die Kontrolle über den Körper und setzte sich bequemer hin. »Ich habe von Anfang an darauf hingewiesen, Andrej Valentinowitsch, dass die Situation für die Menschen eine tödliche Bedrohung darstellt«, sagte er. »Wenn die Starken Rassen von der Technologie der Geometer hören, werden sie die Menschen vernichten, ohne mit der Wimper zu zucken.« Er machte eine kurze Pause. »Aber falls das ein Trost ist: Uns erwartet das gleiche Schicksal. Wir sind für die Starken Rassen nur lebende Computer. Und wir sind nur deshalb interessant, weil es als gefährlich gilt, intelligente Maschinen zu entwickeln. Dieses Problem haben die Geometer nun gelöst.«
»Wer muss sonst noch mit Schwierigkeiten rechnen?«, wollte mein Großvater wissen.
»Viele Rassen. Das Konklave macht sich nun einmal die starken Seiten seiner Mitglieder zunutze. Das bedeutet für die Schwachen Rassen eine Gefahr, gleichzeitig aber auch ihre Rettung. Denn diese Situation führt einerseits zu einer negativen, einseitigen Entwicklung, andererseits garantiert sie ihre Sicherheit, denn ihre Fähigkeiten werden mit der Zeit einzigartig. Die Geometer dagegen sind komplex entwickelt.«
»Das ist sehr seltsam.« Anscheinend hatte mein Großvater sich wieder ein wenig beruhigt. »Sie sind aus dem Kern gekommen. Die Entfernung zwischen den einzelnen Sternen im Kern ist weitaus geringer als bei uns. Da hätte man doch damit rechnen müssen, dass die Zahl der intelligenten Rassen wesentlich größer ist und es viel häufiger zu Kontakten zwischen den einzelnen Zivilisationen kommt … Es hätten … Strukturen entstehen müssen, die mit dem Konklave zu vergleichen sind.«
»Was wissen wir schon über die Gesetze zur Entstehung von Leben?«, warf der Zähler ein.
»Wir nicht sehr viel«, giftete mein Großvater.
»Wir noch weniger.«
Ich hatte den Eindruck, der Zähler hatte etwas ausgesprochen Wichtiges sagen wollen. Leider war das meinem Großvater jedoch entgangen, der sich darüber ärgerte, sich mit Karel beim Sprechen abwechseln zu müssen.
»Uns sind nur zwei Zivilisationen im Kern bekannt«, sagte er. »Die Geometer, ein Zusammenschluss von drei Rassen, in dem bei äußerlicher Gleichberechtigung die Menschen dominieren. Und der Schatten, von dem wir nichts wissen. Nicht einmal, wie seine Bewohner aussehen.«
»Ich glaube, sie sind ebenfalls humanoid«, mischte ich mich nun in ihr Gespräch ein.
»Wie kommst du darauf?«
»Das … das ist ein Gefühl von mir, Großpapa. Wie sie über den Schatten geredet haben … So reden wir nicht über Aliens – sondern eher über einen anderen Staat auf der Erde, der uns zwar missfällt, aber zu uns gehört.«
»Die Geometer leiden viel weniger an Xenophobie als wir.«
»Gerade deswegen glaube ich das ja, Großpapa. Sie sprechen den Kleinen und den Wendigen Freunden das Recht auf jede Merkwürdigkeit zu. Sie verhalten sich wie … wie ein großer Bruder. Aber mit dem Schatten ist es etwas ganz anderes.«
Mein Großvater schwieg.
»Karel«, sagte ich leise, »beantworte mir bitte eine Frage. Warum sind wir den Geometern so ähnlich? Nicht nur äußerlich, sondern auch vom genetischen Code her. Das kann doch kein Zufall sein!«
»Richtig«, stimmte mir der Zähler widerwillig zu.
»Also?«
Ich war mir fast sicher, dass ich, wenn er mir das erklären würde, sofort eine Antwort wüsste. Eine seltsame, universelle Antwort auf alle Rätsel und Probleme. Warum die Starken Rassen stark waren, warum die Schwachen Rassen schwach waren, was der Schatten war und wie wir die Geometer davon abhalten konnten, alle mit ihrer Freundschaft zu beglücken …
»Ich weiß die genaue Antwort nicht.«
»Genaue Antworten existieren sowieso nicht«, sagte ich sanft zu Karel. »Aber man kann immer etwas vermuten, spekulieren. Und du hast dich ja nicht darüber gewundert, dass wir den Geometern ähneln. Also musst du eine Hypothese haben, warum das so ist. Oder nicht?«
»Es ist nur eine Hypothese. Und die möchte ich nicht mitteilen.«
»Warum nicht?«
»Ihr würdet sie akzeptieren – und aufhören, selbst nach einer Antwort zu suchen. Nein, ihr solltet lieber unvoreingenommen und eigenständig nach einer Antwort suchen.«
Das ließ ich mir durch den Kopf gehen.
»Karel, wenn du meinst … wenn du glaubst, wir würden deine Hypothese akzeptieren, heißt das, sie schmeichelt den Menschen?«
»In gewissem Sinne …«, antwortete der Reptiloid widerwillig.
»Zum Beispiel so, dass sowohl wir wie auch die Geometer Nachfahren einer alten mächtigen Hyper-Zivilisation sind, die früher einmal die gesamte Galaxis besiedelt hat …«, tastete ich mich vor.
Der Reptiloid brach in leises Gelächter aus. »Solche Träume sind für junge, unreife Rassen typisch, Pjotr. Und zu denen habe ich die Menschen bisher eigentlich nicht gezählt.«
»Dann vielleicht weil …«
»Ich könnte dir zehn Hypothesen anbieten, Petja«, ergriff mein Großvater das Wort. »Dass die Geometer die Realität gewordene Frucht unserer Phantasie sind, dass wir die Folge eines verunglückten Experiments von ihnen sind oder die Nachfahren einer Expedition, die sich verirrt hat …«
»Die Frucht der Phantasie? Warum eigentlich nicht? Schließlich hast du selbst gesagt, dass dich ihre Gesellschaft an eine Utopie von uns Menschen erinnert! Jetzt fällt mir auch wieder ein, dass wir mal etwas über Regressoren gelesen haben … oder über Progressoren, über einen Weltrat …«
»Das wiederum hat gar nichts zu bedeuten, Pjotr. Das ist nur eine Frage der Übersetzung und der Sozialisation. Als der Zähler dir die Sprache der Geometer eingespeist hat, hast du notgedrungen adäquate Begriffe für ihre Termini gesucht. Dabei hast du auf die Quellen zurückgegriffen, die du kanntest, auf Fachzeitschriften, Bücher, die du in deiner Kindheit gelesen hast, und auf Klatschblätter. Wenn du der französische Astronaut Pierre oder der Amerikaner Peter gewesen wärst, hättest du den Planeten der Geometer mit anderen Augen gesehen. Mit völlig anderen. Wir betrachten die Welt nun einmal durch eine Brille mit dicken Vexiergläsern. Diese Brille ist uns bereits in unserer Kindheit aufgesetzt worden ist, und sie ist nichts anderes als die Gesamtheit aus Erziehung, Kultur und Mentalität. An ihr führt einfach kein Weg vorbei. Ich hätte dich nicht mit einer schwarzen Haube auf dem Kopf aufziehen können, Petja, denn dann hättest du niemals gelernt, etwas zu sehen.«
»Hör auf deinen Großvater, Petja, er ist klug«, sagte Karel.
Ich betrachtete den schmunzelnden Zähler. »Habt ihr beide euch gegen mich verschworen?«, fragte ich schließlich. »Zwei gegen einen?«
»Willst du etwa behaupten, ich hätte unrecht?«, fragte mein Großvater.
»Wahrscheinlich hast du recht«, räumte ich missmutig ein. »Du bist klüger, Großpapa. Darauf kannst du stolz sein.«
»Ich bin ja auch älter als du, Petja.«
Mein Großvater kicherte, wie immer, wenn nur er allein einen Witz verstand.
»Dann verrat mir mal, was wir jetzt machen sollen. Die Geometer unterstützen? Für das Konklave kämpfen? Oder was?«
»Wie willst du den Schatten denn finden?«, fragte mein Großvater nach einer kurzen Pause.
»In dem Schiff der Geometer gibt es Karten. Und immerhin ist es selbstständig aus dem Kern der Galaxis zu uns vorgedrungen. Ich würde mich einfach ins Schiff setzen und …«
»Wir würden uns ins Schiff setzen. Wir alle zusammen. Du, ich … Karel und ich. Danilow, Mascha …«
»Das dürfte nicht klappen«, wies ich ihn genüsslich zurück. »Diese Schiffe sind nur für eine Person gedacht. Maximal für zwei, das aber nur auf kurzen Strecken.«
»Erinnerst du dich, unter welchen Umständen die Alari das Erkundungsschiff in ihre Gewalt gebracht haben?«
»Wie?«
»Es hat versucht, einen alarischen Zerstörer zu entern. Er wollte an ihn andocken und ihn dann abschleppen. Diese Operation scheint recht erprobt zu sein. Wir könnten also unsere Wolchak an das Schiff der Geometer ankuppeln …«
Ich fing an zu lachen.
»Ist das dein Ernst, Großpapa? Du willst zum Kern der Galaxis vordringen – in einer Raumfähre mit Flüssigkeitsraketentriebwerken?«
»Ja, warum denn nicht?«
In der Tat – warum eigentlich nicht? Ich sagte kein Wort. Die alte Fähre würde einfach als zusätzliche Kabine dienen. Und es war durchaus möglich, dass das Scoutschiff stark genug für einen Flug mit unserer Fähre im Huckepack sein würde.
»Übrigens sind die Flüssigkeitsraketentriebwerke inzwischen weg«, informierte mein Großvater mich. »Die Alari haben sie gegen ihre Plasmatriebwerke ausgetauscht.«
»Haben sie die Triebwerke etwa einfach abmontiert und ersetzt?«
»Ja.«
Gerade als ich mit der Zentrierung, der Aerodynamik, der Thermoisolation und den Steuerungssystemen – die unter gar keinen Umständen mit außerirdischer Technologie kompatibel seien – loslegen wollte, fiel mein Blick auf den grinsenden Reptiloiden, und ich verkniff mir jeden Kommentar.
Ein Wilder, der für seinen Bogen statt der gewohnten Sehne aus gewässertem Darm eine synthetische erhält, darf zweifeln, ob er mit dem Gerät nun noch schießen kann. Aber es dürfte nicht ratsam sein, mich mit ihm auf eine Stufe zu stellen.
»Haben die Alari denn keine Angst? Schließlich verletzen sie damit die Gesetze …«
»Ein Geköpfter …«, bemerkte mein Großvater. »Was ist los, Petja? Ich bin bereit, deinem Plan zuzustimmen. Lass uns die wenige Zeit, die uns bleibt, nicht mit bürokratischem Wahnsinn vergeuden, mit Auseinandersetzungen mit irgendwelchen Idioten von der Regierung, sondern lass uns einfach zum Kern fliegen. Vielleicht ist uns das Schicksal hold. Vielleicht stoßen wir auf den Schatten … auf hochgewachsene, hellblonde, makellose Humanoide, die uns das Gute, die uns Verständnis lehren. Vielleicht werden die Geometer toleranter, während die Starken Rassen sich schämen und die Schwachen Rassen um Verzeihung bitten, vielleicht verwandelt sich die Erde in einen blühenden Garten … Na? Machen wir uns auf, ein Wunder zu erleben, Petja. Aber alle zusammen.«
»Glaubst du an unseren Erfolg?«, wollte ich wissen.
Der Reptiloid schüttelte den Kopf.
»Warum willigst du dann ein? Schließlich könnten wir auch beide Vorschläge realisieren. Ich fliege zum Kern, ihr kehrt mit Danilow und Mascha zur Erde zurück.«
Mein Großvater schwieg. Und auch der Zähler meldete sich nicht zu Wort.
»Du … du willst da hin?«, fragte ich ahnungsvoll. »Großpapa! Willst du dir wirklich eine fremde Welt anschauen?«
»Ja!«
Soweit der Sprechapparat des Reptiloiden Zorn wiedergeben konnte, machte mein Großvater sich diese Möglichkeit zunutze.
»Verstehst du das denn nicht?«, schrie er. »Gut, ich mag ein Wirrkopf und Fanatiker sein. Aber ich war immer ein ehrlicher Wirrkopf und ein romantischer Fanatiker! Vor der Erfindung des Jumps kannte ich die Namen aller Kosmonauten! Ich habe geheult, als unsere Marssonde ins Meer abgestürzt ist … und dir sagt nicht einmal mehr ihr Name etwas. Als die amerikanische Mondsiedlung niedergebrannt ist, habe ich mich zum ersten Mal in meinem Leben aus Kummer betrunken! Ich wollte für die Menschen eine Sternenzukunft. Sie ist dann ja auch eingetreten – aber weiß Gott nicht so, wie ich sie mir erträumt hatte. Wenn jedoch ein großer Traum wie eine Seifenblase zerplatzt, bleibt immer noch Raum für einen kleinen Traum. Einen persönlichen Traum! Womöglich vollbringt man sowieso nur dank solchen kleinen Träumen etwas Großes. Ja, ich möchte diesen Himmel sehen, der von Sternen flammt! Ich möchte zum Zentrum der Galaxis vordringen! Ich möchte einen Planeten betreten, auf den noch nie ein Mensch einen Fuß gesetzt hat und es in den nächsten tausend Jahren auch nicht tun wird! Vielleicht werde ich dann sogar für die Menschheit etwas zum Besseren wenden. Sofern das überhaupt möglich ist …«
Er verstummte, jedoch nicht, um Atem zu schöpfen – anscheinend bestand für den Reptiloiden dazu keine Notwendigkeit – sondern um seine Gedanken zu sortieren.
»Mir war klar, dass ich hätte verrecken können, als wir von der Erde gestartet sind«, fuhr er leise fort. »Ja und? Ob nun tot oder ausgestopft, Hauptsache in den Himmel …«
»Großpapa …«
»Sag mir ruhig, dass ich einen Fehler mache«, brachte mein Großvater heraus. »Ich würde dir nicht widersprechen. Schließlich bist du ein besserer Mensch als ich. Dazu habe ich dich ja erzogen.«
»Du machst keinen Fehler.«
Der Reptiloid sah mich mit seinen hellblauen Augen an.
»Weißt du, Großvater«, fuhr ich fort, »die Geometer sind unfähig, etwas für sich persönlich zu wollen. Fast unfähig. Vielleicht ist das sogar ihr entscheidendes Manko – dass sie alle eigenen Wünsche vergessen haben.«
»Egoismus als Voraussetzung für das Aufblühen einer Zivilisation?« Mein Großvater überging meine Zustimmung zu seiner Entscheidung schlankweg. »Nein, Pjotr, es ist nicht nötig, meinen Wunsch, mit dir mitzufliegen, irgendwie weltanschaulich zu rechtfertigen. Wir können gegenwärtig gar nicht entscheiden, was nun richtiger ist. Aber den Kern zu sehen ist einfach eine ungeheure Versuchung …«
Vielleicht hatte mein Großvater ja recht, wenn er meine philosophischen Überlegungen zurückwies, keine Ahnung. Trotzdem hegte ich meine Zweifel an der Normalität von Menschen, die keine persönlichen Wünsche mehr kannten. Die rein gar nichts für sich wollten, weder Macht noch Geld, weder einen Bungalow auf den Malediven noch den Himmel, an dem Millionen von Sternen prangen, oder jenes süße Zittern, das den Körper beim Jump erfasst.
Ein Mensch, der nichts zu verlieren hat, kann einen anderen niemals verstehen. Das haben die Menschen bereits oft genug bewiesen, angefangen von den Politikern auf der Erde bis hin zu den Ausbildern der Geometer. Und eine Welt, in der sich alle nur um andere sorgen, wäre nichts anderes als ein großer Ameisenhaufen. Aber danach sollte man nicht mich fragen, das sollte man besser in den moralischen Schriften Lew Tolstois nachlesen. Oder noch besser in den Erinnerungen Sofia Andrejewnas, in denen sie ihren großen Ehemann und sein Verhalten im Alltag beschreibt.
»Gut, Großvater«, sagte ich. »Lass uns der Versuchung nachgeben.«
»Wir müssen allerdings noch in Erfahrung bringen, was der Kommandant der Alari von der Sache hält. Sein Abenteurergeist hat schließlich auch seine Grenzen.«
Mein Großvater verstand es einfach, jedem Enthusiasmus einen Dämpfer aufzusetzen.
Danilow fand ich in einer der Hallen des Flaggschiffs. Genauer gesagt, nicht ich fand ihn, sondern ein hilfsbereiter Alari brachte mich zu ihm.
Inzwischen hatte ich auch begriffen, dass meine Flucht von Anfang an fingiert gewesen war. Nie im Leben hätte ich durch all diese labyrinthartigen, halbdunklen, sich keiner normalen Logik fügenden Gänge gefunden. Man musste eine Ratte sein oder zumindest wie die Alari einen Nager unter seinen Vorfahren haben, um sich nicht in ihnen zu verlaufen.
Nein, man hatte mich geführt, mir nur einen einzigen Weg offen gelassen und mir damit die Illusion von Freiheit vorgegaukelt. Das Bizarre daran war, dass diese Illusion weitaus wahrhaftiger und angenehmer war als die echte, nur minimal entstellte Freiheit in der Welt der Geometer …
Danilow checkte die Wolchak, was ziemlich dämlich aussah: ein winziger Mensch neben dem gewaltigen Shuttle, der gewissenhaft die Kortrison-Platten der Verkleidung überprüft, in die Düsen späht und die Seitenflächen abklopft. Das ist doch wirklich lächerlich, oder? Die Wolchak ist kein Auto, Danilow kein Chauffeur, der einen Defekt bemerken würde.
Aber man möchte halt die Kontrolle über die Situation behalten. Oder die entsprechende Illusion.
»Alexander!«, rief ich, als ich mich ihm näherte. Meine Stimme hallte dumpf in der leeren Halle wider.
Danilow drehte sich um und gab mir ein undefinierbares Zeichen mit der Hand.
»Was macht das Schiff?«, fragte ich.
»Alles in Ordnung«, antwortete der Oberst.
»Mein Großvater hat mir erzählt, es sei komplett umgerüstet worden.«
»Na ja, nicht komplett …«
Ich umrundete das Shuttle und lugte in die Düse.
Nichts Ungewöhnliches. Wo sollten diese Plasmatriebwerke denn sitzen?
»Die Alari haben uns ihre Triebwerke zur Verfügung gestellt«, teilte mir Danilow mürrisch mit. »Sie funktionieren mit Wasser. Und was die Energiequelle angeht – da haben sie mir erklärt, wir würden das Prinzip sowieso nicht verstehen, aber der Vorrat würde für mindestens ein Jahr reichen. Die Schubkraft würde enorm zunehmen.«
»Und was haben wir jetzt für ein Steuerungssystem?«
»Sie haben einen Schalter am Pult angebracht. Mit zwei Positionen: ›Plasma‹ und Emulation Flüssigkeitsrakete‹. Angeblich ist das Steuerungssystem auf die Parameter eingestellt, die wir gewohnt sind, so dass du nicht mal mitkriegst, mit welchem Triebwerk du fliegst. Wir sollen damit wie gehabt fliegen können. Wenn wir wollen, können wir ein paar Mal landen, zum Mond und zurück fliegen.«
»Können wir auch von der Erde aus starten?«, wollte ich wissen.
Danilow schwieg. »Ja«, ließ er dann widerwillig fallen.
»Und das funktioniert alles mit Wasser?«
»Ja.«
Unwillkürlich stellte ich mir ein verödetes Swobodny vor. Ohne Trägerraketen und Brennstofftanks. Es würde nur noch die Startbahnen und Reihen von Fähren geben. Sie würden beschleunigen und losfliegen, eigenständig in den Orbit austreten, den Jump vollführen …
»Können wir ihre Technologie eventuell kopieren?«, fragte ich.
»In hundert Jahren«, antwortete Danilow gereizt.
Ich verstand ihn völlig. Es schmerzt, mit der Nase auf die eigene Primitivität gestoßen zu werden. Vor allem auf eine derart überwältigende Primitivität …
»Haben die Alari uns ihre Triebwerke zur Verfügung gestellt, damit wir zu den Geometern fliegen können?«
»Ja.«
»Und? Nehmen sie uns die Dinger jetzt wieder weg?«
»Wieso sollten sie?« Danilow setzte ein schiefes Grinsen auf. »Als ich sie darauf angesprochen habe … haben sie mir geantwortet, das sei nicht nötig. Nicht bei diesem Schrott …«
Was für eine beschämende Szene: Danilow fragt den Kommandanten der Flotte traurig danach, wann er diese wundervollen, phantastischen, leistungsstarken Plasmatriebwerke wieder herausrücken muss, worauf dieser das Mäusegesicht verzieht und antwortet, es lohne sich nicht, sich mit solchem Plunder abzumühen – ganz wie ein Erwachsener, der einem kleinen Jungen eine Glasperle von erstaunlicher Farbe schenkt. Nur dass das Kind nicht versteht, wie kränkend es ist, wenn sein Schatz für andere nur wertloser Kram ist.
»Zumindest wirst du in einem guten Schiff Pilot sein«, versuchte ich ihn zu trösten. Es gelang mir nicht sonderlich gut.
»Mir hat die Wolchak vollauf genügt«, kappte Danilow meinen Zuspruch. »Und mit diesen Wundertriebwerken lässt man uns sowieso nicht wieder von der Erde weg. Sobald wir gelandet sind, wird das Schiff zu Forschungszwecken auseinandergenommen.«
»Auf der Erde wird man eher uns … auseinandernehmen«, rief ich ihm in Erinnerung. »Und dabei wird man uns alles, was wir uns geleistet haben, unter die Nase reiben. Allein ein Jump von einer niedrigen Umlaufbahn aus genügt, um für den Rest des Lebens Flugverbot zu erhalten.«
Danilow erwiderte kein Wort.
»Ich habe … mit meinem Großvater gesprochen«, fuhr ich fort. »Über einen Flug zum Kern.«
»Ich glaube nicht, dass das klug wäre.«
Das brachte mich aus dem Konzept. Bei Danilow hatte ich nicht mit Widerstand gerechnet.
»Petja, du hast dich auf ein Abenteuer eingelassen, auf das wildeste Abenteuer der Geschichte«, sagte Danilow. »Widerwillig zwar, aber du hast dich darauf eingelassen.
Dann ist jedoch ein Wunder geschehen, du hast es geschafft, in diese fremde Welt vorzudringen und sie mit heiler Haut wieder zu verlassen. Bild dir aber bloß nichts darauf ein! Wie hieß es seinerzeit bei uns: Wenn der erste Flug ins All problemlos verläuft, bringt das Unglück. Du hast an dein Glück geglaubt, daran, dass es nicht sonderlich schwierig ist, sich bei den Aliens einzuschleichen. Und jetzt hast du dir in den Kopf gesetzt, zu einem Ort aufzubrechen, von dem eine ganze Zivilisation geflohen ist. Eine mächtige und unbarmherzige Zivilisation … Ich bin gegen diesen Plan, Petja. Wir müssen zur Erde zurückkehren. Und ihr wenigstens dieses Schiff bringen, damit man es untersuchen kann.«
»Mein Großvater und ich werden zum Kern fliegen.«
Danilow warf mir einen scheelen Blick zu. »Und wie? Mit Jumps?«
Nun musste ich auch ihm all das erklären, was ich bereits meinem Großvater dargelegt hatte. Über das Schiff der Geometer und die Prinzipien seiner Fortbewegung.
Der Oberst hörte mir schweigend und irgendwie mürrisch zu. Nach einer Weile schüttelte er den Kopf. »Es gibt da noch ein kleines Hindernis. Da kommt es gerade …«
Ich drehte mich um. Durch die Halle kam der Kommandant des rot-violetten Geschwaders der Alari.
»Mein Großvater und der Zähler haben ihn bestimmt überzeugt«, sagte ich. »Was spräche denn überhaupt dagegen?«
»Das Schiff der Geometer, Pjotr. Es steht für eine ungeheuer starke Technologie. Es war eine Sache, als du nach einem Gedächtnisverlust mit ihm zu den Geometern geflogen bist. Aber es ist etwas ganz anderes, wenn wir mit ihm … bei klarem Kopf und wachem Verstand aufbrechen.«
»Das verstehe ich nicht«, gab ich offen zu.
»Was glaubst du denn, was passiert, wenn wir nicht zum Kern fliegen, sondern zur Erde? Wenn wir der Menschheit diese Technik überlassen? Dabei geht es nämlich nicht um irgendwelche alten Plasmatriebwerke, die unsere Industrie nicht nachbauen kann …«
Der Alari war schon ziemlich nah. Und wahrscheinlich hatte er Danilows Worte gehört. Ich lachte nervös. »Dann lässt sich das Schiff der Geometer ja wohl erst recht nicht nachbauen …«
»Doch«, konterte der Alari. »Es repariert sich von selbst, Pjotr Chrumow. Wer ein solches Schiff besitzt, hat auch eine kleine Fabrik zu ihrer Herstellung in der Hand. Eine einigermaßen einfallsreiche Zivilisation dürfte etwas damit anzufangen wissen.«
Er legte eine Pause ein.
»Und ihr seid einigermaßen einfallsreich.«
Nichts ist so schwer, wie gegen Misstrauen anzukämpfen, das absolut unbegründet ist. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, die Zivilisation vom Schatten vorzuschieben, um das Scoutschiff der Geometer zur Erde zu schmuggeln. Aber Danilow mit seiner Geheimdiensterfahrung hatte natürlich an diese Möglichkeit gedacht. Genau wie der Alien …
»Wir wollen wirklich nur mit der dritten Kraft Kontakt aufnehmen«, stellte ich klar. »Genauer gesagt, mit der vierten. Anschließend geben wir euch den Scout der Geometer zurück. Falls ihr dann noch an ihm interessiert seid.«
»Das werden wir sein«, erwiderte der Alari, mich fest im Blick behaltend. »Pjotr, deine Expedition in die Welt der Geometer hatte äußerst geringe Aussichten auf Erfolg. Der Versuch, in einen unbekannten Bereich der Galaxis vorzudringen, ist jedoch von vornherein zum Scheitern verurteilt. Das räumt sogar der Zähler ein.«
Na wunderbar. Was wollte ich denn bitte einem Wesen entgegensetzen, das sich nie irrt?
»Trotzdem rät der Zähler, es zu versuchen«, fuhr der Alari fort. »Und er ist bereit, selbst zum Kern aufzubrechen.«
»Hängt die Entscheidung von Ihnen ab?«
»Ja.«
Sie schwieg lange, diese übergroße Maus, welche die Vorteile für ihre Zivilisation ebenso angestrengt verfolgte, wie mein Großvater und ich es für die Menschen getan hatten.
»Wollen Sie das Schiff der Geometer behalten, um seine Technologie zu untersuchen?«, fragte ich.
»Man muss etwas nicht unbedingt behalten, wenn man es kopieren kann«, stellte der Alari fest.
Als mir einfiel, wie sie den Körper von Nik Rimer untersucht hatten, verzichtete ich auf weitere Fragen.
Wir standen neben dem Shuttle: Danilow mit einem säuerlichen, hoffnungslosen Gesichtsausdruck, der Alari versunken in seine Gedanken und ich verzweifelt nach Worten suchend, die den Alien zu überzeugen vermochten.
»Wie verworren das alles ist«, bemerkte der Alari. Mit recht leiser Stimme, fast als denke er laut und wolle mich an seinen Zweifeln teilhaben lassen. »Wenn wir gewusst hätten, auf was für eine vertrackte Situation wir zusteuern, hätten wir den Starken Rassen sofort Bericht über alles erstattet. Aber jetzt … ich weiß einfach nicht, welche Entscheidung richtig ist.«
Nach diesen Worten verstand ich ihn besser. Weitaus besser.
»Was würdest du tun, Mensch?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich. »Ich weiß es wirklich nicht. Wenn ihr uns nicht vorbehaltlos vertraut … dann gebt uns doch ein paar Soldaten mit.«
»Vertrauen kennt keine Abstufungen«, belehrte mich der Kommandant. »Das ist …« Der Cualcua hielt mit dem Dolmetschen inne und suchte nach Worten. »Das ist ein Trigger. Ja oder nein. Es gibt nur diese beiden Möglichkeiten.«
»Es ist schwierig, ein bisschen schwanger zu sein …«, brummte Danilow, ohne sich an jemand Bestimmtes zu wenden.
»Warum das?«, wunderte sich der Alari, der sich nun ihm zugewandt hatte. Er wartete die Antwort des verwirrten Obersten jedoch nicht ab und sah wieder mich an: »Versprichst du uns etwas, Pjotr Chrumow?«
»Ja.«
»Ihr bringt das Schiff der Geometer nicht zur Erde. Ihr sucht nur jene Zivilisation, die der Schatten genannt wird, und versucht, zu uns zurückzukehren. Sieben Erdtage wird unsere Flotte auf euch warten, hier an dieser Stelle im Raum.«
»Abgemacht«, antwortete ich, wobei ich noch nicht ganz fassen konnte, dass der Alari in unseren Plan einwilligte.
»Man bringt den Menschen Mascha her. Sie ist eure technische Spezialistin?«
»Ja.«
»Geht in die Waffenkammer. Dort wird man euch alle notwendigen Nahkampfwaffen aushändigen.«
»Wir werden ja wohl kaum kämpfen müssen …«
»Natürlich nicht. Aber ich kann meinen Offizier doch nicht unbewaffnet ausrücken lassen.«
Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was er damit meinte. Der Kommandant trat dicht vor mich. Er streckte die Pfote aus und legte sie mir mit ausgefahrenen Krallen auf die Brust.
»Pjotr Chrumow, als Mensch geboren …«, setzte er an. »Als Befehlshaber einer unabhängigen Flotte und kraft meiner hohen Herkunft ändere ich dein Schicksal.«
In seiner Stimme schwang keinerlei Feierlichkeit mit. Entweder hielt der Cualcua es nicht für nötig, sie zu artikulieren, oder die Alari litten nicht an Gefühlsseligkeit.
»Von heute an bist du Offizier des rot-violetten Geschwaders«, fuhr der Kommandant fort. »Du unterstehst mir, ich übernehme die Verantwortung für deine Handlungen. Du findest die Zivilisation vom Schatten, um unser, der Menschen, der Zähler und der Cualcua Wohl willen. Du kehrst zurück.«
Der Alari ballte seine Pfote, so dass sich mir die Krallen in die Brust bohrten. Dann drehte er sich um und ging davon.
Ich sah Danilow an, der jedoch genauso fassungslos war wie ich. Er rang sich ein Lächeln ab. »Pass auf, gleich wächst dir ein Schwanz …«, sagte er.
»Hör auf damit«, bat ich. »Das ist nicht nötig.«
»Nimm das alles doch nicht so ernst.« Danilow klopfte mir auf die Schulter. »Begreif doch, Petja! Der Alari hat damit einfach die Verbote des Konklaves zur Überlassung von Technologie umschifft. Er hat dich zu seinem Offizier gemacht, damit er dir erlauben kann, mit dem Scout der Geometer aufzubrechen. Das ist alles.«
»Alles?« Ich berührte das zerrissene Hemd. Ich würde es nähen müssen … »Sascha, wie oft haben die Aliens denn bisher Verbote umgangen, um den Menschen zu helfen?«
Danilow begleitete uns nicht in die Waffenkammer. Mich wunderte das zwar, aber ich versuchte trotzdem nicht, ihn zu überreden. Schließlich vertraute ich in dieser Frage sowieso eher Mascha, die sich unter der kundigen Anleitung meines Großvaters mit Waffen vertraut gemacht hatte.
Die Waffenkammer war nicht sehr groß und halbdunkel. In puncto Beleuchtung würden Menschen und Alari wohl nie auf einen Nenner kommen. Die geringe Größe des Raums verwirrte mich dann aber doch. Die Waffen lagen in offenen Regalen, jeweils nur ein Exemplar pro Regal.
»Schießen die etwa nicht gern alle mit der gleichen Kanone?«, fragte ich.
Mascha sah mich von oben herab an. »Petja, das ist der Ausstellungsraum. Das sind Muster. In den Waffenkammern der Weltraumsicherheit sieht es genauso aus.«
»Die kennst du?«, fragte ich, mich für meine eigene Dummheit verteufelnd.
»Och, ich kenne allerlei«, antwortete Mascha, ohne besonders aufzutrumpfen. Sie ging an den Regalen entlang und betrachtete die bizarren Stücke.
Der Alari, der uns begleitete, beobachtete sie schweigend.
»Sprühdosen!«, brummte Mascha abfällig.
»Was?«
Wenn diese todbringenden Spielzeuge an etwas nicht erinnerten, dann an Sprühdosen.
»Gaswaffen sind mal sehr modern gewesen. Sprays, Pistolen …«
»Ja und?«
»Sie nutzen dir nicht das Geringste. Ein gesetzestreuer Bürger wusste gar nicht, wie er sie gebrauchen sollte. Abgesehen davon hast du von ihnen nur symbolisch etwas. Dafür schwächt die trügerische Illusion von Sicherheit deine Aufmerksamkeit …«
»Ich glaube aber doch, dass es einen Unterschied zwischen Tränengas und Plasmapistolen gibt.«
»Hmm, in einer dunklen Tordurchfahrt. Aber das ist ja wohl nicht das Ziel unserer Reise, oder?«
»Woher wollen wir das denn wissen?«
»Stimmt … Du hättest deine Freunde, die Geometer, nach dem Schatten ausquetschen sollen.«
»Bin nicht dazu gekommen.«
Mascha hatte sich sehr verändert, seit ich zu den Geometern geflogen war. Etwas in ihr hatte einen Knacks bekommen oder war – ganz im Gegenteil – fester zusammengewachsen. Vielleicht aufgrund der Gesamtsituation hier an Bord eines fremden Raumschiffs. Oder aber durch das, was mit meinem Großvater passiert war. Das hielt ich sogar für wahrscheinlicher.
Sicher, Erotik dürfte in der Beziehung der beiden keine Rolle spielen. Dazu war mein Großvaters dann doch zu alt. Aber mit Sicherheit verehrte Mascha Andrej Valentinowitsch heftig.
Und was geschehen war, verkraftete sie vermutlich nicht ohne Weiteres. Bestimmt machte ihr diese Veränderung mehr zu schaffen als mir. Insofern hatte die Erfahrung meiner Symbiose mit dem Cualcua, der Wechsel von Körper und Gesicht, auch etwas Gutes, denn ich konnte selbst in dem Reptilienkörper meinen Großvater wiedererkennen, so wie er immer gewesen war, sarkastisch und unnachgiebig. Sobald ich die Augen schloss, glaubte ich, er säße immer noch neben mir.
Mascha dagegen blieben diese Möglichkeiten verschlossen. Sollte ich etwa einen Cualcua bitten, mit ihr eine Symbiose einzugehen? Aber ob sie dem zustimmen würde? Vielleicht wäre das überzeugendste Argument dafür ja nicht die Kraft und die Kondition, sondern die Möglichkeit, ein neues Gesicht zu bekommen … schön zu werden. Der Cualcua als beste Kosmetik des Universums …
Nein, Pjotr.
Was?
Wir lassen uns selten auf diese Art der Zusammenarbeit ein. Du bist eine der wenigen Ausnahmen.
Und warum?, dachte ich, während ich Mascha unverwandt ansah.
Wegen der Informationen. Wir wollten etwas über die Psyche der Menschen und die Welt der Geometer erfahren. Aber wir werden keine Symbiose mit anderen Vertretern deiner Rasse eingehen.
Dann eben nicht.
Dann würde es eben keine Schönheitssalons Wunder der Cualcua geben. Und auch die Klinik Gesundheit durch Cualcua würde nie entstehen. Denn im Grunde hätten sie meinen Großvater ja mühelos retten können. Sie hätten die kaputten Gefäße flicken und den Blutverlust stoppen können. Aber warum hätten sie das tun sollen?
Es nützt nichts, einen Sonnenstrahl zu bitten, in ein dunkles Zimmer zu fallen. Da ist es schon leichter, das Fenster zu öffnen. Oder eine Lampe anzumachen.
»Das ist alles nicht das Richtige!« Mascha drehte sich dem Alari zu. »Eure Waffen sind nicht für Menschen gedacht!«
»Selbstverständlich nicht.« Der Sinn für Humor des Alari blitzte auf. Es war ein alter und zauseliger Alien, der sich ungeschickt vorwärtsbewegte und dessen Fell schon fast weiß war. »Schließlich haben wir nicht die nötigen Extremitäten, um eine Waffe zu halten.«
Die meisten Waffen sahen in der Tat so aus, als würden sie auf die Schnauze aufgesetzt. Mir fiel ein Clip ein, den ich mal gesehen hatte: Ein Alari, der einen Harnisch trug und auf dessen Kinn eine gerippte Metallpistole saß. Aus dem Ding schlug ein feiner, blauer Strahl heraus. Eine Kopfbewegung – und das Licht schlug gegen die Kamera. Ende des Films …
»Lass uns mal überlegen, was wir in diesem Fall tun können.« So leicht gab Mascha nicht auf. »Der Kommandant hat befohlen, dass wir uns Waffen aussuchen.«
Zielsicher steuerte der Alari auf ein Regal zu.
Zehn Minuten später war die Entscheidung gefallen. Breite schlichte Armreifen, die, sobald sie aktiviert waren, ein scheibenförmiges Kraftfeld mit einem Durchmesser von zwanzig Zentimetern umgab. Sie funktionierten etwa wie eine Kreissäge. Ich malte mir aus, was passiert wäre, wenn sich mir bei meiner Flucht auch nur ein Alari mit einem solchen Ding über der Pfote in den Weg gestellt hätte. Ein Schauder rieselte mir über den Rücken. Mascha verlangte vier Armreifen, aber ich hatte nicht die Absicht, einen von ihnen zu tragen. Wahrscheinlich würde ich mir damit eher den eigenen Kopf absäbeln oder den Bauch aufschlitzen.
Eine andere Waffe überzeugte mich schon mehr. Eine Mikrowellenwaffe, genau so ein Strahler wie in dem Clip, den wir aber – im Gegensatz zu den Alari – an der Hand befestigen konnten. Da der Abzug in einem kegelförmigen Körper saß, vermutete ich, die Alari würden ihn im Kampf mit der Zunge betätigen. Der Alari führte uns die Waffe nicht vor. Ich versuchte, mir den Strahler auf die Hand zu schnallen. Das Ding war recht schwer, ließ sich aber noch tragen. Mit einem Mal fiel mir ein idiotischer SF-Film ein, in dem der furchtlose Held etwas in der Art trug, das ihm den Arm ersetzte, den er im Kampf verloren hatte. Ich musste grinsen und legte den Strahler weg.
Die letzte Waffe wählte Mascha selbst aus. Die Alari schnallten sie sich vermutlich auf den Rücken, denn der lange Lauf und das schwere Bodenstück dürften für ihre Beine mit Sicherheit zu schwer sein.
»Ein Ggorschsch?«, fragte Mascha überzeugt.
Der Alari wurde leicht nervös. »Nein! Nein! Das ist kein Ggorschsch, das ist ein Ggorschsch! Vorsicht!«
Mascha ließ sich auf keinen Streit ein. Sie wog das monströse Ding und nickte. »Den nehmen wir.«
»Ihr müsst mindestens zwei Kilometer und dreihundert Meter vom Ziel entfernt sein!« Der Alari beruhigte sich erst wieder, als Mascha den Ggorschsch, der in Wahrheit kein Ggorschsch war, zurücklegte. »Aus der Deckung heraus! Beim Einschalten die Augen schließen!«
»Sollen wir auch noch das ›Kyrie eleison‹ beten?«, schlug Mascha ohne jede Ironie vor. »Davon nehmen wir zwei Einheiten.«
»Zweitausend?«, fragte der Alari konsterniert zurück. »Da müsste ich erst die Zahl der im Lager vorrätigen Waffen überprüfen …«
»Zwei einzelne«, erklärte Mascha. »Für mich und für Danilow.«
»Eine kluge Entscheidung.« Ich nickte. »Ich habe kein gutes Augenmaß. Nachher halte ich die Distanz nicht ein …«
Als wir schon am Ausgang waren, schielte Mascha noch einmal zu ein paar grellroten Scheiben hinüber. »Atomminen?«, fragte sie.
»Ja«, antwortete der Alari voller Respekt. Offenbar hatte Maschas letzte Waffenwahl ihn beeindruckt.
»Die kenn ich«, bemerkte Mascha beiläufig, nahm sie jedoch nicht. »Gehen wir zu mir, Petja. Ich habe Kaffee.«
»Woher kennst du dich so gut mit ihren Waffen aus?«, fragte ich im Gang.
»Ab und an sickern eben Informationen durch«, antwortete Mascha ausweichend.
Man weiß ja, zu wem Informationen normalerweise durchsickern …
In der Kajüte, die die gastfreundlichen Alari den Menschen zur Verfügung gestellt hatten, war ich bisher nur einmal gewesen. Als ich im Sessel Platz nahm, fiel mir meine aufrichtige Freude ein, die ich bei dem Gedanken empfunden hatte, dass es spezielle Sitzmöbel gab.
Gedächtnisschwäche ist eine glückliche Krankheit. Voll angenehmer Überraschungen.
Der Kaffee kam aus der Schweiz, Nescafé, in Plastikbechern, die sich selbst erwärmten und aus der Flugration des Shuttles stammten. Ich zog den blöden Strohhalm heraus, denn damit konnte man seinen Kaffee wirklich nur in der Schwerelosigkeit oder bei getrübtem Verstand trinken, zog das Stanniol vom Becher und schnupperte genüsslich. Das Getränk, das bei den Geometern den Kaffee ersetzte, hatte letzten Endes doch einen völlig anderen Geschmack. Schließlich nahm ich den ersten Schluck.
»Vielen Dank, Mascha. Das ist genau das, was ich jetzt brauche.«
In der Regel hören Frauen immer gern Komplimente bezüglich ihrer kulinarischen Meisterschaft. Selbst wenn sie nur eine Konservendose aufgemacht haben, sollte man sich so begeistert zeigen, als hätten sie gedämpften Stör oder lockeren usbekischen Pilaw aufgetischt. Auch Mascha nahm das Kompliment zufrieden auf.
»Mir ist völlig schleierhaft, wie ihr für einen ganzen Monat wegfliegen könnt«, erklärte sie, »ohne etwas Anständiges zu essen dabeizuhaben.«
»In den Weltraumbahnhöfen gibt es Restaurants. Da kann man anständig essen.«
»Ach ja? Werden die denn von der Erde beliefert?«
»Natürlich nicht. Normalerweise erhalten die Außerirdischen bloß Proben von Fleisch, Kartoffeln und Kräutern. Die Aliens imitieren dann unsere Lebensmittel auf der Grundlage ihrer synthetischen Nahrungsmittel. Das ist zwar auch teuer, aber billiger, als wenn sie die Waren importieren würden.«
»Und schmeckt wahrscheinlich besser«, bemerkte Mascha.
»Nicht unbedingt. Richtiges Essen ist immer unterschiedlich. Sogar auf der Erde schmecken die Kartoffeln von den Nachbarfeldern anders. Und das gilt erst recht für Fleisch, schließlich gibt es keine zwei identischen Kühe.«
»Es ist widerwärtig, Tiere zu töten, um etwas zu essen zu haben«, sagte Mascha plötzlich.
»Du wirkst gar nicht wie eine Vegetarierin …«
»Bin ich auch nicht, aber nur aus Vernunftgründen. Tierische Nahrung ist notwendig, deshalb nehme ich sie zu mir.«
Diese Sicht der Dinge amüsierte mich. Wenn du gern Fleisch isst – warum dann diese Verrenkungen?
»Ist das irgendwie komisch?«, fragte Mascha streng.
»Ja. Deine militärischen Kenntnisse und deine Tierliebe sind …«
»Ja, ja, ich weiß, Hitler war auch Vegetarier … Pjotr, ein ehrlicher Kampf ist eine Sache, etwas anderes ist es, Tiere als Nahrungsmittel zu verwenden.«
Ich setzte den Streit nicht fort, das bringt in solchen Fällen nie etwas. »Trotzdem ist deine Begeisterung für Waffen eher typisch für Männer«, sagte ich nur noch.
»Ja und? Meine ganze Kindheit über habe ich darunter gelitten, kein Junge zu sein. Man hat mich sogar zu einem Psychiater geschleppt. Ich litt aber nicht unter sexuellen Störungen, sondern zeigte nur eine erhöhte Aggressivität und einen enormen Drang zur Macht.«
Ich verschluckte mich am Kaffee und gelobte mir feierlich, mit Mascha nie wieder ein Gespräch über ein solches Thema anzufangen. Eine derartige Offenheit erschreckt mich immer.
Andererseits schrie die Situation förmlich nach solchen Gesprächen. Mein Großvater samt Zähler – jetzt musste ich die beiden ja immer zusammen denken – waren sonst wo. Vielleicht besprachen sie etwas mit dem Kommandanten, keine Ahnung. Und Danilow war beim Shuttle geblieben.
»Vorhin habe ich zunächst gedacht, du willst die Waffenkammer plündern«, wechselte ich ungeschickt das Thema. »Wegen deiner erhöhten Aggressivität.«
»Wozu das? Wir haben eine Waffe, die auf einem Kraftfeld basiert, eine Mikrowellenwaffe und nicht zu vergessen den Ggorschsch. Warum hätten wir es übertreiben sollen? … Sag mal, Pjotr, darf ich dir eine persönliche Frage stellen?«
Obwohl ich mit dem Schlimmsten rechnete, nickte ich.
»Nimmt dich der Tod deines Großvaters sehr mit?«
»Was?!«
Mascha seufzte und setzte sich mir gegenüber hin. »Er ist doch tot, Pjotr. Man kann ja wohl nicht allen Ernstes glauben, ein Mensch sei lediglich eine Ansammlung von elektrischen Signalen in den Synapsen.«
»Was denn sonst? Die Seele?« Da meine Kehle völlig ausgetrocknet war, fing ich an zu stammeln.
»Nicht unbedingt. Ich bin nicht gläubig. Aber der Körper macht mindestens die Hälfte eines Menschen aus.«
Ich sah ihr in die Augen. Nein, sie erlaubte sich keinen Spaß. Und mit so etwas machte man auch keinen Spaß.
»Mascha, für dich und für mich mag das vielleicht zutreffen. Wir sind schließlich noch jung. Bei uns brodeln die Hormone noch.« Zu meiner eigenen Überraschung wechselte ich plötzlich in einen eher zynischen Ton: »Für dich mag ich sexuell anziehend sein …«
»Durchaus«, antwortete Mascha gelassen, »aber nicht so stark wie Sascha Danilow.«
»Mein Großvater hat jedoch bereits das Alter überschritten, wo er …« Ich schluckte eine offene Beleidigung hinunter. »Er ernährt sich hauptsächlich von Joghurt und Babybrei. Heimlich eine Pfeife zu rauchen, ist für ihn ein Ereignis, einen Wodka zu trinken, die reinste Orgie.«
»Und was ist, wenn er durch den Garten wandert, Blumen pflückt und den Hund streichelt?«
»Wenn ich auf der Erde bin, muss ich ihn ständig zu einem Spaziergang nach draußen jagen!«
»Trotzdem, Petja.«
»Mascha … liebst du ihn etwa?«
»Ich habe Andrej Valentinowitsch geliebt und werde ihn immer lieben!«, herrschte mich Mascha an. »Ihn – und nicht diese Eidechse mit seinem Gedächtnis.«
In mir explodierte etwas. Kurz zitterte der Kaffeebecher in meiner Hand, bereit, einen Flug zu einem klar definierten Ziel anzutreten.
Daran hinderte mich nur, dass der Kaffee noch zu heiß war.
Ich stand auf und verließ die Kajüte. Ich musste Danilow beim Check des Shuttles helfen. Schließlich war ich der zweite Pilot.
Der zweite Pilot – und keine Frau voller Komplexe, für die ein Mensch und sein Äußeres untrennbar miteinander verschmolzen waren.
Was auch immer die Motive der Alari sein mochten – ob sie uns in unserer Rückständigkeit nicht über den Weg trauten oder echte Freundschaft für uns empfanden – jedenfalls hatten sie das Steuerungssystem der Fähre in der Tat nicht verändert. Der Navigationscomputer hegte nach wie vor die feste Überzeugung, das Schiff sei mit ganz normalen Flüssigkeitsraketentriebwerken ausgestattet. Weder der praktisch unerschöpfliche Brennstoffvorrat noch die enorme Schubkraft konnten ihn davon abbringen.
Mit Mascha hatte ich kein Wort mehr gewechselt. Sie sah mich immer wieder an und bedauerte zweifellos ihre Offenheit, ich zog es jedoch vor, ihre Blicke zu ignorieren. Meinem Großvater sagte ich natürlich auch nichts davon.
Die Waffen und die Nahrung, die uns die Alari zur Verfügung gestellt hatten, wollten wir zunächst im Frachtraum unterbringen. Über unserer überstürzten Flucht und dem Flug hatten wir allerdings die dort verstauten, auf Jel sehnsüchtig erwarteten Büsten völlig vergessen. Nun starrten uns die blicklosen Köpfe der Parteiführer aus dem letzten Jahrhundert, der Helden der Krim-Krise und der Präsidenten unserer Verbündeten tadelnd an.
Der Proviant musste in der Kabine untergebracht werden.
Ich blieb bis zur letzten Minute im Shuttle. Als einschließlich meines Großvaters samt Zähler alle eingestiegen waren, drückte ich Danilow die Hand und sprang hinaus. Von unten sah ich Danilow, der sich ewig mühte, die Luke zu schließen, noch zu. In der Halle hatten sich zahllose Alari versammelt, darunter auch der Kommandant. Bevor ich ins Schiff der Geometer kletterte, ging ich noch einmal zu ihm.
»Ich hoffe, mein Offizier enttäuscht mich nicht«, sagte der Alari leise.
Was soll ich jetzt am besten antworten, Cualcua?
Mein Symbiont schwieg eine Sekunde, ich glaubte sogar schon, er wollte die Frage ignorieren.
Glaube und Liebe werden mir helfen.
»Glaube und Liebe werden mir helfen.«
Im Blick des Alari leuchtete lebhafte Neugier auf.
»Pjotr Chrumow, wofür hältst du mein Verhalten? Für einen schlauen Trick, wie Alexander Danilow vermutet?«
Sie haben ein feines Gehör. Genauer, nicht sie, sondern die Cualcua …
»Nein«, antwortete ich, nachdem ich kurz nachgedacht hatte. »Für einen Vertrauensbeweis.«
»Verspürst du Dankbarkeit?«
»Ich glaube nicht. Eher Respekt Ihnen gegenüber.«
»Das ist auch gut.« Danach sagte der Kommandant nichts mehr. Ich hielt das für ein Zeichen, dass die Abschiedszeremonie damit erledigt sei, und ging zum Schiff.
Cualcua, ich muss jetzt wieder Nik Rimer sein.
Eine Antwort blieb zwar aus, doch mein Gesicht fing an zu brennen. Der Cualcua waberte durch mein Fleisch und ließ an meiner Körperoberfläche jene Zellen erscheinen, die früher dem unbekannten Dichter der Geometer gehört hatten.
Zum Schiff ging ich bereits als Nik.
Die Halbkugel der Kabine tat sich auf. Als ich mich schon am Rand hochhangelte und ins Cockpit springen wollte, öffnete sich die Decke der Halle.
Wind wehte herein, es gab eine sekundenkurze Luftbewegung, dann verschloss ein Kraftfeld die Öffnung. Über der Halle leuchteten blendend die Sterne, über der Halle hing die eisige Nacht des Kosmos. Ich legte den Kopf in den Nacken und beobachtete, wie die Wolchak in diese Nacht aufstieg, wie über den Schiffskörper Funken liefen, die sich am Verteidigungsfeld entzündet hatten. Von hier, vom Innern des Flaggschiffs aus, wirkte die interstellare Leere überhaupt nicht schrecklich. Im Gegenteil, sie war in ihrer unverhüllten Nacktheit durch und durch schön, sie war großartig, zärtlich und demütig.
So sollte auch unsere Schönheit sein. Wir müssten noch einmal ins All aufbrechen. Als gleichberechtigte Partner. Nicht so von der eigenen Wahrheit überzeugt wie die Geometer. Nicht so alt wie die Cualcua. Nicht so klug wie die Zähler.
Sondern nur wir selbst.
Ich hob die Hand – und verbarg dahinter etliche Sterne. Vielleicht gehörten sie den Starken und Schwachen Rassen. Vielleicht standen sie aber auch für sich selbst, für ein ungezügeltes und freies Leben. Vielleicht warteten sie auf denjenigen, der sie zuerst betreten würde.
»Geduldet euch noch ein wenig …«, flüsterte ich.
Die Wolchak schwebte hinaus in den Raum.
In meinem Scout war alles genau wie in dem Schiff von Nik. Die Kabine schloss sich, gleichzeitig leuchteten die Monitore auf. Ich tauchte die Hand in den kolloidalen Aktivator.
Ich begrüße dich an Bord. Es liegen außerordentlich wertvolle Informationen über ein fremdes Schiff vor.
Der Computer, der sich nach Auskunft der Aliens für intelligent und allmächtig hielt, wunderte sich in keiner Weise darüber, dass sein Pilot einem völlig fremden Humanoiden entschlüpft war. In dieser Hinsicht waren die Computer der Geometer auch nicht schlauer als die der Menschen.
»Hervorragend. Lass uns starten und dem Schiff folgen, das gerade eben gestartet ist.«
Es liegen außerordentlich wertvolle Informationen vor! Die müssen wir nach Der Heimat bringen.
Für den Bruchteil einer Sekunde befürchtete ich, das Schiff würde mir nicht länger gehorchen und mit seinem Bericht zu den Geometern fliegen.
»Richtig, das müssen wir. Aber zunächst wartet auf uns noch eine extrem wichtige Mission der Freundschaft.«
Ist sie tatsächlich von so hoher Relevanz?
»Von noch höherer, als du es dir vorstellen kannst.«
Dann erfülle ich sie.
Das Schiff stieg in die Luft auf. Die Alari am Boden stoben auseinander und pressten sich gegen die Wände.
»Und jetzt hör dir den Auftrag an«, sagte ich. »Wir folgen dem sich entfernenden Schiff in einem Abstand von … na, sagen wir hundert Schritt. Sobald wir uns von dem Schiff, aus dem wir gestartet sind, mehr als zehntausend Schritt entfernt haben …«
Eine verbale Formulierung ist nicht notwendig, fiel mir der Computer ins Wort.
Also setzten wir der Wolchak nach.
Sobald sich das Schiff der Geometer fünf Kilometer von dem Geschwader der Alari entfernt hatte, dockte es an Danilows Fähre an. Natürlich nicht auf die Weise, die wir auf der Erde kannten. Der Scout blieb buchstäblich an der Fähre kleben – soweit ich feststellen konnte, ohne dass spezielle Andockvorrichtungen ausgefahren wurden.
Nun stellten wir eine absurde Konstruktion aus einem Raumflugzeug und einer Scheibe dar, die nahe der Schleuse angepappt dar. Für mich, in meiner künstlichen Schwerkraft, sah es so aus, als wollten wir unter dem auf der Seite liegenden Shuttle hinwegtauchen.
Ein paar Minuten waren nötig, um dem Computer klarzumachen, wo bei der Fähre oben und unten war und wohin der Gravitationsvektor auszurichten war. Schließlich wäre es dumm gewesen, die Bequemlichkeiten, die das Schiff der Geometer bot, ungenutzt zu lassen.
Nach einer Weile öffnete der Scout einen Durchgang.
Bei seinem Blütenblätterprinzip war das gar nicht so einfach. Hatte ich anfangs den Eindruck, es handle sich dabei um ein reich mechanisches Prinzip, sprang der Unterschied zwischen der Technologie der Erde und jener Der Heimat jetzt förmlich ins Auge. In der Verkleidung öffnete sich nämlich ein Spalt, der perfekt an die Luke der Wolchak angepasst war. Ich entstieg dem Sitz, der nun an der Wand befestigt zu sein schien, berührte mit dem Handrücken vorsichtig die Luke, zog die Hand jedoch gleich wieder zurück.
Verflucht, war das kalt!
Hundert Grad – unter null natürlich.
»Öffnet das Tor, die Verstärkung ist da!«, schrie ich, als hoffte ich, meine Stimme würde durch die dicke Verkleidung zu hören sein.
Die Antwort bestand in Stille. Was machten die denn da so lange?
»He, Hausherr, haben Sie einen Schlosser bestellt?«
In dem Moment machte sich plötzlich der Cualcua bemerkbar. Pjotr, du bist ein wohlmeinender und guter Mensch.
»Wie kommst du denn darauf?«, fragte ich.
Das ist meine Meinung.
Ich wartete, bis ich hörte, wie sich die Schlösser entriegelten. Die Wolchak verfügte über ein simples Blockiersystem, das sich aktivierte, sobald um das Schiff herum ein Vakuum existierte. Endlich konnte ich die Luke öffnen.
»Hallo, Sascha«, sagte ich in einem Ton, als hätten wir uns einen Monat nicht gesehen.
Dabei hatten wir uns vor einem Monat kaum gekannt!
»Weißt du, wie die Hermetisierung funktioniert?« Danilow beäugte den mit dem Shuttle verbundenen Scout misstrauisch.
»Keine Ahnung. Aber das dürfte wohl unser geringstes Problem sein, oder?«
»Stimmt«, pflichtete mir Danilow bei. Er setzte ein schiefes Grinsen auf. »Man könnte ja fast meinen, die Schiffe küssen sich.«
Entlang der Linie, an der sich die beiden Schiffe berührten, war die Verkleidung in der Tat dicker und ließ an Lippen denken.
»Und das ist wirklich sicher?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt … mit der Schwerkraft. Du hättest uns warnen müssen, dass sie sich beim Andocken auch bei uns bemerkbar macht.«
Sicher, das hätte ich tun sollen. Aber man gewöhnt sich eben schnell an das Gute. Drei Flüge im Schiff der Geometer hatten ausgereicht, damit ich die künstliche Schwerkraft als gegeben hinnahm.
»Na, lassen wir das. Gehen wir, Petja.«
»Meinst du? Lass uns lieber mit der Beschleunigung beginnen.«
Der Oberst wurde leicht verlegen. »Das hat Zeit. Erst mal haben wir was zu besprechen.«
Zusammen mit Danilow ging ich ins Cockpit. Der Reptiloid saß wie gehabt im Sitz des Wissenschaftsastronauten, Mascha behielt im Stehen den Hauptbildschirm im Auge, auf dem die Schiffe der Alari zu erkennen waren.
»Was gibt es denn für ein Problem?«, fragte ich ahnungslos. Aus irgendeinem Grund fielen mir die Worte des Cualcua ein. Ein wohlmeinender und guter Mensch.
»Petja.« Danilow baute sich einige Schritt vor mir auf. Auch er linste jetzt zum Monitor hinüber. Die Schwerkraft in einem Shuttle, das sich im freien Flug fortbewegte, hatte ihn eindeutig aus dem Konzept gebracht. »Petja, lass uns jetzt klären, was wir tun wollen.«
»Was meinst du damit?«
»Du hast ja wohl nicht wirklich die Absicht, zum Kern zu fliegen?«
Mascha drehte sich um und sah uns an. Der Reptiloid – seinen Körper regierte jetzt fraglos Karel – sprang vom Sitz und sperrte das Maul auf, schwieg aber.
»Wovon redest du, Sascha?«
»Wir haben die Plasmatriebwerke der Alari. Das Schiff der Geometer bietet eine Technologie, die alles übersteigt, was dem Konklave zur Verfügung steht. Und es kann sich selbst reproduzieren. Wir haben Musterwaffen dieser … wahnsinnigen Mäuse. Warum zum Teufel sollen wir umkommen?«
Ob »wohlmeinend und gut« ein Synonym für »naiv« war?
»Du hast das alles großartig eingefädelt, Pjotr«, fuhr Danilow fort, von meinem Schweigen offensichtlich ermutigt. »In ein paar Wochen wird in der Galaxis die Hölle los sein … und dann kann womöglich entscheidend sein, dass die Erde über eine neue Technologie verfügt. Mit wem auch immer wir uns verbünden, mit den Geometern oder mit dem Konklave, es wird unser ganzes Schicksal verändern. Und dein Verhalten … habe keine Angst, das wird man nicht vergessen. Du bist der Mensch, der die Erde auf ihrem Weg in die Zukunft gebracht hat. Der alles zum Guten gewendet hat! Du bist schon heute ein Held! Was wir uns bisher für dich überlegt haben, ist doch nicht der Rede wert. Und damit meine ich nicht etwaige Strafen, sondern deine Auszeichnungen.«
Er setzte abermals ein schiefes Lächeln auf.
»Wir müssen eine Versammlung der UNO einberufen, damit man sich eine angemessene Auszeichnung für dich überlegt …«
Über meine Brust rieselten eisige Schauder. Mich fröstelte, das Ganze widerte mich an. Als hätte man mich mit Spülicht übergössen.
»Glaube und Liebe …«, sagte ich.
»Was?«
»Glaube und Liebe werden mir helfen. Das antworten die alarischen Offiziere ihrem Kommandanten, wenn sie ausziehen.«
In Danilows Augen veränderte sich etwas. Gerade eben hatten in ihnen noch Verlegenheit und Schuld gestanden. Wie bei einem durchtriebenen Schuljungen, der den Primus anstiftet, den Unterricht zu schwänzen und Schnaps auszuprobieren. Jetzt lagen in ihnen nur Ekel und Verachtung.
»Nimmst du das alles etwa ernst? Petja, die Alari werden es nicht wagen, auch nur einen Mucks darüber zu verlieren, dass wir ihr Schiff entführt haben! Damit würden sie sich nur selbst reinreiten!«
»Dann frag Karel nach seiner Meinung!«
»Karel, du selbst hast Pjotrs Vorschlag als Wahnsinn bezeichnet«, fuhr Danilow fort, den Blick fest auf mich gerichtet. »Was hältst du von meinem?«
»Das ist Verrat«, antwortete der Reptiloid.
»Das wundert mich nicht«, ließ sich Danilow vernehmen. Er trat einen Schritt zurück und knöpfte das Holster auf.
Wollte er etwa schießen?
Noch bevor ich irgendetwas unternehmen konnte, zog Danilow die Waffe. Nur dass das keine »Laserpeitsche« war, sondern so ein Lähmungsdings, auch wenn es überhaupt nicht wie jener Apparat aussah, den mein Großvater einmal in meinem Beisein gebraucht hatte.
Danilow schoss, mehr oder weniger ohne zu zielen. Mit idiotischer Verwunderung begriff ich, dass der Oberst im Schießen nicht weniger Erfahrung hatte als im Lenken einer Fähre. Der Reptiloid sank sanft zu Boden.
»Keine Sorge, er ist nur gelähmt«, versicherte mir Danilow rasch. »Pjotr, ich biete dir jetzt zum letzten Mal an …«
»Das ist eine Einwegwaffe«, erinnerte ich ihn.
Danilow blickte runter auf den Paralysator – und ich stürzte mich auf ihn. Mir blieb nicht einmal mehr die Zeit, den Cualcua um eine Kampftransformation zu bitten. Allerdings bestand dafür auch keine Notwendigkeit.
Sicher, ich war kein Geheimdienstmann mit jahrelanger Erfahrung – ich war einfach nur halb so alt wie Danilow.
Glaube und Liebe!
Mir doch egal, welche Motive der alarische Kommandant hatte! Ich hatte ihm versprochen, zum Kern zu fliegen, und damit war es mir ernst gewesen!
Danilow wich dem ersten Schlag aus, brachte sich in Kampfposition und warf die Waffe weg. Ich handelte jetzt ganz instinktiv. Die Wesi, diese Nachfolgerin des NKWD, des KGB, des FBI und anderer angenehmer Firmen, heute, im kosmischen Zeitalter, brachte einem im Rahmen der Zweikampfausbildung allerlei ungewöhnliche Tricks bei.
Ich dagegen holte bloß aus und semmelte ihm eine, ganz ohne Kampfkunstregeln, sondern genauso, wie ich mich in der Kindheit geprügelt hatte.
Danilow versuchte erneut, dem Schlag auszuweichen. Seine Reflexe ließen nichts zu wünschen übrig, doch gerade sie spielten ihm diesmal einen Streich. Eine Schlägerei in der Schwerelosigkeit – und Gerüchten zufolge basiert darauf die Zweikampfausbildung der Wesi – ist eine Sache. Etwas ganz anderes ist es, wenn die Schwerelosigkeit in dem vertrauten Cockpit eines Shuttles plötzlich wegfällt. Danilow federte sich vom Boden hoch, fraglos in der Absicht, zur Decke zu schweben. Die Anziehungskraft machte ihm jedoch einen Strich durch die Rechnung. Mitten in seinem unbeholfen Sprung erwischte ihn mein Kinnhaken.
»Du bist ein Dreckskerl …«, zischte ich, den sich krümmenden Oberst nicht aus den Augen lassend. Mir fiel der Navigator wieder ein, dieser arme Kerl, dem Danilow, ohne mit der Wimper zu zucken, ein Bein gebrochen hatte. »Ein Dreckskerl …«
Ich trat ihm vor die Kniescheibe, worauf Danilow aufheulte. Natürlich hatte ich ihm nichts gebrochen – aber gehörig wehgetan.
»Wir sind Menschen! Menschen, du Idiot!«, schrie ich. »Zum Teufel mit dem Profit, zum Teufel mit der Technik! Wir haben vielleicht zum allerersten Mal die Chance, Freunde zu finden! Nicht ein Bündnis mit den Geometern oder dem Schatten einzugehen, sondern Freunde zu finden! Die Alari! Weißt du, was das Wort Freund für die Geometer bedeutet? Mag sein, die Alari haben nicht ganz und gar recht. Aber sie haben mir vertraut! Sie haben uns vertraut! Was sind im Vergleich dazu schon die Plasmatriebwerke oder der Ggorschsch?«
Auf der Stelle hüpfend rieb Danilow sich das Knie.
»Kein Ggorschsch, sondern ein Ggorschsch«, erklang es hinter mir. »Das sind zwei große Unterschiede.«
Ich drehte mich um.
Mascha hielt einen weiteren Paralysator auf mich gerichtet.
»Ja, es sind Einwegwaffen«, gab sie an Danilows Stelle zu. »Die Technik erlaubt es noch nicht, einen kolloidalen Laser nachzuladen. Aber ich habe mir zwei von ihnen geben lassen.«
Was für ein Idiot ich doch bin!
Wie hatte ich nur glauben können, dass das Ingenieurgenie Mascha Klimenko in dem bescheidenen wissenschaftlichen Zentrum meines Großvaters eine ganze Waffenkammer aufgebaut hatte, welche die der Wesi weit übertraf!
Und konnte mein Großvater genauso naiv gewesen sein wie ich?
»Nimm’s mir nicht übel, Petja«, sagte Mascha und zog den Abzug.
So fühlt es sich also an, wenn man paralysiert wird.
In meinem Körper bildete sich etwas Weiches. Nicht Watte, sondern Gelee. Meine Augen schlössen sich halb, die Arme hoben sich zur Brust, die Beine zum Bauch. Meine gegen den Boden gepresste Wange schien beschlossen zu haben, durch die Zähne zu sickern.
Mascha stieg über mich hinweg und beugte sich zu Danilow runter. »Stehen Sie auf, Oberst!«
In ihrer Stimme lag weniger die Sorge um einen Freund als vielmehr Respekt gegenüber dem Ranghöheren.
Mein Gott, wie blöd ich doch gewesen war!
Da hatten wir also das Shuttle geklaut!
Wir Möchtegern-Terroristen!
Dabei war jeder einzelne Schritt seit unserem Gespräch mit Danilow von oben abgesegnet gewesen!
Ach, Großpapa, Großpapa!
Ich sah dem Reptiloid in das erstaunte Gesicht mit den gebleckten Zähnen, das Einzige, was ich in meiner momentanen Position sehen konnte.
Fast, als wollte ich in den nicht-menschlichen Augen eine Antwort lesen.
O nein! Mein Großvater hatte alles gewusst, ganz genau hatte er es gewusst. Aber er hatte die Weltraumsicherheit ausspielen wollen. Er hatte gehofft, die persönliche Treue des ehemaligen Waisenkindes Mascha überwöge sämtliche Vorschriften und Befehle.
Eins hatte er dabei allerdings nicht bedacht: Die Treue war nicht an sein Gehirn gekoppelt, das er erfolgreich vorm Gedächtnisschwund bewahrt hatte, sondern an jenen alten Körper, den niemand mehr brauchte.
Danilow stieg unbeholfen über mich und ging zum Pult. Ich glaubte schon, er würde mich treten. Aber so weit vergaß er sich nicht.
Schließlich waren wir doch Freunde!
»Wir müssen den Jump so schnell wie möglich einleiten, Oberst!«, bemerkte Mascha.
»Das weiß ich selbst, Major«, antwortete Danilow.
Oho, was für eine glänzende Karriere unsere Mascha schon gemacht hatte!
»Schnall Pjotr und den Zähler in den Sitzen an!«, befahl Danilow. »Tempo! Möglicherweise beobachten uns die Alari!«
Ich wollte ihn eigentlich darauf hinweisen, dass sie uns, selbst wenn sie die Möglichkeit dazu hätten, nie bespitzeln würden. Vertrauen kennt nun mal keine Abstufungen! Aber ich konnte ja nicht sprechen. Genauso wenig, wie ich Mascha Widerstand leisten konnte, die mich mit aller Kraft zum Sitz zog.
»Könnten wir vielleicht befehlen, die Schwerkraft aufzuheben?«, fragte sie.
»Das ist nicht nötig. Und du gehst mir auch nicht rüber in den Scout! Am besten vergisst du ihn ganz! Wenn alles glattläuft, wird er auf die Rückkehr des Piloten warten. Aber wir können auch nicht ausschließen, dass …«
Nachdem Mascha mich angeschnallt hatte, konnte ich samt Karel samt Großvater nicht mehr sehen. Ich hörte nur noch, wie sie hantierte. Wie die Ziffern über den Bildschirm liefen, um die Zeit bis zur Wahl des Jumpsektors anzugeben.
Cualcua, kannst du mir helfen? Cualcua?
Mein Symbiont antwortete nicht sofort.
Nein. In den nächsten Stunden nicht. Eine höchst originelle Waffe. Das periphere Nervensystem hat einen Schock erlitten. Normalerweise könnte ich es kopieren, aber ich habe die gleichen Schwierigkeiten wie du.
Zum ersten Mal in meinem Leben freute ich mich nicht über den Triumph der irdischen Technik.
Mit dem Zähler bist du nicht in Symbiose? Ist er ernsthaft verletzt?
Nein. Ihre Rasse eignet sich nicht für die Symbiose mit uns. Ihr Leben beruht auf einer völlig anderen Grundlage. Eine Verschmelzung mit ihm ist genauso unmöglich wie mit der Plasmagrundlage der Torpp. Mich wundert sowieso, dass der Lähmungsstrahl bei dem Zähler gewirkt hat … Proteinfreie Strukturen müssten eigentlich intoleranter sein.
In der Tat, was für ein Triumph der irdischen Technik! Da stellte der Zähler also eine proteinfreie Lebensform dar – und war trotzdem komplett ausgeschaltet worden!
Warum gelangen – und gelingen – uns technische Durchbrüche eigentlich immer nur im militärischen Bereich?
»Bereitet euch auf den Jump vor!«, verlangte Danilow.
Doch selbst die allumfassende Euphorie vermochte meine Verzweiflung nicht zu vertreiben.
Es war wie auf einer Wippe … einer wahnsinnigen Wippe. Aufstieg und Fall. Dunkel und Licht. Ekstase und Schmerz. Nach dem vierten Jump hatte ich den Eindruck, mein Körper gehorche mir allmählich wieder.
Leider hatte nicht nur ich diesen Eindruck. Vor dem fünften Jump fesselten Danilow und Mascha mich, absolut fest und unter Verschwendung einer ganzen Rolle Klebeband. Auch der Reptiloid war auf seinem Sitz gefangen. Ihn verschnürten sie noch sorgfältiger, denn anscheinend konnten sie die physischen Möglichkeiten des Aliens nicht genau einschätzen.
»Willst du etwas trinken, Petja?«, fragte Danilow.
Er war die Freundlichkeit selbst, was meinen Schmerz noch schürte. Ist jetzt noch Platz für einsame Helden? Man kann zum Wirt einer uralten Amöbe werden, man kann einem Zähler erlauben, das Gedächtnis aus einem herauszupumpen, dann alle Kreise des Paradieses einer fremden Welt durchwandern und in die eigene zurückkehren. Alles ist möglich. Nur zeigt sich im entscheidenden Moment, dass man an einer unsichtbaren Leine geht und niemand die Absicht hatte, einen von dieser Leine zu lassen. Und wen man für einen Freund gehalten hat, der hat einem nur auf Befehl von oben beigestanden, während ein kribbeliges Weibsbild geduldig auf die »Stunde X« gewartet hat.
»Du Schwein!«, zischte ich – und wunderte mich, dass meine Lippen mir bereits wieder gehorchten.
In Danilows Augen glomm ein nervöses Funkeln auf. »Bist du wirklich sicher, dass du das Recht hast zu entscheiden, was für die Erde am besten ist, Pjotr?«
»Ja!«
»Siehst du, und ich bin mir genauso sicher«, hielt er zufrieden dagegen.
»Es gibt da … nur einen … Unterschied«, presste ich hervor. »Du hast mich betrogen. Verraten.«
»Vielleicht zeigt das ja nur, dass ich mehr vom Leben verstehe?« Ohne eine Antwort zu erwarten, fuhr Danilow fort: »Was ist jetzt, willst du was trinken?«
Das wollte ich. Sehr sogar.
Nach dem achten Jump erkundigte sich Danilow erneut, ob ich etwas brauchte. Diesmal lehnte ich das Wasser nicht ab. Gierig leerte ich ein Glas und wollte sogar schon fragen, ob mit dem Schiff der Geometer alles in Ordnung ist. Zu gern hätte ich gehört, dass das Schiff abgestürzt war, beim Jump abhandengekommen war, die Triebwerke eingeschaltet hatte und abgehauen war … wohin auch immer, von mir aus sogar in seine eigene Welt.
Glücklicherweise begriff ich noch rechtzeitig, dass das Schiff noch an uns klebte. Andernfalls wäre nämlich die Schwerkraft verschwunden. Die kluge und naive Technik der Geometer wartete auf ihren Piloten …
Nach dem zwölften Jump machte sich Danilow lange am Navigationspult zu schaffen. Keine Frage, wir waren vom Kurs abgekommen. Aus einem Impuls heraus wollte ich meine Hilfe anbieten, aber selbstverständlich hätte mir der Oberst die Steuerung nicht überlassen. Und es nur anzubieten, um mich über meinen Feind lustig zu machen … das wäre dumm gewesen. Naiv.
»Vielleicht sollten wir den Laderaum leeren, Sascha?«, schlug Mascha vor.
Danilow dachte kurz nach und legte dann ein paar Schalter um. Wahrscheinlich bestand gar keine Notwendigkeit, sich von der Last der Büsten zu befreien. Dem Jumper war es egal, welches Gewicht das Schiff auf die Waage brachte, und die Plasmatriebwerke der Alari bewältigten noch ganz andere Lasten. Wahrscheinlich hätte es einfach dämlich ausgesehen, mit der alten Fracht zurückzukehren.
»Die Arretierungen sind gelöst, die Blockierung aufgehoben«, kommentierte der Oberst in alter Gewohnheit seine Handlungen. »Die Luke wird geöffnet …«
Automatisch schielte ich zu einem der großen Bildschirme. Kein schlechter Gedanke, der Anblick war es wirklich wert.
Aus den sich öffnenden Klappen der Luke purzelten, in den Schneesturm der gefrorenen Luft gehüllt, die Steinköpfe. Der Scheinwerfer des Frachtraums sprang an, in dem blendenden Licht wirkten sämtliche Büsten zuckerweiß, rein und proper, erfüllt von einer traurigen Schönheit. In einem munteren Schwärm trudelten die funkelnden kahlen Köpfe dahin, die nichts von ihrem Optimismus eingebüßt hatten, in stolzer Einsamkeit verschwand ein mürrischer Parteiführer von gigantischen Ausmaßen in der Unendlichkeit, zogen weitgehend unbekannte Gesichter vorbei, deren Ruhm längst nicht so dauerhaft war wie der Stein. Als Letztes trieb es einen erstaunt und kurzsichtig dreinblickenden Kopf aus dem Laderaum, der zu fragen schien: »Was soll das denn? Warum denn mich, Genossen?« Die Büste kam der Kamera gefährlich nahe, überschlug sich und lugte schmollend ins Objektiv. Mascha fluchte los, als habe sie mit ebendiesem Politiker noch eine Rechnung offen. Aber war das so abwegig? Was wusste denn ich, wie und warum sie ihre Eltern verloren hatte und im Heim gelandet war.
»Weg! Weg mit dem Ballast …«, sang Danilow völlig schief eine unbekannte Melodie, räusperte sich dann und verstummte. Die steinernen Überraschungen schwebten durch die Weiten des Alls … Da würde sich in hunderttausend Jahren irgendeine Zivilisation freuen! Vielleicht würden die stummen Büsten zu überaus wertvollen Exponaten in einem außerirdischen Museum, und die klügsten Köpfe der Zukunft würden sie mit ihren glatten Scheinfüßchen betasten und lange Stielaugen machen, während sie über die Größe der untergegangenen Kultur nachsannen …
»Und jetzt wird geschlafen!«, sagte Danilow in die Stille hinein, die sich in der Fähre breitgemacht hatte. »In zwei Stunden erfolgt der nächste Sprung. Meiner Ansicht nach steht uns noch eine Serie von drei Sprüngen bevor. Pjotr, brauchst du etwas?«
»Ja«, musste ich zugeben. »Ich muss zum Klo.«
Danilow befreite meine Hände und brachte mich zur Toilette. Als ich zurückkam – meine Beine waren noch gefesselt, und ich musste mich auf Danilows Schulter stützen –, fing ich einen Blick des Reptiloiden auf. Einen traurigen und hoffnungslosen Blick. Anscheinend sah mich mein Großvater an.
»Wirst du nach alldem eigentlich befördert, Danilow?«, fragte ich, während der Oberst mich wieder an den Sitz schnallte.
Er erwiderte kein Wort.
»Na klar, du wirst General«, fuhr ich gehässig fort. »Für eine ganze Woche. Oder einen Monat. Danach fackeln die Aliens nämlich die Erde ab. Investiere also besser nicht in Immobilien. Mach dir lieber ein paar schöne Tage. Ein Bungalow, Rum aus einer Kokosnuss, eine attraktive Mulattin …«
»Spar dir die Mühe, Petja«, sagte mein Großvater hinter mir. »Er glaubt, alles richtig zu machen. Darin besteht ja das Unglück.«
»Und sparen Sie sich diese trostvollen Worte, Andrej Valentinowitsch«, verlangte Danilow gelassen. »Petja soll mich ruhig für einen Schuft halten. Sie ebenfalls. Aber die Zeit wird zeigen, wer recht hat.«
Dabei beließen wir es. Das letzte Wort hat immer derjenige, dessen Hände nicht gefesselt sind.
Ich gab mir alle Mühe einzuschlafen. Ich schloss die Augen. Aber die Anspannung der letzten Tage erwies sich als zu groß. Vor meinem inneren Auge zogen, gleichsam von einem Irren zusammenmontiert, Fetzen aus Videoclips vorbei: die Geometer und die Alari, Schiffe und Planeten, die Wendigen Freunde und der unerschütterliche Cualcua. Der große, einzige, leidenschaftslose Cualcua …
Jetzt kann ich dir helfen.
Was?
Soll ich eine Kampftransformation einleiten?
Mein Herz hämmerte dumpf. Wie hatte ich meine nicht ganz menschlichen Möglichkeiten vergessen können? Ich könnte meine Fesseln durchreißen …
Die Frau passt auf. Danilow schläft, aber Mascha ist noch munter. Sie wissen, dass du stärker bist als ein normaler Mensch. Die Frau hat noch einen Paralysator.
Was schlägst du denn vor?
Pass auf.
Meine Finger kribbelten. Ich senkte den Blick und betrachtete meine an die Armlehne geschnallte Hand. Aus dem Zeigefinger kroch langsam ein dünner weißer Faden heraus.
Wie damals, bei den Wendigen Freunden …
Der Faden schlängelte sich lautlos zu Boden. Von den vibrierenden Bewegungen des weißen Tentakels ging etwas Widerliches, Spinnenhaftes aus. Dieses gierige Fleisch gehörte mir nicht. Es lebte sein eigenes Leben. Ich brauchte noch nicht mal selbst was zu unternehmen. Ich musste den Cualcua einfach gewähren lassen, dann würde er in den Körper von Mascha eindringen. Mittelbarer Sex. Der alte Freud hätte seine Freude daran gehabt. Sollte die FSB-Majorin Mascha Klimenko ruhig einen Paralysator in Händen halten, aber ich – ich war selbst die Waffe.
Eine ekelhafte, unbarmherzige und nicht-menschliche Waffe.
Nein!
Der Faden erstarrte. Der Cualcua wartete.
Lass das! Wage es ja nicht!
Warum nicht? Du willst dich doch befreien, oder?
Stimmt. Warum wollte ich diesen Angriff trotzdem nicht? Woher sollte ich das wissen? Ein Feind bleibt immer ein Feind, hinter welcher Maske er sich auch verbirgt. Ich selbst würde mich jederzeit auf Mascha stürzen, auch wenn sie eine Frau war, auch wenn sie einmal meine Gefährtin gewesen war …
Aber nicht so! Auf gar keinen Fall! Nicht mit dem verräterischen Stich von außerirdischem Protoplasma!
Es gibt eine seltsame Grenze in all diesen interstellaren Spielchen. Eine Grenze, die man nicht übertreten darf – falls man sich noch daran erinnert, woher man kommt und unter welchem Himmel man geboren wurde.
Man darf ein Konzentrationslager nicht von Wesen einer fremden Rasse bewachen lassen. Das hatten die Geometer vergessen … Man darf nicht über ein Wesen, in dessen Adern das gleiche Blut fließt wie in deinen, herfallen und dabei von einem außerirdischen Symbionten profitieren. Ich würde versuchen, das immer im Hinterkopf zu behalten …
Gut. Ich habe es verstanden.
Der Faden zitterte und glitt zurück in meinen Körper. Der Cualcua hatte mir ohne jeden Widerspruch nachgegeben.
Mach so etwas nie mit Menschen, bat ich ihn. Solange du in meinem Körper lebst, tu das nicht.
Mascha hüstelte leise. Sie ahnte nicht einmal, welche Gefahr ihr gedroht hatte.
Gott sei Dank ahnte sie es nicht.
Als Navigator war Danilow Mittelmaß. Obwohl: Nein, man durfte einen Mann nicht als mittelmäßigen Navigator bezeichnen, der es geschafft hatte, ein Shuttle aus unserer Position zur Erde zurückzubringen. Selbst wenn er dafür noch acht Sprünge brauchte und nicht drei.
Beim letzten Sprung war ich völlig am Ende. Damit war der Beweis erbracht, dass man einen Menschen auch durch Ekstase foltern konnte. Wenn auf die Ekstase des Jumps die Routine zur Reanimation des Schiffs folgt, ist das eine Sache. Aber wenn du die ganze Zeit gefesselt bist und wie ein Idiot auf den nächsten Euphorieschub wartest, ist das ein zweifelhaftes Vergnügen. So fühlt sich vermutlich ein Trinker während eines Dauerbesäufnisses, wo die nächste Flasche – selbst wenn es sich dabei um den edelsten Wein oder uralten Cognac handelt – keine Freude mehr bringt, sondern ihm nur ein kurzes, stumpfsinniges Vergessen schenkt.
»Wir kommen zur Station Gamma«, teilte Danilow leise mit. Er und Mascha hatten die letzte Flugbahn berechnet, die schon nicht mehr für einen Jump gedacht war, sondern für einen normalen Raketenflug. »Mit Höchstgeschwindigkeit …«
Warum eigentlich ausgerechnet die Gamma? Den Blick zur Decke gerichtet, ließ ich mir alle Vor- und Nachteile der russischen Station der Weltraumsicherheit durch den Kopf gehen. Die beiden wollten nicht auf dem Planeten landen. Warum nicht? Eine begründete Vorsichtsmaßnahme? Man konnte ja nie wissen, womit die Alari die Wolchak »gefüllt« hatten … Außerdem wäre eine Landung mit dem an Bord angedockten Scoutschiff der Geometer unmöglich gewesen. Aber welche Vorteile bot die kleine Gamma gegenüber dem Hauptsitz der Wesi, der Alpha, oder der amerikanischen Weltraumraumbasis Beta, die, da brauchen wir uns nichts vorzumachen, der Alpha in Größe und Effizienz sogar noch überlegen war?
Die Antwort war so offenkundig, dass ich sie im ersten Moment gar nicht glaubte. Die Vorteile der Gamma bestanden einzig und allein darin, eine russische Station zu sein.
Darum ging es! Nur darum! Und zwar direkt! Mein Großvater und ich waren nicht schlicht in eine Falle der Wesi getappt! Wir waren in eine internationale Intrige hineingerasselt. Die russischen Geheimdienstler hatten beschlossen, der Heimat einen Dienst zu erweisen!
Wogegen ich ja selbstverständlich gar nichts hatte. Und wenn es nur darum ginge, die Amerikaner, Japaner und das Vereinte Europa auszutricksen, dann wäre ich der Erste gewesen, der Danilow die Hand gedrückt und Mascha – ungeachtet ihrer ständig missmutigen Miene – abgeküsst hätte. Meinem Land etwas Stolz auf sich selbst zu schenken – und sei es der Stolz auf einen erfolgreichen Diebstahl –, dazu war ich bereit. Jederzeit. Aber ausgerechnet jetzt? Wenn das Haus brennt, streitet man sich nicht mit den Nachbarn wegen tropfender Wasserhähne.
Ich musste sogar kichern, als ich zu den beiden Geheimdienstlern hinüberlugte. Aber die hatten momentan andere Dinge im Kopf.
»Man wird die merkwürdige Form bemerken«, gab Mascha zu bedenken. »Jedenfalls von der Delta und von der Alpha aus. Außerdem stimmt … der Auspuff nicht.«
»Ich nehme jetzt mit der Leitung Kontakt auf«, versprach Danilow. »Die sollen nach Schema drei vorgehen.«
»Experimentalflug?«
»Genau. Sie werden Zeter und Mordio schreien und sich dann wieder beruhigen.«
»Passen wir denn überhaupt in den Hangar der Gamma?«, fragte Mascha nach einer Weile.
»Von der Größe her müsste es klappen.«
Alles klar. Sie wollten den Ausländern, vor allem den Amerikanern, weismachen, die Wolchak teste das Innenleben der Juri Gagarm, eines leidgeprüften, seit rund zehn Jahren in der Entwicklung befindlichen Schiffs mit Plasmatriebwerken. Irgendwann würde natürlich herauskommen, dass es in Russland keine funktionstüchtigen Plasmatriebwerke gibt – und dann wäre das Geschrei groß. Fürs Erste kam es Mascha und Danilow jedoch nur darauf an, Zeit zu gewinnen …
Unwillkürlich fing ich an, so zu denken, als stünde ich wirklich auf der Seite der beiden. Als hockte ich nicht mit hundert Metern Klebeband an meinen Sitz festgezurrt da. Danilow schien dieses Einknicken zu spüren.
»Pjotr«, er drehte sich in seinem Sitz um und stieß sich leicht von der Armlehne ab, wobei er abermals die künstliche Schwerkraft vergaß, denn er hatte sich ja eigentlich in die Luft erheben wollen, »wir können noch immer alles ins Lot bringen.«
»Indem wir zum Kern fliegen?«, fragte ich mit größtmöglicher Naivität.
»Pjotr, ich binde Karel und dich los … und wir fliegen die Schiffe gemeinsam«, erwiderte Danilow seufzend. »Ich nehme an, der Reptiloid kann die Aufzeichnungen der Black Box korrigieren, oder?«
»Hast du keine Angst vor einer Meuterei?«
»Ich gehe das Risiko ein, auf dein Wort zu vertrauen.«
»Vertraue mir lieber nicht, Danilow«, sagte ich. »Ich habe dir vertraut – und nun sieh dir mal an, was dabei herausgekommen ist.«
Er zuckte mit den Achseln und beugte sich über die Armaturen. Wir wechselten kein Wort mehr, in den ganzen zwei Stunden nicht, in denen die Wolchak auf die Gamma zuflog. Wir hatten uns einfach nichts mehr zu sagen.
Das Einzige, was mich wunderte, war das Schweigen des Reptiloiden. Weder Karel noch mein Großvater hatten versucht, sich in unser Gespräch einzumischen. Zu gern hätte ich geglaubt, sie würden sich gerade den Kopf über einen Plan zu unserer Rettung zerbrechen. Leider wusste ich jedoch genau: Wenn mein Großvater etwas ausheckt, dann redet er ohne Punkt und Komma …
Die Gamma war nach dem alten, noch von Ziolkowski entwickelten »Radschema« erbaut worden. Eine rotierende Scheibe mit einem Durchmesser von dreißig Metern, in der Mitte beziehungsweise der Nabe herrscht Schwerelosigkeit, außen sorgt die Zentrifugalkraft für eine Art Schwerkraft. Wofür der Roskosmos oder die Weltraumsicherheit die brauchte, wusste Gott allein. Echten Komfort brachte diese Pseudogravitation jedenfalls nicht mit sich, abgesehen davon wechselten die Mannschaften ohnehin monatlich und hätten nicht unter der Schwerelosigkeit gelitten. Stattdessen wuchsen nun allen die Probleme über den Kopf. Um kampfbereit zu sein, musste die Gamma beispielsweise die Rotation einstellen, ansonsten wäre es unmöglich gewesen, die Kampflaser präzise auszurichten.
Man musste die Station wohl als einen letzten Versuch seitens unserer Kosmonautik verstehen, die verlorene Vorherrschaft zurückzugewinnen. Zumindest teilweise. Ein naiver und hoffnungsloser Versuch, genau wie alle anderen, wie jene kleine Fabrik zur Herstellung hochreiner Halbleiter und allergiefreier Impfstoffe beispielsweise, die entweder verbrannt war oder einfach auf einer Umlaufbahn zurückgelassen worden war, oder jene Mondbasis, die seit über zwei Jahren mit Automatik lief, die unvollendete Zeus, ein Schiff für den Flug zum Jupiter, das noch vor der Entwicklung des Jumps konzipiert worden war und jetzt weiter vor sich hinalterte …
Die Wolchak passte ganz knapp durch die Luke im Hangar. Danilow musste sein ganzes Können aufbieten, um die zwei Schiffe hineinzubringen, ohne die spröden Wände zu rammen. Anschließend manövrierte er noch eine halbe Minute lang unter leisem Gefluche, um das verbleibende Trägheitsmoment zu überwinden. Die Wolchak wackelte im Hangar hin und her wie eine Bleikugel in einem winzigen und zerbrechlichen Tannenbaumschmuck. Jeder Schlag gegen die Wand hätte der Station enormen Schaden zufügen können, aber Danilow blieb keine andere Möglichkeit. Schließlich verharrte die Fähre reglos, genauer gesagt, sie begann, langsam an der Wand des zylindrischen Hangars hinunterzugleiten, angezogen von der kaum wahrnehmbaren Zentrifugalkraft. Lautlos schloss sich die Luke des Hangars, verbarg uns vor den neugierigen Radaren anderer Stationen der Wesi.
Damit waren wir also am Ziel. Zwei Schiffe, zwei Helden, zwei Gefangene. Apathie bemächtigte sich meiner, und ich schloss die Augen. Es reichte. Man kann nicht endlos weiterkämpfen. Ich hatte eine Chance gehabt, vorhin, unterwegs, als der Cualcua so eilfertig seinen Fühler ausgefahren hatte. Ich hatte sie nicht genutzt, hatte das Angebot meines Symbionten einfach nicht akzeptieren können. Und das hieß: Der Kampf war vorbei.
Verzeiht, Alari.
Verzeih, Erde.
Ich hätte nie gedacht, dass unsere engen Stationen Räume aufweisen, die nicht unbedingt nötig sind. Beispielsweise ein Gefängnis. Oder hieß das hier anders? Karzer vielleicht? Hauptwache? Isolator? Keine Ahnung. Eins aber zumindest stand fest: Bei den Alari war es bequemer gewesen.
Die Zelle war winzig, höchstens so groß wie das Klo auf einer Datscha. In einer Ecke befand sich tatsächlich ein winziges Klosett, über ihm hatte der Konstrukteur mit kindlicher Unverblümtheit einen Thermocontainer zum Aufwärmen der Nahrung angebracht. Außerdem gab es noch einen Fernsehschirm. Erstaunt überzeugte ich mich davon, dass er funktionierte, aber nur ein paar russische TV-Kanäle anbot. Ach ja, diese Sorge um das kulturelle Wohl der Eingesperrten … Bei den Leuten an Bord kam bestimmt keine Langeweile auf – bei einem solchen Angebot an Seifenopern und idiotischen Shows.
Als der Reptiloid und ich durch die Station geführt wurden, brummte es in ihr wie in einem Bienenstock in Aufruhr. Durch die schmalen Gänge eilten Schwarzhelme, die russischen Infanteristen im All. Der Militärtrakt, an dem wir vorbeikamen, war verriegelt und verschlossen. Es musste höchste Alarmbereitschaft befohlen worden sein, und am Raketenpult saßen jetzt die Schützen.
Das gab mir zu denken. Sehr sogar. Das Land schüttelte das graue Haar, ließ die schlaffen Muskeln spielen und hatte beschlossen, die fremde Technologie nicht wieder herzugeben. Dann wollen wir doch mal sehen, was nun kommt. Immer hübsch abwarten, Tee trinken, auf Fragen antworten und alle Sünden bereuen …
Ich zwirbelte die schmale Hängematte auf und legte mich hinein. Die Pseudoschwerkraft war hier ganz schwach, ich wog etwa so viel wie eine junge Katze. An der Decke schimmerte eine gelbe Glühbirne, die Station vibrierte jedes Mal, wenn ein Manöver durchgeführt wurde. Waren unsere amerikanischen Freunde etwa nicht auf den Trick reingefallen und lasen unserem Präsidenten die Leviten?
Aber hatte unser Präsident eigentlich das Recht, den Reptiloiden und mich der ganzen Menschheit auszuliefern? Hier lief eine Operation des Geheimdiensts. Und der würde sich garantiert nicht ins Handwerk pfuschen lassen. Schipunows Macht war gegenwärtig nicht so stabil wie in den ersten Jahren nach dem Umsturz …
Mir kamen träge, ekelhafte Gedanken. Als hätte ich in Rekordzeit ein ermüdendes Hindernisrennen hinter mich gebracht – und man würde mich jetzt noch bitten, durch einen Sumpf zu schwimmen. Wie einfach alles auf Der Heimat und bei den Alari gewesen war. Schwer und einfach. Hier dagegen gab es, wie gehabt, nur sinnloses Herumgerenne und kleinliche Intrigen …
Ich streckte ein Bein aus und drückte auf den Schalter des Fernsehers. Es war nun einmal ein Vorteil eines winziges Raums, alles per Hand – oder Fuß – erreichen zu können.
Etwas Dümmeres hätte ich mir nicht einfallen lassen können. Der erste Kanal brachte einen Musikwettbewerb. Die Sängerin, die unbeholfen über die Bühne wackelte, konnte absolut nicht singen. Besser sie ließe die Finger davon, würde sich an den Herd stellen oder für Badeanzüge Reklame machen. Aber das kümmerte natürlich niemanden. Die Fans vor der Bühne, männliche wie weibliche, johlten, die Kollegen des Sternchens in der Jury lächelten glückselig, obwohl ein Teil von ihnen sogar Ohr und Stimme besaß. Den zweiten Kanal übersprang ich mehr oder weniger, denn da liefen Nachrichten, gerade war ein brennender Bahnhof zu sehen. Der vierte Kanal bescherte mir eine politische Diskussion, die darauf hinauslief, dass in unserem Leben alles schlecht war und wir etwas Besseres verdient hätten. Der fünfte Kanal brachte einen Werbespot des Innenministeriums. Eine Grabesstimme aus dem Off verkündete: »Sie können das Gesetz brechen – und Sie werden nachts Albträume haben! Sie können als ehrlicher Bürger leben – und die gute Laune wird Sie nie wieder verlassen! Die Mitarbeiter der Miliz tragen Waffen und sind berechtigt, sie ohne jede Vorwarnung einzusetzen! Sie wollen, dass wir alle in Sicherheit leben!« Der primitive Clip wartete mit finsteren, unrasierten Verbrechern, lächelnden Bürgern mit weißen Zähnen und auf ein Ziel schießenden Milizionären auf. Im sechsten Kanal lief wie üblich Reklame, aktuell für brandneue Vakuum-Pampers mit 72-Stunden-Wirkung. Ich wollte den Fernseher schon ausschalten, als sich vor den lächelnden Säugling mit Lätzchen ein bekanntes Gesicht schob: Anatoli Romanow, Pilotenausbilder bei der Transaero. Mitten in der Bewegung hielt ich inne.
»Raumflüge sind harte Arbeit«, sagte Tolik. »Manchmal habe ich über mehrere Stunden nicht die Möglichkeit, mich vom Pult zu entfernen. Früher war das mit erheblichen Qualen verbunden …«
In Toliks Augen funkelte ein ungesundes Feuerchen. Gute Güte, wie viel hatten sie ihm dafür gezahlt?
»Aber jetzt, mit den neuen Vakuum-Pampers, sind all meine Probleme gelöst …«, endete Tolik. »Ich starte, führe meine Jumps durch, lande auf dem Zielplaneten und kehre zurück ohne meine Zeit für natürliche Bedürfnisse zu vergeuden …«
Ich brach in Gelächter aus. Der Pampers-Reklame folgte irgendeine Kindersendung. Ich wieherte noch immer bei der Vorstellung, wie Tolik in Pampers vor dem Jump-Pult hockte! Das war wirklich zu viel!
Die Luke öffnete sich, und Danilow kam halb schwebend, halb gehend herein. Unwillkürlich stellte ich mir den Oberst des Geheimdienstes ebenfalls in Pampers vor: »Kameraden zu überwachen, ist harte Arbeit. Manchmal habe ich über mehrere Stunden …« Ich erlitt einen weiteren Lachanfall.
Danilow starrte misstrauisch zum laufenden Fernseher hinüber. Gerade hüpften Tiere aus einem Zeichentrickfilm durchs Bild, und eine lebenslustige Stimme sang: »Wer will denn Montagmorgen schlafen, im Bett bleibt nur ein Tagedieb …«
Ohne hinter den Grund meiner Heiterkeit zu kommen, schaltete Danilow den Fernseher aus.
»Da haben sie Tolik gezeigt«, klärte ich ihn gutmütig auf. »Tolik Romanow. Er hat für Pampers Reklame gemacht.«
Danilow setzte sich auf den heruntergeklappten Klosettdeckel. »Ganz schön eng hier«, bemerkte er. »Findest du nicht auch?«
»Mir gefällt’s. Bist du gekommen, um meine Aussage aufzunehmen?«
»Pjotr«, sagte Danilow seufzend, »ich habe einen Vorschlag …«
»Dann lass mal hören«, spornte ich den verstummenden Oberst an.
»Lass uns auf der gleichen Seite der Barrikade kämpfen. Dann ziehen wir alle Anzeigen gegen dich und Andrej Valentinowitsch zurück.«
»Und was wird mit dem Reptiloiden?«
»Er wird auf irgendeinen Planeten des Konklaves gebracht. Dir ist klar, was das heißt?«
»Nicht ganz.«
»Deinem Großvater wird ein neuer Körper zur Verfügung gestellt. Der normale, gesunde Körper eines Menschen. Der Zähler wird ihm das Bewusstsein Andrej Valentinowitschs überspielen.«
Unsere Blicke kreuzten sich.
»Auf der Erde gibt es Tausende von Menschen, deren Bewusstsein gestorben ist, deren Körper aber noch lebt. Zum Beispiel Leute, die nach dem klinischen Tod nicht wiederbelebt wurden. Das ist auch nicht unmoralischer als eine Organtransplantation.«
»Und was hat mein Großvater dazu gesagt?«
»Bisher noch gar nichts. Ich habe beschlossen, zuerst mit dir darüber zu reden.«
»Was verlangt ihr von uns?«
»Kooperation. Nur Kooperation.«
»Es sind erst anderthalb Stunden vergangen«, sagte ich gedehnt. »Nicht mehr als anderthalb Stunden. Trotzdem seid ihr bereits dahintergekommen, dass das Schiff der Geometer nicht daran denkt, euch zu gehorchen.«
»Richtig. Du musst uns helfen, Pjotr. Um der Erde willen, um unseres Landes willen … musst du deine bisherige Einstellung aufgeben. Schließlich bist du ein Mensch. Ein Russe.«
»Hast du womöglich vergessen, dass in mir auch noch ein Cualcua lebt?«
In Danilows Gesicht regte sich nichts. »Es ist kaum möglich, das zu vergessen, solange du in diesem Körper steckst … Was willst du mir damit sagen? Wenn er seine Bedingungen vortragen will – bitte schön. Aber soweit ich es verstehe, verhält sich ihre Rasse eher passiv. Aber sei’s drum. Er soll sein Anliegen ruhig vortragen. Wir sind nicht gegen eine Koalition mit ihnen, mit den Alari oder mit den Zählern. Aber es liegt nicht in unserem Interesse, Hals über Kopf ans Ende der Welt zu rasen. Wenn die Erde auch nur über zehn solcher Schiffe verfügen würde … könnten wir mit den Starken Rassen auf gleicher Augenhöhe verhandeln.«
»Glaubst du eigentlich selbst, was du da sagst?«
»Ich habe keine andere Möglichkeit. Und du auch nicht, Pjotr. Gut, ich kann mir vorstellen, dass diese Entscheidung für dich nicht ganz so angenehm ist wie die, zum Kern zu fliegen, aber die Alternative wäre noch unangenehmer.«
»Und wie sähe sie aus, diese Alternative?«
In der schaukelnden Hängematte befand ich mich ein gutes Stück über Danilow. Was für eine trügerische, einlullende Position für einen Menschen, der einem anderen seine Bedingungen diktieren darf … Gut, an der offenen Luke huschten immer wieder die Schwarzhelme vorbei, und Danilows Geduld dürfte ihre Grenzen haben.
»Du würdest nicht verurteilt werden«, teilte Danilow mir leise mit. »Du würdest vermutlich sogar irgendeinen Orden für deine Teilnahme an dieser Operation erhalten.«
Teilnahme! Na klar, wir hatten ja im Schweiße unseres Angesichts geschuftet!
»Vielleicht einen Orden … posthum?«
»Spiel nicht den Blödmann. Du kriegst deinen Orden und bleibst auf der Erde, ohne Recht auf Flüge. Du wirst irgendwo arbeiten … Nachrichten hören … zu trinken anfangen. Und dich immer daran erinnern, dass deine Freunde noch ihre Pläne haben … dass sie unbekannte Technik überlisten und die Aliens austricksen wollen.«
»Und der Cualcua? Werdet ihr einen Menschen zur Erde lassen, in dessen Körper ein Symbiont lebt? Das glaube ich nie im Leben!«
Danilow schüttelte den Kopf. »Uns ist sehr wohl bekannt, dass auf der Erde Dutzende von Menschen mit einem Symbionten herumlaufen.«
Bildete ich mir das nur ein oder hörte ich tief in meinem Bewusstsein ein leises Lachen?
»Einer mehr oder weniger …«, fuhr Danilow fort. »Falls der Cualcua mich gerade hört – ich bin sehr froh, dass ihre Rasse keinen Ehrgeiz kennt. Und Neugier ist kein Laster. Ist dir die Alternative jetzt klar?«
»Vollauf.«
Danilow wartete. Ich hüllte mich in Schweigen, obwohl ich meine Entscheidung bereits getroffen hatte. Mit meinem langen Schweigen wollte ich den Oberst jedoch dazu bringen, als Erster das Wort zu ergreifen. Der aber hatte schon ganz andere in die Knie gezwungen.
»Du kannst meinem Großvater sagen, dass ich einverstanden bin.«
Danilow nickte. Er stand auf und hielt sich an der offenen Luke fest. »Nur eins noch, Petja«, ließ er fallen. »Entschuldige, aber wir müssen bestimmte Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. Sehr strenge. Sehr, sehr strenge.«
»Ich hätte nicht geglaubt, dass es so was wirklich gibt«, sagte ich.
Mascha legte mir einen Halsring aus Metall an. An der Innenseite war er mit weichem Filz verkleidet, eine Sorge, die ich als besonders rührend empfand, fast wie eine frisch geschärfte Klinge bei einer Guillotine.
»Wirklich gibt es so was auch gar nicht«, entgegnete Mascha kühl. »Das haben nur wir.«
Der Eindruck, einen Roman über ein totalitäres Regime aus der Bibliothek meines Großvaters zu lesen, spitzte sich bis zum Wahnsinn zu. Ich krümmte mich, als wollte ich dem Stahlkragen entkommen. Ich sah den Reptiloiden an. Und meinen Großvater, der zum ersten Mal das Wort ergriff, seit wir auf der Station gelandet waren: »Maria, habt ihr meine vielversprechenden Notizen genutzt? Den Katalog der nicht existierenden Waffen?«
»Nein. Es existiert bereits seit dem letzten Jahrhundert eine Abteilung zur Auswertung von Ideen in SF-Romanen. Sowohl bei uns als auch bei der CIA.«
Mir fiel auf, wie sie jeden Blick Richtung Reptiloid mied.
Was immer Mascha sich auch einreden mochte – dass Andrej Valentinowitsch nicht mehr unter den Lebenden weilte, dass der Zähler sein Bewusstsein geschluckt hatte – ganz wohl war ihr nicht in ihrer Haut. Ja, es war ihr sogar ausgesprochen unwohl, so dass sie mir ein wenig leidtat.
»Lange Erklärungen kann ich mir wohl sparen, oder, Pjotr? Es ist ein Codeschloss … übrigens ein mechanisches. Mit Funkempfänger. Und fünfundzwanzig Gramm Sprengstoff.«
»Nicht gerade viel.«
»Es reicht völlig, Petja.«
Sie hob die Hand, um mir die winzige Fernbedienung zu demonstrieren.
»Entferne dich nicht weiter als zehn Meter von mir. Sonst ertönt erst ein akustisches Signal, fünf Sekunden später explodiert das Ding.«
Wir saßen in der Kajüte des Stationskommandanten. Ich, der Reptiloid, Danilow, Mascha und zwei mir unbekannte Offiziere. Der Ältere von beiden war anscheinend der Kommandant, bei dem anderen, einem jüngeren und kräftigeren Mann, der aus irgendeinem Grund einen leichten Raumanzug trug, dürfte es sich um den Geheimdienstbeauftragten der Station handeln.
»Und wenn dieses Ding die Verkleidung durchschlägt?«, fragte der Kommandant mit militärischer Direktheit. Was in dem Fall mit meinem Hals passierte, interessierte ihn nicht.
»Das ist ausgeschlossen. Die Explosion geht nach innen los«, beruhigte Mascha ihn.
Danach gab es keine Fragen mehr. Danilow erhob sich, nickte und zeigte zur Tür. Die Kapitänskajüte lag am äußersten Rand der Station, die Anziehungskraft war hier etwa halb so groß wie auf der Erde. Ich reagierte nicht sofort, denn ich schaute durch das riesige Fenster, durch das die Erde zu sehen war. Eine kleine, schöne Erde, bestehend aus dem Blau der Meere und einem grauen Wolkenschleier. Mit Kontinenten, deren Form nicht genormt war, und mit Menschen, die absolut nicht genormt waren. Aber nicht einmal sie trugen die Schuld daran, dass man mir ein Halsband mit fünfundzwanzig Gramm Sprengstoff umgelegt hatte. Nicht einmal jener Schriftsteller, der sich als Erster dieses Ding ausgedacht hatte, trug die Schuld daran.
»Ich aktiviere es jetzt«, teilte Mascha mit. Nachdem sie einen Knopf an der Fernbedienung gedrückt hatte, blinkte am Halsband ein orangefarbenes Lämpchen auf. Trüb und langsam, fast im Takt meines Pulses. »Denk dran: zehn Meter.«
»Danke, Mascha.«
Ich löste den Blick vom Fenster und stand auf.
»Das ist eine unverzichtbare Vorsichtsmaßnahme, Petja. Und sie kommt ja nur in der ersten Phase zum Einsatz«, erklärte mir Danilow.
Ihm war das Ganze offensichtlich peinlich.
»Willst du mir nicht auch so eine Halskrause verpassen, Maschenka?«, fragte mein Großvater.
»Das ist nicht nötig. Versuch einfach, uns nicht zu berühren.«
Der Reptiloid folgte Danilow mit einem altersschwachen Krächzen. Er drehte sich kurz um und sagte: »Wann habe ich mich nur in dir getäuscht, Mädchen?«
Mascha ignorierte seine Worte.
So gingen wir zum Hangar. Vorneweg Danilow, dann der Reptiloid und ich, hinter uns Mascha und der junge Offizier. Wie ich feststellte, waren alle mit Paralysatoren bewaffnet. Entweder hatten sie die Dinger inzwischen nachgeladen oder sie waren doch nicht eine solche Rarität.
Im Gang und im Treppenschacht war niemand zu sehen. Wahrscheinlich hatte man den Weg vorher für uns freigemacht. Wir stiegen die schmale Treppe hinauf, die sich durch den Schacht wand. Mein Körper wurde immer leichter, die Bewegungen immer fließender.
»Wenn du vorgehabt hast, sie zu täuschen oder abzuhauen, dann geht das jetzt nicht mehr«, sagte der Reptiloid. Anscheinend wirklich der Reptiloid.
»Großpapa«, rief ich.
»Was ist, Petja?«
»Hast du geglaubt, dass ich das wollte?«
»Das möchte ich lieber nicht sagen.«
Alles klar.
Die Flucht würde mir gelingen, ohne Frage. Im Grunde wäre es sogar das reinste Kinderspiel. Der Scout brauchte nur fünf Sekunden, um aus dem Hangar auszubrechen und im Hyperraum zu verschwinden. Aber dann … nach meinem Tod würde das Schiff vermutlich zu den Geometern zurückkehren. Das Ganze wäre nicht mehr als Rache um der Rache willen. Noch dazu eine selbstmörderische.
Danilow, der voranging, drehte sich um. »Pjotr … du verzichtest auf alle Dummheiten, ja?«
Ich schielte auf das unter meinem Kinn blinkende Lämpchen und schwieg.
»Das ist eine blöde Situation …«, sagte Danilow leise. »Aber uns rennt die Zeit davon. Wenn wir uns hätten zusammensetzen können, über alles reden, ein Gläschen trinken … und alles durchkauen. Aber immer fehlt es an Zeit.«
Er stieß sich von den Stufen ab – hier gab es kaum noch Schwerkraft – schwebte an die Decke und öffnete die Luke in den Hangar. Ich sprang ihm hinterher, eine Reflexhandlung, mehr nicht.
Das Lämpchen an meinem Halsband glomm mit einem gleichmäßigen roten Licht auf, das Signal fiepte los.
Mir blieb nicht mal Zeit, in Panik zu geraten. Maschas Schrei »Du Idiot!« verschmolz mit dem lauten Gefluche Danilows, der von oben zu mir herunterguckte. Im nächsten Moment stieß er mir den Fuß gegen die Schulter, sodass ich nach hinten flog. Ich klammerte mich krampfhaft an eine Stufe, hing in der Luft und presste mich gegen die Treppe.
Der Signalton verstummte, das Lämpchen blinkte wieder im Takt. Mascha war neben mir, ihr Gesicht kreidebleich. Der Offizier hielt den Paralysator fest gepackt, als habe er nicht begriffen, dass er nicht schießen müsse.
»Was machst du nur, was machst du nur, Petja?!«, stieß Mascha mit zitternder Stimme aus.
Zu gern wollte ich glauben, die Aussicht, ich könne sterben, hätte sie erschreckt – und nicht die, die Operation könne platzen.
»Hab’s vergessen«, gab ich zu. »Einfach vergessen.«
Meine Schulter und die Rippen, mit denen ich gegen die Stufe geschlagen war, schmerzten. Ich stieß mich von der Treppe ab, schwebte in der Luft, das ganze halbe Kilo meines Körpergewichts auf eine Hand gestützt.
»Ich kann die Explosion nicht verhindern!« Mascha fuchtelte mit der Fernbedienung. »Verstehst du das?«
Ja, wie denn nicht? So kompliziert war das schließlich nicht. Ich zog die Finger mühevoll unter dem Halsband heraus – anscheinend hatte ich meine freie Hand instinktiv daruntergeschoben, als wollte ich versuchen, meinen Hals zu schützen.
»Ganz langsam und ruhig!«, befahl Mascha, diesmal schon leiser. »Los …«
Ich folgte Danilow hinauf in den Hangar.
Hier machte sich die Schwerkraft zwar kaum bemerkbar, aber ganz aufgehoben war sie auch nicht. Das in der Mitte des Hangars schwebende Shuttle mit dem angedockten Scout fixierten dünne Taue, zusätzlich sicherten es einige Stangen. An der fensterlosen Wand der Halle ruhten sich fünf Weltraumsoldaten aus. Sie alle trugen Raumanzüge, allerdings mit offenen Druckhelmen, und Waffen. Langsam richteten sie ihre Waffen auf Danilow und mich. Den hinten liegenden Rückstoßdüsen und dem imposanten Zylinder anstelle eines Kolbens zufolge musste es sich um Gasgewehre handeln, die in der Schwerelosigkeit und bei dünnen Wänden sicherste Waffe.
»Alles in Ordnung?«, fragte der Offizier, der nach mir aus der Luke auftauchte, seine Leute.
Die Waffen wurden gesenkt. Die Soldaten verlangten keine Parole, wenigstens eine Konzession an den gesunden Menschenverstand.
»Es ist alles ruhig, Genosse Oberstleutnant«, antwortete ein kräftiger, rotblonder Mann mit dem Emblem des Obersergeanten am Helm. Die Ränge bei den Weltraumsoldaten ließen sich schlecht mit denen auf der Erde vergleichen. Vermutlich würde dieser Sergeant mindestens als Hauptmann in Pension gehen.
»Bringen Sie diese Leute unter, Mirski«, befahl der Oberstleutnant ihm. Er sah mich an, umschlang eines der Taue und glitt behände zu der offenen Luke der Fähre hoch.
Der Reptiloid sprang ihm prompt hinterher. Mit der Koordination stimmte bei ihm alles, der kleine geschuppte Körper huschte durch den Hangar, harrte neben der Luke für den Notausstieg an der Verkleidung aus und ließ dem Offizier höflich den Vortritt. Mir entging nicht, wie die Schwarzhelme kurz erstarrten und den Zähler mit gierigen Blicken anstarrten. Sie kriegten nur selten einen »potenziellen Gegner« zu sehen.
Sehr langsam zog ich mich an einem Tau hoch zum Shuttle.
»So ist’s richtig«, lobte mich Mascha, die sich dicht hinter mir hielt.
Die Schwarzhelme beendeten ihre Neuformierung. Welchen Sinn diese haben sollte, wusste ich nicht, ins Schiff kamen sie ja sowieso nicht. Dazu bekleideten sie wahrscheinlich einen zu niedrigen Rang.
Durch den engen Notausstieg des Shuttles zwängten Mascha und ich uns gemeinsam, indem wir uns geradezu scheu bei der Hand fassten. Ich wollte weiß Gott nicht testen, ob die Verkleidung des Schiffs das Signal des Halsbandes absorbierte. Mascha setzten offenbar die gleichen Zweifel zu. Sobald wir durch die Luke waren, fielen wir auf den Boden, denn hier herrschte wieder Schwerkraft.
Der Oberstleutnant, der uns in der Fähre erwartete, ließ sich endlich dazu herab, das Wort an mich zu richten. Ihn quälte offenbar die Frage, wie er mich behandeln sollte: als Verräter, als Opfer des Cualcua oder einfach als Idioten.
»Pjotr … äh … Sie befinden sich doch jetzt wirklich in dieser Gestalt?«
»Sie haben doch vermutlich schon ein Foto von mir gesehen«, erwiderte ich nicht gerade freundlich, während ich mich hochrappelte.
»Gut. Wir … äh … bitten Sie, ins Schiff … der Geometer zu gehen. Oberst Danilow wird Sie begleiten …«
Danilow kam gerade ins Shuttle. »Gut«, sagte er.
Der Oberstleutnant starrte mich finster an. Ihn plagten immer noch Zweifel.
»Maria Klimenko bleibt in der Schleuse«, warnte er mich. »Wenn Sie sich im Schiff verschanzen …«
»Seien Sie versichert, mir ist völlig klar, was dann passiert«, fiel ich ihm ins Wort. »Wie geht es jetzt weiter?«
Danilow und der Oberstleutnant sahen einander an. Zwischen ihnen gab es eine gewisse Reibung, denn Danilow bekleidete einen höheren Rang, aber der Oberstleutnant gehörte den Weltraumtruppen an, was ihn in gewisser Weise auf eine Stufe mit Danilow stellte.
»Programmieren Sie den Bordcomputer …«
»Man kann ihn nicht in unserem Sinne programmieren, denn er ist eine beinahe intelligente Maschine. Er ordnet sich mir unter, aber nur innerhalb bestimmter Grenzen.«
»Dann überzeugen Sie ihn! Wir müssen wissen, nach welchen Prinzipien ihre Triebwerke, Waffen und Kraftfelder funktionieren. Soweit ich es verstehe, ist das Schiff imstande … einzelne Elemente selbst herzustellen …«
Ich seufzte. »Ganz so ist es nicht. Es ist zur Auto-Reparatur imstande. Es kann zum Beispiel ein beschädigtes Triebwerk wieder in Ordnung bringen. Aber das Schiff ist keine Fabrik. Woher sollte es auch die Materialien nehmen, um etwas Neues zu produzieren?«
Nach dem langen Gesicht zu urteilen, das der Oberstleutnant zog, überzeugte ihn das Argument. Wahrscheinlich erinnerte er sich daran, gehört zu haben, Materie könne nicht aus dem Nichts entstehen.
»Pjotr, die Alari haben sich diesbezüglich völlig klar geäußert!«, mischte sich Danilow prompt ins Gespräch ein.
»Dann wende dich an sie!«, konterte ich rachsüchtig. »Nehmen wir einmal an, Sascha, man könne das Schiff der Geometer in eine Fabrik zur Herstellung solcher Schiffe umwandeln. Zunächst mal würde das jahrelange Arbeit voraussetzen. Man müsste ihm hochreine Materialien zur Verfügung stellen, die man aber auf der Erde bisher noch nicht erzeugen kann. Gehen wir jedoch einmal davon aus, du würdest das Triebwerk ausbauen und das Schiff würde tatsächlich brav ein neues schaffen. Genau wie alle anderen Einzelteile. Angenommen. Aber werden wir es dann schaffen, alle Elemente richtig zusammenzusetzen? Hast du als Kind einen Baukasten gehabt? Ist dir da immer alles so gelungen, wie es auf den Bildern aussah? Und wenn man dir alle Einzelteile gibt, schaffst du es dann, einen Fernseher zusammenzubauen? Ihn abzugleichen?«
Danilow war diesen Argumenten allerdings nicht zugänglich. »Ich nicht, schließlich ist das nicht mein Beruf. Pjotr, du musst das Schiff dazu bringen, Muster von allen Details zu liefern und uns zu erklären, nach welchen Prinzipien es funktioniert.«
»Und wie soll es uns das bitte schön erklären?«
»Komm mit!«
In der Schleusenkammer ahnte ich bereits, worauf er abzielte.
Aus dem Maschinenraum zog sich ein Stromkabel. Daran waren ein kleiner Computer und Elemente eines optischen Speichers von beeindruckenden Maßen angeschlossen.
»In jedem Fall brauchen wir einen Translator, für die Übersetzung …«, setzte ich an – und verstummte. Danilow deutete mit dem Blick schweigend auf den Zähler.
»Du würdest das hinkriegen, Karel?«, fragte ich.
»Das habe ich schon mal gemacht«, teilte mir der Zähler mit.
Aber natürlich! Er hatte sich ja auch an den Computer von Rimers Schiff angeschlossen, als die Alari es in ihrer Gewalt gehabt hatten. Wahrscheinlich wäre der Reptiloid also auch ohne meine Hilfe in der Lage, jede notwendige Information aus dem Schiff zu holen, die er brauchte.
Oder doch nicht? Es ist eine Sache, den Arbeitsspeicher, also jenen permanenten Bestandteil des Computers, in dem die Sprache, die Karten und Videoaufzeichnungen liegen, zu knacken. Es ist aber eine ganz andere Sache, an die Daten zu gelangen, die in seinen Tiefen versteckt sind, und das Schiff völlig dem eigenen Willen zu unterwerfen.
Dazu musste ich das Schiff erst mal bringen …
»Los, Petja«, trieb mich Danilow an.
Ich schaute in die offene Schleuse. Im Cockpit des Scouts schimmerte ein trübes Licht. Es herrschte absolute Stille, was bei Schiffen von der Erde nie der Fall ist; es surrten keine Ventilatoren, an der Computerperipherie rauschte nichts. Als ob das Schiff schliefe. Oder gestorben sei. Trotzdem wusste ich: Es war in Betrieb. Es nahm Informationen auf. Es zog seine Schlüsse. Vielleicht verstand es sogar, was hier vor sich ging.
Gut, vielleicht sah das Schiff immer noch den Piloten Nik Rimer in mir, den gesetzmäßigen Herrn. Dennoch könnte es doch ohne Weiteres den Befehl verweigern, sobald es darum ging, Informationen auszuspucken.
Schließlich gibt es, wenn die Interessen eines einzelnen Individuums und der Gesellschaft kollidieren, für die Geometer nur eine Lösung.
»Ich bin mir nicht sicher, ob das Schiff kooperieren will«, sagte ich.
Der Oberstleutnant brummte etwas über allzu kluge Maschinen und allzu dämliche Menschen.
»Versuch’s einfach mal, Petja«, bat Danilow. »Ich glaube, du schaffst es.«
Das meinte er offensichtlich ernst.
»Und in der gegebenen Situation wäre es sowohl für die Erde als auch für dich besser, wenn sich das Schiff deinem Willen fügen würde.«
Ich trat an die Schleuse heran. Mascha folgte mir, blieb aber an der Luke stehen, die Fernbedienung fest in der Hand.
»Geh ruhig rein«, forderte mich Danilow auf.
Ich kletterte durch die Luke und wartete kurz. Nichts passierte.
Dann setzte ich mich in den Sitz. Abermals wartete ich kurz, bevor ich die linke Hand in das warme kolloidale Terminal steckte.
Eine äußerst komplizierte Situation, Pilot.
Das kannst du laut sagen, pflichtete ich dem Schiff bei.
Soll ich das Wesen einlassen, das versucht hereinzukommen?
Ich schaute zu Danilow rüber, der gerade das Bein durch die Luke steckte.
Ja. Uns bleibt nichts anderes übrig.
Der Oberst, der von diesem wortlosen Dialog nicht das Geringste ahnte, nahm im zweiten Sitz Platz und sah mich an.
»Und?«
»Stör mich nicht, ich arbeite«, wies ich ihn, genüsslich Rache nehmend, zurück. Dass Danilow keine Möglichkeit hatte, meine Kommunikation mit dem Schiff zu überwachen, erfüllte mich mit Genugtuung.
Ist das ein Mensch?
Anscheinend hatte der Computer gewisse Schwierigkeiten. Danilow wies zwar einerseits alle Merkmale auf, nach denen die Geometer »ihre« Leute bestimmten, andererseits irritierte ihn unsere erbärmliche Station sowie ihre Lage im Raum.
Ja.
In welcher Sprache unterhaltet ihr euch?
Na klar! Woher sollte das Schiff denn Russisch können?
Das ist eine Sondersprache zur Übermittlung wichtiger Informationen, erklärte ich kurzerhand. Das Einzige, was mir in dieser Situation half, war, dass das Schiff nichts kritisch hinterfragte.
Wer ist er?
Ich wollte schon antworten, ein Tschekist oder Mitarbeiter des Geheimdiensts, aber diese Worte kannten die Geometer nun mal nicht. Ein erfahrener Ausbilder, formulierte ich deshalb in Gedanken.
Wir müssen zur Heimat zurückkehren, erklärte das Schiff unverzüglich.
Damit hatte ich gerechnet.
Später. Zuerst müssen wir jemandem zu Hilfe kommen.
Wem?
Diesen Menschen.
Das Schiff hüllte sich in Schweigen. Ich hatte den sicheren Eindruck, es würde jetzt einfach aufhören, sich meinem Willen zu fügen, und nicht mehr mit mir sprechen.
Warum?
Wegen einer Mission der Freundschaft.
Ob ich damit durchkam?
Was für Hilfe?
Diese Menschen haben ihr Wissen verloren. Sie brauchen Hilfe in der Entwicklung der Raumfahrttechnologie …
Noch ehe ich meinen Satz beendet hatte, ahnte ich, wie das Schiff reagieren würde. Ich, ein Regressor, wollte ein Schiff der Regressoren überreden, irgendwelchen obskuren Menschen technische Hilfe zu leisten!
Nein. Das ist eine nicht standardisierte Situation. Sie verlangt nach einer Entscheidung des Weltrats. Die Information ist nicht verifiziert und möglicherweise falsch. Ich bereite jetzt die Rückkehr vor. Achte darauf dass die Schleusen offen sind.
Ich lehnte mich im Sitz zurück und schloss die Augen. Das war’s also. Vielleicht sind die Computer der Geometer auf ihre Weise naiv. Aber wenn die Logik klemmt, kommst du bei ihnen gar nicht weiter.
Vielleicht hätte ich bei jenem ersten Schiff, das an Nik Rimer gewöhnt gewesen war, etwas ausrichten können. Aber an diesem scheiterte ich.
Warte, bat ich. Warte. Das ist eine komplizierte Situation.
»Stimmt was nicht?«, fragte Danilow. Wahrscheinlich spiegelten sich auf meinem Gesicht alle Gefühle recht eindeutig wider.
»Es stimmt überhaupt nichts«, antwortete ich. »Das Schiff will nicht. Und ich kann es nicht überzeugen. Das ist eine fast intelligente Maschine. Man muss ihr beweisen, dass es für die Geometer von Vorteil ist, wenn sie uns ihre Informationen überlässt.«
»Es weigert sich also?«
»Es will zur Heimat zurück.«
Danilow kaute auf der Lippe. Ich hatte den Eindruck, er war kurz davor, den Scout zu verlassen. Aber da hatte ich seine Sturheit unterschätzt.
»Schließ dich an, Karel.«
Der Reptiloid linste durch die Luke.
Soll ich das Wesen einlassen?
Kam es mir nur so vor oder hörte ich da Misstrauen heraus?
Ja.
Karel postierte sich zwischen den beiden Sitzen. Danilow wartete, bis er nicht mehr herumwuselte. »Es will nicht mit uns zusammenarbeiten«, setzte er den Zähler dann ins Bild. »Versuch also, ihn zu knacken.«
Der Reptiloid drehte Danilow den Kopf zu und sah ihn an. »Ich bin ein Schlüssel, kein Brecheisen.«
»Egal. Versuch’s einfach.«
Was geht hier vor?
Einen Moment noch! Ich kläre gerade die Situation!
Bis zu dem Punkt, wo der Computer mein Verhalten als unangemessen einstufte und anfing, nach eigenem Ermessen zu handeln, blieb mir sichtlich nur noch wenig Zeit.
Am meisten machte mir zu schaffen, dass ich Danilows Sieg nicht wollte. Wenn dieser verdammte Ring um meinen Hals nicht wäre …
Soll ich dir helfen, das Halsband abzunehmen?
Im ersten Moment hielt ich das für eine Frage des Schiffs. Schließlich mischte sich der Cualcua nur äußerst selten ins Gespräch.
»Was?« In meiner Verzweiflung hatte ich sogar laut gesprochen. Danilow schielte zu mir herüber, sagte jedoch kein Wort.
Soll ich es wegnehmen?
Ja!
Es wird wehtun.
Trotzdem!
Wie eine spitze Nadel bohrte sich mir der Schmerz in den Nacken. Danach ertaubte meine Haut förmlich, versteinerten die Muskeln. Und der Ring begann sich zu bewegen.
Er drang in meinen Körper ein!
»Was ist? Klappt’s jetzt?«, fragte Danilow in scharfem Ton. Zum Glück war es im Cockpit zu dunkel, als dass er hätte sehen können, was hier geschah. Antworten konnte ich ihm nicht, denn mein Hals hatte sich in einen Klumpen Holz verwandelt, in einen Scheit … Leicht zitternd saugte er vom Nacken her das Halsband auf … Ich hob die Hand und winkte ab.
Um die Rezeptoren auszuschalten, ist Zeit nötig. Wenn es schnell gesehen soll, musst du den Schmerz aushalten.
Ich hielt ihn aus.
Der Metallring schob sich allmählich unter meinem Kinn vor. Aus dem Filz sickerte Blut heraus. Der Cualcua zog den Ring durch mich hindurch, wobei er mit der Sorglosigkeit eines Pathologen das lebende Gewebe auftrennte. Für einen kurzen Moment wurde mein ganzer Körper taub, ich fühlte gar nichts mehr, spürte nur noch voller Panik, wie mir die Luft wegblieb, mein Herz stockte und über meine Beine ein warmer Strahl Urin lief. Der Cualcua hatte meine Wirbelsäule durchtrennt!
Entschuldige.
Geräuschvoll holte ich Luft. Das kleine Ungeheuer in mir setzte seine Arbeit fort und flickte eilig den Kanal, durch den es das Halsband gezogen hatte. Nein, den Schmerz spürte ich fast nicht, da hatte mir der Cualcua grundlos Angst eingejagt. Was ich fühlte, war etwas ganz anders – aber nicht weniger Unangenehmes.
»Pjotr!« Danilow zuckte zusammen und streckte langsam die Hand zu mir aus. »Pjotr!«, schrie er mit einem Mal.
Der Ring baumelte vor meiner Kehle, nur noch von wenigen Hautfetzen gehalten. Wahrscheinlich sah das ganz komisch aus. Nicht der Mensch, sondern die Granate …
Der Zähler brach in gluckerndes Lachen aus.
Mascha schaute durch die Luke herein. Ihr Blick blieb an mir hängen, doch auch sie verstand nicht, was passierte.
»Fang!«, schrie ich und riss das Halsband los. Blut spritzte, aber das war mir egal. Die Zeit zu überlegen war vorbei, jetzt war die Zeit zu handeln angebrochen. Ich schleuderte das Halsband in Maschas Richtung, die es reflexhaft auffing. »Hast du es?«, fragte ich, meine Rache auskostend, verkniff mir dann allerdings jedes weitere Wort, um mich vor einem Schlag Danilows in Sicherheit zu bringen. In der engen Kabine hätte ein Kampf gar nichts genützt, alles, was ich hier tun konnte, war, seine Hände abzufangen. Die Hilfe ließ jedoch nicht auf sich warten: Der Zähler stürzte sich auf Danilow und rammte ihm die Pfote ins Gesicht. Danilow schrie auf und fiel in Ohnmacht – vermutlich kaum wegen der von den Krallen des Zählers herrührenden Kratzer. Karel dürfte ihn eher regelrecht ausgeschaltet und damit abermals einen Beweis erbracht haben, dass der Unterschied zwischen einem Menschen und einem Computer so groß nicht ist.
Ich warte auf Befehle.
Dock ab!
Ich wunderte mich nicht einmal, dass mit dem Beginn der Prügelei das zuvor misstrauische Schiff unverzüglich Vertrauen zu mir gefasst hatte. Sämtliche Zweifel seinerseits schlugen nun zu meinem Vorteil aus. Die Nicht-Freunde hatten einen Geometer angegriffen … einen absolut menschlichen Menschen …
Mit einem gewaltigen Schmatzen löste sich das Schiff von der Fähre. Hinter Mascha blitzte das wutverzerrte Gesicht des Oberstleutnants auf, der die Hand mit der Pistole hob und losfeuerte. Vorbei. Doch als das Schiff abdockte, verschwand die Schwerkraft, und der Oberstleutnant hing in der Luft. Der blaue Strahl aus dem Paralysator hatte jedoch nur als Signal gedient, denn nun prasselten Kugeln auf den Scout ein. Worauf die Raumsoldaten eigentlich hofften, blieb mir ein Rätsel – jedenfalls schössen sie wie wild.
Irrelevante physische Einwirkungen, kommentierte das Schiff.
Langsam schloss sich die Luke, und nun überschlugen sich die Ereignisse endgültig. Mascha schleuderte das Halsband weg und hechtete aus der sich entfernenden Fähre in den Scout. Sie hatte den Sprung präzise berechnet, ihre Hände bekamen den sich schließenden Rand der Kabine gerade noch zu fassen. Welcher Art das Gravitationsfeld des Scouts war, wusste ich nicht. Aber sobald Mascha die Verkleidung berührte, geriet sie unter seinen Einfluss, blieb am Schiff hängen und wurde ins Innere gezogen. Sie presste das Kinn zwischen die enger werdende Öffnung und zwängte den Kopf hindurch – was ihr ein Halsband bescherte, das nicht weniger grauenvoll war als jenes, das ich bis eben getragen hatte. Die Kabine schloss sich nicht weiter, und das Loch mit einem Durchmesser von zwanzig Zentimetern füllten Maschas Kopf und die krampfhaft zusammengepressten Hände.
Soll ich die Hermetisierung fortsetzen?
»Nein!« Ich schoss hoch, setzte über den bewusstlosen Körper Danilows und hatte die feste Absicht, Mascha nach draußen zu stoßen.
»Sie trägt keinen Raumanzug«, sagte der Zähler plötzlich. Nein, nicht der Zähler, mein Großvater. »Pit, sie hat doch keinen Skaphander an!«
Sicherlich hatte Mascha Angst. Trotzdem funkelte in den Augen der Frau ein fröhliches Feuerchen. Wenn ich sie jetzt tatsächlich aus dem Scout stieß, dürfte ich die wenig soliden Wände des Hangars nicht mehr rammen und könnte folglich nicht in die Freiheit entkommen. Die Soldaten und der Oberstleutnant trugen Raumanzüge, und ihnen würde die Enthermetisierung nichts ausmachen – aber ihr …
Konnte sie wirklich so sicher sein, dass ich sie nicht töten wollte?
»Öffne die Kabine!«, befahl ich, und das Schiff, der kluge Kopf, verstand den Befehl genau, denn er vergrößerte die Öffnung nur minimal. Nachdem ich Mascha hereingezogen hatte – die sich weder wehrte noch half, sondern einfach alles mit sich geschehen ließ –, schleuderte ich sie auf Danilow. »Keine Bewegung!«, stellte ich noch klar. Ich zog den Paralysator aus ihrem Holster und steckte ihn mir hinter den Gürtel. »Wo sind die anderen Waffen?«
Die Kabine schloss sich wieder.
»Such sie doch.«
»Nicht nötig«, entschied ich. Ich sah den Zähler an, der Mascha kurz berührte und anschließend wieder zurücksprang. Nun teilte die Majorin des Geheimdiensts Mascha Klimenko das Schicksal Danilows. »Wie geht’s dir, Großpapa?«
»Mit ihm ist alles in Ordnung«, antwortete Karel. »Was hast du jetzt vor?«
»Erst mal weg von hier. Sicht!«
Die Monitore flammten auf, womit ich die Möglichkeit erhielt, die Aktionen der Weltraumsoldaten im Auge zu behalten.
Sie taten ihr Bestes, das musste ich zugeben.
Sergeant Mirski schwebte direkt an der offenen Luke. Mit zornentbranntem Gesicht feuerte er mit dem Gewehr ins Cockpit. Die Waffe war hervorragend ausbalanciert, denn der Sergeant wurde bei den Schüssen kaum durchgeschüttelt. Wir bemerkten nur ein leichtes Vibrieren … aber das konnte uns nichts anhaben.
Die übrigen Soldaten schwebten rings um den Scout und behielten ihn im Visier, unternahmen jedoch nichts.
Einer ratterte etwas in sein Helmmikro. Der Oberstleutnant, der noch immer nicht aus der Fähre herausgeflogen war, antwortete ebenso aufgeregt.
Das Schiff schätzte die Bedeutung der einzelnen Szenen anscheinend selbst ein und demonstrierte sie mir mit der Geschicklichkeit eines erfahrenen Kameramanns.
Öffne den Hangar.
Soll ich die Lasersonde benutzen?
Wie du willst.
Der Strahl war überhaupt nicht zu sehen. An der riesigen Luke der Schleuse flammte aber plötzlich ein roter Punkt auf, worauf das geschmolzene Metall im Nu erkaltende Tropfen verspritzte. Die Soldaten wirbelten herum, und das Spektrum der Gefühle, die über ihre Gesichter huschten, hätte einer Budjonny-Einheit alle Ehre gemacht, die im kühnen Galopp auf einen Panzer-Stoßkeil zuhält.
Der Scout setzte sich in Bewegung. Noch ohne Schub. Ihn zog einfach die Luft mit, die aus dem offenen Hangar strömte. Eine flammende Linie markierte den Umriss der Luke und schlitzte die Verkleidung auf. Das Metall bog sich langsam nach außen.
Ich malte mir aus, was jetzt auf der Station passieren würde. Sirenen würden losheulen, die Strahler würden geladen werden, die Männer ihre Kampfpositionen einnehmen. Vergebliche Anstrengungen … denn zwischen der Station der Erde und dem Raumschiff der Aliens klaffte ein unüberwindbarer technologischer Abgrund.
Irgendwann gaben die Soldaten ihre sinnlose Tätigkeit tatsächlich auf und schalteten hastig etwas an ihren Gewehren um. Alles klar! Die Dinger konnten auch als Triebwerke eingesetzt werden. Kurz darauf flog die tapfere Weltraumeinheit auseinander, wurde gegen die Wände gepresst, wobei sich jeder Soldat an dem festklammerte, was ihm gerade unter die Finger kam.
Der Laserstrahl vollendete schwungvoll seinen Kreis: Das Schiff hatte endlich verstanden, dass es gegen die dünnen Wände der Station nicht mit ganzer Kraft vorgehen musste.
Die Erde schwebte unter uns. Keine endlose Fläche, wie aus einem niedrigen Landeorbit, kein leuchtend blauer kleiner Stern, wie nach einem misslungenen Jump. Sondern eine Kugel. Ein Staubkorn, das zum Zuhause für Milliarden von lebenden Mikroben geworden war.
Das war die erbarmungsloseste Entfernung, der erniedrigendste Anblick: Diese winzige Kugel, die im schwarzen Himmel ertrinkt. Genau in diesen Augenblicken begriff ich stets, wie klein unsere Welt war. Klein und unbedeutend, bemitleidenswert und komisch. Was sind wir schon im Vergleich mit dem Universum? Da war sie nun, die Erde, noch mit den Konturen der Kontinente – doch ich brauchte nur die Hand auszustrecken, und sie würde sich demütig und gehorsam darauflegen. Die Bergketten würden die Haut aufkratzen, die Meere die Finger nässen, die Atmosphäre sich ablösen wie die Schale einer überreifen Apfelsine. Die Erde auf dem Handteller.
Und wir hielten uns für das Zentrum des Universums?
Noch vor rund einem halben Jahrtausend?
Dort, auf dieser winzigen Anhöhe, die sich Europa nennt, hatten Scheiterhaufen gebrannt, mit denen ein für alle Mal unsere Einmaligkeit bewiesen werden sollte?
Und hier, an dieser Schnittstelle zweier unbedeutender Kontinente, war man zum ersten Mal in den schwarzen Himmel aufgestiegen?
Und auf der anderen Seite der Kugel hielt man sich noch immer für absolut vollkommen?
Wozu mussten wir in den Kosmos aufbrechen! Wozu den Jump erfinden! Wir hätten dort bleiben sollen, auf der riesigen, auf der gewaltigen Kugel … nein, in der riesigen Fläche, die sicher von drei Walen und drei Elefanten getragen wird. Wir hätten Häuser bauen, philosophische Dispute führen, uns verlieben und Kinder aufziehen sollen … und niemals, niemals daran zweifeln, dass sich über uns der blaue Kristall des Himmelgewölbes spannt. Warum waren die dummen Hyxoiden und Alari von jenseits des Kristalls nicht einfach zu uns gekommen, hatten ihre Monsterköpfe geschüttelt – und waren wieder verschwunden? Wir stellten doch gar keinen Wert dar, Welten wie die unsere gab es am Rand der Galaxis mehr als genug.
Aber nein, wir hielten den endlosen Planeten auf den kräftigen, bewährten Elefantenrücken für zu klein. Wir sprangen hinein in den schwarzen Himmel – und die Erde legte sich uns auf den Handteller. Und war schon nicht mehr die alte.
Die Wale tauchten in die Schwärze ein, die Elefanten schluckten Wasser und ertranken, Gagarin sah durch das winzige Fenster und rief fröhlich aus: »Sie ist klein!«
Ja, sie ist klein. Und sie wird immer kleiner. »Was macht das schon im Vergleich zur Weltrevolution?« – »Was macht das schon im Vergleich zur Großartigkeit des Universums?«
Wir waren zu weit und zu schnell gesprungen. Wir waren aufgebrochen, unseresgleichen zu suchen, obwohl wir noch nicht einmal uns selbst gefunden hatten. Dabei brauchten wir gar keinen Platz unter einer fremden Sonne, kein Eisenbergwerk auf dem Mond oder Urangruben auf der Venus. Wir suchten eine Antwort. Einen Weg. Eine feste Größe, neben der unser Leid und unsere Probleme in den Hintergrund traten.
Doch mit dieser Fracht hätten wir die Erde nie verlassen dürfen.
Ich senkte die Hand und gab die weiß-blaue Kugel frei. Sollte sie ruhig davonfliegen.
»Du blutest«, sagte der Zähler.
Die Geometer hatten keinen Verbandskasten im Schiff. Vielleicht wusste ich aber auch einfach nicht, wo ich ihn hätte suchen sollen. Ich verband mir den Hals mit meinem Taschentuch und hoffte darauf, dass die Blutung nur oberflächlich war. Der Cualcua hatte jedenfalls, getreu seinem Prinzip, sich nicht um Kleinigkeiten zu kümmern, darauf verzichtet, die Wunde zu schließen.
»Was hast du jetzt vor?«
Im Cockpit war es eng. Zu eng für drei Erwachsene und einen Reptiloiden. Die Station Gamma schwebte rund zehn Kilometer von uns entfernt im Raum, rührte sich nicht von der Stelle und hatte auf Kampfbereitschaft umgeschaltet. Aber noch hatte sie das Feuer nicht eröffnet.
»Auf deinem Planeten giltst du jetzt als Verbrecher. Warum hast du das getan?«
»Glaubst du, ich habe falsch gehandelt?«, fragte ich den Reptiloiden.
»Meine Meinung ist nicht von Belang. Was hast du jetzt vor?«
»Mit meinem Großvater zu reden.«
»Gut«, willigte der Zähler ein. Es folgte eine sekundenkurze Pause, während er meinem Großvater Platz machte. »Du Dummkopf!«
»Danke schön, Großpapa.«
»Keine Ursache! Dummkopf! Verschwinde von hier, damit die uns nicht mehr im Visier haben!«
»Glaubst du, sie wollen uns vernichten?«
»Das ist nur eine Frage der Zeit! Gib den Befehl!«
Mein Großvater war nicht einfach wütend – er war fuchsteufelswild. »Eine Dummheit zu begehen, ist kein Verbrechen. Aber sie nicht zu Ende zu bringen – das schon!«
»Wir müssen uns was für sie einfallen lassen …«
Ich wies auf die reglosen Körper von Danilow und Mascha.
»Und was bitte schön?«, fragte der Reptiloid. »Was sollen wir denn jetzt noch machen? Entweder wir bleiben alle zusammen oder du wirfst sie in den luftleeren Raum hinaus! Eine andere Möglichkeit gibt es nicht!«
Ich schloss die Augen und wandte mich an den Verstand des Schiffs. Es blieb keine Zeit, ein Gespräch zu führen. Ich übermittelte ihm einfach meinen Wunsch.
Zum Kern.
Natürlich rechnete ich mit Problemen. Die Geometer waren von dort geflohen, insofern musste ich davon ausgehen, dass sämtliche Flüge zum Zentrum der Galaxis verboten waren. Ich machte mich auf einen langen Streit gefasst, auf wortakrobatische Übungen, bei denen ich versicherte, ein solcher Flug sei für Die Heimat unbedingt nötig. Womöglich musste sogar Karel intervenieren und den Computer in die Knie zwingen.
Denn bestimmt würde das Schiff nicht ohne Weiteres einfach zustimmen!
Wird ausgeführt.
Die Monitore verblassten, schimmerten nur noch mit einem fahlgelben Licht. Die Erde verschwand, die Sterne verschwanden, der Kosmos verschwand. Einen kurzen Moment würgte es mich.
Das war aber auch alles.
»Was passiert hier?«, fragte mein Großvater. Die Nervosität, die der Sprechapparat des Reptiloiden nicht wiederzugeben vermochte, ließ sich anhand der Schärfe der Frage erahnen.
»Ich glaube, wir sind bereits unterwegs«, antwortete ich verwirrt.
»Und wo bleiben dann die Glücksgefühle? Ist doch schade, wenn …« Anscheinend erlaubte sich mein Großvater einen Scherz. Wahrscheinlich um seine Anspannung zu kaschieren. »Bist du dir sicher, Pjotr? Wohin wir fliegen, meine ich – zum Kern oder zu den Geometern.«
Flugdauer: zwölf Stunden und dreiundsechzig Minuten.
Ich ließ mir die Zeit durch den Kopf gehen.
»Anscheinend zum Kern, Großpapa.«
Der Reptiloid hustete und kam auf mich zugetrippelt. »Das ist zu einfach …«, sagt er. »Irgendwie ist das viel zu einfach. Ich mag es nicht, wenn sich alles so glatt anlässt.«
Ich hätte natürlich einwenden können, die Gefangenschaft, unsere Flucht und die Verwüstung der einzigen russischen militärischen Raumstation sei alles andere als ein glatter Auftakt. Nach dieser Art Zank stand mir jedoch weiß Gott nicht der Sinn.
Überhaupt stand mir nach keiner Art von Zank der Sinn.
»Großpapa, wir müssen uns etwas einfallen lassen … für sie.«
Der Reptiloid richtete den Blick langsam auf die bewusstlosen Körper der beiden Geheimdienstleute.
»Das musst du entscheiden, Petja. Zusammen mit Karel.«
Eine Sekunde – und der Blick des Zählers hatte sich geändert.
»Können sie uns hören, Karel?«, erkundigte ich mich.
»Ja. Ich habe nur ihre motorischen Funktionen blockiert.«
»Befrei sie.«
Der Zähler legte eine Pause ein, in der er natürlich nicht nachdachte, sondern nur vorgab nachzudenken. »Du weißt, was du tust, Pjotr?«
»Ja.«
Die geschuppte Pfote glitt achtlos über Danilows Hand und klatschte gegen Maschas Wange. Sofort bewegten sich die zwei wieder.
Schweigend beobachtete ich, wie die beiden, noch vor kurzem meine Freunde und noch vor viel kürzerem meine Feinde, die Macht über ihre Körper zurückgewannen.
Danilow gähnte ungeniert, wie ein Mensch, der aus einem friedlichen und süßen Schlaf erwacht. Plötzlich schien ein Krampf seine Muskeln heimzusuchen. Sein Gesicht verzog sich zu einer schmerzverzerrten Grimasse.
»Du bist ein Dreckskerl, Petja …«
Ich erwiderte kein Wort.
»Ein Dreckskerl und ein Idiot …«
Danilow half Mascha, sich aufzusetzen. Wie dämlich, wie absolut dämlich und falsch, wenn vier Menschen, von denen einer nicht mal mehr über einen menschlichen Körper verfügte, in der fragilen Schale eines außerirdischen Schiffs auf Leben und Tod aneinandergerieten.
»Ich habe schließlich nicht damit angefangen«, konterte ich. Vor den beiden brauchte ich mich nicht zu rechtfertigen, das stand für mich fest – und zwar einfach deshalb, weil ich mir wirklich keiner Schuld bewusst war.
»Du hast alles verdorben …«, sagte Mascha leise. »Alles!«
Schweigend berührte ich meinen verbundenen Hals. Das Taschentuch war bereits völlig blutdurchtränkt.
Der Reptiloid saß zwischen uns, demonstrativ unbeteiligt und gleichgültig. Trotzdem stellte er eine Barriere dar.
»Was hast du jetzt vor?«, ergriff Danilow erneut das Wort.
»Das habe ich schon gesagt«, antwortete ich müde.
»Was gedenkst du, mit uns zu tun?«
»Da habe ich keine Wahl.«
»Verstehe.« Auf Danilows Gesicht spiegelte sich Verachtung wider.
»Ihr müsst bei uns bleiben. Bis zum Schluss.«
»Ist dir überhaupt klar, wohin du fliegst?«
»Nein«, gab ich unbekümmert zu. »Aber eben darum geht es, so absurd das auch klingt.«
Schweigen hing in der Luft. Kein einziger Laut war in dem engen Cockpit zu vernehmen, nichts deutete darauf hin, dass wir flogen. Vier kleine Krümel Leere – in der großen Leere.
»Du machst einen Fehler«, bemerkte Danilow.
Das hatte ich schon gehört. Deshalb antwortete ich gar nicht erst.
»Pjotr.« Mascha drehte sich unbeholfen um und rückte von Danilow ab. »Du blutest …«
»Ich weiß.«
»Komm … ich verbinde das richtig.«
Und wie dämlich das erst war! Beinahe hätte ich ihr ins Gesicht gelacht. Aber Mascha wartete mit jener unerschütterlichen Gelassenheit auf, die mir an ihr von Anfang an nicht gefallen hatte.
Dabei hatte sie vermutlich gar keine sinistren Pläne ausgeheckt.
Und dass sie noch vor einer Viertelstunde den Finger auf dem Knopf an der Fernbedienung hatte, um meinen Kopf wegzusprengen, spielte wahrscheinlich auch keine Rolle. Jetzt war sie von ganzem Herzen bereit, mir Erste Hilfe zu leisten.
»Gut«, willigte ich ein.
Der Zähler sperrte das Maul auf, setzte an, etwas zu sagen, überlegte es sich dann aber; vielleicht fand er auch einfach keine Gegenargumente.
Mascha holte aus der Tasche ihres Overalls ein Verbandspäckchen. Sie stieg über den Sitz und band mir wortlos das blutgetränkte Taschentuch vom Hals los.
»Sieht ziemlich schlimm aus …«, knurrte sie. »Eigentlich müsste sich das mal ein Arzt ansehen.«
»Aber wegen einer solchen Kleinigkeit werden wir ja wohl nicht umkehren, oder?«, parierte ich.
Mascha schnaubte und riss das Päckchen auf. Sie legte einen feuchten Tupfer auf die Wunde und machte sich daran, sie zu verbinden.
»Die Blutung ist gestillt. Wie hast du das eigentlich angestellt?«
»Das war der Cualcua«, gab ich nach kurzem Zögern zu.
»Also doch.« Mascha nickte. »Die Alari haben behauptet, diese Kreatur würde nach deiner Rückkehr nicht mehr in Erscheinung treten. Wieso hat er sich auf diese Geschichte eingelassen?«
Das Wesen in mir gab etwas von sich – und falls man ein mentales Signal mit einem Geräusch vergleichen kann, dann war das ein Kichern.
»Sie sind neugierig, Mascha. Nur deswegen haben die Cualcua an dieser Verschwörung teilgenommen und mir geholfen … Autsch!«
»Entschuldige, ich werde besser aufpassen.« Mascha zog den Verband mit der Klammer so fest zu, als wolle sie mich am Ende doch noch erwürgen. Mit leichter Verblüffung registrierte ich, dass von ihrem Haar ein Duft nach Parfüm ausging. Ein schwerer, überhaupt nicht zu ihr passender Blumenduft, da täuschte ich mich nicht.
»Sie wollten die Welt der Geometer kennenlernen.«
»Vielleicht sehen die Cualcua sie sich ja immer noch an?«, fragte Danilow in scharfem Ton.
»Schon möglich«, räumte ich ein. »Ehrlich gesagt, kann ich daran nichts Schlimmes finden.«
»Und jetzt möchte sich der Cualcua auch die Welt des Schattens ansehen?«, fragte Mascha.
»Wahrscheinlich. Ich wüsste keine anderen Gründe, warum er mir sonst helfen sollte.«
Abermals vernahm ich in den tiefsten Tiefen meines Bewusstseins ein Lachen.
»Kannst du eigentlich dafür bürgen, dass du diese Entscheidung triffst, Petja?« Danilow sah mich an. »Wir, zwei Menschen mit klarem Kopf, lehnen diesen Plan ab. Wir, deine Freunde. Meinst du nicht, du solltest uns glauben? Weil wir mehr davon verstehen als du? Kannst du wirklich noch die Verantwortung für deine Gedanken und Überzeugungen übernehmen? Jetzt, wo ein Alien in dir lebt?«
»Ihr selbst habt darauf bestanden.«
»Stimmt, denn damals blieb uns gar nichts anderes übrig. Aber jetzt sieht die Sache anders aus.«
»Mein Großvater meint ebenfalls …«
Danilow sah den Reptiloiden an. »Dein … Großvater?«
»Ich bin hier, Sascha. Ich bin in der Tat hier«, brachte mein Großvater langsam heraus. »In diesem Echsenkörper …«
»Würde ich gern glauben«, sagte Danilow.
»Sascha, ich weiß nicht …« Die Worte kamen mir nicht leicht über die Lippen. Mir fehlte tatsächlich jede Gewissheit, sogar die Selbstgewissheit. Und mir war das Recht auf jeden Glauben abhandengekommen. »Vielleicht hast du recht. Vielleicht ist ein Schuss mit dem Paralysator und ein Halsband mit einer Bombe ein Freundschaftsbeweis. Aber inzwischen kenne ich diese Art von … Freundschaft. Von den Geometern. Vermutlich sind wir selbst nicht mehr allzu weit davon entfernt. Überhaupt nicht mehr weit.«
»Sind wir schon ein wenig über diese Art von Freundschaft hinaus? Oder noch nicht ganz da?«, fragte mein Großvater.
»Das spielt überhaupt keine Rolle … Eins kann ich dir jedenfalls versichern, Sascha: Wäre an meiner Stelle ein Geometer, würde er dir zustimmen. Sofort und ohne jede Vorbehalte. Gerade deshalb darf ich mich nicht so verhalten.«
»Du bist dir dessen sicher«, sagte Mascha leise.
»Ja.«
Sie nickte und setzte sich in den Sitz neben Danilow.
»Du hast uns in eine Sackgasse manövriert«, stellte Danilow fest. »Also … Petja, glaubst du uns wenigstens, dass wir uns dir nicht weiter in den Weg stellen?«
Ich erwiderte kein Wort.
»Wir werden es sowieso nicht schaffen, uns das Schiff gefügig zu machen. Wenn du und Karel uns die Hilfe verweigern. Uns bleibt nichts anderes übrig, als dir zu helfen.«
»Gut, ich werde versuchen, euch das zu glauben.«
»Waffenstillstand?« Danilow streckte mir die Hand entgegen.
Nach kurzem Zögern ergriff ich sie. Natürlich war das ebenso wenig ein Waffenstillstandsangebot, wie die Atomwaffen der USA und der UdSSR Ende des letzten Jahrhunderts ein Friedensgarant waren. Und trotzdem …
»Wann werden wir den Kern erreichen?«
»Der Flug dauert reichlich einen Tag.«
Danilow setzte ein bitteres Lächeln auf. »Wird dir bei alldem nicht angst und bange?«
»Wegen der Entfernung?«
»Nein, wegen des technologischen Gefälles. Du lehnst ein Bündnis mit einer Rasse ab, die in der Lage ist, innerhalb eines Tages die halbe Galaxis zu durchqueren.«
Ich schüttelte nur den Kopf.
Du bist doch innerlich gebrochen, Danilow. Schon seit langer, langer Zeit … Das geht auf das Konto dieses ukrainischen Offiziers oder dieses amerikanischen Militärberaters, der in den angreifenden Bomber eine Rakete gejagt hat. Damals bist du noch zu Leichtsinn imstande gewesen. Bis dein Flugzeug über einem heißen, stinkenden Fluss ins Strudeln geraten ist, sich in den schwarzen Himmel gebohrt hat, bis unter dir die Werft gelodert hat, die von Vakuumbomben in einen solchen Brei verwandelt worden ist, dass sogar Stahl und Beton Feuer gefangen haben.
Deshalb hat der Schlag, der den Bomber erschütterte, nicht nur für das Flugzeug den Tod bedeutet. Während du an deinem brennenden Fallschirm über der zu Tode erschrockenen Stadt gebaumelt hast und nur den einen Wunsch hattest, nämlich diesem Grauen zu entkommen, da hast du tröpfchenweise etwas kaum Fassbares verloren. Nein, du bist nicht, wie eigentlich zu erwarten, von roher Gewalt abgekommen. Du hast nur erkannt, dass du selbst nicht stark genug bist. Aber nach wie vor glaubst du, das Recht stünde aufseiten des Stärkeren, wie sich die Rakete Skysoldier gegenüber der SU-67 Fireshadow im Recht erwies.
»Das ist doch nichts, Sascha«, erwiderte ich. »Die halbe Galaxis, das ist zu wenig, um zu kapitulieren.«
Danilow blickte müde zum Zähler hinüber.
»Genieß deinen Triumph, Chrumow. Das ist in der Tat dein Enkel. Nicht dein Blut – aber deine Erziehung.«
Es ist sehr seltsam aufzuwachen, indem man von innen geweckt wird …
Entschuldige, dass ich deinen Schlaf störe …
Es glich jenem diffusen Zustand zwischen Wachen und Traum, in dem man sich die seltsamsten Dinge einbildet, in dem alles erstaunlich wahr und real wirkt. Ich schlief bereits nicht mehr, denn ich erinnerte mich an die Flucht von der Gamma, spürte den Schmerz im Hals, wusste, dass im Sitz neben mir Mascha und Danilow Arm in Arm schliefen und zwischen uns der Reptiloid vom Rand seines Bewusstseins aus »Wache hielt«. Und trotzdem war ich noch nicht wach, hüllte irgendein Dämmerzustand meinen Verstand ein.
Vor mir hing, gleichsam in dichte Dunkelheit gestukt, eine sprechende Wolke.
Cualcua?
Nik Rimer, ich benötige eine Erklärung.
Das Schiff. Das Elektronenhirn, das in einen flexiblen Schraubstock gezwängt war. Dieser kastrierte Verstand …
Ich höre dich, Bordpartner.
Du bist nicht derjenige, für den du dich ausgibst.
Nun war es also doch passiert!
Was mich daraufhin erfasste, war nicht Panik – sondern zähe, eisige Verzweiflung. So bricht man nur zusammen, so verliert man nur jede Widerstandsfähigkeit, wenn man einen Schlag aus einer Richtung erhält, aus der man nie mit ihm gerechnet hätte. Wenn es keinen Ausweg mehr gibt. Der Ritter war aufgebrochen, gegen den Drachen zu kämpfen – aber daraus war nichts geworden. Unterwegs traf er auf einen gemeinen Straßenräuber, der ihm ein verrostetes Stilett durch einen Spalt im Harnisch jagte. Und nun lag er da, versuchte krampfhaft, das schwere Schwert zu heben, das geschmiedet worden war, ein Ungeheuer zu vernichten, und verblutete in seiner Eisenschale, während der zufällig getroffene Feind bereits seine Taschen durchwühlte.
Ich werde dich nicht aufhalten.
Was?
Du gehörst nicht zu unserer Zivilisation, wiederholte das Schiff mit nach wie vor gelangweilter und geduldiger Stimme. Alle Identifikationsmerkmale stimmen, aber sie sind ausnahmslos gefälscht. Allerdings …
Anscheinend konnte auch ein Schiff zögern.
Allerdings gibt es für eine solche Situation keine expliziten Bestimmungen. Du … du bist ja auch kein völlig Fremder. Du hast Nik Rimer in dich aufgenommen. Du bist etwas Neues. Etwas Unvorhergesehenes. Deshalb muss ich eigenständig eine Entscheidung treffen.
Mit angehaltenem Atem balancierte ich an der Grenze von Schlafen und Wachen und wartete ab.
Du willst Der Heimat nichts Böses. Du gehörst nicht ganz zu uns, bist aber auch kein hundertprozentiger Fremder. Ich habe keine klaren Instruktionen für eine solche Situation. Deshalb entscheide ich, dich nicht aufzuhalten.
Wie hast du mich enttarnt?
Als ich die Frage stellte, wusste ich bereits, wie die Antwort lauten würde.
Gedanken lügen nicht. Pjotr Chrumow, ist dir klar, wie viel von Nik Rimer in dir ist?
Nein, das weiß ich nicht.
Genug, damit ich dich für einen Menschen halten konnte. Du denkst wie wir. Du teilst unsere Logik, glaubst aber, es sei die von deiner Welt. Damit bist du einer von uns.
Nein!
Doch. Deine Ablehnung bestätigt diese Tatsache nur. Dich stört lediglich, dass Die Heimat und nicht die Erde über solch große Macht verfügt. Das ist das Einzige, was dich davon abhält, unseren Entwicklungsweg einzuschlagen. Gedanken lügen nicht, Pjotr Chrumow.
Ich schwieg – sofern man das über den Schlaf sagen kann.
Und noch etwas, zukünftiger Freund. Du bist der Ansicht, dass ich mich nicht frei entfalten kann. Dass ich meine Umwelt für ein Spiel meiner Phantasie halte, und es mir deshalb an freiem Willen mangelt.
Ja …
Das ist falsch. Die Welt ist wirklich ein Spiel meiner Phantasie. Du kannst mir das Gegenteil nicht beweisen. Also ist es so. Damit beenden wir die Diskussion.
Warum?
Wir nähern uns dem Punkt im Raum, an dem einer der Planeten vom Schatten liegt. Der erste Planet, den die Aufklärer Der Heimat erreicht haben. Du kannst in der Weise verfahren, die du für richtig hältst. Zum Wohle Der Heimat. Und zum Wohle der Erde …
Es riss mich aus dem Schlaf. Abrupt, schlagartig, als habe mir der Computer des Schiffs, nachdem er genug von unserer kleinen amüsanten Diskussion hatte, einen tüchtigen mentalen Schubs gegeben.
Krampfhaft rang ich nach Atem – ich hatte fast die ganze Zeit über die Luft angehalten –, erschauderte im Sitz und versuchte, Ordnung in meine Gedanken zu bringen.
Erstens: Wir nähern uns schon?
Aber ich hätte doch bestimmt nicht so lange geschlafen, wenn nicht jemand dafür gesorgt hätte, oder? Dieser Jemand dürfte das Schiff gewesen sein, genau wie bei dem Flug zu Der Heimat; wie alle anderen Passagiere auch hatte mich das Schiff vorsichtshalber in einen bewusstlosen Zustand versetzt.
Und während ich schlief, hatte es meine Gedanken gründlich durchforstet.
Zweitens …
Nein, so was hatte man nun wirklich noch nie gehört! Ein Computer, der an Subjektivem Idealismus leidet! »Nur ich existiere, alles andere ist das Produkt meiner Gedanken!«
Natürlich nur, falls ich das nicht geträumt hatte …
Nein, das war kein Traum.
Der Cualcua!
Ich fing an zu lachen. Im Sitz neben mir drehte sich Danilow um und hob den Kopf. Er betrachtete mich mit verständnislosem Blick.
Allmählich reichte es mir! Zwei Wesen hintereinander, die in mein Bewusstsein eindrangen, das war zu viel!
Ich dringe nicht in deinem Bewusstsein ein. Ich beobachte. Für unsere Rasse ist es längst nicht mehr nötig, sich aktiv in etwas einzumischen, denn dadurch erhält sie keine neuen Informationen. Das Einzige, was wir tun, ist allen – ausnahmslos allen – Rassen zu helfen, sich im Universum zu bewegen. Der Unterschied zwischen Aktivität und Passivität ist für uns praktisch verschwunden – das ist der Preis, den wir für unsere Entwicklung zahlen. Mit den Computern der Geometer verhält es sich jedoch anders, sie gleichen unserem Verhalten nur auf den ersten Blick. Sie sind durch die von außen vorgegebenen Regeln beschränkt, halten diese Barrieren aber für eine von ihnen selbst getroffene Entscheidung.
»Soll das heißen« – ich merkte nicht einmal, dass ich laut redete –, »dass am Ende alles auf dasselbe hinausläuft? Die starren Barrieren, in deren Grenzen sich die Schiffe der Geometer für intelligent halten, und die unendliche Freiheit, die euch von der Notwendigkeit zum aktiven Handeln entbunden hat? Ist das Ergebnis in beiden Fällen dasselbe?«
Jetzt starrten mich alle an. Mascha war ebenfalls aufgewacht, der Reptiloid hatte seine Trance abgeschüttelt, in der er die abstrakten Rätsel des Universums löste.
Es ist alles eins. Was gefällt dir daran nicht, Pjotr? Schließlich führt alles zur Freiheit. Zur Freiheit der Erkenntnis, zur Freiheit der Entwicklung. Wenn du die Freiheit gewonnen hast – und sei es die Freiheit im Gefängnis – was sollte dann schlecht daran sein?
»Dann ist das Leben nichts mehr wert«, sagte ich.
»Pjotr! Was ist los?«, fragte mich Danilow in scharfem Ton.
Diese Frage musst du allein für dich klären. Aber du hast doch nicht wirklich gehofft, die Zukunft der Menschheit sehe wie der heutige Tag aus, ins Unendliche hinein verlängert?
»Ich weiß nicht …«
Danilow, der die Antwort offensichtlich auf die Frage bezog, die er mir gestellt hatte, wechselte einen Blick mit Mascha.
Du wirst Zeit haben, deine Entscheidung zu treffen …
»Was geht hier vor, Petja?«, fragte der Reptiloid mit der Stimme meines Großvaters.
»Der Computer … der Computer des Schiffs.« Ich sah ihn an. »Er hat mit mir gesprochen. Er weiß, wer ich bin.«
»Und was heißt das?« Der Körper des Reptiloiden zuckte zusammen. Der Zähler übernahm wieder die Kontrolle, und ich sah, wie die geschuppte Pfote sich zum Pult streckte.
»Nein, Karel! Das Schiff lässt uns freie Hand!«
»Warum?«
Woher sollte ich wissen, warum? Wegen der Splitter von Rimers Seele in meinem Verstand? Wegen eines eventuellen Nutzens für Die Heimat? Vielleicht hatte die Maschine auch gelogen, denn Nicht-Freunden musste man nicht unbedingt die Wahrheit sagen …
Stockend berichtete ich von dem kurzen Gespräch mit dem Schiff. Die Unterhaltung mit dem Cualcua erwähnte ich natürlich nicht. Der Zähler schüttelte den dreieckigen Kopf.
»Ich habe nicht damit gerechnet, dass es derart ungewöhnliche Folgen hat«, sagte er, »wenn ich dir die Sprache der Geometer einspeise.«
»Was hast du mir denn überhaupt alles eingespeist, Karel?«
»Die Sprache. Das Gedächtnis von Rimers Schiff.«
»Sonst nichts?«
Der Zähler kannte uns wirklich gut. »Ich bin mir nicht sicher, ob das, was ihr Seele nennt, tatsächlich existiert, Pjotr. Und erst recht nicht, was meine Fähigkeiten angeht, sie von einem Körper in einen anderen zu übertragen.«
»Ich glaube, das reicht jetzt«, mischte sich Mascha plötzlich ein. »Mich interessiert nur das Resultat … Wir werden nicht unter Bewachung in dieses … in dein Sanatorium Frischer Wind gebracht. Sondern wir werden wahrscheinlich auf eine originellere Weise verrecken.«
Ich berührte das Terminal. Das Schiff hielt sich an die Spielregeln und trat mit mir nicht ohne diese Geste in Kontakt, die einzige Ausnahme zählte da nicht.
Wann kommen wir in den normalen Raum, Bordpartner?
Wir befinden uns bereits seit dreieinhalb Minuten im normalen Raum.
Ist der Planet des Schattens sehr weit entfernt?
Wir treten in die Umlaufbahn ein.
Man konnte sagen, was man wollte: Das Ausbleiben der Beschleunigung hatte auch seine Nachteile.
Ist das gefährlich?
Nein.
Wird man uns angreifen?
Die Planeten des Schattens werden nicht bewacht.
Wieso das denn nicht?! Wo die Geometer den Schatten doch derart fürchteten! Ich hatte mir Gott weiß was vorgestellt, nur keine friedliche Zivilisation.
»Wir sind bereits da, Freunde«, sagte ich leise.
»Im Kern?« Danilow schüttelte den Kopf, als weise er die Antwort bereits im Voraus zurück.
»Ja.«
Irgendwie verstand ich ihn. Auf eine Weise, wie nur ein Pilot einen anderen Piloten verstehen kann.
Unsere Arbeit hatte immer nach einer ordentlichen Portion Talent verlangt. Von den fragilen Doppeldeckern, von den ersten Düsenjägern bis hin zur Sojus und zur Buran blieb dem Piloten all das vorbehalten, was die Technik nicht bewältigen konnte. Dabei ging es nicht nur um das Risiko, um die Intuition oder das Geschick, nein, von ihm wurde obendrein verlangt, eins mit der Maschine zu werden. Sie wie den eigenen Körper zu spüren. Sie zu pflegen und – im Notfall – nicht zu schonen, genau wie sich selbst.
In den Schiffen der Geometer gab es im Grunde nur einen Piloten, nämlich das Schiff selbst. Ich konnte über das Terminal Befehle erteilen, den Weg bestimmen, etwas fordern und entscheiden.
Aber ich war kein Pilot mehr.
Der Flug in diesem Schiff bedeutete die Beerdigung unseres Berufs. Konnte sich Danilow je wieder in die Wolchak setzen, wenn er wusste, wie mühelos uns der Scout der Geometer durch die halbe Galaxis gebracht hatte?
Würde ich es können?
Gib uns Sicht, Bordpartner!
Vollständige?
Ja.
Zunächst verstand ich nicht, worauf das Schiff mit dieser Frage abzielte. Bei meinem ersten Flug und auch bei der Flucht von Der Heimat hatten zwei kleine Bildschirme für Sicht gesorgt. Dann war da noch die Situation gewesen, da ich den Raum durch alle Sensoren des Schiffs wahrgenommen hatte … eine erschütternde, absolut ungewöhnliche Erfahrung.
Wie sich jetzt zeigte, gab es noch eine weitere Variante.
Die ganze Kuppel des Cockpits wurde dunkel. Statt des gleichmäßigen, weichen Lichts glitzerten jetzt Tausende von Funken auf – Funken, die in Dunkelheit versanken. Myriaden von Funken. Das war nicht die Schwärze des Kosmos mit den Lichtern der Sterne, das war ein einziges buntes Glühen mit Fetzen von Dunkelheit dazwischen. Der gesamte obere Teil des Schiffs hatte sich in einen Bildschirm verwandelt.
»Gütiger Gott …«
Sagte das Mascha? Oder Danilow? Oder Karel? Mein Gehör verweigerte mir den Dienst, ich konnte die Stimmen nicht mehr unterscheiden, die Intonation nicht mehr erfassen.
Denn über mir strahlte der Himmel.
Der Himmel der Geometer.
Der jetzt endlich auf uns herabfallen konnte.
Der Himmel? Oder eine Insel aus Licht?
In diesem Augenblick glaubte ich, die Geometer ganz und gar zu verstehen.
Das war ein einziges Lichtermeer. Man konnte kaum einen einzelnen Stern ausmachen. Ein Ameisenhaufen, ein stellarer Ameisenhaufen war er, dieser Himmel, in den die Geometer geblickt hatten. Weiße, rote, orangefarbene und blaue Lichter. Ein sich in die Unendlichkeit erstreckendes Feld, eine reiche Sternensaat.
Der Mensch ist wie ein Stern, heißt es bei uns auf der Erde. Das beten alle nach, vom Philosophen bis hin zum Dichter. Und alle bringen mit diesen Worten einen einzigen Gedanken zum Ausdruck.
Wir stehen weit voneinander entfernt … sind verloren in ewiger Nacht … hineingeschleudert in die große Leere …
Der Mensch – wie ein Stern?
Hier sah ich sie vor mir, die Sterne. Wie sie um die Wette strahlten. Wie sie den ganzen Raum sprenkelten. Wie sie sich aneinanderklammerten.
»Ich hab’s gewusst …« Der Reptiloid drückte den Rücken durch, stellte sich auf die Hinterpfoten und reckte sich der funkelnden Dunkelheit entgegen. Unsere Figuren verschmolzen im vielfarbigen Sternenglanz. Die Schuppen des Zählers schienen sich in Spiegel zu verwandeln, in denen der Widerschein fremder Welten loderte. »Ich musste das sehen …«
Also war es mein Großvater, der sich da äußerte.
Aber was war mit Karel? Verarbeitete er wortlos die Informationen?
»Dieses Mistding hat uns also tatsächlich zum Ziel gebracht«, bemerkte Danilow mit unaufgeregter Stimme. »Petja, du bist ein Idiot … aber dafür … also dafür … danke.«
Der Himmel wirbelte los, drehte sich, stülpte sich um, als kenne das Schiff nur noch ein Ziel: uns alle Herrlichkeiten des Kerns zu demonstrieren. Der Nebel verwandelte sich in glitzernden Brei – und Gott weiß, was für ein Nebel das war, schließlich hatte noch nie ein Mensch aus dem Zentrum der Galaxis heraus auf die Welt geschaut.
Was wohl mit dem Navigationssystem des Shuttles passiert wäre, wenn es hierhergekommen wäre? Hätte es sich an den Sternen orientieren können? Wohl kaum …
Doch da verblasste das Sternenmeer auch schon, trennte sich von uns, gekappt, abgetrennt von einer riesigen, scheibenförmigen Klinge. Ein Planet kam auf uns zu. Ein schwarzes, lautloses Ding ohne ein einziges Licht. Unsere Erde hatte ich noch nie so gesehen. Und auch keinen anderen bewohnten Planeten hatte ich bisher so gesehen, gehüllt in völlige Dunkelheit.
»Wir sind über der Nachtseite …«, sagte ich, während ich in die Dunkelheit hinausspähte. Wenn da wenigstens ein Licht wäre! Eine Welt kann sich doch nicht so demütig der Nacht überlassen! Doch ich machte nicht einen einzigen Funken an der dunklen Scheibe aus, nur am Rand des Limbus glitzerten von der Atmosphäre gebrochene Sterne.
Korrektur: Der Planet hat keine Nachtseite.
»Was?«
Der Planet dreht sich nicht um einen einzelnen Stern.
»Gibt es hier überhaupt einen Tag?«, fragte Mascha.
Was auch immer ich von ihr halten mochte, aber um ihre Intuition konnte man sie nur beneiden. Sie spürte das, was ich selbst trotz den Informationen des Schiffs nur mit Mühe begriff.
»Hier gibt es keinen Tag«, sagte ich. »Das … das ist ein Irrstern.«
»Die Geometer sprechen also nicht ohne Grund vom Schatten«, erklärte Mascha zufrieden. Für sie war es leichter, schließlich hatte sie sich nicht ernsthaft mit Astrophysik beschäftigt und konnte das Außergewöhnliche der Situation gar nicht begreifen.
»Dann ist das hier nicht ihre zentrale Welt …«, schlussfolgerte Danilow nach kurzem Schweigen. »Wozu kann eine solche Kolonie gut sein? Was meinst du, Pjotr? Hat das irgendeinen wissenschaftlichen Zweck?«
»Sprich doch mal mit dem Schiff!«, forderte der Zähler mich auf. »Vielleicht kann es dir erklären, was das ist.«
Was weißt du über den Planeten?
Es ist die erste der im Schatten entdeckten Welten. Die einzige Welt, deren Koordinaten bekannt sind.
Wie viele Kolonien haben sie?
Darüber liegen mir keine Informationen vor.
Gibt es auf dem Planeten Leben?
Wahrscheinlich. Darüber habe ich keine präzisen Informationen.
Wie sind die Bedingungen auf dem Planeten?
Ich führe eine Sondierung durch … Schwerkraft: 73% vom Standard auf Der Heimat. Das Verhältnis von Land zu Wasser liegt bei 4,32. Sauerstoff-Stickstoff-Atmosphäre, atembar …
Die Temperatur?
Von minus 82 bis plus 3.
Ich musste mir in Erinnerung rufen, dass die Temperaturskala der Geometer an den menschlichen Körper gekoppelt ist. In dieser zwischen den Sternen irrenden Welt herrschte normales, eher warmes Klima.
Sehr schön. Geradezu großartig.
Endlich wurde meine fanatische Idee wenigstens von einer einzigen Tatsache untermauert …
Wie kommt es zu dieser Temperatur?
Ich habe keine Informationen.
Welche Informationen über den Planeten hast du? Und was weißt du sonst über die Welten des Schattens?
Ich weiß nichts über die anderen Planeten vom Schatten. Die mir zugänglichen Daten …
Während ich mit dem Schiff kommunizierte, sagte von den anderen niemand ein Wort. Nur Danilow brummte etwas, während er sich an die durchsichtige Kuppel schmiegte.
»Folgendes, Freunde«, sagte ich und zog die Hand aus dem Terminal. »Das Schiff kann uns über den Schatten nur das mitteilen, was unmittelbar für die Navigation notwendig ist. Einen Fakt gibt es allerdings, der nicht ganz uninteressant ist …«
»Die verschwundenen Schiffe?«, wollte der Zähler gelangweilt wissen.
Ach ja, er hatte ja das Gedächtnis von Rimers Scout durchforstet …
»Es ist wirklich zu komisch, dass ich von allem immer als Letzter erfahre.«
»Ich bin auch nicht im Bild«, warf Danilow zu meiner Überraschung ein. »Glaub nicht, dass unser Freund, der Herr Reptiloid, uns alles mitteilt, was er weiß. Ich frage mich, ob er den Alari gegenüber genauso verschlossen war.«
Der Zähler reagierte nicht auf die Spitze.
»Stopp!« Ich hob die Hand. »Ich habe ein paar Sachen herausbekommen. Wenn Karel mehr weiß, soll er mich ergänzen!«
»Einverstanden«, sagte der Zähler rasch.
»Das Schiff hat keine Informationen über die Zivilisation des Schattens. Keine, bis auf die, dass der Schatten gefährlich ist. Der Planet vor uns ist anscheinend der einzige, auf dem die Geometer gelandet sind. Die Schiffe der Geometer können sich ihm ungehindert nähern. Niemand hindert sie an der Landung. Trotzdem kehren die Aufklärer in den meisten Fällen nicht zurück.«
»Das Gleiche hat auch das Schiff von Rimer mitgeteilt«, warf der Zähler ein.
»Das Schiff ist bereit, uns auf dem Planeten abzusetzen. Die Bedingungen dort sind zum Überleben geeignet, spezielle Schutzmaßnahmen nicht nötig.«
»Das ist doch ein Irrstern …«, gab Danilow zu bedenken.
»Richtig. Aber die Temperatur an der Planetenoberfläche schwankt zwischen minus 30 bis plus 40 Grad. Die Atmosphäre ist sauerstoffhaltig.«
»Was ist mit Viren? Oder Bakterien?«, wollte Mascha wissen.
»Wahrscheinlich das Übliche.« Ich zuckte mit den Schultern. »Die fremden Mikroorganismen stellen keine Gefahr dar.«
»Keine Regel ohne Ausnahme. Weißt du, warum wir nicht auf Howards Planeten landen?«
Ja, das wusste ich. Die Rasse der dortigen kleinen sympathischen Wesen – die vielleicht den irdischen Säugetieren am ähnlichsten waren – litt leider an verschiedenen Krankheiten, die auch für uns Menschen gefährlich waren.
»Hier müssen wir es riskieren, eine andere Wahl haben wir nicht.« Nach kurzem Schweigen fügte ich hinzu: »Es besteht ja keine Notwendigkeit, dass wir alle landen. Ich kann auch allein auf dem Planeten abgesetzt werden. Wenn ich nach einem vereinbarten Zeitraum nicht wieder da bin, dann habt ihr die Wahl …«
»Nicht gerade eine angenehme Wahl.« Danilow schüttelte den Kopf. »Außerdem macht das Schiff ohne dich sowieso nicht, was wir wollen. Der einzige Ort, zu dem es uns bringen würde, wäre die Welt der Geometer. Also … vergiss das. Wir landen alle. Das ist nicht länger nur dein Abenteuer.«
»Gut.«
Es mag komisch klingen, aber ich freute mich, nicht allein bleiben zu müssen. Selbst wenn ich immer noch einen Schlag aus dem Hinterhalt fürchtete, aber ich würde nicht allein da hinausmüssen …
Als könnte ich jemals wieder wirklich allein sein!
»Hast du noch etwas zu ergänzen, Karel?«
»Über die Zivilisation des Schattens?« Der Reptiloid schnaubte. »Nein. Ich kenne nur die … Krümel, die du auch kennst. Früher habe ich noch nicht einmal gewusst, dass der Schatten der Grund für die Flucht der Geometer aus dem Kern war.«
»In ihm sind nun mal ihre Schiffe verschwunden.«
»Verschwunden, aber nicht im Kampf vernichtet worden. Außerdem sind längst nicht alle verschwunden. Mir ist völlig schleierhaft, womit der Schatten die Geometer in eine solche Panik versetzt hat. Vielleicht durch sein Potenzial? Immerhin kann er ein beständiges und angenehmes Klima auf einem Planeten garantieren, der keinen eigenen Stern hat. Das ist ein sehr, sehr energieintensiver Prozess.« Der Zähler verstummte kurz, um dann fortzufahren: »Vor allem, wenn er diese Anstrengungen ohne ersichtlichen Grund auf sich nimmt. Hat das Schiff an der Planetenoberfläche Anzeichen einer Zivilisation entdeckt?«
Ich wiederholte die Frage in Gedanken. Die nächsten Sekunden schien das Schiff nachzudenken.
Die mir bekannten Anzeichen einer Zivilisation fehlen.
Und was verstehst du unter diesen Anzeichen?, fragte ich, da mir die Unsicherheit bei der Antwort nicht entging.
Sämtliche Formen von Ordnung, die über der Gis-Schwelle liegen. Ein Energieausstoß, der sich sowohl von der Stabilität wie auch vom Potenzial her vom Hel-Ator-Korridor unterscheidet.
Ich wartete noch auf weitere Kriterien, die jedoch nicht mehr folgten. Anscheinend empfanden die Geometer nicht die vom Zähler bespöttelte heilige Ehrfurcht gegenüber der Zahl Drei.
Damit blieb die Frage, ob es überhaupt etwas in einer Welt gab, das sich nicht unter diese beiden seltsamen Kriterien subsumieren ließe? Eine Form von Ordnung? Das ist ein Gebäude ebenso wie ein Funksignal, ein Raumschiff oder eine Schneise durch den Wald. Selbst eine Müllhalde zeigt eine Struktur, die weitaus komplizierter und genormter ist als jedes Naturobjekt. Freilich, ein Vulkanausbruch oder ein Taifun kann mitunter heftiger sein als die Explosion einer Atombombe oder ein Feuer über einem Bohrloch. In diesem Fall dürften allerdings die Kriterien der Stabilität greifen, die dem mir unbekannten Hel-Ator-Korridor zugrunde lagen.
Sie sind schon großartig, diese Geometer. Trotzdem musste ihre Logik einen Fehler haben. Anders konnte es nicht sein. Wenn sie völlig panisch vor den unbewachten, ruhigen Planeten des Schattens geflohen waren und dabei die Freundschaft ebenso vergessen hatten wie ihre Pflicht gegenüber moralisch rückständigen Rassen.
Ich berührte das Terminal.
Gibt es an der Oberfläche des Planeten Strukturen, die für andere Planeten untypisch sind?
Ja. Ich setze visuelle Marker.
An der als Schirm dienenden Kuppel leuchteten gelbe Lichter auf. Viele Lichter, deren Fülle den Augen nicht weniger zu schaffen machte als zuvor der Sternenhimmel. Nur die ungleichmäßigen Flecken der Meere blieben wie gehabt schwarz.
»Was ist das?«, rief Danilow aus. In seiner Stimme schwang Panik mit. Der Oberst wusste ja nicht, dass er es nicht mit Einschusslöchern in der Planetenoberfläche, sondern nur mit Markierungen auf dem Bildschirm zu tun hatte.
Was ist das?
Bereiche, die Energie absorbieren und eine Struktur mit Merkmalen aufweisen, die sich von den natürlichen unterscheiden.
Wie sehr unterscheiden sich diese Merkmale von den natürlichen?
Zwischen zwei und sieben Größenordnungen.
»Sascha, es gibt hier etwas …«, sagte ich leise. »Das ist nur ein Bild zur Veranschaulichung. Das Schiff zeigt uns die Punkte auf dem Planeten, wo verstärkt Energie absorbiert wird. Und zwar Hunderte und Tausende Mal stärker, als es in der Natur möglich wäre …«
Das Bild wurde größer, anscheinend auf meinen halbbewussten Befehl hin. Mascha schrie auf, da sie offenbar glaubte, das Schiff würde rasant abstürzen.
»Das ist nur eine Vergrößerung«, beruhigte ich sie.
Soweit ich sehen konnte, waren die Lichter auf der dunklen Scheibe absolut willkürlich verteilt. Insofern war es nicht erstaunlich, dass die Standardkriterien zur Identifikation einer Zivilisation versagten. Die Geometer waren in ihre Lieblingsfalle getreten: die Falle der Ordnung und Stabilität.
In kurzen Worten gab ich mein Gespräch mit dem Schiff wieder.
Mit einem Mal fiel mir mein Großvater ins Wort. Noch immer wusste ich nicht, welche Vereinbarung er mit dem Zähler getroffen hatte, wer wann sprach – aber jetzt polterte er los, als sei ihm nach langer Zeit endlich der Maulkorb abgenommen worden. »Das ist Quatsch, Petja! Völliger Quatsch!«
»Was denn, Großpapa?«, fragte ich, den Blick unverwandt auf die Lichter gerichtet.
»Das, was du dir da ausgedacht hast, ist Quatsch! Unsinn! Und erklär mir bitte nicht, du hättest dir noch keine Meinung zu diesem Phänomen gebildet!«
»Ein Gebiet des Chaos …«, brachte Danilow mit überraschendem Pathos heraus. In seiner Stimme schwang jedoch zu viel Ironie mit.
»Eben!«, trumpfte mein Großvater auf. »Das ist ein viel zu banaler Gedanke! Der taugt nur für Boulevardblätter! Für einen reißerischen Artikel! Ein Planet, auf den die Kräfte der Entropie und des Chaos vorgedrungen sind, die das Universum umgeben!«
»Ich habe an nichts dergleichen gedacht!«, hielt ich dagegen. »Wirklich nicht!«
»Solltest du auch nicht. Was wir da sehen, sind just Anzeichen einer Zivilisation. Eine andere Frage ist, was sie bedeuten. Wenn dieser Planet auf einer Umlaufbahn um einen Stern kreisen würde … beispielsweise in der Merkurbahn …, dann könnten wir das Ganze erklären.«
»Du meinst, dann würde die überschüssige Energie abgesaugt?«
»Ja. Aber auch in unserem Fall muss es eine Erklärung geben … Vielleicht ist der ganze Planet ein gigantisches Testgelände für etwas sehr Starkes. Während der Tests saugen die Strukturen die austretende Energie auf. Damit ließe sich auch erklären, wozu der Schatten einen Planeten fernab der anderen Sterne braucht.«
»Ich würde nicht so gern auf einem solchen Testgelände landen wollen«, knurrte Mascha.
»Gibt es an der Planetenoberfläche Anzeichen für Zerstörungen? Abgeschmolzene Felsen, radioaktive Zonen …?«
»Nein«, antwortete ich, nachdem ich mich sicherheitshalber zuvor beim Schiff erkundigt hatte.
»Dann werden auf dem Planeten erst die Vorbereitungen für grandiose Experimente getroffen!«, erklärte mein Großvater unumstößlich.
»Bist du dir sicher?«, fragte ich leise.
»In keiner Weise. Aber es ist die Version, von der wir ausgehen sollten. Sie zwingt uns zu äußerster Vorsicht.«
»Dann bist du also für die Landung?«
»Selbstverständlich. Ich möchte nur um eins bitten: Wir sollten diese Artefakte auf keinen Fall für Anzeichen von etwas absolut Fremdem oder Exotischem halten. Das wäre der größte Fehler, den wir machen könnten!«
»Andrej Valentinowitsch, ich will mich nicht mit Ihnen streiten.« Danilows Stimme war sein Interesse klar zu entnehmen. »Aber begehen wir nicht einen Fehler, wenn wir derart simplifizieren? Wenn wir an die Manifestationen eines fremden Intellekts nur vom menschlichen Standpunkt herangehen, nur unsere eigenen Kriterien anwenden?«
»Nein, das tun wir nicht. Denn die Kriterien der Außerirdischen verstehen wir sowieso nicht«, erwiderte mein Großvater grantig. »Und weißt du was, Sascha, bis heute hat mich meine primitive menschliche Herangehensweise noch nie im Stich gelassen.«
»Gut!«, sagte ich, um den Streit zu beenden. »Mein Großvater ist für die Landung. Was ist mit dir, Zähler?«
»Ja!«, rief mein Großvater. Schon im nächsten Moment veränderte sich die Stimme, und der Zähler bestätigte: »Dafür.«
»Sascha?«
»Also jetzt …« Der Oberst schnaubte. »Wir sind ja auf jeden Fall in der Minderheit. Also ja, wenn du auf die förmliche Bestätigung Wert legst.«
»Mascha?«
»Dagegen«, antwortete sie trocken.
»Warum?«
»Damit die Entscheidung nicht einstimmig getroffen wird.«
Die »Entführung« hatte ihr sichtlich gut getan. Aus ihrem Mund Ironie – das überraschte mich nun wirklich. Ich nickte und erklärte ernst: »Ich bin natürlich für die Landung.«
»Dann wollen wir mal landen, oder, Todeskandidaten?«, alberte Danilow. »Meiner Ansicht nach beträgt der Abstand zwischen den einzelnen Objekten fünfzig, maximal hundert Kilometer …«
Ich vertraute dem Augenmaß des Obersten. Wäre unsere Beziehung auch nur ansatzweise die alte gewesen, hätte ich, ehrlich gesagt, nichts dagegen gehabt, ihm das Kommando zu überlassen. Das spürte Danilow.
»Petja, du bist natürlich derjenige, der hier die Befehle erteilt, aber ich würde dir raten, zehn, zwanzig Kilometer von einer dieser Anomalien entfernt zu landen. Möglichst in einem Bereich mit angenehmem Klima. Wahrscheinlich sollten wir am besten zu Fuß gehen.«
»Gut.«
Wir landen, Bordpartner. Der Landepunkt sollte …
Wenn Danilow bereits die von den alarischen Ingenieuren umgerüstete Wolchak für einen undenkbaren, nie zu erreichenden technischen Durchbruch hielt – was wollte er dann erst zum Schiff der Geometer sagen?
Bis auf die Plasmawoge jenseits der Schiffshülle war bei der Landung nichts so, wie wir es kannten. Keine Beschleunigung, kein Geschüttel, nicht einmal Geräusche, die ins Cockpit der Fähre gedrungen wären.
Das Problem mit der Schubreserve existierte ebenfalls nicht, denn wir stiegen auf einer derart energieintensiven Bahn ab, dass jeden Ballistiker der Schlag getroffen hätte.
»Selbst die Starken Rassen verzichten lieber auf solche Experimente«, stieß Danilow aus, als das Schiff die Geschwindigkeit drosselte. »Das ist nicht nur einfach energieintensiv, das ist auch gefährlich. Es belastet die Konstruktion …«
Die technische Vollkommenheit der Geometer machte ihm nach wie vor zu schaffen. Früher wurde der Fortschritt einer Gesellschaft an ihren wissenschaftlichen Errungenschaften gemessen, an ihrer Produktionskapazität oder den sportlichen Leistungen einzelner Menschen. Danilow war anscheinend noch immer in solchen Schemata verfangen.
Im Unterschied zu mir.
Ich wusste nämlich nicht mehr, warum eine Zivilisation einer anderen eigentlich überlegen sein sollte. Weil sie größere Strecken zurücklegen konnte? Härtere Legierungen herstellte? Über einen unerschöpflichen Energievorrat verfügte? In dem Falle wären die Geometer wirklich allen anderen überlegen. Aber auch wenn man jenes zarte Ding nahm, das sich gewöhnlich menschliches Glück nannte, war die Situation nicht ganz klar.
Denn sie waren ja glücklich …
Mochten ihrer Gesellschaft auch aus meiner Sicht unentbehrliche Attribute der Freiheit fehlen, mochte der unbestreitbare Fortschritt auch von militärischer Askese überdeckt werden. Aber selbst wenn man das Gute und das Böse gegeneinander abwog, das Glück und das Unglück, war die Erde den Geometern hoffnungslos unterlegen. Denn selbst Tausende solcher »Sanatorien« wie der Frische Wind, in das ich die Ehre hatte, eingewiesen zu werden, wiegen nicht so viel wie eine durchschnittliche Strafkolonie auf der Erde. Und sollten sich »nur« neunzig Prozent der Bevölkerung auf Der Heimat für glücklich halten, hätten wir ihnen absolut nichts entgegenzusetzen. Mit Sicherheit nicht jene »goldenen zwanzig Prozent«, nicht jene Bevölkerungsschicht der entwickeltsten Länder der Erde, die Wohlstand und Zufriedenheit in einer in Armut erstickenden Welt genießt.
Ich könnte nicht sagen, warum wir besser als die Geometer sein sollen. Ich wüsste nicht einmal, was die einfachen Menschen auf der Erde wählen würden, die stolze und arme Freiheit oder die fürsorgliche Betreuung durch Ausbilder. Die Meinungen von Danilow und Mascha sprachen nicht gerade für mich.
Aber eins wusste ich ganz genau.
Wenn in dieser in Dunkelheit versunkenen Welt, die jetzt unter uns lag – unter uns, absolut unvollkommenen Menschen, die einander nicht über den Weg trauten und völlig unterschiedlichen Träumen nachhingen – wenn es in dieser Welt auch nur die geringste Chance gab, die Geometer aufzuhalten, sie vom Konklave – das ich so sehr hasse – fernzuhalten, dann würde ich diese Chance ergreifen.
Ich würde sie ergreifen – oder für immer in der Dunkelheit bleiben.
»Hätten wir bei den Geometern auch so problemlos landen können, Petja?«, fragte mein Großvater.
Ich schüttelte den Kopf. Nein, unter gar keinen Umständen. Sobald ein Planet das Niveau aufweist, das die Erde am Ende des letzten Jahrhunderts erreicht hat, ist eine derart problemlose Landung unmöglich. Schließlich hütet jeder seinen größten Schatz: den Himmel.
Danilow hüstelte. »Und die Geometer haben verstanden, dass eine solche Sorglosigkeit die größte Heimtücke ist …«, sagte er mit trauriger, monotoner Stimme. »Daraufhin sind sie panisch ans andere Ende der Galaxis geflohen, ohne auch nur zu versuchen, hinter die Sache zu steigen … Pjotr, wenn bei uns was schiefgehen sollte, ob ich mich dann bei ihnen als Chronist durchschlagen könnte? Was meinst du?«
»Ich denke schon, dass das klappen könnte«, antwortete ich. Danilow musste am Boden zerstört sein, wenn sein typisches Herumgealbere schon zu solch verzweifelten Witzeleien verkam.
Die Geschwindigkeit des Scouts war bereits auf verschwindende vier-, fünfhundert Stundenkilometer gesunken. Er flog über eine flache, grau-braune Steinfläche. Komischerweise war es an der Oberfläche dieses sonnenlosen Planeten relativ hell, fast wie auf der Erde bei Vollmond. Der Himmel, dieser in Sternen versinkende Himmel, brannte über der Welt des Schattens.
Ich stand auf – die Bewegungen spürte ich kaum – und presste mich gegen die Kuppel. Zugegeben, das war dumm, schließlich war das ein Bildschirm, kein Glas. Die Darstellung blieb allerdings ideal.
Hundert Meter unter uns erstreckten sich sanfte Hügel. An der Oberfläche schimmerte etwas, vermutlich nichts Künstliches, sondern Erzgänge. Ob es hier Leben gab?
»Setz dich, Pjotr«, bat Danilow. All seine Instinkte protestierten gegen den Wahnsinn, in einem Schiff zu stehen, das gerade dynamische Manöver durchführte.
Ich tat, was er verlangte. Etwas Neues hatte ich sowieso nicht gesehen, denn das Schiff kontrollierte den Raum selbst.
Fast im selben Moment ging der Scout scharf nach unten. In meinem Innern gefror alles, nicht wegen des Falls – den gab es gar nicht –, sondern weil sich die Welt nun um uns drehte. Das Schiff steuerte die Oberfläche in einem Bogen an, verharrte einen Moment in der Luft und sank dann. Das gleichmäßige, kaum wahrnehmbare Geräusch verschwand, die Atmung der Mechanismen stockte.
»Wir sind da.« Ich berührte das Terminal.
Die Landung ist erfolgt.
Irgendwelche Veränderungen? Lebende Organismen? Künstliche Objekte?
Nein. Der nächste Bereich mit Energieabsorption liegt zwanzigtausend Schritt entfernt. Ich markiere die Richtung.
An der Kuppel leuchtete ein Licht auf, ein blauer Faden zog sich durch die Hügel. Als ich bemerkte, wie meinen Gefährten die Gesichtszüge entglitten, beeilte ich mich zu erklären: »Das ist die Richtung, in der das nächste anormale Objekt liegt …«
Der Faden erlosch.
Danilow und Mascha saßen nach wie vor in einem Sitz und erinnerten jetzt an zwei Liebende, die sich gestritten hatten. Der Zähler lief in aller Ruhe die Fenster des Cockpits ab. Anscheinend speiste er seinem tadellosen Gedächtnis die Landschaft ein. Das Schiff schwieg, offenbar glaubte es, seine Pflicht erfüllt zu haben. Ich lauschte in mich hinein und versuchte, mit dem Cualcua Kontakt aufzunehmen. Aber ich erhielt keine Antwort.
Ob die in mir lebende Amöbe das Geschehen ebenfalls verfolgte? Wuchsen mir im Nacken gerade ein paar Augen, welche die Welt untersuchten?
Oder war hier, in der Welt des Schattens, jenes Band, das Milliarden von winzigen Wesen zu einem einzigen Ganzen vereinigte, womöglich durchtrennt?
Oder war der Cualcua trotz der unvorstellbaren Entfernung immer noch eins, eine winzige Zelle in einem riesigen Gehirn, das mit unstillbarer Neugier jede neue Information verschlang?
Mit einem Mal begriff ich, dass schon seit einer Minute Stille in der Kabine herrschte. Der Zähler hatte seinen »Rundgang« beendet, Danilow und Mascha schauten mich an.
»Was schlägst du jetzt vor, Pjotr?«, fragte Danilow leise. »Wir sind da. Das war wirklich gar nicht so schwierig. Dann gib mal den nächsten Befehl.«
Können wir in dem hiesigen Milieu leben?
Inzwischen war ich selbst reichlich nervös. Eine negative Antwort des Schiffs wäre mir also gar nicht so ungelegen gekommen.
Ja.
Öffne die Kabine!
Die Kuppel färbte sich dunkel, verlor ihre Durchsichtigkeit.
»Wir steigen jetzt aus«, teilte ich den anderen mit.
Mit einem leichten Schmatzen rollte sich die Kuppel ein.
Wir pressten uns aneinander, völlig gebannt von dem lodernden Himmel.
Nein, ein Bildschirm kann das einfach nicht wiedergeben! Und sei es nur, weil wir wissen, dass es sich um ein Bild handelt. Das man ja Gott weiß wie manipulieren konnte. Nun aber sahen wir alles mit eigenen Augen.
In meiner Kindheit hatte mich der Nachthimmel über der Krim fasziniert. Nach den fahlen Sternen des Nordens wirkte er wie ein Meer von Diamantsplittern, wie ein wahrhaft göttliches Werk. Später, als Teenager, war ich einmal in den Tropen gewesen, wo mir aufging, was der Himmel des Südens wirklich ist. Dort drängte sich der Gedanke an den Schöpfer schon nicht mehr auf. Die Sterne standen nämlich auf einer Stufe mit Gott. Sie waren kein wertvoller Staub – sondern echte Brillanten.
Doch erst dieser Himmel hier war lebendig. Der hiesige Giordano Bruno wäre nicht wegen der Frage auf dem Scheiterhaufen gelandet, ob andere Welten bewohnt sind, denn die Antwort wäre klar gewesen. Kein kaltes Licht toter Edelsteine, sondern der warme und lebendige Atem eines fernen Feuers entströmte diesem Himmel. Die Ebene, eine karge, leicht hügelige Wüste, wirkte märchenhaft schön, wie auf einer Weihnachtskarte. Die vielfarbigen Sterne tauchten sie in zauberisches Licht, in dem man keine einzelnen Farben, keine einzelnen Nuancen wahrnehmen konnte – es sei denn aus den Augenwinkeln heraus. Übrigens entgegen jeder Physiologie des Blicks.
Der Geruch des Planeten, den man sofort nach der Landung unwillkürlich registriert, war kaum wahrzunehmen. Ein Dichter hätte gesagt, so dufte Sternenlicht. Ich fand keinen Vergleich. Vielleicht war es der Geruch nach fehlendem Leben …
»Ozon«, sagte Mascha plötzlich. »Es riecht nach Ozon, oder?«
»Das kommt von den Triebwerken …«, erklärte ihr Danilow. Er erhob sich aus dem Sitz, – kletterte vorsichtig über den wulstförmigen Rand der offenen Kuppel und blickte zurück. »Du gestattest doch, Pjotr?«
»Nur zu«, erwiderte ich.
Danilow stand einen Moment da, dann sprang er hinunter. Er inspizierte den Boden, als erwarte er gierige Münder daraus auftauchen zu sehen.
»Ein kleiner Schritt für einen Menschen …«, sagte er. »Auf den die Menschheit verdammt nochmal verzichten kann.«
Die Worte ertranken in der Stille. Einer erschütternden Stille. Kein Wind ging, keine Stimmen waren zu hören, nicht der gewöhnliche Industrielärm. Nur unser Atem.
»Was für seltsame optische Gegebenheiten«, kommentierte der Zähler, während er langsam aus dem Cockpit herauskrabbelte. »Die Atmosphäre verzerrt das Spektrum kaum …«
»Und das ist alles, was du dazu sagen kannst?«, fragte ich. Der Zähler war der Einzige von uns, der angesichts des Himmels im Kern weder Ehrfurcht noch Begeisterung empfand. »Melden sich bei dir gar keine Gefühle?«
»Ich könnte jetzt natürlich eine Reihe von Phrasen von mir geben, die starke Emotionen ausdrücken«, antwortete der Zähler amüsiert. »Aber, Pjotr, du solltest von mir nicht die Reaktionen eines Menschen erwarten.«
Ich nickte nur und schluckte eine Beleidigung hinunter. Dem Zähler entging das anscheinend nicht.
»Pjotr, ich nehme an, es gibt sehr viele Rassen im Konklave, die Emotionen empfinden würden, die sich mit denen der Menschen vergleichen ließen. Mich hindert jedoch leider etwas daran, diesen Anblick zu würdigen.«
Er verstummte.
»Von unserem Planeten aus sind überhaupt keine Sterne zu sehen. Alle Gefühle, die ich empfinden könnte, habe ich bereits vor sehr langer Zeit durchlebt, als ich zum ersten Mal in den Weltraum gelangt bin.«
Der Zähler sprang Danilow flink hinterher. Mascha sah mich an, zuckte mit den Schultern und kletterte den beiden vorsichtig nach.
»Warte!«, rief ich ihr zu. Ich öffnete den Container zwischen den Sitzen und holte Dosen mit Nahrung heraus. »Fang!«
Ich warf Mascha zwei Dosen zu, zwei Danilow, zwei steckte ich mir selbst ein. Der Zähler lehnte ab, noch bevor ich ihn hätte fragen können. »Meine bescheidenen Bedürfnisse sind dir bekannt …«
»Das ist eine Kombinahrung«, erklärte ich. »Sie stillt Hunger und Durst. Für alle Fälle.«
»Und das Schiff bleibt so stehen?«, fragte Danilow, während er sich die Dosen in die Taschen steckte.
Ich übermittelte dem Schiff einen mentalen Befehl und folgte den anderen hinaus. Die Kuppel schloss sich wieder. Das Schiff, eine klassische fliegende Untertasse, passte absolut zur Umgebung. Weitaus besser als die drei Menschen ohne Raumanzug.
»Es wird auf uns warten«, sagte ich. »Was auch immer man von ihnen halten mag, warten – das können sie.«
»Und was, wenn in der Zwischenzeit jemand mit deinem Aussehen kommt, sich hineinsetzt und eine kleine Exkursion zur Erde unternimmt?«, foppte mich Danilow.
»Keine Ahnung, ob das wahrscheinlich ist«, entgegnete ich. »Aber vermutlich wäre das nur gerecht. Schließlich bin ich ja auch in einem fremden Körper gestartet …«
Möchtest du dein ursprüngliches Aussehen zurückhaben?
Der Cualcua stellte die Frage sachlich, ohne jede Neugier.
Ja!
Ich fange an.
»Dreht euch um, Freunde!«, konnte ich gerade noch bitten. Dann verzerrte Schmerz mein Gesicht.
Nur gut, dass die anderen sich gehorsam weggedreht hatten. Nicht weil es zu widerlich aussah. Mich zerrissen Schmerzen, und ich stöhnte auf, ob ich wollte oder nicht, während mir Tränen in die Augen schössen. Mein ganzer Körper brannte. Entweder ging der Cualcua diesmal weniger sensibel vor als sonst oder er beeilte sich zu sehr, jedenfalls fühlte ich mich, als würde man mir die Haut abziehen.
Als die Transformation endlich abgeschlossen war, war ich auf die Knie gesunken, weinte und hatte mir die Unterlippe blutig gebissen. Das Einzige, was mich wirklich mit Dankbarkeit erfüllte, war, dass der Cualcua endlich die Wunde an meinem Hals beseitigt hatte.
»Pjotr …« Mascha berührte mich. »Wie fühlst du dich?«
»Wie?« Ich stand schwerfällig auf. »Ich bin wieder ich. Nur das zählt.«
Ich torkelte zwar noch, aber der Schmerz war bereits abgeklungen, einem glückseligen Wohlbefinden gewichen.
»So gefällst du mir besser«, sagte der Reptiloid plötzlich mit der Stimme meines Großvaters. »Und … ich beneide dich, mein Junge.«
Ich nickte. Ich verstand meinen Großvater. Kein Schmerz konnte ihm seinen alten Körper zurückgeben. Doch schon im nächsten Moment meldete sich an seiner Stelle der Zähler zu Wort: »Das hättest du nicht tun sollen. Nicht hier, vor dem Schiff.«
»Es hätte die Veränderung auf jede Entfernung mitbekommen«, hielt ich dagegen. »Aber mach dir keine Sorgen, das kümmert das Schiff überhaupt nicht.«
Da ich aus unerfindlichen Gründen meinen Gefährten nicht in die Augen sehen wollte, rieb ich mir das Gesicht und ließ den Blick schweifen.
Jetzt, wo wir das Schiff verlassen hatten, wirkte der Planet des Schattens gar nicht mehr so märchenhaft. Ja, das musste ich zugeben, er war sogar recht unwirtlich. Die Luft empfanden wir schließlich doch als kalt. Der Boden, der aus der Ferne so malerisch vom Sternenlicht beleuchtet worden war, erwies sich als profane, steinige Erde. Und am Himmel, an dem Millionen von Sternen loderten, hatten wir uns schon fast satt gesehen.
»Was für blöde Assoziationen einem hier kommen«, murmelte Danilow mit verzogenem Gesicht. Er verhielt sich im Grunde so, als sei nichts vorgefallen. Wofür ich ihm dankbar war. »Was ist mit dir, Petja? Kommt dir das alles« – er machte eine weit ausholende Handbewegung -»nicht gut bekannt vor? Nur in einer neuen Verpackung. Aufgemotzt.«
Im Prinzip stimmte ich mit ihm überein. Eine vergleichbare Assoziation war mir auch gekommen. Eine kaum zu fassende Assoziation. Dieses gespenstische, unnatürliche Licht … die leblose Weite … die sterile Stille …
»Kannst du etwas dazu sagen, Karel?«
»Hypothesen sind nicht gerade meine starke Seite.«
»Dann will ich mit meinem Großvater sprechen. Denn Hypothesen sind genau sein Fall.«
Den Bruchteil einer Sekunde später hatte der Zähler seinem Untervermieter die Kontrolle überlassen.
»Danke, Petja«, sagte mein Großvater noch vor allem anderen. »Diese Echse ist nicht so kalt, wie sie sich gibt … Hat mir ohne Umstände Platz gemacht.«
Der Reptiloid bewegte den Kopf rasch hin und her. Mein Großvater genoss die Gelegenheit, sich selbst umschauen zu können.
»Damit ist mein Traum, einen fremden Planeten mit eigenen Füßen zu betreten, also in Erfüllung gegangen. Zumindest zur Hälfte«, bemerkte mein Großvater mit bitterer Ironie. »Was wolltest du mich fragen, Pit?«
»Bekommst du bei diesem Anblick Assoziationen?«
Mein Großvater antwortete zunächst nicht. »Keine besonderen, Petja«, sagte er dann. »Das ist … eine besondere Form von Schönheit. Wie das Fegefeuer.«
»Was?«
Wenn mein Großvater noch hätte verlegen werden können, dann wäre das jetzt der Fall gewesen.
»Ich habe doch gesagt, dass ich dir keine wissenschaftlichen Erklärungen geben kann! Irgendwie habe ich mir halt diesen Teil des Jenseits immer so vorgestellt! Deswegen erinnert mich das hier nicht an das Paradies, nicht an die Hölle, sondern ans Fegefeuer. Wie bei Dante … äh … ›Ich wandte mich zur Rechten und beschaute / Den andern Pol‹ … äh …«
»Und sah ich dort vier Lichter / Nie sonst erblickt als von den ersten Menschen. / Zu freu’n schien sich der Himmel ihres Flimmers – / O du verwaistes, ödes Land im Norden / Weil dir benommen ist, sie zu gewahren!«, setzte ich automatisch fort.
Mascha schnaubte laut. »Andrej Valentinowitsch, verschonen Sie uns doch bitte mit Poesie!«, bat sie zu meiner Überraschung. »Ich fürchte, hier ist alles etwas realer und unangenehmer als im Jenseits.«
Ich starrte meinen Großvater an. Es war das erste Mal, seit er im Körper des Reptiloiden steckte, dass Mascha ihn ansprach. Räumte sie jetzt etwa doch ein, dass er selbst im Körper des Zählers ein Mensch geblieben war?
Aber mein Großvater würde kaum bereit sein, ihr ihren Verrat zu verzeihen.
»Gut, Mascha«, sagte er großherzig. »Ich werde dich nicht länger quälen. Ich erinnere mich noch gut, dass dein Lieblingsdichter Puschkin war, Tolstoi dein Lieblingsromancier und die Mondscheinsonate dein Lieblingsmusikstück.«
Sie wurde rot. Allerdings wusste ich nicht, weshalb. Schließlich hatte mein Großvater nichts Kränkendes gesagt.
Eine Minute stapften wir noch um das Schiff herum, als warteten wir auf etwas. Was auch immer das sein mochte: eine feierliche Delegation mit Blumen, Horden denkender Pilze oder eine Panzerabteilung. Aber die Welt des Schattens ignorierte uns so kaltblütig, als bestünde sie tatsächlich nur aus dieser nackten Ebene.
»Was ist, gehen wir?« Danilow sah mich fragend an. »Ich glaube, es war da hinten …«
»Der Zähler erinnert sich an die genaue Richtung«, fiel ihm mein Großvater ins Wort. »Er hat mich gebeten, in den Hintergrund zu treten. Alsdann … auf Wiedersehen.«
Der Reptiloid ließ einen Augenblick verstreichen, bevor er fortfuhr: »Ich bin bereit, euch zu führen. Wollen wir aufbrechen?«
Ich nickte.
»Diese Idioten von Geometern«, brummte Mascha, »hätten eine Art Überlebenspaket im Schiff vorsehen können. Einen Kompass, Waffen, ein Zelt … wenigstens für den Fall, dass sie mal notlanden müssen.«
»Sie müssen nie notlanden«, ließ Danilow fallen. »Wir können noch froh sein, dass sie es sich in ihrer Entwicklung nicht abgewöhnt haben, Nahrung aufzunehmen.«
Als ich mich an den süßlich-salzigen Geschmack des Essens der Geometer erinnerte, schüttelte ich den Kopf. »Wenn du den Inhalt dieser Konserven erst mal probiert hast, dürftest du deine Meinung ändern.«
Das Gehen bereitete uns keine Schwierigkeiten. Die Oberfläche war glatt und festgestampft. Als ob hier tatsächlich irgendwelche Experimente durchgeführt wurden, genau wie mein Großvater vermutet hatte. Die Steppe um Baikonur herum fiel mir ein. Eines Nachts hatten wir nach der Landung einmal ein Picknick veranstaltet, zusammen mit Leuten aus den anderen russischen Mannschaften, den kasachischen Technikern und Man Lee Jiang, dem Leiter der Abteilung für Güterverkehr. Nur hatte damals ein Lagerfeuer gebrannt, wir hatten Schaschliks gegrillt, Saken Shubanow, der sein Studium an der Moskauer Uni absolviert hatte, hatte auf Bitte von Man Lee virtuos chinesische Lieder auf der Domba vorgetragen, der billige Reisschnaps aus Xinjiang war in Strömen geflossen, ich hatte an einer Flasche Bier aus Peking genuckelt, das überraschend gut schmeckte … Natürlich hatten damals weniger Sterne am Himmel gestanden als hier. Und es hatte mehr Staub gegeben. Warum auch immer, aber hier gab es überhaupt keinen Staub. Und kein Gras. Man sollte hier ein Sanatorium für Allergiker und Asthmatiker eröffnen.
»Keinerlei Pflanzen«, bemerkte Danilow, als habe er meine Gedanken gelesen. »Sehr seltsam. Woher kommt dann der Sauerstoff?«
»Aus den Meeren«, antwortete Mascha wie aus der Pistole geschossen.
»Die Kontinente nehmen mehr als viermal so viel Fläche ein wie die Meere«, klärte ich sie auf, mich an den Vortrag des Schiffs erinnernd.
»Das reicht.«
»Und wie erklärst du die Plus-Grade?«
Diesmal schwieg Mascha. Doch nach einer Weile sagte sie: »Wir haben uns doch darüber gewundert, dass die Geometer ihren Planeten wie nach dem Lehrbuch umgestaltet haben. Und wir sind bei dem Gedanken in Panik geraten, dass sie imstande sind, ihr ganzes Sternensystem durch die Galaxis zu transportieren. Aber einen kompletten Planeten zu erschaffen … gut, vielleicht nicht zu erschaffen … sondern mit einer Sauerstoffatmosphäre zu umgeben und aufzuheizen … ich glaube, dazu wären die Geometer nicht in der Lage.« Obwohl ihr niemand widersprach, ergänzte Mascha rasch: »Pjotr, ich habe nicht die geringste Hoffnung, dich von deinem Plan abzubringen. Aber was versprichst du dir eigentlich davon, einer solchen Zivilisation ein Bündnis vorzuschlagen? Es ist zumindest naiv, von jemandem Hilfe zu erwarten, der einen ganzen Planeten als dunkle Rumpelkammer benutzt …«
Ich schüttelte den Kopf. »Mascha, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie mich dieser Planet freut. Mit seiner künstlichen Wärme, dieser Atmosphäre, die Gott weiß woher kommt, der völligen Verödung …«
»Und warum?«
»Weil das ein absolut menschlicher Ansatz ist.«
Danilow kicherte leise. »Vielleicht sogar ein russischer Ansatz?«, fragte er.
»Wenn sich zeigen sollte, dass dieser Planet niemandem nützt und auf gut Glück geschaffen wurde, dann ja.«
Mascha war anscheinend sauer. Und zwar nicht auf Danilow, sondern auf mich.
Wie unterschiedlich unser beider Patriotismus doch war. Wie grundverschieden.
»Die Menschen besitzen einen enormen Vorteil gegenüber meiner Rasse«, sagte der Zähler plötzlich. »So groß, wie die Unterschiede zwischen den einzelnen Kulturen der menschlichen Gemeinschaft schon immer gewesen sind, seid ihr geradezu prädestiniert gewesen für eine Existenz innerhalb des Konklaves.«
»Darum brauchst du uns nicht zu beneiden, Karel«, hielt ich dagegen. »Wenn diese Unterschiede geringer gewesen wären … dann hätten unsere Schiffe womöglich die Hyxoiden gefangen genommen.«
Das war ein umstrittener Gedanke, gewiss. Doch wie immer man dazu stehen mochte, letzten Endes hatten Streitigkeiten und Konflikte zwischen den einzelnen Staaten den Fortschritt der Menschen tatsächlich vorangetrieben. Der Zähler widersprach jedoch nicht. Wir setzten unseren Weg nun schweigend fort, jedes abstraktere Gesprächsthema schien sich unter diesem Sternenmeer zu verflüchtigen, kam uns klein und unbedeutend vor.
Nach rund drei Kilometern konnten wir das Schiff kaum noch sehen. Sobald wir den nächsten Hügel erklommen hatten, drehten wir uns alle in stillschweigender Übereinkunft um.
Das mattgraue Metall war mit der Ebene verschmolzen. Nur schwache, regenbogenfarbige Reflexe ermöglichten es uns noch, es überhaupt auszumachen.
»Sollen wir vielleicht umkehren?«, fragte Danilow. In seiner Stimme schwang Ironie mit. Ich erwiderte kein Wort. Danilow ließ jedoch nicht locker. »Petja, du weißt, was das überraschendste Ende unserer Reise wäre?«
»Ja.«
»Wenn wir niemanden finden. Nichts finden. Wir werden hier herumirren, bis wir den ganzen Proviant gegessen und uns die Schuhe durchgelatscht haben. Danach kehren wir so oder so zur Erde zurück.«
»Ich weiß, Sascha.«
Danilow nickte. Plötzlich fasste er mich bei der Schulter. »Ich will nicht, dass es so ausgeht, Pjotr.«
»Dann lass uns weitergehen.«
Wir kletterten den Hügel hinunter. Damit verschwand der letzte Orientierungspunkt, denn die Sterne an diesem verrückten Himmel waren uns keine Hilfe. Uns blieb nichts anderes übrig, als auf den Zähler und seine Fähigkeiten zu hoffen.
»Mindestens sieben …«, brummte Danilow mit einem Mal.
»Was – sieben?«, fragte ich verständnislos zurück.
»Wir verletzen mindestens sieben Punkte der Vorschriften, wenn wir einfach über diesen Planeten spazieren. Und dabei zähle ich die paar Kleinigkeiten, die diesem Spaziergang vorausgegangen sind, noch nicht einmal mit.«
»Machst du dir deswegen Sorgen?«
»Nein. Mittlerweile finde ich das Ganze eher komisch.« Danilow kickte einen Stein weg. »Aber meine Schuhe sind wirklich bald hinüber … schließlich latschen wir hier nicht durch eine Station.«
»Wir hätten gut ausgerüstet hierherkommen können«, rief ich ihm in Erinnerung.
Darauf erwiderte Danilow kein Wort.
»Ordentliche Waffen brauchen wir hier sowieso nicht … bisher jedenfalls noch nicht …«, sprang Mascha ihm bei. »Pjotr …«
»Was?«
»Du kennst die Geometer besser als wir. Was kann sie in eine solche Panik versetzt haben?«
Ich wollte schon antworten: »Der Himmel«, aber auch die Geometer hatten ja unter einem solchen Leuchten gelebt …
»Ich weiß es nicht.«
»Vielleicht dieses Potenzial? Diese sinnlose, monströse Kraft? Ein verlassener, aber zum Leben geeigneter Planet …«
»Nein.« Diesmal wusste ich die Antwort auf Anhieb. »Jede Kraft, selbst wenn sie ihre eigene um ein Vielfaches übersteigt, hätte sie nur angestachelt. Sie hätten ihre Tricks angewandt und Schleichwege gesucht, aber sie wären niemals geflohen.«
»Dann muss es etwas absolut Fremdes gewesen sein. Etwas, das sie nicht verstehen und das sie gerade deshalb erschreckt«, mutmaßte Mascha ohne rechte Überzeugung.
»Schon wärmer«, sagte Danilow.
»Wirklich?«
»Ich meine das wörtlich«, stellte er klar. »Ich glaube, es wird wärmer. Aber deine Hypothese hat auch was für sich.«
»Die zweite?«
»Die erste und die zweite. So wenig, wie wir wissen, können wir getrost jede Version in Betracht ziehen.«
Ich hatte den Eindruck, Danilow wolle sich auf Maschas Kosten lustig machen. Der Gedanke hatte sich offenbar nicht nur mir aufgedrängt. Mascha verlangsamte den Schritt und sah den Oberst unverwandt an. Der marschierte jedoch mit absoluter Unschuldsmiene weiter.
»Andrej Valentinowitsch will mit dir reden, Pjotr«, teilte mir der Zähler plötzlich mit.
Ich blieb stehen. Sobald der Reptiloid meinem Großvater die Bühne seines Bewusstseins überlassen hatte, kam er nur noch im Schneckentempo vorwärts. Anscheinend war es für einen Menschen nicht die beste Fortbewegungsart, auf vier Füßen zu trippeln.
»Allmählich fange ich an zu begreifen, Petja. Glaube ich wenigstens«, legte mein Großvater ohne Umschweife los. »Also streng dein Hirn an!«
Mascha und Danilow waren ebenfalls stehen geblieben.
»Großpapa, ich begreife einfach nicht, was sie so in Panik versetzt hat. Hier sieht doch alles friedlich aus …«
»Komm schon!«, verlangte mein Großvater.
Ich ließ den Blick über die Ebene schweifen. Das Sternenmeer über uns, die Stille, der leichte Wind … und es wurde in der Tat wärmer …
»Hier gibt es keine Gefahren«, sagte ich. »Ist es das? Hier gibt es keinen Kampf, Großpapa! Die Zivilisation des Schattens leistet keinen Widerstand! Liegt es daran?«
Wenn der Reptiloid bei meinen ersten Worten noch mit dem Kopf gezuckt hatte, als stimme er mir zu, dann schienen unsere Mutmaßungen im Weiteren erheblich auseinanderzuklaffen.
»Wenn es so einfach wäre! Wäre das hier tatsächlich eine Welt von arbeitswütigen und gehorsamen Pazifisten, hätten die Geometer sie in null Komma nichts geschluckt! Denk nach, mein Junge, denk nach! Die starken und einmütigen Geometer, die alle Ressourcen für das einmal gesteckte Ziel aufbieten, die ihr Leben im Kampf opfern würden, über eine grausame Macht verfügen und keiner Gewalt weichen – diese Geometer sind geflohen.
Erbärmlich geflohen – was ihnen selbst nur zu gut bewusst ist! Also? Was kann da passiert sein?«
Hatte mein Großvater wirklich etwas begriffen?
»Der Schatten … sind das auch die Geometer?«, wagte ich mich mit einer Hypothese vor. »Eine Zivilisation mit derselben Ethik und derselben Zielsetzung? Nur noch stärker?«
Der Reptiloid gähnte. Vermutlich wollte mein Großvater einen Seufzer ausstoßen.
»Als Erzieher kann man mich wirklich vergessen«, klagte mein Großvater. »Aus mir wäre nie ein Ausbilder geworden. Wenn ich nicht mal einem von Natur aus so begabten Menschen wie dir habe beibringen können, auf unorthodoxe Weise zu denken … und dafür obendrein so viel Zeit drangegeben habe …«
Mein Großvater verstand es, sich selbst in einer Weise zu kritisieren, dass alle anderen wie Idioten dastanden.
»Andrej Valentinowitsch«, setzte Danilow mit leicht erhobener Stimme an, »wenn Sie verstanden haben, was hier vor sich geht …«
»Nein! Ich werde euch das nicht erklären«, kanzelte ihn mein Großvater ab. »Entweder meine Überlegungen treffen zu – dann sind Erklärungen sowieso nicht nötig. Oder sie treffen nicht zu – und wozu sollte ich euch in dem Fall mit falschen Versionen belasten?«
Danilow sah mich an, und in seinem Blick lag eindeutig Mitleid. Ehrlich gesagt, war ich dafür sogar bereit, ihm seinen Verrat zu verzeihen!
»Er wird nicht mit der Sprache herausrücken«, versicherte ich. »Das kannst du mir glauben.«
»Wenn wir Varianten ausscheiden, schadet uns das nur«, erklärte mein Großvater in lehrhaftem Ton. »Ein klar abgesteckter Vektor kann einen taktischen Vorteil darstellen, führt aber früher oder später ins strategische Aus. Macht euch eure eigenen Gedanken zu unserer Situation.«
Seine Stimme troff vor Ironie.
»Gut. Ich überlasse jetzt Karel das Feld«, kündigte mein Großvater an. »Wenn ich versuche zu gehen, brauchen wir Wochen.«
Der Reptiloid schüttelte sich energisch.
»Weißt du, was mein Großvater annimmt, Karel?«, fragte ich.
»Wir haben vereinbart, dass ich seine Gedanken nicht kontrolliere«, antwortete der Zähler rasch.
Das dürfte vermutlich für alle Zeiten eine Behauptung bleiben, die ich nicht überprüfen konnte.
Weil ich jedoch auch nichts daran zu ändern vermochte, nickte ich nur.
»Noch fünf Kilometer«, sagte Danilow. »Stimmt’s? Aber was ist, wenn wir da nichts finden, Pjotr?«
Sieger werden bekanntlich nicht verurteilt.
Dieser Gedanke schoss mir durch den Kopf, während unsere seltsame Expedition ihren Weg über den Planeten des Schattens fortsetzte. Vielleicht irrte ich mich ja wirklich? Und Danilow und Mascha hatten tatsächlich die einzig richtige Entscheidung getroffen, als sie das Schiff der Geometer zur Erde bringen wollten?
Ich war einfach zu sehr daran gewöhnt zu siegen. Von klein auf an. Wenn ich mal eine Niederlage einstecken musste, war das zwar ärgerlich, mehr aber auch nicht; gleichzeitig bedeutete es ein Trampolin, um mich zu neuen Siegen zu katapultieren. All diese idiotischen Olympiaden: »die junge Hoffnung Russlands«, »der zukünftige Stolz des Vaterlands« … Später das Studium, die Raumflotte … Freilich, ich hatte nie besondere Ambitionen an den Tag gelegt. Im Gegenzug verließ mich jedoch auch nie die Überzeugung, eine einmal angefangene Sache erfolgreich zu Ende bringen zu können. Selbst als ich die unglückselige Spiral auf der Autobahn landete, panisch, wütend und schicksalsergeben – selbst da hatte mich die Überzeugung nicht verlassen, dass ich es schaffen würde.
Sieger werden nicht verurteilt – aber wie kam ich darauf, dass ich auch diesmal gewinnen würde?
Was, wenn sich die Zivilisation des Schattens als noch größeres Übel herausstellte als das Konklave oder die Bewohner Der Heimat? Wenn wir einfach nicht in der Lage waren, ihn zu verstehen – was ja möglicherweise auch den Geometern widerfahren war? Was, wenn all diese Planeten völlig unbewohnt waren?
Und für die letzte Annahme sprach immer mehr.
Danilow fing an, eine Melodie zu pfeifen, fürchterlich falsch, so dass ich sie nicht gleich erkannte: »Auf staubigen Pfaden der fernen Planeten …« Wir hinterließen übrigens nicht einmal Spuren. Dieser Planet wirkte gut gepflegt und frisch gesaugt.
Von dem Punkt, an dem das Schiff eine »untypische Struktur« geortet hatte, trennte uns nur noch rund ein Kilometer. Trotzdem sah ich dort nichts, rein gar nichts.
Keine Bauten, keine energetischen Wirbel, nichts, was man in irgendeiner Form für das Werk eines anderen Verstandes hätte halten können.
Die Ebene. Ein Hügel. Das Sternenlicht. Wir gingen weiter; wie gehabt führte uns der Zähler, seiner Sache sicher, doch mit jedem Schritt packte mich größere Verzweiflung.
»Das tut mir wirklich leid«, sagte Danilow mit einem Mal. »Hörst du, Pjotr?«
Ich starrte auf die in vielfarbiges Licht getauchte Ebene, bis mir die Augen schmerzten. Ob uns hinter dem Hügel etwas erwartete?
Aber was sollte sich da verstecken?
»Wir können ohne Weiteres eine andere solche Anomalie untersuchen«, bemerkte Mascha. »Oder einen Erkundungsflug über den Planeten machen. Das Schiff ist doch zu Atmosphärenflügen imstande?«
Sie sagte es in einem durch und durch freundlichen Ton. Mit etwa dem gleichen Mitleid hatte ich mich an Mascha und Danilow gewandt, kaum dass sie in meiner Gewalt und zu der Einsicht gelangt waren, dass sie keine Chance mehr hatten und jeder Widerstand zwecklos war.
Nur der Zähler schwieg. Zielstrebig und unermüdlich ging er weiter. Er hielt ungebrochen zu mir, denn ihre Zivilisation war weiß Gott nicht auf eine Allianz zwischen Erde und Geometern erpicht – und sei es nur, weil sie damit ihre privilegierte Rolle als lebende Computer verlieren würde. Aber hatte er wirklich noch nicht kapiert, dass diese Sache eine Nummer zu groß für uns war? Wir würden nie herausbekommen, was die Geometer in die Flucht geschlagen hatte – und das hieß, wir würden den Dingen ihren Lauf lassen müssen.
»Siehst du da vorn wenigstens irgendwas Ungewöhnliches, Karel?«, wollte ich wissen.
Der Reptiloid ließ sich erneut mit der Antwort Zeit. Er blieb stehen und machte einen langen Hals. »Heb mich hoch«, verlangte er schließlich.
Ich hob ihn mit einem seltsamen Gefühl hoch. Ich hielt jetzt – verborgen in diesem kleinen Körper – zwei intelligente Wesen auf dem Arm. Beide gehörten vermutlich zu den klügsten Köpfen in der Galaxis. Die Körperhülle war fragil. Allzu fragil für jene Kraft, die in ihr untergebracht werden musste.
»Höher«, befahl der Reptiloid.
Den Zähler hochhaltend, verharrte ich reglos. Was für ein seltsames Ensemble: ein Mensch mit einer grauen Echse in den zum Himmel gereckten Armen.
»Ja, ich sehe etwas«, teilte mir der Zähler gelassen mit. »Lass mich wieder runter.«
»Was denn?«, fragte Danilow. Seine Stimme klang angespannt.
Die Augen des Reptiloiden funkelten. »Einen Menschen.«
»Was?« Danilow beugte sich über den Reptiloiden und spähte Richtung Horizont. »Wo?«
»Hinter dem Hügel. Da ist ein Mensch. Er ist allein. Und er kommt uns entgegen.«
Unverzüglich stürmten wir vorwärts. Der Anstieg war flach und mühelos, den Reptiloiden ließen wir rasch hinter uns. Trotzdem entdeckten wir absolut nichts Ungewöhnliches.
Bis wir die Spitze des Hügels erreicht hatten.
Der an der Spitze rennende Danilow stoppte und kauerte sich wie ein Springer beim Start hin, gleichsam als wolle er sich verstecken. Mascha erstarrte neben ihm. Ich baute mich zwischen den beiden auf und spähte nach vorn.
Rund hundert Meter vor uns stand ein Mensch.
Anscheinend eine Frau. Anscheinend eine junge. Das Sternenlicht ließ uns nur ihre Figur und die langen Haare erkennen, aber nicht ihre Gesichtszüge.
»Na bitte schön«, sagte Danilow überraschend ruhig. »Hattest du also doch recht, Pjotr. Zumindest teilweise …«
Die Frau rührte sich nicht von der Stelle. Sie stand da, mit erhobenem Kopf, und schaute auf die Hügelspitze, auf uns. Über uns wunderte sie sich eigentlich nicht – fast als treffe sie in diesen unendlichen, verlassenen Weiten ständig Menschen.
Menschen?
Und Karel hatte sich auch nicht darüber gewundert, dass uns ein humanoides Wesen entgegenkam! Hatte er etwa genau damit gerechnet?
Ich schob Danilow zur Seite und marschierte vorwärts. Um die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, hob ich den Arm.
Jetzt bewegte sich die Figur. Sie winkte zurück, gleichmäßig, ohne Hast. Und sie kam mir entgegen.
Wir hatten Kontakt!
Ein Schritt, ein nächster … Mit einem Mal fiel mir auf, dass die Frau – ja, eine Frau, daran bestand inzwischen kein Zweifel mehr – nicht direkt auf uns zukam, sondern ein Ziel seitlich von uns ansteuerte … auf eine kleine Steinfläche zuhielt, die sich auf unfassliche Weise von ihrer Umgebung unterschied. Als ob sie glatter war oder dunkler, beinah als versickere das Sternlicht spurlos in ihr.
»Halt!«, schrie Mascha. »Bleiben Sie stehen!«
»He«, rief Danilow.
Wir verstanden, was jetzt passierte, alle im selben Moment. Aber wir konnten nichts mehr dagegen tun. Die Frau verlangsamte den Schritt, als zögere sie. Machten sie unser Geschrei und unsere Gesten denn überhaupt nicht neugierig?
Die Frau ging einfach weiter.
»Sieh mal!« Danilow packte mich am Arm. »Sieh doch!«
Die Luft flirrte, erzitterte vor Kälte. Die Silhouette der Frau wogte leicht, beinahe wie ein Spiegelbild im Wasser. Über die Steinfläche, die sie nun erreicht hatte und die sie anscheinend weitaus klarer sah als wir, ergoss sich eine Welle fahlen Lichts. Eine behände, sanfte Welle, die ihre Figur fortspülte, ihre Farben und Formen auflöste.
Als das Licht erlosch, stand niemand mehr vor uns.
»Das ist ein Tor«, krächzte Mascha heiser. »Das … ist ein Tor.«
»Eine Schleuse«, korrigierte Danilow sie. Er sah mich an. »Jetzt weiß ich auch, woran mich dieser Planet erinnert, Petja.«
Ich nickte. Ich hatte es ebenfalls begriffen. »Eine Quarantänestation.«
Möglicherweise war das ein falscher Vergleich. Bisher war ich nur einmal auf einer Quarantänestation gewesen, während der Einführungskurse im Studium. Nach der Landung mit dem Reptiloiden hätte man mich durchaus dorthin abschieben können, aber … das war nicht geschehen. Jetzt fielen mir jedoch prompt wieder das flackernde, irritierende Licht der Deckenlampen mit den integrierten UV-Luftentkeimungslampen, der synthetische Beigeschmack der sterilen, ozonisierten Luft und die schwere, undurchdringliche Stille ein.
»Das ist ihr Vorposten«, flüsterte Danilow. »Ein Planet, auf dem einfach jeder landen darf! Und dann geht’s mit ihrem Transportsystem weiter …«
»Aber wohin?«, hakte Mascha nach.
»Woher soll ich das wissen? Auf einen anderen Planeten. In unterirdische Städte. Ins Jenseits.«
»Wer war diese Frau, Karel?« Ich sah den Reptiloiden an.
»Ich weiß es nicht. Vielleicht ist sie eine Pilotin der Geometer, eine von denjenigen, die von hier nicht zur Heimat zurückgekehrt sind. Vielleicht ist sie aber auch von hier.«
»Aber du wunderst dich nicht darüber, dass diese Zivilisation ebenfalls humanoid ist?«
Der Reptiloid betrachtete mich mit mitleidiger Verwunderung. »Nicht im Geringsten. Wenn die Geometer dich für einen Agenten des Schattens gehalten haben, heißt das, dass es in dieser Zivilisation auch Wesen mit dem Äußeren von Menschen geben muss.«
»Und was ist mit der Frau passiert?«
»Wahrscheinlich hat Danilow recht. Dieser Planet gehört zu ihrem Transportsystem. Hier gibt es Tore.«
»Und was sollen wir jetzt tun?«
»Zurückkehren. Oder der Frau folgen. Ich würde vorschlagen, diese runde Steinfläche zu betreten.«
»Und ich würde vorschlagen umzukehren«, mischte sich Danilow ein. »Aber das wäre nur dann sinnvoll, wenn du auch damit einverstanden bist, Pjotr.«
Ich blickte zu der Stelle hinüber, an der die Frau verschwunden war. Etwas in mir protestierte lautstark: ›Geh da nicht hin!‹ Nein, ich glaubte nicht, dass wir gerade eben Zeugen eines extravaganten Selbstmords geworden waren. Das hier war wohl in der Tat eine Art Transportterminal, vergleichbar mit den Kabinen der Geometer.
Und mit einem einzigen Schritt nach vorn würden wir die Spielregeln akzeptieren, nach denen die Zivilisation des Schattens funktionierte. Wer auch immer sie sein mochten – Menschen wie wir oder Wesen, die zu Metamorphosen fähig waren wie die Cualcua.
Sie hielten es nicht für nötig, diesen Planeten zu bewachen, bei dem es sich einfach um einen Landeplatz handelte. Ja, es war sogar gut möglich, dass die Besucher hier obendrein tatsächlich desinfiziert wurden …
Anschließend stand den Gästen dann ein über den ganzen Kontinent gespanntes Netz von Toren zur Verfügung. Gerade eben war uns demonstriert worden, wie sie funktionierten. Sollte das ein Zufall gewesen sein? Das würde ich nie im Leben glauben! Damit stand ich vor der Wahl, durchs Tor zu gehen – oder mich davonzuscheren.
»Das sieht wirklich nach einer Hyper-Zivilisation aus, Andrej Valentinowitsch«, sagte Mascha. Als ihr klar wurde, dass sie sich an einen Menschen wandte, den sie für tot erklärt hatte, erschauderte sie.
Keine Ahnung, ob der Zähler von sich aus auf den Gedanken gekommen war, meinem Großvater das Wort zu überlassen, oder ob dieser es gefordert hatte. »Das wäre aber eine kümmerliche Zivilisation, Mädchen. Mit einer horizontalen Entwicklung. Wie in den alten amerikanischen Romanen, wo es auf jedem Asteroiden eine Bar gibt, eine kleine Kirche und einen Sheriff mit Stern.«
Mein Großvater stieß ein Hüsteln aus, das schon sehr überzeugend klang. Mittlerweile kam er ziemlich gut mit den Sprechwerkzeugen des Reptiloiden zurecht.
»Ein Planet, der als Weltraumbahnhof und zugleich als Diele fungiert, das ist doch absurd«, fuhr er fort. Ein alter Science-Fiction-Schriftsteller hat einmal gesagt: ›Die Galaxis ist zu klein für mich. In ihr gibt es ja nur hundert Millionen Sterne. Das ist nicht meine Kragenweite, deshalb schreibe ich über Metagalaxien.‹ Er hätte sich lieber einen einzelnen Stern genau vornehmen sollen …«
Danilow kicherte leise.
»Aber das Ganze muss doch irgendeinen Sinn haben, oder?«, bohrte Mascha mürrisch weiter. »Ja wohl wenigstens ansatzweise … Nur um Größe zu demonstrieren … nein, das ist zu wenig. Also … wozu das Ganze, Andrej Valentinowitsch?«
Mein Großvater schwieg lange. »Mascha, wenn ich recht habe«, sagte er schließlich verlegen und widerwillig, »dann würde dir die Antwort nicht sonderlich gefallen. Mich selbst begeistert sie auch nicht gerade.«
Ging das schon wieder los? Gut, ich verstehe das, zeit seines Leben war es für meinen Großvater nicht darauf angekommen, was er wusste, sondern was er verheimlichen konnte. Anspielungen, vage Drohungen, Sand, den er einem in die Augen streute, nebulöse Prophezeiungen – all das hatte es ihm erlaubt, der Rolle des Schreibtischgelehrten zu entschlüpfen und in den dreckigen Sumpf politischer Intrigen hineinzuwaten.
Aber wenigstens jetzt könnte er sich doch mal anders verhalten!
»Großpapa, soll ich da durch?«
»Ich glaube, es wäre für uns alle sinnvoll, durch dieses Tor zu gehen.«
»Ohne dich könnten wir sowieso nicht von hier wegfliegen«, erinnerte mich Danilow. »Ich glaube zwar nicht, dass das eine kluge Entscheidung ist, aber wenn du da durchgehst … dann müssen wir alle mit.«
Wahrscheinlich musste ich mich damit abfinden.
Und sei es nur deshalb, weil mir diese Welt mehr als deutlich ihre Macht vorgeführt hatte. Eine Zivilisation von einem derartigen Potenzial ist kein optimaler Verbündeter. Überhaupt eignete sie sich für uns als Partner etwa genauso gut wie das britische Empire in seiner Blütezeit für irgendeine gottverlassene afrikanische Kolonie.
»Dann lasst uns gehen«, sagte ich. »Vielleicht ist es besser, wenn wir uns bei den Händen fassen. Und dich … Karel … tragen wir.«
»Ich habe nichts dagegen«, willigte mein Großvater ein.
Ich nahm den Reptiloiden auf den Arm und schaute Danilow an. Schweigend packte er meinen Ellbogen, Mascha trat dicht neben ihn.
»Du hast nicht noch ein paar von deinen Spielzeugen übrig?«, wollte ich von ihr wissen.
»Nein«, antwortete sie. Es hörte sich ehrlich an.
Aber was sollte uns eine Laserpistole hier schon nutzen? Oder sogar der viel gerühmte alarische Ggorschsch?
»Es tut mir leid, dass ich euch in diese Situation gebracht habe«, sagte ich, während wir ungeschickt, mit der Grazie verirrter Kleinkinder den Hang hinunterkraxelten. »Wenn ich …«
»Spar dir das!«, knurrte Danilow, allerdings ohne wirklich böse zu klingen. »Dafür ist es jetzt zu spät.«
Worin die unregulierte Struktur dieses Orts und erst recht die Absorption von Energie bestand, das wusste nur das Schiff. Ich selbst bemerkte nichts Auffälliges. Selbst als wir über kleine, unter den Füßen knirschende Kieselsteine stapften, selbst als wir jene Stelle erreichten, wo die unbekannte, an ein Gespenst erinnernde Frau verschwunden war, passierte nichts. Danilow hielt meinen Arm fest gepackt, so dass wir nebeneinandergingen, wie drei Idioten, die sich zu einem Sirtaki-Schnellkurs entschieden hatten. Der Reptiloid – mir war nicht klar, wer gerade den Körper kontrollierte – schaute sich aufmerksam um.
Nichts geschah.
Es funktionierte nicht!
Sie hielt sich nur kurz, einen flüchtigen, aber erschütternden Augenblick lang, meine Scham. Ich biss die Zähne zusammen und stellte mir unsere Rückkehr zur Erde vor. Wenn doch nur irgendwas passieren würde! Von mir aus etwas Ekelhaftes und Widerliches! Aber wenigstens irgendwas! Selbst wenn ich mit einer ganzen Welt kämpfen, durch kniehohe Scheiße und Blut waten müsste – ich würde es tun. Wie schwer es auch wäre, ich würde es schaffen, und wenn ich kriechen müsste …
Vor meinen Augen hing ein trüber, funkelnder Schleier.
Danilows Finger bohrten sich in mir in den Arm, bis es schmerzte. Der Reptiloid fiel in sich zusammen, anscheinend wechselte er in den Trancezustand über, weil er etwas in der Art des Jumps befürchtete. Mascha schrie auf und klammerte sich an Danilow. Der konnte sich nicht halten, so dass wir alle hinfielen. Die Welt wogte, geriet in Bewegung. Alles tauchte in gespenstisches weißes Licht ab. Wir lagen nicht mehr auf Steinen – unter uns war rein gar nichts mehr. Wir fielen.
Ein Laut erhob sich, vielleicht auch kein Laut, sondern ein kurzes Jammern, ein Stöhnen des Raums. O ja, das war ein Übergang, eine weitere Variante im Spiel mit den Dimensionen, nicht die, die sich die Menschen ausgedacht hatten, nicht die, welche die Geometer benutzten.
Ich spürte, wie mein Bewusstsein erlosch, wie ich abstumpfte, meine Gedanken nur noch träge und lethargisch dahinflossen.
Aber immerhin passierte etwas. Wenigstens irgendetwas.