Dritter Teil

12. Der Geheime Fluß


Der Name des zweiten Flusses ist Gihon.

Kaum ist er dem Paradies entströmt, verschwindet er auch schon in der Tiefe des Meeres ..., von wo aus er, durch geheime Passagen in der Erde, wieder in den Bergen Äthiopiens auftaucht.

Moses bar Cepha, von John L. Lowes zitiert (The Road to Xanadu)


Von allen Weibchen, die mit ihm von Efrafra ausgebrochen waren, hielt Bigwig immer Vilthuril für das rätselhafteste, für seltsam und am schwersten zu verstehen. Vilthuril war dabei weder unfreundlich noch hochnäsig. Im Gegenteil, sie verstand sich glänzend mit allen Kaninchen im Gehege und war auch oft zu einer kleinen Plauderei bereit - über Dinge wie das Wetter, das Gras oder die Pferde, die über ihr Down galoppierten, über alles, mit einem Wort, was nicht zu Mißhelligkeiten führte und zu dem jeder eine Meinung äußern konnte, die niemanden verletzte. Sie war eine gute Mutter und ihrem Gefährten, Fiver, sehr ergeben. Fiver und sie hatten ihre gegenseitige Zuneigung schon vor dem Ende der Expedition gegen Efrafra entdeckt; und in der Nacht des Überfalls von General Woundwort, in der Fiver, wie man sich erinnert, bewußtlos unter Efrafraniern auf dem Boden des Wabenbaus gelegen hatte, bevor er erwachte und Vervain ohne einen einzigen Hieb besiegte, war Vilthuril seinetwegen außer sich gewesen vor Angst und Sorge.

Wer mit Vilthuril zu tun hatte, spürte eine gewissen Reserviertheit von ihrer Seite, und man wußte, daß sie und Fiver viel Zeit in ihrer inneren Welt, in der Welt des Mystischen verbrachten. Niemand hatte etwas dagegen, da jeder die Gültigkeit auch dieser Welt anerkannte. Im übrigen, bemerkte Bluebell, solange Fiver fähig war, aus dieser Welt wenigstens für die kurze Zeit aufzutauchen, die er benötigte, um Kaninchen wie Vervain auszuschalten, war doch alles in Ordnung.

Doch Vilthuril konnte durchaus auch über ernste Dinge sprechen, wenn sie wollte, so daß die andern ihr achtungsvoll und aufmerksam zuhörten. Aber sie wollte das nicht oft, deshalb hielten die anderen Kaninchen gewöhnlich den Mund, wenn sie sprach, um keine Gelegenheit auszulassen, etwas von der wirklichen Vilthuril zu erfahren, und das bereuten sie selten oder nie.

Eines Abends, es war im ziemlich überfüllten Wabenbau, fragte sie den überraschten Hazel so ruhig und beiläufig, als wären sie allein: »Hat dir Hyzenthlay je etwas über den unterirdischen Fluß in Efrafra erzählt?«

»Über den was?« fragte Hazel zurück, jetzt auch einmal aus seiner Fassung gebracht.

»Den unterirdischen Fluß in Efrafra«, wiederholte Vilthuril im selben ruhigen Unterhaltungston.

»Nein, bestimmt nicht«, sagte Hazel. Dann fragte er, aber mehr um seine Fassung wiederzugewinnen als aus einem anderen Grund: »Bigwig, hast du je was von dem unterirdischen Fluß in Efrafra gehört? Du bist ja schließlich einmal dagewesen und ich nicht.«

»Da will ich doch in der Schlinge hängen, wenn ich was davon gehört habe«, erwiderte Bigwig, »und da müßte einer viel Überzeugungsarbeit leisten, bis ich daran glaube.«

»Doch, da war ein Fluß«, sagte Vilthuril, »aber nur drei von uns wußten davon.«

»Hyzenthlay?« fragte Hazel. »Hast du davon gewußt?«

»Aber ja«, antwortete Hyzenthlay. »Thethuthinnang und ich, wir kannten beide den Fluß ganz gut. Den Geheimen Fluß, so nannten wir ihn immer. Aber erzähl du, Vilthuril, erzähl ihnen vom Geheimen Fluß. Sie kannte ihn am besten. Sie fand ihn zuerst und wußte mehr über ihn als wir«, fügte sie hinzu, an Hazel und Bigwig gewandt. »Sie war auf den Fluß ... eingestimmt, besser als auf irgend etwas anderes.«

Es gab eine Pause, da Vilthuril sich offenbar sammelte und überlegte, wo sie anfangen solle.

Schließlich sagte sie: »Es ist kaum möglich, jemandem, der nicht dort war, zu beschreiben, wie das war - ein Kaninchen in Efrafra zu sein. Im Bau, zwischen den zwei täglichen silflays, die einem Kennzeichen zustanden, war man nicht wirklich lebendig. Jedenfalls nicht in dem Sinne, wie man den Begriff hier versteht. Die Offiziere, wann immer einer zufällig im Gang eines Kennzeichens auftauchte, verboten einem zwar nicht, herumzugehen. Aber es war nicht sehr sinnvoll, herumzugehen. Erstens war es ziemlich schwierig, weil es in den Gängen sehr gedrängt zuging, und zweitens war eine Stelle im Bau genauso wie jede andere Stelle im Bau. So ähnlich war es auch mit dem Sprechen. Es war nicht verboten zu reden, aber im allgemeinen gab es auch nichts, worüber man reden konnte. Ich hatte immer das Gefühl, die Offiziere wollten, daß man absolut nichts machte, daß man zwischen den silflays sich möglichst nicht rührte, nicht redete und nicht einmal dachte - es sei denn, man wäre zur Begattung aufgerufen worden, und viel Vergnügen hatte man dabei auch nicht. Ein Kaninchen, das nicht dort war, kann wirklich nicht begreifen, wie das Leben da war.

Also eines Tages, aber vielleicht war es auch eines Nachts, da schlief ich oder döste am äußersten Ende eines Ganges der Kennzeichen, das heißt also am weitesten entfernt vom Hauptgang, der hinausführte, und da bemerkte ich plötzlich etwas ganz Sonderbares, was mir früher noch nie aufgefallen war. Da kam ein Strom durch die Gangwand. Es war keine Wasser- oder Luftströmung, und sie war weder warm noch kalt. Aber etwas kam durch die Wand und floß den Gang hinab; es ergoß sich auch nicht in ein Becken und überflutete es, wie ihr vielleicht denkt, sondern floß der ganzen Länge nach in einem eigenen Kanal.

Ich bewegte mich ein wenig, und so kam ich direkt in die Mitte dieser wie auch immer gearteten Strömung, schaute ihr sogar frontal entgegen. Und dann gab es keinen Zweifel mehr. Ein Strom von irgend etwas kam durch die Gangwand, brach sich über mir und floß weiter. Der Strom war langsam, aber gleichmäßig. Kein anderes Kaninchen im Bau schien ihn zu bemerken.

Ich blieb lange da liegen und überließ mich dem Strom, der Besitz von mir ergriff, wie man sagen könnte. Und ganz allmählich verstand ich, was da durch die Wand kam, nämlich eine Strömung des Wissens. Es war nicht mein Wissen, und es hatte nichts mit mir zu tun. Es war nicht meine Phantasie, die mir einen Streich spielte. Es war keine Wahnvorstellung, die in meinem Kopf entstanden war. Es war etwas von außerhalb, von außerhalb Efrafras, das ich empfing. Man konnte es nicht trinken oder riechen oder heiß oder kalt auf seinem Fell empfinden. Aber man konnte sich aus der Strömung hinausbegeben und wieder hineingleiten. Ich habe das mehrmals gemacht, um mir sicher zu sein.

Die Strömung versuchte, etwas zu übermitteln, entweder mir oder einem anderen Kaninchen, das fähig wäre, es aufzufangen. Ich lag mitten drin und bemühte mich, meinen Kopf leer zu machen, so gut es ging. Und richtig, ich empfing ganz deutlich eine Idee - die Idee von zwei Kaninchen, erwachsenen weiblichen Kaninchen, die zusammen waren, irgendwo, fern von Efrafra. Und sowie ich das begriffen hatte, erweiterte die Strömung das Wissen. Da waren zwei Weibchen, die ihr Gehege verlassen hatten, um ein eigenes Gehege ins Leben zu rufen, in dem die Weibchen die Herrschaft hätten, ein Gehege, von Weibchen regiert.

Diese Idee war fraglos nicht meinem eigenen Kopf entsprungen. Ich hatte kein Bild dieser Art in meiner Vorstellung gehabt. Ich wußte einfach, daß die beiden Weibchen existierten und was sie vorhatten. Ich konnte sie auch nicht vor meinem geistigen Auge sehen, doch ich kannte ihre Namen - Flyairth und Prake -, und ich wußte, sie waren irgendwo da draußen, so stark und von ihrem Vorhaben so überzeugt, daß sie andere Kaninchen, Männchen und Weibchen, dazu überreden konnten, mit ihnen zu kommen. Aber wohin? Ich wußte nur, es war ein sandiges Gelände, ein leichter Hang.

Ich bin wohl lange in der Strömung dieses unterirdischen Flusses liegengeblieben, denn als ich schließlich herauskam, fühlte ich mich ganz erschöpft. Ich fiel sofort in Schlaf und schlief durch bis zum nächsten silflay des Kennzeichens, und das war am frühen Nachmittag. Ich wollte mit jemandem reden, wollte mitteilen, was ich gefunden hatte, oder besser, was mich gefunden hatte. Aber in Efrafra war es immer gefährlich, sich mit jemandem zu unterhalten. Entweder traf man auf einen Spion des Rats oder aber, was wahrscheinlicher war, einen, der solange weitererzählte, was man ihm anvertraut hatte, bis man es als Geschwätz abtat.

Ich beschloß, Hyzenthlay einzuweihen; ich wußte, sie war dem Rat verdächtig geworden, da sie um Erlaubnis gebeten hatte, Efrafra zu verlassen. Ich berichtete ihr beim silflay am Nachmittag, und sie wollte mit mir kommen, um festzustellen, ob sie die Strömung genauso verspürte wie ich.

Sie kam mit, und sie spürte sie auch, wenn auch nicht so stark wie ich. So schien es mir jedenfalls. Aber nun waren wir schon zu zweit, und wir fragten uns natürlich, ob das auch andere Kaninchen entdecken könnten. Wir hatten Angst vor dem, was uns passieren würde, wenn die Offiziere Wind davon bekämen. Wir hatten nichts Böses gemacht, aber das genügte nicht, um einen in Efrafra vor Unbill zu schützen, das könnt ihr mir glauben. Vielleicht würden wir sogar getötet, denn der Rat würde sicher verhindern wollen, daß noch andere den Fluß entdeckten. Oder aber, sie würden verkünden, daß wir uns das alles ausgedacht hätten. Und Hyzenthlay hatte natürlich schon das Mißtrauen des Rats erregt. Folglich erzählten wir niemandem etwas davon.

Was mir in dieser Nacht durch den Geheimen Fluß zuströmte, war das Wissen, daß Flyairth und Prake eine Menge Kaninchen, Männchen und Weibchen, überredet hatten, ihr Gehege zu verlassen und zu dem sandigen Gelände zu kommen, wo sie ein neues, eigenes Gehege aufbauen wollten. Nur das hatte ich erfahren und sonst nichts. Doch in dieser Nacht empfing auch Hyzenthlay dieses Wissen, ohne mich zu fragen. Da wußten wir beide, daß alles stimmte.

Am nächsten Nachmittag kamen Hyzenthlay und ich als letzte vom silflay hinunter, und da fanden wir Thethuthinnang an meinem üblichen Platz am hinteren Ende des Baus. Wir waren ziemlich sicher, daß wir ihr unser Geheimnis anvertrauen könnten, warteten aber, um zu sehen, ob sie vielleicht von allein dahinterkäme. Bald war uns klar, daß sie etwas Seltsames und Rätselhaftes gewahrte, ließen es aber dabei bewenden, doch beim silflay am nächsten Tag verrieten wir ihr, was wir jetzt wußten. Sie hatte es auch gespürt, wenn auch nicht so deutlich wie ich, und nicht begriffen, daß es ein Strom des Wissens war, bis wir es ihr sagten.

Danach taten wir alles, um wenigstens einmal am Tag oder in der Nacht in den Geheimen Fluß zu kommen. Die beiden anderen empfingen die Botschaft des Wissens nicht so klar wie ich, aber da wir nun darüber sprechen konnten, erkannten sie immer, was ihnen durch die Strömung zugeflossen war, solange sie in ihr lagen.

Nach einiger Zeit war es uns, als kennten wir Flyairth und Prake. Aber zwei Dinge wußten wir nicht: Wir wußten nicht, ob die zwei Weibchen etwas mit dem Aussenden der Wissensströme zu tun hatten, und wir wußten nicht, ob diese Strömung noch irgendwo anders, außerhalb von Efrafra, hinkam - durch ein anderes Gehege hindurch, meine ich, zu anderen Kaninchen. Wir konnten nicht darauf antworten, versteht ihr? Wir konnten nur das Wissen empfangen, das uns durch den Geheimen Fluß zuströmte, und einander täglich bestätigen, um was es sich gehandelt hatte.

Wir wußten, daß Flyairth und Prake ein eigenes Gehege nach ihren eigenen Wünschen eingerichtet hatten - Thinial nannten sie es - und daß die Männchen unter der Herrschaft der Weibchen zufrieden waren. Männchen, die sich nicht damit abfinden wollten, gingen einfach weg, und niemand hielt sie auf. Die kleine Owsla, aus Weibchen bestehend, war sehr beliebt. Das waren gewiß die klügsten Kaninchen, die man sich denken konnte; sie schikanierten die anderen nicht, und folglich gab es auch keinen Groll.

Einige Alleinstehende brachten offenbar dennoch Junge zur Welt. Sie erkoren sich Männchen, die sie mochten, und vereinigten sich mit ihnen. Wenn sie dann später ihre Jungen austrugen, beurlaubten sie sich von der Owsla, solange es nötig war, um die Kleinen aufzuziehen und ihnen selbständiges Handeln beizubringen. Wenn die Jungkaninchen sie nicht mehr brauchten, meldeten sie sich wieder zur Owsla zurück.

Flyairth hatte selber zwei Würfe, und soweit wir das mitbekommen konnten, wuchsen ihre Jungen zu wackeren Kaninchen heran.

Lange Zeit empfingen wir dann nichts mehr. Ich dachte mir, da Thinial nun gut und gedeihlich organisiert war, gebe es für uns nichts mehr zu lernen, und die Wissensübermittlung durch den Geheimen Fluß sei nun zu Ende. Ich kann nicht sagen, daß ich darüber traurig war, denn die ganze Sache war mir unheimlich gewesen. Ich hatte dauernd Angst, daß General Woundwort etwas darüber erfahren könnte. Und doch machte ich weiter, jede Nacht legte ich mich in die Strömung des Flusses. Ich war süchtig.

Ich konnte nicht aufhören.

Aber dann war da eines Nachts eine Art von ... heftig verwirbeltem Nebel, der mich umhüllte; ich befand mich in einem verwirrenden Durcheinander, in dem ich nichts empfangen konnte oder jedenfalls nichts verstand. Den anderen erging es genauso.

Schließlich schälte sich doch eine Sache klar heraus, nämlich ein Stück Wissen, das handelte von der Weißen Blindheit. Von uns hatte noch niemand ein Kaninchen an der Weißen Blindheit sterben sehen, aber wir wußten davon soviel wie alle Kaninchen. Zum Beispiel, wie ein infiziertes Kaninchen im Freien herumtaumelt, nichts sehen kann, so daß es am Ende vielleicht sogar ins Wasser stolpert und ertrinkt, und daß andere Kaninchen sich anstecken, so daß ein ganzes Gehege vernichtet wird. Wir wußten, daß es lange dauert, bis ein Kaninchen an der Weißen Blindheit stirbt.

Wir erhielten in dieser Nacht alle drei Kenntnis von der Blindheit. Sie betraf uns nicht, sie war einfach da wie ein Stein oder ein Baum. Wir haben nicht geglaubt, daß sie durch den Geheimen Fluß herunterkommt, um uns anzustecken, doch schon dieses Wissen, das alles andere im Fluß zurückdrängte und ihn auf unerklärliche Weise aufwühlte, war erschreckend genug.

Zwei Nächte später wurde das Wissen ergänzt. Flyairth war beim Spazieren außerhalb von Thinial auf ein einzelnes torkelndes Kaninchen gestoßen, ein hlessi, das an der Blindheit starb. Zu Tode erschreckt hielt sie sich abseits, sah aber dann, daß es sich aus eigenem Antrieb Thinial näherte. Doch anscheinend im letzten Moment schleppte es sich in anderer Richtung weiter.

Das war alles, was uns der Fluß in dieser Nacht übermittelte.

Anschließend erfuhren wir mehrere Nächte lang hintereinander nur noch von Flyairths wachsender Sorge; sie wußte, wenn die Blindheit irgendwie in ihr Gehege hineingetragen würde, wäre Thinial von Zerstörung bedroht.«

»Nicht ich war es«, sagte Vilthuril, »sondern Hyzenthlay, die vom Fluß erfuhr, daß Flyairth alles auf sich nehmen würde, um die Blindheit von Thinial fernzuhalten. Sie hatte die größte Angst, daß ein angestecktes Kaninchen, ein Fremdling, zufällig ins Gehege eindringen könnte. Es ist ja eine merkwürdige Sache, wie ihr sicher alle wißt, daß angesteckte Kaninchen durchaus fähig sind, sich zu paaren, und das auch oft tun.

Flyairth teilte ihrer Owsla ihre Befürchtungen mit, und sie waren alle dafür, daß alles getan werden sollte, um angesteckte Kaninchen vom Gehege fernzuhalten. Am Tage wurde allen Fremdlingen der Einlaß verweigert, gleichgültig, ob man ihnen die Ansteckung ansehen oder ob man sie riechen konnte. In der Nacht war das allerdings schwieriger. Ein Fremdling war unter Umständen in der Lage, ungesehen einzudringen. Die Männchen - jeweils vier - übernahmen freiwillig Nachtwachen, um Fremde abzuweisen.

Das war mehrere Tage lang alles, was wir erfuhren. Aber dann empfingen wir die Nachricht, daß ein angestecktes Männchen, ein Fremdling, nachts in Thinial eingedrungen war und sich mit einem Weibchen gepaart hatte, das nun schwanger war. Eines der wachhabenden Männchen gestand, er habe mit dem Fremdling gekämpft, doch der habe ihn niedergeschlagen und sich den Eintritt erzwungen. Verständlicherweise hatte er nichts gemeldet, in der Hoffnung, nie mehr von der Sache zu hören. Das schwangere Weibchen, Milmown, hatte der Owsla berichtet, der Fremdling habe sich mit ihr gepaart und sei dann seiner Wege gegangen.

Noch hätte alles gut ausgehen können, wenn Milmown nicht blind geworden wäre. Als das offensichtlich wurde, zeigten sich Flyairth und Prake unerbittlich. Milmown, wenngleich von vielen bemitleidet, wurde von der Owsla des Geheges verwiesen mit der Auflage, ja nie zurückzukommen.

Aber sie ging nicht weg. Sie blieb in der Nähe des Geheges und flehte jeden, der sie anhören mochte, an, man möge ihr doch die Rückkehr erlauben. Aus irgendeinem Grund wurde die Entwicklung der Krankheit bei ihr verzögert. Sie kratzte ein Loch in den Sand und brachte dort ihren Wurf zur Welt; es waren nur vier Kaninchen, blind, taub und ohne Fell. Als sie alt genug waren, um sich allein durchs Leben zu schlagen, forderte die Weiße Blindheit ihr Opfer, und Milmown starb.

Alles, was wir drei nun vom Geheimen Fluß erfahren hatten, war dasselbe Wissen, das Tag für Tag wiederholt wurde. Wir wußten, daß die vier Jungen aus Milmowns Wurf im Freien lebten, so gut es ging, nicht weit von Thinial entfernt, und obwohl sie offenbar nicht von der Blindheit befallen waren, verweigerte ihnen die Anführerin des Geheges jede Hilfe und Unterkunft. Niemand konnte sagen, daß sie falsch handelte, doch nur wenige hätten sich imstande gefühlt, solch eine Strenge an den Tag zu legen.

Sicher haben manche in Thinial erwartet, daß die Jungen den Tausend zum Opfer fallen würden, doch keine elil tauchten auf, und wir erfuhren vom Geheimen Fluß, daß die Jungen weiterhin am Leben blieben.

Dann wurde uns neues Wissen zugeströmt - etwas, was vorher noch nicht durch den Fluß gekommen war. Anfangs war es verworren und bruchstückhaft, und wir konnten nichts damit anfangen, bis Thethuthinnang meinte, es hätte vielleicht damit zu tun, daß die Kaninchen in Thinial sich gegen Flyairth stellten. Als wir das einmal begriffen hatten, kamen die Nachrichten klarer durch. Der Grund war der, daß Milmown im Gehege wohlgelitten gewesen war und viele Freunde gehabt hatte, einschließlich einiger Mitglieder der Owsla. Diese Freunde hatten allerdings nicht viel für sie tun können, als sie ausgestoßen worden war, weil sie von der Blindheit befallen war; sie würde sterben, und mehr war dazu nicht zu sagen. Nun aber, da sie nicht mehr lebte und ihre vier Jungen offenkundig nicht blind waren, sagten einige ihrer früheren Freunde, daß Flyairth und Prake zu weit gingen und daß Milmowns Junge draußen dem Tod auszuliefern grausam und völlig unnötig sei. Flyairth hingegen lehnte es ab, ihre Ansicht zu ändern. Die Sicherheit und die Lebensfähigkeit von Thinial waren ihr wichtigstes Ziel, und das rechtfertigte jede Unnachgiebigkeit.

Doch mehr und mehr Kaninchen gingen auf Abstand zu ihr. Sie sahen täglich die Jungkaninchen, die sich selbst überlassen waren, nicht jedoch die Ansteckungsgefahr der Weißen Blindheit, die nicht vorhanden war. Einige gingen schon hinaus zu Milmowns Jungen, um mit ihnen zu reden, und sagten ihnen, daß sie persönlich es vorzögen, wenn sie wieder ins Gehege gebracht werden könnten, doch es sei sehr schwierig für die Owsla, in dieser Sache eine Änderung herbeizuführen.

Eines heißen Sommerabends - ich lag schweratmend im überfüllten Bau des Hinterlauf-Kennzeichens - brachte mir der Fluß die Nachricht, daß mehrere Kaninchen, in Mißachtung der Owsla, gemeinsam Milmowns Junge ins Thinial-Gehege gebracht und ihnen einen leeren Bau für sich allein gegeben hatten. Als Flyairth selbst kam, um sie hinauszuweisen, traten ihr Weibchen entgegen, die zum Teil mit ihr zusammen selber Gründungsmütter des Geheges gewesen waren, und lehnten den Ausweisungsbefehl ab. Flyairth, ein schweres, robustes Weibchen, kämpfte mit ihnen und schlug zwei oder drei nieder. Aber gegen alle kam sie nicht an.

Mehrere Tage lang brachte uns der Fluß nichts Neues. Das empfangene Wissen sagte uns nur, daß Flyairth in hilfloser Wut von einer Gruppe Kaninchen zur anderen ging und mit aller Macht ihre Autorität geltend zu machen versuchte. Wir, die drei von uns in Efrafra, meinten, sie hätte die Sache besser einfach fallenlassen sollen. Aber sie war von der Furcht vor einer Blindheitsepidemie derart besessen, daß sie die Wahrscheinlichkeit und die Unwahrscheinlichkeit nicht gegeneinander abwägen konnte. Solange die geringste Möglichkeit bestand, daß die Krankheit nach Thinial kam, mußte sie alles Mögliche tun, um das zu verhindern. Nacht für Nacht brachte uns der Geheime Fluß nur immer wieder das Wissen, daß sie zornentbrannt und entschlossen blieb.

Ich werde nie vergessen, wie ich die halbe Nacht an der Bauwand in Efrafra lag und fühlte, wie Flyairths Wut mich überspülte, erstaunt, daß andere sie nicht auch fühlten. Denn es war bei weitem die stärkste und machtvollste Übermittlung von Wissen, die wir je gehabt hatten.

Flyairths Stellung als Anführerin hatte durch die Sache mit Milmowns Jungen sehr gelitten, besonders weil sie sich geweigert hatte nachzugeben.

Gerade zu dieser Zeit hatte sie ihren dritten Wurf. Sie mußte nun notgedrungen ihre leitende Position aufgeben, um sich um ihre Jungen kümmern zu können, und das verminderte ihren Einfluß im Gehege. Auch hatten einige Kaninchen gesagt, da sie immer noch nicht bereit sei, in der Sache von Milmowns Jungen nachzugeben, sollte sie besser ihre Führungsrolle abgeben.

Zu dieser Zeit nun verloren wir die Verbindung und erfuhren nichts mehr von Thinial oder von Flyairth und ihrer Verzweiflung. Aber das hatte nichts mit dem Geheimen Fluß zu tun. Der Grund war, daß Bigwig nach Efrafra kam und Offizier im Bau des Hinterlauf-Kennzeichens wurde, das heißt: bei uns. Wann hast du zum erstenmal Hyzenthlay wegen eines Ausbruchs angesprochen, Bigwig?«

»Das war am Abend des Tages, als ich zu eurem Kennzeichen kam«, antwortete Bigwig. »In meinem Bau, Hyzenthlay. Erinnerst du dich? Der Plan war, daß du die Weibchen für die Flucht aussuchst. Dann solltest du sie am selben Tag einweihen, und wir wollten am Abend dieses Tages ausbrechen. Je weniger Zeit sie zum Überlegen hätten, um so besser.«

»Aber es ging nicht an diesem Abend, weil Woundwort sich mit dir unterhalten wollte.«

»Also mußten wir es am nächsten Abend versuchen - als das Gewitter losging. Der Abend, an dem sie Nelthilta verhafteten.«

»Wie viele Nächte bist du tatsächlich in Efrafra geblieben?« fragte Vilthuril.

»Drei.«

»Ich erinnere mich«, sagte Hyzenthlay. »Ich war halb wahnsinnig vor Angst, weil alle Weibchen eine Nacht und einen Tag lang schon von der Flucht wußten. Unmöglich, daß das nicht ans Licht kommt, dachte ich. Und ich hatte ja recht. Wäre Nelthilta nur etwas früher festgenommen worden, wäre alles aus gewesen.«

»Meine letzte Nacht in Efrafra«, sagte Vilthuril, »das war die Nacht, in der wir alle von dem Plan wußten und gezwungen waren abzuwarten. Und das war auch die letzte Nacht, in der ich mich in den Geheimen Fluß legte, als einzige von uns dreien.«

»In dieser Nacht war ich dazu nicht aufgelegt«, berichtete Hyzenthlay. »Thethuthinnang und ich waren beide halbtot vor Angst, daß der Plan entdeckt würde.«

»In dieser Nacht«, erklärte Vilthuril, »erfuhr ich nichts, nicht mehr, als ich ohnehin von der wachsenden Gegnerschaft zu Flyairth schon wußte. Ich frage mich, wie alles ausging.«

»Und mir kommt es besonders merkwürdig vor«, sagte Hyzenthlay, »daß wir nicht die leiseste Ahnung haben, wo Thinial ist oder wo diese Kaninchen sind. Vielleicht sind sie viele Tagesreisen von uns entfernt, vielleicht sind sie auch ganz in der Nähe.«

»Das ist die unglaublichste Geschichte, die ich je gehört habe«, meinte Hazel.

Was jedoch Hazel und den anderen Kaninchen, die Vilthurils Geschichte gehört hatten, so unglaublich erschien, war nicht der unterirdische Fluß an sich. Beim Erleben von Phänomenen machte niemand eine Unterscheidung zwischen Unglaublichem und Glaubwürdigem. Der Begriff »unerklärlich« bedeutete ihnen nichts; sie brauchten ihn nicht. Soviel Unerklärliches - zum Beispiel die Mondphasen

- war Bestandteil ihres Lebens, daß sie es einfach zur Kenntnis nahmen. Dieser »Fluß« lag zwar außerhalb ihrer Erfahrungen, das ist wahr, aber soviel anderes auch. Was ihnen hingegen außergewöhnlich erschien war, daß Vilthuril diese Geschichte, diese Information - auf welche Weise auch immer - empfangen hatte, die doch von anderen Kaninchen handelte, von Kaninchen, die irgendwo weit weg lebten, von denen sie nicht eines jemals gesehen hatten. Ihrer Erzählung zufolge hatten diese fernen Kaninchen ihr ja nicht das Wissen, das sie empfangen hatte, irgendwie mitgeteilt, sondern es war über sie gekommen, fast so, als hätte sie selbst in Thinial gelebt. Wäre ihr dieses Wissen nicht durch einen unterirdischen Fluß zugeströmt - und zweifellos gab es in der ganzen Welt viele solcher Flüsse -, dann hätte sie es auf eine andere Weise gewonnen. Warum? Vermutlich, sagten einige, lag es einfach in der Luft und wurde zufällig von Kaninchen wie Fiver und Vilthuril aufgefangen - und das war in der Tat merkwürdig. Keineswegs, meinten andere; es war doch allgemein bekannt, daß Fiver und Vilthuril ungewöhnlich sensible Fähigkeiten besaßen.

Es gab kein allgemeines Einverständnis. Es war Blackberrys Verdienst, eine abschließende Formulierung zu finden, der jedermann zustimmen konnte, ohne sich etwas zu vergeben: »Ich glaube, in dieser Sache ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.«

13. Das neue Gehege


In der Kälte kamen sie an ... eine solche Reise just zur schlimmsten Zeit des Jahres ... das Wetter unwirtlich, die Tage kurz, die Sonne am fernsten Punkt ...

Bischof Lancelot Adrewes (Sermon 15, Of the Nativity)


Kehaar, die schwarzköpfige Möwe, flog westwärts über das Land zwischen Caesar's Belt und den Downs. Er flog niedrig, in unregelmäßigen Nordsüd-Kurven und landete nach Belieben hier und da, um auf irgendeinem einladenden Stück Boden etwas zu sich zu nehmen.

Er war nicht in bester Laune. Von Natur aus aggressiv und schnell gereizt wie die meisten Möwen, die sich gegen Myriaden von Artgenossen durchsetzen müssen, war es ihm nicht immer recht, von den Watership-Down-Kaninchen mit Aufgaben betraut zu werden. Kampfeslust an den Tag zu legen und ihre Feinde anzugreifen war eine Sache.

Auskundschaften eine andere. Vor fünf Monaten hatte er mit Wonne an ihrer Auseinandersetzung mit Efrafra teilgenommen, war im Sturzflug auf den berüchtigten General Woundwort hinabgestoßen, hatte die Flucht von Bigwig und den aus Efrafra ausbrechenden Weibchen gedeckt und ihnen geholfen, den Fluß hinab zu entkommen. Was er liebte, war die Attacke. Dennoch, nachdem ihm die Kaninchen das Leben gerettet hatten, als er verletzt und hilflos auf dem Down lag, war er bereitwillig zu dem Aufklärungsflug aufgestiegen, der unglücklicherweise mit seiner Entdeckung von Efrafra geendet hatte.

Nun war er gebeten worden, einen weiteren, ähnlichen Flug zu unternehmen, und das hatte ihn verstimmt, allerdings nicht so sehr, daß er ihn rundheraus abgelehnt hätte. Die Bitte war sehr taktvoll vorgetragen worden. Hazel wußte genau, daß Bigwig von all seinen Kaninchen Kehaars größter Bewunderer und Freund war, und hatte ihm listigerweise die Aufgabe übertragen, dem Vogel ihr Vorhaben und was er auskundschaften sollte zu erläutern.

»Wir möchten ein neues Gehege aufbauen, Kehaar«, hatte Bigwig erklärt und wich den orangefarbenen Möwenbeinen aus, die durch das ausgedünnte Novembergras hin und her stolzierten. »Denn unseres wird zu eng. Die Hälfte der Kaninchen wird von hier kommen, die andere Hälfte aus Efrafra. Wir möchten dich bitten, uns eine gute Stelle zu finden und dann nach Efrafra zu fliegen und Hauptmann Campion bitten, hinzukommen, um uns dort zu treffen und sich die Stelle anzusehen.«

»Was für 'ne Stelle wollt ihr?« fragte Kehaar. »Und wo soll sie sein?«

»Irgendwo auf der Seite des Sonnenuntergangs«, antwortete Bigwig, »etwa zwischen hier und Efrafra. Sie sollte nicht in der Nähe von Menschenhäusern oder Gärten sein, das ist sehr wichtig. Wir brauchen eine trockene Stelle, wo das Graben leicht ist. Ein Hang am Rand eines Dickichts, wo Menschen nicht oft hinkommen, mit einigen Büschen, um die Löcher zu verdecken - das wäre ideal.«

»Find' ich«, sagte Kehaar kurz. »Dann komm' ich und zeig' sie dir. Auch dem Kerl von Efrafra, ja?«

»Das wäre großartig, Kehaar. Fabelhafter Vogel! Was für einen Freund haben wir doch in dir! Was sollten wir ohne dich tun?«

»Brauchst nicht auf mich warten. Ich geh' jetzt. Komme morgen hierher. Du auch herkommen, ja?«

»Ich werde hier sein. Paß nur auf die Katzen auf!«

»Djack! Verdammte Katze, die fängt mich nicht mehr.«

Dieses sagend, stieg er auf und flog südwärts, in die kalten Sonnenstrahlen hinein. Er flog über Hare Warrens Farm und dann hinunter zu einem Gehölzstreifen, den man »Caesar's Belt« nannte. Hier machte er eine Imbißpause und plauderte ein Weilchen mit einigen Möwendamen.

Eine von ihnen sagte: »Da kommt schlimmes Wetter auf uns zu. Sehr übles Wetter. Schlimmer als alles, was wir erlebt haben. Schnee und bittere Kälte aus Westen. Wenn du nicht sterben willst, Kehaar, dann such dir besser irgendeine Unterkunft.«

Kehaar flog weiter nach Westen und fühlte schon mit dem rätselhaften und unerklärlichen Instinkt seiner Art die herankommende Kälte, vor der ihn die Zufallsbekanntschaft gewarnt hatte. Er murmelte »Verdammte Kaninchen fliegen nicht« und gelangte bis nach Beacon Hill, bevor er kehrtmachte und weiter nach Norden flog. Bald fand er eine Stelle für ein Gehege, so ideal, wie sie ein Kaninchen sich nur wünschen konnte: ein abgelegener, niedriger Hang, der nach Südwesten ging, am Rand eines Eschen- und Birkenwäldchens. Davor erstreckte sich ein Grasland, auf dem jetzt drei oder vier Pferde weideten.

Er landete und schaute sich um. Natürlich kamen hier öfter Männer her, um nach den Pferden zu sehen, aber nichts wies darauf hin, daß diese Wiese je umgepflügt würde. Er sah auch keine Merkmale anderer Kaninchen hier - keine Löcher, kein hraka. Einen besseren Platz würde er bestimmt nicht finden. Er lag, wie er glaubte, näher an Efrafra als am Watership Down, aber angesichts so vieler Vorteile sprach nichts gegen diese Stelle.

Am folgenden Tag traf er Bigwig, zusammen mit Hazel, Groundsel und Thethuthinnang und erzählte ihnen von seiner Entdeckung. Hazel lobte ihn überschwenglich und bat ihn, nach Efrafra zu fliegen, Campion zu berichten und zu hören, wie bald dieser zu einem Treffen an Ort und Stelle kommen könnte.

Die Vorbereitungen zu diesem Treffen waren nicht ganz einfach und mit bestimmten Gefahren verbunden. Campion müßte von Kehaar geführt werden, den die Menge der Aufgaben, die ihm abverlangt wurden, ohnehin schon verdroß. Doch die Kaninchen vom Watership Down müßten gleichfalls geführt werden. Das hieß, daß eine Gruppe am Ziel auf die Ankunft der anderen warten müßte. Da drohten Gefahren von elil. Es dauerte eine Weile, bis alles arrangiert war. Campion sandte eine Nachricht: Er würde aufbrechen, sowie Kehaar ihn verständigt hätte, daß die anderen den Hang erreicht hatten und ihn erwarteten. Dies allerdings bedeutete, daß die Kaninchen vom Watership Down zumindest eine Nacht und einen Tag im Freien zubringen müßten.

»Nun, das ist nicht zu ändern«, meinte Hazel, »und wenigstens haben wir Kehaar noch über Nacht, der jeden elil, der vielleicht auftaucht, sofort attackiert. Ich bin bereit, morgen aufzubrechen, wenn wir in einem Tag hinkommen können.«

»Ja, in einem Tag kommste hin«, sagte Kehaar. »Ich bring' dich, und am nächsten Tag flieg' ich zu Efrafra und bring' Meister Campion vor Dunkelwerden.«

Sie kamen am frühen Abend am Zielort an, und nach dem silflay in der Wiese legten sie sich ins hohe Gras, um zu schlafen.

In der Nacht, im fahlen Licht des Mondes, griff sie ein Hermelin an, leichter Beute völlig sicher, doch hatte er nicht mit Kehaar gerechnet. Vom Angstgeschrei der Kaninchen alarmiert, stürzte sich die Möwe von dem Eschenast, auf dem sie geruht hatte, und brachte dem Hermelin schwere Wunden bei, bevor es diesem gelang, sich frei zu machen und ins Unterholz zu fliehen. »Ich hab' ihn nicht totgemacht«, sagte Kehaar bedauernd, als die Kaninchen ihm dankten, »aber der hat sich sehr gewundert, der kommt bestimmt nicht zurück.«

Am folgenden Morgen besprach sich Groundsel mit Hazel und Bigwig. »Mich erschreckt so leicht kein elil«, sagte er. »Das hat Woundwort gewußt, und deswegen hatte er mich für den Angriff auf euer Gehege ausgesucht. Aber ich habe keine Lust, irgendwo zu wohnen, wo es von Hermelinen und Wieseln wimmelt.«

»Wenn ihr erst einmal eure Löcher gegraben habt, ist alles in Ordnung«, beruhigte ihn Bigwig. »Was meinst du, Hazel-rah? Sollten sie nicht vielleicht sofort anfangen zu graben?«

Hier gesellte sich Kehaar zu ihnen, der Bigwigs Worte offenbar gehört hatte. »Keine Löcher machen jetzt«, sagte er zu Hazel, und das war wie ein Befehl. »Du bringst alle Kaninchen heim, und verdammt schnell!«

»Aber warum, Kehaar?« fragte Hazel. »Ich dachte, wir bringen die Kaninchen aus beiden Gehegen raus und machen uns an die Arbeit.«

»Keine Arbeiten jetzt«, sagte die Möwe mit Nachdruck. »Wenn ihr jetzt anfangt, verliert ihr alle Kaninchen.«

»Wieso denn?«

»Kälte. Frost, Schnee, Eis, wird alles ganz schnell kommen. Sehr schlimm.«

»Bist du sicher?«

»Djack! Frag jeden Vogel. Kaninchen, die hier draußen bleiben, frieren tot. Kalter Winter kommt, Meister Hazel.

Sehr, sehr kalt. Bring die Kaninchen heim, allesamt. Heute noch, verstehst du?«

»Aber gestern hast du uns noch hergeführt und kein Wort über Frost gesagt.«

»Gestern war nix zu merken. Gestern dachte ich: Zeit genug. Aber heute ist es anders. Ihr habt keine Zeit. Kälte kommt ganz schnell.«

Sie kannten Kehaar und vertrauten ihm. So brachen die vier Kaninchen vom Watership Down sofort zur Rückkehr auf. Die Möwe flog nach Efrafra, um Campion auszurichten, das Projekt sei verschoben. Campion war skeptisch. »Sieht mir nicht nach Frost aus.«

»Dann geh nur, du wirst ein schönes Eiskaninchen abgeben«, sagte Kehaar und flog ohne ein weiteres Wort davon.

14. Flyairth


Wenn eine Mutter sich doch damit abfinden könnte, nur Mutter zu sein -doch wo findet man eine, die mit dieser Rolle zufrieden ist?

Elias Canetti (Auto da Fe)


Vom Winter, von Pest und Plagen, lieber Gott, befreie uns!

Thomas Nashe (Summer's Last Will and Testament)


Wie die Möwe vorausgesagt hatte, ließ die plötzliche Kälte nicht lange auf sich warten. Gleich in der Nacht nach ihrer Rückkehr gab es scharfen Frost. So kalt blieb es auch am folgenden Tag, und in der Nacht wurde der Frost noch beißender. Es war allen Kaninchen Hazels klar, daß die bittere Winterkälte, vor der sie Kehaar gewarnt hatte, über sie gekommen war. Von nun an hielt der scharfe Frost den ganzen Tag an und verschärfte sich noch jede Nacht unter einem klaren Himmel. Von Horizont zu Horizont glitzerten die Sterne mit eisigem Glanz, und unter ihnen, auf tiefgefrorenem Boden, rührte sich nichts mehr. Die Tiere verhungerten oder verließen die Downs, um ihr Glück etwas weiter unterhalb zu versuchen, in den Feldern und Gärten von Ecchinswell oder Kingsclere. Eulen und Turmfalken folgten ihren Beutetieren notgedrungen nach, und auf den hohen Hügelkämmen von Beacon Hill bis Cottington's Clump regte sich kein Leben mehr.

Von Hazels Kaninchen hatte keines je eine so langdauernde und eisige Kälte erlebt. In dem ausgedünnten, vielfach abgenagten Gras war wenig Freßbares zu finden, und selbst aus den aneinander gekuschelten Leibern unter der Erde war wenig Wärme zu gewinnen. Die Kaninchen wurden apathisch, und es gab welche, die meinten, diese Kälte würde nie enden, und es war sehr schwer, sie davon zu überzeugen, daß Ausdauer und Lebenswille sich lohnten und auch die richtige Antwort auf die Kälte wären, so wie es Frith der Herr auch vorgesehen hätte.

Eines Nachmittags ließ die Kälte etwas nach. Wolken bedeckten den westlichen Himmel und zogen gemächlich näher, bis sie über dem Gehege verhielten, schwergewichtig, wie es schien, als trügen sie eine unsichtbare Last, die auf das Gehege drückte und es noch stärker lähmte als der Frost. Es war windstill, und doch zog die Wolkenmasse, die nun den ganzen Himmel ausfüllte, langsam ostwärts und wurde dabei immer fülliger.

Dann fiel Schnee, zuerst nur wenig und in verschiedene Richtungen verteilt, die Flocken am Boden schmelzend. Ein leichter, aber eiskalter Wind kam auf und trieb die Flocken vor sich her. Doch bald schneite es stärker, so daß man durch die Flocken hindurch nur mehr andere Flocken sah, die sich wirbelnd in Kreisen drehten, bevor sie die Erde erreichten. Der Schnee sammelte sich hinter Grasbüscheln, und die einzelnen Stellen wuchsen zu einer geschlossenen Decke zusammen. Als es dämmerte, war das ganze Gelände weiß, und auf diese glatte weiße Fläche schneite es immer weiter, und die weiche Schneemasse wurde immer höher.

Hazel war den ganzen Tag tätig gewesen, hatte alle Kaninchen aufgesucht und mit ihnen gesprochen; jetzt spähte er unter dem Schnee hervor nach draußen und wußte, daß es nun Zeit war, sie zu den Winterbauen zu führen, die Bluebell, Pipkin und die Weibchen im Herbst gegraben hatten. Er hatte sie nie inspiziert, und deswegen tadelte er sich jetzt. Eines war sicher: Weiteres Graben war nicht mehr möglich; der Boden war hart wie Stein. Sie würden die Winterbaue so nehmen müssen, wie sie waren.

Trotzdem wollte er aber vorher den Hügel allein hinuntergehen und sich die Baue selber einmal ansehen. Dann jedoch fiel ihm ein, daß er Bluebell mitnehmen müßte, da Bluebell ihm versichert hatte, die Löcher seien gut verdeckt; ohne ihn würde er die Baue wahrscheinlich gar nicht finden. Schließlich beschloß er, Bluebell und Pipkin mitzunehmen und außerdem jedes der Weibchen, das mitkommen wollte.

Als er sie alle zusammen hatte und gerade losziehen wollte, kam Bigwig hinzu, der sie fragte, wohin sie gingen und warum. Hazel erklärte es ihm, und da bat er, mitkommen zu dürfen. Hazel spähte hinaus, wo es immer noch schneite, und war ganz froh, daß er mitkam.

Auch bei dem Schnee war die Richtung kein Problem, denn es war nur eine kurze Strecke bis zum nördlichen Ende des Down, und dann ging es den steilen Hang ganz hinunter. Sie konnten indessen durch den Schnee kaum etwas sehen, und weder Bluebell noch Pipkin konnten sich an die Lage der Löcher erinnern und wußten auch nicht mehr, wie weit sie am Fuß des Hügels noch gehen mußten.

Nach einigem vergeblichen Suchen vermutete Pipkin, daß sie vielleicht zu weit gegangen wären und umkehren mußten, um nach einer ganz bestimmten Stelle zu schauen, an die er sich jetzt erinnerte. Diese Annahme erwies sich fast sofort als richtig, als Bluebell auf dem schneebedeckten Hang etwas höher geklettert war und auf eines der Löcher stieß, die eine Ansammlung von Disteln verdeckte.

Hazel und Bigwig fanden ihn, wie er über dem Loch hockte und verwirrt und unsicher hineinspähte.

»Hazel-rah«, sagte er, »wenn mich nicht alles täuscht, ist der Bau schon länger benutzt worden. Und außerdem glaube ich, daß in diesem Moment Kaninchen da unten sind.« Er rückte beiseite. »Sieh mal selber hinein.«

Hazel stieß seine Vorderpfoten durch den Schnee. Er war nicht ganz sicher, aber er glaubte doch vertiefte Kratzspuren in dem gefrorenen Boden und eine kleine Unregelmäßigkeit in der Öffnung zu spüren. Es roch auch nach Kaninchen. Er wandte sich zu Bigwig. »Ich glaube, er hat recht. Es sind tatsächlich Kaninchen da unten. Ich denke, wir gehen selber mal rein und sehen nach, wer das ist.«

Ungesäumt ging er in den Bau. Er wußte Bigwig hinter sich und war sicher, daß die anderen folgten. Es war ein recht langer Gang, ohne Hindernisse, aber soviel er sah, lauerte am Ende kein Feind auf ihn. Er kam in einen Wohnkessel und hielt an, um auf Bigwig zu warten.

Doch plötzlich sah er sich einem schweren, stämmigen fremden Weibchen gegenüber. Seine Haltung war feindselig, und hinter dem Weibchen drängte sich ein Häufchen junger Kaninchen zusammen.

»Was fällt dir denn ein, hier hereinzukommen?« schnaubte das Weibchen. »Raus hier, bevor ich -«

Es unterbrach sich, als es Bigwig hinter Hazel sah, und während es zögerte, kamen Bluebell und Pipkin herein, denen die Weibchen folgten.

»Ich glaube, du sagst uns lieber, wer du bist und was du hier machst«, sagte Hazel ruhig, aber fest. »Das ist unser Bau. Wir haben ihn gegraben.«

Das Weibchen zögerte immer noch, und da fragte Bigwig neben Hazel versuchsweise: »Wäre es möglich, daß du ... das heißt... ich meine ... könnte es sein, daß du Flyairth heißt und aus Thinial kommst?«

Das Weibchen schrak zusammen und zitterte vor Angst. Sein Verhalten war verändert. Bigwig sagte nichts mehr. Endlich erwiderte es: »Wer seid ihr? Wie könnt ihr wissen -« Es brach ab. Jetzt wiederholte Bigwig seine Frage mit größerer Zuversicht: »Ist dein Name Flyairth?«

»Dann bist du aus Thinial gekommen?« fragte das Weibchen.

»Nein, bin ich nicht«, antwortete Bigwig. »Zum dritten Mal jetzt: Heißt du Flyairth?«

Hazel griff jetzt ein. »Wir wollen uns alle erst einmal bequem hinsetzen und die Sache klären.« Er ließ sich nieder und fuhr dann fort: »Der Bau, in dem wir gewöhnlich wohnen, liegt etwas höher, nicht weit von hier. Wir haben diesen Bau hier letzten Herbst gegraben, um eine geschütztere Unterkunft zu haben, wenn es zu schneien anfängt. Wir wollen keinen Streit mit dir, aber natürlich sind wir überrascht, dich hier zu finden.«

Das Weibchen fragte Bigwig: »Woher weißt du meinen Namen und wo ich herkomme?«

»Das kann ich nicht erklären«, antwortete Bigwig, »jedenfalls nicht jetzt. Und ob du hierbleiben kannst, wird unser Leitkaninchen hier entscheiden.«

Doch das Weibchen beharrte auf seiner Frage. »Bist du denn in Thinial gewesen? Woher weißt du etwas von Thinial?«

»Im Moment spielt das keine Rolle«, sagte Hazel.

»Du sollst jedenfalls wissen, daß wir nicht deine Feinde sind. Du kannst bleiben, jedenfalls im Augenblick. Bigwig hier und ich gehen jetzt hinauf, um den Rest unserer Kaninchen herunterzubringen.«

»Ich möchte mitkommen«, sagte das Weibchen. »Ich bin noch nie auf dem Hügel gewesen, und ich müßte eigentlich dein Gehege möglichst bald kennenlernen.«

»Na schön«, meinte Hazel, »aber viel können wir dir heute Abend nicht zeigen. Ich will nur unsere Kaninchen so schnell es geht hier unten haben, und da sollen sie sich ihre Kessel suchen und sich schlafen legen.«

»Ich mache euch keine Ungelegenheiten«, sagte Flyairth. »Es ist Vollmond, da kann ich euch ganz leicht folgen.«

»Ist wirklich nicht weit weg«, meinte Hazel. »Wir sind nicht lange fort. Bluebell und Pipkin und ihr Weibchen, ihr bleibt hier, bis wir zurück sind. Wenn die anderen zwei Baue so gut sind wie der hier, Bluebell, dann haben wir Platz für uns alle.«

»Die lassen sich sogar noch ausdehnen, Hazel-rah«, erklärte Bluebell. »Je mehr Kaninchen du reinsetzt, um so größer werden sie - und um so wärmer.«

Als Hazel mit Bigwig und Flyairth den Bau verließ, war es Nacht geworden. Die Wolken waren aufgerissen, und der Vollmond, der auf den Schnee schien, gab ihnen viel Licht. Als sie oben auf dem Down angekommen waren, blieb Bigwig stehen, schnüffelte und schaute sich um.

»Moment mal, Hazel-rah. Da ist was ... irgendwas stimmt hier nicht.«

Auch Hazel machte Halt. »Du hast recht. Aber was es auch ist, mir gefällt es genausowenig wie dir. Und wir können nicht hierbleiben. Wir gehen langsam weiter und sichern nach allen Seiten.«

Vorsichtig näherten sich die drei Kaninchen der Waldecke. Nicht weit davor blieb Bigwig abermals stehen. »Auf dem Pfad, Hazel-rah. Etwas Schwarzes, ziemlich groß. Siehst du's?«

Hazel ging etwas näher heran und spähte nach vorn. »Ja, ich sehe es. Das kann doch unmöglich das sein, was ich glaube.«

»Was auch immer«, meinte Bigwig, »es bewegt sich nicht. Ich glaube auch nicht, daß es uns gesehen hat. Oder?«

»Nein«, antwortete Hazel. »Ich glaube auch nicht, daß es noch lebt.«

»Eine Falle?«

»Nein, keine Falle. Aber wie dem auch sei, wir müssen daran vorbei, wenn wir nach Hause wollen.«

Ganz langsam gingen sie weiter. Flyairth folgte Hazel etwas zögerlich, aber plötzlich blieben sie beide gleichzeitig stehen.

Neben dem Pfad lag ein regloser Mann im Mondlicht. Er lag auf der Seite, voll bekleidet einschließlich Stiefeln und einer Wollmütze. Die Schleifspuren im Schnee verrieten ihnen, daß er ein Stück weit vom Pfad weggezogen worden war. Die Augen waren geschlossen, und sein Gesicht sah irgendwie verzerrt aus.

»Laßt ihn in Ruhe«, sagte Bigwig, »ist mir egal, ob er tot ist oder nicht. Laßt ihn einfach liegen.«

Flyairth, offensichtlich nervös, blieb bei Bigwig, während Hazel schnüffelnd zu dem Mann ging. »Der ist nicht tot. Ich habe seinen Atem gespürt. Aber einverstanden: Wir lassen ihn in Ruhe.«

»Sieh dir den Schnee an«, sagte Bigwig. »Siehst du was? Die waren zu zweit und gingen nebeneinander. Der hier fiel dann um, ganz plötzlich, denke ich, und der andere hat ihn hierher gezogen und ihn liegenlassen. Dann ist er zurückgegangen, auf demselben Weg, auf dem sie gekommen sind.«

»Sollten wir nicht lieber umkehren?« fragte Flyairth. »Das ist doch sicher gefährlich. Menschen, auch solche wie der hier, sind immer gefährlich.«

»Nein, nein, das geht schon in Ordnung«, sagte Bigwig ungeduldig. »Wir sind sowieso gleich am Ziel.«

Sie wandten sich ab und gingen in den Wabenbau und weiter zu den Schlafkammern, wo ihnen als erstes Kaninchen Holly entgegenkam. »Alles noch gut da unten, Hazel-rah?«

»Ja, alles prächtig. Das ist übrigens Flyairth. Sie kommt zu uns. Ich muß jetzt unbedingt nochmals kurz mit Vilthuril und Fiver sprechen. Kannst du die erwischen, Holly?«

Hazel und Bigwig nahmen Vilthuril und Fiver dann mit zurück in den Wabenbau, um möglichst niemanden zu treffen, bevor sie fertig sein würden. Flyairth kam mit.

»Ich habe eine Überraschung für dich, Vilthuril«, sagte Hazel. »Wer, glaubst du, ist das? Das rätst du nie, also sag ich's dir: Flyairth von Thinial.«

Fiver war genauso überrascht wie Vilthuril.

»Wieso ist sie hergekommen?« fragte Holly. »Weiß sie von uns?«

»Nein, aber das wird sie dir alles später selber erzählen. Ich hab' ihr gesagt, daß sie bleiben kann, samt einigen Kaninchen, die sie mitgebracht hat. Aber im Augenblick ist es unsere Aufgabe, alle zu verständigen, daß sie sich fertigmachen sollen, um in den Winterbau umzuziehen. Sagst du allen Bescheid?«

Hazels Nachrichten verbreiteten sich schnell, und die Kaninchen versammelten sich neugierig im Wabenbau.

»Wer sind die anderen Kaninchen bei ihr?« fragte Hyzenthlay.

»Ich weiß noch nicht, aber ich glaube, es ist ihre Familie. Ihr letzter Wurf.«

»Hat sie dir erzählt, wie sie hergekommen ist? Oder was sie hergetrieben hat?«

»Das ist eine zu lange Geschichte, um sie jetzt zu erzählen. Du kannst sie morgen fragen. Sind alle hier? Auf geht's, hinunter zum Winterbau.«

Er marschierte zum Ausgang einer Röhre, Flyairth und Bigwig hinter sich. Doch kaum hatte er den Kopf hinausgestreckt, erstarrte er und lauschte angestrengt.

»Was ist, Hazel-rah?« fragte Bigwig. »Was ist los?«

»Ein hrududu«, antwortete Hazel, »er fährt genau hierher, sehr schnell. Siehst du die Lichter?«

Als sie durch den Ausgang spähten, er, Flyairth und Bigwig, kam der hrududu holpernd und rutschend auf sie zu. Flyairth zitterte, drehte sich um und wäre durch die Kaninchen hindurch davongestürzt, wenn Bigwig sie nicht aufgehalten hätte.

»Wir sind nicht in Gefahr«, sagte Bigwig scharf. »Nimm dich zusammen. Das ist nicht der Moment, tharn zu werden, da jeder im Unklaren ist, was eigentlich geschieht. Bezwing dich!«

Flyairth, wiewohl vor Angst halb verrückt, gehorchte, während der hrududu schlingernd bremste, zehn Kaninchenlängen von ihnen entfernt.

»Der Mann, der da im Schnee liegt«, sagte Bigwig, »deswegen kommen sie. Das ist der Grund.«

Noch bevor der hrududu anhielt und wieder kehrtmachte, waren zwei Männer abgesprungen und zu dem Mann gerannt.

»Pack ihn an den Schultern, David. Ich nehme die Beine.«

»Lebt er noch?«

»Weiß nicht. Bringen wir ihn erst mal in den Jeep.«

Die Männer brachten es fertig, ihre schwergewichtige Last in den Jeep zu heben.

»Fahr nicht zu schnell, Alan. Möchte ihn mir mal ansehen. Außerdem wollen wir ihn nicht mehr durchschütteln als nötig.«

Der hrududu fuhr zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Stille herrschte. Erst nach längerer Zeit brachten Hazel und Bigwig die anderen Kaninchen hinaus ins Freie und dann den Hang hinunter. Flyairth schwankte und konnte kaum mithalten; nur dank der Ermutigung durch Hyzenthlay war es ihr möglich, die Baue am Fuß des Hangs zu erreichen.

Hazel ging mit einigen seiner Veteranen in den Bau, in dem er Bluebell und Pipkin zurückgelassen hatte. Hyzenthlay folgte ihm mit Flyairth. Innen war es nun sehr gedrängt, aber niemand beklagte sich, und niemand ging fort.

Hazel legte sich im Dunkel neben Hyzenthlay. Nach einiger Zeit wisperte Vilthuril, die in der Nähe lag: »Ist Flyairth wirklich hier?«

»Ja, auf meiner anderen Seite. Willst du ihr von dem Geheimen Fluß in Efrafra erzählen.«

»Nein, jetzt nicht. Es wäre wohl besser, daß ich ihr später davon erzähle.«

»Ja, ich glaube, du hast recht. Im Augenblick sollte man sie in Ruhe lassen. Für einen Tag hatte sie schon genug Überraschungen.«

Wenn die anderen Kaninchen erwartet hatten, daß Hazel ihnen über die Neuankömmlinge berichten würde, hatten sie sich getäuscht. Weder er noch Bigwig gaben irgendeine Erklärung über Flyairth ab. Hazel legte sich einfach schlafen, und bald taten alle anderen das auch. Flyairth war noch eine Weile unruhig und nervös, aber als die vielen Leiber das Innere auf natürliche Art erwärmten, löste sich ihre Spannung allmählich, und sie schlief so tief und gut wie alle anderen. Mitten in der Nacht wachte Hazel auf, schlüpfte hinaus und inspizierte die anderen beiden Baue, um sich zu überzeugen, daß alles in Ordnung war. Das war es, aber Hazel ging nicht zu seinem Platz neben Hyzenthlay zurück, sondern legte sich dort schlafen, wo er gerade war.

Am nächsten Tag bemühte er sich nicht sonderlich, Flyairth zu befragen. Nach dem ziemlich hoffnungslosen Versuch, draußen etwas silflay zu finden, kehrte er in den Bau zurück, um zu dösen wie jedes Kaninchen im Winter. Im Lauf des Tages fragten ihn mehrere Männchen und Weibchen, ob er ihnen nicht etwas über die mysteriösen Umstände von Flyairths Erscheinen erzählen wolle, aber er erwiderte ihnen nur, daß sie sie ja selber fragen könnten; je mehr Kaninchen sie kennenlernte, je mehr Gesprächspartner sie fand, um so besser für beide Teile. Seiner Meinung nach unterschied sie nichts von anderen Kaninchen. Nur Fiver teilte er mehr mit.

»Was hältst du von ihr?«

»Sie fällt irgendwie aus dem Rahmen«, antwortete Fiver. »Ein gewöhnliches Kaninchen ist sie nicht. Sie hat eine Menge im Kopf, Dinge, über die sie nicht sprechen wird, oder jedenfalls noch nicht. Aber was das auch sein mag, sie ist harmlos. Sie ist nicht verrückt, so wie der arme Silverweed im Gehege von Cowslip. Das war sicher richtig, daß du es ihr überlassen hast, sich hier einzufügen, und daß du abwartest, was passiert. Und es wird tatsächlich etwas Ungewöhnliches passieren, Vilthuril und ich sind dessen ganz sicher. Aber natürlich können wir sie nicht in diesen Schnee und in diese Kälte hinausschicken. Wollen mal sehen, wie sie sich mit unseren Kaninchen verträgt. Da erfahren wir schon mal eine ganze Menge. Wir brauchen sie nicht in irgendeiner Weise besonders zu behandeln, oder jedenfalls jetzt noch nicht.«

An diesem Nachmittag kam Flyairth von selbst zu Hazel.

»Hazel-rah, wieso hattet ihr gestern Abend keine Angst vor den Männern, du und Bigwig? Ich hatte mehr Angst als jemals zuvor.«

»Ach ja, weißt du, wir sind ja mehr oder weniger schon an sie gewöhnt«, antwortete Hazel. »Ich war sicher, daß sie uns nichts tun.«

»Aber Menschen! Und so nahe! Das ist doch unnatürlich bei Kaninchen. Das muß doch gefährlich sein!«

Hazel sagte darauf nichts mehr, und nach einer Pause fragte Flyairth: »Sind jetzt alle Kaninchen hier unten?«

»Ja«, erwiderte Hazel. »Oben ist niemand mehr. Wir gehen erst wieder zurück, wenn es wärmer wird.«

»Ich habe gestern Abend natürlich nicht viel sehen können. Gehst du noch einmal mit mir dorthin? Einige hier haben mir das Gehege beschrieben, und ich hätte es gern noch einmal gesehen.«

»Jetzt?« fragte Hazel, etwas schläfrig.

Sie beharrte darauf. »Ja. Jedenfalls bevor es dunkel wird.«

Hazel, gutmütig wie immer, war einverstanden und überredete Bigwig mitzukommen. Die drei kletterten den steilen Hang hoch und gingen zum Pfad und zu den Bäumen. Flyairth sah sich im verharschten Schnee genau die Reifenspuren vom hrududu an.

»Gehen oft Menschen auf diesem Pfad?« fragte sie.

»Ja, im Sommer, ziemlich viele.«

Flyairth folgte ihnen das kurze Stück zu den Löchern, die hinunter in den Wabenbau führten. Sie war voller Bewunderung und sah sich genau den Gang an, in dem Bigwig General Woundwort bekämpft und besiegt hatte.

»Die Kaninchen von Efrafra wollten euch umbringen und euch das Gehege wegnehmen?«

Sie erzählten ihr vom Hund, und wie Hazel von der Farm zurückgebracht worden war.

»Das ist großartig«, sagte sie. »Welcher Mut! Hast du keine Angst gehabt?«

»Wir hatten alle Angst«, erzählte ihr Hazel. Er wollte nicht wie einer wirken, der sich großtut, und fuhr fort: »Es war in Wirklichkeit El-ahrairah, der uns gerettet hat. Dandelion wird dir alles erzählen, wenn dir daran liegt. Er ist unser Geschichtenerzähler.«

Als sie die Schlafkessel gesehen hatten und wieder hinausgehen wollten, verhielt sie am Ausgang von Kehaars Gang und schaute sich noch einmal um. »Du sagst, daß Menschen über diesen Pfad gehen. So nahe am Gehege? Und sie haben euch noch nie was getan?«

»Es gibt eigentlich auch keinen Grund dafür«, antwortete Bigwig. »Sie bauen hier nichts an, kein flayrah oder so was.«

»Aber sie müssen doch wissen, daß ihr hier seid. Die Blindheit. Fürchtet ihr die Blindheit nicht?«

»Nein. Ich glaube auch nicht, daß die Menschen hier etwas gegen uns haben.«

»Die Menschen könnten euch alle vernichten, indem sie euch mit der Blindheit anstecken. Wißt ihr das nicht?«

»Sie könnten es vielleicht«, meinte Hazel, »aber wir glauben nicht, daß sie es tun.«

Flyairth äußerte sich nicht mehr dazu. Als sie den Hügel hinuntergingen, kam sie auf die Frage zurück, wieso Bigwig ihren Namen und den von Thinial kannte. Sie war sich offenbar ziemlich sicher, daß er ihr mehr darüber sagen könnte, wenn er wollte, doch wenn er sie auch nicht einfach abwies, so bekam sie doch nichts aus ihm heraus.

Als Hazel und Bigwig später allein waren, fragte Hazel, woher er überhaupt gewußt hatte, daß sie Flyairth von Thinial war.

»Nun ja, als Vilthuril uns kurz davor von Thinial und der Anführerin erzählt hatte, hatte ich eine ganz lebhafte Vorstellung von ihr«, antwortete Bigwig, »und als wir sie in unserem Bau antrafen, sah sie genauso aus und roch auch so, wie ich sie mir vorgestellt hatte.«

»Ich wünschte, du wärst nicht so damit herausgeplatzt«, sagte Hazel. »Jetzt denkt sie, wir hätten die magische Kraft, Gedanken zu lesen.«

»Haben wir ja auch«, entgegnete Bigwig, »dank Vilthuril. Schadet ja nichts, wenn Flyairth das glaubt. Ich weiß, gestern Abend war sie voller Angst, aber sie hat trotzdem große Willenskraft. Wenn wir nicht aufpassen, macht sie mit uns, was sie will.«

Der Frost dauerte an, und es gab weitere Schneefälle. Die Kaninchen waren imstande, die Kälte zu ertragen, aber kaum den wachsenden Hunger; selbst Bluebell konnte keine Witze mehr darüber machen. Blackavar führte eine Expedition von Weibchen zur Farm, aber wegen der Katzen blieb ihre Ausbeute gering. Die meisten Kaninchen blieben unter der Erde, aneinander gekuschelt; selbst Holly und Bigwig waren froh, daß sie ein wenig an dem bißchen Wärme im Bau teilhaben konnten.

Eines Nachts, als sich Hyzenthlay, Vilthuril und Thethuthinnang zusammen gegen Hazel, Fiver und Bigwig drückten, fragte Vilthuril: »Hat euch Flyairth erzählt, wie sie Thinial verlassen hat und hierhergelangt ist?«

»Nein«, antwortete Bigwig. »Ich wollte sie schon bitten, uns das zu erzählen, aber Hazel meinte, man solle sie in Ruhe lassen, bis sie sich hier eingelebt hätte.«

»Also, mir hat sie's erzählt«, sagte Vilthuril, »und hat mir nicht verboten, es weiterzusagen. Sie ist wahrscheinlich sogar froh, wenn ich es euch erzähle, dann braucht sie es nicht zu tun. Irgendwie schien sie sich fast zu schämen, obwohl ich keinen Grund dafür sah, und das habe ich ihr auch gesagt.«

»Hast du ihr schon einmal vom Geheimen Fluß gesprochen?« fragte Hazel.

»Nein. Aber mir wäre es lieber, sie hörte es von einem von uns dreien, die wir in Efrafra davon wußten. Im Augenblick kann sie sich noch nicht vorstellen, wieso wir von ihr wußten, und so ist ihr verständlicherweise etwas unbehaglich zumute, weil wir so viel von ihr wissen, während sie selber noch im Dunkeln tappt.«

»Ja, es ist sicher besser, daß du ihr das sagst«, meinte Hazel. »Aber was ist in Thinial passiert, daß sie dort wegging?«

»Du weißt doch noch«, sagte Vilthuril, »daß ich dir erzählt habe, was wir vom Geheimen Fluß erfuhren, daß sie nämlich wütend war, als ein paar in Thinial die Jungen von dem armen Weibchen reinbrachten - wie hieß sie noch?«

»Milmown«, warf Hyzenthlay ein.

»Richtig, Milmown. Sie brachten die Jungen nach Thinial und gaben ihnen einen leeren Bau. Flyairth wollte sie ausweisen, aber Milmown hatte zu viele Freundinnen, und die Niederlage in dieser Auseinandersetzung schwächte Flyairths Stellung als Leiterin des Geheges. Das war das Letzte, das ich vom Fluß erfuhr.

Sie hat mir dann selbst erzählt, daß sie im Laufe der Zeit immer mehr an Autorität verlor, nicht sosehr wegen Milmowns Jungen, sondern weil sie an nichts anderes mehr denken konnte als an die Weiße Blindheit. Sie war besessen davon und brachte dauernd neue Ideen vor, wie man eine Ansteckung in Thinial verhindern könnte, Ideen, welche die meisten in ihrer Owsla nur als Ärgernis empfanden, als unnötige Maßnahmen, die ohne Not jedermann im Gehege nur belästigten. Hätte sie sich nur von dieser Besessenheit befreien können, hätten die anderen den Streit mit ihr vergessen.

Aber sie ließ nicht davon ab. Und eines Tages, als die Owsla einen Vorschlag von ihr zurückwies, sagte sie etwas Verhängnisvolles, nämlich, wenn man ihren Vorschlag nicht annehme, verlasse sie Thinial samt Familie. Obgleich nun alle ihren Weggang als großen Verlust betrachteten, gingen sie trotzdem nicht auf ihren Vorschlag ein, und folglich mußte sie gehen.

Das war im vorigen Spätsommer und recht warm, so daß sie mit der Familie die meisten Nächte im Freien verbringen konnte. Was elil anlangt, hat sie mir erzählt, daß sie sogar selbst mit einem Wiesel gekämpft und es getötet hat. Irgendwie hatte sie einmal von Efrafra gehört, und sie beschloß, dorthin zu gehen. Sie wußte natürlich nicht, wie es da zuging, nur, daß es ein streng geführtes Gehege war, was ihr durchaus zusagte, und sie glaubte, man würde sie dort gern aufnehmen.

Doch dann erfuhr sie, daß Woundwort und seine Efrafranier von uns geschlagen worden waren. Also änderte sie ihren Plan und beschloß, zu uns zu kommen. Aber als sie am Fuß des Downs angekommen war, hatten ihre Jungen kaum noch Kraft; sie waren hrair Tage hergewandert, erzählte sie mir, und als sie auf diese Baue hier stieß, alle sauber und leer, entschied sie, einen davon zu besetzen. Als ihr sie gefunden habt, hatte sie schon eine ganze Weile darin gewohnt und ihn nun einfach als ihr Eigen betrachtet. Aber sie fühlt sich jetzt auch mit uns wohl. Wenn nur diese schauerliche Kälte nachließe, meinte sie.«

»Wir haben sie alle gern«, meldete sich jetzt Thethuthinnang. »Sie ist wirklich die netteste Kaninchendame, die man sich wünschen kann. Sie hat schon eine Menge Freunde hier. Sie ist so herzensgut und lieb.«

»Wenn sie nur nicht so von dieser Blindheit besessen wäre«, sagte Hyzenthlay. »Ich hab' sie kürzlich gefragt, ob sie nicht auch meint, es sei jetzt an der Zeit, das zu vergessen. Aber sie hat nur zurückgefragt, ob ich je ein Kaninchen mit dieser Blindheit gesehen hätte.«

»Hast du?« fragte Bigwig.

»Hab' ich nicht, das weißt du doch.«

»Also ich hab' auch Angst davor, wenn wir schon davon sprechen«, sagte Hazel.

»Ja, aber du denkst nicht die ganze Zeit daran. Im Gegensatz zu Flyairth. Das ist ihr einziger Fehler, möchte ich sagen. Was meinst du, Fiver?«

»Ich denke wie sie: Wenn nur diese schauerliche Kälte nachließe«, antwortete Fiver. »Wir leben jetzt unter schwierigen Bedingungen. Je eher wir wieder zu unserem normalen Leben zurückkehren können, desto eher können wir uns auch ein klares Bild von ihr machen.«

»Ich habe jetzt schon ein klares Bild«, sagte Hyzenthlay. »Ich halte sie für eines der klügsten und vernünftigsten Kaninchen, die ich je gesehen habe. Thinials Verlust ist unser Gewinn, wenn ihr mich fragt.«

Einige Tage später trauerten Hazel und seine Veteranen über den Tod von Acorn, einen der ursprünglichen Mannschaft, die mit ihm von Sandleford gekommen war. Die Kälte und der Hunger waren für Acorn zuviel gewesen. Selbst Bigwig, der sich nie viel aus Acorn gemacht hatte, war über den Verlust sehr bekümmert. »Da haben wir ihn den langen Weg hergebracht, Hazel-rah, und er hat mit uns gegen die Efrafranier gekämpft und ist auch mit dem Boot den Fluß hinuntergefahren, und jetzt hüpft er hier nicht mehr herum. Er wird mir fehlen, er wird mir wirklich fehlen.«

»Der wird uns allen fehlen«, sagte Hazel. »Ich hoffe nur, daß er der einzige ist, den wir verlieren. Sie sehen alle so dünn und durchgefroren aus - also, ich würd' mich nicht wundern, wenn noch weitere bald nicht mehr hier herumhüpfen.«

Doch schon ein paar Tage später konnte Hazel seine Befürchtungen vergessen, als Tauwetter einsetzte. Schnee und Eis schmolzen, und das Schmelzwasser rann erst tröpfchenweise, dann aber in Rinnsalen den Hang hinunter, die sich unten am Fuß des Hügels zu einem Bächlein vereinigten. Alle waren dafür, sofort zum Wabenbau zurückzukehren, aber Hazel wartete noch einen Tag, bis er sicher sein konnte, daß es weiter taute und die Zeit des Frosts vorüber war.

Der Empfehlung Kehaars und der eigenen Überzeugung vertrauend, dachte er gleich an die Wiederaufnahme des Projekts eines neuen Geheges. Abermals mußte die Möwe als Vermittler dienen, und er, Bigwig und Campion trafen sich am neuen Bauplatz. Sie verabredeten, mit Campions nachdrücklicher Zustimmung, daß sich Kaninchen aus beiden Gehegen in zwei bis drei Tagen dort treffen sollten. Groundsel - einer der früheren Efrafra-Offiziere, die nach der Niederlage von Woundwort im vorigen Sommer in Hazels Gehege aufgenommen worden war - wurde zum Leitkaninchen des neuen Geheges bestimmt, und Buckthorn, Strawberry und der Efrafra-Hauptmann Avens sollten den Kern seiner Owsla bilden.

Etwa zwölf Kaninchen vom Watership Down machten sich unter Führung von Bigwig auf die Wanderung. Nach seiner Rückkehr erzählte er Hazel, daß sie sich offenbar recht fröhlich mit den Kaninchen aus Efrafra vermischt hätten. Kein elil hatte sie bis jetzt gestört. Niemand war getötet worden, und das Graben im Hang hatte einen guten Anfang genommen. Hazel war es sehr recht, daß Groundsel die Führung dort hatte, zumindest zur jetzigen Zeit; er widmete sich jetzt wieder seinem eigenen Gehege.

Es fiel ihm auf, daß Flyairth zum Mittelpunkt einer Gruppe junger Weibchen geworden war, die mit Hyzenthlay seinerzeit aus Efrafra geflohen waren. In deren Gegenwart fühlte sie sich sichtbar wohl; wie es Hazel schien, hatte sie deren Achtung gewonnen. Die Weibchen behandelten sie ehrerbietig und waren offenkundig dankbar für die Wärme und Freundlichkeit, mit der Flyairth ihnen begegnete. Mit einem jüngeren Weibchen namens Flesca fing er ein Gespräch an und fragte es, wie sie mit Flyairth auskäme.

»Oh, wir haben uns alle sehr mit ihr angefreundet, Hazel-rah«, sagte Flesca. »Sie hat uns viel von dem Gehege erzählt, aus dem sie kam, und wie sie und ein anderes Weibchen es gegründet hatten. Sie war die Anführerin, und ihre Owsla bestand nur aus Weibchen. So etwas habe ich noch nie gehört. Und du?«

»Ich auch nicht«, antwortete Hazel, »aber es überrascht mich nicht sehr. Jedenfalls bin ich froh, daß ihr sie alle mögt.«

»Und sie ist so lustig«, fuhr Flesca fort, »und offenbar ist sie gern mit uns zusammen. Wir haben ihr von der Flucht aus Efrafra erzählt und wie Kehaar sich auf General Woundwort gestürzt hat, um uns bei der Flucht zu helfen. Sie meinte, das hätte sie auch gern gemacht, und wünschte, sie hätte Flügel wie Kehaar. Ein fliegendes Kaninchen, das wäre doch mal was Neues, sagte sie. Dann hat sie mich gefragt, ob ich ihr nicht ein Paar Flügel besorgen könnte und mir selber auch, und dann würden wir zusammen nach Efrafra fliegen. Ich mußte ja soo lachen!«

Der überlange Winter hatte in der Nähe des Geheges so wenig Gras übriggelassen, daß Hazel mit einer Suchmannschaft aufbrach, mit jedem, der mitkommen wollte, um irgendwo auf dem Down etwas zu finden, das ergiebiger war. Flyairth war sofort dabei und brachte zwei oder drei Weibchen und ihrem eigenen Nachwuchs mit.

Sogar auf dem Hügelkamm war es schwer, auf dem nassen Boden zu gehen, überall waren kleine Pfützen. Sie fanden eine Menge groben Grases, das zwar eßbar, aber nicht sehr appetitlich war. Auf der Suche nach besserem Gras verteilten sie sich, doch trotz der großen Abstände fühlte sich keiner gefährdet. Der Down war nach allen Richtungen leer, und der Wind wehte keinen elil-Duft heran, sondern nur die vertrauten Gerüche von Wacholder und Thymian. Nach den Tagen der Enge in den frostverriegelten Bauen wirkte die Weiträumigkeit so belebend und erregend, daß manche Kaninchen herumhüpften und Nachlaufen spielten, fast wie Hasen. Auch Hazel genoß die Befreiung und nahm fröhlich teil an einem Scheinkampf mit Buckthorn und Strawberry unter den Wacholderbüschen. Er lief vor Buckthorn weg, den steilen Nordhang hinunter, verhielt plötzlich vor einem Dornbusch, verlor das Gleichgewicht und rollte gegen einen nassen, hohen Grasbüschel. Er rappelte sich auf, und da sah er erschreckt einen Hund hügelan auf sich zu rasen, der schon vor Aufregung jaulte. Es war ein glatthaariger Foxterrier, weiß mit braunen Flecken, triefend naß und verdreckt von den Gräben und Furchen weiter unten. Hazel machte kehrt und rannte mühsam hügelaufwärts, wußte aber, daß er auch mit seinem besten Tempo nicht schnell genug war; der Hund holte ihn ein. Hazel schlug verzweifelt Haken, hin und her, doch er spürte schon den Atem des Hundes, der immer näher kam, fast schon über ihm war.

In diesem Augenblick stürmte ein anderes Kaninchen den Hang hinunter und rannte blindlings, ohne innezuhalten, ohne sein Tempo zu vermindern, mit voller Wucht in die linke Flanke des Hundes. Hund und Kaninchen fielen zusammen hin und waren für kurze Zeit eine zuckende, tretende, schlagende Masse. Das Kaninchen kämpfte sich als erstes frei, während der Hund, noch durch die Überraschung benommen, erst allmählich auf die Beine kam, doch auf dem Steilhang sofort wieder das Gleichgewicht verlor, hinfiel und auf den Rücken rollte. Das hurtigere Kaninchen fand schnell wieder Halt und rannte weg, während Hazel einen sicheren Abstand zum Hund gewann.

Der Hund stand mühsam wieder auf und schaute mit dem Ausdruck größter Verblüffung um sich, und als eine menschliche Stimme ihn von unten rief, lief er hinab, körperlich zwar völlig intakt, doch ganz offensichtlich nicht mehr in der Verfassung, weiterhin Kaninchen zu jagen.

Hazel war kaum weniger verblüfft. Der Schrecken über den plötzlich aufgetauchten Hund und das abrupte Ende der Verfolgung, verbunden mit seiner unerwarteten Fluchtmöglichkeit, hatten ihn in Verwirrung gestürzt. Er humpelte ein paar Schritte hügelan, blieb aber dann stehen; er wußte nicht, wohin er sich wenden sollte, wußte nur, daß er in Sicherheit war. Auf einmal wurde ihm bewußt, daß ein anderes Kaninchen neben ihm verharrte und ihn jetzt ansprach: »Alles in Ordnung? Soll ich dich vielleicht erst noch ein Stückchen begleiten?« Es war Flyairth.

»Warst du das etwa ... die den Hund gerammt hat?« fragte er.

»Ja. Die Hanglage war sehr günstig für uns, nicht wahr?«

»Ich hab' noch nie gehört, daß ein Kaninchen einen Hund angreift.«

»Es war ja auch kein richtiger Angriff. Es war eben sehr leicht, ihn umzurennen, aber ich wollte auch nicht warten, bis er mich beißt. Zum Glück hat ihn sein Herr gerufen.«

»Du hast mir das Leben gerettet.«

»Da bin ich mir nicht so sicher, aber ich freue mich, daß ich dir helfen konnte. Wollen wir wieder raufgehen? Ist wohl an der Zeit, daß wir nach Hause kommen.«

Zurück in seinem eigenen Kessel im Wabenbau, schlief Hazel eine Weile, ging aber dann auf die Suche nach Bigwig und Fiver. Er fand sie beide im Kessel von Bigwig, zusammen mit Hyzenthlay und Vilthuril.

Er erzählte ihnen, was vorgefallen war.

»Das war aber mutig«, sagte Bigwig. »Ich weiß nicht, ob ich so etwas getan hätte, sogar für dich, Hazel-rah. Allerdings hat sie ja ein schönes Gewicht einzusetzen. Aber du meine Güte! Auf einen Hund loszugehen! Das hat Woundwort versucht, und du weißt, was ihm passiert ist.«

»Das war ein viel größerer Hund«, sagte Hazel. Er wandte sich an Vilthuril: »Du wolltest sie doch nach einigen Dingen fragen. Nach dem Geheimen Fluß. Ich will mal sehen, ob ich sie finde.«

»Leitkaninchen bemühen sich nie selbst, sie entsenden jemanden«, sagte Bigwig.

Hazel antwortete nicht darauf; er verschwand im Gang neben dem Kessel.

Als Flyairth sich zwischen ihnen niedergelassen hatte, sagte Hazel: »Ich habe den Kaninchen hier erzählt, was du heute Nachmittag für mich getan hast. Du hast mir das Leben gerettet, und ich werde dir das nie vergessen.«

»Das wird bestimmt keiner von uns vergessen«, meinte Bigwig. »Machst du so was öfter?«

»Es hat sich nie so ergeben«, antwortete Flyairth. »Jetzt war es einfach ein Impuls, und ich weiß auch nicht, ob ich je wieder so etwas wagen würde. Und dabei wollen wir's bewenden lassen, wenn's euch recht ist.«

»Na gut, wir haben dich jetzt hergebeten, damit Vilthuril dir etwas ganz anderes erzählen kann. Wieviel weißt du über den Geheimen Fluß, wie er in Efrafra hieß?«

»So gut wie nichts«, antwortete Flyairth. »Ich habe mal gehört, wie der erwähnt worden ist, aber nicht von einem, der vorgab, viel darüber zu wissen.«

»Also, Vilthuril wird dir jetzt etwas darüber erzählen.«

Vilthuril berichtete erneut, wie sie auf den Geheimen Fluß gekommen war und wie sie, Hyzenthlay und Thethuthinnang, auf diese ungewöhnliche Weise von Flyairth und Prake erfuhren, die ein Gehege namens Thinial gründeten, mit einer Owsla von lauter Weibchen. Sowenig wie möglich kam sie auf Flyairths Sorge wegen der Weißen Blindheit zu sprechen, erwähnte jedoch Milmown und ihren Wurf und wie die Jungen nach Milmowns Tod gegen Flyairths Willen nach Thinial gebracht wurden.

»Und du weißt ja noch, wie du mir selbst gesagt hast«, schloß sie, »daß du und deine Jungen Thinial verlassen haben, weil die Owsla nicht mit deinen vorgeschlagenen Maßnahmen gegen die Weiße Blindheit einverstanden war. Du bist dann nach Efrafra gegangen, doch Frith sei Dank, bist du dann statt dessen hergekommen.«

Eine Weile schwieg Flyairth, scheinbar nicht imstande, ein solches Phänomen, wie von Vilthuril beschrieben, eine so seltsame Sache wie den Geheimen Fluß in sich aufzunehmen. Endlich sagte sie: »Es muß ja wahr sein, was du erzählt hast, sonst hättest du von Thinial und der armen Milmown und dem Streit mit meiner Owsla nichts wissen können. Aber trotzdem - wie ist das möglich? Ich habe nie so etwas wie von deinem Geheimen Fluß gehört. Das hat mir richtig die Sprache verschlagen, das kann ich euch sagen.«

»Gedankenübertragung«, meinte Fiver. »Kehaar kennt das. Er sagt, das ist bei Vögeln, die wie Möwen in Schwärmen leben, ganz gang und gäbe. Und du hast so ein absonderliches Leben in Efrafra geführt, all deine natürlichen Instinkte unterdrückt -«

»Aber über diese Entfernung -«

»Kehaar sagt, daß die Menschen Methoden haben, sich Neuigkeiten mitzuteilen, die viel unglaublicher sind. Über hrair Meilen durch die Luft, sagt er.«

Flyairth war immer noch wie vor den Kopf gestoßen und auch, wie es Hazel vorkam, etwas verstimmt darüber, daß sie offenbar nicht wie andere Kaninchen die Idee des Geheimen Flusses einfach annehmen konnte. Er sagte: »Also, wir wollen jetzt nicht weiter darüber reden. Ich tappe da sicher genauso im Dunkeln wie alle anderen. Aber ich habe zwei Fragen an dich, Flyairth, glaube allerdings, daß wir eine Antwort schon kennen. Hat irgend jemand in Thinial dieses Wissen gesendet, das der Fluß unseren Kaninchen übermittelt hat? Soviel du weißt, ist die Antwort darauf: Niemand. Die zweite Frage lautet: Wie weit weg ist Thinial? Wo liegt es?«

»Das muß sehr weit entfernt von hier sein«, erwiderte Flyairth. »In Richtung Sonnenuntergang. Ich habe mit meinen Jungen hrair Tage gebraucht, um hierherzukommen.«

»Weder du noch sonst jemand könnte dorthin zurückgehen?«

»O nein. Viel zu weit.«

»Kehaar würde es wahrscheinlich finden«, warf Blackberry ein.

»Wir brauchen das auch nicht zu wissen«, sagte Hazel. »Ich wollte nur wissen, ob andere Kaninchen aus Thinial möglicherweise hier auftauchen werden. Die Antwort heißt: Höchst unwahrscheinlich.«

»Hazel-rah«, fragte Flyairth, »wie kommt es, daß du mich nie gefragt hast, ob ich nicht lieber mit Groundsel gegangen wäre, der die Kaninchen zum neuen Gehege geführt hat? Ich wäre sehr gern mit ihnen gegangen, nur, ich habe nichts mehr von ihnen gehört. Als es taute, waren sie auf einmal weg.«

»Es tut mir leid, es kam mir einfach nie in den Sinn, dich zu fragen«, antwortete Hazel. »Weißt du, wir wußten ja schon vor dem Frost, welche von unseren Kaninchen mitgehen sollten. Das war alles schon abgemacht, und unsere Kaninchen wären schon vor deiner Ankunft von hier weggegangen, wenn nicht der Frost plötzlich eingesetzt hätte. Und als es taute, haben wir einfach da weitergemacht, wo wir aufgehört hatten.«

»So wenige haben Groundsel begleitet«, sagte sie. »Wenn's nach mir gegangen wäre, ich hätte das ganze Gehege mitgenommen.«

»Aber zufällig warst du ja nicht das Leitkaninchen, oder?« warf Bigwig ein.

»Ich wäre liebend gern mit ihm gegangen.« Nach einer Pause dann: »Hazel-rah, ich würde gern deiner Owsla etwas sagen, etwas sehr Wichtiges. Aber in diesem Gehege kenne ich mich nicht aus. Wer ist in der Owsla und wer nicht? Ich weiß nicht Bescheid.«

»Ja, das ist unser Fehler«, sagte Hazel. »Weißt du, wir sind zusammen hergekommen und haben alle möglichen Gefahren zusammen durchgestanden, so wie den Kampf mit General Woundwort, und wir haben nie eine Owsla gebraucht, die Befehle erteilt hätte und so was. Wir sind alle in der Owsla. Und es funktioniert auch.«

»Ja, ich weiß, daß es funktioniert«, bestätigte Flyairth. »Ihr seid alle so zufrieden und vertragt euch so gut. Niemand hat hier Feinde, soweit ich sehe.«

»Also dann«, sagte Hazel, »was ist das für eine wichtige Sache? Du kannst es auch uns sagen, und wir werden dir aufmerksam zuhören, das verspreche ich dir.«

»Ich glaube, ihr wißt schon, worum es geht«, erwiderte Flyairth. »Um die Weiße Blindheit. Keiner hier scheint zu wissen, wie sie wirkt, keinem ist diese schreckliche Gefahr bewußt. Keiner von euch hat jemals ein Kaninchen mit der Weißen Blindheit gesehen oder gesehen, wie sich die Blindheit in einem Gehege ausbreitet. Es ist unbeschreiblich grauenhaft, die weitaus größte Bedrohung aller Kaninchen, schlimmer als alle die Tausend zusammengenommen. Kaninchen, die noch leben, verwandeln sich in herumtastende, verfaulende Häufchen Elend. Ich weiß, ihr haltet mich für besessen. Aber das wärt ihr auch, hättet ihr gesehen, was ich gesehen habe. Wie Menschen überhaupt so grausam sein können, um Kaninchen mit der Weißen Blindheit anzustecken, geht über mein Begriffsvermögen. Was immer wir planen oder tun, müßte in jedem Fall die Möglichkeit der Weißen Blindheit berücksichtigen und wie man sie vermeidet.«

Sie hatte so leidenschaftlich und mit Nachdruck gesprochen, daß ihre Zuhörer wie gebannt dasaßen und schwiegen. Nach einer Weile fragte Hazel: »Gut, aber was rätst du uns dann? Was, meinst du, sollten wir tun?«

»Ihr seid hier in einer ungeheuren Gefahr«, sagte Flyairth. »Ein Gehege direkt neben einem Weg, auf dem Menschen gehen. Ich habe noch nie ein Gehege gesehen, das einer Gefahr derart ausgesetzt ist.«

»Was ist los, Fiver?« fragte Hazel.

»Das müßtest du eigentlich wissen«, antwortete Fiver. »Du warst ja da, als ich dem Leitkaninchen vom Sandleford-Gehege genau das gleiche sagte, lang, lang ist's her, aber er wollte mir nicht glauben. Und was dann geschehen ist, das weißt du.«

»Du meinst also, daß Flyairth recht hat?«

»Natürlich hat sie recht. Der einzige Unterschied zwischen damals und heute ist der, daß ich damals definitiv wußte: Etwas Schreckliches wird geschehen, und zwar bald. Heute ist das nicht so, trotz allem, was sie gesagt hat. Heute fühle ich mich nicht von Ängsten bedrängt. Aber dennoch hat sie recht.«

»Und was meinst du, was sollten wir tun, Flyairth?«

»Hier weggehen, alle, und an einen Ort ziehen, wo es sicherer ist. In ein neues Gehege, in größere Sicherheit. Keine Menschen. Was da kürzlich im Schnee passiert ist, als die Männer kamen, das ist doch unvorstellbar. Ich hätte es nicht geglaubt, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte; ich meine, daß Kaninchen so etwas überhaupt in Erwägung ziehen können, an so einer Stelle zu hausen.«

»Na, hör mal, du bist selber erst ein paar Tage hier«, warf Bigwig ärgerlich ein. »Und schon willst du uns sagen, was wir tun sollen. Wer bist du denn, daß du uns so belehren kannst?«

»Es tut mir leid«, erwiderte Flyairth. »Ihr habt mich gefragt, was mir Sorge macht und was ich euch rate zu tun. Ich habe nur auf eure Fragen geantwortet.«

»Laß sie in Ruhe, Bigwig«, sagte Hazel. »Ich bin ganz froh zu wissen, was sie denkt. Flyairth, leider kann ich weder dich noch sonst jemanden im Augenblick zu Groundsels Gehege schicken. Bitte versteh das, es ist alles mit Campion abgesprochen. Im Moment müssen wir das Thema fallenlassen. Ich merke schon, es ist wärmer geworden heute nacht, und wir wollen jetzt Schlafengehen, alle zusammen, hier, wo wir sind.«

Er selber schlief nicht gleich ein. Er lag wach zwischen Bigwig und Fiver und bewegte in seinem Herzen, was Flyairth gesagt hatte.

15. Flyairth geht fort


Abiit, excessit, evasit, erupit.

(Er ging, er machte sich fort, er entschlüpfte, er entrann.)

Cicero (In Catilinam)


»Hazel-rah, sie tut alles, um die Herrschaft an sich zu reißen«, sagte Bigwig. »Jetzt ist sie im Wabenbau und erzählt allen Jungkaninchen von den Männern im Schnee. Sie erzählt ihnen, solange sie hierblieben, wären sie in größter Gefahr, die Weiße Blindheit zu bekommen, aber sie würde sie zu einem sicheren Ort führen und mit ihnen ein neues Gehege gründen. Soll ich zurückgehen und sie töten, bevor sie noch mehr Schaden anrichtet?«

»Mach das nicht«, antwortete Hazel. »Jedenfalls jetzt noch nicht.«

»Es ist nämlich so«, erklärte Bigwig, »sie war gewohnt, das Leitkaninchen zu sein - ha, ein Weibchen als Leitkaninchen -, bis man sie rausgeschmissen hat, und jetzt ist sie hier und will wieder Leitkaninchen spielen.«

»Haben ihr welche von den Sandleford-Kaninchen zugehört?« fragte Hazel.

»Nein und auch nicht Strawberry und Blackavar. Aber eine Menge der Jungkaninchen und auch Weibchen aus Efrafra.«

»Ich möchte gern mit Fiver und Blackberry sprechen«, sagte Hazel. »Und auch mit Vilthuril und Hyzenthlay. Komm, wir gehen sie mal suchen.«

Sie fanden sie und auch Thethuthinnang im Wohnkessel von Fiver, zusammengedrängt und in der Wärme ihrer Leiber dösend.

»Bigwig«, sagte Hazel, »erzähle ihnen, was du mir gerade von Flyairth berichtet hast.«

Bigwig gehorchte und steigerte sich dabei in eine noch größere Wut. »Man muß sie töten«, schloß er. »Man muß sie bald töten, bevor sie noch mehr Unheil anrichtet.«

»Moment mal, Moment mal«, sagte Blackberry. »Hazel-rah, darf ich auch was sagen?«

»Ja, sicher, und Fiver auch«, sagte Hazel.

»Die ganze Aufregung dreht sich doch nur um diese Blindheit, scheint mir«, erklärte Blackberry. »Bigwig glaubt, Flyairth will unter allen Umständen Leitkaninchen werden. Aber das kann ich mir nicht vorstellen. Ich glaube, wenn sie nie etwas von dieser Blindheit gewußt hätte, aber dennoch von ihrem Gehege fortgegangen und hier angelangt wäre, dann hätte sie sich ganz friedlich hier eingegliedert, ohne je Ärger zu machen.«

»Sie war das Leitkaninchen in ihrem Thinial-Gehege, bevor sie was von der Blindheit gewußt hat«, sagte Bigwig. »Jetzt will sie wieder Leitkaninchen sein. Das ganze Gerede von der Blindheit ist doch ein Vorwand, um Unterstützung zu finden.«

»Also, jedenfalls will sie so viele Kaninchen, wie es geht, dazu überreden, von hier wegzuziehen«, sagte Blackberry, »und zwar, wie sie sagt, weil hier die Gefahr der Blindheit droht. Jetzt hört mal zu. Soweit ich rausbekommen konnte, stecken Menschen die Kaninchen nur mit der Blindheit an, wenn Kaninchen sie ärgern oder ihnen schaden, wenn sie zum Beispiel ihr Gemüse fressen, die Rinde von ihren Obstbäumen abreißen, ihren Salat kaputtmachen und dergleichen. Wenn wir das dauernd getan hätten, wären wir schon längst von ihnen angesteckt worden. Sind wir aber nicht, denn bis jetzt haben wir ihnen noch keinen Ärger gemacht an dieser abgelegenen Stelle. Hier gibt es nichts zu ruinieren.

Aber da ist noch etwas anderes, was sie gegen uns aufbringen könnte. Wenn wir zu viele wären, uns zu stark vermehrten, das heißt, wenn es hier überall von Kaninchen wimmelte, das gäbe sicher Ärger. Wenn alle Jungkaninchen und die Weibchen aus Efrafra hierbleiben müßten, dann hätten wir hier bald eine Armee von Kaninchen auf dem ganzen Down, eine Armee, die immer größer würde - und das hätten die Menschen nicht gern.

Flyairth möchte, daß alle Mann hoch in ein neues Gehege an einen noch einsameren Ort ziehen. Aber so einsam ist kein Ort, daß die Menschen nicht Wind davon bekämen, wenn sich dort zu viele Kaninchen tummeln.«

»Laß sie doch ziehen«, meinte Fiver. »Laß sie gehen und so viele Jungkaninchen mitnehmen, wie sie überhaupt kann. Je mehr sie mitnimmt, um so sicherer sind wir hier. Tatsache ist, wenn sie uns nicht selbst den Gefallen täte, müßten wir sie sogar dazu bringen.«

»Aber wer will, der kann doch hierbleiben, oder?« fragte Hyzenthlay.

»Ja, natürlich«, antwortete Hazel. »Bis wir je wieder zu zahlreich werden. Aber jetzt haben wir erst einmal für lange Zeit Ruhe. Fiver und Blackberry haben recht: laßt Flyairth gehen.«

Später am Tag verließ Flyairth den Down allein und erklärte, sie wolle jetzt einen geeigneten und sicheren Platz für ein neues Gehege finden. Sie hatte niemanden zum Mitkommen aufgefordert.

Sie blieb drei Tage lang fort. Nach ihrer Rückkehr teilte sie Hazel mit, sie habe einen viel sichereren und noch abgelegeneren Ort gefunden. Sie bat ihn mitzukommen und ihn zu begutachten. Hazel antwortete sehr freundschaftlich, die Begutachtung neuer Gehege habe er zur Zeit nicht vorgesehen, doch selbstverständlich dürfe sie jeden, der ihr genehm sei, dazu einladen.

Doch sie ging nicht noch einmal auf Erkundung, sondern brach am nächsten Tag mit einer beträchtlichen Anzahl von Jungkaninchen auf, die jetzt überzeugt waren, hier an Ort und Stelle gefährdet zu sein. Sie gedenke nicht, sagte sie, zurückzukommen.

Das Wetter wurde immer besser, und der schönen Tage wurden immer mehr. An einem warmen Abend lagen Hazel und einige seiner Vertrauten, einschließlich Hyzenthlay, Vilthuril und Thethuthinnang friedlich in der Sonne.

»Möchte mal wissen, wie Flyairth und ihre Bande zurechtkommen«, sagte Holly. »Und wo sie überhaupt sind.«

»Kehaar müßte jetzt jeden Tag zurückkommen«, meinte Bigwig. »Der wird schon herausfinden, wohin sie gegangen sind und wie sich Flyairth als Leitkaninchen macht.«

»Sicher sehr gut, denke ich mir«, sagte Dandelion. »Also, wißt ihr, ich habe sie immer gern gehabt. Es war so lustig, mit ihr zu plaudern, und sie hatte eine Menge guter Ideen.«

»Sie hat mir das Leben gerettet«, äußerte Hazel, »aber sie hat nie damit angegeben.«

»Ich kann mir vorstellen, daß sie als Leitkaninchen sehr gut wäre«, sagte Silver, »wenn sie einen männlichen Partner hätte, der gegebenenfalls etwas ausgleichend wirkt.«

»Mir gefällt die Idee eines weiblichen Leitkaninchens«, meinte Hazel. »Im Ernst, ich glaube, wir sollten eigentlich eines haben. Hyzenthlay, hättest du nicht Lust, solch eine Position anzunehmen?«

»Ich wünschte, du würdest es tun«, sagte Blackavar. »Ich glaube, wir wären alle hocherfreut.«

Hyzenthlay wollte schon mit einem Scherz abwehren, als sie die erwartungsvollen Blicke in der Runde sah; alle schienen für Hazels Vorschlag zu sein.

»Sag ja«, drängte sie Fiver.

»Na gut, wenn Hazel mir zur Seite steht, dann ja«, antwortete sie. »Und ich verspreche euch -«

»Ja? Ja?« fragten einige.

»Ich verspreche euch, der größte Quälgeist zu sein, der ihn je geärgert hat, und ihm in allem zu widersprechen.«

»Jetzt ist mir schon wohler zumute«, sagte Hazel und stupste sie mit der Nase an.

Als sich die Neuigkeit im Gehege verbreitete, gab es keine einzige ablehnende Stimme. Jeder, sogar Bigwig, hatte Vertrauen zu Hyzenthlay und besonders natürlich das Corps der Weibchen aus Efrafra, die nicht mit Flyairth gegangen waren.

Es war ein schöner, trockener Frühling, und der Sommer kam leichtfüßig und verheißungsvoll ins Land. Eines strahlenden Nachmittags, als Bluebell, Hawkbit und ein paar andere beim silflay auf dem Down waren, kam ein fremdes Kaninchen mit ausgesprochen erschöpftem Ausdruck mühsam über das Gras zu ihnen herangehoppelt.

»Ich komme als Bote mit einer Nachricht von Efrafra«, sagte es. »Führt mich bitte zu eurem Anführer.«

»Gewiß doch«, erwiderte Bluebell. »Männlich oder weiblich? Wir haben was für alle Geschmäcker, weißt du.«

16. Hyzenthlay bewährt sich


Nach jedem annehmbaren Plan mach' ich dich glücklich, wenn ich kann.

Bequemlichkeit, die zählt hier nicht, weil ich es will, 's ist meine Pflicht.

W. S. Gilbert (Captain Reece)


Doch wie es der Zufall wollte, hatte der Bote aus Efrafra trotz Bluebells überschwenglicher Begrüßung keineswegs die Wahl, wen er als Leitkaninchen haben wollte. Hazel war an diesem Nachmittag nicht im Gehege; er hatte Silver und Blackberry mitgenommen, um sich auf der Nuthanger Farm vorsichtig umzusehen. Seit Woundworts Niederlage hatte sich in Hazels Hinterkopf die unsinnige, ja sogar abergläubische Vorstellung festgesetzt, daß diese Farm in irgendeiner Weise eine glückliche Bedeutung für ihn und seine Kaninchen hätte. Das hieß natürlich nicht, daß er die allgegenwärtige Anwesenheit von Hund und Katzen mißachtete, doch hatte er intuitiv das Gefühl, daß ihn dieser Ort willkommen hieß, wenn man ihn verständig und mit angemessenem Respekt betrachtete, etwa so, wie ein erfahrener Seemann, der das Meer gebührend betrachtet, es eher als gutwillig denn als feindselig ansieht und als eine mögliche Quelle von Wohltaten. Er wollte gern sehen, was auf der Farm vor sich ging, obwohl das meiste sein Verständnis überforderte. Im Sommer pflegte er der Farm regelmäßig Besuche abzustatten, bei denen er ein oder zwei verläßliche Kaninchen mitnahm, und bei der Rückkehr war er jedesmal überzeugt, daß er die Zeit gut angewendet und die Zeiger der Waage auf unerklärliche Weise zu seinen Gunsten ins Gleichgewicht gestupst hatte.

Das hatte er also an diesem Nachmittag vor. Er hatte Hyzenthlay die Leitung übergeben - es war ja nichts Ungewöhnliches zu erwarten - und war unbekümmert den Hügel hinuntergehüpft. Infolgedessen war es Hyzenthlay, der Bluebell den Besucher vorstellte.

Seine Botschaft war nun wirklich nicht von großer Bedeutung. Efrafra wimmelte wieder einmal von zu vielen Weibchen, und Campion hatte einige ausgewählt, die ihm aus freien Stücken vorgetragen hatten, sie hätten liebend gern ihren Horizont erweitert und sich einmal das Leben in Watership Down angesehen. Campion war das egal, sie konnten dort bleiben oder zurückkommen, wie sie wollten. Überzeugt, daß Hazel keine Einwendungen machen würde, hatte er ihnen erlaubt, von Efrafra aufzubrechen, wann es ihnen beliebte. Erst dann fiel ihm ein, daß keines von ihnen den Weg kannte. Doch da gab es in Efrafra ein junges Männchen namens Rithla, das ein paar Monate zuvor mit einer Nachricht von Hazel zu Campion gekommen und dann gleich dort geblieben war, weil es ein Weibchen gefunden hatte und nach glücklicher Paarung Vater geworden war. Campion sah nun in ihm den Führer der emigrierenden Weibchen. Dann war ihm eingefallen, es wäre vielleicht höflich, Hazel schon vorher zu benachrichtigen, daß Weibchen unterwegs seien. Deswegen hatte er Rithla beauftragt, sie bis zum Belt zu führen, von wo aus sie leicht nach Watership Down weitergehen konnten; Rithla sollte während ihrer Rast dort vorauseilen und Hazel verständigen.

Rithla erklärte das alles Hyzenthlay im Wabenbau, wo sie mit Thethuthinnang, Bigwig und einigen anderen zufällig Anwesenden zusammensaß.

Hyzenthlay, erst seit kurzer Zeit Leitkaninchen, war gewissenhaft darauf bedacht, alles gut zu regeln, was ihr vorgetragen wurde. Entsprechend teilte sie Rithla aus eigener Machtvollkommenheit mit, daß die Weibchen durchaus willkommen seien, zumal eine erkleckliche Anzahl von Weibchen Flyairth begleitet hatten.

Als sie hörte, er habe sie alle auf dem Belt zurückgelassen, wo sie nach Belieben hierher aufbrechen sollten, meinte sie, das erschiene ihr doch sehr gefährlich. Ungeachtet der Anweisungen Campions an Rithla hielt sie es für möglich, daß die Weibchen sich verirren könnten und außerdem von elil bedroht wären. Deswegen würde sie ihnen entgegengehen und sie noch vor Einbruch der Nacht hergeleiten. Nein, es war nicht nötig, daß Rithla sie führte, der Weg war ihr bekannt. Er aber sei müde, sollte silflay machen und sich schlafen legen.

Bigwig hatte das meiste mitgehört und protestierte sofort. Wie konnte sie so sicher sein, die Weibchen zu finden? Aber was viel wichtiger war - ein Kaninchen auf dem Down allein war größter Gefahr von Seiten unvermuteter elil ausgesetzt. Rithla hatte Glück gehabt. Man hätte ihm nie auftragen sollen, allein herzukommen. Hyzenthlay solle unbedingt bleiben, wo sie war.

Hyzenthlay entgegnete, die Weibchen seien ja schon unterwegs, und so sei es auch sicher nicht schwierig, sie zu finden. Es gab nur einen Weg, für Menschen gemacht und entsprechend klar erkennbar. Und was elil anlangte - sie konnte schneller laufen als sie, und außerdem sei bei Tag nicht mit ihnen zu rechnen.

Bigwig schlug dann vor, daß er und Holly sie begleiteten, aber das lehnte sie ab. Andere Kaninchen wollte sie keiner Gefahr aussetzen. Aber das erboste Bigwig. »Du nennst dich Leitkaninchen und dann willst du ganz allein da draußen herumtippeln wegen einiger bejammernswerter Efrafra-Weibchen? Ist das die Art, wie du die Dinge gegeneinander abwägst? Wenn Hazel hier wäre, würde er dir das glatt verbieten, und das weißt du auch. Ein dämliches, schafsköpfiges Weibchen, das sich Leitkaninchen nennt. Leitmaus wäre wohl eher angebracht!«

Hyzenthlay stellte sich vor ihn und sah ihm in die Augen. »Bigwig, ich habe gesagt, was ich tun werde, und damit basta. Wenn du meine Autorität jetzt in Frage stellst, dann wird es morgen in diesem Gehege überhaupt keine Autorität mehr geben, das ist dir sicher klar. Jetzt laß mich bitte gehen und laß ein paar Wohnkessel für die Efrafra-Weibchen freimachen.«

Bigwig stürmte wutschnaubend aus dem Wabenbau und beschimpfte das erste Kaninchen, das ihm begegnete; es war zufällig Hawkbit.

Hyzenthlay bat indessen Thethuthinnang, Hazel nach seiner Rückkehr zu berichten, was vorgefallen war, und machte sich auf zum Belt.

Sie wunderte sich, daß sie unterwegs keine Kaninchen traf, und rätselte, was wohl geschehen sein mochte. Es war nun früher Abend, und der Wind hatte sich völlig gelegt. Die Schatten der hochaufgeschossenen Wiesenkerbelhalme wurden länger, und die Sonne senkte sich auf eine Wolkenbank im Westen herab. Von unguten Ahnungen bedrängt, eilte sie weiter. Nach einer ganzen Weile näherte sie sich dem Belt, ohne ein Anzeichen von Kaninchen zu entdecken. Sie forschte nun zur Linken und zur Rechten, fand aber im Zwielicht keine Spuren. Als sie noch überlegte, was zu tun sei, stieß sie auf eine Häsin, die ihre einjährigen Häschen in ihrem Sitz fütterte. Die Häsin sprach zuerst.

»Suchst du etwa nach verirrten Kaninchen? Weibchen? Da ist so ein Grüppchen, da hinten bei der Buche.«

Kurz darauf war Hyzenthlay mitten unter ihnen.

»Ich bin ein Kaninchen vom Watership Down, und ich suche euch. Rithla hat uns erzählt, daß ihr allein zu uns kommen wollt. Was ist passiert?«

»Es ist wegen Nyreem hier«, antwortete eines der Weibchen. »Sie hat sich einen Hinterlauf verletzt und kann nicht mehr laufen. Wir sind bei ihr geblieben. Wir wollten sie nicht die ganze Nacht hier allein lassen, wegen der elil.«

Hyzenthlay untersuchte das verletzte Kaninchen. Nyreem hatte große Schmerzen und konnte kaum stehen, geschweige denn laufen. Der obere Teil des Laufs war geschwollen und sehr empfindlich. Doch war keine Wunde zu sehen, und Hyzenthlay glaubte, sie müsse nur ruhen und sonst nichts, und das sagte sie den andern.

»Ruhen? Hier?« fragte ein Weibchen. »Und wie lange?«

»Bis es ihr bessergeht«, sagte Hyzenthlay knapp.

»Aber jetzt wird's Nacht. Wenn ein Feind kommt, kann sie nicht laufen, kann sich nicht verteidigen -«

»Ich werde bei ihr bleiben!« erwiderte Hyzenthlay. »Ihr andern geht sofort weiter, so schnell ihr könnt, auf diesem Pfad da drüben. Da kommt ihr geradewegs zum Watership Down, wo sie euch schon erwarten. Keine Widerrede jetzt! Auf geht's!«

Keines der Weibchen war je in seinem Leben sehr weit über Efrafra hinausgekommen; sie gehorchten ihr alle mit einer leichten Andeutung von Murren. Hyzenthlay machte es sich in dem hohen Gras neben Nyreem bequem. Das arme kleine Geschöpf, so rührend jung und völlig unerfahren, war außer sich vor Angst, und Hyzenthlay konnte im Augenblick nichts anderes tun, als sie zu beruhigen und ihr das Gefühl einer Sicherheit zu geben, das sie selbst nicht im mindesten verspürte. Sie erzählte ihr alle Geschichten, an die sie sich erinnern konnte, und brachte sie schließlich dazu, in der Wärme ihrer Flanke einzuschlafen. Bald fühlte sich Hyzenthlay selber schläfrig, kämpfte aber gegen jedes Einnicken an. Eulenrufe ertönten, der Mond stieg auf, und aus dem Gras kamen jetzt all die kleinen Nachtgeräusche: Geraschel, leises Gesäusel, kaum hörbares Tappen und ein schnelles Tzsch-und-weg, das vielleicht gar nicht dagewesen war, vielleicht nur vernehmbar gewesen war in einem Paar langer Ohren, die aufs äußerste angespannt lauschten. Sie betete mit aller Macht zu El-ahrairah, er möge sie beschützen, und versuchte sich vorzustellen, daß er inmitten der Mondlichtschatten in ihrer Nähe wäre.

Wohl in keiner Nacht zuvor hatte sie jemals soviel Angst ausstehen müssen wie in dieser Nacht. Verkrampft lag sie da und versuchte, sich nicht zu rühren, um Nyreem nicht zu stören, und dabei kam ihr unwillkürlich alles in den Sinn, was sie je von elil gehört hatte - wie geräuschlos sie sich gegen den Wind bewegten, ihre Kaninchenbeute so still anpirschend, daß das ahnungslose Opfer erst merkte, was los war, wenn sich die Fangzähne in sein Fleisch bohrten. Sie hatte Würmer und Käfer in den Schnäbeln von Amseln zucken sehen und beobachtet, wie Drosseln die Häuser lebender Schnecken auf Steinen zerschmetterten. Würde es auch für sie so sein? Sie hatte auch aasfressende Käfer gesehen, die kleine Höhlen graben und ihre Eier dort hineinlegen, zusammen mit kleinen, toten Insekten, von denen sich die ausgeschlüpften Larven ernähren. Sie dachte an Fledermäuse und Eulen, die Nachtfalter und Mäuse jagen, ihre lebende Nahrung. Maulwürfe, wie sie wußte, würden sich unter der Erde auf Leben und Tod bekriegen, wenn sie sich in ihren unterirdischen Gängen begegneten. Waren Kaninchen die einzigen Geschöpfe, die nicht jagten und töteten? So kam es ihr in ihren trüben Gedanken vor. Woundwort hatte alles Erdenkliche getan, um Kaninchen zur Wildheit zu erziehen, aber am Ende hatte es ihm nichts Gutes eingebracht. Sie dachte an all die Efrafranier, die er in den Tod geschickt hatte, und wünschte sich von Herzen, sie hätte Woundwort jetzt neben sich liegen. Wenn das nicht die reine Verzweiflung war - was sonst?

Das junge Weibchen neben ihr schlief fest. Wenn sie es nur heil ins Gehege bringen könnte, dachte sie, dann wäre ihre Beharrlichkeit, allein herzukommen, schon gerechtfertigt. Um das fertigzubringen, mußte sie allerdings selber am Leben bleiben, doch mehr als aufpassen konnte sie dazu nicht tun.

Überrascht sah sie, daß der Mond fast untergegangen war. Sie war wohl eingeschlafen, ohne es zu merken, und nichts Böses hatte sich ereignet. Das gab ihr neuen Mut, und sofort besserte sich ihre Laune. El-ahrairah würde ein treues Kaninchen nie im Stich lassen, dachte sie.

Doch nach einiger Zeit hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden, und im selben Augenblick teilte sich schon das hohe Gras, und da stand eine Ratte.

Im schwindenden Licht des Mondes nahmen sie gegenseitig Maß, eine ganze Weile lang. Die Ratte war nicht sehr groß -doch groß genug. Sie war ganz offensichtlich auf Nahrungssuche. Auf ihren gefletschten Zähnen sah Hyzenthlay noch Fleischreste hängen. Die Ratte blinzelte ein paarmal, ließ ihre Schnurrhaare zucken und kam näher. Noch war sie unentschlossen.

Hyzenthlay sprach zu ihr im Heckenjargon. »Junges Weibchen meins. Ich Mutter. Du kommen töten, ich dich kaputtmachen bis tot.« Instinktiv stellte sie sich auf die Hinterbeine, um der Ratte mit ihrer überragenden Größe und Höhe zu imponieren. Jetzt wurde Nyreem wach und fing an zu winseln.

Hyzenthlay stellte sich zwischen Nyreem und die Ratte. Aber nun fiel eine gefiederte Masse, krallenbewehrt und nach Blut riechend, völlig geräuschlos aus der Höhe herab und war sofort, noch ehe sich Angst einstellen konnte, wieder mit der Ratte in ihren schrecklichen Krallen verschwunden.

»Was ist passiert? Oh, was war das?« rief Nyreem und drückte sich ängstlich an Hyzenthlay.

»Eine Eule«, erwiderte diese. »Ist schon wieder weg. Brauchst keine Angst zu haben, Kleines. Ich bin hier. Schlaf jetzt wieder.«

Sie schlief selbst auch wieder ein und dachte noch in einer Art dumpfer Gleichgültigkeit, daß alles geschehen war, was überhaupt geschehen konnte, und jetzt brauche sie sich um nichts mehr zu sorgen.

Als sie erwachte, war es kurz nach Sonnenaufgang; eine Amsel in der Buche sang, als gäbe es keine Angst auf der Welt. Auch Nyreem wachte auf, und Hyzenthlay fragte sie, wie es ihrem Bein ginge. Die Schwellung war in der Tat sehr zurückgegangen, und sie konnte schon ein paar Schritte humpeln. Hyzenthlay gebot ihr, sich wieder hinzulegen und weiter zu ruhen. Sie ging etwas umher, um sich umzusehen, biß einen Wiesenknopf und ein paar Wiesenampferblätter ab, die sie zusammen fraßen, und legte sich in die Sonne, die allmählich wärmer wurde.

Hyzenthlay fragte Nyreem, warum sie Efrafra mit den anderen Kaninchen verlassen hatte. Das kleine Weibchen antwortete, daß es wie Quiens werden wollte, ein älteres Kaninchen, das es sehr bewunderte. »So hab' ich mir das Bein verletzt«, sagte Nyreem. »Quiens sprang einen Steilhang hinab und ich machte es ihr nach, aber für mich war das noch zu schwer. Zuerst dachte ich, ich hätte mir das Bein gebrochen. Ich weiß, es war dumm von mir, aber sie waren alle sehr nachsichtig. Ich hoffe wirklich, daß sie gestern Abend heil in deinem Gehege angekommen sind.«

Die Sonne stieg gegen ni-Frith, und Hyzenthlay überlegte, ob sie von Nyreem schon verlangen könnte, sich anzustrengen, um weiterzulaufen. Sie hatte wirklich keine Lust, noch eine Nacht im Freien zu verbringen. Die Entscheidung war schwer, aber notwendig. Schließlich dachte sie, es wäre am besten, bis zum Abend zu warten und Nyreem dann zu ermutigen, sich nach Kräften zu bemühen. Den Kopf tief im Gras, ließ sie sich geduldig nieder, um die Insektenwelt zwischen Sonnenflecken und Tau zu beobachten. Aber in dem Herumgewusel im Gras konnte sie wirklich weder Sinn noch Verstand entdecken. Sie selbst lag so still, daß die Amsel, die nach Eßbarem suchte, neben ihr landete und herumpickte, bevor sie wieder davonflatterte.

Es war ein langer Tag. Das einzige, was sich bewegte, waren die Schatten der dünnen Grashalme und die Wolken, die vorüberzogen, und beides war so fließend und regelmäßig, daß nichts die Eintönigkeit unterbrach. Am späten Nachmittag ließ die Hitze etwas nach, und sie döste noch einmal und wurde erst wach, als ein Paar Finken neben ihr herabkamen, alle Grassamen abstreiften und rastlos weiterhüpften.

Kurz darauf schreckte sie hoch, hob die Ohren, lauschte angespannt und spähte nach allen Seiten. Irgendein Tier kam durch das Gras, mindestens so groß wie sie, wenn nicht größer. Es kam gegen den Wind, sie konnte nichts erschnüffeln, sah aber, wie das Gras geradewegs auf sie zu in stetiger Bewegung war. Instinktiv kauerte sie sich tief nieder, die Hinterläufe angezogen und zum Sprung bereit.

Als nächstes teilte sich das Gras vor ihr, und Bigwig erschien.

»Bigwig!« rief Hyzenthlay, zutiefst erleichtert und sofort überzeugt, daß all ihre Probleme so gut wie gelöst waren. »Bigwig! Wieso in aller Welt bist du hier?«

»Och, ich ... ich war gerade ... ich hab' gerade einen Spaziergang gemacht, weißt du«, antwortete Bigwig etwas verlegen. »Ich ... dachte mir, vielleicht bist du sogar hier irgendwo in der Nähe. Und wie geht's dir?« Das fragte er Nyreem. »Geht's besser mit dem Bein? Deine Freundinnen aus Efrafra warten schon auf dich und hoffen, daß du heute Abend bei ihnen bist. Versuch mal, ob du damit laufen kannst, denn wir müßten jetzt aufbrechen.«

»Oh, das geht sicher ganz gut«, erwiderte Nyreem. »Wenn wir nicht zu schnell laufen, dann komme ich bestimmt gut mit.«

»Schön!« sagte Bigwig. »Dann wollen wir mal. Ich gehe auf der einen Seite und ... eh ...«, er würgte etwas herunter, » ... Hyzenthlay-rah auf der andern. So schaffst du es.«

Sie setzten sich langsam in Marsch. Nyreem hoppelte nach besten Kräften mit, entschlossen, nicht zu klagen. Wenn nicht alles täuschte, war das neben ihr kein anderer als Thlayli, der berühmte Hauptmann vom Watership Down, der den grausigen General Woundwort im unterirdischen Kampf besiegt hatte. Sie blickte verstohlen zu ihm hin. Ja, das mußte er sein. Über und über vernarbt und auf seinem Kopf das charakteristische Fellbüschel, das ihm das Aussehen eines großen Anführers gab. War er wirklich nur ihretwegen gekommen? Oder eher wegen Hyzenthlay, die über ihren Kopf hinweg mit ihm sprach und Thlayli von der Ratte und der Eule berichtete. Daß sie sich um sie kümmerten, betrachteten sie offenbar als Teil ihrer täglichen Arbeit und als Pflicht der Gehegeführung. Sie hatten die Verantwortung für jedes Kaninchen vom Watership Down, wie klein und unbedeutend es auch sein mochte. Das also war es, was die Kaninchen dieses Geheges auszeichnete! Nyreem beschloß jetzt und hier, niemals etwas zu tun, wodurch sie ihren Platz im Gehege verwirken könnte.

Kurz vor Einbruch der Nacht kamen sie an und trafen Hazel und Silver, die so taten, als beendeten sie gerade ein spätes silflay, in Wirklichkeit aber nach ihnen ausgeschaut hatten. Nyreem war viel zu überwältigt, um ihnen zu danken; sie gesellte sich zu ihren Gefährtinnen aus Efrafra und erzählte von ihrem Abenteuer. Sogar Quiens schien recht beeindruckt, und Nyreem konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, sie habe sich im neuen Gehege offenbar gut eingeführt.

17. Sandwort


Die Kinder haben harte Köpfe und verstockte Herzen.

Hesekiel 2, 4


Nach drei Tagen war Nyreems verletztes Bein wieder vollständig geheilt, und sie hatte sich so schnell und glatt im Gehege eingelebt wie alle Neuankömmlinge aus Efrafra. Das heißt, bis sie anfing, Sandwort zu bewundern.

Sandwort war ein stämmiges und willensstarkes Männchen, das schon wenige Monate nach seiner Geburt den Unwillen zahlreicher älterer Kaninchen auf sich gezogen hatte.

»Du solltest besser deinen jungen Sandwort gut im Auge behalten«, bemerkte Silver eines Tages zur Mutter von Sandwort, einem ruhigen, sanften Weibchen namens Melsa, einer Tochter von Clover, die einst im Stall der Nuthanger Farm eingesperrt gewesen war. »Er war heute morgen unverschämt und anmaßend mir gegenüber; ich mußte ihm eins an die Löffel geben.«

»Ich werde nicht mehr mit ihm fertig«, erwiderte Melsa. »Er hat keine Achtung vor mir - und genaugenommen vor keinem anderen Kaninchen. Leider ist er sehr groß und stark für sein Alter und hat auf mehrere jüngere Kaninchen schon solchen Eindruck gemacht, daß sie ihn bewundern und als eine Art von Anführer betrachten.«

»Na, dann sag ihm mal, er sollte ein bißchen weniger großschnäuzig sein«, sagte Silver, »wenn er sich nicht mit Hazel-rah und Bigwig anlegen will. Oder mit mir.« Er hatte Melsa gern, und deswegen wollte er es dabei bewenden lassen, zumindest für den Augenblick.

Es war jedoch Sandwort, der es nicht dabei bewenden ließ. Es dauerte nicht lange, da beschwerten sich noch weitere Veteranen über sein Verhalten. Er hatte Holly ignoriert, der ihn ermahnt hatte, sich im langen Gras unsichtbar zu machen, als Menschen auf den Down gekommen waren. Er hatte sich glatt geweigert, Buckthorn zu gehorchen, einem so ruhigen und unbeschwerten Kaninchen, wie es kaum eines gab, das ihm eines Abends gesagt hatte, er solle seine rauflustigen Genossen aus dem Wabenbau hinausbringen, irgendwohin, wo sie krakeelen konnten. »Wir haben dasselbe Recht, hier zu sein wie du«, hatte er gesagt, und Buckthorn, angesichts der kleinen Horde von Sandwort-Anhängern, hatte es für das Beste gehalten, nichts mehr zu sagen und selber aus dem Wabenbau zu gehen.

Kurzum, es war bald nicht mehr zu übersehen, daß Sandwort sich keinem der Kaninchen im Gehege mehr untergeben fühlte. In solch einer freien und nachsichtigen Gesellschaft wäre das auch nicht weiter störend gewesen, wenn er nicht angefangen hätte, jüngere Kaninchen, Männchen und Weibchen, zu überreden, ihm auf Ausflüge außerhalb des Geheges zu folgen, und jede Auskunft zu verweigern, wohin sie gingen oder wo sie gewesen waren.

»Ich bin dir überhaupt keine Auskunft darüber schuldig, weder dir noch sonst jemandem, wo ich gewesen bin«, erklärte er eines Abends Silver, der ihn nach seiner Rückkehr mit zwei, drei anderen von einem offenbar längeren und ermüdenden Streifzug befragt hatte. »Ich kann gehen, wohin ich will, und das geht keinen was an.«

Diesmal jedoch war er im Unrecht, denn nicht nur Silver, sondern auch mehrere der älteren Kaninchen hatten bemerkt, daß er jetzt ein Kaninchen weniger dabei hatte als bei seinem Auszug.

»Wo ist Crowla?« fragte Silver, der sich viel Mühe gegeben hatte, das junge Weibchen von dem Ausflug mit Sandwort abzuhalten.

»Wie soll ich das wissen?« antwortete Sandwort. »Ich bin nicht der Hüter jedes Kaninchens, das Lust hat, das Gehege zur selben Zeit wie ich zu verlassen.«

»War sie denn nicht bei dir?« fragte Silver beharrlich.

»Kann sein, kann auch nicht sein.«

»Willst du damit sagen, es interessiert dich nicht, was mit Crowla passiert ist, die mit dir losgezogen ist?«

»Wenn du mich fragst: Jedes Kaninchen kann kommen oder gehen, wann und wie es will«, sagte Sandwort. »Ich nehme an, sie kommt vielleicht noch, etwas später.«

Crowla kam jedoch nicht zurück, und nach mehreren Tagen mußten ihre Freundinnen folgern, daß sie nie mehr zurückkommen würde. Sandwort blieb weiterhin gleichgültig und betonte, was ihr auch zugestoßen sein möge, habe mit ihm nichts zu tun. An diesem Punkt fühlte sich Hazel verpflichtet, sich um die Sache zu kümmern. Am Abend ging er Sandwort an; es war beim silflay auf dem Down.

»Hast du Crowla aufgefordert, auf deinen Ausflug mitzukommen?«

»Nein«, antwortete Sandwort und knabberte weiter am Gras. »Sie hat mich gefragt, ob sie mitkommen darf.«

»Und du hast es ihr erlaubt?«

»Ich habe gesagt, sie solle machen, was sie wolle.«

»Immerhin, du hast sie bei den anderen gesehen, als du aufgebrochen bist. Du hast gewußt, daß sie dabei ist. Wann hast du zum erstenmal gemerkt, daß sie gefehlt hat?«

»Weiß nicht mehr. Wahrscheinlich auf dem Rückweg.«

»Und du hast gemeint, das geht dich eigentlich gar nichts an?«

»Ja sicher. Ich suche mir nicht aus, welche Kaninchen mitgehen. Das ist ihre Sache, nicht meine.«

»Selbst in so einem Fall? Bei einem unerfahrenen Weibchen, das so viel jünger ist als du?«

»Viele Weibchen sind jünger als ich.«

»Gib mir anständig Antwort«, sagte Hazel verärgert. »Hast du dich für sie verantwortlich gefühlt? Ja oder nein?«

Sandwort machte eine Pause. Schließlich erwiderte er: »Nein.«

»Nur das wollte ich wissen«, sagte Hazel. »Nyreem war auch an jenem Tag dabei, ist das richtig?«

»Ja, ich glaub', sie war dabei.«

»Ein völlig unerfahrenes junges Weibchen, das gerade mit einem verletzten Bein aus Efrafra gekommen war?«

Sandwort antwortete nicht.

»Und wegen ihr warst du auch nicht besorgt?«

»Nein, nicht besonders.«

Hazel ließ ihn ohne ein weiteres Wort stehen.

Später am Abend besprach er die Sache mit Fiver und Bigwig. »Wir haben ein liebes junges Weibchen verloren, er hat sie in den Tod geführt. Ich habe Crowla gern gehabt, sie hatte sich gut entwickelt. Und wenn ich das recht sehe, macht er das ganz sicher wieder.«

»Ich könnte ihn doch rausholen und ihn windelweich prügeln«, meinte Bigwig.

»Nein«, sagte Fiver. »Das bringt nichts. Das verklärt ihn nur zum rebellischen Helden bei seinen Freunden. Denn genaugenommen, hat er ja nichts Verbotenes getan. Schließlich darf er aus dem Gehege hinausgehen, wohin er will, jederzeit. So wie jedes Kaninchen. Und wenn andere Kaninchen zur selben Zeit gehen wollen, ist es nicht seine Aufgabe, sie davon abzuhalten. Nur würde halt kein halbwegs vernünftiges Kaninchen so etwas tun, erst recht nicht, wenn eine Freundin vermißt wird, eben weil sie mit ihm gegangen ist.«

»Jedenfalls muß verhindert werden, daß er es noch mal tut«, sagte Bigwig.

»Die einzige Möglichkeit, das zu verhindern, wäre ein striktes Ausgangsverbot - außer, um silflay zu machen«, meinte Fiver.

»So weit möchte ich nicht gehen«, erklärte Hazel. »Das schmeckte mir zu sehr nach Woundwort. Im Augenblick wollen wir ihn noch in Ruhe lassen. Sollte allerdings noch einmal jemand aus seiner Clique nicht mit ihm zurückkommen, müßten wir etwas unternehmen.«

Nur zwei Tage später benahm sich Sandwort abermals ruppig. Der Zwischenfall war nicht so schwerwiegend, wie der Verlust von Crowla, war indessen schlicht eine vorsätzliche Unverschämtheit. Silver und Blackavar waren am Fuß des Downs mit irgend etwas beschäftigt gewesen, und als sie zurückkehren wollten, stellten sie fest, daß Sandwort ihnen mit drei oder vier Jungkaninchen gefolgt war. Silver und Blackavar waren an eine kaum sichtbare Lücke zwischen dicken hohen Grasbüscheln gekommen und zögerten noch, ob sie sich hindurchzwängen oder die Stelle einfach umgehen sollten. In diesem Moment kam Sandwort von hinten heran und fragte: »Geht ihr da durch?« Weder Silver noch Blackavar gaben sofort Antwort. »Also, ich geh' jedenfalls«, sagte Sandwort, stieß sie beiseite und drängte sich an ihnen vorbei in die Lücke, und die anderen Kaninchen folgten ihm und konnten sich zum Teil nicht verkneifen, das Zögern der beiden spöttisch zu kommentieren.

Kleinere Zwischenfälle dieser Art gab es immer wieder, bis ganz klar war, daß Sandwort sie bewußt bei jeder sich bietenden Gelegenheit provozierte, hauptsächlich in Gegenwart jüngerer Kaninchen, die dann im Gehege darüber klatschen konnten. Einmal artete das sogar in Handgreiflichkeiten aus, die aber dem älteren Kaninchen schlecht bekamen, da Sandwort stark und schwergewichtig war. Eines Tages hörte Holly zufällig mit, wie einer der Jüngeren von »Sandworts Owsla« sprach. Bigwig, der davon informiert wurde, wurde daraufhin so wütend, daß man ihn davon zurückhalten mußte, sich auf der Stelle mit Sandwort anzulegen. »Er selber hat es ja nicht gesagt«, stellte ihm Hazel nachdrücklich vor. »Er hätte dann nur einen begründeten Vorwurf dir gegenüber, und das würde er nach Kräften ausnutzen.«

Bevor sich jedoch die Situation durch Sandworts Verhalten weiter zuspitzte, kam es zu einer Krise ganz anderer Art. Eines Morgens, ein, zwei Stunden nach Sonnenaufgang, stürzten zwei Jungkaninchen, Crowfoot und Foxglove, beides Freunde von Sandwort, angsterfüllt ins Gehege und wollten sofort Hazel sprechen.

»Wir waren im Garten des großen Hauses unten am Hügel«, sagte Crowfoot, »nur wir zwei und Sandwort. Wir haben flayrah gesucht, und da kam plötzlich dieser Riesenhund bellend und knurrend auf uns zugestürmt. Sandwort sagte, wir sollten uns trennen, und wir liefen so schnell wir konnten in verschiedenen Richtungen davon. Der Hund hat uns nicht verfolgt, und nach einer Weile sind wir zurückgegangen, um Sandwort zu suchen. Und das ist passiert: Er ist in eine Grube gefallen und kann nicht mehr raus.«

»Eine Grube?« fragte Hazel. »Was für eine Grube?«

»Die haben Menschen gegraben«, sagte Foxglove. »Nicht ganz so tief wie ein Mann groß ist, und die Seiten sind genauso lang. Die Seiten und der Boden sind ganz glatt, wie eine Mauer, nirgends was zum Festhalten, und da liegt Sandwort unten drin.«

»Verletzt?«

»Glauben wir nicht. Wir glauben, er ist vor dem Hund weggerannt, genau wie wir, hat nicht aufgepaßt, wohin er trat, und da ist er in die Grube gefallen. Es ist kaum Wasser drin, und er liegt einfach da unten. Er kann nicht raus.«

»Und die Seiten sind glatt und ganz gerade, sagst du?« fragte Hazel. »Also, wenn er nicht allein rauskommt, dann kriegen wir ihn auch nicht raus. Aber ich geh' mal hin und sehe nach. Blackberry, du kommst bitte mit und Fiver auch. Niemand sonst. Ich will nicht, daß ein ganzer Kaninchenhaufen den Hund wieder rauslockt.«

Die drei Kaninchen brachen auf zum Fuß des Down, liefen über das leere Getreidefeld und die Straße und stiegen vorsichtig durch die Hecke in den großen Garten. Es dauerte eine Weile, bis sie die Grube fanden, von der Crowfoot gesprochen hatte. Doch als sie endlich davorstanden, sahen sie nichts, was ihnen Zuversicht gegeben hätte. Die Grube, etwa anderthalb Meter mal einen Meter und so tief, wie ein Kälbchen hoch ist, war glatt ausbetoniert; sie sollte als Wasserreservoir dienen.

Es gab keine Stufen, die hinunterführten, aber neben ihr lag ein Eimer, der an einem Seil befestigt war. Die Sohle war gerade fingerhoch mit Wasser bedeckt, und darin lag Sandwort auf der Seite und hielt den Kopf hoch, um zu atmen. Er sah sie nicht.

Am Rand der Grube waren sie völlig ungeschützt, und sowie sie diese ungünstige Position erfaßt hatten, zogen sie sich in die Deckung nahegelegener Lorbeerbüsche zurück, um sich zu besprechen.

»Den kriegen wir niemals da raus«, sagte Blackberry. »Das schaffen wir nicht.«

»Nicht mal mit einem deiner brillanten Tricks?« fragte Hazel.

»Tut mir leid. Es gibt keinen Trick, mit dem man ihn da rausholen kann. Wenn jemand käme, um Wasser zu holen, dann würde er ihn wahrscheinlich hochziehen und dann töten, aber es wird wohl keiner kommen. Viel zu wenig Wasser da unten.«

»Dann muß er da unten bleiben und sterben?«

»Ja, ich fürchte schon. Und es wird sicher lange dauern.«

Niedergedrückt kehrten die drei Kaninchen zum Gehege zurück. Der Verlust eines Kaninchens schmerzte Hazel immer, aber zu wissen, daß Sandwort ohne die leiseste Möglichkeit einer Hilfe da unten lag und einen langsamen Tod zu gewärtigen hatte, betrübte ihn zutiefst. Die Nachricht hatte sich schnell im ganzen Gehege verbreitet, und so viele Kaninchen wollten hingehen und Sandworts elende Lage selber sehen, daß Hazel sich gezwungen sah, den Ausgang grundsätzlich zu verbieten; noch nicht einmal bis zum Eisernen Baum am Fuß des Down zu gehen, war erlaubt.

»Wir müssen ihn also einfach sterben lassen?« fragte Tindra, eines der Weibchen, die ihm nahegestanden hatten. »Und das wird lange dauern, nicht wahr?«

»Das kann wohl sein«, erwiderte Hazel. »Drei Tage, vier Tage. Ich habe so etwas noch nie erlebt, und ich habe einfach keine Ahnung.«

Den ganzen Tag über und auch den nächsten beschäftigte der Gedanke an Sandwort, der in der Grube lag, alle Kaninchen. Selbst diejenigen, die wie Silver und Bigwig allen Grund hatten, ihn nicht zu mögen, hätten ihm geholfen, sich aus seiner mißlichen Lage zu befreien, wenn sie nur gekonnt hätten.

Drei Tage verstrichen, nachdem die Nachricht im Gehege bekannt geworden war; am Nachmittag dieses Tages mißachteten Tindra und Nyreem Hazels Verbot und schlichen heimlich über den Hügelkamm und dann, in sicherer Entfernung und außer Sichtweite, den Hügel hinab. Jung und unerfahren, wie sie waren, verirrten sie sich und wanderten eine Weile orientierungslos herum, bis sie, eigentlich mehr durch Zufall, durch die Hecke stolperten und in den Garten des großen Hauses gelangten.

Sie brauchten nicht lange, um zur Grube zu kommen. Sandwort lag mit geschlossenen Augen unten im Wasser. Fliegen spazierten ihm über Lider und Ohren, doch alle paar Sekunden stiegen Bläschen hoch und zeigten an, daß er noch atmete. Etwas nasses hraka lag neben seinem Schwanz.

Die beiden Weibchen starrten hinunter. Obwohl sie wirklich nichts tun konnten, blieben sie eine Weile fasziniert, reglos und ungeschützt dort stehen, bis die Stimmen näherkommender Kinder sie aufschreckten. Sie rannten in die Lorbeerbüsche zurück, und da kamen drei, vier Kinder und brachen durch die Azaleen auf der anderen Seite der kleinen Lichtung. Ein etwa elfjähriger Junge nahm einen Anlauf und sprang über die Grube. Auf der anderen Seite hielt er inne, drehte sich um und schaute in die Grube.

»Seht mal, da unten liegt ein totes Kaninchen.«

Ein anderer Junge stellte sich neben ihn und spähte hinunter.

»Ist nicht tot.«

»Ist doch tot.«

»Ist nicht tot.«

»Doch tot.«

»Nicht tot. Paß auf, ich zeig dir's.«

Der zweite Junge stützte sich mit den Händen auf beiden Seiten ab und ließ sich hinab, bückte sich, hob das Kaninchen hoch, das schlaff in seinen Händen hing, und legte es auf den Grubenrand. Dann zog er sich wieder hoch.

»Hab' dir doch gesagt, daß es tot ist«, sagte der erste Junge.

»Glaub' ich nicht. Warte mal, ich hol mir einen Grashalm.«

»Oh, laßt das bloß liegen, ihr beiden«, rief ein älteres Mädchen, das neben den Azaleen stand, »sonst macht ihr euch noch die Hände an diesem dreckigen toten Ding schmutzig! Laß das liegen, Philip. Laßt das da, Hemmings räumt es weg, wenn ihr ihm Bescheid sagt.« Dann schrie sie mit schriller Stimme zum Haus: »Wir kommen!«

Die Jungen ließen das Kaninchen neben der Grube liegen und folgten ihr um einen Schneeballstrauch herum und an Buchsbüschen vorbei. Dann waren sie verschwunden. Kurz darauf kamen Tindra und Nyreem vorsichtig unter dem Lorbeer hervor und näherten sich dem Grubenrand.

»Sandwort!« sagte Tindra und schnüffelte am Leib des Kaninchens. »Sandwort! Er ist nicht tot«, erklärte sie Nyreem. »Er atmet, sein Blut fließt noch. Leck über seine Nase. Leck über seine Lider. Gut so!«

Die beiden Weibchen bemühten sich noch eine Weile. Schließlich hob Sandwort den Kopf leicht an und öffnete die Augen. Er versuchte ein paarmal, auf die Beine zu kommen, aber es gelang ihm nicht.

»Was ist passiert? Wo ist der Hund? Wo ist Foxglove?«

»Komm mit unter die Büsche, wenn du kannst«, sagte Tindra. »Der Hund ist weg, aber du mußt dich erholen.«

Erst spät am Abend erreichten die Weibchen mit dem humpelnden und schwankenden Sandwort den Hügelkamm. Als erstem begegneten sie Fiver, der Sandwort beschnüffelte, und dann zu Hazel eilte, um ihm zu berichten.

»Der sollte jetzt erst mal schlafen«, sagte Hazel grimmig. »Bring ihn zum nächsten Wohnkessel«, wies er Nyreem an. »Und was euch beide anbelangt«, fuhr er an Tindra gerichtet fort, »bleibst du jetzt mal da und gibst eine Erklärung ab. Was habt ihr beide da unten zu schaffen gehabt? Ich hatte angeordnet, daß niemand dorthin gehen soll.«

Die arme Tindra war von der Strenge des Leitkaninchens so eingeschüchtert, daß sie nur noch ein unzusammenhängendes Gestammel von allen möglichen Ausreden hervorbrachte, von denen keine etwas taugte. Hazel hielt ihr eine Strafpredigt, die sich gewaschen hatte, die jedoch abgemildert wurde durch die unbestreitbare Tatsache -die sie aber infolge ihres Schuldbewußtseins gar nicht zu ihrer Verteidigung vorbrachte -, daß ohne ihrer beider Verbotsübertretung Sandwort jetzt wahrscheinlich tot wäre. Am Ende legte auch Hazel das zu ihren Gunsten aus.

Was Sandwort betraf, so war er jetzt ein anderes Kaninchen. Er war verändert. Er erwähnte nie mehr, was er durchgemacht hatte, und zeigte sich den Älteren gegenüber von einer fast übertriebenen Ehrerbietung. Eines Abends, mehrere Wochen nach dem Zwischenfall mit der Grube, betreute Dandelion einen hlessi, der ein paar Tage lang im Gehege blieb. Beim Abend-silflay machte ihn Dandelion auf einige Persönlichkeiten aufmerksam, und der hlessi fragte: »Wer ist eigentlich dieses arme, bedrückte Kaninchen, das sich so eng an sein Weibchen hält?«

»Wo?« fragte Dandelion und schaute umher. »Ach so, das ist ein Kaninchen namens Sandwort, das eine ungewöhnlich glückliche Rettung erlebt hat. Die Sache war nämlich so ...«

18. Stonecrop


Diese Arten von Gestank, die unsere Nasen beleidigen, sind nicht die schädlichsten, sondern solche Dünste, welche denen des menschlichen Körpers ähnlich sind und so den Geist täuschen.

Francis Bacon (Natural History)


Kurz nach Sonnenaufgang an einem wunderbaren Sommermorgen kam Hazel aus seinem Wohnkessel durch den Wabenbau in die frische Luft draußen. Die Dämmerungen sind Aktivzeiten für Kaninchen, und am Hang und auf dem Kamm grasten schon mehrere in Zweier- oder Dreiergrüppchen, ohne groß auf den Nachbarn zu achten, während sie sich durch das kurze Gras fraßen. Es war ein friedliches Bild, und die Kaninchen, die wußten, daß sie nichts zu fürchten hatten, genossen das Fressen in der frühen Sonne vollen Herzens.

Hazel beobachtete sie befriedigt. Seit dem vergangenen Frühling, als sie dank Fivers Vision den Steilhang hinauf auf dieses hohe Gelände gezogen waren, hatte er immer wieder dankbar anerkannt, wie weise es gewesen war, sich diesen abgelegenen Ort für ein Gehege auszusuchen, wo die Kaninchen rings herum freie Sicht hatten und infolgedessen kaum etwas von ihren natürlichen Feinden zu befürchten hatten. Der vorherrschende Westwind wehte ihnen die Gerüche zu, sowohl vertraute wie auch alarmierend fremde, und ihre langen Ohren fingen sofort die Geräusche jedes Eindringlings auf, ob Mensch oder Tier, der sich ihnen über diesen Kalkboden näherte. Es war schon lange her, dachte Hazel mit Befriedigung, daß auch nur ein einziges Kaninchen seines Geheges einem Feind zum Opfer gefallen war. Das waren hier keine bequemen Jagdgründe für die Tausend -Fuchs, Hermelin, Hund, streunende Katze oder andere -, aber vor allem wurden seine Kaninchen hier nicht von Menschen gejagt. Die Annäherung eines Menschen war von allen elil am leichtesten auszumachen, aber dennoch blieb der Mensch der gefürchtetste Feind; er konnte mit einem Gewehr aus der Entfernung töten, und auf den Hügeln war er fast so scharfäugig wie ein Kaninchen. Frith sei gepriesen, dachte Hazel, der genießerisch ein Sonnenbad nahm, wir brauchen die Menschen in unserem Alltag nicht zu fürchten; diese wohlgenährten Jungkaninchen da drüben wissen kaum, was ein Mensch ist.

Plötzlich schreckte er auf, seine Ruhe war dahin, und er war ganz wachsam. Aus kurzer Entfernung, von der anderen Seite der nahe stehenden Bäume, hörte man die unguten Geräusche kämpfender Kaninchen. Tatsächlich, sie bekriegten sich untereinander, denn in dem Geknurre und wütendem Gekreisch waren Laute anderer Tiere nicht wahrzunehmen. Es waren aber auch nicht Männchen, die sich um ein Weibchen prügelten, denn er hörte nicht zwei, sondern drei, vier Kaninchen, die miteinander kämpften.

Normalerweise gab es kaum Kämpfe zwischen den Kaninchen vom Watership Down, abgesehen von Duellen wegen eines Weibchens. Es gab genügend Löcher, genügend Kessel und jede Menge Gras - worum also kämpfen? Doch wie Hazel jetzt deutlich hörte, war das ein wilder, brutaler Kampf voller Haß und sogar Verzweiflung. Er wandte sich um und rannte auf die Szene des Kampfes zu.

Als er unter den Bäumen hervorkam, überblickte er sofort, was hier vorging. Drei oder vier seiner eigenen Kaninchen, die er erkannte, griffen einen Fremdling an. Diesen hatte es natürlich am schlimmsten erwischt, und jetzt wurde er zu Boden gedrückt. Doch wie Hazel feststellte, war es ein großes, muskulöses Kaninchen, das noch über eine Menge Kampfkraft verfügte.

Hazel lief hin und zerrte zwei Kaninchen aus dem Getümmel. Die anderen zwei setzten sich auf ihre Hinterbeine und sahen ihn an.

»Was ist hier los?« fragte Hazel. »Peerton und Woodruff, was macht ihr hier?«

»Wir bringen ihn um, Hazel-rah«, keuchte das Kaninchen mit Namen Peerton, das einen böse zugerichteten Vorderlauf darbot. »Laß uns allein. Es dauert nicht lang.«

»Aber weshalb? Aus welchem Grund?«

»Der riecht nicht nur nach Menschen, der stinkt geradezu aus allen Poren nach Menschen«, sagte Woodruff. »Riechst du das nicht, Hazel-rah? Wildkaninchen müssen Kaninchen töten, die nach Menschen riechen, das weißt du doch sicher.«

Hazel wußte das - es war ein unwandelbares Gesetz in der überlieferten Lebenserfahrung der Kaninchen. Doch hatte er es noch nie verwirklicht gesehen. Seine Kaninchen setzten dieses Gesetz instinktiv in Kraft, ohne lange zu fragen.

Nun, da der Kampf unterbrochen war, konnte er den Fremdling wirklich riechen. Bei diesem fürchterlichen Gestank verkrampfte sich alles in ihm vor Angst, und fast wäre er weggerannt. Doch er bezwang sich gewaltsam. Die vier Kaninchen beobachteten ihn sehr gespannt. »Du kannst nicht sagen, daß wir Unrecht tun, Hazel-rah, oder?« fragte Woodruff. »Laß uns das jetzt zu Ende bringen!«

»Nein«, sagte Hazel mit aller Entschiedenheit, die er aufbringen konnte. »Ich muß mit ihm reden, herausfinden, wieso er so stinkt. Da könnte eine Gefahr sein, die uns alle bedroht.«

In ihren Augen sah er feindseligen Widerstand. Seine Autorität stand auf der Kippe. Aber jedes weitere Wort würde Unsicherheit verraten, wäre eitles Geschwätz. Er wartete stumm.

Hazel war als Leitkaninchen hoch geachtet. Niemand hatte Einwände gegen seinen Rang, und er hatte keine Feinde. Doch jetzt mußte er feststellen: Es stand auf Messers Schneide. Nach einer langen Pause sagte Peerton endlich: »Na gut, Hazel-rah, ich hoffe, du weißt, was du tust. Die meisten im Gehege werden nicht damit einverstanden sein.«

Hazel schwieg immer noch, wartete nur darauf, daß seine Worte ihm Geltung verschaffen würden. Peerton sah seine Gefährten an. Schließlich sagte er: »Das werden alle erfahren.« Langsam entfernte er sich, und die anderen folgten ihm und machten keine Miene, ihre Gefühle zu verbergen.

»Steh auf«, befahl Hazel dem Fremdling. »Du kommst wohl besser mit mir. Falls du dich fragen solltest, wer ich bin - ich bin das Leitkaninchen hier. Bei mir bist du sicher.«

Der Fremdling rappelte sich mühsam hoch. Er hatte eine schlimme, klaffende Wunde auf dem Rücken und ein Ohr war aufgerissen. Hazel musterte ihn; der Kerl war jung, aber von beachtlicher Größe und beinahe so kräftig gebaut wie Bigwig.

»Wie heißt du?« fragte er.

»Stonecrop«, antwortete der andere.

»Na gut«, sagte Hazel. »Komm jetzt mit in meinen Bau. Ich muß mit dir reden.« Als Stonecrop zögerte, fügte er hinzu: »Nur Mut, keiner tut dir was.«

Sie gingen das kurze Stück durch die Bäume hindurch in den Wabenbau, wo eine kleine Gruppe Kaninchen müßig herumstand, miteinander plauderte und sich bereit machte, einen schönen Tag zu genießen. Als Stonecrop erschien, fuhren alle erschreckt und abgestoßen zurück. Im geschlossenen Wabenbau war Stonecrops Geruch noch ärger. Selbst die Kaninchen, die noch nie einen Menschen gerochen hatten, wurden von lähmendem Entsetzen gepackt.

Hazel schaute in die Runde. »Das ist ein Kaninchen, das ich gerade draußen gefunden habe. Ich weiß, wie euch allen zumute ist, aber ich bin gewillt, mit ihm zu sprechen. Ich muß herausfinden, was mit ihm los ist und wie er zu diesem Gestank kam.«

»Bei allen Igelzecken, Hazel-rah«, rief Hawkbit. »Was in aller Welt -«

»Sei still«, erwiderte Hazel scharf. »Ihr habt mich alle gehört. Laßt ihn in Ruhe. Hyzenthlay, kommst du bitte mit mir!«

Wieder einmal hatte er das starke Gefühl, daß sie erschüttert waren und ihm nur widerwillig gehorchten. Seine Forderung widersprach jedem Kanincheninstinkt, jeder Regel im Kaninchenverhalten. Er zwang sich, ganz langsam durch den Wabenbau zu gehen, und Hyzenthlay und der tief verängstigte Stonecrop folgten ihm.

»Also, nur die Ruhe«, sagte Hazel, als sie zu dritt seinen Wohnkessel erreichten. »Mach's dir bequem. Schlaf ein bißchen, wenn du willst. Wie fühlst du dich?«

»Könnt' schlimmer sein«, antwortete Stonecrop. »Ich bin bereit zu reden, wenn du das willst.«

»Nun, du weißt ja sicher«, sagte Hazel, »daß du ganz stark nach Mensch riechst, und deswegen sind all diese Kaninchen gegen dich und glauben, daß sie dich töten müssen. Hyzenthlay und ich möchten wissen, wie du zu dem Geruch gekommen bist und ob wir etwas von den Menschen zu fürchten haben, bei denen du warst.«

Stonecrop gab eine Weile keine Antwort. Schließlich sagte er: »Mit Wildkaninchen hatte ich bis jetzt noch nie zu tun.«

»Wie kommt das?« fragte Hazel.

»Ich bin in einem Verschlag zur Welt gekommen«, erwiderte Stonecrop. »Wir waren vier in einem Wurf - zwei Weibchen und zwei Männchen. Als wir die Augen offen und schon etwas Fell hatten, erzählte uns die Mutter, sie sei von einem hrududu angefahren und dabei bewußtlos geworden, viele Tage vor unserer Geburt. Die Männer im hrududu hatten sie aufgehoben und mit nach Hause genommen und gedacht, sie würde bald sterben, aber sie starb nicht und wurde in den kleinen Stall gesperrt, wo sie uns geboren hat. Da waren zwei Menschenkinder, Mädchen, die ihr immer Wasser und was zu fressen brachten. Sie war ein ziemlich großes und starkes Kaninchen, unsere Mutter, und deswegen war sie nach dem Zusammenstoß nicht gestorben und auch nicht später in dem kleinen Stall.«

»Wie hieß sie denn?« wollte Hyzenthlay wissen.

»Thrennion«, antwortete Stonecrop. »Sie hat uns erzählt, Thrennions seien hübsche rote Beeren, die im Winter auf Bäumen wachsen, aber ich habe bisher natürlich noch nie Thrennion-Beeren gesehen.

Sie erholte sich, zum Teil jedenfalls, und konnte uns sogar säugen, und so wuchsen wir auf. Die Menschenmädchen kümmerten sich um uns, und als wir größer waren, brachten sie uns Löwenzahnblätter und kleingeschnittene Karotten -Mutter hat uns die Namen beigebracht. Ich war der größte und stärkste von uns, und das eine Mädchen machte ein Mordsgetue mit mir, hob mich immer aus dem Verschlag heraus und hielt mich fest, um mich ihren Freundinnen zu zeigen. Sie hat sicher gehofft, daß ich zahm werde, aber das wurde ich nicht. Ich habe mich immer gewehrt und versucht ihr zu entkommen, aber sie hielt mich zu fest. Und bevor sie mich aus dem Stall herausnahm, hat sie immer alle Türen und Fenster verschlossen, und da habe ich mir keine Hoffnung mehr gemacht.

Ich war erstaunt, daß wir am Leben blieben, denn wir grämten uns und verloren an Kraft. Wir waren unglücklich. Mutter erzählte uns immer Geschichten vom Leben in der Wildnis und ermahnte uns, immer nach einer Gelegenheit zum Weglaufen Ausschau zu halten.

Dann starb Mutter, sie welkte einfach dahin, und als sie nicht mehr da war, wurden wir noch verzweifelter. Ich war der mit der größten Chance, denn ich war der Liebling der Mädchen und wurde öfter aus dem Stall genommen als die anderen. Und einmal, als sie mich herausholten, sah ich ein Loch in der Wand, direkt über dem Boden. Da war ein Mann, der den glatten Boden immer mit einem festen Besen schrubbte und mit dem kehrte er das Schmutzwasser durch das Loch hinaus. Ich merkte mir die Stelle genau.

Eines Tages haben mich die beiden Mädchen herausgeholt, um mich einer Freundin zu zeigen. Soviel ich verstanden habe, hat mich dieses Mädchen auch einmal halten wollen. Sie war älter als die anderen beiden Mädchen, die ihr offenbar nicht gern etwas abschlugen.

Das Mädchen, das mich hielt, wollte mich gerade dem größeren Mädchen herüberreichen, aber irgendwie war sie ungeschickt, und plötzlich hab' ich gemerkt, daß meine Hinterbeine frei waren. Ich trat gewaltig nach hinten aus, und ich merkte, wie meine Pfoten über den ganzen nackten Arm des Mädchen kratzten. Sie schrie, und ich sprang weg und landete auf dem Boden. Die Mädchen versuchten, mich zu fangen, aber ich entwischte ihnen und rannte wie verrückt auf das Abflußloch zu, schoß hindurch und fand mich im Hof wieder.

Ich hatte keine Ahnung, wohin ich mich wenden sollte, ich lief einfach los. Ich hatte Glück. Ich kam aus dem Hof heraus und war auf einmal auf einem Feld mit lauter großen Tieren. Ihr nennt sie Kühe, nicht wahr? Ich lief über das Feld, und da war ein Haufen Bäume, da habe ich mich die ganze Nacht versteckt. Kein Tier hat mich gestört, und natürlich weiß ich jetzt auch, warum.

Ein paar Tage bin ich da herumgewandert, hab' etwas gefressen und mich versteckt, und eines Nachts bin ich einem Igel begegnet, der offenbar an meinem Geruch keinen Anstoß nahm. Der Igel hat mir erzählt, es gebe einen Haufen Kaninchen oben auf dem Hügel. In der Nacht bin ich bei ihm geblieben, und sowie es hell wurde, hab' ich ihn nach dem Weg gefragt. Er sagte >Geradeaus auf den Hügel<, und so bin ich raufgeklettert.

Ich wollte mich eben ins Gras setzen, als diese Kaninchen - deine Kaninchen, nicht wahr? - als die mich gefunden und überall beschnüffelt haben. Dann haben sich alle auf mich gestürzt. Ich habe gekämpft, so gut ich konnte, aber sie haben mich natürlich untergekriegt. Sie haben dauernd geschrien >Macht ihn tot! Macht ihn tot!<, und sie hätten mich wirklich getötet, ganz klar, wenn du nicht gekommen wärst, um mich zu retten.

Und jetzt? Was passiert jetzt? Machen mich jetzt andere Kaninchen tot? Macht ihr mich tot?«

»Nein«, sagte Hazel. »Hyzenthlay und ich werden das verhindern. Hier bist du sicher. Aber momentan mußt du noch hier in diesem Bau bleiben. Geh auf keinen Fall hier raus! Einer von uns wird heute bei dir bleiben.«

»Aber was machen wir denn bloß mit ihm?« fragte Hyzenthlay. »Du kennst unsere Gesetze. Das Gehege wird ihn niemals dulden.«

»Ich weiß«, erwiderte Hazel. »Aber ich lasse nicht zu, daß man ihn umbringt, solange ich es verhindern kann. Jetzt habe ich seine Geschichte gehört, und nun bin ich ganz auf seiner Seite.«

»Dann muß er hier in deinem Wohnkessel bleiben. Außerhalb ist er nirgendwo sicher. Und wenn wir ihn wegschicken, wird er allein gegen die elil überhaupt nichts ausrichten können.«

»Das ist mir klar. Ich weiß genausowenig wie du, was wir tun sollen. Aber er muß natürlich etwas fressen. Ich werde bei Dunkelheit selber mit ihm silflay machen, wenn niemand sonst draußen ist. Du gehst zu den anderen zurück und stellst fest, ob welche bereit wären, ihn anzunehmen. Sprich mit Bigwig und auch mit Fiver, wenn du kannst.«

Hyzenthlay ging. Hazel blieb den ganzen Tag bei Stonecrop, der recht erschöpft schien und die meiste Zeit schlief. Keine anderen Kaninchen kamen bei ihm vorbei. Am Abend kehrte Hyzenthlay zurück.

»Schlechte Aussichten, fürchte ich, Hazel-rah«, sagte sie. »Peerton und seine Freunde haben allen von Stonecrop erzählt und gesagt, wenn wir ihn nicht töten, wie es die Überlieferung verlangt, würde großes Unheil über das Gehege kommen. Es ist mir nicht gelungen, außer Vilthuril und Thethuthinnang jemanden zu finden, der mir überhaupt zuhören wollte. Selbst Bigwig hatte seine Zweifel und mochte nicht zugeben, daß du recht gehandelt hast.«

Nach Einbruch der Dunkelheit nahmen die beiden Stonecrop hinaus auf den Down, um silflay zu machen. Er war an Gras nicht gewöhnt und war ohnehin viel zu verängstigt, um viel zu fressen. In vielen Kleinigkeiten, auch in seinem Benehmen, zeigte sich, daß er sich von normalen Wildkaninchen unterschied und sich ganz anders verhielt. Hazel bemerkte es und verzweifelte fast wegen Stonecrop. Wahrscheinlich würde er nie ein Wildkaninchen werden, auch nach Monaten nicht. Dennoch sagte er nichts darüber, sondern bemühte sich nach Kräften, Stonecrop aufzumuntern und ihm die Gewißheit zu geben, daß er jedenfalls zwei Freunde hatte. Sie kamen in Hazels Bau zurück, ohne jemanden getroffen zu haben.

Am nächsten Morgen besuchte sie Fiver, hauptsächlich, wie er sagte, »um sich ein Bild von Stonecrop zu machen«. Er erwähnte den Geruch nicht und hatte eine längere Unterhaltung mit Stonecrop, der ihn offenbar mochte und infolgedessen lebhafter und gesprächiger wurde.

»Was sollen wir denn machen, Fiver?« fragte Hazel, als Fiver es sich neben Stonecrop bequem machte und offensichtlich noch bleiben wollte.

»Keine Ahnung«, sagte Fiver. »Laß mir etwas Zeit, laß mir Zeit, Hazel, du bist immer so ungeduldig.«

»Na, du wärst auch nicht gerade geduldig, wenn du hier sitzen müßtest und spürst, wie es im ganzen Gehege hinter deinem Rücken gärt und schäumt«, sagte Hazel. »Zum ersten Mal spüre ich, daß sie nicht auf meiner Seite sind. Das gefällt mir gar nicht.«

Diesmal leistete ihnen Fiver Gesellschaft, als sie nach Einbruch der Nacht silflay machten. Er hatte offenkundig Stonecrops Vertrauen so weit gewonnen, daß er ihm raten und ihn auf verschiedene Dinge hinweisen konnte, die ihn von Wildkaninchen unterschieden.

»Kopf hoch«, sagte er. »Letzten Sommer haben wir zwei oder drei Kaninchen geholfen, aus ihrem Verschlag zu fliehen, und die haben sich hier sehr gut eingelebt. Allerdings war die Sache damals etwas anders. Wir brauchten dringend Weibchen, wollten sie unter allen Umständen haben, und die rochen längst nicht so stark nach Menschen wie du. Aber das wird schon, keine Angst.« Und danach legte er sich schlafen.

Am nächsten Morgen kam Bigwig unerwartet zu Besuch, prallte aber sofort vor dem Gestank zurück.

»Heilige Mohrrübe! Hazel«, sagte er, »ich hatte ja keine Ahnung, wie penetrant das ist. Wie hältst du das aus?«

»Hoffentlich bist du gekommen, um mir zu raten«, gab Hazel zurück, der sich wirklich freute, ihn zu sehen. »Ich habe dich in den letzten Tagen vermißt.«

»Ich werde dir in der Tat raten«, antwortete Bigwig, »aber mein Rat wird dir nicht gefallen. Hazel-rah, klipp und klar gesagt, du kannst nicht darauf hoffen, daß dieses Kaninchen im Gehege angenommen wird. Das ist völlig ausgeschlossen. Unsere Kaninchen wollen es auf keinen Fall haben, wie immer du ihnen auch zureden willst. Dafür haben Peerton und seine Freunde schon gesorgt. Aber abgesehen von Peerton, sie hätten ihn auch ohnehin nie angenommen. Hazel, das ist doch ein Schlag ins Gesicht der Natur. Ich glaube, nicht einmal El-ahrairah selbst hätte seine Aufnahme durchgesetzt. Ein Kaninchen, das nach Menschen stinkt, muß umgebracht werden, so lautet das Gesetz seit undenklichen Zeiten und überall.«

Hazel sagte nichts, und nach einer Weile fuhr Bigwig fort. »Aber leider ist die Sache noch ernster, Hazel. Tatsache ist, daß deine Position als Leitkaninchen in Frage gestellt wird. Deine Autorität bröckelt immer weiter weg, solange sie dich nicht sehen, solange du dich mit diesem verfluchten Kaninchen hier einsperrst. Was du auch vorhast - vergiß es. Sonst sitzt du ganz tief in der Klemme, noch tiefer als Flyairth. Du kannst es dir einfach nicht leisten, so weiterzumachen. Um unsertwillen, um des Geheges willen, gib es auf! Jetzt!«

Hazel blieb immer noch stumm, und jetzt war es Fiver, der eingriff.

»Ich sag' dir, was zu tun ist, Hazel. Bring Stonecrop zum neuen Gehege und bitte Groundsel, ihn aufzunehmen. Das ist das einzig vernünftige, glaub mir.«

»Das ist doch der reine Unsinn, Fiver«, meinte Bigwig ungeduldig. »Groundsels Kaninchen wollen ihn genausowenig wie unsere.«

»Doch, die wollen ihn«, antwortete Fiver ruhig.

»Aber wieso? Wie kommst du darauf?«

»Ich weiß nicht«, sagte Fiver. »Ich weiß nur eines ganz genau: Wenn Stonecrop zum Gehege von Groundsel gebracht wird, hat er seine Ruhe. Mehr habe ich nicht sehen können.«

»Ach so«, höhnte Bigwig. »Du hast wohl wieder eine Vision gehabt, wie?«

Hazel sprach. »Moment mal, Bigwig. Hast du noch nicht gelernt, Fiver zu vertrauen? Denk an Cowslips Gehege und die Fallen - hat er nicht recht gehabt? Und unser Überfall auf die Farm? Und die Idee, die er mir in den Kopf gesetzt hat, nämlich den Hund auf die Efrafranier zu hetzen? Und Vervain - er hat ihn besiegt, ohne einen Schlag auszuteilen. Fiver, du bist dir in dieser Sache sicher, nicht wahr?«

»Ja, ich bin mir sicher, daß das das einzig Richtige ist, Hazel«, erwiderte Fiver. »Ich kann nicht sehen, wie es ausgeht. Irgendwas Gewaltsames ist da, so kommt's mir vor. Trotzdem, es ist genau das, was wir tun müssen.«

»Mir reicht das«, sagte Hazel. »Wir brechen morgen noch vor der Dämmerung auf, bevor die anderen Kaninchen auf sind. Bigwig, du kommst doch mit, hoffe ich? Mir wäre wohler, wenn ich dich bei mir hätte.«

Bigwig zögerte einen Augenblick. Schließlich sagte er langsam: »Na gut, ich komme mit. Aber Frith helfe dir, Fiver, wenn du nicht recht hast.«

»Hyzenthlay bleibt hier und sagt ihnen morgen, daß wir gegangen sind«, erklärte Hazel. »Ich weiß natürlich nicht, wann wir zurückkommen, aber bis dahin ist sie hier das Leitkaninchen.«

Die drei brachen am nächsten Morgen auf, und bei Sonnenaufgang hatten sie den Watership Down schon weit hinter sich gelassen. Allmählich ließ jedoch ihr Tempo nach, denn Stonecrop war ja, trotz seiner Größe und Stärke, nicht an Märsche dieser Art gewöhnt; so waren sie gezwungen, immer häufiger anzuhalten und Rast zu machen. Bigwig war sehr geduldig und munterte ihn in freundlichster Weise auf. Aber Hazel, der natürlich Bigwig ganz genau kannte, spürte, daß er sich sehr unbehaglich fühlte; ihn beunruhigte die lange Zeit, die sie in freiem Gelände verbrachten, zumal mit einem völlig unerfahrenen Kaninchen, das so wenig von der Lebensweise normaler Kaninchen wußte und auch die unzähligen kleinen Zeichen nicht kannte, mit denen sich Kaninchen, meist unbewußt, auf Reisen untereinander verständigen.

Als sie in der Mittagsglut unter einem dicken Dornbusch rasteten, sagte Stonecrop zu Bigwig: »Ich bin doch etwas darüber erstaunt, wieviel Angst ihr beiden vor diesen ... elil habt, wie ihr sie nennt.«

»Hast wohl noch nie welche getroffen?« fragte Bigwig.

»Nein, aber wenn, dann würde ich doch nicht weglaufen. Dann würde ich kämpfen. Ich kämpfe gegen jeden, der mich töten will.«

»Du mußt noch eine Menge lernen«, meinte Bigwig. »Es gibt elil, gegen die kannst du nicht an, sie sind einfach zu groß oder zu stark für Kaninchen, dann mußt du dich entweder verstecken oder rennen. Ich würde ungern mit ansehen, wie du dein Leben wegwirfst für nichts und wieder nichts.«

»Also ich würde ungern vor einem Feind davonlaufen«, sagte Stonecrop. »Aber ich will natürlich nicht mit dir streiten; du nimmst soviel auf dich, um mir zu helfen.«

»Du bist bestimmt besser dran, wenn du einfach meinen Rat annimmst«, entgegnete Bigwig. »Jedenfalls im Augenblick. Aber wenn du jetzt ausgeruht bist, dann sollten wir weitergehen. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«

Am Nachmittag ging es noch langsamer voran, und es war schon fast Abend, als sie in die Nähe von Groundsels Gehege kamen. Als sie in Sichtweite waren, hielten Hazel und Bigwig abrupt an und setzten sich erschreckt auf die Hinterläufe.

»Da stimmt etwas nicht«, rief Bigwig aus. »Was in aller Welt mag da vorgehen? Sieh mal, als ob sie alle um ihr Leben liefen.«

Während sie noch sprachen, sahen sie lauter Kaninchen, die mit großen Sätzen aus den Löchern im Hang sprangen und in alle Richtungen rannten, nur noch auf Flucht bedacht. Hazel und Bigwig beobachteten es entgeistert.

»Schau doch, da ist Groundsel selber, und er rennt wie die anderen«, sagte Hazel.

»Ich werde ihn aufhalten«, erklärte Bigwig. »Wir müssen der Sache auf den Grund gehen.«

Er lief auf die linke Seite, bis er vor Groundsel stand, der ihn aber gar nicht wahrzunehmen schien, sondern mit ihm zusammenstieß und ihn fast umrannte. Bigwig sprang auf ihn und hielt ihn am Boden fest.

»Was ist los, Groundsel?« fragte Hazel. »Was geht hier vor?«

»Laßt mich los, laßt mich geh'n«, kreischte Groundsel. »Geht weg, laßt mich laufen!«

»Erst sagst du uns, was hier los ist!« befahl ihm Hazel. »Seid ihr alle verrückt geworden? Los, rede!«

»Die Wiesel!« keuchte Groundsel. »Seht ihr sie nicht? Sie jagen durchs ganze Gehege. Laßt mich los, verdammt!«

Hazel und Bigwig starrten auf den Hang und die Kaninchenlöcher. Und richtig, da sahen sie die Wiesel, mehr als vier, die im Rudel jagten, von einem Ende des Geheges bis zum anderen. Es war ein erschreckender Anblick. Wie Ameisen rannten sie sehr geschwind über einen kurze Strecke, verhielten und durchsuchten beide Seiten, bevor sie sich wieder zu ihren Kumpanen gesellten und in einer Linie wieder weiter vorgingen, und zwar ganz systematisch, wie es den entsetzten Zuschauern schien. Hier und da schoß ein Rotkopf kurz aus einem Loch, verschwand wieder und tauchte in einem anderen auf. Die ganze Zeit schrien sie sich gegenseitig kurze, scharfe Laute zu.

Hazel und Bigwig, nicht weniger entsetzt als alle anderen, wandten sich schon zur Flucht, als Stonecrop sie zur Seite stieß.

»Ich hab' keine Angst«, schrie er. »Ich hab' keine Angst vor diesen dreckigen kleinen Biestern, diesen elil oder wie ihr sie nennt. Los! Kommt! Auf sie!«

Und damit lief er stracks zum Hang.

»Stonecrop, komm zurück!« brüllte Bigwig. »Zurück mit dir, die bringen dich um!«

»Das wollen wir erst mal sehen, verdammt noch mal«, rief Stonecrop und setzte sich in Galopp, der ihn mitten zwischen die Wiesel auf dem Hang katapultierte.

Hazel sah, wie sie herumschnellten, um ihn zu Boden zu reißen. Aber was war das? Die zwei, die ihm am nächsten waren, schreckten plötzlich schnüffelnd zurück und quiekten vor Entsetzen; die anderen verstanden, was gemeint war, und dann quiekten sie alle mit ihren garstigen schrillen Stimmen: »Mensch! Mensch! Lauft, rennt! Mensch!«

Sie taumelten alle zusammen den Hang hinunter, fielen übereinander, sammelten sich unten und flohen kreischend und quiekend ins Unterholz.

»Na, seht ihr?« sagte Stonecrop, als Hazel und Bigwig noch zitternd am Fuß des Hangs zu ihm stießen. »Diese widerlichen kleinen Drecksdinger. Ich hätte ein paar von denen noch kaltgemacht, wenn sie nicht so schnell weggerannt wären.«

Langsam kamen die anderen Kaninchen zurück und starrten Stonecrop an wie ein übernatürliches Wesen. Endlich tauchte auch Groundsel wieder auf, zusammen mit drei oder vier seiner Owsla, die alle noch schwer erschüttert waren.

»Ich habe dich gesehen«, sagte einer von ihnen zu Stonecrop. »Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie du die Wiesel weggescheucht hast. Ich kann immer noch nicht fassen, was ich gesehen habe.«

»Ich bitte euch, das war doch gar nichts«, erwiderte Stonecrop. »Das hätte doch jeder machen können. Man muß ihnen einfach nur die Stirn bieten, das ist alles.«

»Nein«, sagte Hazel und grüßte Groundsel in der vorgeschriebenen Weise von Leitkaninchen zu Leitkaninchen, »das ist nicht alles. Es verblüfft mich, daß wir offenbar genau zur richtigen Zeit aufgetaucht sind. Groundsel-rah, darf ich dir erklären, wer dieses Kaninchen ist und warum Bigwig und ich mit ihm hergekommen sind?«

Inzwischen waren weitere Mitglieder der Owsla zurückgekommen, und Hazel, der sich in ihre Mitte gesetzt hatte, erzählte ihnen alles über Stonecrop, über den Aufruhr auf dem Watership Down und von Fivers Rat, ihn hierher zu bringen und Groundsel zu bitten, ihn aufzunehmen.

»Aufzunehmen?« fragte Groundsel, als Hazel geendet hatte. »Aufzunehmen?« sagte er und wandte sich an Stonecrop. »Du hast das ganze Gehege gerettet. Wenn du willst, kannst du jahrelang bleiben. Du kannst deinen eigenen Wohnkessel haben und dir jedes Weibchen aussuchen, das dir gefällt. Als Gegenleistung bitte ich dich lediglich darum, daß du jeden Morgen und Abend langsam durch alle Gänge und Röhren im Gehege gehst und dich vergewisserst, daß sie riechen, wie es sich gehört.«

Hazel und Bigwig blieben noch ein paar Tage als Groundsels Gäste. Das schöne Wetter hielt an, und mit Genugtuung sahen sie Stonecrop nicht nur angenommen, sondern von den anderen Kaninchen fast wie eine Berühmtheit behandelt.

»Fiver hat also recht gehabt«, sagte Bigwig eines Abends, als sie unter einem karminroten Himmel silflay machten.

»Er hat immer recht«, erwiderte Hazel. »Und das kann uns ja nur recht sein, oder?«

19. Campion


Erscheint es gleich ein wenig aus der Mode, der Wäl'sche hat viel Sorgsamkeit und Mut.

Shakespeare (Heinrich V.)


Es blieb weiter schön, und Groundsels Kaninchen, die den Schock der Wieselattacke mehr oder weniger gut überwunden hatten, bauten ihr Gehege in vorbildlicher Weise weiter aus; es wurde unter dem Namen Vleflain bekannt. Viele Weibchen, teils vorn Watership Down, teils aus Efrafra, waren schwanger, und der natürliche Instinkt trieb sie dazu, Setzbaue und Kessel zu graben. Die Männchen waren hauptsächlich damit beschäftigt, Röhren und Quergänge zwischen den verschiedenen Teilen des Geheges anzulegen. Wer jemals in alten Gehegen frettiert hat, weiß, über welch unglaubliche Entfernungen sich solche Gänge im Innern eines Geheges erstrecken können. Die Gründer von Vleflain wurden jedoch weder von Frettchen noch von anderen marderartigen Raubtieren belästigt, und es sah so aus, als wäre Groundsels Furcht vor Wieseln in der Nähe völlig unbegründet gewesen.

Hazel machte sich nicht die Mühe, Vleflain noch einmal zu besuchen, er gab sich mit den gelegentlichen Berichten Kehaars, daß alles zum Besten stehe, zufrieden. Er hatte Avens, den Anführer der Efrafra-Emigranten, nie selbst kennengelernt, aber warum sollte er Groundsels Urteil in Zweifel ziehen, der ihn dem Job gewachsen hielt?

Hazels Veteranen schien es eine große Verbesserung, daß die Einwohnerzahl im Gehege vom Watership Down auf ein annehmbares Maß verringert worden war; sie waren im übrigen seiner Meinung. »Keine Nachrichten sind gute Nachrichten, Hazel-rah«, sagte Bigwig. »Wären sie von Gefahren bedroht oder hätten sie Ärger, dann würden sie uns das sehr schnell mitteilen. Ein paar von unseren Kaninchen haben mich gefragt, ob sie nicht auch nach Vleflain ziehen könnten. Ich hätte natürlich Groundsel erst per Boten fragen sollen, dachte mir aber, das geht schon in Ordnung, und hab' ihnen nur gesagt, sie sollten sich von Kehaar den Weg zeigen lassen.«

Der Frühling mündete in den Sommer, und eines Abends, als alles beim silflay war, kam kein Geringerer als Buckthorn von Vleflain mit einer Nachricht von Groundsel: Hazel möge doch so bald wie möglich hinkommen und ihn beraten.

»Nanu, was gibt's da für Schwierigkeiten?« fragte Hazel.

»Also, nicht direkt Schwierigkeiten, Hazel-rah«, antwortete Buckthorn. »Man könnte es eher einen gewissen Ärger nennen. Wir sind ziemlich besorgt. Aber Groundsel-rah hat mir aufgetragen, nichts zu sagen, das wolle er selber tun, wenn du erst da bist. Falls du noch einen Anstoß brauchen solltest, kann ich dir sagen, daß es sich um Efrafra handelt.«

»Efrafra? Ach du heiliger Kohlkopf«, rief Hazel. »Ich dachte, das sei alles längst erledigt. Also gut, dann werden wir wohl morgen gehen, Fiver und ich, wenn das Wetter so bleibt. Wenn du keine Lust hast, gleich wieder umzukehren, bleib doch ruhig ein paar Tage bei mir im Bau, besuch ein paar alte Freunde und kehr zurück, wenn dir danach ist. Übrigens«, fügte er hinzu, »warum muß ich eigentlich dort hingehen? Warum kommt Groundsel nicht selber her, wenn er mich sehen will?«

»Er organisiert ein Treffen«, erwiderte Buckthorn, »und ich glaube, sogar Hauptmann Campion wird kommen.«

»Campion? Heiliger Frith, dann muß es etwas wirklich Unangenehmes sein«, sagte Hazel. »Wo immer Campion ist, da gibt's Ärger, jedenfalls war das bisher so, das habe ich inzwischen begriffen.«

Am nächsten Morgen brachen sie nach Vleflain auf, Hazel und Fiver, mit gelegentlicher Luftüberwachung von Kehaar. Sie kamen spät nachmittags an, und Groundsel war fast zu überschwenglich froh, als er sie begrüßte. »Ah, jetzt wird alles gut, da ihr beide hier seid«, sagte er. »Kommt und setzt euch in die Sonne. Erzählt mir alles von den Freunden daheim. Wie geht's dem unglückseligen Sandwort? Schickt ihn doch her, die Veränderung wird ihm guttun.«

»So wie es ihm jetzt geht, käme er nie hier an«, sagte Fiver. »Es wird noch lange dauern, bis der sich ganz berappelt hat. Viele Kaninchen hätten gar nicht überlebt, was der durchgemacht hat.«

»Komm, wir machen mal einen Rundgang ums Gehege. Möchte mal sehen, was ihr draus gemacht habt. Alle gut untergebracht, hoffe ich.«

»O ja«, antwortete Groundsel. »Wir haben ja eine Menge Platz hier, und das macht schon viel aus. Ich habe sogar noch zwei mehr aus Efrafra angenommen, Freunde, die ich letztes Jahr kennengelernt habe, als ich selbst in Efrafra war. Wie zu erwarten, sagen sie, ohne Woundwort sei es jetzt da viel besser.«

Hazel und Fiver übernachteten in Groundsels Wohnkessel und wurden am nächsten Morgen schon früh geweckt durch ein junges Kaninchen, das etwas ausrichtete. »Hauptmann Campion ist hier, Groundsel-rah«, sagte es, »und er sagt, er ist jederzeit zu einem Gespräch bereit.«

»Wo hast du denn den >Hauptmann< her?« fragte Groundsel scharf. »Für dich ist das >Campion-rah<, weißt du das nicht?«

»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, sagte der Junge. »Man spricht überall von ihm als Hauptmann, und ich habe es einfach übernommen.«

Sie gingen in den herrlich frischen, klaren Morgen hinaus und fanden Campion in der Sonne sitzend, am Fuß des Hangs. Er und Hazel begrüßten sich reserviert und etwas verlegen. Als sie das letzte Mal zusammengewesen waren, an jenem schrecklichen Abend am Watership Down, hatte Campion Woundwort gefragt, ob er Hazel töten solle. Das hatte keiner von beiden vergessen, doch waren beide bemüht, nicht mehr darauf zurückzukommen. Als Strawberry zu ihnen stieß, konnte Hazel die peinliche Situation überspielen, indem er ihn als alten Freund und Gefährten begrüßte und fragte, wie es ihm im neuen Gehege gefalle. In seiner Antwort lobte Strawberry vor allem seine Kaninchen, die schwer gearbeitet und sich gut eingelebt hätten, sowohl die vom Watership Down wie die von Efrafra.

»Campion«, begann Groundsel, »du bist zwar lange Zeit das Leitkaninchen von Efrafra gewesen, genauer gesagt seit dem Verschwinden von Woundwort im letzten Sommer, hast aber trotzdem eine Menge mit meinem Gehege hier zu tun, nicht wahr? Du bist öfter hier gewesen.«

»Das stimmt«, antwortete Campion.

Er ist zu vornehm und stolz, um Ausreden zu machen oder etwas zurückzuhalten, dachte Hazel. Worum es hier auch immer geht - jedenfalls brauchen wir keine Informationen aus ihm herauszuquetschen oder ihm vorzuwerfen, daß er lüge. »Jeden, der kommen will«, fuhr Campion fort, »nehme ich mit auf die Große Streife.«

»Warum begnügst du dich nicht damit, deine eigenen Leute aus Efrafra mitzunehmen?«

»Weil sie nicht mitkommen«, antwortete Campion, ohne zu zögern. »Kein einziger.«

»Und warum nicht? Weißt du das?«

»Weil sie die Große Streife mit Woundwort in Zusammenhang bringen«, sagte Campion. »Sie wollen nirgends teilnehmen, wenn sie denken, es hat mit Woundwort zu tun.«

»Na und? Die Großen Streifen haben eben eine Menge mit Woundwort zu tun, das stimmt doch, oder?«

»Das stimmt«, bestätigte Campion und wartete schweigend, daß Groundsel weiterspräche.

»Er hat sie doch erfunden, nicht wahr?«

»Ja.«

»Aber du kommst hierher und pumpst Woundworts Ideen in meine Kaninchen.«

»Das tue ich nicht. Ich gehe auf Große Streife und nehme einfach alle Kaninchen mit, die mitkommen wollen.«

»Das ist alles? Du erzählst ihnen nichts von Woundwort und seinen Taten?«

»Ich spreche nie von ihm.«

»Und du hast nicht vor, Einfluß auf meine Kaninchen zu gewinnen, so daß sie für dich kämpfen? So daß du dieses Gehege übernehmen kannst?«

»Ganz sicher nicht.«

»Da bin ich anderer Meinung.«

»So etwas kann dir kein Kaninchen, das ich mitgenommen habe, jemals erzählt haben.«

»Und warum nicht?«

»Weil ich ihnen immer wieder versichere, daß ich keine Pläne in dieser Hinsicht habe. Ich habe nicht den mindesten Ehrgeiz, Vleflain zu übernehmen.«

»Und warum kommst du dann her und überredest meine Kaninchen, mit dir auf die Große Streife zu gehen?«

»Ich überrede sie nicht. Sie sind ganz wild darauf mitzukommen.«

»Wegen deiner Ausstrahlungskraft. Sie möchten dich zum Freund haben.«

Campion antwortete nicht darauf.

»Ist es nicht so?«

»Möglicherweise.«

»Du bist ein berühmtes Kaninchen. Du warst Woundworts bester Offizier. Du hast den Angriff auf Nutley Copse geführt. Du hast seinetwegen alles Kaninchenmögliche getan, um mit den Efrafraniern Hazels Gehege zu vernichten, und du hast die Überlebenden nach Efrafra zurückgeführt, was kein anderer fertiggebracht hätte. Glaubst du wirklich, daß meine Kaninchen dich bewundern und so werden wollen wie du?«

»Das kann sein. Aber wie gesagt, ich nehme lediglich alle Kaninchen mit auf Große Streife, die mitkommen wollen.«

»Zu welchem Zweck?«

»Zu meiner Freude und zu ihrem Besten.«

»Das ist alles?«

»Ja.«

Eine Pause entstand. Ein junges Kaninchen kam, um mit Groundsel zu sprechen, der es kurz angebunden wegschickte. »Nicht jetzt, nicht jetzt!«

Fiver ergriff das Wort. »Du hast gesagt >zu meiner Freude und zu ihrem Besten<. Könntest du uns das etwas erläutern? Was macht dir dabei Freude, und warum glaubst du, ist es zu ihrem Besten?«

Campion schwieg eine Weile, als überlegte er seine Antwort. Als er dann wieder sprach, geschah es in einem gelösten, sanftem Ton, ganz anders als vorher in seinen scharfen, kurzen Antworten.

»Ich bin in Efrafra aufgewachsen; ich habe Woundwort schon früh bewundert, obwohl er damals keinen Blick für mich hatte; und nach einer Weile stellte ich fest, daß ich einer der wenigen war, die er respektierte und denen er zutraute, das zu tun, was er wollte, auch wenn er nicht selber da war - all das sind Erfahrungen, die mich zu dem gemacht haben, der ich bin - sei es gut oder schlecht. Sie haben mir Selbstvertrauen gegeben, mich befähigt, selber zu denken, in Woundworts Sinn zu denken und zu handeln, wenn er mir nicht sagen konnte, was ich tun sollte. Das war mein ganzes Leben. Und nun, da er von uns gegangen ist, kann doch niemand erwarten, daß ich seine Lehren binnen Monaten für nichtig erkläre. Natürlich weiß ich jetzt, daß alles, was er getan und gedacht hat, falsch war. Das brauche ich euch wohl nicht zu sagen.«

Er machte eine Pause, aber niemand sprach, und so fuhr er bald darauf fort:

»Die Überlebenden letzten Sommer allein zurückzubringen, vom Watership Down bis nach Efrafra - das war das Schwerste, das ich je zu tun hatte, und zwar ohne den General. Da war das letzte bißchen Kraft und alles Selbstvertrauen, das ich in mir aufbringen konnte, gefordert. Es hat mich fast umgebracht, aber als wir endlich heimgekehrt waren und ich mich erholt hatte - warum sollte ich da nicht stolz auf das sein, was ich fertiggebracht hatte? Da wußte ich endlich, wozu ich fähig war.

Aber ich zeigte es nicht. Ich dachte eigentlich, sie würden mich wohl töten, die Kaninchen, die Woundwort gehaßt hatten und die nur Vervain und Woundworts eigene Autorität bis jetzt zurückgehalten hatten. Aber sie töteten mich nicht. Sie machten mich zum Leitkaninchen. Sie brauchten mich, um für sie zu denken und zu handeln, um Woundwort Stück für Stück abzubauen und nur das von ihm zu bewahren, was nützlich war.

Und am nützlichsten erschien mir immer die Große Streife - nützlicher als alles andere zusammengenommen. Woundwort predigte immer wieder, daß Kaninchen nicht wegzulaufen brauchten; sie müßten sich auch nicht in Löchern verstecken, sie könnten die elil schlagen, wenn sie nur entschlossen und mit Selbstvertrauen kämpften. Und deswegen müßten sie lernen, wachsam, selbstbewußt, zäh und tapfer zu sein - und das lernten sie durch die Großen Streifen.

Eine Große Streife an einem sonnigen Morgen anzuführen - es gibt nichts Schöneres auf der Welt. Zu wissen, sie vertrauen dir, sie wollen mitkommen. Zu wissen, daß Gefahren drohen und trotzdem zu gehen, und dieses Gefühl vermitteln zu können. Und wenn dann wirklich Gefahren auftreten, dann trotzt man ihnen und bekämpft sie oder entkommt ihnen, indem man seinen Kopf benutzt. Und dann siehst du deine Kaninchen, die drei oder vier, die mit dir auf Streife gehen, wie sie ständig besser werden, bis sie so gut sind, daß sie selber eine Streife führen können. All das ist erfreulich, das kann ich euch versichern. Große Streifengänge erziehen jeden zum geschickten Fährtenleser, schnellen Renner und mutigen Kämpfer. Das weißt du, Groundsel. Du bist selber Offizier in Efrafra gewesen und hast so manche Streifengänge mitgemacht.«

Er machte eine Pause und schaute seine Befrager der Reihe nach an. Hazel fragte: »Kamen denn auf diesen Streifen nicht auch Kaninchen zu Tode?«

»Nicht mehr, als wir uns zu verlieren leisten konnten«, antwortete Campion. »Nachdem ich letzten Herbst zu einem einigermaßen normalen Leben zurückgekehrt war, versuchte ich, die Tradition der Großen Streifen weiterzuführen, aber niemand wollte mitkommen. Die Kaninchen sagten, sie hätten genug von >Woundworts Spinnereien<, und da mußte ich es aufgeben. Sie unter Druck zu setzen, hätte sicher mein Todesurteil besiegelt.

Aber es drängte mich, wieder eine Große Streife anzuführen, einfach zu meiner eigenen Freude. Aber allein kann man nicht auf Große Streife gehen. Ihr wüßtet das, wenn ihr's je probiert hättet. Das gegenseitige Vertrauen und die Kameradschaft fehlen.

Deshalb kam ich her. Ich wollte sehen, ob die Lage hier in Vleflain vielleicht anders wäre. Und sie war anders. Ich brauchte niemanden zu beschwatzen. Von Anfang an hatte ich Anwärter für drei, vier Streifen und sogar noch mehr. Und das meine ich, wenn ich sage, ich mache es zu meiner Freude und zu ihrem Besten. Die Kaninchen, die ich hinausgeführt habe, haben sehr viel zugelernt.«

»Aber es stimmt doch«, beharrte Hazel, »daß eine beachtliche Anzahl Kaninchen auf deinen Streifengängen getötet worden ist oder als vermißt gilt?«

»Beachtliche Anzahl würde ich nicht sagen«, entgegnete Campion. »Einige wenige ist angemessener. Und das ist der Preis, der bezahlt werden muß für das, was man gewinnt.«

»Warum hast du das nicht vorher mit mir besprochen?« fragte Groundsel. »Ich bin hier das Leitkaninchen, falls das deiner Aufmerksamkeit entgangen sein sollte.«

»Sprich nicht so mit mir«, sagte Campion aufbrausend. »Ich weiß noch, wie du ein Niemand warst. Und wenn du die Wahrheit hören willst, dann sag ich dir, ich hatte keine Lust, einen untergebenen Efrafra-Offizier um eine Gefälligkeit zu bitten.«

»Wir sind aber jetzt nicht in Efrafra«, belehrte ihn Groundsel. »Wir sind in Vleflain, und ich bin das Leitkaninchen.«

Bevor der aufgebrachte Campion antworten konnte, meldete sich Fiver zu Wort.

»Ich glaube, wir sollten eine kleine Pause machen. Würde mich gern mal mit deinem Löwenzahn beschäftigen, Groundsel. Der riecht erstklassig, besser als alles, was wir sonst auf dem Down haben. Offenbar gedeiht Löwenzahn nicht so gut auf den Downs.«

In Begleitung von Hazel ging er ein kleines Stück am Hang entlang, wo die beiden eine ganze Weile in ein ernsthaftes Gespräch vertieft waren. Als sie zu den anderen zurückkehrten, sagte Hazel sofort: »Campion-rah, willst du nicht ein Weilchen in unserem Gehege bleiben? Was hältst du davon? Du kannst sooft auf Streife gehen, wie du willst, und wir haben genug junge Kaninchen, die sich darum reißen werden, dich begleiten zu dürfen. Ich bin überzeugt, sie würden davon nur profitieren, wenn du erst einmal eingezogen bist und damit anfängst.«

Groundsel und Campion waren beide gleichermaßen verblüfft. Keiner von ihnen gab eine Antwort, und Hazel fuhr fort: »Ich kenne ein Kaninchen, das hocherfreut wäre, dich zu sehen, nämlich Bigwig. Er hat oft in den höchsten Tönen von dir gesprochen und sich immer gewünscht, dich besser kennenzulernen.«

Es war offenkundig, daß Campion der Idee nicht ablehnend gegenüberstand. Während er noch schwieg, meldete sich Fiver: »Ich bin sicher, es findet sich jemand, der sich eine Weile um Efrafra kümmert. Natürlich nicht so einer wie du, das ist klar, aber wenn es da wirklich Schwierigkeiten geben sollte, dann kannst du doch leicht in anderthalb Tage wieder dort sein. Kehaar sagt sofort Bescheid, wenn man dich dort braucht.«

»Also gut«, antwortete Campion endlich. »Ich würde sehr gern für eine gewisse Zeit kommen, und natürlich würde ich mit Wonne Bigwig Wiedersehen, diesmal als Freund. Allerdings glaube ich, daß mich eine Menge deiner Jungkaninchen vermissen werden, Groundsel, davon bin ich überzeugt.«

»Du kannst ja jederzeit eine deiner Großen Streifen hierher führen und sie Wiedersehen«, sagte Groundsel, beinahe ernsthaft. »So weit weg ist das ja wirklich nicht.«

Als Campion seinen Freunden und Verehrern in Vleflain Bescheid sagte, waren sie sehr enttäuscht. Zwei der Kaninchen, Loosestrife und Knapweed, baten Hazel, mitkommen zu dürfen, und Groundsel hatte keine Einwände.

Sie brachen am nächsten Tag auf und erreichten Watership Down ohne Feindberührung. Hyzenthlay war völlig überrascht und begrüßte Campion und seine Anhänger, und Hazel teilte ihnen einen eigenen Wohnkessel zu - übrigens den von Flyairth.

Campion fing klugerweise klein an, das heißt mit kurzen, leichten Streifengängen, die Bluebell »Hin-und-zurück« nannte. Einer seiner ersten und eifrigsten Rekruten war Sandwort, dem Campion allerdings sagte, nachdem er ihn eingeschätzt hatte, er solle sich zunächst einmal mit kleineren Aufgaben zufrieden geben. Nach einer langen und anstrengenden Streife in die Gegend westlich von Beacon Hill, berichtete Bigwig, der teilgenommen hatte, Hazel und Fiver, daß Carnpions Führungseigenschaften bewundernswert waren - besser als seine eigenen.

»Was für ein Segen, daß sie sich angefreundet haben«, meinte Fiver. »Ich hatte schon Angst.«

Den ersten Verlust hatten sie im Hochsommer zu beklagen: ein Weibchen namens Lemista, das sich eine Vorderpfote verletzt hatte, wurde von einem Hund angefallen und getötet, bevor Campion ihn vertreiben konnte. Hazel war fassungslos, aber Bigwig betrachtete das, wie Campion, »als Preis, der zu bezahlen war«.

»Wo immer dieses Kaninchen seine Arbeit macht, Hazel-rah«, sagte er, »und es macht sie wirklich gut, wird es immer mal Verluste geben; unsere Kaninchen sind nicht verschieden von anderen Kaninchen.«

»Doch, sind sie«, antwortete Hazel. »Sie sind anders, wenn du sie persönlich kennst.« Doch unternahm er nichts, um Campions Maßnahmen einzuschränken oder zu ändern, denn niemand verlangte das von ihm. Die jüngeren Kaninchen verehrten Campion. Er hatte keine Feinde. Im Gehege betrachteten sie ihn als einzigartige Bereicherung. Man konnte nur dann Ansehen gewinnen, wenn man ein paar Streifen mitgemacht hatte.

Jedenfalls blieb er, bis er zu einer festen Einrichtung im Gehege geworden war - ein hageres, graues Kaninchen, das hier und da auch gern einem seiner besten und verläßlichsten Anhänger die Streifenführung anvertraute, obwohl jeder Lehrling von ihm geführt und angelernt werden wollte. »Jeder kann das übernehmen, wenn er es erst einmal gelernt hat«, pflegte er zu sagen, »und viele können es schon besser als ich.« Aber das stimmte nicht, und seine Maßstäbe blieben so hoch wie eh und je.

Besonders eine Eigenschaft schätzten alle an ihm: Er nörgelte nie. Er sagte niemals etwas wie »Diese jungen Kaninchen von heute sind nicht so, wie wir einmal waren«. Im Gegenteil, er war freundlich, lobte seine junge Mannschaft und machte ihr Mut. »Aber glaubt nur nicht, daß ihr gut seid«, fügte er dann hinzu. »Mir braucht ihr nicht zu beweisen, wie gut ihr seid, sondern den elil, wenn ihr ihnen über den Weg lauft. Dann könnt ihr es euch nämlich nicht mehr leisten, nicht gut zu sein. Ich hoffe, ihr versteht das.«

Er starb auf einer Streife, so wie er sich das gewünscht hätte. An einem regennassen Nachmittag im April führte er eine Streife über Kingsclere hinaus, und da tauchten direkt vor ihnen zwei streunende Katzen auf. Alle fünf Kaninchen behaupteten sich tapfer, und es gab ein scharfes Gefecht, bis die Katzen endlich doch froh waren, abhauen zu können. Doch Campion war tödlich verwundet worden und starb noch auf dem Kampfplatz.

Mit der Zeit wurde er ebenso zur Legende wie Woundwort. Wenn sich an regnerischen Abenden eine von der Dunkelheit überraschte Streife verirrte und nicht weiterwußte, zog auf einmal Zuversicht ins Herz des Streifenführers ein und geleitete sie alle sicher nach Hause. Sie wußten dann, daß es Hauptmann Campion war, der sie geleitet hatte - einst Held von Efrafra, doch nicht minder ein Held für die Kaninchen vom Watership Down.

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