Erster Teil

1. Der Geruchssinn


... sie haben Nasen, aber riechen nicht.

Psalm 115


Wer wagt, gewinnt.

Motto der S.A.S.


»Erzähl uns eine Geschichte, Dandelion!«

Es war ein schöner Maiabend im Frühling nach dem Sieg über General Woundwort und die Efrafranier auf Watership Down. Hazel und einige seiner Veteranen, die seinerzeit Sandleford verlassen hatten, lagerten auf dem warmen Rasen, grasgesättigt, müßig und bequem. Kehaar, die Möwe, pickte in der Nähe zwischen den Grasbüscheln herum, nicht sosehr, um Freßbares zu finden, als um die noch unverbrauchte Energie, die ihm verblieben war, auf seine rastlose Möwenart zu verbrauchen.

Die Kaninchen hatten sich schwatzend unterhalten und einiger ihrer großen Abenteuer des vergangenen Jahres gedacht: Wie sie das Sandleford-Gehege nach Fivers Vorahnung kommenden Unheils verlassen hatten; wie sie dann nach Watership Down, einem grasbedeckten Hügelland, gezogen waren, ihr neues Gehege dort gegraben und auf einmal verblüfft bemerkt hatten, daß kein einziges Weibchen unter ihnen weilte. Hazel hatte sich an den unbesonnenen Überfall auf die Nuthanger Farm erinnert, bei dem er beinahe sein Leben verloren hatte. Das wiederum hatte einigen von ihnen die Expedition zum großen Fluß ins Gedächtnis gerufen; Bigwig hatte immer wieder von neuem erzählen müssen, wie er als angeblicher Offizier von General Woundwort Efrafra unterwandert und Hyzenthlay überredet hatte, den Weibchentrupp aufzustellen, der dann während des Gewitters ausgebrochen war. Blackberry hatte versucht, den Trick mit dem Kahn zu erklären, der ihnen die Flucht flußabwärts ermöglicht hatte, aber es gelang ihm nicht recht. Bigwig hatte es allerdings abgelehnt, von seinem unterirdischen Kampf mit General Woundwort zu erzählen, den er, wie er betonte, möglichst schnell vergessen wollte. Statt dessen hatte Dandelion berichtet, wie der Hund der Nuthanger Farm, den Hazel losgebunden hatte, ihn und Blackberry bis in die Reihen der Efrafranier verfolgt hatte, die auf dem Down versammelt waren. Kaum war er mit seinem Bericht fertig, kam schon von allen Seiten der altbekannte Ruf: »Erzähl uns eine Geschichte, Dandelion!«

Dandelion ging nicht sofort darauf ein; er knabberte am Gras herum und hopste zu einem sonnigeren Platz, wo er sich niederließ; dabei dachte er offensichtlich nach. Schließlich eröffnete er den anderen: »Ich werde euch heute Abend mal eine neue Geschichte erzählen, eine, die ihr noch nie gehört habt. Sie betrifft eines der größten Abenteuer von El-ahrairah.«

Er machte eine Pause, setzte sich aufrecht hin und rieb sich mit den Vorderpfoten über die Nase. Niemand drängte den Meistererzähler, der sich Zeit ließ und offenbar seinen Rang und seine Beliebtheit auskostete. Eine leichte Brise strich durch das Gras, und eine Lerche, die ihr Lied gerade beendet hatte, landete in ihrer Nähe und startete alsbald zu neuen Höhenflügen.

Es war einmal vor langer Zeit, erzählte Dandelion, daß die Kaninchen keinen Geruchssinn hatten. Sie lebten genauso wie heute, aber ohne Geruchssinn zu leben, ist ein unerhörter Nachteil. Sie hatten an einem Sommermorgen nur halb so viel Vergnügen wie alle andern und konnten im Gras nicht erkennen, was es da zum Fressen gab, wenn sie nicht direkt draufbissen. Aber das Schlimmste war, daß sie nicht riechen konnten, wenn Feinde nahten, und das bedeutete leider, daß viele Kaninchen Hermelinen und Füchsen zum Opfer fielen.

Nun wurde es El-ahrairah bewußt, daß seine Kaninchen keinen Geruchssinn besaßen, während doch ihre Feinde und andere Geschöpfe, sogar Vögel, durchaus darüber verfügten, und er beschloß, diesen Sondersinn zu finden und seinem Volk zugänglich zu machen, wie hoch auch immer der Preis wäre. Er hörte überall herum, bat um Rat und fragte, wo dieser Sinn des Geruchs zu finden sei. Doch das wußte niemand, bis er zum Schluß auf ein altes weises Kaninchen traf - Heartsease war sein Name -, das er in seinem Gehege aufsuchte und um Rat ersuchte.

»Ich weiß noch, als ich jung war«, sagte Heartsease, »wie unser Gehege einer verwundeten Schwalbe Obdach gewährte. Es war eine weitgereiste, weltläufige Schwalbe, und sie war voller Mitleid, weil wir keinen Geruchssinn hatten. Der Weg zum Geruchssinn, verriet sie uns, führt durch ein Land ewiger Finsternis, wo er von einer Bande grimmiger und gefährlicher Ungeheuer bewacht wird. Man nennt sie die Ilips, und sie wohnen in Höhlen. Mehr wußte sie auch nicht.«

El-ahrairah dankte Heartsease, und nach langem Grübeln suchte er den Fürsten Regenbogen auf. Er erzählte ihm, er habe vor, in dieses Land zu gehen, und bat den Fürsten um Rat.

»Du solltest es besser gar nicht erst versuchen, El-ahrairah«, sagte Fürst Regenbogen. »Wie willst du denn deinen Weg durch ein Land ewiger Finsternis zu einem Ort finden, den du nicht kennst? Selbst ich bin nie dort gewesen, und ich habe auch nicht die geringste Absicht, jemals dorthin zu gehen. Du wirfst doch nur dein Leben weg.«

»Es ist für mein Volk«, antwortete El-ahrairah. »Ich bin nicht bereit zuzusehen, wie sie Tag für Tag zu Tode gehetzt werden, bloß weil sie keinen Geruchssinn haben. Habt Ihr keinen Rat für mich?«

»Nur diesen«, sagte Fürst Regenbogen. »Sag keinem, den du auf deiner Reise triffst, wohin du gehst und warum. In diesem Land laufen sehr seltsame Geschöpfe herum, und wenn es bekannt werden sollte, daß du keinen Geruchssinn hast, dann könnte es dir übel ergehen. Denk dir irgendein Ziel aus. Warte - ich gebe dir diesen Astralkragen mit, den du um den Hals tragen mußt. Den hat mir Frith, der Herr, einmal geschenkt. Vielleicht ist er dir nützlich.«

El-ahrairah dankte dem Fürsten und brach am nächsten Tage auf. Als er endlich an die Grenze des Landes der ewigen Finsternis gelangte, stellte er fest, daß sie sich mit einem Dämmerlicht ankündigte, welches sich allmählich zu einer umfassenden Finsternis vertiefte. Er wußte nicht, in welcher Richtung er weitergehen sollte, ihm fehlte jegliche Orientierung, so daß er möglicherweise letztlich immer im Kreise ging. Er hörte ringsum Bewegungen im Dunkel, und anscheinend kannten sich andere Geschöpfe da aus. Aber -waren sie freundlich gesinnt? Könnte man sie anreden, ohne Schaden zu nehmen? Voller Verzweiflung setzte er sich am Ende im Dunkeln hin und wartete schweigend, bis er eine Bewegung in seiner Nähe wahrnahm. Er sagte: »Ich habe mich verirrt und weiß nicht mehr aus noch ein. Kannst du mir helfen?«

Er hörte, wie das Geschöpf innehielt und nach einer kurzen Pause in einer fremdartigen, doch verständlichen Sprache fragte: »Wieso hast du dich verirrt? Wo kommst du her und wohin willst du?«

»Ich komme aus einem Land, in dem es Tageslicht gibt«, antwortete El-ahrairah, »und ich habe mich verirrt, weil ich nichts sehen kann und nicht an die Dunkelheit gewöhnt bin.«

»Aber du kannst doch riechen, wohin du läufst. Das kann doch jeder.«

El-ahrairah wollte gerade erwidern, daß es ihm an Geruchssinn ermangele, entsann sich aber der Warnung des Fürsten Regenbogen. Also sagte er nur: »Ja, ja, aber die Gerüche sind hier so anders, sie bringen mich ganz durcheinander.«

»Dann hast du also keine Ahnung, was für eine Art von Kreatur ich zum Beispiel bin?«

»Nicht die mindeste. Du scheinst jedenfalls nicht so ein Wilder zu sein. Das ist schon einmal ein Segen.«

El-ahrairah hörte, wie sich dieses Geschöpf hinsetzte. Nach einer Weile sagte er: »Ich bin ein Glanbrin. Gibt's da auch welche, wo du herkommst?«

»Nein, tut mir leid, ich habe noch nie von einem Glanbrin gehört. Ich bin ein Kaninchen.«

»Also ich habe noch nie von einem Kaninchen gehört. Ich will dich mal beschnüffeln.«

El-ahrairah saß mucksmäuschenstill, als das Geschöpf, das sich pelzig anfühlte und etwa so groß schien wie er, ihn sorgfältig von Kopf bis Fuß beschnüffelte. Schließlich sagte es: »Also mir kommt's vor, als wärst du so ziemlich von derselben Sorte wie ich. Du bist kein Raubtier, und du hast offenkundig ein sehr starkes Gehör. Was frißt du?«

»Gras.«

»Gibt's hier nicht. Im Dunkeln wächst kein Gras. Wir fressen Wurzeln. Aber ich glaube, du und ich sind uns sehr ähnlich. Willst du auch mal bei mir schnüffeln?«

El-ahrairah tat so, als beschnüffelte er den Glanbrin von oben bis unten. Dabei stellte er fest, daß der keine Augen hatte oder, anders gesagt, das, was seine Augen hätten sein können, das war hart, klein und eingesunken, fast in seinem Kopf verloren. Dennoch dachte El-ahrairah: Also, wenn das keine Abart von Kaninchen ist, dann heiße ich Dachs. Laut sagte er: »Ich glaube nicht, daß es viele Unterschiede zwischen uns gibt, außer daß ich eben ...« Er wollte gerade sagen »daß ich eben nicht riechen kann«, doch er beherrschte sich und endete mit »daß ich eben in dieser Dunkelheit völlig verwirrt und verloren bin.«

»Aber wenn deine Heimat ein Land im Licht ist, warum bist du dann hergekommen?«

»Ich will mit den Ilips reden.«

Er hörte, wie der Glanbrin erschreckt auffuhr. »Hast du gesagt, >mit den Ilips

»Ja.«

»Aber niemand wagt sich in die Nähe der Ilips. Die murksen dich ab.«

»Warum sollten sie?«

»Zum einen sind das Fleischfresser, und zum anderen sind sie grausam und böse. Und von allen gefürchteten Kreaturen in diesem Land sind sie die wildesten. Sie beherrschen die Schwarze Magie und kennen schlimme Zaubersprüche. Warum willst du mit ihnen reden? Da kannst du genausogut gleich in den Schwarzen Fluß springen.«

Nun schien es El-ahrairah unumgänglich, dem Glanbrin mitzuteilen, warum er zum Land der Finsternis gekommen war und was er für sein Volk erreichen wollte. Der Glanbrin hörte ihm schweigend zu und sagte schließlich: »Immerhin bist du mutig und warmherzig, das muß ich dir lassen. Aber was du vorhast, ist unmöglich. Am besten kehrst du gleich um.«

»Kannst du mich zu den Ilips führen?« fragte El-ahrairah. »Ich bin jedenfalls entschlossen, dort hinzugehen.«

Nach längerem Hin und Her gab der Glanbrin endlich nach und willigte ein, El-ahrairah so nahe an die Ilips heranzuführen, wie er es wagen durfte. Es sei eine Zweitagereise, sagte er, durch ein fremdes Land, das er nicht kannte.

»Woher willst du dann die Richtung wissen, in die wir gehen müssen?« fragte El-ahrairah.

»Wir gehen natürlich dem Geruch nach. Das ganze Land stinkt nach den Ilips. Willst du etwa sagen, du kannst das überhaupt nicht riechen?«

»Nein«, sage El-ahrairah, »ich kann's wirklich nicht.«

»Also, jetzt weiß ich tatsächlich, daß du keinen Geruchssinn hast. An deiner Stelle wäre ich froh, ich würde das nicht ändern. Dann brauchst du jedenfalls nicht die Ilips zu riechen.«

Zusammen machten sie sich auf den Weg. Unterwegs erzählte der Glanbrin von den Sitten und Gebräuchen seines Volks, die sich, wie es El-ahrairah schien, nicht sehr von denen seiner Kaninchen unterschied.

»Ihr lebt offenbar so ähnlich wie wir«, sagte er. »Immer gesellig zusammen, meine ich. Wie kommt es, daß du allein warst, als du mich getroffen hast?«

»Das ist eine traurige Geschichte«, erwiderte der Glanbrin. »Ich hatte mir eine Gefährtin erkoren, ein wunderbares Weib. Sie hieß Flairgold, und jeder hat sie bewundert. Wir gruben uns gerade einen Bau und wollten einen Wurf aufziehen. Da kam ein Fremder daher, ein ungeschlachter großer Glanbrin namens Shindyke. Er wollte mit mir kämpfen, sagte er, und mir Flairgold wegnehmen. Wir kämpften, und er gewann. Ich bin einfach weggegangen. Das Herz tat mir weh. Tut's mir immer noch. Mein Leben ist zerstört. Ich weiß nicht, was ich mit mir anfangen soll. Als ich dich getroffen habe, da bin ich einfach ziellos herumgewandert. Deswegen kann ich dir jetzt den Weg zeigen. Ich habe ja nichts anderes vor.«

El-ahrairah drückte ihm sein Mitgefühl aus. »Die Geschichte ist nur allzu bekannt«, sagte er. »Da, wo ich herkomme, da passiert's auch. Und es passiert dauernd. Du bist nicht der einzige, falls dich das tröstet.«

Der Glanbrin hatte »zwei Tage« gesagt, aber in diesem schrecklichen Land konnte El-ahrairah keine Tage zählen. Fortwährend stolperte er und verletzte sich, weil er weder riechen noch sehen konnte. Prellungen und Blutergüsse bedeckten seinen Leib. Der Glanbrin war sehr mitfühlend und geduldig, aber El-ahrairah merkte, wie sehr er wünschte, schneller voranzukommen. Er war spürbar nervös und wollte diese Reise so schnell wie möglich hinter sich bringen.

Sie waren schon eine ganze Weile gegangen, viele Tage lang, wie es El-ahrairah schien, als der Glanbrin irgendwo haltmachte, wo Haufen von Steinen herumlagen. Wenigstens diese konnte El-ahrairah fühlen.

»Näher heran wage ich nicht zu gehen«, sagte der Glanbrin. »Jetzt mußt du deinen Weg allein machen. Benutze den Wind als Wegweiser, er bläst im allgemeinen ziemlich gleichmäßig in eine Richtung.«

»Und was hast du jetzt vor?« fragte El-ahrairah.

»Ich warte hier zwei Tage lang auf dich, für den Fall, daß du zurückkommst - was ich allerdings nicht glaube.«

»Doch, ich komme zurück«, meinte El-ahrairah. »Diese Steine werde ich wiederfinden, ob's dunkel ist oder nicht. So sag ich dir einstweilen >Auf Wiedersehen<, Freund Glanbrin.«

So brach er allein im Dunkeln auf, stets bedacht, stracks gegen den Wind zu marschieren. Doch es war schwierig, die Richtung beizubehalten, deshalb ging er langsam. Es war tatsächlich so, daß ihm diese Finsternis allmählich unerträglich wurde. Sie zermürbte ihn, und im Gegensatz zu dem, was er dem Glanbrin gesagt hatte, fragte er sich, ob er sie lange genug aushalten könnte, um noch die Kraft für den Heimweg zu haben. Da er nichts sah, stolperte er dauernd und fiel hin, und beim kleinsten Geräusch schrak er zusammen. Das war ziemlich schlimm, aber die Stille war noch schlimmer. Dieses Dunkel, so kam es ihm vor, war lebendig, und es haßte ihn; es veränderte sich nie, es schlief nie, und es sprach nie. Es brauchte lediglich darauf zu warten, daß er wahnsinnig würde, daß er zusammenbräche, aufgäbe und kapitulierte. Dann hätte er verloren, und die unerbittliche Dunkelheit hätte gewonnen.

Aber die Angst und die Unsicherheit waren nicht alles; hinzu kamen Hunger und Durst. Seit er in dieses schauerliche Land gekommen war, hatte er kein Gras mehr gefressen. Zwar war er nicht verhungert, das ist wahr, denn der Glanbrin hatte ein paar »Brüri«, wie er sie nannte, erschnüffelt und ausgegraben, eine Art wilder Rüben, von denen sich sein Volk hauptsächlich ernährte, wie er erklärte. Sie waren sehr saftig, löschten den Durst und stillten den Hunger. Aber ohne Glanbrin würde er nie welche finden können. Er betete zu Frith, er möge ihm Mut verleihen, hatte allerdings seine Zweifel, ob nicht sogar Frith, der Herr, dem Dunkel unterlegen wäre.

Dennoch schritt er rüstig weiter, denn täte er das nicht, das war ihm bewußt, wäre es sein Ende. Er fühlte sich von Frith und aller Welt verlassen und hätte alles darum gegeben, Rabscuttle an seiner Seite zu haben. Rabscuttle hatte sogar unbedingt mitgehen wollen, doch El-ahrairah hatte das strikt abgelehnt.

Stunden vergingen. Wenigstens blies der Wind gleichmäßig, aber El-ahrairah hatte keine Ahnung, wie weit und wie lange er noch gehen müßte. Jetzt umzukehren wäre genauso schlimm wie weiterzugehen, dachte er.

Just als diese niederdrückende Erkenntnis ihm durch den Kopf ging, hörte er in der Finsternis die Bewegung von etwas Lebendem, das auf ihn zukam. Er spürte, daß es groß war, viel größer als er selbst, und daß es völlig selbstsicher daherkam. Er erstarrte, hielt den Atem an, so gut es ging, und hoffte, diese Kreatur, wer immer das war, möge an ihm vorbeigehen.

Jedoch die Kreatur tat nichts dergleichen. Sie mußte ihn gerochen haben, bevor er irgend etwas gemerkt hatte. Sie kam geradewegs auf ihn zu, hielt kurz inne und nagelte ihn dann mit einer enormen, weichen Tatze fest. Er fühlte die eingezogenen Krallen. Dann sprach sie, was er mehr oder weniger verstehen konnte, zu einer anderen Kreatur in der Nähe.

»Ich hab's erwischt, Zhuron. Keine Ahnung, was es ist.«

El-ahrairah hörte andere, ähnliche Kreaturen näherkommen. Kurz darauf war er von ihnen umringt, wurde beschnüffelt und mit ihren riesigen Tatzen betastet.

»So eine Art Glanbrin«, sagte eines dieser Wesen.

»Was machst du hier?« fragte ein anderes. »Gib Antwort. Warum bist du hergekommen?«

»Herr«, erwiderte El-ahrairah, vor Schrecken kaum der Sprache mächtig, »ich komme aus dem Land der Sonne und suche die Ilips.«

»Wir sind die Ilips. Wir machen alle Fremden tot. Hat dir das keiner gesagt?«

In diesem Augenblick sprach ein anderer der Ilips. »Wartet mal. Der trägt so was wie einen Kragen.«

Ein anderer Ilip steckte seine Schnauze in den Nacken von El-ahrairah und beschnüffelte den Kragen, den Fürst Regenbogen ihm geschenkt hatte.

»Das ist ein Astralkragen.« El-ahrairah merkte, daß die Gestalten um ihn herum alle etwas zurückwichen.

»Woher hast du das?« fragte der erste Ilip. »Wohl gestohlen, wie?«

»Nein, Herr«, antwortete El-ahrairah. »Ich habe den Kragen geschenkt bekommen, bevor ich aufgebrochen bin, es ist ein Geschenk von Frith, unserem Herrn, ein Unterpfand der Freundschaft, um mir bei deinem Volk Schutz zu gewähren.«

»Von Frith, unserem Herrn, sagst du?«

»Jawohl, Herr. Fürst Regenbogen hat ihn mir persönlich umgelegt.«

Darauf herrschte eine Weile Schweigen. Die Tatze des Ilips gab ihn frei, und ein anderer fragte: »Also gut, warum bist du gekommen, und was willst du bei uns?«

»Herr«, entgegnete El-ahrairah, »mein Volk, das man >Kaninchen< nennt, ermangelt des Geruchssinns. Deswegen leben meine Leute in Not und Elend und von Gefahren bedroht. Sie leiden darunter, wie ihr euch vorstellen könnt. Nun hörte ich, daß euer Volk die Macht hat, diese Gabe zu übertragen, und so bin ich gekommen, um euch zu bitten, sie meinem Volk zu verleihen.«

»Du bist also der Häuptling dieser Kreaturen, dieser >Kaninchen<, ist das richtig?«

»Jawohl, Herr.«

»Und du bist allein hergekommen?«

»Jawohl, Herr.«

»Also, an Mut mangelt's dir wohl nicht?«

El-ahrairah sagte nichts dazu, und wieder herrschte Schweigen. Sie standen alle um ihn herum, und ihm war, als bekäme er in ihrem heißen Atem keine Luft mehr. Schließlich sagte derselbe Ilip: »Das stimmt schon. Viele Jahre lang waren wir die Hüter des Geruchssinns. Aber wir konnten nichts damit anfangen, denn kein anderes Geschöpf schien den Sinn zu entbehren. Er wurde uns nur lästig, und am Ende gaben wir ihn weg.«

»Wem?« fragte El-ahrairah bebend.

»Wem? Na, dem König von Gestern natürlich. Jemand anderem hätten wir ihn ja nicht geben können, oder?«

El-ahrairah fühlte sich bitterlich enttäuscht und gedemütigt. So eine schwere Reise hatte er überstanden, die fürchterlichen Ilips hatten ihn am Leben gelassen, und am Ende mußte er hören, daß sie das Gesuchte gar nicht mehr besaßen, und das war in der Tat ein Grund, sich zu härmen. Aber mit aller Macht versuchte er, sich zusammenzunehmen.

»Bitte, Herr«, sagte er, »wo ist dieser König, und wie muß ich gehen, um ihn zu finden?«

Er hörte, wie sie sich besprachen, und schließlich sagte der erste Ilip: »Zu Fuß wäre das viel zu weit für dich. Du würdest dich verirren. Du würdest verhungern und sterben. Du kannst mit mir kommen. Ich nehme dich auf meinem Rücken mit.«

Voller Erleichterung warf sich El-ahrairah vor den Ilips nieder und dankte ihnen ohne Unterlaß. Endlich sagte einer von ihnen: »Auf geht's!« Mit den Zähnen hob er ihn auf den Rücken des anderen Ilip, und El-ahrairah hatte keine Schwierigkeit, sich an dem groben Fell festzuhalten.

Sie brachen auf, und das Tempo schien El-ahrairah wirklich atemberaubend. Er erklärte dem Ilip unterwegs, daß sein Freund, der Glanbrin, bei den Steinhaufen auf ihn wartete, und fragte, ob man nicht dort vorbeigehen könnte.

»Natürlich können wir da anhalten«, erwiderte der Ilip. »Liegt auf dem Weg. Aber sowie mich dein Freund wittert, wird er rennen.«

»Wenn du mich etwas weiter weg absetzen könntest«, sagte El-ahrairah. »Dann finde ich ihn schon und kann ihm alles erklären. Und dann kommst du heran und nimmst uns beide auf.«

Damit war der Ilip einverstanden. El-ahrairah fand den Glanbrin, der zunächst beim schieren Gedanken, auf einem Ilip zu reiten, wie vom Donner gerührt war. Doch nach einer ganzen Weile hatte ihn El-ahrairah überredet, und der Ilip startete von neuem, diesmal mit beiden auf dem Rücken.

Bei diesem ilippischen Tempo schien es wie ein Kaninchensprung zu der Stelle, wo El-ahrairah den Glanbrin zum ersten Mal getroffen hatte. Dort angekommen, erzählte er dem Ilip die Geschichte, wie sein Freund seine zauberhafte Freundin verloren hatte.

»Ist es weit bis zu deinem Bau?« wollte der Ilip wissen.

»O nein, mein Herr«, antwortete der Glanbrin. »Der ist gleich um die Ecke.«

Vom Glanbrin geleitet, brachte der Ilip sie dorthin. Als Shindyke, der große Flegel, der sich Flairgold widerrechtlich angeeignet hatte, einen Ilip vor dem Bau witterte, kam er heraus und rannte weg so schnell er konnte. Der Glanbrin erklärte Flairgold alles, und sie war hochentzückt, ihn wieder als ihren Gefährten bei sich aufzunehmen. Sie habe Shindyke gehaßt, sagte sie, jedoch keine andere Wahl gehabt.

Der Glanbrin und El-ahrairah nahmen sehr herzlich und in gegenseitiger Dankbarkeit Abschied voneinander, und der Ilip machte sich erneut auf den Weg, um El-ahrairah zum Hof des Königs von Gestern zu bringen.

Alsbald tauchten sie in ein Zwielicht ein, wie es El-ahrairah noch nie so begeistert begrüßt hatte. Der Ilip setzte ihn an einem Waldrand ab.

»Der Hof des Königs ist dort drüben«, sagte er. »Ich werde dich jetzt verlassen. Aber ich freue mich, daß ich einem Freund von Frith, dem Herrn, dienlich sein konnte.«

Damit verschwand der Ilip im Wald, und El-ahrairah wanderte weiter zum königlichen Hof.

Nachdem er aus den Bäumen heraus war, überquerte er einen vernachlässigten Acker voller Unkraut. Dahinter befand sich eine wuchernde Weißdornhecke und ein altes, halb zerbrochenes Gatter. El-ahrairah schlüpfte durch das Gatter und stand einem Geschöpf gegenüber, das etwa so groß war wie er selbst, mit genauso langen Ohren, jedoch mit einem Schwanz ausgestattet. Er begrüßte es höflich und erbat

Auskunft, wo er den König von Gestern antreffen könnte.

»Ich kann dich zu ihm bringen«, sagte das Geschöpf. »Bist du vielleicht zufällig ein englisches Kaninchen? Ja? Ja, ja, ich wußte schon, das mußte mal so kommen.«

»Und du?« fragte El-ahrairah.

»Ich bin ein Potoroo. Wir gehen hier entlang, runter zum Fluß. Der König ist jetzt vermutlich im großen Hinterhof.«

Zusammen gingen sie übers Feld und durch eine Lücke in der Hecke zum Ufer eines sehr stillen Flusses, der, wie es El-ahrairah vorkam, kaum floß. Sein Begleiter sprach ruhig zu einer Art Reiher mit braunem Gefieder und einem schwarzen Kopf, der im seichten Wasser watete. Der Vogel stolzierte auf sie zu und starrte gebannt auf El-ahrairah, dem diese Prüfung unangenehm war.

»Ein englisches Kaninchen«, erklärte der Potoroo. »Gerade angekommen. Ich bringe es zum König.«

Der Reiher sagte nichts dazu, sondern watete lustlos weiter. El-ahrairah und sein Begleiter folgten dem Uferpfad, der in ein dunkles Dickicht führte, in dem Eiben und Lorbeerbäume wuchsen, und dahinter standen ein paar alte Schuppen, die auf drei Seiten eine Art von Hinterhof begrenzten. Der Boden war hier festgetrampelt, und da lagen mehrere Tiere, die El-ahrairah alle unbekannt waren. Zwischen ihnen, in ihrer Mitte, stand ein großes gehörntes Tier, irgendwie einer Riesenkuh vergleichbar, jedoch einer, die zerzaust und ungepflegt war. Als sie den Hinterhof betraten, hob das Tier den schweren, bärtigen Kopf und kam langsam auf sie zu. El-ahrairah erschrak und wollte schon davonstürmen.

»Keine Angst«, sagte sein Begleiter. »Das ist der König. Der tut dir nichts.«

El-ahrairah lag bebend flach auf dem Bauch, als ihn das große Tier mit warmer Schnauze so lange beschnüffelte, bis er ganz naß war. Nach einer Weile äußerte es mit einer tiefen Stimme, aber nicht unfreundlich: »Steh bitte auf und sag, wer du bist!«

»Ich bin ein englisches Kaninchen, Euer Majestät.«

»Wie denn, so schnell sind sie schon dahingegangen?«

»Verzeihung, Euer Majestät, ich verstehe nicht.«

»Ist dein Volk nicht ausgestorben?«

»Ganz sicher nicht, Euer Majestät. Ich freue mich, sagen zu dürfen, wir sind sehr zahlreich. Ich habe eine lange und gefährliche Reise gemacht, um vor euch zu treten und eine große Gefälligkeit für mein Volk zu erbitten.«

»Aber das ist das Königreich von Gestern. Hast du das nicht gewußt, als du dich aufgemacht hast, hierher zu kommen?«

»Ich habe den Namen gehört, Euer Majestät, aber ich weiß nicht, was er bedeutet.«

»Jedes Geschöpf in meinem Königreich ist ausgestorben. Wie bist du überhaupt hergekommen, wenn du nicht ausgestorben bist?«

»Ein Ilip brachte mich auf seinem Rücken durch einen Wald der Finsternis. Die hat mich fast verrückt gemacht.«

Der König nickte mit seinem riesigen Kopf. »Verstehe. Ja. Anders hättest du gar nicht herkommen können. Und die Ilips haben dich nicht getötet? Du verfügst also über magische Kräfte?«

»Ja, gewissermaßen, Euer Majestät. Ich habe den Segen und den Schutz von Frith, unserem Herrn, und wie Ihr seht, trage ich einen Astralkragen. Darf ich mich erkühnen, Euch zu fragen, wer Ihr seid?«

»Ich bin ein Oregon-Bison. Ich regiere dieses Land, in dieses Amt eingesetzt von Frith, unserem Herrn. Als du ankamst, wollte ich mich gerade unter meinem Volk umsehen. Du darfst mitkommen.«

Sie schlenderten aus dem Hinterhof in die dahinter liegenden Felder, in denen sich Hunderte von Tieren unterschiedlicher Art tummelten. Vögel flogen über sie hinweg. El-ahrairah fand den Ort ziemlich düster und niederdrückend, aber natürlich sagte er dem König nichts dergleichen. Er hielt inne, um einen Vogel mit schwarzgetüpfeltem Rumpf, leuchtend roten Flügeln und Wangen und rotem Schwanz zu bewundern - anscheinend eine Art Specht -, der einen Baumstumpf in ihrer Nähe bearbeitete. Er fragte nach seinem Namen.

»Ein Guadeloupe-Goldspecht«, sagte der König. »Wir haben viel zu viele Spechte hier, mir wäre lieber, wir hätten nicht so viele.«

Als sie weitergingen, tauchten immer mehr Tiere und Vögel auf; viele von ihnen sprachen den König an und erkundigten sich nach El-ahrairah. Er sah verschiedene Arten von Löwen und Tigern und ein jaguarähnliches Tier, das seinen Kopf an einem Bein des Königs rieb und sie eine Strecke begleitete.

»Habt Ihr Kaninchen hier?« fragte El-ahrairah.

»Kein einziges«, antwortete der König. »Noch nicht.«

Das erfreute El-ahrairah zutiefst, und er triumphierte innerlich sogar, denn er erinnerte sich an das Versprechen von Frith, dem Herrn, vor langer Zeit, daß er und sein Volk, wiewohl von tausend Feinden umgeben, dennoch nie ausgelöscht würden. Und er erzählte dem König alles darüber.

»Es ist ausschließlich auf Menschenwesen zurückzuführen, daß jeder einzelne meiner Untertanen vernichtet worden ist«, teilte ihm der König mit, als sie stehenblieben, um einen großartigen Grizzly zu bewundern, dessen hellbraunes Pelzkleid mit silbernen Glanzlichtern geschmückt war, und sie sprachen kurz mit ihm.

»Einige, wie meinen mexikanischen Freund hier, haben die Menschen ganz vorsätzlich geschossen, in Fallen gefangen und mit Gift aus dieser Welt befördert; aber viele andere verschwanden, weil die Menschen ihren natürlichen Lebensraum zerstört haben und sie sich nicht mehr an andere Bedingungen gewöhnen konnten.«

Sie kamen zu einem Wald mit hohen Bäumen, deren Kronen, durch Schlingpflanzen miteinander verfilzt, einen großen Teil des Himmels ausschlossen. El-ahrairah war unruhig, sein Bedarf an Wäldern war im Augenblick gedeckt. Der König schien allerdings darauf versessen zu sein, die Vögel im Außenrevier zu beobachten. Wunderhübsche Exemplare waren darunter: Finken, Zuckervögel, dunkel gefiederte Molokais, Aras und viele andere, die friedlich zusammenlebten und dem König ihre Ergebenheit erwiesen.

»Dieser Wald«, sagte der König, »ist riesig, und er wächst täglich. Gingest du hinein, so würdest du dich alsbald verirren und nie mehr herausfinden. Er besteht aus all den Wäldern, die durch Menschenhand zerstört worden sind. In den letzten Jahren ist er so schnell gewachsen, daß Frith der Herr mir gesagt hat, er gedenke einen zweiten König zu ernennen, der darüber herrscht.« Er lächelte. »Ein König, der vielleicht selber ein Baum ist, El-ahrairah. Wie denkst du darüber?«

»Ich denke mir, daß Frith der Herr in allem, was er tut, dank seiner Weisheit gerechtfertigt ist, Euer Majestät.«

Der König lachte. »Eine sehr gute Antwort. Komm, wir schlendern jetzt zurück. Da ist eine Versammlung bei Sonnenuntergang, und da kannst du mich um die Gefälligkeit für dein Volk bitten. Ich verspreche, dir zu helfen, wenn ich kann.«

Sie gingen den Fluß entlang, und der König zeigte El-ahrairah verschiedene Fische darin - Neuseeland-Äschen, Dickschwanzaitel, Schwarzflossenmaränen und andere Fische, die alle ausgestorben waren. Im Hinterhof strömten die Tiere schon zusammen, und als die Sonne unterging, eröffnete der König die Versammlung.

Er fing damit an, daß er El-ahrairah vorstellte und verkündete, daß er an den Hof von Gestern gekommen sei, um hier einen Gefallen zum Nutzen der Kaninchen zu erbitten, deren Häuptling er sei.

Dann erteilte er El-ahrairah selbst das Wort, damit er inmitten aller Anwesenden persönlich sein Anliegen vortragen konnte.

El-ahrairah erzählte ihnen von seinem Volk, von dessen Lebenskraft, Lauftempo und Intelligenz, dem nur eine Fähigkeit fehlte, um mit allen anderen Tieren konkurrieren zu können, nämlich die Fähigkeit zu riechen. Als er fertig gesprochen hatte, spürte er schon, daß alle Tiere auf seiner Seite waren, begierig, ihm zu helfen.

Darauf sprach der König. »Mein lieber Freund«, sagte er, »mein tapferes und hochgeschätztes Kaninchen, mit welcher Freude würde ich dir deine Bitte erfüllen. Jedoch - wir sind in diesem Königreich leider nicht mehr die Hüter des Geruchssinns. Wahr ist's, daß die Ilips ihn uns vor Jahren anvertraut haben, aber hier in unserem Land von Gestern konnten wir nie Gebrauch davon machen. Eines Tages kam dann eine Gazelle als Emissär des Königs von Morgen zu uns und bat uns in seinem Namen, ihnen den Geruchssinn zu leihen. Natürlich gäben sie ihn bald zurück, versprach die Gazelle. Also überließen wir ihr den Geruchssinn für ihren König. Aber du weißt ja, wie das mit ausgeliehenen Sachen ist; sie werden nicht zurückgegeben. Da wir hier aber nichts damit anfangen konnten, haben wir das einfach vergessen, und die andern vermutlich auch. Dieser Sinn muß also noch am Hof des Königs von Morgen sein, und ich kann dir nur empfehlen, mein Freund, ihn dort zu suchen. Es tut mir sehr leid, daß ich dich enttäuschen muß.«

»Ist es weit?« fragte El-ahrairah und dachte, wenn ihn noch jemand irgendwo anders hin verwiese, dann würde er vor lauter Frust platzen. Doch er hatte keine andere Wahl.

»Es ist leider ziemlich weit«, antwortete der König. »Für ein Kaninchen ist das eine Reise von vielen Tagen. Und gefährlich ist sie auch.«

»Euer Majestät«, rief ein scheckiger grauer Wolf mit schwerer Schnauze. »Ich trage ihn auf meinem Rücken dorthin. Für mich ist das ja keine Entfernung.«

El-ahrairah nahm das Angebot freudig an, und in derselben Nacht brachen sie zusammen auf, denn der Kenai-Wolf teilte ihm mit, daß er lieber bei Nacht reiste und tagsüber schlief.

Die Reise dauerte drei Nächte; es war ein weiter Weg, aber wegen der alles einhüllenden Dunkelheit sah El-ahrairah so gut wie nichts von den Ländern, durch die sie kamen. Der Wolf erzählte ihm, daß sein Volk einst zu den größten aller Wölfe gehört hatte. Es hatte in einem fernen, bitter kalten Land namens Kenai-Halbinsel gelebt, wo seine Wölfe eine Art von Riesenhirsch jagten, den man »Elch« nannte. »Aber die Menschen haben alle von uns ausgerottet«, sagte er.

Als am Ende der dritten Nacht die Morgendämmerung anbrach, setzte der Wolf El-ahrairah sanft ab und sagte: »Ich kann dich nicht weiter tragen, mein Freund. Ich bin ausgestorben, verstehst du, da kann ich nicht gut in das Land von Morgen gehen. Du mußt dich von hier aus zum Hof des Königs durchfragen. Viel Glück! Ich hoffe, daß alles gutgeht und daß sie dir geben, was du so tapfer suchst.«

So betrat also El-ahrairah das Land von Morgen und fragte sofort herum, wie man zum Hof des Königs kommt. Er fragte Waschbären, Backenhörnchen, Erdferkel und viele andere. Sie waren alle freundlich und hilfreich, und infolgedessen war die Reise angenehm. Schließlich hörte er eines Morgens in der Ferne einen ohrenbetäubenden Krach, als hieben alle Tiere der Welt aufeinander ein.

»Was hat der Lärm zu bedeuten?« fragte er einen Koalabären, der im nächstgelegenen Baum saß.

»Das da, Kumpel? Ach, das ist nur so eine Versammlung am Königshof«, antwortete der Koala. »Lautstarke Bande, was? Wirst dich aber schnell dran gewöhnen. Ein paar von denen spinnen, aber die sind fast alle ziemlich harmlos.«

El-ahrairah ging weiter, bis er an zwei große, mit Ornamenten geschmückten Tore kam, die in einer Hecke von weißblühenden Pflaumenbäumen mit kupferfarbenen Blättern standen. Als er durch die Tore auf den dahinterliegenden Garten spähte, kam ein Pfau mit voll aufgestelltem Rad heran und fragte nach seinem Begehr. El-ahrairah erwiderte, er habe eine lange und gefahrvolle Reise hinter sich und wolle um eine Audienz beim König nachsuchen.

»Ich lasse dich gern ein«, sagte der Pfau, »aber es wird dir schwerfallen, in die Nähe des Königs zu kommen und mit ihm zu reden. Denn da sind Tausende, die dasselbe wollen. Der König hält täglich eine Versammlung ab, und die heutige wird gleich anfangen. Na, geh mal rein und versuche dein Glück.« Damit ließ er ein Tor aufschwingen.

Im Garten war El-ahrairah alsbald in der Menge eingezwängt: Tiere aller Art, Säugetiere, Vögel, Reptilien, schwatzten durcheinander, und alle waren von dem Wunsch beseelt, den König zu sprechen. Der Mut verließ ihn, denn er konnte sich nicht vorstellen, wie er im Wettstreit mit so vielen Mitbewerbern überhaupt zum König gelangen könnte. Aber er bahnte sich durch die Menge hindurch einen Weg auf die andere Seite, so gut es ging.

Dort befand er sich auf einer länglichen Wiese, die sich sanft zu einem flachen Rasen herabsenkte. Ein paar Tiere hatten sich schon am Hang gesammelt, und El-ahrairah fragte einen vorbeikommenden Luchs, was sich hier abspielen würde.

»Na, der König kommt doch gleich«, antwortete der Luchs, »um sich die Anliegen der Tiere anzuhören.«

»Werden viele Antragsteller da sein?« fragte El-ahrairah.

»Es sind immer viele da«, erwiderte der Luchs. »Mehr als der König an einem Tag anhören kann. Es gibt Tiere, die kommen schon seit Tagen her und sind immer noch nicht angehört worden.«

Die Menge am Hang vergrößerte sich schnell. Als El-ahrairah die vielen Tiere sah, verlor er den Mut. Bei so vielen Mitbewerbern, dachte er, käme er wohl nie dazu, den König zu sprechen. Es sei denn, es fiele ihm irgendeine List ein. Er zermarterte sein Gehirn. Eine List brauchte er, eine Kaninchenlist! O Frith, mein Herr, eine Kaninchenlist bitte!

Plötzlich fiel ihm oben am Hang, gar nicht weit weg, ein ovales Zierbecken ins Auge, das etwa zweimal so lang war wie er; es stand auf einem steinernen Sockel und ragte etwas über das Gras ringsum heraus. Er kletterte zu dem Becken. Es war voll, aber nicht voller Wasser, sondern mit einer glitzernden Silberflüssigkeit angefüllt, die er noch nie gesehen hatte und die auch nicht, wie Wasser, durchsichtig war. Die glatte Oberfläche spiegelte das Sonnenlicht und die vorüberkommenden Tiere wieder.

»Wozu dient das?« fragte er ein anderes Geschöpf in der Nähe, das anscheinend auch eine Art von Katze war.

»Zu gar nichts«, schnauzte das Tier abweisend. »Das Zeug heißt Quecksilber. Der König erhielt es vor einiger Zeit als Geschenk und hat es hier aufgestellt, damit jeder es bewundern kann.«

Dies hörend, bewegte sich El-ahrairah schnell wie ein Blitz. Er stellte die Vorderpfoten auf den Beckenrand, zog sich hinauf und sprang in das Silber, das sich übrigens auch nicht wie Wasser verhielt; es war dicker, und es trug ihn. Sosehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht, unter die Oberfläche zu tauchen. Er wälzte sich strampelnd herum. Jetzt standen viele Tiere um das Becken. »Wer is 'n das?« -»Was denkt der Kerl sich eigentlich?« - »Holt ihn raus, der hat da drinnen nichts zu suchen.« - »Ach so, eines von diesen dämlichen Kaninchen.« - »Komm raus, du!«

El-ahrairah krabbelte mit einiger Schwierigkeit aus dem Becken. Das Zeug hatte ihn nicht durchnäßt, sondern sich tröpfchenweise überall in seinem Fell festgesetzt; wenn er sich bewegte, schüttelte er es ab. Einige Tiere wollten ihn zurückhalten, aber er riß sich los, drehte sich um und stürmte zum Fuß des Hangs, wo er sich vor der Menge niedersetzte, gerade als der König mit drei oder vier Begleitern von der Seite hinzutrat und seine Untertanen in Augenschein nahm.

Er war ein herrlicher Hirsch. Sein glattes Fell glänzte in der Sonne wie das eines gestriegelten Pferdes. Auch seine schwarzen Hufe glänzten, und er trug sein gewaltig verästeltes Geweih mit solcher Würde und Hoheit, daß die ganze plappernde Versammlung auf der Stelle verstummte. Er schritt zur Mitte des Rasens, drehte sich um und ließ seinen gütigen Blick langsam über die Menge seiner Untertanen schweifen.

Als er jedoch El-ahrairah in seiner Silberaura wahrnahm, kaum sechs Hirschlängen von ihm entfernt, starrte er ihn an, über die Maßen verblüfft.

»Was bist du denn für eine Art Tier?« fragte er mit einer tiefen, wohlklingenden Stimme; es war die Stimme eines, der es nie eilig hat und an sofortigen Gehorsam gewöhnt ist.

»Ich bin ein englisches Kaninchen, Euer Majestät«, antwortete El-ahrairah, »und bin von weither gekommen, um an Eure königliche Gnade zu appellieren.«

»Tritt vor«, sagte der König.

El-ahrairah trat vor und setzte sich nach Kaninchenart Männchenmachend vor die glänzenden Vorderhufe des Königs.

»Was ist dein Begehr?« fragte der König.

»Ich bin hier, um für mein Volk zu bitten, Euer Majestät. Meine Leute haben keinen Geruchssinn, überhaupt keinen, und dieser Mangel behindert sie nicht nur ganz wesentlich bei der Futtersuche und der allgemeinen Orientierung, sondern gibt sie ihren Feinden preis, den Raubtieren, die sie ja nicht riechen können, wenn sie sich anpirschen. Ich bitte Euch, edelmütiger König, um Hilfe. Bitte helft uns.«

Alles schwieg. Der König wandte sich an einen seines Gefolges.

»Habe ich denn diese Macht?«

»Jawohl, Euer Majestät.«

»Habe ich je davon Gebrauch gemacht?«

»Noch nie, Euer Majestät.«

Der König schien nachzudenken. Er sprach leise zu sich selbst.

»Aber das hieße ja, sich die Macht von Frith, unserem Herrn, anzumaßen, wenn man einer ganzen Tierart eine ihre fehlende Fähigkeit verleiht.«

Plötzlich rief El-ahrairah laut dem König zu: »Euer Majestät, gebt uns diesen Sinn, bitte, und ich verspreche Euch und jeder hier versammelten Kreatur, daß mein Volk für die menschliche Rasse die größte Plage der Welt sein wird. Wo immer wir sind, werden wir die Menschen drangsalieren und ihnen Ärger machen. Wir werden ihr Gemüse vernichten, ihre Zäune untergraben, ihre Ernten zerstören und sie Tag und Nacht peinigen.«

Darauf brachen alle Geschöpfe der Versammlung in lauten Jubel aus. Jemand brüllte: »Gebt ihm, was er will, Euer Majestät. Laßt sein Volk zum schlimmsten Feind der Menschen werden, so wie die Menschen unsere schlimmsten Feinde sind.«

Das Getöse dauerte noch eine Weile, bis der König schließlich gebieterisch in die Rund blickte und alles verstummte. Dann beugte er seinen herrlichen Kopf hinab und drückte sein Maul in El-ahrairahs Fell. Das gewaltige Geweih schien den Fürsten der Kaninchen einzuhegen wie eine unüberwindbare Palisade.

»So sei es also«, sagte er. »Bring deinem Volk meinen Segen und den Sinn des Geruchs, auf daß er ihnen auf ewig diene.«

Und auf der Stelle konnte El-ahrairah selber riechen: das feuchte Gras, die Masse der Versammlung und des Königs warmen Atem. Er war so überwältigt vor Freude und Dankbarkeit, daß er kaum Worte fand, um dem König zu danken. Alle Tiere klatschten und jubelten und wünschten ihm Glück.

Ein goldener Adler trug ihn nach Hause. Als er ihn auf seiner eigenen Wiese absetzte, sah er als erste Rabscuttle und einige Mitglieder seiner treuen Owsla. »Es ist dir also gelungen, du hast es fertiggebracht!« riefen sie und umringten ihn. »Wir können alle riechen. Wir alle!«

»Jetzt komm, Meister«, sagte Rabscuttle. »Du hast bestimmt Hunger. Riechst du diese wunderbaren Kohlköpfe da drüben im Küchenbeet? Du mußt uns helfen, sie aus der Welt zu schaffen. Ich habe schon einen Tunnel unter den Zaun gegraben.«

Und ihr alle, die ihr meine Geschichte gehört habt, ihr wißt in Zukunft, wenn ihr Flayrah von den Menschen stehlt, dann stopft ihr euch nicht nur die Bäuche damit voll, sondern erfüllt ein feierliches Versprechen, das El-ahrairah dem König von Morgen gegeben hat, und das sollten alle braven Kaninchen tun.

2. Die Geschichte von den Drei Kühen


Kühe sind meine Leidenschaft.

Charles Dickens (Dombey & Son)


»Das ist Unsinn, was du da sagst, Fiver«, sagte Bigwig.

Sie saßen eines regnerischen, kühlen Nachmittags im Frühsommer in ihrem Wabenbau, zusammen mit Vilthuril und Hyzenthlay. »Natürlich altert El-ahrairah mit der Zeit wie wir alle. Wie jedes Kaninchen. Sonst existierte er nicht wirklich.«

»Nein, das stimmt nicht«, entgegnete Fiver. »Er altert nie.«

»Bist du ihm je begegnet? Hast du ihn je gesehen?«

»Nein, und das weißt du doch.«

»Wer waren seine Eltern?«

»Das wird uns nicht mitgeteilt. Aber die Legende sagt, wie du weißt, daß ganz am Anfang, als Frith der Herr die Tiere schuf, die Tiere sich alle untereinander vertrugen und daß damals schon El-ahrairah bei ihnen war. Es ist also ganz klar, daß er nicht älter wird - oder jedenfalls nicht so wie wir.«

»Und trotzdem glaube ich, daß er älter wird, älter werden muß.«

Die Auseinandersetzung wurde vorübergehend unterbrochen. Aber am selben Abend, als noch mehr Kaninchen im Wabenbau saßen, nahm Bigwig den Fall wieder auf.

»Wenn er nicht älter wird, wie kann er dann ein wirkliches Kaninchen sein?«

»Da gibt's eine Geschichte, wenn ich mich nicht täusche«, sagte Fiver. »Im Moment kann ich mich allerdings nicht mehr daran erinnern. Gibt's da nicht eine Geschichte, Dandelion?«

»Ach, die mit El-ahrairah und den Drei Kühen?«

»Mit den drei Kühen?« fragte Bigwig. »Was haben denn in Friths Namen drei Kühe damit zu tun? Da stimmt was nicht.«

»Also, ich kann euch die Geschichte erzählen«, sagte Dandelion, »so wie man sie mir erzählt hat. Oh, das ist schon lange her, lange bevor wir hierher kamen. Aber ich kann nichts hinzufügen, und ich kann sie auch nicht erklären. Ihr müßt sie euch einfach anhören, die ganze Geschichte, und euch selber ein Bild machen, und das ist alles, was ich tun kann.«

»In Ordnung«, sagte Bigwig. »Wir werden sie uns anhören. Drei Kühe - na, so was!«


Man erzählt sich - begann Dandelion -, daß El-ahrairah vor langer Zeit eine Weile auf unseren Downs wohnte. Er lebte wie wir, fröhlich und unbeschwert, fraß Gras und machte gelegentlich Ausflüge zum Anwesen des großen Hauses ganz hinten, um flayrah zu stehlen. Seine Glückseligkeit hätte die Zeit überdauert, wenn er sich nicht ganz allmählich einer inneren Veränderung bewußt geworden wäre. Er wußte sehr gut, was das bedeutete. Er wurde langsam alt und älter. Er merkte das hauptsächlich daran, daß sein vorzügliches Gehör schwächer wurde und eine gewisse Steifheit sich in seinen Vorderpfoten bemerkbar machte.

Eines Morgens, als er außerhalb des Baus im Tau frühstückte, sah er eine Goldammer in den nahen Dornbüschen und Wacholderbäumen herumspringen. Nach einiger Zeit begriff er, daß der kleine Vogel mit ihm sprechen wollte, aber aus reiner Schüchternheit nur hin und her zu schwirren wagte. Nach einer Ewigkeit, wie es ihm schien, sang der Vogel endlich deutlich und verständlich:

El-ahrairah würde dem Altem entrinnen,

würde er Witz und Kühnheit gewinnen.

»Moment mal, kleiner Vogel«, sagte El-ahrairah. »Was meinst du damit, und was meinst du, daß ich tun soll?«

Aber der kleine Vogel sang nur abermals:

El-ahrairah würde dem Altem entrinnen,

würde er Witz und Kühnheit gewinnen.

Er flog davon und ließ El-ahrairah nachdenklich zurück.

Kühn war er ja, wie es ihm schien, aber wonach sollte er Ausschau halten, und welche Aufgabe war ihm gestellt, die seinen Witz und seine Kühnheit erforderte? Schließlich machte er sich auf, um das herauszufinden.

Er befragte Vögel und Insekten, Frösche und sogar die gelbbraunen Raupen auf dem Kreuzkraut, aber niemand konnte ihm verraten, wie er es anstellen sollte, um dem Altern zu entrinnen. Nach tagelangen Wanderungen traf er einen alten knurrigen knorrigen Hasen, der in einem Streifen hohen Grases kauerte. Der alte Hase starrte ihn schweigend an, und El-ahrairah brauchte eine Weile, um all seinen Mut zusammenzunehmen und seine Frage zu stellen.

»Versuch's mal mit dem Mond«, sagte der alte Hase, ohne El-ahrairah anzusehen.

Doch dieser war nun überzeugt davon, daß der alte Hase mehr wußte, als er sagen wollte, es sei denn, man setzte ihm zu. Also rutschte er dicht an ihn heran und sagte: »Ich weiß, du bist größer als ich und du kannst schneller rennen, aber ich möchte erfahren, was du weißt, und ich werde dir so lange mit aller Kraft zusetzen, bis du es mir sagst. Ich bin kein närrisches, neugieriges Kaninchen, das dir nur die Zeit stiehlt, sondern eines, das diese Suche als seine Herzensangelegenheit betrachtet.«

»Dann tust du mir leid«, erwiderte der Hasengreis, »denn du fühlst dich offenbar verpflichtet, etwas zu suchen, was unmöglich gefunden werden kann, und bei der Suche wirfst du dein Leben weg.«

»Rate mir«, sagte El-ahrairah, »und ich werde tun, was du mir rätst.«

»Da gibt es nur eine Möglichkeit für dich«, entgegnete der greise Hase. »Das Geheimnis, das du suchst, ist mit Hilfe der Drei Kühe zu lösen und mit niemandem sonst. Hast du schon von den Drei Kühen gehört?«

»Nein, allerdings nicht«, sagte El-ahrairah. »Was haben denn Kaninchen mit Kühen zu schaffen? Natürlich habe ich schon Kühe gesehen, hatte aber noch nie etwas mit ihnen zu tun.«

»Ich kann dir auch nicht sagen, wo du sie findest«, gab ihm der Hasenpatriarch zu bedenken. »Aber das Geheimnis der Drei Kühe - beziehungsweise das Geheimnis, das sie hüten - ist das einzige, was deine Suche beenden kann.«

Und damit legte sich der alte Hase ohne weitere Umstände hin und schlief ein.

El-ahrairah lief nun überall herum und fragte nach den Drei Kühen, erhielt aber statt Antworten nur Neckereien und Hohn und Spott. Schließlich hatte er das Gefühl, daß er sich nur lächerlich machte. Manchmal wurde er bösartigerweise auf Irrwege verwiesen und erfuhr am Ende einer Reise, daß er hereingelegt worden war. Dennoch gab er nicht auf.

Eines Abends, Anfang Mai, als er unter einem blühenden Schlehdornbusch lag und die Sonne hinter einem Silberhimmel unterging, hörte er wieder, ganz in der Nähe, seine Freundin, die Goldammer, in den unteren Zweigen singen.

»Komm her, Freundin«, rief er. »Komm und hilf mir!«

Da sang die Goldammer:

Hinter den Downs und vor den Buchen,

El-ahrairah braucht nicht länger zu suchen.

»Wo, kleiner Vogel - wo?« rief El-ahrairah und sprang auf. »Sag's mir doch!«

Bei meinem goldenen Federkleid:

Die erste Kuh, die ist nicht weit.

Am Fuß des Hangs siehst du im Nu

den Zauberwald der Scheckenkuh.

Die Goldammer flog davon, und El-ahrairah schnüffelte an den ersten Bibernellen und den frühen purpurfarbenen Orchideen. Er war verwirrt, denn er wußte, daß sich hier in der Nähe kein Wald befand, geschweige denn ein Zauberwald. Dennoch ging er den Hang ganz hinab, und zu seiner Verblüffung sah er am Ende der Wiese einen dichten Wald, und direkt davor lagerte die größte braun-weiß gescheckte Kuh, die er jemals gesehen hatte.

Das mußte die Kuh sein, die er suchte; er wußte nun, daß der Wald tatsächlich irgendwie verzaubert war, denn wie sonst könnte er plötzlich an einer Stelle erstanden sein, wo seines Wissens sich noch nie ein Wald befunden hatte. Wenn er das finden wollte, was er suchte, mußte er zweifellos in diesen Wald hineingehen.

Er näherte sich der Kuh mit großer Vorsicht, da er unsicher war, ob sie ihn vielleicht angreifen würde oder nicht, doch andererseits, sagte er sich, im schlimmsten Fall kann ich immer noch wegrennen. Die Kuh aber, mit ihren großen braunen Augen, starrte ihn nur an und sagte nichts.

»Frith segne dich, Mutter«, sagte El-ahrairah. »Ich bin auf der Suche nach einem Weg durch den Wald.«

Die Kuh schwieg so lange, daß er sich fragte, ob sie ihn überhaupt gehört hatte. Doch endlich antwortete sie: »Es gibt keinen Weg, der da hindurchführt.«

»Aber ich muß hindurch«, sagte El-ahrairah.

Er sah nun, daß der Wald am Rand mit ineinander verfilztem und zusammengewachsenem Dornengestrüpp praktisch versiegelt war, so daß höchstens noch etwas von der Größe eines Käfers hineinkam. Nur wo die Kuh lagerte, war eine Lücke, die sie aber völlig ausfüllte. Irgendwann mußte sie sich ja einmal bewegen, dachte er und wußte, es war zwecklos, sie darum zu bitten, denn sie hatte ja gerade gesagt, es führe kein Weg hindurch.

Die Nacht brach herein, und die Kuh hatte sich nicht gerührt. Am Morgen lag sie noch immer am selben Fleck, und da wußte El-ahrairah, daß es eine Hexenkuh war, denn sie hatte offenbar kein Bedürfnis, zu grasen oder zu trinken. Es wurde ihm klar, daß er sich etwas einfallen lassen mußte. Er stand auf, unter den Augen der Kuh, und wanderte langsam am Waldrand entlang, bis er zu einer Art Einbuchtung kam, wo die Bäume und das zusammenhängende Dickicht in den Wald hineinrückten. Er hatte gehofft, eine Ecke zu finden, wo er den Wald vielleicht hätte umgehen können, aber so weit er sehen konnte gab es keine Möglichkeit. Er ging ein Stück weit in die Einbuchtung hinein und kam dann herausgerannt und eilte zu der Kuh.

»Bist du sicher, daß niemand in deinen Wald kommt, Mutter?« fragte er.

»Niemand betritt diesen Wald«, antwortete die Kuh. »Er ist Frith, unserem Herrn, geweiht und durch das Licht der Sonne und des Mondes verzaubert.«

»Na schön, ich weiß nicht, wie das mit dem Licht der Sonne und des Mondes ist«, sagte El-ahrairah. »Aber hinter der Biegung sind zwei Dachse am Werk, und die scheinen entschlossen, reinzugehen. Die graben schon wie verrückt, und sie brauchen nicht mehr lang.«

»Keine Chance«, entgegnete die Kuh. »Die Verzauberung ist viel zu stark. Aber ich werde trotzdem mal nachsehen und sie verjagen.« Sie rappelte sich auf und trottete schwerfällig fort.

Sowie sie in der Einbuchtung verschwunden war, schoß El-ahrairah wie der Blitz durch die Lücke und befand sich auf einmal in dem unwirklichen Licht des Waldes.

Das war kein Wald wie andere Wälder. Es fing schon damit an, daß unheimliche Geräusche laut wurden, angsterregende Geräusche, die möglicherweise aus Bäumen kamen oder aber von Tieren, wenngleich er sich nicht vorstellen konnte, von welchen Tieren. Außerdem gab es weder Weg noch Pfad. Manchmal kam es ihm vor, daß er Wasser roch oder hörte, aber als er darauf zugehen wollte, fand er nichts und wurde unsicher. Er hatte gedacht, durch einen Wald zu gehen, das sei doch nicht der Rede wert für ein Kaninchen seines Wissensstandes und seiner Erfahrung, doch bald wurde er eines Besseren belehrt, als er nämlich feststellte, daß er im Kreise ging. Auch war er überzeugt, daß sich trotz aller Geräusche weder ein Vogel noch sonst irgendein Lebewesen in dem ganzen Revier befand, das er abgegangen war.

Vier Tage lang oder sogar hrair Tage lang wanderte El-ahrairah hungernd durch diesen fürchterlichen Wald, in dem nicht einmal Gras wuchs. Mehr als einmal wäre er gern wieder zurückgegangen, aber er wußte weder, wo es zurück noch wo es vorwärts ging. Eines Tages gelangte er schließlich in dieser Waldwüste zu einem steilen Hang, an dem unten ein kleines Gewässer vorbeifloß, das völlig überwachsen war. Er beschloß, dem Gewässer zu folgen, das ja früher oder später aus dem Wald hinausfließen müßte, wie er sich dachte, wenngleich er nicht wußte, auf welcher Seite.

Er folgte dem Bach zwei Tage lang und wurde so schwach, daß er nicht weitergehen konnte. Er legte sich hin und schlief ein, und als er erwachte, sah er im weiteren Verlauf des Bachs den schwachen Abglanz eines stärkeren Lichts. Er stolperte vorwärts und kam endlich zu einer sumpfigen Stelle, wo das Gewässer aus dem Wald hinausfloß in eine ebene grüne Wiese so weit das Auge reichte. Das Gras dieser mit Schlüsselblumen übersäten Wiese war das beste, das er je gekostet hatte. Er fraß sich rundherum satt, und in einem Loch im Uferhang schlief er einen ganzen Tag und eine Nacht.

Wach geworden, wanderte er über die weite Wiese, die voller Blumen war: Hahnenfuß, Margeriten, Blutwurz, Orchideen und Bibernelle. Er hatte neue Kraft gewonnen und fragte sich, welche Richtung er nun bei diesem merkwürdigen Ausflug einschlagen müßte. Am Uferhang lagernd, wo Baldriankräuter wuchsen, schrak er zusammen, als er wieder seine Freundin, die Goldammer, durch die Hecke flitzen sah. Sie sang:

El-ahrairah! El-ahrairah!

Jetzt geheilt und satt allhier,

sucht den großen, weißen Stier.

El-ahrairah war darüber höchst verwundert, denn er hatte gedacht, er müsse jetzt die Zweite Kuh suchen, von der aber nichts zu sehen war. Doch er vertraute der Goldammer und wanderte weiter über die große Wiese. Er begegnete keinem anderen Tier und fühlte sich so sicher, daß er zwei Nächte lang im Freien schlief.

Am dritten Tag kam er an eine Stelle, wo das Gras abgefressen und zertrampelt war, und da gewahrte er vor sich den weißen Stier. Er hatte noch nie eine so edle Gestalt gesehen. Die großen Augen waren blau wie der Himmel, und die langen geschwungenen Hörner schimmerten wie reines Gold, und sein Fell war samtig weich und so weiß wie Wolken im Sommer.

El-ahrairah grüßte den Stier wie ein Freund, denn er sah dem Tier an, daß es ihm nichts tun würde. Sie setzten sich zusammen ins Gras und sprachen über Nichtigkeiten - über Blumen und Sonnenschein.

»Lebst du hier allein?« fragte El-ahrairah.

»Ach ja, ich bin allein«, antwortete der Stier. »Ich sehne mich nach einer Gefährtin, und vor langer Zeit hat mir Frith auch eine versprochen, die man die Zweite Kuh nennt. Aber ich kann nie zu ihr kommen, denn sie ist umgeben von einem Schluchtengürtel voller spitzer Steine und scharfeckiger Felsbrocken, die mir die Beine zerschneiden und die Hufe brechen. Ich lebe seit vielen Monaten hier, aber ich habe noch keinen Weg durch diesen grausamen Graben gefunden.«

»Zeig mir, wo das ist«, sagte El-ahrairah. »Ein Kaninchen kommt vielleicht durch.«

Der weiße Stier führte ihn dann lange über die Ebene, bis sie am Ende zum Rand der Schlucht kamen, von der er gesprochen hatte. Es war ein unübersehbares Meer von Steinen, so undurchdringlich wie ein Dornengestrüpp, und die Steine waren so spitz wie Stechginster.

»Das kann kein Stier der Welt überqueren«, sagte der weiße Stier, vor Kummer seufzend. »Und doch ist das der einzige Weg zur Zweiten Kuh.«

»Ein Kaninchen schlüpft oft durch, wo es einem Stier verwehrt ist«, meinte El-ahrairah. »Ich werde mal gehen, Freund Stier, und dir Nachricht bringen von dem, was ich finden werde.«

So machte sich El-ahrairah auf und zwängte sich zwischen den scharfen Felsbrocken hindurch, aber selbst für ein Kaninchen war das eine mühsame Sache. Oft war er gezwungen stehenzubleiben und sich erst einmal über den möglichen weiteren Weg klarzuwerden. So mühte er sich drei Tage lang ab, über Steine, die in seine Füße schnitten und über seine Flanken schrammten, als er sich hindurchquetschte. Aber am dritten Tag erreichte er bei Sonnenuntergang das Ende des Steinmeeres und kam auf eine Fläche, und dort sah er die Zweite Kuh, die ihn anblickte.

Sie war mager, mit einer so kummervollen Miene, daß sein Herz sofort vor Mitleid schmolz. Er begrüßte sie heiter, aber sie antwortete kaum und sagte nur, er könne hier gern versuchen, das Beste aus dem jämmerlichen Gras zu machen und hinter der nächstbesten Böschung schlafen. Am Morgen sprach er wieder mit ihr wie ein Freund, erzählte ihr von seiner Reise und dem weißen Stier, aber sie schien so geistesabwesend und niedergedrückt, daß er nicht wußte, ob sie ihn überhaupt verstanden hatte.

El-ahrairah blieb mehrere Tage bei der armen, unglücklichen Kuh und fand kein Mittel, um ihre düstere Stimmung zu vertreiben. Er folgte ihr eines Tages über das ausgedünnte Gras und sah in ihren Hufspuren scharfe Steine aus dem Boden hochschießen. Da erkannte er das Geheimnis ihrer Verzauberung. Das karge Land rings umher und - ja, und auch die abweisende, unüberquerbare Schlucht waren nichts anderes als ein Abbild ihres steinernen Herzens, dessen Ausstrahlung alles in Stein verwandelte.

El-ahrairah ging nun mit aller Macht daran, der Zweiten Kuh Trost und neuen Mut zu spenden. Er erzählte ihr von den seichten Gewässern bei Sonnenuntergang, in denen Elritzen schwimmen und wo ganze Kolonien von Sumpfdotterblumen glühen. Er erzählte ihr von Sauerampfer und Hahnenklee in den Wiesen, auf denen die Kühe an den langen Nachmittagen im Juni und Juli grasen und mit den Schwänzen wedeln. Er erzählte ihr von den neugeborenen Kälbchen, die herumsprangen und im Gras spielten. Er erzählte von allem, was ihm einfiel, um sie etwas fröhlicher zu stimmen.

Anfangs schien sie wenig von dem, was er zu sagen hatte, in sich aufzunehmen, aber als die Tage vergingen, der Regen fiel und die Sonne auf die öde Landschaft schien, wurde sie allmählich etwas munterer. Eines Nachts sagte sie endlich, wenn er sie geleitete, würde sie ihr Bestes tun, um die Schlucht zu durchqueren. Als sie am nächsten Morgen zum Rand der Schlucht kamen, siehe - da sahen sie die scharfen Steine zerbröckeln und grünes Gras aufsprießen. Ihr gequältes Herz war geschmolzen - und dies war die Wirkung davon.

Vorsichtig und behutsam führte El-ahrairah die Zweite Kuh in die Schlucht, die vor ihren Schritten aufbrach. Einen Tag und eine Nacht später kletterten sie langsam den jetzt mit Gras überwachsenen Hang der Schlucht hinauf, den Gundelreben und blauer Günsel schmückten, und oben stand der weiße Stier, der auf sie gewartet hatte.

Nun begann eine schöne, frohe Zeit, als El-ahrairah bei seinen Freunden auf der großen Ebene weilte. Er blieb den ganzen Winter und den nächsten Sommer, und als es Herbst wurde, brachte die Zweite Kuh ein wunderschönes Kälbchen auf die Welt, das sie Weißhorn nannte.

Weißhorn und El-ahrairah wurden gute Freunde, und an den Abenden erzählte er dem Kälbchen immer Geschichten über sein Gehege und über die Abenteuer, die er vor seiner jetzigen Suche erlebt hatte. Als er ihm eines Tages von dem Streich erzählte, den er dem Hund Rowsby Wuff gespielt hatte, flog die Goldammer zum Wacholderbusch und sang:

Der Sommer schwindet schon dahin,

El-ahrairah muß jetzt weiterziehn.

»O kleiner Vogel!« rief El-ahrairah. »Sag nicht, ich soll meine Freunde verlassen. Ich bin hier so glücklich.«

Doch die Goldammer antwortete nur singend:

Der Winter kommt mit Schnee und Eis,

was El-ahrairah sehr gut weiß.

Er muß noch vor dem Frost hier weichen,

um seine Ziele zu erreichen.

Also teilte El-ahrairah seinen Freunden traurig mit, daß es für ihn nun Zeit wäre, wieder aufzubrechen, um die Dritte Kuh zu finden.

»Sei vorsichtig, El-ahrairah«, sagte der weiße Stier. »Sei vorsichtig und wachsam, denn nach allem, was ich höre, hat die Dritte Kuh nicht ihresgleichen. Sie lebt am Ende der Welt und kann die ganze Welt mit allem, was sie enthält, verschlingen. Warum willst du dich solch einer fürchterlichen Gefahr aussetzen? Bleib bei uns und sei glücklich.«

Das war eine große Versuchung für El-ahrairah, und er dachte lange darüber nach, kam aber am Ende zu dem Schluß, daß die Goldammer ihm die Wahrheit gesagt hatte und daß es nun tatsächlich Zeit für ihn sei, die Dritte Kuh zu finden.

»Dann nimm Weißhorn mit«, sagte die Zweite Kuh. »Er wird dein Gefährte und Beschützer sein und dir Gesellschaft leisten. Ich bitte dich allerdings nur, gut auf ihn aufzupassen. Er ist unserem Herzen sehr nahe. Aber es gibt nichts, was ich nicht für dich tun würde, mein liebes Kaninchen.«

So brachen die beiden auf, und wie mir berichtet wurde, war das die schlimmste Phase in allen Ausflügen von El-ahrairah, denn der Weg führte über Gebirge und durch angsterregende Regionen, die dick mit Eis verkrustet waren. Der Winter war hereingebrochen, und sie litten oft unter Hunger und Kälte. Hätte er sich nicht nachts an Weißhorn schmiegen können, wäre El-ahrairah gewiß erfroren. Selbst der kleine Vogel war gezwungen, sie zu verlassen, denn die Nächte waren kälter, als er es aushalten konnte.

Es kam ihnen wie eine Ewigkeit vor, bis der Winter zu Ende ging, aber schließlich kamen Weißhorn und El-ahrairah, dünn wie Wiesel, langsam das Hügelland hinunter und befanden sich im Land der Dritten Kuh.

Nun ist die Dritte Kuh allerdings selber das Ende der Welt. In diesem Land ist nichts, das nicht Dritte Kuh ist - Hörner und Hufe und Schwanz und Ohren. Sie hätten immer weiter wandern können und hätten sich stets auf dem Körper der Dritten Kuh befunden, denn sie füllte die ganze Welt aus und ist die ganze Welt. Viele Tage lang suchten sie den Kopf der Kuh, und schließlich fanden sie ihn auch - riesige Augen-und Nüsternformen und ein gigantisches aufgerissenes Maul, das wie eine Höhle war. Und die Kuh sprach zu ihnen mit der Stimme einer Höhle.

»Was willst du, El-ahrairah? Was suchst du?«

»Ich suche meine Jugend«, antwortete El-ahrairah.

»Ich habe sie verschlungen«, erwiderte die Dritte Kuh. »Ich habe sie verschlungen, wie ich alles verschlinge, was in der Welt ist. Mein Name ist Zeit, und kein Geschöpf entgeht mir.« Und damit gähnte sie und verschluckte den halben Tag.

In der Stille wandte sich El-ahrairah an Weißhorn, der schaudernd neben ihm stand.

»Ich werde meine Jugend finden.«

»Geh nicht, El-ahrairah«, bat ihn Weißhorn. »Sonst bist du verloren, ich weiß es. Bleib bei mir. Gehen wir doch zurück zu meinen lieben Eltern und leben dort auf der grünen Wiese.«

El-ahrairah sagte nichts mehr. Als die Dritte Kuh das Maul bei einem lauten Schnarcher aufmachte, stürzte er sich hinein und verschwand in der roten Höhle.

Niemand weiß, was El-ahrairah alles im Herzen und Magen der Dritten Kuh zugestoßen ist, denn es ist nie erzählt worden und wird nie erzählt werden. Es gibt keine Worte, um die greulichen Abenteuer dort unten zu beschreiben, die ihn wie gestaltlose Träume befielen, denn er befand sich mitten in allen Dingen, die vergangen waren, in allem, was die Dritte Kuh in vielen, vielen Jahren verschlungen hatte. Welche Gefahren hat er überstanden? Welche schauderhaften Spottgeburten hat er dort getroffen und in die Irre geführt? Was hat er da zu fressen gefunden? Wir werden es nie erfahren. Er wurde selber zum Traum, zu einem wandernden Bruchstück der Vergangenheit. Und ob er sich überhaupt daran erinnern konnte, wer er einmal gewesen war - die Legende verrät es uns nicht. Die Dritte Kuh ist jenseits von allem, was wir kennen, und jenseits des Fassungsvermögens eines jeglichen Kaninchens.

Als er am Ende lange durch die Eingeweide der Kuh gewankt und gestolpert war, erschöpft, zermürbt und ausgelaugt, kam er zu einem Steilhang, an dessen Fuß er ein schwaches Licht gewahrte. Und da lag ein See, ein leuchtender See mit goldener Milch. Das war nichts anderes als der Euter der Dritten Kuh, deren Milch die Segnungen aller Jahre enthält und die Wärme aller Sonnen, die je geschienen haben: Es ist der See der Jugend.

El-ahrairah stand staunend an diesem herrlichen See, und während er hinabblickte, überwältigte der wunderbare Anblick seine Sinne. Seine Pfoten glitten aus, und plötzlich fiel er kopfüber in die goldene Milch.

Er mühte sich paddelnd und strampelnd ab, denn er fand keinen Ausstieg. Er merkte, wie seine Kräfte ihn allmählich verließen. Er sank hinab, er ertrank, und er gab sich selbst auf.

Doch ganz zum Schluß fühlte er sich in eine glatte Röhre hineingezogen und von dort in einen warmen, nassen Mund. Im nächsten Augenblick lag er spuckend und würgend im Freien, auf warmem Gras. Neben ihm hing der runde Kuheuter. Weißhorn hatte ihn aus einer Zitze der Kuh herausgesuckelt.

Jugendglut und Jugendkraft befeuerten El-ahrairah. Er tanzte auf dem Gras. Er machte Freudensprünge auf den Steinen. Er sang Weißhorn etwas vor, ohne zu wissen, was er sang. Weißhorn sang mit, und singend wanderten sie zusammen nach Hause.

Der Heimweg war kurz, denn nun war es Sommer geworden, und sie kamen dreimal so schnell voran, weil sie wußten, daß ihre Abenteuer glücklicherweise vorüber waren.

Von El-ahrairahs Heimkehr weiß ich nur noch ein wunderliches Ding. Als er zu dem Ort kam, wo der verzauberte Wald der Ersten Kuh gestanden hatte, war nichts mehr davon zu sehen. Der Wald unter dem Down war genauso geheimnisvoll verschwunden, wie er aufgetaucht war, und niemand hat ihn je wieder gesehen. Nur eines war noch zu sehen: die Goldammer auf dem Weißdorn, die sang:

El-ahrairah hat's Altem überwunden

und das Geheimnis ewiger Jugend gefunden.

»Na ja«, sagte Bigwig, »das waren sicher keine gewöhnlichen Kühe. Ziemlich dämlich von mir, daß ich das zuerst gedacht habe, obwohl ich ja wissen mußte, daß es sich um ein Abenteuer El-ahrairahs handelte. Und was ist mit Weißhorn? Ist er auch alterslos geworden?«

»Die Legende sagt darüber nichts aus«, erwiderte Dandelion. »Aber ich bin sicher, El-ahrairah würde nie einen Freund vergessen, der ihm soviel bedeutet hat.«

3. Die Sache mit König Berser-Kerl


Bedenke, wo eines Mannes Ruhm beginnt und endet, und sag: Mein Ruhm war, daß ich solche Freunde hatte.

W. B. Yeats (The Municipal Gallery Revisited)


Der Regen fiel auf Watership Down aus langen, hochaufgetürmten Wolken, durchnäßte den Rasenboden und die Birken am Waldhang. Hazel und mehrere andere Kaninchen saßen gemütlich unter der Erde in ihrem Wabenbau; einige waren mit ihrer Körperpflege beschäftigt, andere unterhielten sich plaudernd über kommende Sonnentage. Kehaar, die Möwe, war vor ein paar Tagen aus dem Süden gekommen und rastete stillzufrieden auf halbem Wege in Hazels Gang.

»Wer erzählt uns was?« fragte Bigwig und kugelte sich über den Boden. »Dandelion?«

»Jetzt mal ein anderer zur Abwechslung«, sagte Dandelion. »Bluebell, erzähl uns die Geschichte, die du mir im vergangenen Jahr erzählt hast, die über El-ahrairah und den Krieg mit Berser-Kerl. Die haben sie alle noch nicht gehört.«

»Das war das einzige Mal, daß El-ahrairah Krieg führte«, sagte Bluebell. »Das erste und letzte Mal.«

»Hat er gewonnen?« fragte Silver.

»Natürlich hat er gewonnen. Aber wie er das gemacht hat, war wirklich raffiniert. Hätte er nicht gewonnen, wären wir nicht hier.«

Wir wissen alle - erzählte Bluebell -, daß Kaninchen niemals ernsthaft Krieg führen, und ganz bestimmt nicht El-ahrairah, der gar keinen Grund hatte und auf den Downs ein glückliches Leben führte. Doch eines Tages, als er sich draußen sonnte, schreckte er plötzlich zusammen. Rabscuttle wetzte über das Gras, und es war klar, daß er wichtige Neuigkeiten brachte.

»Meister!« keuchte Rabscuttle. »Da sind Tausende von Kaninchen, fremde Kaninchen, im Anmarsch. Genug, um den ganzen Down kahlzufressen und uns alle aus Bau und Heim zu werfen. Da gibt's nur eines - wir müssen wegrennen, solange noch Zeit ist.«

»Ich renne niemals weg«, erwiderte El-ahrairah lässig. »Ich muß mir diese fremden Kaninchen mal ansehen. Laß sie kommen!«

Kurz darauf sah er sie tatsächlich, Horden von Kaninchen, die über den Down kamen. El-ahrairah hatte noch nie in seinem Leben so viele Kaninchen auf einmal gesehen. Sie bedeckten das ganze Gras. In ihrer Mitte war ein übergroßes Kaninchen, so groß wie ein Hase, und das kam auf El-ahrairah zu und fletschte die Zähne.

»Du bist doch El-ahrairah, nicht wahr?« fragte das Riesenkaninchen. »Besser, du verschwindest hier, solange du noch kannst. Ab sofort ist das mein Down, und meine Kaninchen werden hier leben.«

El-ahrairah musterte das Kaninchen von oben bis unten. »Wer bist du?« fragte er. »Und wie heißt du?«

»Ich bin König Berser-Kerl«, antwortete das Kaninchen, »und ich bin nicht nur der Herr der Kaninchen, sondern auch der Ratten, der Wiesel und der Hermeline. Du mußt mir alle deine Kaninchen übergeben.«

El-ahrairah sah ein, daß es hoffnungslos wäre, mit König Berser-Kerl zu kämpfen; er drehte sich einfach um und ging weg, um Zeit zu gewinnen. Er mußte überlegen. Aber er war noch nicht weit gegangen, als er ein Trappeln hinter sich hörte; Rabscuttle kam ihm nachgelaufen.

»O Meister!« rief Rabscuttle. »Dieser elende König Berser-Kerl! Er hat dein Lieblingsweibchen genommen, Nur-Rama, und sagt, daß er die für sich behalten will.«

»Was?« schrie El-ahrairah. »Nur-Rama? Den zerreiße ich in der Luft, das wirst du schon sehen.«

»Wüßte nicht, wie«, gab Rabscuttle zurück. »Seine Kaninchen sind überall auf dem Down; er hat sogar Ratten und Wiesel, die er sich als Gefangene hält. Schlechte Aussichten für uns, El-ahrairah.«

Das machte El-ahrairah mutlos, denn es war so gar nicht Rabscuttles Art, so zu reden. Am besten ist es wohl, dachte er, Fürst Regenbogen um Hilfe zu bitten, denn der hatte ihm vor langer Zeit versichert, daß er und sein Volk ungehindert auf dem Down leben und es als ihr eigen betrachten könnten.

Er gelangte kurz nach ni-Frith zum Fürsten und erzählte ihm die traurige Geschichte.

»Ich fürchte, da kann ich dir nicht helfen, El-ahrairah«, sagte Fürst Regenbogen, als er alles gehört hatte. »Du mußt diesen König Berser-Kerl allein besiegen. Da führt kein Weg drum herum.«

»Wie denn?« fragte El-ahrairah. »Der hat mehr Kaninchen als es Gänseblümchen auf dem Down gibt, aber sie werden wohl bald alles Gras gefressen haben.«

»Ich will dir einen Rat geben, El-ahrairah«, sagte Fürst Regenbogen. »Ein Tyrann wird gewöhnlich von vielen ganz verschiedenen Leuten gehaßt. Dieser Berser-Kerl hat zweifellos andere Feinde, nicht nur Kaninchen. Du wirst Freunde und Verbündete brauchen.«

El-ahrairah hörte sich das an, hatte aber wenig Hoffnung. Andererseits war er wegen seiner schönen Nur-Rama so empört, daß er bereit war, sein Bestes zu geben, um König Berser-Kerl in der Luft zu zerreißen oder dabei den Tod zu finden. Er machte sich also auf, um zurückzukehren.

Unterwegs kam er an einer Katze vorbei, die sich sonnte. Die Katze schien, zur Abwechslung, recht friedlich und fragte: »Wohin des Wegs, El-ahrairah?«

»Ich will diesem stinkenden König Berser-Kerl das Fell gerben, daß er lebensmüde wird«, sagte El-ahrairah, »und er muß mir mein Weibchen zurückgeben.«

»Also, dann komm ich mit«, sagte die Katze. »Ich hab' gehört, dieser König Berser-Kerl ersäuft oft kleine Kätzchen.«

»Dann spring in mein Ohr«, sagte El-ahrairah. Und die Katze sprang in sein Ohr und legte sich dort schlafen, während er weiterging.

Dann begegnete er einigen Ameisen.

»Wohin des Wegs, El-ahrairah?« fragten die Ameisen.

»Ich will diesen dreckigen König Berser-Kerl so verbimsen, daß er wünscht, nie geboren worden zu sein«, antwortete El-ahrairah, »und er muß mir mein Weibchen zurückgeben.«

»Wir kommen mit«, sagten die Ameisen. »Dieser König Berser-Kerl dürfte gar nicht am Leben sein; seine Kaninchen reißen Ameisenhaufen ein, für nichts und wieder nichts.«

»Na, dann springt in mein Ohr«, sagte El-ahrairah. »Auf geht's!«

Also sprangen die Ameisen in sein Ohr.

Nach einer Weile traf er auf ein paar große schwarze Krähen.

»Wohin des Wegs, El-ahrairah?« fragten die Krähen.

»Ich will diesen widerlichen König Berser-Kerl verdreschen«, erwiderte El-ahrairah, »der muß mir mein Weibchen zurückgeben.«

»Wir kommen mit«, sagten die Krähen. »Von diesem König Berser-Kerl hören wir nur Greueltaten. Er ist ein Tiereschinder und Tyrann.«

»Na, dann springt in mein Ohr«, sagte El-ahrairah, »solche wie euch kann ich brauchen.«

Schließlich kam El-ahrairah an einen Fluß. »Hallo, El-ahrairah!« rief der Fluß. »Wohin des Wegs? Du siehst so grimmig aus.«

»Genauso grimmig, wie ich bin«, gab El-ahrairah zur Antwort. »Ich werde diesen Stinkerkönig Berser-Kerl verwamsen, daß er nicht mehr aufsteht; der muß mir mein Weibchen Nur-Rama zurückgeben.«

»Da komm ich mit«, sagte der Fluß. »Von diesem König Berser-Kerl hab' ich schon gehört - und nur Schlechtes. Der bildet sich Frith weiß was ein.«

»Na, dann spring in mein Ohr«, sagte El-ahrairah, »nein, in das andere. Du bist mir hochwillkommen.«

Bald darauf kam El-ahrairah zum Down zurück, und da saß König Berser-Kerl im Kreis seiner schweren Kaninchen und tat sich nach Herzenslust an El-ahrairahs Gras gütlich.

»Ah! El-ahrairah!« sprach König Berser-Kerl mit vollem Mund. »Ich hab' dich doch heute vormittag verabschiedet, oder? Was bringt dich wieder her?«

»Du ekelhafter stinkender Kaninchenverschnitt«, sagte El-ahrairah. »Gib mir mein Weibchen Nur-Rama zurück und verschwinde von meinem Down!«

»Ergreift dieses unverschämte Tier!« schrie der König. »Ergreift es und sperrt es über Nacht zu den Rasenden Ratten.

Dann wollen wir mal sehen, was am nächsten Morgen noch von ihm übrig ist.«

Also sperrten sie El-ahrairah zu den Rasenden Ratten.

Sowie es dunkel war, sang El-ahrairah:

Mieze, spring aus deiner Enge,

hier gibt's Ratten jede Menge.

Jag sie bis zum Morgenrot,

beiß sie, bis sie mausetot.

Sofort war die Miezekatze draußen. Die Ratten rannten in alle Richtungen, aber wie der Blitz war sie unter ihnen und fraß sie zu Hunderten, bis keine einzige mehr übrig war. Dann sprang sie in El-ahrairahs Ohr zurück, der darauf schlafen ging.

Am Morgen sagte König Berser-Kerl zu seinen Kaninchen: »Holt mir das Skelett von dem frechen El-ahrairah und werft es draußen aufs Gras.«

Aber als sie hineingingen, sahen sie El-ahrairah singend zwischen den toten Ratten sitzen. »Wo ist dieser widerwärtige König?« fragte El-ahrairah. »Bestellt ihm, er soll mir mein Weib zurückgeben.«

»Die bekommst du nicht«, sagte der König. »Nehmt ihn und sperrt ihn zu den Wilden Wieseln. Dann wollen wir mal sehen, was aus seinen verrückten Forderungen wird.«

Also sperrten sie El-ahrairah zu den Wilden Wieseln.

Mitten in der Nacht sang El-ahrairah:

Kommt, ihr Krähen, wohlgemut,

und besorgt's den Wieseln gut.

Hackt sie, bis die Schädel knallen,

bis sie tot zu Boden fallen.

Sofort kamen die Krähen aus El-ahrairahs Ohr und hackten die Wilden Wiesel in Stücke.

Dann gingen sie in sein Ohr zurück, und El-ahrairah legte sich schlafen.

Am Morgen sagte der König: »Die Wilden Wiesel, die haben El-ahrairah jetzt sauber erledigt. Geht mal lieber und schmeißt seine Leiche raus.«

Aber die rüpelhaften Kaninchen sahen El-ahrairah über den toten Wieseln tanzen; er verlangte sein schönes Weibchen zurück.

»Ich dulde diese Unverschämtheit nicht«, brüllte König Berser-Kerl. »Heute nacht muß dieses Kaninchen daran glauben. Nehmt es und sperrt es zu den Grausamen Hermelinen.«

Sie sperrten El-ahrairah zu den Grausamen Hermelinen, und um Mitternacht sang er:

Ameisen, flitzt aus dem Ohr,

nehmt euch Hermeline vor,

beißt sie, stecht sie, wo ihr wollt,

bis der Teufel sie geholt.

Sofort kamen die Ameisen aus dem Ohr herausgeschwärmt. Sie krabbelten über die Grausamen Hermeline,bohrten sich in ihre Gehirne und stachen sie so heftig, daß sie alle umfielen und verröchelten.

Wie zuvor schickte König Berser-Kerl nach El-ahrairahs Leichnam. Doch El-ahrairah kam selber und sagte: »Du verdrecktes rotznäsiges Jammergestell von König, gib mir mein Weibchen zurück!«

Ich kann mir nicht denken, wie dieser elende El-ahrairah das alles fertigbringt, dachte der König. Ich muß das herausfinden, um jeden Preis.

»Ihr bindet dieses Kaninchen diese Nacht neben meinem Schlafplatz an«, sagte er seinem Gefolge. »Dann wollen wir mal sehen, was er anstellt, und vereiteln seine Tricks ein für allemal.«

In dieser Nacht wurde El-ahrairah also neben König Berser-Kerls Schlafplatz festgebunden. In der Nacht sang er:

Fließe, Fluß, heraus aus mir,

überspül den Stinker hier,

bis er in der Flut versunken,

bis er endlich ist ertrunken.

Da floß der Fluß schwallartig aus El-ahrairahs Ohr und überflutete alles, und der König, bis zum Kinn im Wasser, erschrak zu Tode.

»Nimm dein Weibchen, nimm es!« schrie er. »Geh weg, El-ahrairah! Nur laß mich in Frieden!«

»Nichts da«, befahl El-ahrairah. »Du gehst hier weg. Laß mein Weibchen frei, nimm deine abstoßende Mannschaft und verschwinde für immer von meinem Down!«

An diesem Morgen wurde El-ahrairah wieder mit Nur-Rama vereint, und auf dem Down wurde von König Berser-Kerl und seiner Armee kein Fitzelchen mehr gefunden. Das war der einzige Krieg, den El-ahrairah geführt hat, und so hat er ihn gewonnen.

Man hörte ein Geraschel aus einem der Gänge, und schon kam Buckthorn herab, Regentropfen glitzerten in seinem Fell.

»Hazel-rah, es hat sich wunderbar aufgeklärt«, sagte er.

»Es regnet nicht mehr, es wird noch ein schöner Abend.«

Kurz darauf war niemand mehr im Wabenbau - außer Bluebell, der sich den Rücken wusch und nach der langen Erzählung wieder zu Atem kam.

4. Der Fuchs im Wasser


Der Brer Fuchs weiß genau, wie gemein sie ihn reingelegt haben.

Joel Chandler Harris (Uncle Remus)


»Füchse«, sagte Dandelion, rückte etwas weiter in die Abendsonne und knabberte an einem Bibernell-Schößling, »Füchse sind eine schlimme Sache, wenn sie in deine Nähe ziehen wollen, hab' ich immer gehört. Hier sind wir noch nie von Füchsen belästigt worden, Frith sei Dank, und ich hoffe, das bleibt auch so.«

»Sie riechen auch so streng«, meinte Bigwig, »und man kann oft einen Blick auf sie erhaschen, wie geschickt sie sich auch verhalten, weil sie so ein rotes Fell haben.«

»Ich weiß. Aber wenn sich ein Fuchs neben einem Gehege niederläßt, ist das schlimm. Denn die Kaninchen können ja nicht unaufhörlich auf der Hut sein.«

Man erzählt sich - fuhr Dandelion fort -, daß El-ahrairah und sein Gehege einmal wegen eines Fuchses, der einen Bau neben ihnen gegraben hatte, in großer Unruhe waren. Genauer gesagt, war es ein Paar, und sie zogen Welpen auf. Da die beiden Alten fortwährend nach Nahrung jagten, kam das Gehege nie zur Ruhe. Sie verloren zwar nicht allzu viele Kaninchen - einige allerdings -, aber die andauernde Spannung und Furcht zermürbten das Gehege. Alle erwarteten von El-ahrairah eine Lösung des Problems, aber er schien genauso verunsichert wie alle anderen. Er sagte kaum etwas, wenn überhaupt, und alle nahmen an, er denke über einen Ausweg nach. Doch die Tage gingen vorüber, und nichts änderte sich. Die Weibchen wurden immer ängstlicher.

Eines Morgens war El-ahrairah verschwunden. Nirgends ein Zeichen von ihm. Selbst Rabscuttle, der Vorsteher der Owsla, hatte keine Ahnung, wohin er gegangen sein könnte. Als er am nächsten und auch am übernächsten Tag nicht zurückkam, flüsterten einige Kaninchen untereinander, daß er sie vermutlich im Stich gelassen habe und weggelaufen sei, um ein neues Gehege zu finden. Das bedrückte sie sehr, um so mehr, als der Fuchs am selben Tag ein weiteres Kaninchen umbrachte.

El-ahrairah war fast wie in Trance aus dem Gehege gegangen. Er brauchte Einsamkeit und Zeit, um nachzudenken; er fühlte, daß es ihm aufgegeben war, etwas zu finden, was dieses schreckliche Problem lösen konnte.

Zwei Tage lang weilte er am Rande eines Dorfes. Nichts störte ihn dabei, doch trotzdem fiel ihm keine Lösung ein. Eines Abends, als er außerhalb eines Gartens in einem Graben schon im Halbschlaf lag, schreckte ihn ein Rascheln und eine Bewegung in seiner Nähe auf. Es war allerdings kein Feind, wie sich zeigte, sondern Yona, der Igel, der nach Nahrung jagte. El-ahrairah begrüßte ihn als Freund, und sie unterhielten sich eine Weile.

»So schwierig, Schnecken zu finden«, sagte der Igel. »Die werden offenbar immer weniger, besonders im Herbst. Möchte mal wissen, wo die hingehen.«

»Das kann ich dir sagen«, erwiderte El-ahrairah. »Sie befinden sich alle in den Gärten dieses Dorfes. In den Gärten gibt's Gemüse und Blumen und alles mögliche Grünfutter, und das lockt die Schnecken an. Wenn du Schnecken haben willst, Yona, dann geh in die Gärten der Menschen.«

»Die machen mich doch tot«, meinte Yona.

»Keineswegs«, entgegnete El-ahrairah. »Das wurde mir klargemacht: Du bist ihnen sogar willkommen, weil sie wissen, daß du bei ihnen die Schnecken fressen willst. Sie werden sich ein Bein ausreißen, um dich dazubehalten. Paß mal auf, wie recht ich habe.«

Also ging Yona in die Gärten der Menschen, und da gedieh er genauso prächtig, wie es ihm El-ahrairah vorausgesagt hatte. Und seit jenem Tag suchen die Igel die Gärten der Menschen auf, wo sie immer willkommen sind.

El-ahrairah wanderte weiter, und sein Gemüt war immer noch umdüstert; er war ratlos. Er verließ das Dorf und kam bald auf Ackerland, wo alle Arten von Getreide angepflanzt waren. Hier, im Umland des Dorfes, traf er auf Kaninchen, die ihm zwar fremd waren, ihn jedoch kannten und seinen Rat erbaten.

»Sieh mal, El-ahrairah«, sagte das Leitkaninchen, »hier haben wir ein schönes Feld mit Grünfutter, so schmackhaft wie kaum eines. Aber der Farmer weiß, wie listig wir sind. Er hat es mit Draht eingezäunt und den Draht so tief in den Boden eingelassen, daß wir nicht darunter durchgraben können. Hier kannst du sehen, wie tief unsere besten Ausgräber gekommen sind. Aber unter den Draht konnten sie nicht kommen. Was sollen wir tun?«

»Zwecklos, es weiter zu versuchen«, sagte El-ahrairah. »Ihr verschwendet nur eure Zeit. Gebt's auf!«

In diesem Augenblick kam ein Schwärm Saatkrähen heran, und die Leitkrähe landete neben ihm und sprach ihn an.

»Wir wollen da reinfliegen und das Feld abräumen. Was sollte uns aufhalten?«

»Der Mann wartet schon auf euch«, sagte El-ahrairah. »Er versteckt sich im Gebüsch und hat ein Gewehr. Wenn ihr da reinfliegt, werdet ihr abgeschossen.«

Aber die Leitkrähe wollte nicht auf El-ahrairah hören und führte ihren Schwärm über den hohen Drahtzaun in das grüne Feld. Sofort eröffneten zwei Gewehre das Feuer, und bevor der Schwärm wieder abhob, waren vier Krähen tot. El-ahrairah riet den Kaninchen, diesen Ort zu verlassen, und das taten sie auch.

Man erzählt sich, daß El-ahrairah weit wanderte, und wo immer er hinkam, stand er den Tieren mit Rat und Tat zur Seite. So half er Mäusen und Wasserratten und sogar einem Otter, was ihm nicht schadete, doch bei dem, was er selber suchte, auch nicht half.

Eines Tages gelangte er schließlich auf ein großes Stück Gemeindeland mit schwarzem, torfigem Boden, das meilenweit von Heidekraut, Wacholder und Sandbirken bewachsen war. An den sumpfigen Stellen wuchsen fleischfressende Pflanzen und Braunellen, und Steinschmätzer flogen hier und da, sprachen El-ahrairah aber nicht an, denn sie kannten ihn nicht. Als Fremder wanderte er weiter, bis er sich schließlich völlig erschöpft an einer sonnenbeschienenen Stelle niederlegte, ohne überhaupt an ein streunendes Hermelin oder Wiesel zu denken.

Während er so döste, spürte er die Gegenwart einer anderen Kreatur in seiner Nähe und machte die Augen auf; da sah er eine Schlange, die ihn beobachtete. Natürlich hatte er keine Angst vor Schlangen; er begrüßte sie und wollte hören, was sie zu vermelden hatte.

»Kalt!« sagte die Schlange endlich. »Wie kalt es ist!«

Es war ein sonniger Tag, und El-ahrairah fühlte sich in seinem Fell schon fast zu warm. Recht vorsichtig streckte er eine Pfote aus und berührte den langen, grünen Leib der Schlange - der sich in der Tat kalt anfühlte. Er grübelte darüber nach, fand aber keine Erklärung.

Lange lagen sie zusammen auf dem Gras, bis El-ahrairah endlich etwas auffiel, was ihm noch nie aufgefallen war.

»Euer Blut ist nicht wie unseres«, teilte er der Schlange mit. »Du hast keinen Puls, verstehst du?«

»Was ist ein Puls?«

»Fühl mal meinen«, sagte El-ahrairah.

Die Schlange drückte sich an ihn heran und fühlte seinen Herzschlag.

»Dir ist kalt«, erklärte El-ahrairah, »weil dein Blut kalt ist, Schlange. Du mußt dich sooft wie möglich in der Sonne baden. Wenn du das nicht kannst, wirst du dich schläfrig fühlen. Aber wenn du's kannst, dann erwärmt sich dein Blut und du wirst lebhaft und munter. Das ist die Lösung deines Problems: Sonnenschein.«

Sie lagen noch ein paar Stunden in der Sonne, bis die Schlange sich wieder so lebhaft und munter fühlte, daß sie Lust hatte, nach Nahrung zu jagen.

»Du bist ein guter Freund, El-ahrairah«, sagte die Schlange. »Ich habe gehört, wie du schon vielen Geschöpfen mit deinem Rat geholfen hast. Ich möchte dir etwas schenken. Ich gebe dir die hypnotische Kraft der Schlangen, die in meinen Augen ist. Wofür du sie auch immer einsetzen willst, setze sie bald ein, denn sie hält nicht vor. Starre mich jetzt an!«

El-ahrairah blickte gebannt in die Augen der Schlange und fühlte, wie seine Willenskraft sich auflöste und wie selbst die Kraft, sich zu bewegen, von ihm wich. Nach einiger Zeit wandte die Schlange den Blick ab. »Das genügt«, sagte sie. El-ahrairah stand auf und verabschiedete sich von ihr.

Nun machte er sich auf den Heimweg zu seinem Gehege. Es war ein langer Weg, und erst am folgenden Abend näherte er sich seinem Ziel.

Jetzt erzählt uns die Legende, daß ein Bach seinen Weg kreuzte, über den eine kleine Brücke führte. Auf der Brücke blieb er stehen und wartete, denn er wußte in seinem Herzen, was geschehen würde.

Und gleich darauf kam der Fuchs aus dem höhergelegenen Wald. El-ahrairah sah ihn kommen, und Furcht befiel sein Herz, dennoch blieb er auf der Brücke stehen, und der Fuchs legte sich neben ihn und leckte sich die Lippen.

»Ein Kaninchen!« sagte der Fuchs. »Wahr und wahrhaftig, ein wohlgenährtes, junges Kaninchen. Was für ein Glücksfall!«

Darauf sprach El-ahrairah zum Fuchs: »Wie ein Fuchs magst du riechen und wie ein Fuchs siehst du aus. Aber ich bin ein Wahrsager, und ich sehe deine Zukunft im Wasser.«

»Was du nicht sagst!« erwiderte der Fuchs. »Siehst meine Zukunft im Wasser, wie? Was? Und was siehst du im Wasser, mein Freund? Fette Kaninchen laufen übers Gras, wie? Was?«

»Nein«, erwiderte El-ahrairah, »fette Kaninchen sehe ich nicht, wohl aber flinke Bluthunde, die ihr Wild verfolgen, und meinen Feind, der um sein Leben läuft.«

Damit wandte er sich um und blickte dem Fuchs starr in die Augen. Der Fuchs starrte zurück, und El-ahrairah wußte, daß er seinem Blick nicht ausweichen konnte. Der Fuchs schien vor seinen Augen zu einem Häufchen zu schrumpfen, und dabei war es El-ahrairah, als sähe er wie im Traum große Bluthunde den Hügel hinabjagen, als hörte er sie sogar Laut geben.

»Weg!« flüsterte El-ahrairah dem Fuchs zu. »Weg mit dir! Und komm nie wieder!«

Der Fuchs stand auf, wie betäubt, stolperte zum Rand der Brücke; halb sprang er, halb fiel er ins Wasser. El-ahrairah sah zu, wie er abwärtstrieb. Der Fuchs kämpfte sich aufs andere Ufer und schlug sich, mit eingezogenem Schwanz, seitwärts in die Büsche.

Erschöpft von der schrecklichen Begegnung, wandte sich El-ahrairah ab und machte sich auf den Weg zu seinem Gehege, wo alle seine Kaninchen überglücklich waren, ihn wiederzusehen. Fuchs samt Füchsin verschwanden aus ihrer Nachbarschaft. Sie haben wohl von ihrer Erfahrung berichtet, denn es kamen keine Füchse mehr, um ihren Platz einzunehmen, und das Gehege hatte endlich Frieden - so wie wir heute, Frith sei Preis und Dank!

5. Das Loch im Himmel


Doch er wird ihnen antworten:

Wahrlich, ich sage euch, was ihr einem von diesen Geringsten da nicht getan habt,

das habt ihr auch mir nicht getan.

Matthäus-Evangelium, 25:45


Unsere Werte sind jetzt das Hohe und das Grausige aus einer Wunde strömend, die im Bösen heilt.

Roy Fuller (Autumn 1942)


Es wird erzählt, daß El-ahrairah oft in diesem Gehege zu Besuch war, ein paar Tage bei dem Leitkaninchen und seinen Owsla blieb, um sie bei eventuell vorhandenen Problemen zu beraten. Selbst die ältesten und erfahrensten Kaninchen nahmen seinen Rat gern an und freuten sich, ihn zu sehen. Gewöhnlich fühlte er sich nicht bemüßigt, von sich selber zu sprechen, doch war er ein äußerst teilnahmsvoller Zuhörer, immer bereit, auf Schwierigkeiten und Abenteuer von anderen einzugehen, und Lob zu spenden, wo es am Platze war. Ich habe selbst oft gehofft, daß er eines Tages hier hereinschaut, und wir sollten wohl alle immer wachsam sein für diesen Fall; man sagt nämlich, daß er oft nicht so leicht zu erkennen ist, und dafür gibt es gute Gründe, wie ihr gleich hören werdet.

Es war einmal ein Gehege namens Parda-rail - so wird erzählt -, und die Kaninchen dort waren ungeheuer eingebildet. Wenn man sie hörte, war niemand so adrett, so wagemutig, so hurtig zu Fuß wie die Kaninchen von Parda-rail. Wer dorthin kam, sollte also wenigstens eine persönliche Empfehlung vom Fürsten Regenbogen haben, um eingelassen zu werden. Der Anführer hieß Henthred, und bevor jemand Henthred-rah ansprechen durfte, mußte er von einem der Owsla hereingebracht und vorgestellt werden. Was seine Kaninchenfrau betrifft, Anflellen - o was war sie für eine himmlische Erscheinung, bis man dahinterkam, daß ihr so gut wie alle Eigenschaften eines ehrlichen Kaninchens abgingen; sie hatte andere Kaninchen, die ihr zu Diensten waren.

Nun, eines Abends befanden sich zwei der Owsla dieses großartigen Geheges, Hallion und Thyken, auf dem Heimweg, nachdem sie einen fernen Küchengarten erfolgreich geplündert hatten, als sie im Umland von Parda-rail auf ein Kaninchen stießen - offensichtlich ein hlessi, ein Streuner -, das unter einem Dornbusch auf der Seite lag, schwer atmete und sichtbarlich böse zugerichtet war. Ein Ohr war aufgerissen und blutete, seine beiden Vorderpfoten waren in getrocknetem Schlamm fast eingebacken, und die Hälfte des Fells auf dem Kopf hatte er verloren. Als sie näher kamen, versuchte es aufzustehen, fiel aber nach zwei Ansätzen wieder zurück und blieb liegen. Sie hielten kurz an, um sich zu vergewissern, daß es nicht vom Parda-rail war. Als sie es beschnüffelten, sagte es zu Hallion: »Herr, ich glaube, ich bin in einem bösen Zustand. Ich bin völlig erschöpft und weiß, ich kann nicht mehr laufen. Wenn ich so hier liegen bleibe, dann wird mich sicher der eine oder andere der Tausend erwischen. Könnt ihr mir in eurem Gehege Obdach für eine Nacht gewähren?«

»Dir Obdach gewähren?« fragte Hallion. »Einem schmutzigen, gemeinen Kaninchen wie dir? Na, so was -«

»Oh, es ist also tatsächlich ein Kaninchen?« warf Thyken ein. »Hab' mich schon gefragt, was das für ein Viech ist.«

»Du machst dich hier besser aus dem Staub«, fuhr Hallion fort. »Solche wie dich wollen wir nicht um Parda-rail herumgammeln sehen. Da könnte einer meinen, du kämst von uns.«

Der hlessi bat sie ziemlich verzweifelt, ihm zu ihrem Gehege zu helfen, er hielt das für seine einzige Überlebenschance. Aber keiner von beiden wollte ihm helfen; sie meinten, so ein dreckiger Vagabund würde dem Namen Parda-rail nur Scham und Schande bringen. Obwohl er sie weiter anflehte, gingen sie weg und verschwendeten keinen Gedanken mehr an ihn.

Zwei oder drei Tage später schaute El-ahrairah vorbei, wie es an langen Sommertagen seine Gewohnheit war. Henthred begrüßte ihn mit großem Respekt und sagte, er hoffe, daß er einige Tage bleibe, um den Klee zu genießen, dessen Zeit gerade war. El-ahrairah nahm die Einladung an und meinte, er würde gern die Owsla treffen, die er lange Zeit nicht mehr gesehen hatte.

Sie kamen alle stolz an, mit glänzendem Fell und weißblitzenden Schwänzen, und El-ahrairah lobte ihre Erscheinung und sagte zu Henthred, sie sähen wirklich phantastisch aus. Dann sprach er zu ihnen und blickte dabei von einem zum anderen.

»Ihr seid tatsächlich der bestaussehende Kaninchenhaufen, den man sich nur wünschen kann«, sagte er. »Ich bin sicher, in eurem Herzen und in eurer Seele sieht es genauso schön aus. Zum Beispiel«, fuhr er fort und wandte sich dabei an ein großes Kaninchen namens Frezail, »was würdest du tun, angenommen, du findest eines Abends auf dem Heimweg einen verwundeten hlessi, der dich bittet, ihm zu deinem Gehege zu helfen und ihm für die Nacht Obdach zu geben?«

»Natürlich würde ich ihm helfen«, antwortete Frezail, »ich würde ihn bleiben lassen, so lange er will.«

»Und du?« fragte El-ahrairah das nächste Kaninchen.

»Ich auch, Herr.«

Und das sagten sie alle.

Doch vor ihren Augen veränderte sich El-ahrairah ganz allmählich und verwandelte sich in den erbarmungswürdigen hlessi, den Hallion und Thyken einige Abende zuvor angetroffen hatten. Er ließ sich auf die Seite fallen und sah Hallion und Thyken an. »Und wie ist das mit euch?« fragte er. Aber sie antworteten nicht, sie starrten ihn nur verwirrt an.

»Ihr habt mich also nicht erkannt?« forschte El-ahrairah nach. Die anderen Owslas blickten von ihm zu Hallion und Thyken; sie verstanden nichts, ahnten aber, daß es da etwas höchst Unangenehmes zwischen El-ahrairah und den beiden gab.

»Du ... du hast nicht ausgesehen wie du«, sagte Thyken schließlich stockend. »Wir konnten ja nicht wissen -«

»Konntet nicht wissen, daß ich ein Kaninchen war, richtig?« fragte El-ahrairah. »Wißt ihr's denn jetzt?«

Bevor er sich zurückverwandelte, ließ er alle nähertreten und ihn aus der Nähe betrachten. »Um sicher zu sein«, sagte er, »daß sie mich das nächste Mal erkennen.«

Hallion und Thyken erwarteten nun eine harte Strafpredigt von ihm, aber er erzählte nur Henthred, während alle zuhörten, was an jenem Abend geschehen war, als sie ihn unter dem Dornbusch hatten liegen sehen. Sie wußten alle in ihren Herzen, daß sie sich ebenso verhalten hätten, und sie gingen alle schweigend fort. Nur Henthred blieb da und ein graufelliges, uralt aussehendes Kaninchen, das Henthred als Themmeron vorstellte, das älteste Kaninchen im Gehege.

»Was ich nur noch sagen will«, äußerte Themmeron mit zittriger Stimme, »ist folgendes: Hätte ich dich an jenem Abend gesehen, dann hätte ich gewußt, daß du nicht der bist, der du vorgibst zu sein. Ich hätte vielleicht nicht gewußt, daß du unser Fürst bist, der tausend Feinde hat. Aber deine Verstellung hätte ich gewiß durchschaut.«

»Wie das?« fragte El-ahrairah verdutzt. Er war ganz sicher gewesen, daß niemand einem armen alten hlessi ähnlicher gesehen hätte als er.

»Weil ich erkannt hätte, Herr, daß du nicht aussiehst wie ein Kaninchen, das das Loch im Himmel gesehen hat. Und übrigens, jetzt auch noch nicht.«

»Das Loch im Himmel?« fragte El-ahrairah. »Was soll denn das sein?«

»Das kann man nicht erklären«, antwortete Themmeron. »Es kann nicht erklärt werden. Das ist keine Mißachtung, Herr.«

»Nein, nein, das weiß ich«, sagte El-ahrairah. »Ich möchte nur wissen, was du unter Loch im Himmel verstehst. Wie kann ein Loch im Himmel sein?«

Aber das alte Kaninchen schien auf einmal nicht mehr zu wissen, daß es überhaupt gesprochen hatte. Es nickte El-ahrairah kurz zu, drehte sich um und humpelte langsam fort.

»Wir lassen ihn gewöhnlich ganz in Ruhe, Herr«, sagte Henthred. »Er ist ganz harmlos, aber manchmal frage ich mich, ob er weiß, wann Nacht und wann Tag ist. Aber wie ich höre, war er seinerzeit ein forscher Kavalier unter den Owsla.«

»Was hat er denn gemeint, mit dem Loch im Himmel?«

»Wenn du's nicht weißt, Herr, ich weiß es ganz bestimmt nicht«, erwiderte Henthred, der, um die Wahrheit zu sagen, ziemlich verärgert gewesen war, als zwei seiner Owsla als rüpelhafte Widerlinge vorgeführt worden waren.

El-ahrairah kam auf den Zwischenfall nicht mehr zurück. Er blieb noch zwei oder drei Tage und tat so, als wäre nichts Ungewöhnliches vorgefallen. Als er sich verabschiedete, wünschte er dem Gehege Glück und Wohlergehen, wie es seine Gewohnheit war.

Er grübelte lange über die Worte von Themmeron nach, und wohin er auch kam, fragte er andere Kaninchen, ob sie ihm etwas über das Loch im Himmel sagen könnten. Aber keines war in dieser Sache kundig. Am Ende merkte er, daß man ihn wegen dieser Nachforschung etwas als seltsamen Kauz betrachtete, deshalb gab er sie auf. Doch insgeheim beschäftigte ihn die Frage weiter. Was konnte der alte Themmeron gemeint haben. Schließlich folgerte er, daß ihm, dem Fürsten der Kaninchen, offenbar eine nützliche, aber auch fabelhafte Sache bis jetzt entgangen war, und zwar irgend etwas Geheimnisvolles. Vermutlich hatten schon einige, die er befragt hatte, genau Bescheid gewußt, jedoch geschwiegen. Das mußte eine tolle Sache sein, das Loch im Himmel. Könnte er es doch nur finden und irgendwie dort hindurch auf die andere Seite gelangen, da waren sicher höchst wunderbare Dinge zu entdecken. Nichts konnte ihn mehr zufriedenstellen, bis er es gefunden hätte.

Also, wie ihr alle wißt, führten seine Wanderungen El-ahrairah überallhin, weit über den Lebensraum gewöhnlicher Kaninchen wie wir hinaus; wir sind ja schon mit unseren Gemüsefeldern, mit blühendem Holunder, mit sauberem Farn und Ginster zufrieden. Er kannte die Berge und tiefen Wälder und konnte Flüsse durchschwimmen wie eine Wasserratte. Bei solchen Wanderungen begegnete er notgedrungen allerdings auch sonderbaren und ungewöhnlichen Gestalten, die zum Teil ausgesprochen gefährlich waren. Die Legende erzählt uns, daß er eines Abends kurz vor dem Einbruch der Nacht einen schmalen Pfad in einem abgelegenen Hügelland entlangwanderte und dort plötzlich einem Geschöpf gegenüberstand, das als Timblier bekannt ist. Wir wissen zum Glück nichts von diesem Getier, Frith sei Dank, nur daß Timbliers hitzig und angriffslustig sind.

»Was machst du hier?« fragte der Timblier unfreundlich.

»Mach dich fort, dorthin, wo du hingehörst, du dreckiges Kaninchen.«

»Ich tue doch nichts Böses«, gab El-ahrairah zurück. »Ich gehe nur diesen Pfad entlang und belästige weder dich noch andere Geschöpfe.«

»Du hast hier nichts zu suchen«, sagte der Timblier. »Drehst du dich nun um und haust ab oder nicht?«

»Nichts dergleichen«, antwortete El-ahrairah, »und du hast kein Recht, mich herumzukommandieren.«

Darauf stürzte sich der Timblier auf El-ahrairah, und dieser rang mit dem Timblier im Kreuzkraut und in den Nesseln, und ein schrecklicher Kampf wogte auf dem Pfad hin und her. Der Timblier war kräftig und äußerst beweglich und verwundete El-ahrairah derart, daß dieser eine Menge Blut verlor. Doch El-ahrairah wehrte sich wacker, und am Ende war der Timblier froh, daß er den Kampf abbrechen und unter Flüchen und Verwünschungen weghumpeln konnte.

El-ahrairah fühlte sich schwach und schwindlig. Er sank zu Boden, wo er gerade stand, und versuchte sich auszuruhen, aber seine Wunden taten ihm so weh, daß er keine Stellung oder Lage fand, die ihm Linderung gebracht hätte. Es wurde Nacht, und er wälzte sich vor Schmerzen hin und her. Doch schließlich mußte er eingeschlafen sein, denn als er wieder umherschaute, brach der Tag an, und eine Drossel sang aus einer Birke in der Nähe. Er versuchte aufzustehen, fiel aber sofort wieder um. Die Wunden schmerzten immer noch sehr, und da er nicht gehen konnte, mußte er wohl oder übel auf dem Pfad bleiben, wo er gerade war. Allmählich begann er zu befürchten, daß er dort sterben würde.

Bald hatte er Fieberphantasien und lag den ganzen Tag da, ohne Bewußtsein für die Zeit. Manchmal schlief er, aber sogar im Schlaf empfand er den Schmerz. Er wähnte, daß Rabscuttle bei ihm wäre, und er bat ihn um Hilfe. Aber Rabscuttle löste sich langsam auf und verwandelte sich in einen krummen Wacholderbusch auf dem Down, wo El-ahrairah zu liegen glaubte. Dann bildete er sich ein, Hazel zu sein und bat Hyzenthlay, gut aufs Gehege aufzupassen, während er mit Campion auf eine besondere weiträumige Streife ging. Doch all diese Bruchstücke vergingen entweder oder die Bilder überblendeten sich und wurden zu Feinden, die er aus dem Augenwinkel wahrnahm. Den ganzen Tag lang drehte er den Kopf hin und her im Bemühen, sie deutlicher zu erkennen. Inzwischen flüsterte ihm ein Kaninchen Witze ins Ohr, doch er begriff nicht, um was es eigentlich ging. Er hörte ein Kaninchen hilfesuchend nach Rabscuttle rufen, bis ihm nach einer Weile klar wurde, daß er es selbst war.

Er knabberte am Gras, dort wo er lag, konnte es aber nicht schmecken. »Es ist ein besonderes Gras, Meister«, sagte Rabscuttle, den er nicht sehen konnte, hinter ihm. »Ein Spezialgras, um dich zu heilen. Schlaf jetzt wieder.«

Am nächsten Morgen sah er ganz deutlich einen grünen Fuchs, der auf dem Pfad näherkam. Wieder versuchte er aufzustehen, aber gerade als der Fuchs verschwand, gaben die Beine unter ihm nach, er fiel auf den Rücken, lag da und starrte dumm in den Himmel.

Dann fing er an, vor Angst zu zittern. In der blauen Kurve des Himmels sah er einen großen Riß, der aber, wie er erkannte, eine klaffende Wunde war. Die beiden Ränder waren unregelmäßig gezackt, als hätte man sie mit einem stumpfen Gegenstand geschlagen, mit einem Instrument, das erst geschnitten und dann gerissen hatte. Hie und da hingen noch Fleischfetzen an den Rändern und über der Wunde, deren Inneres dadurch verdeckt wurde. Er konnte nur Blut und Eiter in der Tiefe der Wunde ausmachen, eine glitzernde, dickflüssige, unebene Oberfläche wie auf einem Morast. Die Ränder waren außerdem ausgefranst, mit Blut und gelber Masse besudelt, und Fliegen spazierten darauf herum. Während er noch entsetzt darauf schaute, fiel der Leichnam eines Kaninchens aus der Wunde, der sich aber im Fallen auflöste.

Bestürzt sah er, daß sich die ganze klaffende Wunde offenbar bewegte, daß sie wie ein geöffnetes Lippenpaar herabsank, um ihn einzusaugen und sich über ihm zu schließen. Schrill schreiend fiel er über den Wegrand, rollte den Hang hinab und überschlug sich mehrmals, bevor er die Sinne verlor.

Als er wieder zu sich kam, hatte er einen klaren Kopf, und seine Wunden waren nicht mehr so schmerzhaft. Er glaubte, daß er jetzt wahrscheinlich aus eigener Kraft nach Hause fände, wo sein Weibchen, Nur-Rama, und der getreue Rabscuttle ihn solange pflegen könnten, bis er wieder der alte war. Er ging ein kurzes Stück, ganz langsam, und legte sich dann in die Sonne, um sich zu säubern, so gut er konnte.

Und jetzt, während er am Hang ruhte, hörte er in seinem Herzen Frith, den Herrn, der zu ihm sprach.

»El-ahrairah, du solltest nicht mehr auf gefährliche Abenteuer aus sein, zumindest nicht in absehbarer Zeit. Du brauchst deinem Volk nicht mehr mit weiteren großen Kämpfen und Reisen zu imponieren. Du hast genug getan. Sie lieben und bewundern dich ohnehin schon über die Maßen, und mehr wäre von Übel, sowohl für sie wie für dich. Sei faul und genieße den Sommer wie ein anständiges Kaninchen. Du hast dich bereits allem, was dir über den Weg gelaufen ist, gewachsen gezeigt.«

»O Herr«, sprach El-ahrairah, »deine Wege, so dunkel und geheimnisvoll sie mir oft erscheinen, habe ich nie in Zweifel gezogen. Aber ... wie kannst du es nur zulassen, daß in deiner Schöpfung so etwas wahnwitzig Grausiges existiert wie diese Wunde, etwas so Furchtbares, das niemand ertragen kann?«

»Ich lasse es nicht zu, El-ahrairah. Schau empor zum Himmel. Da ist nichts zu sehen, nicht wahr?«

El-ahrairah sah ängstlich nach oben. Das Loch im Himmel war nicht mehr zu sehen.

»Selbst wenn du es nur einen Augenblick lang zuläßt, Herr -«

»Es war nie da, El-ahrairah.«

»Nie da? Aber ich habe es mit eigenen Augen gesehen.«

»Was du gesehen hast, El-ahrairah, war eine Wahnvorstellung. Unwirklich. Ich hatte keine Möglichkeit, sie wegzuwischen.«

»Und der alte Themmeron, in Parda-rail -«

»Er konnte erkennen, daß du das Loch im Himmel nie gesehen hast. Sprich nie mehr darüber. Kaninchen, die es gesehen haben wie du, wollen nicht darüber reden, und solche, die es nicht gesehen haben, halten dich nur für einen komischen Kauz.«

El-ahrairah nahm sich das zu Herzen. Er hatte etwas Neues gelernt. Das Loch im Himmel sah er nie mehr, und er sprach auch nie mehr leichtfertig darüber, besonders nicht gegenüber Kaninchen, denen er anmerkte, daß sie Ähnliches durchlitten hatten wie er.

6. Die Sache mit dem Kaninchengespenst


Da gibt's hier herum keins, weder Mann noch Schaf, was am Jammerbrunnen jammert, und gab's auch nie, solang ich hier leb'.

M. R. James (Wailing Well)


Von den vier Efrafraniern, die sich seinerzeit, am Morgen von General Woundworts Niederlage, in dem verwüsteten Wabenbau Fiver ergeben hatten, waren drei sehr bald darauf in Hazels Gehege gut gelitten.

Groundsel, der auf Streifengängen noch geschickter und findiger war als Blackavar, war trotz seiner leidenschaftlichen Verehrung für das Andenken des Generals eine wertvolle Bereicherung des Geheges, und der junge Thistle erwies sich alsbald, befreit von der harten Efrafra-Disziplin, als warmherziger und fröhlicher Baugenosse.

Die Ausnahme war Coltsfoot. Niemand wußte, woran man bei ihm war. Ein verdrießliches, schweigsames Kaninchen, zwar höflich gegenüber Hazel und Bigwig, aber doch oft ausgesprochen ruppig gegenüber anderen; selbst mit seinen Efrafra-Genossen sprach er kaum etwas. Beim silflay graste er fast immer in einiger Entfernung von allen anderen. Niemand hätte im Traum daran gedacht, ihn zu bitten, eine Geschichte zu erzählen.

Als Bigwig sich eines Tages bei Hazel über »diesen lästigen Widerling mit dem Gesicht so lang wie ein Krähenschnabel« beschwerte, riet Hazel, ihn in Ruhe zu lassen, weil es offenbar das war, was er wollte; wenn er sich erst einmal hier mehr zu Hause fühlte, würde man weiter sehen.

Bluebell wurde gebeten, keine Witze mehr auf Kosten von Coltsfoot zu machen; er bemerkte, daß ihn dessen Schweigen und trauriger Blick an eine Kuh erinnerte, die im Regen zusammengeschrumpft war.

Die erste Hälfte des Winters, der diesem ereignisreichen Sommer folgte, war von trügerischer Milde. Der November hatte viele Sonnentage, welche die kleinen weißen Blüten von Sternmiere und Hirtentäschel herauslockten, und hie und da brachen unten am Down sogar schon die samtigen schwarzen Eschenknospen hervor, und es zeigten sich auch die Büschel karminroter Narben an den Zweigknospen der Haselsträucher.

Kehaar, die Möwe, kam eines Tages zur Freude des ganzen Geheges angeflogen und brachte eine Freundin namens Lekkri mit, die mit ihrer Sprache, Silver zufolge, einen neuen Rekord auf dem Gebiet totaler Unverständlichkeit aufstellte. Kehaar wußte natürlich nichts von dem, was alles seit dem Morgen nach dem großen Ausbruch aus Efrafra vorgefallen war. Er hörte die ganze Geschichte eines windigen, wolkenverhangenen Nachmittags von Dandelion, als das Birkenlaub flog und das windzerzauste Gras raschelte, und bemerkte am Ende gegenüber dem begriffstutzigen Erzähler, daß die Katze der Nuthanger-Farm »sein viel, sehr viel gemein wie Haufen Kormoran«, eine Ansicht, die Lekkri bestätigte mit einem raspelnden Urlaut, der ein junges Kaninchen in der Nähe hoch in die Luft springen und sofort zu seinem Loch stürzen ließ.

An schönen Vormittagen sah man die zwei Möwen vom Nordhang des Downs aus, wie sie, weißglänzend im schwachen Sonnenschein, über dem gepflügten Acker, auf dem sich der Weizen des nächsten Jahres schon zartgrün ankündigte, nach Nahrung suchten.

Gegen Ende des Monats hatte Blackavar eines Nachmittags Scabious und Jung-Threar, den Sohn von Fiver, auf eine Übung mitgenommen; das Ziel war, den Garten von Ladle Hill House etwa eine Meile weiter westlich zu überfallen. Blackavar nannte das »spielerische Ausbildung«. Hazel war etwas in Sorge wegen der großen Entfernung, hatte aber die Entscheidung Bigwig, dem Chef der Owsla, überlassen (ähnlich dem Ausspruch von Edward III.: Der Knabe soll sich seine Sporen verdienen). Gegen Abend waren sie noch nicht zurück, und Hazel, der mit Bigwig den Einbruch der Novembernacht beobachtet hatte, bis es vollständig dunkel war, lief in großer Unruhe in den Wabenbau.

»Keine Sorge, Hazel-rah«, sagte Bigwig wohlgemut. »Vermutlich behält sie Blackavar zum Training die ganze Nacht draußen.«

»Aber er hat dir gesagt, das würde er nicht tun«, erwiderte Hazel. »Du weißt doch noch, wie er sagte -«

In diesem Augenblick hörte man ein Geraschel im Gang von Kehaar, und kurz darauf erschienen die drei Abenteurer, verschmutzt und müde, aber sonst anscheinend unverändert.

Da waren alle erfreut und erleichtert. Scabious allerdings, der sehr niedergeschlagen wirkte, blieb einfach dort, wo er war, auf dem Boden liegen.

»Was hat euch aufgehalten?« fragte Hazel mit einiger Schärfe.

Blackavar sagte nichts. Er hatte die Miene eines Anführers, der nicht gewillt ist, schlecht über seine Untergebenen zu sprechen.

»Es war mein Fehler, Hazel-rah«, stieß Scabious hervor. »Da ist mir auf dem Heimweg was ... Blödes passiert. Ich weiß nicht, was es zu bedeuten hat. Blackavar sagt -«

»Dieser dumme Kerl, der hat zu viele Geschichten gehört«, sagte Blackavar. »Also jetzt hör mal, Scabious, du bist zu Hause und in Sicherheit. Lassen wir's dabei bewenden.«

»Worum ging's?« fragte Hazel freundlicher. Aber er wollte es wissen.

»Ach, er glaubt, er hätte das Gespenst des Generals auf dem Down gesehen«, sagte Blackavar ungeduldig. »Ich hab' ihm gesagt -«

»Ich hab's gesehen«, verkündete Scabious. »Blackavar hatte mir aufgetragen vorauszugehen und in die Büsche zu schauen, und ich war da draußen ganz allein, als ich ihn gesehen habe. Ganz schwarz um die Ohren herum ... ein riesiges, großes ... also genauso, wie sie's dir immer sagen -«

»Und ich hab' dir gesagt, es war ein Hase«, unterbrach ihn Blackavar ungehalten. »Frith noch mal! Glaubst du, ich weiß nicht, wie ein Hase aussieht?« Etwas leiser teilte er Bigwig mit: »Der Kerl stand ganz starr, bis ich ihn getreten habe. Der war tharn - erstarrt vor Angst.«

»Es war aber ein Gespenst«, sagte Scabious, aber diesmal nicht mehr so sicher. »Vielleicht ein Hasengeist.«

»Mit Hasengeistern weiß ich nicht Bescheid«, meinte Bluebell, »aber ich sage euch, vorgestern Nacht hab' ich beinahe einen Flohgeist getroffen. Muß ein Geist gewesen sein, denn ich wurde wach, gebissen wie eine Pimpinelle, und ich hab' gesucht und gesucht, aber nirgends was gefunden. Stellt euch vor, weiß und durchscheinend, dieser furchtbare Phantomfloh -«

Hazel war zu Scabious gegangen und stieß ihn sanft an der Schulter an. »Hör mal«, sagte er, »das war kein Gespenst! Klar? Ich hab' in meinem Leben noch kein Kaninchen gesehen, das ein Gespenst gesehen hat.«

»Doch. Jetzt!« sagte eine Stimme von der anderen Seite im Wabenbau. Alle fuhren überrascht herum. Es war Coltsfoot, der gesprochen hatte. Er saß allein in einer Einbuchtung zwischen zwei Buchenwurzeln. Zusammen mit seiner sonstigen Schweigsamkeit grenzte ihn diese Stellung von den anderen ab und schien ihm eine Alleinstellung voller Autorität zu geben, so daß sogar Hazel, der Jung-Scabious unbedingt zu trösten und zu beruhigen suchte, nichts mehr sagte, sondern abwartete, was er hören würde.

»Du meinst, du hättest tatsächlich ein Gespenst gesehen?« fragte Dandelion, der sofort eine Geschichte witterte. Aber Coltsfoot brauchte anscheinend keinen Anreiz mehr, nun, da er seine Sprache wiedergefunden hatte. Wie der Alte Seemann, im Gedicht von S. M. Coleridge, kannte er diejenigen, die verdammt waren, ihn anzuhören; so hatte er eine willige Zuhörerschaft, denn unter seinem dunklen Zwang verstummte alles im Wabenbau und hörte ihm zu, als er fortfuhr.

»Ich weiß nicht, ob euch allen klar ist, daß ich kein gebürtiger Efrafranier bin. Ich wurde in Nutley Copse geboren, in dem Gehege, das der General zerstört hat. Ich gehörte zur Owsla dort und hätte sicher gegen ihn gekämpft wie alle anderen, aber zufällig befand ich mich weit draußen beim silflay, als der Überfall stattfand, und die Efrafranier nahmen mich auf der Stelle gefangen. Sie brachten mich zum >Hals-Kennzeichnen<, ihr seht ja meine weiße Narbe hier. Im vergangenen Sommer wurde ich ausgesucht, um beim Überfall auf Watership Down mitzumachen. Aber das hat alles nichts mit dem zu tun, was ich eurem Anführer gerade gesagt habe.« Er verstummte.

»Na, und was hat damit zu tun?« fragte Dandelion.

»Da gab's ein kleines enges Tal hinter den Feldern, nicht weit von Nutley Copse entfernt«, fuhr Coltsfoot fort. »Es war ganz zugewachsen mit Brombeerbüschen und Dornengestrüpp, wie uns gesagt wurde, und voller alter Höhlenlöcher und Kaninchenbaue. Sie waren alle leer und kalt, kein Kaninchen von Nutley Copse ging dort in die Nähe, nicht einmal mit hrair Wiesel auf den Fersen.

Wir wußten nur - die Geschichte war seit Frith weiß wie lang immer wieder überliefert worden -, daß da vor langer Zeit Kaninchen irgend etwas Schlimmes zugestoßen war, was mit Männern oder Jungen zu tun hatte, und daß es dort spukte. Die Owsla glaubten das, jeder einzelne von ihnen, folglich glaubten es auch alle anderen im Gehege. Soweit wir wußten, hatte da seit Kaninchengedenken kein Kaninchen jemals sein weißes Schwänzchen gezeigt. Manche sagten allerdings, daß man dort nach Einbruch der Nacht und an nebligen Morgen schon schrille Schreie gehört habe. Ich muß sagen, ich habe mir darüber keine Gedanken gemacht, ich machte einfach, was jeder machte - ich ging einfach nicht hin.

In meinem ersten Jahr, als ich in Nutley Copse nur eine Randfigur war, ging's mir ziemlich dreckig, und ein paar Freunden von mir ging's genauso. Eines Tages beschlossen wir auszuziehen und ein besseres Heim zu suchen, ich und zwei gleichaltrige Freunde; der eine hieß Stitchwort und der andere, ein recht schüchternes Kaninchen, Fescue. Wir hatten auch ein Weibchen dabei, ich glaube, sie hieß Mian. Wir brachen an einem ziemlich kühlen Apriltag gegen ni-Frith auf.«

Coltsfoot machte eine Pause, kaute eine Weile auf seinen Kügelchen herum, als überlegte er, wie er fortfahren sollte.

»Aber auf unserem Ausflug ging alles schief. Am späten Nachmittag wurde es bitter kalt, und es regnete in Strömen. Wir liefen einer streunenden Katze über den Weg und kamen gerade noch davon. Wir waren völlig unerfahren. Wir hatten keine Ahnung, wohin wir gehen sollten, und nach kurzer Zeit verloren wir jede Orientierung. Wir konnten ja die Sonne nicht sehen und als die Nacht kam, auch keine Sterne. Am nächsten Morgen stöberte uns ein Wiesel auf, ein Großwiesel.

Ich weiß nicht, was sie mit einem machen, ich habe seit damals nie wieder eins gesehen, El-ahrairah sei's gedankt, aber wir saßen damals alle drei hilflos da, während es Mian totmachte; sie gab keinen Laut von sich. Irgendwie kamen wir davon, aber Fescue war in einer schlimmen Verfassung, er weinte und gebärdete sich wie wahnsinnig, der arme, kleine Kerl. Und schließlich, etwas nach ni-Frith am zweiten Tag, beschlossen wir, wieder zum ursprünglichen Gehege zurückzukehren.

Das war leichter gesagt als getan. Ich glaube, wir sind lange Zeit im Kreis gewandert. Jedenfalls waren wir am Abend in die Irre gelaufen wie am ersten Tag, und wir wankten einfach hilflos und hoffnungslos weiter. Aber auf einmal lief ich einen Hang hinunter und durch einen Brombeerstrauch hindurch - und da war ein Kaninchen, ein Fremdling, ganz nah vor mir. Er war beim silflay, stöberte durch das Gras, und hinter ihm sah ich das Loch seines Baus, genauer gesagt mehrere Löcher auf der anderen Seite der Mulde, in der wir standen.

Ich war ungeheuer erleichtert und froh und wollte gerade zu ihm gehen und es ansprechen, aber da war etwas, was mich zurückhielt. Und als ich innehielt und es ansah, dämmerte es mir, wo wir hier hineingestolpert waren.

Der Wind, was an Wind jedenfalls da war, kam aus seiner Richtung, und mitten im Grasen hörte es auf und machte hraka. Ich war ganz nah, aber da war nichts zu riechen, gar nichts, da war nicht die Spur eines Geruchs. Wir waren unbedacht durch das Gestrüpp gestolpert, direkt vor ihm, und es hatte nicht einmal aufgeschaut, nicht einmal zu erkennen gegeben, daß es uns bemerkt hatte. Und dann sah ich etwas, was mich jetzt noch schaudern läßt - ich werde das nie vergessen können. Eine Fliege, eine dicke Schmeißfliege, flog ihm genau ins Auge. Das Kaninchen zwinkerte nicht und schüttelte auch nicht den Kopf. Es graste weiter, und die Fliege ... sie verschwand einfach. Gleich darauf sprang es eine Körperlänge vorwärts, und ich sah sie auf dem Gras, dort, wo sein Kopf gewesen war.

Fescue stand neben mir, und ich hörte ihn aufstöhnen. Und als ich das hörte, wurde mir bewußt, daß in der Mulde, in der wir waren, kein anderer Laut hörbar wurde. Es war ein schöner Abend mit einer leichten Brise, aber da sang keine Amsel, da raschelte kein Blatt - nichts. Die Erde rund um alle Kaninchenlöcher war kalt und hart - aber nirgends ein Kratzer, nirgends eine Markierung. Ich wußte dann, was es war, das ich sah, und war meiner Sinne - Sicht, Geruch - auf einmal nicht mehr mächtig. Eine Art von Ohnmacht erfaßte mich, die ganze Welt kippte unter mir weg, und ich war ganz allein an diesem fürchterlichen Ort der Stille, wo es keine Gerüche gab. Wir waren in einem unirdischen Niemandsland. Ich sah kurz aus dem Augenwinkel auf Stitchwort, der neben mir stand und aussah wie ein Kaninchen, das in der Schlinge erstickt.

Und da sahen wir den Jungen. Er kroch seitlich von uns auf dem Bauch durchs Gestrüpp, in Richtung Kaninchen, gegen den Wind. Es war ein großer Junge, und ich kann nur sagen, die Menschen haben vielleicht einmal so ausgesehen wie er, aber jetzt nicht mehr. Er war von einer schmutzigen, fremdartigen Wildheit, so wie der ganze Ort. Er hatte ein dummes, grausames Gesicht mit schlechten Zähnen und großen Warzen auf einer Backe. Seine Kleider waren verdreckt und zerrissen. Er trug alte Stiefel, die viel zu groß für ihn waren. Auch er machte kein Geräusch und hatte keinen eigenen Geruch.

In einer Hand hielt er einen gegabelten Stock mit einer daran befestigten Art von Schlinge, und ich sah, wie er einen Stein hineinlegte, die Schlinge fast bis zu seinem Auge zurückzog. Dann ließ er los, und der Stein flog auf das Kaninchen und traf es am rechten Hinterbein. Ich hörte den Knochen brechen, und das Kaninchen sprang auf und schrie. Ja, das hörte ich genau - und ich höre es immer noch und träume davon. Könnt ihr euch vorstellen, wie sich ein Schrei ohne Atemluft, ohne Lunge, anhört? Er schien eher aus der Luft als von dem strampelnden Kaninchen auf dem Gras zu kommen. Es war, als hätte der ganze Ort geschrien.

Der Junge stand auf, lachte gackernd, und auf einmal schien das ganze Tal von Kaninchen zu wimmeln, die wir aber nicht sahen, und alle liefen sie zu diesen kalten, leeren Bauen. Der Junge war sehr erfreut über das, was er getan hatte, das konnte man sehen. Nicht nur, weil er selber ein Kaninchen erlegt hatte, sondern daß es verletzt war und schrie. Er ging zu ihm, tötete es aber nicht.

Er stand über ihm und sah zu, wie es mit den Beinen zuckte. Das Gras war blutig, aber seine Stiefel hinterließen keinen Abdruck, weder auf dem Gras noch auf der Erde.

Was als nächstes geschah, weiß ich nicht, und Frith sei Dank werde ich es niemals wissen. Ich glaube, mein Herz wäre mir stehengeblieben, ich wäre gestorben. Doch plötzlich hörte ich etwas, wie ein Geräusch, das draußen allmählich näherkommt, wenn man unter der Erde ist, nämlich Männerstimmen, und ich roch die brennenden weißen Stäbchen. Wie froh war ich da, froh wie ein Zeisig im hohen Gras, als ich die Stimmen hörte und das weiße Stäbchen riechen konnte. Gleich darauf zwängten sie sich durch die blühenden Schlehdornbüsche, und die weißen Blütenblätter fielen überall zu Boden. Es waren zwei Männer, groß und nach Fleisch riechend, und sie sahen den Jungen, ja, sie sahen ihn und riefen ihn an.

Wie kann ich euch nur den Unterschied zwischen den Männern und dem ganzen Ort erklären? Erst, als sie durch das Dornengestrüpp brachen, begriff ich, daß das Kaninchen und der Junge - und ... alles da ... so wie Eicheln waren, die vom Baum fielen. Ich habe einmal ein hrududu gesehen, das allein einen Hang hinunterrollte. Der Mann hatte es oben stehenlassen und vermutlich irgend etwas falsch gemacht -es rollte langsam in einen Bachlauf unten und blieb dort stehen.

So ähnlich war das mit denen auch. Sie taten, was sie tun mußten ... sie hatten gar keine Wahl ... sie hatten das alles schon einmal getan ... sie würden es immer wieder tun ... ihre Augen waren glanzlos ... es waren Wesen, die weder sehen noch fühlen konnten -«

Coltsfoot verstummte und würgte. In der Totenstille verließ Fiver seinen Platz und legte sich neben ihn, zwischen die Wurzeln, und sprach so leise auf ihn ein, daß niemand es hören konnte. Nach einer langen Pause setzte sich Coltsfoot auf, schüttelte die Ohren und fuhr fort.

»Diese ... Bilder ... diese Dinge ... das Kaninchen und der Junge ... die schmolzen, vergingen, noch während die Männer redeten. Sie lösten sich auf, so wie Reif auf dem Gras, wenn man es anhaucht. Und die Männer ... sie bemerkten nichts Besonderes. Ich glaube jetzt, daß sie den Jungen sahen und ihn ansprachen, so wie in einer Art Traum, und als er und sein armes Opfer verschwanden, hatten sie keine Erinnerung mehr daran. Sei dem, wie es wolle, sie waren offenbar gekommen, weil sie das Kaninchen schreien gehört hatten, und man sah auch sofort den Grund.

Einer von ihnen trug ein Kaninchen, das an der Weißen Blindheit gestorben war, ich sah diese armen Augen und erkannte auch, daß der Körper noch warm war. Vielleicht wißt ihr nicht, was das für ein schmutziges Geschäft der Menschen ist; sie stecken nämlich den noch warmen Körper eines toten Kaninchens in ein Loch in einem Kaninchenbau, bevor die Flöhe seine Ohren verlassen haben. Wenn die Leiche dann kalt wird, gehen die Flöhe zu den anderen Kaninchen und stecken sie mit der Mondblindheit an. Man kann nichts anderes tun als wegrennen - vorausgesetzt, man merkt noch zur rechten Zeit, welche Gefahr droht.

Die Männer schauten sich um und deuteten auf die verlassenen Bauen. Keiner von ihnen war der Farmer, wir wußten alle, wie der aussah. Er hatte sie wohl hergerufen, damit sie das tote Kaninchen brächten, und war dann zu faul gewesen, sie zu begleiten, hatte ihnen nur gesagt, wohin sie gehen sollten, und sie waren sich nicht sicher, ob das der richtige Ort wäre. Das sah man an der Art, wie sie umherschauten.

Nach einer Weile trat einer sein weißes Stäbchen aus und zündete ein anderes an. Dann gingen sie zu einem Loch und schoben das tote Kaninchen mit einem langen Stock tief hinein. Danach gingen sie weg.

Wir gingen auch weg ... aber ich weiß nicht mehr wie. Fescue war fast wahnsinnig. Als wir wieder in Nutley Copse waren, legte er sich tharn in den erstbesten Bau und kam weder am nächsten noch am übernächsten Tag heraus. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist ... ich habe ihn nie wieder gesehen. Stitchwort und mir gelang es dann später im Sommer, einen eigenen Bau in Besitz zu nehmen, und den hielten wir gemeinsam lange besetzt. Wir sprachen nicht über das, was wir gesehen hatten, nicht einmal, wenn wir allein waren. Stitchwort wurde später getötet, als die Efrafranier unser Gehege überfielen.

Ich weiß, ihr denkt alle, ich wäre unfreundlich. Vielleicht glaubt ihr, daß ich keinen hier mag, daß ich gegen euch bin. Aber das ist nicht so. Das wißt ihr jetzt. Was mich die ganze Zeit verfolgt ... dauernd muß ich daran denken ... muß dieses unglückliche Kaninchen das immer wieder von neuem durchmachen ... immer wieder und immer wieder ... in alle Ewigkeit? Den Stein ... den Schmerz ... und müssen wir vielleicht auch -«

Der große stämmige Coltsfoot schluchzte wie ein Junges. Auch Pipkin weinte, und Hazel fühlte im Dunkel des Wabenbaus Blackberry an seiner Seite zittern. Dann sprach Fiver mit einer ruhigen Gelassenheit, die den Schrecken im Bau durchschnitt wie der nächtliche Ruf des Regenpfeifers den Dunst über kahlen Feldern.

»Nein, Coltsfoot. So ist das nicht. Es stimmt zwar, daß es viele schreckliche und gefährliche Dinge in jenem Land gibt, wohin du mit deinen Freunden damals gegangen bist, aber am Ende, wie weit das auch noch entfernt sein mag, bleibt das Versprechen bestehen, das Frith einst El-ahrairah gegeben hat. Ich weiß das, und du kannst es glauben. Das waren ja keine wirklichen Geschöpfe, die du gesehen hast. Wo allerdings einmal böse Dinge geschehen sind, da leben oft noch seltsame Kräfte weiter, so wie Teiche nach einem Sturm noch lange nachzittern, und hie und da fallen manche von uns in diese Teiche. Was du gesehen hast, existiert nicht in Wirklichkeit, das hast du selbst gesagt. Was du gehört hast, war ein Echo, keine Stimme. Und bedenke: Es hat dir an jenem Abend dein Gehege gerettet. Wohin hätte man sonst noch dieses tote Kaninchen hineinschieben können? Und wer kann denn alles verstehen, was Frith weiß und geschehen läßt?«

Er schwieg und sagte auch nichts mehr, als Coltsfoot nicht darauf antwortete. Sicher meinte er, daß Coltsfoot es einfach so annehmen müßte, ohne daß Wiederholungen oder weiteres Zureden nötig wären. Nach einer Weile verzogen sich die anderen in ihre Wohnkessel und ließen Coltsfoot und Fiver zurück.

Coltsfoot nahm es an. Danach sah man ihn mehrere Tage zusammen mit Fiver silflay machen, gelassen das Gras durchstöbern, in Unterhaltungen mit seinem neuen Freund vertieft.

Als der bittere Winter vorüber war, hellte sich sein Gemüt langsam auf, und im folgenden Frühling verwandelte er sich in ein recht gesprächiges und fröhliches Kaninchen, und nicht selten hörte man ihn den Kleinen am Uferhang Geschichten erzählen.

»Fiver«, sagte Bluebell eines Abends Anfang April, als der Duft der ersten Veilchen unter den neuen Birkenblättchen vorüberschwebte, »glaubst du, du könntest mir ein nettes, sanftes, harmloses Gespenst besorgen? Ich habe nämlich gedacht - auf die Dauer scheinen sie doch manches Gute zu bewirken.«

»Auf sehr lange Dauer, ja«, antwortete Fiver, »für den, der lang genug warten kann.«

7. Speedwells Erzählung


Es ist sehr viel besser, fest im Nonsens verankert zu sein, als sich aufs aufgewühlte Meer der Gedanken zu begeben.

J. K. Galbraith (The Affluent Society)


»Ach, immer bittet ihr mich um eine Geschichte«, sagte Dandelion eines Abends im Wabenbau, als sich alle darin vor dem Aprilregen gerettet hatten. »Bittet doch mal einen andern um eine Geschichte. Was ist denn zum Beispiel mit Speedwell? Der erzählte uns fast so viele Witze wie Bluebell, aber ich habe noch nie eine Geschichte von ihm gehört. Ich könnte mir vorstellen, daß all die Witze zusammengenommen eine gute Geschichte ergeben würden, das heißt, wenn man sie entsprechend aneinanderfügt. Was meinst du, Speedwell?«

»Ja, ja«, schrien sie alle zusammen. »Speedwell, erzähl uns eine Geschichte!«

»Na, schön«, sagte Speedwell, als er sich endlich wieder verständlich machen konnte. »Ich werde euch also eine Geschichte erzählen über ein Abenteuer, das ich letzten Sommer erlebt habe. Aber solange ich erzähle, darf mich kein Kaninchen unterbrechen oder Fragen stellen. Das erste Kaninchen, das mich unterbricht, muß raus in den Regen. Einverstanden?«

Sie stimmten alle zu, denn sie waren viel zu neugierig auf seine Geschichte. Als sich alle bequem hingesetzt hatten, fing er an.

»Eines Tages, gegen Ende des letzten Sommers, als es so furchtbar heiß und trocken war, wollte ich mir das Fell kühlen. Ich habe es immer sehr bedauert, daß Kaninchen an heißen Tagen nicht ihr Fell abnehmen können. Aber es ist eine Erleichterung, daß wir wenigstens in die Kühlkammer gehen können.«

Hawkbit machte den Mund auf, um eine Frage zu stellen, die ihm auf der Zunge lag. Speedwell hielt inne, und Hawkbit verschluckte eilends, was er sagen wollte. Speedwell fuhr fort:

»Also lief ich runter zum Feld, wo der Eisenbaum wächst. Aber als ich hinkam, sah ich, daß jemand ihn über und über mit Schmetterlingen bepflanzt hatte, mit blauen übrigens, und ich brachte ihn einfach nicht dazu zu tun, was ich wollte. Da ließ ich alle größeren Schmetterlinge antreten und wies sie an, mit mir rüber zur Farm zu fliegen.

Kurz bevor wir zur Farm kamen, was sah ich da? Saß da doch ein Fuchs im Hof und fraß den ganzen Salat. Ich habe den Schmetterlingen befohlen, ihn zu attackieren, aber sie hatten Angst. Also sprang ich runter und suchte einen Eimer, in den ich den Fuchs packen konnte. Ich hab' ihn auch gefunden, er war zum Trocknen an der Wäscheleine aufgehängt, aber ein paar Stare hatten sich Nester darin gebaut, und ich mußte ihn mit all den Nestlingen runternehmen, und die piepsten alle nach was zu schnabulieren. Ich sagte ihnen, ein saftiger frischer Fuchs sei für sie serviert, und sie hüpften alle raus und jagten dem Fuchs so einen Schrecken ein, daß er das Hasenpanier ergriff, wenn ich so sagen darf. Er rannte weg und die Nestlinge alle hinterher. Ich ließ sie ziehen und behielt den Eimer für mich.

Ich spielte mit dem Eimer herum, rollte ihn vorwärts und rückwärts über den Hof, und plötzlich guckte da ein Dachs heraus und fragte, was ich mir eigentlich dächte, ihn da drinnen aufzuwecken. Ich sagte, er könne noch nicht lange drin sein, weil der Eimer ja noch leer war, als ich reingeguckt habe, aber da sagte er nur: >Ho, das wollen wir doch mal sehen!< Er sprang heraus und jagte mich. Na, da gab's ja nur noch eines. Ich nahm mir den Kopf ab und ließ ihn die Straße runterrollen - und der Dachs hinterher, immer ba-bumm, ba-bumm, ba-bumm! Ich setzte mich hin, wo ich war, und das kleine Mädchen vom Farmer kam raus und brachte mir einen großen Teller Karotten.«

An dieser Stelle sagte Bluebell: »Aber -« Speedwell wartete, doch Bluebell tat so, als müßte er husten, verschluckte das »Aber«, und Speedwell sprach weiter.

»Als ich mit den Karotten fertig war, hörte ich ein Gescharre und Gestampfe in der Nähe, also ging ich hin, um zu sehen, was da los war. Und im Straßengraben war ein ganzer Haufen von Igeln, und die stritten sich, wer stachliger wäre. Ich erklärte ihnen, daß ich das sei, und da stürzten sie alle auf mich zu und blökten vor Wut wie eine Schafherde. Ich rannte weg, so schnell ich konnte, aber sie hätten mich trotzdem gekriegt, wenn ich nicht plötzlich meinen Kopf in einer Pfütze gesehen hätte. Schnell setzte ich mir den Kopf auf und sah die Igel richtig grimmig an, und da kugelten sie alle übereinander, um bloß schnell wegzukommen. Ich aber ließ sie gehen und setzte mich, um zu rasten.

Aber was glaubt ihr? Ich hatte gerade zweieinhalbmal Luft geholt, fliegt da doch Kehaar mit drei Kameraden herunter, und alle fragen sie, wo sie sich befänden und was mit Bigwig geschehen sei. Ich hab' ihnen erzählt, Bigwig sei dabei, auf einen Baum zu klettern, um der Hitze zu entgehen, aber da kamen sie alle her und setzten sich im Kreis um mich und fragten, ob ich auch wirklich die Wahrheit sagte. Also, da wurde ich richtig sauer und machte ihnen klar, daß ich in meinem ganzen Leben noch nie die Wahrheit gesagt hätte.

Ich wollte weg von ihnen, zog mich an meinen Ohren hoch und kletterte auf einen Salatbaum direkt hinter mir. Ich versteckte mich hinter den Salatblättern und wartete, bis die Möwen endlich weggeflogen waren. Dann fraß ich jeden Salat, den ich finden konnte, und dazu noch drei, die ich nicht finden konnte, einfach um sicher zu sein.

Ich kletterte dann runter, fühlte mich richtig schön schwer, und da war ein wunderschöner Fluß mit klarem Wasser, der floß an einem Beet von Rosen und Krokussen vorbei. Ich pflückte mir also einen hübschen gelben Krokus, sprang hinein, setzte mich, und nun glitt ich übers Wasser, unbekümmert und gutgelaunt, aber da fiel mir ein, daß ich ja eigentlich mein Fell kühlen wollte.

Es war nicht mehr weit bis zur Kühlkammer, also rammte ich meinen Krokus in den Uferhang, sagte ihm, er solle warten, bis ich zurückkomme, und rannte übers Feld. Da grasten zwei Pferde, ein grünes und ein himmelblaues, und ich fragte das grüne, ob es wohl so gut sei, mich auf ihm zur Kühlkammer reiten zu lassen, und das himmelblaue sagte, nichts sei ihm lieber, und weg waren wir.«

In diesem Augenblick bekam Hawkbit einen Hustenanfall, aber einige Wörter konnte man dennoch verstehen: »Quatsch« ... »also so was« ... »himmelblaues Pferd.« Speedwell wartete höflich, bis der Hustenanfall vorüber war, und fragte dann: »Wo war ich stehengeblieben? Ach so, ja.

Das war wirklich ein wundervoller Anblick, ich da auf dem himmelblauen Pferd. Alle schwarzen und gelben und grünen Finken weit und breit kamen herbei, um das zu sehen. Und schwuppdiwupp, waren wir schon bei der Kühlkammer, und ich bat mein himmelblaues Roß, draußen zu warten.

In der Kühlkammer war es wunderbar, und ich fühlte mich sofort besser. Sobald ich das ganze Eis aus meinem Fell bekommen hatte, ging ich hinaus - und was sehe ich da? Sitzen doch da der Fuchs und der Dachs und reden miteinander und sagen die scheußlichsten Sachen, die ihnen einfallen - über mich!

Na, die hob ich hoch und knallte ihre Köpfe gegeneinander, und das hörte sich an wie ein Kuckuck im April. Dann sprang ich wieder auf mein himmelblaues Pferd, und wir galoppierten fort. >Wohin, Meister?< fragte das Pferd. >Nun<, erwiderte ich, >wir sollten mal nach meinem gelben Krokusboot im Fluß sehen, wenn's nicht zu weit ist.<

>Kein Problem, Meister<, sagte mein Pferd. >Sieh mal, wir sind ja schon da.<

Tatsächlich, und ich hatte das nicht gemerkt, weil wir nämlich rückwärts geritten waren, versteht ihr? Da lag nun mein Boot, heil und sicher, das Pferd stieg ein, und ich stieg ein, und wir fuhren stromaufwärts das Tal hinunter. Und da stand auch schon die süße kleine Tochter des Farmers und wartete auf uns am Ufer, und ich nahm sie mit auf meinem himmelblauen Pferd.

Wir kamen zu einer Kaninchenversammlung - Tausende und Abertausende von Kaninchen -, und als sie uns sahen, riefen sie alle: >Den machen wir zu unserem Anführer, unserem König, und Klein-Lucy soll seine Königin sein.<

Also, jetzt waren wir König und Königin der Kaninchen, und Lucy wurde mit Blumen überschüttet und ich mit Löwenzahnblättern. Ich hab' uns dann einen schönen Bau zum Schlafen gegraben, und bis sie einschlief, hab' ich ihr Geschichten erzählt.

Auch mein Pferd ist eingeschlafen, aber dann kam sein Herr, der nach ihm suchte, und der Farmer suchte Lucy. Er hatte ein großes Büschel Heu dabei, damit mein Pferd nicht hungern mußte, und meine Lucy ritt darauf nach Hause zu ihrer Farm, und ich versprach ihr, zu Besuch zu kommen, immer, wenn's regnet. Für sie hat's Honig geregnet und Salatblätter für mich, und wir lebten glücklich und in Freuden wie König und Königin.

Kaninchen so schlau wie der Himmel so blau.

Kaninchen soll'n leben, wie ich sich erheben,

ihre Königin haschen, auf Pferden reiten

und Salate vernaschen für alle Zeiten.

Und damit endet meine Geschichte«, sagte Speedwell.

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