Aber als die Nacht hereinbrach, wurde ihm allmählich bewußt, daß irgend etwas mit ihm Schritt hielt, und während er darüber nachdachte, vom Seitenweg her auf ihn herabspähte.
M. R. James (Mr. Humphreys and His Inheritance)
Das ist nun eine der vielen Geschichten, sagte Dandelion, die man von El-ahrairah und Rabscuttle erzählt, von ihren Abenteuern auf ihrer langen Heimreise von dem Steinernen Bau des Schwarzen Kaninchens von Inle.
Sie gingen langsam, denn sie waren beide erschöpft und noch schwer erschüttert von dem, was sie durchgemacht hatten. Zum Glück war es schönes Wetter, jeder Tag sonnig und warm.
El-ahrairah machte immer nachmittags ein Schläfchen, während Rabscuttle Wache hielt und aufpaßte, daß keine elil sich näherten. Doch die Tage verliefen friedlich, es gab keinen Alarm, keine plötzlichen Fluchten, und El-ahrairah gewann allmählich seine frühere Kraft und Energie zurück. Die Lerchen sangen oben am Himmel und die Amseln unten in den Büschen, und es sah so aus, als machte Frith der Herr es ihnen leicht, wieder in die geruhsame, natürliche Welt zu kommen, die sie als die ihre betrachteten.
Eines klaren, schönen Abends gegen Sonnenuntergang trotteten die beiden gemütlich über den Hügel und hielten dabei Ausschau nach einem geschützten, sicheren Platz, um zu übernachten. Über den Kamm gekommen, blieben sie stehen, um die Landschaft unten zu betrachten und den besten Weg nach unten auszusuchen.
Es war genau die Art von Gelände, die ihnen vertraut war: grüne Felder - denn es war Frühsommer - und kleine Gehölze mit neuen Blättchen, die in der Sonne schimmerten. Weiter hinten ließ ein Mann ein hrududu knattern. Es war alles wie gewohnt - mit Ausnahme einer merkwürdigen Sache, dergleichen noch keiner von ihnen gesehen hatte.
Nicht weit von einer einsam wirkenden Straße stand ein großes Haus mit rauchlosen Kaminen, Fenstern ohne Glas und eingefallenem Dach. Jedes Kaninchen hätte konstatiert, daß es eine verlassene Ruine war, denn dort zeigte sich kein Mensch. Sie sahen beide den überwucherten, verwahrlosten Garten - die Pfade darin mit Unkraut überwachsen. Hier und da standen einige Schuppen, und El-ahrairah dachte gerade, daß einer davon sicher ein gutes Obdach für die Nacht wäre, aber da fiel ihm noch etwas völlig Ungewöhnliches auf.
Auf der vorderen Seite des Gartens und von diesem durch eine niedrige Mauer getrennt, lag ein Stück Land von der Größe einer normalen Wiese. Es hätte auch eine Wiese sein können, nur wurde sie von vielen grünen Pfaden durchquert, die in allen Richtungen von dicken Hecken gesäumt waren. Das Ganze lag da im Sonnenschein, menschenleer, und obgleich El-ahrairah es eine ganze Weile betrachtete, konnte er auch kein einziges Tier ausmachen.
»Was mag das sein?« fragte er Rabscuttle. »Es ist offensichtlich Menschenwerk, aber so was hab' ich noch nie gesehen. Du vielleicht?«
»Ich weiß nicht mehr als du, Meister«, antwortete Rabscuttle. »Für uns bedeutet das nichts Gutes, soviel ist gewiß. Wir lassen es besser links liegen, oder?«
»Nicht doch«, entgegnete El-ahrairah. »Das möchte ich mir doch genauer ansehen. Wir wollen hier hinuntergehen. Schaden kann es uns nicht, und ich möchte doch gern wissen, wozu in aller Welt das dient. Soweit ich sehe, dient es überhaupt keinem Zweck, nicht mal für Menschen.«
Langsam gingen sie den Hang hinunter, hielten auch mal inne für ein Häppchen Gras, liefen an Hecken entlang, und bald standen sie vor dem »Komischen Feld«, wie El-ahrairah den Garten getauft hatte. Ein Tor oder sonst irgendein Eingang war nicht zu sehen, und El-ahrairah ging immer verwirrter an einer Seite entlang.
»Es muß einen Einlaß geben«, sagte er zu Rabscuttle. »Sonst war's ja nutzlos.«
Rabscuttle war immer noch der Meinung, man sollte es besser links liegen lassen, doch in Wahrheit freute er sich, daß sein Meister seine Lebenskraft zurückgewonnen hatte und offenbar auf ein neues Abenteuer oder auf Unfug aus war, denn viele Tage lang war er, nachdem sie das Schwarze Kaninchen verlassen hatten, ausgelaugt und recht niedergedrückt gewesen. Also sagte er nichts und folgte El-ahrairah gehorsam an den Hecken entlang bis zum hinteren Ende und dort um die Ecke.
Das erste, was sie sahen, als sie um die Ecke kamen, war ein einzelnes Kaninchen, das auf einem kleinen Stück mit kurzem Gras silflay machte. Es stand mit dem Rücken zu ihnen und merkte nicht, daß sie sich näherten. Als es jedoch ihrer ansichtig wurde, schreckte es hoch und sah sie ängstlich an, lief allerdings nicht weg, sondern blieb stehen und zitterte nur ein wenig, als El-ahrairah es begrüßte und ihm Wohlergehen wünschte. Sie sahen nun, daß es schon alt war, mit ergrautem Fell, angestrengt starrenden Augen und langsamen Bewegungen. Irgendwie, und ohne daß er es erklären konnte, fand El-ahrairah es unsympathisch, führte das aber auf die sonderbaren, verworrenen Zustände zurück, unter deren Bann er wiederholt gestanden hatte, seit sie das Schwarze Kaninchen verlassen hatten. Er wußte, er war noch nicht ganz der alte, hatte sich aber daran gewöhnt, diesen immer wiederkehrenden Stimmungen keine Beachtung zu schenken.
Das alte Kaninchen sagte, es heiße Greenweed und lebe hier seit langer Zeit. Andere Kaninchen gebe es hier nicht, es sei ganz allein. El-ahrairah fragte es, ob es keine Angst vor elil habe bei diesem Einsiedlerleben. Doch Greenweed antwortete, kein elil habe ihn je belästigt. »Ich nehme an, ich bin zu alt und zu zäh«, meinte er, »ich wäre sicher nicht nach ihrem Geschmack.« El-ahrairah konnte nicht erkennen, ob das nur ein Witz oder ernst gemeint war.
Nach Sonnenuntergang, als sie sich für die Nacht zusammenhockten, fragte El-ahrairah Greenweed nach dem großen verkommenen Haus aus und ob er sich erinnern könnte, daß da jemals Menschen gewohnt hätten.
»Das weiß ich genau«, antwortete Greenweed. »Früher waren da jede Menge Menschen.«
»Warum sind sie weggegangen?« fragte El-ahrairah.
»Das kann ich nicht sagen«, erwiderte Greenweed. »Soweit ich mich erinnere, gingen immer ein paar zusammen gleichzeitig weg, so lange, bis niemand mehr da war.«
»Und diese seltsame Sache da, dieses komische Feld mit den grünen Pfaden? Weißt du, wozu das diente? Was war sein Zweck?«
»Da gab's keinen Zweck«, antwortete Greenweed. »Ich habe gesehen, wie Männer da reingingen und umherwanderten, bis sie zur Mitte kamen, so weit kamen sie immer. Dann versuchten sie, wieder herauszufinden. Sie strengten sich wirklich an, es war so eine Art Sport, ein Spiel, das sie spielten. Du solltest es dir mal anschauen, wenn du schon hier bist.«
El-ahrairah war verblüfft. »Ein Spiel? Was für ein Blödsinn!«
»Nun ja«, sagte Greenweed, »das ist ja nur eine der blödsinnigen Sachen, die Menschen tun, um sich zu amüsieren. Wenn du so nahe bei ihnen gelebt hättest wie ich, dann wüßtest du das. Aber es lohnt sich trotzdem, da mal reinzuschauen.«
»Warst du schon mal drin?« fragte El-ahrairah.
»Ja freilich, schon oft ... als ich jünger war. Aber für ein Kaninchen ist das ziemlich unnütz.«
»Na, schön«, meinte El-ahrairah, »vielleicht schauen wir morgen mal rein, bevor wir weitergehen, wenn das Wetter so schön bleibt und wenn's nicht regnet.«
Am nächsten Morgen war es wieder genauso schön, und El-ahrairah und Rabscuttle suchten als erstes einen Weg in den verlassenen, überwucherten Garten. Sie hofften, vielleicht etwas Gutes zum Fressen zu finden, aber selbst im Gemüsegarten wuchs nichts, was sie verlockt hätte.
»Sieht aus, als wären schon haufenweise Kaninchen vor uns hier gewesen«, meinte Rabscuttle. »Überlassen wir das hier den Mäusen und den Vögeln.«
»Ja, wir können umkehren«, meinte El-ahrairah, »und mal sehen, was wir in dem komischen Feld finden.«
»Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie mißfällt mir dieses Feld«, sagte Rabscuttle.
»Das ist nur, weil's neu für dich ist«, belehrte ihn El-ahrairah. »Der ganz natürliche Argwohn des Kaninchens. Na ja, wir bleiben sowieso nicht lange hier. Wir müssen dann weiter.«
Greenweed erwartete sie, um sie zu ermutigen und um sich zu verabschieden. Er zeigte ihnen den Weg in das komische Feld und kam noch ein paar Schritte mit hinein.
»Gibt's da einen bestimmten Pfad zur Mitte, den wir gehen müßten?« fragte El-ahrairah.
»Nicht daß ich wüßte«, sagte Greenweed. »So wie ich das verstanden habe, war es gerade das, was den Menschen soviel Spaß machte. Sie mußten selber den Weg finden, sowohl hinein wie heraus. Daß sie sich verirrten, das gehörte eben zum Spiel.«
Er verließ sie. Sie setzten sich eine Weile hin und überlegten, welchen Weg sie am besten nehmen sollten. Schließlich sagten sie sich, daß ein Pfad so gut ist wie der andere, und gingen einfach los, zwischen den Hecken hindurch. Eine Zeitlang war es ihnen, als gingen sie im Kreis, und das wurde ihnen allmählich langweilig. Sie wollten sich schon auf den Rückweg machen, als sie sich plötzlich unerwartet im Mittelpunkt befanden. Da stand ein großer aufrechter Stein inmitten eines grasbewachsenen Gevierts und auf einer Seite eine alte hölzerne Bank.
»Das ist sicher das Zentrum«, sagte El-ahrairah, »denn nur ein Weg führt dahin. Wir können uns ruhig noch ein bißchen in die Sonne legen, bevor wir zurückgehen.«
Sie grasten ein wenig und legten sich dann zu einem Schläfchen in der Sonne hin. Es war friedvoll und ruhig. El-ahrairah wachte zwar ein paarmal auf, fiel aber sofort wieder in Schlaf.
Als sie endlich erwachten, war die Sonne schon im Sinken. Es war spät geworden, und es wurde kälter.
»Wir gehen am besten so schnell wie möglich zurück«, sagte El-ahrairah. »Dieser Greenweed wundert sich wahrscheinlich, wo wir gelandet sind. Wir werden die Nacht wohl bei ihm verbringen und erst morgen weiterziehen.«
Sie hatten angenommen, es wäre leicht, wieder hinauszufinden, aber wie sie bald feststellen mußten, war dem nicht so. Sie hatten keine Ahnung, wie sie gehen sollten, und wanderten die grünen Pfade hinauf und hinunter, bis sie völlig verwirrt waren.
Aber bei einer dieser Rastpausen, bei denen sie sich verzweifelt zu vergewissern suchten, merkte El-ahrairah auf einmal etwas, was er schon die ganze Zeit unbewußt wahrgenommen hatte, ohne darauf zu achten: Da lief noch etwas anderes mit ihnen durch das komische Feld, da bewegte sich irgendein Geschöpf. Er konnte es hören - manchmal ganz nahe, manchmal etwas weiter weg. Das erschreckte ihn, denn Kaninchen, wie ihr ja alle wißt, neigen von Natur aus dazu, ängstlich zu sein, wenn sie etwas Unbekanntes oder gar fremdartige Wesen in ihrer Nähe nicht genau ausmachen können. Er und Rabscuttle saßen mucksmäuschenstill und starrten einander an, beide zutiefst beunruhigt.
»Sollen wir uns ihm anschließen? Was meinst du?« fragte El-ahrairah nach einer Weile. »Es könnte uns den Weg nach draußen zeigen.«
»Mach bloß keinen Fehler, Meister«, mahnte Rabscuttle. »Ich weiß nicht, wer oder was das ist, aber ich weiß, daß es hinter uns her ist und uns totmacht, wenn es uns findet. Wir werden gejagt.«
Jetzt fingen sie beide an zu rennen, es war eine Flucht in Panik, einmal diesen Weg, dann den anderen, ohne zu wissen, wohin sie liefen. Es war ein Alptraum, eine ziellose Flucht, die der Kaninchennatur widerspricht. Denn normalerweise, wie ihr alle wißt, erkennt ein Kaninchen, woher Gefahr droht oder wo der Feind steht, und es läuft in die entgegengesetzte Richtung. Aber hier, in diesem komischen Feld mit seinen vielen Pfaden, konnten sie nicht feststellen, wo sich die Gefahr befand; sie konnten auch nicht vor ihrem Verfolger davonlaufen, denn jeder verschlungene Pfad war plötzlich zu Ende und zwang zur Umkehr auf demselben Weg. Es konnte auch sein, daß sie genau auf diesen unbekannten Feind zurannten, und die Angst vor ihm hielt ihre Herzen umklammert und packte jeden Augenblick stärker zu. Sie liefen hinauf und hinunter, hin und her, hilflos und voller Entsetzen, und zugleich wuchs ihre Erschöpfung.
Schließlich sanken sie im einbrechenden Dunkel zu Boden, wo eine der Hecken endete und eine Lücke ließ, hinter der sich ein gerade verlaufender Pfad öffnete.
»Ich kann nicht mehr, Meister«, keuchte Rabscuttle. »Ich bin fertig. Und außerdem laufen wir im Kreis. Hier waren wir schon einmal. Hier liegt noch mein hraka von vorhin.«
An diesem Punkt erkannte El-ahrairah, wie vergeblich ihre Flucht war. Er wandte den Kopf, um zu sehen, woher sie gekommen waren, und in diesem Augenblick sah er zum ersten Mal hinter sich den Verfolger, der näherkam.
In den Jahren danach war El-ahrairah niemals bereit zu beschreiben, was er gesehen hatte, und nur einmal sprach er überhaupt davon. Das war, als ein Kaninchen ihn einst fragte: »Aber du hast doch das Schwarze Kaninchen von Inle gesehen und mit ihm gesprochen ... wie hätte das komische Feld denn schlimmer sein können?«
»Das Schwarze Kaninchen«, erklärte El-ahrairah, »flößte einem einen gewaltigen Schrecken ein, das Gefühl der Hilflosigkeit und Angst vor immerwährender Finsternis. Aber es ist nicht böse oder grausam.« Und kein weiteres Wort kam über seine Lippen.
Angesichts dieses schaurigen, grausigen, furchtbaren Anblicks raste El-ahrairah blindlings durch eine Lücke direkt neben ihnen, und Rabscuttle folgte ihm auf dem Fuße. Und nun sahen sie auch den Weg, der hinausführte, den sie offenbar vorher immer übersehen hatten.
»Auch wenn der Weg sich nicht von selbst dorthin gezaubert hat«, pflegte Rabscuttle zu sagen, »würde ich das trotzdem immer noch gern glauben. Es gibt nichts von diesem Feld, was ich nicht glauben würde.«
Einmal draußen, rannten sie über die offene Wiese, wußten aber instinktiv, daß sie nicht mehr verfolgt wurden. »Es geht nicht über sein Revier hinaus«, sagte El-ahrairah.
Bald sahen sie auch Greenweed beim silflay im letzten Tageslicht. Als sie vor ihm standen, fuhr er erschreckt in die Höhe, starrte sie ungläubig und völlig entgeistert an und versuchte wegzulaufen. El-ahrairah packte ihn und drückte ihn zu Boden.
»Hat also diesmal nicht geklappt, Greenweed«, sagte er. »Du widerliche, lügenhafte Kreatur. Jetzt ist uns alles klar. Dieses - dieses ruchlose Wesen hat dir erlaubt, hier zu leben, und beschützt dich aus eigenem Interesse vor elil. Es war deine Aufgabe, dich mit jedem Kaninchen, das sich hierher verirrte, anzufreunden und es zu ermuntern, in das Feld zu gehen, weil es so interessant wäre. Und wenn es drinnen war, hast du deinen Herrn verständigt.«
Der elende Greenweed brachte kein Wort hervor, überzeugt, daß El-ahrairah ihn töten würde.
»Aber das war das letzte Mal«, sagte El-ahrairah zum Schluß. »Du kommst morgen mit uns, und wir werden schon ein Plätzchen für dich finden, wo du wie ein anständiges Kaninchen bis ans Ende deiner Tage leben kannst.«
Greenweed brach am nächsten Tage mit ihnen auf, und sie ließen ihn im ersten Gehege, zu dem sie kamen. El-ahrairah erzählte dem Leitkaninchen nichts von dem schändlichen Verrat, sagte nur, er sei zu alt, um mit ihnen weiterzureisen. Sie haben nie wieder etwas von ihm gehört.
... und er neigte sich zu mir und hörte mein Schreien und zog mich aus der grausamen Grube und aus dem Schlamm und stellte meine Füße auf einen Fels, daß ich gewiß treten kann.
Psalm 40:2
An einem schönen klaren Mittsommermorgen kurz nach Tagesanbruch überquerten El-ahrairah und Rabscuttle auf ihrem Heimweg eine grasbewachsene Senke zwischen zwei Hügeln. Kolonien von Margeriten standen schon in voller Blüte, und auch lila Esparsetten waren da. Sie hielten an, um sich am frischen Gras gütlich zu tun, und derweil wehte ihnen eine leichte Brise von unten herauf die Gerüche von Schafen und Flußpflanzen zu.
Vor ihnen lag ein Gelände von einer Beschaffenheit, mit der sie vertraut waren. Nur an der Westseite grenzten die Felder an ein Sumpfland, das sich weit nach Norden erstreckte. Ein Mann war dabei, Schilf zu schneiden, doch sonst war das Tal friedlich und still.
Die Kaninchen kletterten gemächlich hinunter und kamen an ein Feld, das neben dem Sumpf lag und an der gegenüberliegenden Seite von einem Abhang begrenzt wurde, den oben Holunder- und Weißdornhecken krönten. Im Hang war eine Reihe von Kaninchenlöchern, und als sie sich denen näherten, kamen zwei Kaninchen heraus und beobachteten sie. El-ahrairah begrüßte sie und erwähnte das schöne Wetter.
»Ihr seid doch hlessil, oder?« fragte eines der Kaninchen. Das andere starrte nur auf El-ahrairahs verletzte Ohren und sagte nichts.
»Ja, so könnte man sagen«, antwortete El-ahrairah. »Wir sind schon ziemlich lange unterwegs, aber jetzt täten uns ein paar Tage Ruhe gut. Meint ihr, wir dürften hierbleiben? Mir gefällt das Gehege, so wie es aussieht, und wenn's nicht überfüllt ist, hätte vielleicht niemand etwas dagegen, daß wir hier Rast machen.«
»Das muß natürlich unser Anführer entscheiden«, erwiderte das zweite Kaninchen. »Kommt mit, ich bring euch hin. Ich glaube nicht, daß er etwas dagegen hätte. Im allgemeinen ist er sehr umgänglich.«
Die Kaninchen gingen zusammen unten den Abhang entlang und hielten neben vier oder fünf Löchern am anderen Ende an.
»Hier ist der Chef gewöhnlich zu finden«, sagte das erste Kaninchen. »Ich geh mal rein und sag ihm, daß ihr hier seid. Er heißt übrigens Burdock«, fügte er hinzu und verschwand im nächstgelegenen Loch.
Als Burdock herauskam, um sie willkommen zu heißen, machte er sofort Eindruck auf El-ahrairah. Er verhielt sich überhaupt nicht unfreundlich und fand es offenbar ganz natürlich, daß zwei hlessil eine Weile in seinem Gehege bleiben wollten.
»Mit elil haben wir hier kaum Ärger«, sagte er, »und bis heute haben uns auch die Menschen in Ruhe gelassen. Ihr seid wahrscheinlich von weither gekommen, stimmt's? Hier gibt es meines Wissens weit und breit keine anderen Gehege. Selbstverständlich könnt ihr hierbleiben, solange ihr wollt.«
El-ahrairah und Rabscuttle machten es sich im Gehege bequem, das im übrigen sosehr nach ihrem Geschmack war, so daß sie keinen Drang verspürten, schnell wieder weiterzuziehen. Die Kaninchen waren so freundlich und gesellig, wie man sich's nur wünschen konnte. Besonders Burdock zeigte sich erfreut über die Besucher und über die Möglichkeit, mehr von ihrer Welt zu erfahren. Er und verschiedene andere seiner Owsla kamen oft am Abend, um silflay mit ihnen zu machen und wollten von ihren Abenteuern »draußen in der weiten Welt« erzählt bekommen.
In seinen Antworten war El-ahrairah immer darauf bedacht, kein Wort über das Schwarze Kaninchen zu verlieren; die Gastgeber waren zu höflich, um seine verletzten Ohren zu erwähnen, und deshalb blieb es ihm erspart, über den Grund ihrer Wanderung zu sprechen und über das Ziel, dem sie zustrebten. Sie respektierten offenbar ihn und Rabscuttle als welterfahrene Kaninchen, die alle möglichen Gefahren bestanden hatten.
»Was ihr da vollbracht habt, das hätte ich niemals fertigbringen können«, meinte Celandine, der Vorsitzende der Owsla, als sie eines sonnigen Abends zusammen am Hang lagen. »Mir ist es lieb, in gesicherten Umständen zu leben. Ich hab' nie den Wunsch gehabt, das Gehege zu verlassen und in fremde Länder zu wandern.«
»Nun ja, von euch ist ja auch keiner je dazu getrieben worden«, meinte Rabscuttle. »Ihr habt hier wirklich Glück gehabt.«
»Ja, wie denn? Seid ihr denn dazu getrieben worden?« fragte Celandine.
Rabscuttle fing einen warnenden Blick von El-ahrairah auf und antwortete nur: »Na ja, so könnte man sagen.« Da Celandine ihn nicht weiter drängte, ließ er es dabei bewenden.
Ein paar Tage später, schon nach Sonnenuntergang, als die meisten Kaninchen ihr silflay beendeten und sich im Gehege schlafen legen wollten, kam ein anderer hlessi, ein völlig Fremder humpelnd den Hang entlang und verlangte, zum Anführer geführt zu werden. Als man ihm vorschlug, er solle doch zuerst rasten und ein paar Happen zu sich nehmen, wurde er ganz aufgeregt und beharrte darauf, daß er dringende Nachricht habe - es gehe um Leben und Tod. Darauf brach er auf dem Gras zusammen, er war anscheinend völlig erschöpft. Jemand holte Burdock, der sofort kam, begleitet von El-ahrairah, Rabscuttle und Celandine.
Zuerst konnten sie den Fremdling nicht wieder zu sich bringen, doch nach einiger Zeit machte er die Augen auf, setzte sich aufrecht hin und fragte nach dem Anführer. Burdock bedeutete ihm freundlich, sich Zeit zu lassen, bevor er redete, aber darauf wurde der Fremde nur noch erregter.
»Ratten«, keuchte er. »Die Ratten kommen. Tausende von Ratten. Wilde Ratten. Raubratten.«
»Du meinst, sie kommen zu uns?« fragte Burdock. »Wo kommen sie her? Und du meinst, wir sind in Gefahr? Normalerweise haben wir keine Angst vor Ratten.«
»Euer ganzes Gehege ist in Gefahr«, antwortete der hlessi. »Ihr seid alle in Lebensgefahr. Es handelt sich um eine Invasion von Ratten. Sie sind nur noch einen Tag von euch entfernt. Sie töten jede Kreatur auf ihrem Weg. Es war lange vor Morgengrauen, noch mitten in der Nacht, als wir alle, jedes einzelne Kaninchen im Gehege, aufwachten, denn da waren sie schon unter uns. Niemand hatte sie gehört oder gewittert. Ein paar von uns versuchten zu kämpfen, aber das war unmöglich. Da standen tausend Ratten gegen jedes Kaninchen. Manche von uns versuchten noch mit aller Kraft hinauszukommen und zu fliehen, aber ich glaube, ich bin der einzige, dem es gelungen ist. Draußen im Dunkeln konnte ich nicht viel sehen, aber ich hörte auch keine Kaninchen mehr. Überall waren Ratten, alle Ratten der Welt, hätte man glauben können. Unmöglich, nach anderen Kaninchen zu suchen, ich konnte nur noch rennen. Tatsächlich mußte ich mitten durch eine Ansammlung von ihnen rennen und bekam überall auf meinen Beinen Bisse ab. Ich weiß nicht, um alles in der Welt, wie ich da herausgekommen bin. Ich trat und biß um mich, wild und ohne zu denken, in Todesangst, und plötzlich merkte ich, daß sie offenbar abgezogen waren und daß ich allein im Gras war. Ich muß gestehen, ich habe mich nicht aufgehalten, um mich nach anderen Kaninchen umzusehen - das hättet ihr auch nicht getan. Aber später, sehr viel später, spähte ich von dort, wo ich hingelangt war, hinunter und sah die Ratten unter mir. Massen von Ratten, und sie kommen alle hierher. Vor lauter Ratten war kein Gras zu sehen. Ich würde sagen, morgen müßten sie hiersein. Ihr habt nur noch eine Chance: Haut ab, und zwar schnell!«
Burdock blickte unsicher und entsetzt auf Celandine. »Was sollen wir machen? Was meinst du?«
Aber Celandine schien genauso fassungslos.
»Ich weiß nicht. Mach nur, wie du denkst, Anführer.«
»Sollen wir die Ratsversammlung einberufen und dort die Sache vorlegen?«
El-ahrairah hatte bis jetzt noch nichts gesagt, aber an diesem Punkt fühlte er sich gedrängt einzugreifen.
»Anführer, du hast keine Zeit mehr für eine Ratsversammlung. Die Ratten sind ganz sicher morgen hier, noch vor ni-Frith. Du mußt hier weg, und zwar eilends.«
»Falls unsere Kaninchen mitkommen«, sagte Burdock. »Vielleicht weigern sie sich. Von den Ratten haben sie bis jetzt noch nichts gehört.«
»Du hast keine andere Wahl«, mahnte ihn El-ahrairah.
»Aber wohin sollen wir gehen?« fragte Celandine. »Auf zwei Seiten des Geheges ist ein Fluß, den können wir nicht durchschwimmen, dafür ist er zu breit. Die Ratten würden unsere Kaninchen am Ufer erwischen. Und auf der Westseite ist nur Sumpf.«
»Wie groß ist der?« wollte El-ahrairah wissen.
»Das weiß hier keiner. Es ist nicht möglich, ihn zu überqueren. Da gibt's keine Wege. Da gibt's nur Moorweiher und Morast. Wir würden im Sumpf versinken. Aber die Ratten nicht. Die sind ja soviel leichter.«
»Dennoch. Nach allem, was ich von dir gehört habe, glaube ich, wir müssen es probieren, Anführer. Ich bin bereit, sie selber über den Sumpf zu führen, wenn du mich unterstützt und ihnen sagst, daß sie mir folgen müssen.«
»Und was, in Friths Namen, weißt du denn davon?« sagte Celandine ärgerlich. »Ein hirnloser hlessi, der nur ein paar Tage hier war?«
»Bitte sehr, wie's beliebt«, entgegnete El-ahrairah. »Du selber hast doch nichts vorgeschlagen. Ich jedenfalls bin bereit, mein Bestes für euch zu tun.«
Burdock und Celandine fingen dann unsinnigerweise an zu streiten, weil sie Angst hatten, wie El-ahrairah erkannte, und weil sie, aus ihrer Angst heraus, irgendwie hofften, wenn sie nur dauernd weiterredeten, würde schon irgend etwas geschehen.
»Rabscuttle«, sagte er ruhig, »mach so schnell wie möglich die Runde und erzähle den Kaninchen von den Ratten. Sag ihnen, daß wir beide sie über den Sumpf führen werden, Abmarsch fu-Inle. Sag ihnen, wir treffen uns alle bei der Platane da drüben - siehst du sie? Und wir hätten keine Zeit zu verlieren. Wenn welche sagen, sie kommen nicht mit, versuche nicht, sie zu überzeugen, laß sie einfach stehen. Und vor allem, laß sie nicht glauben, du hättest Angst! Sei so gelassen und vertrauenerweckend, wie du nur kannst.«
Rabscuttle stupste El-ahrairahs Nase an und war auf der Stelle verschwunden. El-ahrairah wandte sich zu Burdock und Celandine und sagte ihnen, was er getan hatte. Er hatte erwartet, daß sie ihn beschimpfen und verdammen, vielleicht sogar angreifen und verprügeln würden, doch zu seiner Überraschung taten sie nichts dergleichen. Sie waren zwar verschnupft und billigten sein Vorgehen nicht, aber insgeheim waren sie froh, daß jemand ihnen die Verantwortung für diese fürchterliche Geschichte abgenommen hatte. Wenn die Sache schiefgehen sollte, wovon sie offensichtlich überzeugt waren, konnten sie ihm die Schuld geben, doch wenn er entgegen aller Wahrscheinlichkeit erfolgreich war, konnten sie sagen, sie hätten ihn bevollmächtigt, sein Bestes zu tun.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis das ganze Gehege informiert war - und dann gab es weitere Schwierigkeiten. Von allen Seiten kamen Kaninchen, um mit Burdock zu sprechen, mit Celandine zu sprechen, mit El-ahrairah zu sprechen. Einige glaubten nicht an die Gefahr und verkündeten, sie würden nicht mitgehen. Die Weibchen sagten, sie hätten Neugeborene in ihren Wohnkesseln - was sollten sie machen? Ihnen konnte El-ahrairah nur erklären, sie müßten ihren Wurf zurücklassen, wenn ihnen ihr Leben lieb wäre, und ihm folgen, was sie erboste. Andere fragten ihn, wie weit es über den Sumpf wäre und wie lange es dauern würde, um ihn zu überqueren. Er antwortete, er wisse es nicht, sei aber entschlossen, ihr Leben zu retten, wenn er es könnte.
Nach einiger Zeit holte er Rabscuttle und ging zur Platane. Überrascht stellte er fest, daß dort schon eine Menge Kaninchen auf ihn warteten, unter ihnen Burdock und Celandine. Er sprach ihnen Mut zu und belobigte sie, daß sie mitkommen wollten - sie hätten sich richtig entschieden. Als hinter seinem Rücken der Mond aufging, brach er ohne zu zögern zum Sumpfgebiet auf.
In Wahrheit wußte El-ahrairah allerdings von Sümpfen etwas mehr als die meisten Kaninchen, denn er hatte einst in den trüben Mooren von Kelfazin gelebt. Er hatte erkannt, daß diese Kaninchen nur eine Chance hatten, wenn sie den Sumpf überquerten, und da sie ihr Leitkaninchen nicht führen wollte, mußte er es tun. Aber er hatte überhaupt nicht daran gedacht, wie das in Wirklichkeit sein würde. Aber er lernte sehr schnell, und zwar gleich von Anfang an. Kaum war er in das Sumpfgebiet eingedrungen, kam er zu einer unbewachsenen Stelle und sank ganz plötzlich mit den Vorderpfoten bis zum Bauch ein. Er riß sich gerade noch rechtzeitig zurück und stieß dabei gegen Burdock, dem er aufgetragen hatte, direkt hinter ihm zu bleiben, damit es wenigstens so aussähe, als ob ihr Leitkaninchen sie führte. Er hielt kurz inne, dachte nach und machte ein paar Schritte nach links. Wieder sank er ein, und wieder riß er sich zurück. Also nach rechts? Es würde auch nicht besser sein, dachte er, zwang sich aber, es zu versuchen. Diesmal kam er etwas weiter, bevor der Boden unter ihm nachgab. Er zog sich heraus, legte sich hin und wälzte sich herum, erst einmal, dann zweimal, bevor er aufstand. Jetzt hatte er festen Boden unter den Füßen.
Er wartete auf Burdock und Celandine und ging dann am Rand der morastigen Stelle entlang, wo er eingesunken war. Nach einer größeren Strecke wandte er sich wieder nach links und untersuchte den Boden Schritt für Schritt. Diesmal sank er nicht ein und hatte die kleine Hoffnung, daß er den Morast vielleicht umrundet hätte, und in diesem Fall, dachte er, könnte er jetzt wieder geradeaus gehen, immer den Mond im Rücken.
Er ging äußerst vorsichtig, probierte jedes Stück Boden erst aus, bevor er es mit seinem Gewicht belastete. Manchmal trug ihn der Boden, und manchmal sanken die Pfoten ein, bevor er sie zurückziehen konnte. Im Licht des Vollmonds hatte er jetzt gute Sicht und schaute prüfend umher, um zu sehen, ob es einen Unterschied, wenn auch nur einen winzigen, zwischen sicherem und unsicherem Boden gab. Aber zu sehen war nichts - jedoch, man konnte ihn erschnüffeln. Der Boden, der etwas trockener war, roch anders als Moorboden. Herumwitternd, kam er gut voran, wenn auch nur langsam und oft in Kurven. Der Weg nach Westen allerdings war schwierig; oft mußten sie lange Umwege rechts oder links machen, bevor sie wieder vorsichtig geradeaus weiterziehen konnten. Einmal kam er zu einem kleinen Moorsee, das stehende Wasser so still, daß sich der Mond darin spiegelte. Er ging weitläufig darum herum, in der Annahme, daß die Uferstellen nur dünner Schlamm sein würden.
Nachdem die Nacht zur Hälfte vorüber war, wurde er allmählich sehr müde. Es war schon schwierig genug, dauernd die Pfoten aus dem Sumpf zu ziehen, aber dazu kam noch die Anstrengung, unaufhörlich wittern zu müssen und jeden Schritt erst auszuprobieren, bevor er den Boden mit seinem Gewicht belasten durfte. Wie weit waren sie denn nun tatsächlich über den Sumpf gekommen? Wie groß war der Sumpf überhaupt? Er ahnte nun, daß sie ihn bis Sonnenaufgang nicht überqueren könnten und vielleicht noch den ganzen nächsten Tag und auch noch die ganze nächste Nacht dazu brauchen würden. Die Kaninchen müßten ausruhen, aber eben nur in offenem Gelände, ohne Busch oder Hecke zur Deckung.
Das würde ihnen nicht gefallen, und ihm bestimmt auch nicht.
Falls sie überhaupt hier herauskämen - auf was für ein Gelände würden sie gelangen?
Er wischte diese Gedanken beiseite, um den nächsten Schritt zu bedenken. Das war immer noch der einzige Weg, dachte er: einen Schritt vor den andern zu setzen und fortwährend die Pfoten zur rechten Zeit zurückzuziehen. Zweimal schreckte er Moorschneehühner auf, die verärgert und laut kreischend davonflogen, denn es schien ihnen doch sehr gegen die Natur zu sein, daß Kaninchen - ausgerechnet Kaninchen! - hier um Mitternacht herumwuselten.
In späteren Zeiten pflegte El-ahrairah zu sagen, daß dieser nächtliche Marsch über den Sumpf das schlimmste all seiner Abenteuer gewesen war. Mehrmals fürchtete er, daß er niemals heil herauskäme. Andererseits war er froh, daß ihm nichts anderes übrigblieb, als sich weiter abzumühen, denn hätte es eine andere Möglichkeit gegeben - er hätte sie ohne zu zögern wahrgenommen. Der Mond zeigte ihm nur eine trostlose, leere Fläche, auf der überall schreckliche Gefahren lauerten, wo es weder Zuflucht noch Obdach gab. Es würde nicht lange dauern, bis sein Körper im Schlamm versunken war, dachte er. Und was dann? Rabscuttle müßte dann übernehmen; für diesen Fall sollte er besser ein paar Anweisungen von ihm bekommen.
Beim Aufbruch hatte er Rabscuttle zur Nachhut bestimmt, damit er auf Nachzügler und Ausfälle achten konnte. Aber jetzt ließ er nach hinten weitersagen, daß Rabscuttle sofort vorkommen solle.
Das schien ewig zu dauern. Als er endlich vorn auftauchte, fragte ihn El-ahrairah, wie es hinten aussah. Wie verhielten sich die Kaninchen?
»Besser als ich dachte«, sagte Rabscuttle. »Keines ist ausgefallen, und keines mußte zurückgelassen werden. Die sind alle noch überzeugt, daß sie hinkommen - wo immer das ist. Und zum Glück haben wir da hinten auch noch einen guten Geschichtenerzähler, ein Kaninchen namens Chicory, das hält die anderen munter mit einer Geschichte nach der anderen, und keines fällt aus, weil jedes wissen will, wie es weitergeht, verstehst du? Also, was kann ich für dich tun, Meister?«
El-ahrairah erklärte es ihm und blieb so lange bei Rabscuttle, bis er gewiß sein durfte, daß er es begriffen hatte. Dann überließ er ihm die Aufgabe, sich den Weg zu erschnüffeln, und ließ den ganzen Zug der Kaninchen vorüberziehen. Rabscuttle, dachte er, hatte recht gehabt. Sie waren mehrheitlich in guter Verfassung, und der Führung einfach zu folgen, hatte sie offenbar nicht ermüdet. Seine eigene Erschöpfung und Niedergeschlagenheit konnte er nur der Last der Verantwortung zuschreiben, die er selbst übernommen hatte, und außerdem der Mühe, immer wieder den Weg auszurufen, gefährlichen Boden auszumachen und rechtzeitig zurückzuweichen. Er wartete Chicory ab und hörte belustigt zu, wie der die Geschichte von den Salatblättern des Königs erzählte. Ganz am Ende der Kolonne fand er ein kleines, sehr junges Kaninchen, das nur mit Mühe mitkam. Er sprach ihm mit herzlichen Worten Mut zu und begleitete es eine Weile, bevor er zu Rabscuttle und Burdock zurückkehrte.
Wie er erwartet hatte, war Rabscuttle der unangenehmen Aufgabe völlig gewachsen und machte seine Sache gut -besser als ich, dachte El-ahrairah. Rabscuttle fand es richtig erheiternd, wenn seine Vorderpfoten im Schlamm einsanken. Er glaubte anscheinend nicht, in Gefahr zu sein, wenn aber doch, dann verbarg er es sehr gut. Aber noch besser war es, daß er sich offenbar mit Burdock und Celandine so gut verstand. Er hatte sogar Celandine kurzzeitig die Führung überlassen. »Ist nichts dabei«, sagte er dauernd, »ist ja nichts dabei« und »Uups!«, wenn Celandine bis zu den Schultern versank.
Bald erhellte sich der Himmel hinter ihnen, als der neue Tag sich nach der kurzen Sommernacht meldete. Als die Sonne aufging, spähte El-ahrairah nach vorn in der Hoffnung, er könnte sehen, was auf der anderen Seite des Sumpfes lag, doch sah er da auch nichts anderes als trostlose Wildnis. Wie lange noch, fragte er sich, bis sie Hunger bekämen und übermüdet wären? Wenn noch ein ganzer Tag im Sumpfgebiet vor ihnen läge, würden sie sich wahrscheinlich in Grüppchen aufteilen, in die Starken und Nicht-so-Starken. Schlimmer noch, sie würden nach allen Richtungen laufen auf der Suche nach etwas Freßbarem, und das wäre tödlich. Er teilte Burdock und Celandine seine Befürchtungen mit und schlug vor, daß sie sich wieder unter ihre Kaninchen mischten, um sie unter allen Umständen zusammenzuhalten. »Wenn sie nur tun wollten, was ich ihnen sage«, erwiderte Celandine. »Neuerdings machen sie, was sie wollen, wenn ich was sage. Es ist leider so: Uns ging's viel zu lange viel zu gut.« Darauf wußte El-ahrairah nichts zu antworten.
Er wollte gerade die Führung von Rabscuttle übernehmen, als ein Reiher herabflog und neben ihnen watete. Er war nicht gut aufgelegt. »Was in aller Welt macht ihr ekelhaften Kaninchen hier?« keifte er Rabscuttle an. »Dieser Sumpf gehört mir und meiner Familie. Wir wollen hier kein Kaninchenpack. Warum haut ihr nicht ab?«
El-ahrairah erklärte ihm, daß sie eben das beabsichtigten zu tun. Er erzählte dem Reiher von den Ratten und ihrem dadurch erzwungenen Nachtmarsch.
»Du meinst also, du willst hier so schnell wie möglich raus?« fragte der Reiher. »Wenn das alles ist, dann zeig ich dir gern den Weg.«
»Wir wären überglücklich, wenn du uns führen könntest«, sagte El-ahrairah. »Aber bedenke bitte, wir können nicht waten. Der Schlamm, der dir bei deinen langen Beinen keine Schwierigkeiten macht, ist für uns eine tödliche Gefahr. Ist es noch weit, bis wir draußen sind?«
»Nicht weit«, antwortete der Reiher kurz angebunden.
»Das ist die beste Nachricht seit langem«, sagte El-ahrairah.
Er übernahm die Führung gleich hinter dem Reiher, doch wie er befürchtet hatte, wurde es hochgefährlich. Trotz seiner Erklärung verstand der Reiher einfach nicht, daß Kaninchen nicht in der Lage waren zu waten, und als El-ahrairah versuchte, ihm das klarzumachen, wurde der Reiher erst ungeduldig, dann ärgerlich. Doch nachdem er längere Zeit die Beleidigungen und Beschimpfungen des Reihers stumm über sich ergehen ließ, konnte er doch den Reiher schließlich dazu überreden, sie über festen Boden zu führen, wo sie nicht einsinken würden, und Stellen zu vermeiden, die zwar nicht für Reiher, wohl aber für Kaninchen trügerisch wären. Als der Reiher endlich den Unterschied begriffen hatte, wurde seine Führung besser, wenn auch nicht immer vollends verläßlich. Er verhielt sich weiterhin barsch und unfreundlich, und offenbar, dachte El-ahrairah, war es ihm völlig egal, ob da ein paar Kaninchen mehr oder weniger im Sumpf ertranken. Er trug seine Verachtung für sie offen zur Schau, und El-ahrairah wußte, daß er seine Beherrschung nicht verlieren durfte.
Immerhin kamen sie gut vorwärts, besser als zuvor. El-ahrairah gestand sich ein, daß sie über einen Boden gingen, dem er selber nicht ohne weiteres vertraut hätte. Doch im Gegensatz zur Aussage des Reihers waren sie noch lange unterwegs. Gegen ni-Frith kämpften sie sich immer noch durch Schilf und Grasbüschel, und nichts deutete darauf hin, daß es je besser würde. El-ahrairah war in einem quälenden Zwiespalt; er konnte es nicht wagen, die Führung abzugeben, nicht einmal dem erschöpften Rabscuttle, und er wagte auch nicht, seinen Posten zu verlassen, um zurückzufallen und die Kaninchen am Ende des Zugs aufzumuntern und zusammenzuhalten. Er war selber so müde wie noch nie in seinem Leben, und auch Rabscuttle war sichtlich völlig ausgelaugt, trotz seiner tapferen Versuche, es zu verbergen. In welcher Verfassung würden dann die anderen Kaninchen sein? Er trug Rabscuttle auf, die letzten abzuwarten und dann zu berichten, wie es hinten aussähe.
Er bat den Reiher zu warten, bis sie gerastet hätten, aber der tat das derartig mißmutig, daß El-ahrairah fürchtete, er könnte sie im Stich lassen.
»Warum können deine verdammten Kaninchen nicht fliegen?« fragte er. »Ihr wärt gleich draußen, wenn ihr fliegen könntet wie jedes andere anständige Geschöpf.«
»Ich wünschte, wir könnten's«, antwortete El-ahrairah, »daß wir's nicht können, ist halt der Wille von Frith unserem Herrn.«
Im selben Augenblick war Rabscuttle neben ihm. »Meister, zwei Kaninchen fehlen. Und jetzt sind sie hinten ziemlich am Boden.«
Ob wohl der ganze Zug auseinanderfiele, fragte sich El-ahrairah. Besser weitergehen, bevor das passierte. Er bat den Reiher, so gütig zu sein und weiterzumachen.
Und dann sah er kurz darauf eine Reihe von Kastanienbäumen oberhalb eines grünen Hanges, weit über ihrer eigenen Höhe. Sogleich kletterten sie hinauf, und der Boden unter ihren Pfoten war trocken. »Wir sind draußen, stimmt's?« fragte er den Reiher. »Aus dem Sumpfgebiet heraus?«
»Ja«, antwortete der Reiher. »Kommt nie wieder her, versteht ihr?« Damit erhob er sich, ohne auf Dank zu warten, und schwang sich mit seinen schweren Flügeln langsam in die Lüfte.
El-ahrairah war im Handumdrehen auf dem Hang. Die freiliegenden Wurzeln einer Kastanie waren strohtrocken unter seinen Pfoten. Rabscuttle stand neben ihm. Noch nie hatte er sich so erleichtert gefühlt.
Das nächste Kaninchen, das er sah, war Burdock, der in der Nähe saß und zusah, wie seine Kaninchen aus dem Sumpfgebiet heraus auf den Hang kletterten. Burdock war in einer Krise als Leitkaninchen vielleicht nicht viel wert, aber jetzt zeigte er sich von einer anderen Seite. Er kannte all seine Kaninchen beim Namen, begrüßte jedes einzelne und beglückwünschte es zu seinem Mut und seiner Entschlossenheit. Und seine Kaninchen wiederum zeigten ganz offen, daß sie ihn mochten und achteten. Er erwähnte auch die fehlenden Kaninchen und betrauerte ihren Verlust. »Yarrow und Kingcup«, sagte er bedauernd und voller Kummer zu El-ahrairah. »Zwei der besten Kaninchen im Gehege. Wir hätten auf jedes andere eher verzichten können, aber nicht auf diese beiden.« El-ahrairah hatte sich nie die Mühe gemacht, sich die Namen so vieler Kaninchen zu merken, und war beschämt.
Oben auf dem Hang fanden sie eine große üppige Wiese, wo das hohe Mittsommergras noch nicht gemäht worden war.
Die erschöpften Kaninchen krochen hinein, fraßen und fielen sofort in Schlaf.
»Laß sie nur«, sagte Burdock. »Sie haben's verdient.« El-ahrairah sah keinen Grund, dem zu widersprechen.
In der Natur gibt es weder Belohnung noch Bestrafung, es gibt nur Folgen.
Horace Annesley Vachell (The Face of Clay)
Die meisten Kaninchen schliefen im hohen Gras der Wiese bis zum frühen Morgen des folgenden Tages oder blieben einfach so lange liegen. Am Abend zuvor hatten sich El-ahrairah und Rabscuttle allerdings noch umgesehen. Das erste, was ihnen sofort auffiel, war ein Farmhaus mit Hof und Scheunen - und zwar in gefährlicher Nähe; darüber waren beide einer Meinung.
»Ich weiß nicht, wozu sie sich entschließen werden«, sagte El-ahrairah, »aber lange können sie hier nicht bleiben, soviel steht fest. So eine plötzliche Invasion von einer Horde Kaninchen in nächster Nähe, das merken die Farmleute sofort. Und du weißt, was das heißt: Gewehre, Hunde, vielleicht sogar Gift, also jedenfalls erbarmungslose Jagd. Sie müssen weg von hier.«
»Wie denn, zurück über das Sumpfgebiet, Meister?« fragte Rabscuttle. »Das machen sie doch bestimmt nicht.«
»Also, wenn doch, dann allerdings ohne dich und mich«, entgegnete El-ahrairah. »Wir müssen unseren kleinen Spaziergang nach Hause wieder aufnehmen.«
Jetzt stießen Burdock und Celandine zu ihnen. Sie waren voller Lob und Dankbarkeit für das, was El-ahrairah und Rabscuttle beim Marsch über den Sumpf für sie getan hatten.
»Ohne euch hätten wir das niemals fertiggebracht«, meinte Burdock.
»Wollt ihr nicht zurückkehren?« fragte El-ahrairah. »Die Ratten sind jetzt vermutlich bei eurem Gehege durchgekommen und längst weitergezogen.«
Burdock machte nachdrücklich klar, daß ihn nichts dazu verleiten könnte, über das Sumpfgebiet zurückzugehen. »Und ich bin sicher, das gilt für alle von uns«, sagte er. »Wozu auch? Ich bin hier noch nicht überall gewesen, aber jedenfalls scheint's hier massenweise was zu fressen zu geben und überhaupt alles, was sich ein Kaninchen nur wünschen kann. Da ist zunächst schon einmal ein ganzer Gemüsegarten gleich da drüben.«
»Also, es steht mir nicht zu, euch Ratschläge zu geben«, sagte El-ahrairah. »Wir sind bloß zwei wandernde hlessil. Aber wir dürfen euch sicher fragen: Habt ihr denn viel Erfahrung mit Menschen und was sie mit Kaninchen anstellen?«
»Ich nicht«, antwortete Burdock. »Ich hab' kaum je einen Menschen gesehen, und ich bin noch keinem in die Nähe gekommen. Doch Kaninchen können sich verstecken, und sie können rennen. Viel schneller als Menschen, das weiß ich.«
»Stimmt auch«, sagte El-ahrairah. »Aber trotzdem, wo wir hier sind, das ist viel zu nahe an dem Farmhaus, und wenn du deinen Kaninchen erlaubst, sich hier niederzulassen und in dem Küchengarten nach Belieben ein- und auszugehen, dann setzt du sie Gefahren, womöglich tödlichen Gefahren aus. Menschen hassen Kaninchen, und sie sind fast immer bereit, sie zu töten, wo immer sie sind, aber Kaninchen im Gemüsegarten - da reißen sie sich ein Bein aus, um sie zu töten, das mußt du mir glauben.«
»Na schön, aber ich glaube nicht, ich könnte meine Kaninchen davon abhalten, da reinzugehen«, sagte Burdock ausweichend.
»Was soll ich deiner Meinung nach tun?«
»Also, hör mal«, erwiderte El-ahrairah. »Ich bin nicht das Leitkaninchen und will's auch nicht sein. Ich bin nur ein Besucher, der vorüberzieht. Aber wenn du meinen Rat willst, dann solltest du sie in offenes Gelände führen, glaube ich, weg von der Farm. An einen Waldrand, einen offenen Hang, so etwas ähnliches. Denn eines weiß ich ganz genau: daß es eine Menge Ärger geben wird, wenn sie hier bleiben. Aber wie auch immer«, fuhr er fort, als Celandine herbeikam und sich zu ihnen gesellte, »machen wir doch mal eine Runde, damit wir ein Bild von dem Ort hier gewinnen.«
Im Verlauf des Morgens gingen die vier Kaninchen über das Anwesen der Farm, von einem Ende zum anderen. Es war alles gepflegt, die Farm gedieh. Da gab es eine große Viehweide und auch eine Schafweide; die Hecken und Zäune waren gut und vernünftig angelegt. Da war auch eine kahle Wiese, wo das Heu schon geschnitten und zu Haufen aufgeschichtet war. Am anderen Ende standen Weizen- und Gerstefelder, die sich bis zum fernen Waldrand erstreckten.
Auf dem Rückweg kamen sie durch einen Obstgarten mit jungen Kirschbäumen, der etwas entfernt vom Gemüsegarten lag. Burdock schaute nach einer bequemen Lücke aus, als sie Tabak rochen und einen Mann von der anderen Seite der Hecke kommen hörten. Gerade noch rechtzeitig konnten sie sich unter einem Haselbusch verstecken, bevor er durch ein kleines Gatter kam und zu der Wiese mit dem hohen Gras weiterging, auf der sie genächtigt hatten. Als er sein weißes Stäbchen ins Gras schnickte, sprang ein Kaninchen fast unter seinen Füßen hervor. Der Mann blieb stehen und sah zu, wie es im Unterholz, das an den Obstgarten grenzte, verschwand.
»Jetzt siehst du, was ich meine«, sagte Burdock. »Kaninchen können rennen, und Kaninchen können sich verstecken.«
Als El-ahrairah und Rabscuttle an diesem Nachmittag allein waren, fragte Rabscuttle: »Meinst du nicht, wir sollten diese Kaninchen verlassen, Meister, bevor es hier losgeht? So wie's aussieht, wird's hier eine Menge Ärger geben, und zwar bald. Wir sollten uns nicht darin verwickeln lassen.«
»Du hast wahrscheinlich recht«, antwortete El-ahrairah, »aber ich habe immer noch nicht alle Hoffnung aufgegeben, daß ich sie vielleicht noch zur Vernunft bringen kann. Wenn das nicht möglich ist, verspreche ich dir, so schnell wie möglich zu verschwinden.«
Nach einigen Tagen hatten fast alle Kaninchen den Gemüsegarten von sich aus entdeckt. Es gab zwei oder drei Zugänge, und neben diesen waren auf beiden Seiten der Hecke auffällige Trampelpfade von Kaninchen zu sehen. El-ahrairah hatte Rabscuttle verboten, sein Leben in der Nähe des Gartens aufs Spiel zu setzen, ging aber selbst eines schönen Abends gegen Sonnenuntergang hinein, um sich vom Zustand des Gartens ein Bild zu machen. Er fand die Salate bis auf den Boden abgenagt, und auch die Kohlköpfe und der Blumenkohl zeigten deutlich die Spuren der Zuneigung, die ihnen die Kaninchen bewiesen hatten. Wie erwartet, war viel mehr ungenießbar gemacht als gefressen worden. Er traf ein paar Jungkaninchen zwischen den gelben Rüben und versuchte, ihnen die Gefahr klarzumachen. Aber sie hörten nicht auf ihm.
»Was denn - Celandine ist doch selber hier, soviel ich weiß«, sagte eines der Kaninchen. »Wir wissen schon, wie wir schnell hier herauskommen, wenn Menschen im Anmarsch sind. Dieser Garten ist viel zu gut, um sich selbst überlassen zu bleiben. Hätte niemals gedacht, daß es flayrah von dieser Qualität gibt.«
Nachts lagen oder schliefen die meisten Kaninchen in dem hohen Gras der Wiese neben dem Sumpfgebiet. Das Wetter blieb schön, und Regen war nicht in Sicht. Nur ein paar schwangere Weibchen, die bald Nachwuchs zur Welt bringen würden, gruben sich Tunnels. Die lose Erde in der Böschung zum Sumpfgebiet hin und noch andere Zeichen ihres Grabens waren deutlich sichtbar und verstärkten El-ahrairahs Befürchtungen. Er bemerkte auch, daß Burdock und Celandine auf seine Gesellschaft nicht mehr so großen Wert legten wie früher, aus Gründen, die ihm einsichtig waren. Denn selbst, wenn er nicht über den Gemüsegarten sprach, wirkte er verkrampft, weil er dauernd daran denken mußte, während alle anderen Kaninchen mit Ausnahme von Rabscuttle sich im Zustand fast ausschweifender Ausgelassenheit befanden und das süße Leben genossen.
Eines Nachmittags sah El-ahrairah, während er in der Sonne lag, zwei Kaninchen, die sich zielstrebig absetzten, aber nicht zum Gemüsegarten hin, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Er fragte sich, was sie wohl vorhätten, und folgte ihnen mit der Miene größter Gleichgültigkeit, scheinbar ohne Interesse. Er sah sie ans andere Ende der Böschung laufen und in den Kirschgarten schleichen. Nach einer gewissen Zeit des Abwartens ging er auf einem anderen Pfad ebenfalls hinein, entdeckte sie auch bald und sah, was sie vorhatten. Sie nagten unten an einem Kirschbaum die Rinde ab. Bei einigen Bäumen in der Nähe war die Rinde auch schon abgenagt. Das war nicht alles. Am anderen Ende des Kirschgartens kamen zwei Männer langsam durch die Bäume und sprachen miteinander.
El-ahrairah lief über die Wiese zurück und fragte jedes Kaninchen, das er traf, wo er Burdock auftreiben könnte. Schließlich fand er ihn; er schlief in einer wohnkesselähnlichen Mulde im hohen Gras, das die Kaninchen angelegt hatten. Er weckte ihn und erzählte ihm, was er gesehen hatte.
»Na und?« fragte Burdock. »Was soll ich deiner Meinung nach machen? Die könnte ich nicht aufhalten, selbst wenn ich wollte. Die würden doch die Bäume nicht in Ruhe lassen, bloß weil ich es ihnen sage.«
»Aber verstehst du denn nicht«, sagte El-ahrairah, »durch das Rindenabnagen gehen die Bäume ein, und das fällt den Männern natürlich auf, und sie werden selbstverständlich alles tun, um -«
Burdock stand auf und sah El-ahrairah in die Augen. Er verlor jetzt die Beherrschung. »Glaubst du etwa, ich lasse mich von deinesgleichen herumkommandieren, von so einer Vogelscheuche von hlessi, der Schwanz und Ohren verloren hat und bei jeder Kleinigkeit ein furchtbares Gedöns macht? Du bist eine Nervensäge von früh bis spät. Paß du nur auf, sonst laß ich dich von Celandine hetzen und fertigmachen. Du denkst, bloß weil du uns durch den Sumpf geführt hast, kannst du bestimmen, was wir tun sollen und was richtig und was falsch ist.«
»Gut, gut«, erwiderte El-ahrairah ruhig. »Ich werde dich nicht mehr belästigen.«
Es war sein voller Ernst, aber das war vor der Katze.
Die Katze, schwarz-weiß mit kurzem Fell, trat erstmals zwei Tage später am frühen Abend auf. Sie kam langsam aus der Umgebung des Farmhauses heran, pausierte hier und da und schaute auf alles, was im Augenblick ihr Interesse wachrief. Bald erreichte sie den Rand der Wiese mit dem hohen Gras und wanderte dort entlang, offenbar ohne ein bestimmtes Ziel, denn sie ging sehr langsam, setzte Schritt vor Schritt. Sie trug ein schmales Lederhalsband und sah gepflegt und wohlgenährt aus. Sie war jedenfalls nicht auf der Jagd.
El-ahrairah und Rabscuttle dösten auf der Böschung oberhalb des Sumpfes, als sie die herankommende Katze bemerkten. Sie waren sofort hellwach und fluchtbereit. Doch die Katze stolzierte im Abstand von ein paar Metern an ihnen vorbei, ohne ihnen die geringste Beachtung zu schenken. Dennoch wäre es empfehlenswert, dachte El-ahrairah, etwas weiter abzurücken. Das wollte er gerade tun, als plötzlich Celandine neben ihm stand.
Celandine atmete schwer; er betrachtete die Katze angespannt, mit wachsamer, angriffslustiger Miene. Nach einer Weile fragte er El-ahrairah: »Siehst du diese verdammte Pestbeule da drüben?«
»Ja, natürlich«, erwiderte El-ahrairah.
»Wir werden sie totmachen«, sagte Celandine.
»Noch in diesem Jahr oder erst im nächsten?« fragte El-ahrairah, der das für einen Witz hielt.
»Du glaubst mir nicht?« fragte Celandine. »Dann laß dir sagen, es wäre nicht das erste Mal, daß unsere Owsla eine Katze totgemacht hat.«
»Ich habe noch nie gehört, daß Kaninchen Katzen angreifen«, sagte El-ahrairah, »ausgenommen Muttertiere, die ihren Wurf verteidigen.«
»In dem Gehege, wo du uns das erste Mal getroffen hast«, sagte Celandine, »war eine Katze in der Nähe, die herumgejagt hat und sich allmählich als Quälgeist erster Klasse entpuppte, und nach einer Weile hatte unsere Owsla genug davon und machte sie tot. Das war, als Betony der Owsla-Hauptmann war, da war ich noch klein.«
»Und was ist passiert?« fragte El-ahrairah.
»Was meinst du mit >Was ist passiert?<« fragte Celandine zurück.
»Sind Menschen gekommen, um sie zu suchen, hat einer von ihnen die Tote weggebracht?«
»Nein, nichts dergleichen«, erwiderte Celandine. »Ich glaube, die Ratten haben sich um das Aas gekümmert. Irgend jemand jedenfalls.«
»Und du willst jetzt zeigen, daß du so gut wie Betony bist und willst die Katze töten?«
»Richtig. Drei oder vier von meiner Owsla sind ganz wild darauf.«
»Na, gut«, sagte El-ahrairah. »Ich bitte dich, ich flehe dich an, mich anzuhören, bevor du etwas tust. Nach allem, was du mir erzählt hast, war die Katze, die dein Hauptmann Betony getötet hat, eine Streunerin. Sie gehörte keinem Menschen.
Sie wanderte einfach herum. Aber die Katze da drüben gehört zum Farmhaus. Sie trägt ein Halsband und ist gut genährt, wie man sieht. Und sie riecht nach Menschen. Ich habe das von hier aus riechen können, als sie gerade vorbeistrich. Vertreib sie, wenn du's nicht lassen kannst, aber wenn du sie totmachst, dann kommen die Menschen vom Farmhaus hinter dir her, mit allem, was sie haben. Für sie wäre das der letzte Tropfen, der das Faß zum Überlaufen bringt. Ihr habt den Gemüsegarten ruiniert und im Kirschgarten viel Schaden angerichtet. Ich wundere mich, daß sie noch nicht alles getan haben, um euch alle auszulöschen. Nimm meinen Rat an, Celandine. Laß um Frith' willen die Katze in Ruhe.«
»Ich werde drüber nachdenken«, meinte Celandine. »Aber du mußt zugeben, die freche Katze fordert ihr Unglück doch selber heraus.«
Während der nächsten paar Tage warteten Celandine und drei seiner Owsla-Genossen geduldig im hohen Gras auf die schwarz-weiße Katze, die aber nicht wieder erschien. Erst mehrere Tage später sprang sie am frühen Abend wieder am Wiesenrand herum und inspizierte die Umgebung wie gehabt.
Von Celandines Standpunkt aus war die Gelegenheit optimal. Die Katze legte sich in die Sonne, ihrer Lauerstellung fast direkt gegenüber, wälzte sich auf den Rücken und putzte sich den Bauch. Als die vier Kaninchen auf sie sprangen, war sie vollkommen überrascht. Dennoch kämpfte sie, miaute und biß wild um sich; ihre Krallen waren wirksamer als die der Kaninchen, und sie war gewöhnt, sie auch zu benutzen. Sie wäre auch gewiß noch entwischt, hätte Celandine. sie nicht mit tollkühner Verwegenheit angegriffen. Ihre Rückenlage bot ihm die Gelegenheit, die stärkste Waffe eines Kaninchens einzusetzen: die Hinterläufe. Im Sprung landete Celandine auf ihrer Brust, stieß einen Hinterlauf in ihren Bauch und trat nach hinten aus. Damit war alles entschieden. Mit aufgerissenem, schrecklich verwundetem Leib und heraushängenden Eingeweiden kämpfte sie noch, kratzte wütend und schlug ihre Zähne in Celandines Gurgel, so daß er ihr tatsächlich ausgeliefert war. Doch in diesem Augenblick verließ sie die Kraft; ächzend rollte sie auf die Seite, und kurz darauf war sie tot. Celandine und seine Kaninchen, mit dem Blut der Katze und dem eigenen Blut befleckt, entflohen durch das hohe Gras.
Erst als es beinahe ganz dunkel war, entdeckte ein Mädchen von der Farm die tote Katze und trug sie so blutig, wie sie war, bitterlich weinend hinweg.
El-ahrairah war selber nicht Zeuge, wie Celandine und seine Kaninchen die Katze töteten, aber Rabscuttle war da, hatte alles mitangesehen und erzählte es ihm, und er hatte auch das weinende Mädchen bemerkt, das die Katze wegbrachte.
»Sollten wir uns jetzt nicht aufmachen, Meister?« fragte Rabscuttle. »Wir wollen doch nichts mit denen hier zu tun haben, oder? Wir könnten erschossen werden ... oder ... na ja, was immer diese Menschen jetzt tun werden.«
»Ja, jetzt gehen wir«, antwortete El-ahrairah. »Aber ich bin noch nicht ganz bereit. Halte mal Ausschau und melde mir sofort, wenn du siehst, daß die Menschen sich irgendwie anders verhalten als sonst.«
Nichts geschah jedoch am nächsten Tag und genausowenig am übernächsten. Aber drei Tage, nachdem die Katze getötet worden war, weckte Rabscuttle El-ahrairah ungewöhnlich früh und berichtete ihm, daß ein Haufen Männer auf die Wiese kamen, die meisten mit Stöcken und einer mit einem Gewehr. El-ahrairah kroch unter einen Weißdornbusch, an eine Stelle, von wo aus sie beide die Männer beobachten konnten, die im Augenblick noch nichts taten; sie standen nur herum, verbrannten weiße Stäbchen im Mund und redeten miteinander.
Nach einiger Zeit gingen zwei Männer weg und kamen auf einem hrududu mit einer angehängten Mähmaschine wieder. Sie fuhren damit zum Wiesenrand und begannen, die ganze Wiese in großen Kreisen abzumähen. Sie zogen die Kreise immer etwas enger. Die anderen Männer hatten sich inzwischen am Wiesenrand verteilt und bewegten sich langsam über das abgemähte Feld der Mitte zu. El-ahrairah wußte zwar, daß das ganze Feld voller Kaninchen war, sah aber keines herauskommen. Da wurde ihm klar, daß sie im hohen Gras versteckt bleiben wollten und zur Mitte krochen, während um sie herum gemäht wurde.
Schließlich blieb das hrududu geräuschlos stehen. Da war ein Stück in der Mitte ungemäht geblieben, und die Männer stellten sich darum herum auf.
»Also gut, wir gehen jetzt«, sagte El-ahrairah und fing an zu rennen so schnell er konnte, weg von dieser Wiese, weg von dieser Farm, ins offene Gelände, das dahinter lag, und Rabscuttle folgte ihm auf dem Fuße. Er wollte die Männer nicht schreien hören, wenn sie mit den Stöcken schlagend vorwärtsgingen. Er wollte nicht sehen, wie Burdock und Celandine versuchten, den Kreis der Männer zu durchbrechen, davonhasteten und dann erschlagen wurden. Einer oder zwei kamen durch, aber der Mann mit dem Gewehr verfehlte keinen.
»Schau nicht zurück«, sagte El-ahrairah zu dem zitternden Rabscuttle, »und sprich niemals darüber. Wir wollen doch nach Hause - das weißt du doch. Und ich hab' so eine Ahnung, daß das nicht mehr weit weg ist.«
Tommy Brock hatte üble Gewohnheiten.
Er aß Wespennester und Frösche und Würmer und watschelte im Mondlicht herum und grub Sachen aus der Erde.
Beatrix Potter (The Tale of Mr. Tod)
Ein paar Tage lang - erzählte Dandelion weiter -, nachdem sie die armen Kaninchen und Burdock verlassen hatten, liefen El-ahrairah und Rabscuttle durch die sommerlichen Wiesen mit hohem Gras, ohne daß etwas passierte.
Eines Abends, als sie es sich im Stroh einer alten Scheune bequem machten, sagte Rabscuttle: »Wir sind jetzt bestimmt nicht mehr weit von zu Hause weg, Meister. Ich spüre es am ganzen Leib. Du nicht?«
»Also ich kann's ja nicht gut an deinem Leib spüren«, antwortete El-ahrairah, der es nicht lassen konnte, Rabscuttle manchmal ein wenig zu necken, »aber ich spüre es selber auch. Dennoch habe ich so eine Ahnung, daß uns da noch ein großes Hindernis im Wege steht. Wir sollten gut aufpassen und sehr vorsichtig weitergehen. Wäre doch ein Jammer, wenn wir so kurz vor dem Ziel aufgehalten würden.«
Es war schon später Nachmittag am nächsten Tag, als ein dichter Wald vor ihnen auftauchte. Aber es war kein gewöhnlicher Wald, das sah man sofort. Er erstreckte sich nach beiden Seiten in die Weite, und da gab es augenscheinlich keine Lücke und keinen Einlaß, der den Anfang eines Pfads in die miteinander verfilzten Bäume und das undurchdringliche Gestrüpp angezeigt hätte.
»Ich fürchte, wir haben keine Wahl«, sagte El-ahrairah, nachdem er eine Weile den Wald nachdenklich betrachtet hatte. »Wir müssen durch dieses abschreckende Gewirr hindurch, davon bin ich überzeugt; du nicht auch?«
»Ich leider auch, Meister«, erwiderte Rabscuttle, setzte sich ins Gras und putzte sich das Gesicht mit den Vorderpfoten. »Aber allein bringen wir das nicht fertig. Wir brauchen irgendeine Hilfe. Wir können nicht einfach so in diese wirre Wildnis eindringen, wir hätten uns in einer halben Stunde verirrt, und in einem halben Tag wären wir tot.«
»Was denn für eine Hilfe?« fragte El-ahrairah. »Wir sollten lieber versuchen, jemanden zu finden, der sich hier auskennt.«
Sie gingen auf den Wald zu, und schon bald stießen sie auf eine sehr große Ratte; sie war fast so groß wie El-ahrairah. Sie saß in der Sonne und meditierte zweifellos, wie die Kaninchen dachten, über einen schändlichen und mörderischen Plan in allen Einzelheiten. Keinem von beiden war wohl dabei zumute, aber dennoch, sagte sich El-ahrairah, als die Ratte ihn stumm mit einem bösartigen und hinterlistigen Blick beäugte, irgendwo müssen wir ja anfangen. Er grüßte die Ratte höflich und setzte sich am Grabenrand neben sie.
»Vielleicht könntest du uns einen Rat geben«, begann er. »Wir müssen hier durch diesen Wald.«
»Warum?« fragte die Ratte, und ihre Schnauzhaare zuckten auf eine abstoßende Weise.
»Wir wollen nach Hause«, sagte El-ahrairah.
»Und wie zum Teufel kommt es dann, daß ihr hier seid?« wollte die Ratte wissen.
»Auf Anordnung von Frith, unserem Herrn«, antwortete El-ahrairah. »Auf sein Gebot hin mußten wir eine lange Reise unternehmen, und wir haben Glück gehabt, daß wir noch am Leben sind. Aber jetzt gehen wir nach Hause.«
»Ihr seid aber noch nicht zu Hause«, sagte die Ratte und fletschte hämisch grinsend ihre gelben Zähne. »Noch nicht! O nein!«
El-ahrairah sagte nichts darauf, und eine Weile herrschte Schweigen.
»Ihr kommt nie durch diesen Wald«, meinte die Ratte endlich. »Soviel ich weiß, ist da noch nie einer durchgekommen.«
»Kennst du jemanden, der uns vielleicht helfen könnte?« fragte Rabscuttle.
»Das einzige Wesen, das vielleicht in der Lage wäre, euch zu helfen, wenn ihm der Sinn danach stünde«, sagte die Ratte und lachte höhnisch, »das wäre der Alte Brock. Aber der frißt euch wahrscheinlich eher, als daß er euch hilft.«
»Wo können wir ihn finden?« fragte El-ahrairah.
»Schwer zu sagen«, meinte die Ratte. »Der ist immer hier irgendwo am Waldrand und wühlt in der Erde herum. Wenn ihr ebenfalls den Waldrand rauf und runter geht, findet er euch vielleicht. Der Tod durch ihn ist so gut wie jeder andere Tod. Warum sollte er euch helfen? Habt ihr euch das mal überlegt?« Und mit einem Satz war sie in der Hecke verschwunden.
Es ging am nächsten Tag schon auf ni-Frith zu, als die zwei Kaninchen die Ausläufer des Waldes erreichten, und da war es genauso wüst und wild. Der Blick in den Wald, vorsichtig ausgedrückt, war nicht ermutigend. Große Bäume schien es nicht zu geben, und das hieß, daß niemand den Wald ausdünnte und die Bäume nie zurückgeschnitten wurden. Dieser Wald war ein Urwald. Die Bäume wuchsen so dicht nebeneinander, daß sogar jetzt, zur Mittagszeit, das Tageslicht ausgeschlossen war. Das Dickicht war so verfilzt, daß selbst Kaninchen, die ja gewohnt waren, sich durch schwierige Hindernisse hindurchzuzwängen, keine Zutrittsmöglichkeit sahen. Sie gingen weiter am Waldrand entlang, aber es wurde nicht besser. El-ahrairah, der hartnäckig war und nicht so schnell zu entmutigen, schaute sich noch lange an den Rändern um, war aber endlich gezwungen zuzugeben, daß er nicht weiter wußte.
»Wir müssen wohl versuchen, den Alten Brock zu finden, den uns die Ratte genannt hat«, sagte er zu Rabscuttle.
»Aber wenn der uns eher frißt als uns hilft?« fragte Rabscuttle.
»So schnell frißt der mich nicht«, meinte El-ahrairah. »Ich sage dir, ich bin wild entschlossen, durch den Wald zu kommen, und wenn das nur mit Hilfe vom Alten Brock möglich ist, dann werde ich ihn auch finden. Dabei fällt mir gerade etwas ein: Wir werden ihn wahrscheinlich eher nachts als tagsüber finden, verdammt noch mal.«
Kaninchen sind bei Dunkelheit, die ihnen nur angst macht, nicht gern draußen. Die Dämmerung und der Abend sind die Zeiten, wo sie sich normalerweise im Gelände bewegen. In dieser Nacht hatte selbst El-ahrairah starke Befürchtungen, als er daranging, das Randgebiet des Waldes zu durchstreifen.
Der abnehmende Mond verbreitete wenig Licht, und jedes kleinste Geräusch unerkennbarer Herkunft war wie ein Alarm. Sie kamen langsam vorwärts und schreckten dauernd zusammen. Dennoch hatten sie Glück - wenn man die schnelle erfolgreiche Beendigung einer Suche dieser Art Glückhaben nennen konnte. Die Nacht war noch nicht halb vorüber, als El-ahrairah, geduckt am Fuß eines Baumes aufmerksam lauschend, plötzlich von einer großen Pfote niedergehalten wurde und eine tiefe Stimme leise sagte: »Was machst du da? Wieso bist du überhaupt hier?«
El-ahrairah bekam keine Luft mehr und konnte nicht sprechen. Zu Ehren Rabscuttles muß gesagt werden, daß er nicht weglief, sondern Antwort gab. »Wir sind auf der Suche nach ... eh ... dem großen Herrn Brock. Bist du das, Herr?«
Der riesige Dachs machte keine Miene, El-ahrairah loszulassen, und sagte: »Was interessiert es dich, wer ich bin? Warum habt ihr mich gesucht?«
»Wir müssen durch diesen Wald kommen, Herr, ganz hindurch zur anderen Seite. Es ist für uns die einzige Möglichkeit, nach Hause zu kommen. Man hat uns gesagt, daß uns niemand außer dir helfen kann.«
Daraufhin hob der Dachs die Pfote und erlaubte El-ahrairah herauszukriechen und sich hinzusetzen. Der Dachs sah die Kaninchen grimmig und feindselig an.
»Wie kommt ihr darauf, daß ich euch helfen würde?«
»Wir haben einen weiten Weg hinter uns und haben viele Schwierigkeiten und Gefahren überwunden. Wir wissen, daß du der Herr dieses Waldes bist und nach Belieben retten oder töten kannst. Ich bitte dich, Herr, geduldig zuzuhören, und ich werde dir erzählen, was wir durchgemacht haben und wie wir hergekommen sind.«
Darauf hockte sich El-ahrairah im Licht des abnehmenden Mondes zu Füßen des lendri nieder und erzählte ihm von König Darzin und der Misere seiner Kaninchen, wie Rabscuttle und er dem Schwarzen Kaninchen von Inle entgegengetreten waren und welchen Gefahren sie seither auf ihrer Reise trotzen mußten. »Und wir bitten dich, Herr«, endete er, »daß du uns deinen Schutz gewährst und uns hilfst, dieses letzte Hindernis vor unserer friedlichen Heimkehr zu überwinden. Wenn es irgend etwas gibt, womit wir dir helfen oder von Nutzen sein können, sind wir dazu gern bereit. Ein Wort genügt, und was du verlangst, wird geschehen.«
»Ich hab' meine Burg hier in der Nähe«, sagte der lendri grollend. »Ihr kommt jetzt besser mit! «
Sie liefen mit ihm den verfilzten Waldrand entlang so gut es eben ging und kamen zu einer flachen Grube, in der auf einer Seite ein großes Loch war. Davor lag ein Erdhaufen, vermischt mit verdorrtem Gras und Farnen. Der lendri verschwand im Loch, und die Kaninchen folgten ihm.
Das Innere war einschüchternd: ein Irrgarten von Tunnels nach allen Richtungen und offenbar sehr weitläufig. Tatsächlich waren die Tunnels so lang, daß die Kaninchen den lendri um eine Rast baten. Aber schon bald darauf wurde er ungeduldig und ging wortlos weiter, so daß sie gezwungen waren, hinter ihm herzustolpern, so gut es ging, sonst wären sie allein im Dunkeln zurückgeblieben.
Schließlich verhielt er an einer Stelle, die sich von keiner anderen im Tunnel unterschied, außer daß sie mit Stroh und trockenem Gras ausgelegt war und gewaltig nach Dachs stank. Der lendri legte sich hin, wartete auf die Kaninchen und fragte sie dann: »Wie habt ihr euch denn das gedacht, daß ihr mir von Nutzen sein könnt?«
»Wir können dich mit Nahrung versorgen, Herr«, sagte El-ahrairah. »Sag uns, was du frißt, und das suchen wir und bringen's dir.«
»Ich fresse alles. Hauptsächlich Würmer, außerdem Käfer, Raupen, Maden und Schnecken aller Art, wenn sie zu finden sind.«
»Wir bringen dir jede Menge, Herr, wenn du uns nur durch den Wald führst, sobald du dazu bereit bist.«
»Dann fangt jetzt an.«
Er führte sie nach oben und zum Waldrand zurück. Und jetzt begann wohl die seltsamste Zeit, die die Kaninchen je erlebt hatten. Jeden Abend trafen sie sich mit dem lendri und gingen mit ihm auf Nahrungssuche, manchmal auch im Wald, aber meist auf den Feldern und in den Gärten der Häuser. Es war ein langwieriges und ermüdendes Geschäft, denn der lendri war gefräßig und hielt sie bis Tagesanbruch auf Trab und manchmal auch länger. Für Kaninchen war es scheußliche Arbeit. Oft gruben sie in nasser Erde nach Würmern oder sammelten sie nach Regen vom Boden auf und nahmen sie ins Maul, um sie dem lendri zu bringen, nicht nur Würmer, sondern auch Schnecken und alles mögliche kleine Getier, das sie fanden. Obwohl es schon spät im Jahr war, stießen sie gelegentlich auf Fasanennester, deren Eier der lendri mit Wonne zwischen den Zähnen zermalmte. Oft konnten auch Mäuse erbeutet werden, da ihr Instinkt sie gegenüber Kaninchen arglos machte.
Anfangs ekelten sich die Kaninchen vor den Würmern und Schnecken im Maul, aber nach einer Weile hatten sie sich daran gewöhnt und empfanden nichts mehr dabei.
Schwerer zu ertragen war die Abneigung und Verachtung, die sie von Seiten ihrer Mitkreaturen erfuhren. Als sich herumsprach, was sie in den Feldern und Gehölzen machten, haßte und verabscheute sie alsbald jedermann. Mehrere Nächte hintereinander folgte ihnen ein Eichhörnchen von Baum zu Baum und zeterte: »Sklaven! Lendri-Sklaven! Macht zu, eilt euch, schneller, sonst wird der Meister böse!« In einer anderen Nacht stieß eine verwundete, hilflose Ratte höhnisch hervor: »Welche Freude für mich, daß ich den feigen Kaninchen dienlich sein kann.« Eulen ließen Warnrufe ertönen, wenn sie sich näherten, und Wühlmäuse keiften unflätige Beschimpfungen aus der Sicherheit ihrer Löcher heraus. Es war ein unerträglich niederdrückendes und unnatürliches Leben für Kaninchen, die ja von Natur aus gesellig und von allen Geschöpfen die vegetarischsten sind. Sie wurden mürrisch und verkehrten gereizt miteinander, und oft waren sie kurz davor, diese widerliche Arbeit hinzuwerfen und wegzulaufen. Dennoch aber wußten sie, daß der lendri ihre einzige Hoffnung war, heimzukommen.
Anfangs hatten sie noch angenommen, der lendri würde sie freundlicher behandeln, wenn sie sich erst einmal besser kennengelernt hätten. Das war jedoch nicht der Fall. Er verhielt sich weiterhin grob und unfreundlich. Er sprach selten, außer um Befehle zu geben oder vor einer Gefahr zu warnen oder zu schimpfen, wenn sie etwas falsch gemacht hatten. Er lobte niemals. El-ahrairah bemühte sich am Anfang sehr, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, doch der lendri schwieg nur oder hörte gar nicht zu. Ihre Wachsamkeit ließ nach, sie wurden langsamer und unempfänglicher für die zahllosen Signale, die gesunde Kaninchen fortwährend vom Wind, von Gerüchen, Geräuschen und Bewegungen ringsum empfangen.
Eines naßkalten Morgens, als sie beide nach einer langen Nacht mit vielen Wurmlieferungen völlig erschöpft waren, fragte Rabscuttle: »Meister, glaubst du nicht, wir könnten den lendri dazu bringen, uns zu sagen, wann er uns gehen läßt und uns durch den Wald führt? Ich weiß nämlich nicht, wie lange ich das noch aushalten kann, und du siehst auch nicht mehr so gut aus, und riechen tust du auch ziemlich schlecht.«
El-ahrairah nahm all seinen Mut zusammen und fragte den lendri in dieser Nacht, aber die einzige Antwort war: »Wenn ich dazu bereit bin. Arbeitet mehr, und dann könnte ich es einmal erwägen.«
Eines Nachts trafen sie einen Hasen im Feld. Nach den üblichen verletzenden Ausdrücken der Verachtung sagte er: »Warum ihr das macht, kann ich mir nicht vorstellen und auch niemand sonst.« El-ahrairah erklärte ihm den Grund. »Glaubt ihr denn im Ernst, der lendri ließe euch gehen und würde euch zu eurem Heimweg verhelfen?« fragte der Hase. »Natürlich nicht. Der behält euch einfach und läßt euch arbeiten, bis ihr tot umfallt oder weglauft.«
Das stürzte El-ahrairah in tiefe Verzweiflung. Doch ohne daß sie es wußten war Frith der Herr seinen treuen Kaninchen näher, als sie glaubten.
Ein paar Nächte später gruben sie in der Nähe vom Dachsbau nach Würmern. Da bemerkte Rabscuttle eine Stelle, wo der Boden vor kurzem bewegt worden war. »Komm mal her, Meister«, sagte er, »und sieh dir diese lockere Erde an. Das ist noch nicht lange umgegraben worden. Das war kürzlich hier noch nicht so. Gute Stelle für Würmer jetzt, was meinst du?«
Sie gruben in der lockeren Erde. Sie waren noch nicht tief gekommen, als El-ahrairah innehielt, schnüffelte und zögerte. »Komm mal her, Rabscuttle, und sag mir, was du davon hältst.«
Rabscuttle schnüffelte auch. »Da ist was vergraben worden, Meister, noch nicht lange her. Etwas Lebendiges war das, ist aber jetzt nicht mehr lebendig. Sollen wir's lieber in Ruhe lassen?«
»Nein«, antwortete El-ahrairah. »Wir machen weiter.«
Sie gruben tiefer. »Meister, da ist eine Hand. Die Hand eines Menschen.«
»Ja«, sagte El-ahrairah, »die Hand einer Frau. Und wenn mich nicht alles täuscht, liegt der ganze Körper hier. Sonst würde es nicht so stark riechen.«
»Dann lassen wir's lieber in Ruhe, Meister.«
»Nein«, sagte El-ahrairah. »Wir wollen noch mehr ausgraben.«
In der Stille der Nacht gruben sie weiter, bis es nicht mehr zu übersehen war, daß ein menschlicher Körper hier begraben lag.
»Ein bißchen Erde wollen wir noch darüber lassen«, sagte El-ahrairah, »und dann weitergehen und irgendwo anders nach Futter suchen. Menschen sollten die Leiche finden, und zwar bald!«
Es dauerte jedoch noch zwei Tage, bis ein Mann am Waldrand vorbeischlenderte; er trug schwere Stiefel und hatte ein Gewehr dabei. Die Kaninchen beobachteten ihn vom Ausgang des Dachsbaus und sahen, wie ihm der umgegrabene Boden auffiel, wie er anhielt, um sich die Sache genauer anzusehen und dann etwas Erde wegkickte. Sobald er sich vergewissert hatte, was da lag, markierte er die Stelle mit einem abgebrochenen Zweig und rannte mit seinem Gewehr und seinen plumpen Stiefeln fort, so schnell er konnte.
»Das melden wir jetzt dem lendri«, sagte El-ahrairah.
Nach ihrem Bericht kam der lendri mit zum Bau-Ausgang. Sie brauchten nicht lange zu warten. Ein hrududu voller Männer fuhr heran und hielt in der Nähe. Die Männer stiegen ab und steckten die Stelle mit Pfosten ab, die ein blauweißes Band verband. Danach kamen noch mehr Männer, bis es schien, daß die Stelle von Männern wimmelte, die laut miteinander sprachen.
Der lendri, sichtbarlich in Angst, machte kehrt und lief so schnell wie möglich in den Tunnel zurück. Die beiden Kaninchen folgten ihm.
»Wir müssen unbedingt hinter ihm bleiben«, keuchte El-ahrairah, »wo er auch hingeht.«
Schwankend und stolpernd folgten sie dem lendri durch einen Seitengang, wo sie noch nie gewesen waren und der auch längere Zeit nicht benutzt worden zu sein schien; an manchen Stellen war er teilweise blockiert durch herabgefallene Erde, die der lendri mit mächtigen Hieben seiner Pfoten beiseite oder hinter sich warf. Die Kaninchen wurden mit Erde überschüttet und manchmal von kleinen Steinen schmerzhaft getroffen, mühten sich aber, hinter dem verängstigten lendri zu bleiben, dem es offensichtlich darauf ankam, schnellstens von den Männern fortzukommen.
Nach einer scheinbar endlosen Zeitspanne führte der Tunnel leicht aufwärts und dann ins Freie. Am Ausgang blieb der lendri stehen, schnüffelte, lauschte und schaute umher. Schließlich kam er vorsichtig hinaus in den Wald, ging eine kurze Strecke weiter und versteckte sich unter dichtem Gebüsch.
»Er hat sicher nicht gewußt, daß wir ihm gefolgt sind«, flüsterte El-ahrairah. »Warten wir, bis er weggeht.«
Während sie warteten, versuchten sie die Männer zu hören, vernahmen aber nur sehr schwache Geräusche in der Ferne. »Wir haben offenbar einen ziemlich langen Weg hinter uns«, wisperte El-ahrairah. »Kriech jetzt raus, so lautlos, wie es geht. Hier können wir nicht bleiben. Wenn der lendri vor irgend etwas erschrickt, rast er zu diesem Loch zurück und trampelt uns zu Boden.«
Sie schlichen geräuschlos eine kleine Strecke über den Waldboden und gelangten schließlich zu einer kleinen Lichtung, wo sie anhielten. El-ahrairah machte wachsam eine Runde am Lichtungsrand entlang und fand, was er suchte: Reifenabdrücke im weichen Boden. Sie führten zu einem leicht abfallenden Weg, und die Kaninchen folgten ihm, bis sie Männer in der Nähe reden hörten und die weißen Stäbchen rochen. Sie warteten lange im Unterholz, bis die Männer endlich ihr hrududu bestiegen und abfuhren.
Das Geräusch verklang in der Ferne. »Komm jetzt«, sagte El-ahrairah, »wir müssen hier heraus, solange es noch Tag ist.«
Sie waren noch nicht weit gelaufen, als sie am Waldrand ankamen und von dort grüne Felder sehen konnten.
»Aber ist das der Waldrand, den wir suchen, Meister?« fragte Rabscuttle. »Könnte doch auch eine andere Stelle auf der Seite sein, wo wir gewesen waren, oder?«
»Sieh mal die Sonne«, antwortete El-ahrairah. »Sie scheint uns direkt entgegen. Und der Wind kommt von vorne. Stimmt schon, das ist die Sonnenuntergangsseite des Waldes.«
Das erwies sich als richtig. In dieser Nacht schliefen sie unter einem dichten Brombeerbusch. Nichts störte sie, und am nächsten Nachmittag erreichten sie endlich ihr eigenes Gehege.
»Also hat man sich auf das Wort des Schwarzen Kaninchens verlassen können«, meinte El-ahrairah und schaute umher. »Nichts Feindliches zu riechen, ein schöner Abend und alle beim silflay. Sehen auch alle gut aus. Das hast du gut gemacht, Rabscuttle.«
»Du hast das gut gemacht, Meister«, antwortete Rabscuttle und stupste El-ahrairahs Nase an. »Sieh mal, schöner Klee hier. Setzen wir uns doch und fressen erst mal ein bißchen.«
Jedoch, wie andernorts erzählt worden ist, war ihre Heimkehr keineswegs so, wie sie es sich vorgestellt hatten.