Kim riss seinen Bogen in die Höhe und schoss. Auf dem Hügel stieß die Zwergenkanone eine weitere, zischende Dampfwolke aus und die Kugel traf den Schädel der Bestie und zerschmetterte einen weiteren Teil der Panzerplatten. Wolfs Krieger und Kais Steppenreiter attackierten die Bestie. Schulter an Schulter krochen Hunderte von Zwergen über den riesigen Leib des Skull und hackten und schlugen auf ihn ein. Twix tauchte wie aus dem Nichts auf und bombardierte den Skull mit goldenem Elfenstaub und die Spinne gesellte sich zu Kim und schoss dünne, klebrige Fäden ab, um seine Zangen zu fesseln oder ihn zum Stürzen zu bringen. Selbst der Pack war plötzlich wieder da und bewarf den Koloss mit Steinen und nur ein Stück entfernt schwang Gorg seine riesige Keule. Jeder Einzelne seiner gewaltigen Hiebe ließ Panzerplatten zerbersten und fügte dem Skull neue, fürchterliche Wunden zu, aber nichts, nichts von alledem vermochte das Ungeheuer aufzuhalten. Unerbittlich rückte er näher.

Kim wich Schritt für Schritt vor dem Monster zurück und verschoss dabei einen Pfeil nach dem anderen, bis sein Köcher leer war.

Ihm blieb keine Zeit, sich nach einem neuen Pfeil zu bücken. Er ließ den Bogen fallen und zog stattdessen sein Schwert und eine Gestalt in einem lächerlich kleinen Cape, dafür aber mit einem umso gewaltigeren Schwert in der Hand, erschien neben ihm.

»Ich bin hier! Nimm mich!«, äffte Kai seine Worte nach. »Wie edelmütig!«

»Was tust du hier?«, fragte Kim. »Willst du, dass er dich umbringt?«

»Wenn wir dieses Biest nicht besiegen, dann spielt das wohl kaum noch eine Rolle!«, knurrte Kai. »Also los! Versuch seine Augen zu treffen! Und nimm dich vor den Scheren in Acht!«

Der Skull raste heran. Kim und Kai hoben ihre Schwerter und eine Sturmböe fauchte zwischen ihnen hindurch und riss sie beinahe von den Füßen, gefolgt von einem so kalten, gleißenden Blitz, dass sie beide vor Schmerz aufschrien, die Hände vor die Gesichter schlugen und ein paar Schritte in entgegengesetzter Richtung davontaumelten.

Als Kim wieder sehen konnte, bot sich ihm ein erstaunlicher Anblick.

Dort, wo Kai und er gerade noch gestanden hatten, brodelte eine schwarzgraue Wolke, in der es ununterbrochen loderte und wetterleuchtete. Sie sah tatsächlich aus wie eine Gewitterwolke, nur dass sie nicht am Himmel schwebte und allerhöchstens zwei Meter maß.

Und aus dieser Wolke fuhr Blitz auf Blitz in den Skull. Wo sie die Panzerplatten der Kreatur trafen, da ließen sie sie regelrecht verdampfen. Das Ungeheuer schrie. Die Blitze brannten schwarze, gezackte Rußspuren in seinen Panzer, blendeten seine Augen und schmolzen seine Scheren zusammen. Eine ununterbrochene Folge rollender Donnerschläge mischte sich in das Zischen der Blitze und übertönte das Brüllen des Skull. »Anscheinend ist dem alten Mann doch noch etwas eingefallen!«, schrie Kai über das Brüllen des Sturms und das Rollen der Donnerschläge hinweg.

Kim sah zu Themistokles hin. Der alte Magier hatte sich aufgerichtet und sogar die Zauberkugel aufgehoben, die Kim fallen gelassen hatte. Aber als sich ihre Blicke begegneten, hob er nur hilflos die Schultern. Themistokles war nicht für das verantwortlich, was mit dem Skull geschah.

Er drehte sich in die entgegengesetzte Richtung und erkannte Sturm, der nur wenige Schritte hinter der brodelnden Wolke stand und so breit grinste, dass er sich wahrscheinlich mit Leichtigkeit in die eigenen Ohrläppchen hätte beißen können.

Kim lief geduckt und schräg gegen den Sturm gelehnt zu ihm. »Was ist das?«, schrie er über das Krachen der Donnerschläge und das unablässige Zischen der Blitze hinweg. »Noch ein Abschiedsgeschenk deiner Mutter, von dem dein Vater nichts weiß?«

»Nein!«, brüllte Sturm zurück. »Ein Abschiedsgeschenk meines Vaters, von dem meine Mutter nichts weiß!«

Noch immer fuhren Blitze in rascher Folge in den Panzer des Skull, so grell, dass Kim die Augen zukniff und sich abwandte. Es waren jetzt nicht mehr ganz so viele und ihre Intensität nahm immer deutlicher ab, aber der Kampf war entschieden. Nachdem der letzte Blitz verblasst war, wandte der Skull sich um und begann mühsam davonzukriechen, wobei er leise, wimmernde Seufzer hören ließ. Er hatte jedoch von seinen Gegnern nicht mehr Gnade zu erwarten, als er selbst hatte walten lassen. Unter gellendem Kriegs- und Hurragebrüll stürzten sich Hunderte von Zwergen auf den Skull, unterstützt von zahlreichen Steppenreitern und nicht weniger von Wolfs Kriegern. Auch Kims Begleiter wollten hinter der fliehenden Bestie herstürzten, aber Kim hielt sie mit einer raschen Bewegung zurück - alle mit Ausnahme der Spinne, die auf wirbelnden Beinen hinter dem Skull herflitzte.

Langsam kamen Themistokles, Gorg und der Pack auf ihn zu. Twix landete taumelnd auf seiner Schulter. Sie sah abgekämpft und reichlich mitgenommen aus. Ihre Flügel waren angesengt und ihr Gesicht schwarz vor Ruß. Trotzdem strahlte sie geradezu.

»Dem haben wir es gegeben, wie?«, piepste sie. »Dem Kerl haben wir richtig eingeheizt.« Sie blinzelte Sturm zu. »Gar nicht schlecht, Pickelgesicht!«

»Das war nicht allein mein Verdienst«, antwortete Sturm mit schlecht gespielter falscher Bescheidenheit.

»Wir haben es alle gemeinsam geschafft«, sagte Themistokles, der langsam herankam. Er trug die Zauberkugel in der rechten Hand. »Keiner von uns wäre allein dazu in der Lage gewesen, mit dem Skull fertig zu werden. Weder ihr noch ich noch die Zwerge oder Wolfs oder Kais Reiter. Nur wir alle gemeinsam konnten es.« Und plötzlich geschah etwas fast Unheimliches: Themistokles hob weder die Stimme noch sprach er auch nur im Geringsten lauter. Und trotzdem war seine Stimme plötzlich überall auf dem Schlachtfeld zu hören und in allen Sprachen, welche die unterschiedlichen hier versammelten Völker auch sprechen mochten.

»Es ist genug!«, erklang die Stimme des Magiers. »Haltet mit dem sinnlosen Blutvergießen inne.«

So weit Kim sehen konnte, vergoss im Moment niemand Blut. Die Schlacht war zum Erliegen gekommen oder legte zumindest eine Atempause ein.

»Dieser Kampf ist sinnlos!«, fuhr Themistokles fort. »Es ist nicht nötig, dass wir uns gegenseitig töten! Diese Welt ist groß genug für uns alle! Und wir brauchen uns gegenseitig. Zu dringend, als dass wir uns bekämpfen dürften! Seht, was gerade geschehen ist! Wir haben einer gewaltigen Gefahr ins Auge gesehen, vielleicht der größten, die den Völkern Märchenmonds jemals gedroht hat!«

Kim konnte spüren, wie sich alle Aufmerksamkeit auf den alten, weiß gekleideten Magier richtete. Und dann spürte er ... noch etwas. Nicht das Vorhandensein, sondern im Gegenteil die Abwesenheit von etwas, das die ganze Zeit über unsichtbar und dräuend über dem Schlachtfeld gehangen hatte. Die Feindseligkeit war nicht mehr da - als wäre zusammen mit dem Skull auch jene unsichtbare böse Macht verschwunden, die jedermann auf dem Schlachtfeld gezwungen hatte das Schwert gegen seinen Bruder zu erheben.

Nachdem Themistokles geendet hatte, kehrte für Augenblicke ein fast unheimliches Schweigen ein. Dann ertönte hinter ihnen ein leises, regelmäßiges Klatschen.

Kim drehte sich herum.

Kai - der falsche Kai - war zusammen mit seiner Schwarzen Garde und einem guten Dutzend weiterer Krieger hinter ihnen erschienen. Er lächelte Themistokles aus der Höhe des Sattels herab zu und klatschte dabei spöttisch in die Hände.

»Eine wirklich beeindruckende Rede, alter Mann«, sagte er hämisch. »Hättest du auch nur noch zwei Minuten weiter gesprochen, dann wären mir die Tränen gekommen. Nur war sie leider völlig umsonst, fürchte ich. Was für eine Verschwendung.«

Kim sah aus dem Augenwinkel, wie sich der richtige Kai neben ihm spannte und die Hand hob, um seine Kapuze zurückzuschlagen. Hastig drückte er seinen Arm herunter und flüsterte: »Noch nicht.« Kai ließ den Arm wieder sinken. »Gib auf, Kai«, sagte Themistokles. »Es ist vorbei. Es gibt für keinen von uns mehr einen Grund, gegen den anderen zu kämpfen.« Während er sprach, hatte er sich unauffällig weiter an Kim angenähert. Und dann tat er etwas, was Kim nicht verstand: Er drückte ihm verstohlen die Zauberkugel wieder in die Hand.

Kim war so überrascht, dass er sie um ein Haar fallen gelassen hätte. Was um alles in der Welt tat Themistokles? Er verbarg die Zauberkugel hastig in der Hand, verstand aber immer weniger, was Themistokles zu diesem Austausch bewogen hatte. Hatte er die Zauberkräfte, die in der Zauberkugel gespeichert gewesen waren, gar schon wieder in sich aufgenommen? »Es hat schon zu viele Tote gegeben, Kai«, sagte Themistokles. Kai lachte. »Auf unserer Seite - sicherlich. Auf eurer ...?« Er hob die Schulter und lachte noch lauter. Kim spürte, wie der echte Kai neben ihm am ganzen Leib zu zittern begann. Er fragte sich, wie lange er sich noch beherrschen würde.

»Es ist vorbei, Kai«, sagte Themistokles noch einmal, wobei er den Namen auf so sonderbare Weise betonte, dass der Doppelgänger eigentlich hätte gewarnt sein müssen. »Sieh das endlich ein! Auch deine jungen Krieger sind des Kämpfens müde.«

Kim ließ seinen Blick über die Gesichter der Reiter rechts und links des vermeintlichen Kai schweifen. Was er sah, bestätigte Themistokles' Worte nur zu sehr. Viele von ihnen waren verletzt und alle wirkten müde und auf eine Art erschöpft, die sich nicht nur auf ihre Körper bezog. Und in fast allen Gesichtern hatte sich eine Mischung aus Furcht und Grauen eingegraben, die vielleicht nie wieder ganz daraus verschwinden würde. Für viele - wenn nicht alle - dieser jungen Krieger war es die erste wirkliche Schlacht, an der sie teilgenommen hatten, und viele standen wohl noch immer unter dem Schock des Erlebten. Es mochte noch eine geraume Weile dauern, bis sie wirklich begriffen, was Krieg bedeutete: nämlich Furcht, Schreie, Blut und Schmerzen, Tränen und vor allem Tod. Und er hatte nichts, aber auch rein gar nichts mit heroischen Schlachten und ritterlichen Kämpfen zu tun.

»Vielleicht hast du sogar Recht«, sagte der falsche Kai. »Wie gut, dass ich nicht auf sie angewiesen bin, nicht wahr?«

Er hob seine Fahne und schwenkte sie zweimal und wie hingezaubert erschienen auf den Hügeln, die das Tal umgaben, die Silhouetten zahlloser Reiter. Ihre aufgestellten Lanzen waren wie ein dichter Zaun, der das gesamte Tal umgab. Es mussten Tausende sein. Der angebliche Kai hatte tatsächlich seine gesamte Armee mitgebracht. Er war wohl entschlossen, hier und jetzt eine Entscheidung zu erzwingen.

Kim schauderte vor Furcht. Neben ihm begann Kai immer heftiger zu zittern und selbst der Pack, den sonst nichts zu erschrecken vermochte, drückte sich aufgeregt schnatternd an ihn. Gorg stellte sich mit hoch erhobenem Schild und fest ergriffener Keule neben Themistokles.

Themistokles hob die Stimme, sodass sie nun wieder überall zu hören war; auch und vor allem oben auf den Hügeln. »Der Krieg ist vorbei!«, rief er. »Senkt die Waffen!«

Der angebliche Kai lachte leise. »Gib dir keine Mühe, alter Mann«, sagte er. »Sie werden nicht auf dich hören.«

»Das glaube ich auch«, sagte der echte Kai links neben Kim. »Aber vielleicht auf mich.«

Und damit schlug er die Kapuze zurück.

Zwei, drei Sekunden lang herrschte vollkommenes Schweigen. Kim konnte sehen, wie sich auf den Gesichtern der jungen Krieger Schreck, Verwirrung und hier und da auch Zorn breit machte. Das überhebliche Lächeln blieb noch für einen Moment auf dem Gesicht des falschen Kai, aber es gefror und wurde dann zu etwas anderem, das Kim nicht richtig beschreiben konnte.

Schließlich nickte der falsche Kai. »Mein Kompliment, Themistokles. Ich gestehe es nicht gerne, aber ich habe Euch unterschätzt... Und das, obwohl ich Euch nun wirklich lange genug kenne.«

»Ich muss Euch auch ein Kompliment machen«, sagte der echte Kai eisig. »Ihr habt meine Rolle wirklich perfekt gespielt. Selbst meine eigenen Leute sind auf Euch hereingefallen. Ihr wart eine würdige Vertretung.«

»Das war wahrlich nicht sehr schwer«, sagte der falsche Kai abfällig.

Kais Gesicht verfinsterte sich noch weiter. »Warum steigst du dann nicht von deinem Pferd und wir finden heraus, ob du auch in anderer Beziehung so gut bist wie ich?«

Er zog sein Schwert.

Augenblicklich zückten auch die vier schwarzen Ritter neben dem falschen Kai ihre Waffen, aber sie führten die Bewegung nicht zu Ende. Schwerter wurden gezogen, Lanzen gesenkt - und alle Waffen deuteten ausnahmslos auf die vier in schwarzes Eisen gehüllten Ritter und ihren Herrn.

»Aufhören!«, donnerte Themistokles. »Ich sagte, der Kampf ist vorbei! Und das gilt auch für euch!« Er wandte sich an Kai. »Steck dein Schwert ein.«

»Aber ich -«

»Du solltest froh sein, dass er deine Herausforderung nicht angenommen hat, Jungchen«, grollte Gorg. »Er hätte dich in Stücke gehauen!«

Kai senkte sein Schwert, steckte es jedoch nicht ein, sondern behielt es in der Hand und starrte den Riesen trotzig an und sein Ebenbild sagte: »Wenigstens einer, der meine Fähigkeiten noch zu schätzen weiß. Ich überlege, ob ich dich am Leben lasse und dich zu meinem Leibwächter mache, wenn das alles hier vorbei ist. Würde dir das gefallen, mein großer, tölpelhafter Freund?«

Gorg knurrte vor Zorn und machte einen Schritt auf ihn zu, bevor Themistokles ihn mit einer raschen Handbewegung wieder zum Stehen brachte.

Kim war beunruhigt. Die Überheblichkeit des Doppelgängers war nicht gespielt. Er fühlte sich vollkommen sicher - obwohl seine Lage so aussichtslos schien, wie sie nur sein konnte.

»Lass es gut sein«, sagte Themistokles leise.

Kais Doppelgänger sah ihn noch einen Moment lang durchdringend an, dann seufzte er, hob langsam seinen Schild und senkte ihn einen Moment später wieder. Als Kim das nächste Mal in sein Gesicht blickte, war es nicht mehr das Kais.

Es war Turocks Gesicht.

Und zugleich auch wieder nicht. Es hatte sich verändert, auf eine unheimliche, schaudernd machende Art.

Zum einen war er nicht mehr alt. Er war auch nicht jung, doch es war ganz und gar nicht das Gesicht des uralten, mürrischen Mannes, als den Kim ihn auf der Lichtung im Zauberwald kennen gelernt hatte. Es wirkte auf eine fast unmöglich in Worte zu kleidende Weise ... zeitlos.

Aber es war auch noch etwas darin und das machte Kim wirklich Angst: Er hatte Bosheit in diesem Gesicht erwartet, vielleicht auch eine verschlagene Tücke, wie sie in den Augen der Zwerge funkelte - aber alles, was er sah, war ein tief eingegrabener Schmerz und eine uralte, quälende Verbitterung.

»Ahhh«, seufzte Turock. »Was für eine Wohltat, nach so langer Zeit wieder das eigene Gesicht tragen zu können. Manchmal läuft man Gefahr zu vergessen, wie es eigentlich aussieht.« Ein ungläubiges Raunen und Murmeln ging durch die Reihen der jungen Steppenreiter, aber Kim sah auch schiere Wut in mehr als einem Augenpaar aufblitzen, als den jungen Kriegern klar wurde, wie sehr man sie getäuscht hatte.

Wolf, der sich mittlerweile ebenfalls zu ihnen gesellt hatte, fasste es in Worte: »Ihr dummen, dummen Kinder!«, sagte er böse. »Ihr führt einen Krieg gegen uns, weil wir alt sind! Und euer Anführer ist der Älteste von allen!«

»Älter als ihr alle zusammen, um genau zu sein«, sagte Turock mit ruhiger Stimme. Er machte eine knappe Geste mit der linken Hand und die vier Reiter der Schwarzen Garde nahmen ihre Helme ab.

Was darunter zum Vorschein kam, das waren nicht die Gesichter von Menschen.

Es waren Pack.

»Steigt von Eurem Pferd, Zauberer«, sagte Wolf kalt, »damit wir Euch in Ketten legen können.«

»Es sei denn, Ihr legt Wert darauf, dass wir Euch aus dem Sattel schießen!«, fügte Kai grimmig hinzu.

Turock lachte leise. »Nicht so hastig, meine Freunde«, sagte er. »Und um der Wahrheit die Ehre zu geben - ich bin kein Zauberer. Kein richtiger, jedenfalls.« Plötzlich wurden seine Augen hart. »Noch nicht.«

»Und das werdet Ihr auch nie«, sagte Themistokles. Seine Stimme klang traurig. »Zauberer zu sein bedeutet mehr, als nur ein paar Beschwörungsformeln aufsagen zu können. Manchmal ist es eine schwere Last... Ich glaube nicht, dass Ihr sie tragen möchtet.«

Turock zuckte mit den Schultern. »Das kommt auf einen Versuch an, nicht wahr?«

Und damit riss er den Arm in die Höhe und deutete mit der ausgestreckten Hand auf Kim. »Gib sie mir!«

Und etwas ganz und gar Unglaubliches geschah:

Kim war darauf gefasst, sich gegen eine Art von hypnotischem Angriff zu wappnen, vielleicht gegen den Ansturm eines überlegenen Willens, der versuchte, seinen eigenen zu unterjochen. Stattdessen spürte er plötzlich ein heftiges - und ganz und gar körperliches Zerren und Reißen an der rechten Hand, in der er die Zauberkugel hielt, und als er erschrocken den Blick senkte, da sah er in die Augen des Pack, in denen plötzlich ein Ausdruck unsäglicher Qual und abgrundtiefer Verzweiflung erschienen war.

»Was ... tust du?«, hauchte er fassungslos.

Der Ausdruck von Schmerz in den Augen des Pack wurde noch tiefer. Aber nur für einen Moment. Dann griff er mit beiden Händen nach Kims Fingern und versuchte sie zurückzubiegen.

»Nein!«, keuchte Kim. »Pack! Bitte!«

Der Pack wimmerte, als litte er Höllenqualen - und biss Kim so heftig in die Hand, dass er mit einem Schmerzensschrei die Zauberkugel fallen ließ. Der Pack fing sie auf, schlüpfte mit einer geschickten Bewegung zwischen Kais gedankenschnell zupackenden Händen durch und raste auf Turock zu. Behände wie ein Affe kletterte er am Zaumzeug seines Pferdes empor.

Kurz bevor er Turock erreichte, hielt er noch einmal inne und warf Kim einen fast verzweifelten, um Vergebung flehenden Blick zu. Aber dann drehte er sich doch herum und drückte Turock die Glaskugel mit dem stilisierten Drachen in die Hand.

Kim spürte plötzlich einen harten Kloß im Hals. Er war nicht zornig, aber so enttäuscht, dass es wehtat.

»Warum tust du mir das an?«, murmelte er.

Der Pack wimmerte leise, während Turock mit der linken Hand seinen Nacken kraulte und mit der anderen die Zauberkugel hielt. »Nimm es ihm nicht übel«, sagte er lachend. »Was hast du geglaubt, warum ich dir den treuesten meiner Diener mitgegeben habe? Nur um dir Gesellschaft zu leisten? Gewiss nicht.«

»Hast du ihm deshalb einen Pfeil ins Herz geschossen?«, fragte Kim bitter. Der Pack wimmerte. Er hielt Kims Blick nicht mehr stand, sondern sah beschämt zu Boden.

Turock verzog die Lippen zu einem dünnen Lächeln. »Es musste doch überzeugend aussehen, oder?«

»Verdammtes Monster!«, flüsterte Kai. »Ich weiß nicht, wer schlimmer ist - Ihr oder der Skull.«

»Ich«, antwortete Turock. »Verlass dich darauf.« Er schnitt Kai mit einer wütenden Geste das Wort ab. »Genug jetzt! Ich habe nicht alle Zeit der Welt! Ihr könnt euch jetzt entscheiden, wer von euch in meine Dienste treten will oder wer es vorzieht, hier und jetzt zu sterben, zusammen mit dem Zwergenvolk!«

Kai ächzte. »Seid Ihr ... verrückt? Nicht einer von meinen Kriegern wird Euch folgen, ganz egal, was Ihr ihnen androht!«

»Das ist auch nicht nötig, jetzt, wo ich das habe!« Turock hob triumphierend die Zauberkugel und deutete mit der anderen Hand auf Kim. »Dank der Hilfe deines naiven kleinen Freundes da!«

»Du hast das die ganze Zeit über geplant«, vermutete Kim.

»Vom ersten Moment an«, sagte Turock. Er wandte sich an Themistokles. »Es war ein geschickter Schachzug, all deine Macht an einen Ort zu bringen, den kein Wesen von dieser Welt betreten kann. Leider hat es nicht funktioniert. Jetzt besitze ich die Macht. Die absolute Macht!«

Themistokles blieb ganz ruhig. Es sah Turock nur an und in seinen Augen stand noch immer dieser Ausdruck sonderbarer Trauer. Er sagte nichts.

»Und Ihr werdet der Erste sein, der sie zu spüren bekommt, alter Narr!«, brüllte Turock. Er riss den Arm in die Höhe und deutete mit der Zauberkugel wie mit einer Waffe auf Themistokles.

Nichts geschah.

Turock blinzelte, betrachtete die Zauberkugel eine halbe Sekunde lang verwirrt und stieß sie dann noch einmal und mit größerer Wucht vor.

Mit demselben Ergebnis.

Weder tat sich die Erde auf um Themistokles zu verschlingen noch stürzte der Himmel auf den Magier herab oder fuhr ein sengender Blitz aus der Zauberkugel.

»Ihr habt immer noch nicht begriffen«, sagte Themistokles bedauernd. Er schüttelte traurig den Kopf, ging zu Turock hin und nahm ihm ruhig die Zauberkugel aus der Hand. Dann kam er zurück und reichte sie Kim.

»Bindet ihn«, sagte er, »aber tut ihm nichts zuleide. Er ist nur ein bedauernswerter, alter Mann.«

Kim drehte die Zauberkugel fassungslos in den Händen. Der stilisierte Drache, der sie hielt, glitzerte im ersten Licht der Morgensonne, als wolle er ihm zublinzeln. Dann drehte er die Kugel herum und betrachtete ihre Unterseite. Winzig klein, aber trotzdem deutlich lesbar, waren die Worte darin eingraviert: MADE IN TAIWAN.

Kim sah fassungslos auf und der Pack kreischte schrill, fuhr herum und versetzte Turock einen Tritt, der ihn rücklings aus dem Sattel stürzen ließ.

Spät am Nachmittag zogen die Zwerge ab. Das kleine Volk hatte seine Toten begraben und die Verwundeten versorgt, so gut es ging, und anschließend die Überreste der zerstörten Dampfkanonen auf große, von Ochsen gezogene Karren verladen, um ihrer Wege zu gehen. Kim hatte ein halbes Dutzend Mal versucht, mit den Zwergen zu reden, aber wo immer er auch hingegangen war, er war überall auf dasselbe gestoßen: Ablehnung und Hass. Der Gedanke tat weh, aber er musste sich wohl damit abfinden: Für die Zwerge Märchenmonds würde er nie der strahlende Held sein, den die anderen Völker dieser Welt in ihm sahen, sondern das Gegenteil: der, dessen Namen sie am meisten von allen hassten. Der für Furcht, Zerstörung und Untergang stand. Er verstand immer weniger, wie Männer wie Turock - aber auch alle anderen Herrscher, die ihr Reich auf Furcht und Terror gründeten - mit diesem Gefühl leben konnten. Während er dem abziehenden Zwergenvolk zusah, füllten brennende Tränen seine Augen. Er schämte sich ihrer nicht.

»Sei nicht traurig, kleiner Held«, sagte eine tiefe Stimme hinter ihm. »Man kann nicht immer gewinnen, weißt du?«

Kim drehte sich herum und erkannte durch einen Schleier von Tränen eine riesige, breitschultrige Gestalt hinter sich, die wie ein Berg gegen das Sonnenlicht aufragte.

Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und aus dem kolossalen Schatten wurde die vertraute Gestalt des Riesen Gorg.

»Aber es wäre schön«, sagte er leise.

»Ja«, erwiderte Gorg. »Doch so ist das Leben nun einmal nicht. Du kannst nicht gewinnen, ohne dass ein anderer verliert ... Davon abgesehen: Wenn ich mich nicht sehr täusche, haben wir gewonnen.«

»Aber um welchen Preis!«

Gorg hob die Schultern. Es war, als bewege sich ein Berg am Horizont. Er antwortete nicht direkt, sondern wechselte das Thema. »Themistokles möchte dich sehen«, sagte er. »Er ist in seinem Zelt.«

Kim folgte ihm ohne ein weiteres Wort. Während sie durch die kleine Zeltstadt gingen, die die Krieger der beiden nunmehr wieder vereinten Heere aufgebaut hatten, ließ er seinen Blick in die Runde schweifen.

Wohin er auch blickte, er sah überall dasselbe: müde, verhärmte Gesichter, Augen, von denen der Schrecken Besitz ergriffen hatte, Hände, die vielleicht nie wieder aufhören würden zu zittern. Die Schlacht war vorbei. Sie hatten gesiegt, ganz egal, von welchem Standpunkt aus man es betrachtete, und ihre eigenen Verluste waren geradezu lächerlich, verglichen mit denen des Zwergenheeres.

Aber war ein Toter wirklich weniger schlimm als hundert?

Kim war regelrecht froh, als sie Themistokles' Zelt erreichten und eintraten.

Der Magier war nicht allein. Kims Augen, an das helle Sonnenlicht draußen gewöhnt, nahmen in ersten Moment nichts als Schatten wahr, aber nachdem sie sich erst einmal an die veränderten Verhältnisse gewöhnt hatten, erkannte er mehrere verschwommene Umrisse. Und was seine Augen nicht sahen, das verrieten ihm seine Ohren: Offenbar waren sie mitten in einen Streit hineingeplatzt.

»... bedeutet noch lange nicht, dass wir jetzt unsere Sachen packen und nach Hause gehen, als wäre nichts geschehen!«, sagte Kai gerade.

»Was für ein nach Hause?«, fragte Wolf böse. »Ihr habt kein Zuhause mehr, du dummer Bengel, wenn ich dich daran erinnern darf! Ihr habt es eigenhändig niedergebrannt!«

Kai wollte auffahren, aber Themistokles hob besänftigend, gleichzeitig auch auf eine zwingende Art befehlend die Hand und sagte: »Genug. Der Krieg ist vorbei. Niemand von uns wird ihn fortführen - auch nicht mit Worten.«

»Ihr habt gut reden, Themistokles!«, sagte Kai zornig.

Wenigstens, dachte Kim, nannte er ihn nicht mehr verächtlich alter Mann. »Ihr kehrt zurück in Euren Palast, wo Ihr der Herr seid und wo Ihr leben könnt, wie es Euch gefällt. Wir aber müssen zurück und leben -«

»- wie es richtig ist!«, fiel ihm Wolf ins Wort. »Du und deine Freunde, ihr wollt leben, wie es euch gefällt? Nur zu! Seht euch um! Tritt einen Schritt aus dem Zelt und wirf einen Blick in die Runde und du wirst sehen, was das Ergebnis ist! Chaos, Tränen und Tote!«

»Und du -«

»Hört auf!«, sagte Kim. Er hatte scharf, befehlend sprechen wollen, aber seine Stimme klang selbst in seinen eigenen Ohren nur müde.

Trotzdem verstummten sowohl Kai als auch Wolf mitten in ihrem Streit und sahen ihn fragend an. Kim trat langsam näher. Seine Augen hatten sich nun besser an das schwache Licht im Inneren des Zeltes gewöhnt und er sah, dass außer Themistokles, Kai und Wolf auch noch Turock anwesend war. Der Magier der Zwei Berge hockte mit angezogenen Knien und gefesselten Händen auf dem Boden und sah mit steinernem Gesicht zu ihm hoch. Der Pack saß neben ihm. Als er Kims Blick begegnete, senkte er ängstlich den Kopf und stieß ein leises Wimmern aus.

»Bitte, hört auf«, sagte Kim noch einmal. »Habt ihr denn gar nichts gelernt? Dieser Krieg hätte euch allen um ein Haar den Untergang gebracht!«

»Und du meinst, irgendetwas würde besser, wenn er vollkommen umsonst war?«, fragte Kai zornig.

»Kriege sind niemals umsonst«, antwortete Kim. »Sie zerstören Träume. Und sie verschwenden Leben!«

Wolf runzelte nur die Stirn, aber Kai verzog verächtlich das Gesicht. Turock lachte.

»Weise gesprochen, mein junger Freund«, sagte er. »Nur leider völlig umsonst, fürchte ich. Wenn er mit einem Philosophen reden wollte, würde er nach Gorywynn gehen und das Orakel befragen.«

»Schweigt, Turock!«, sagte Themistokles streng.

Turock zog eine Grimasse. »Und was, wenn nicht? Sperrt Ihr mich dann für weitere tausend Jahre ein?«

Kim sah erschrocken auf. »Ist das wahr?«

»Es ist ... nicht das erste Mal, dass Turock nach der Macht über Märchenmond greift«, antwortete Themistokles ausweichend. »Wir mussten uns schützen.«

»Indem ihr ihn für tausend Jahre eingesperrt habt?«, hauchte Kim entsetzt.

»Sieh dich um!«, antwortete Themistokles mit einer für ihn vollkommen untypischen Heftigkeit. »Dort draußen sind in der vergangenen Nacht mehr als tausend Jahre Leben ausgelöscht worden! Was hätten wir tun sollen? Ihn töten?«

»Glaubt mir, Themistokles«, sagte Turock düster, »ich hätte den Tod tausend Jahre der Einsamkeit vorgezogen! Aber nicht einmal diesen Ausweg habt Ihr mir gelassen! Ihr habt mich zu ewigem Leben verdammt, eingesperrt mit nichts als mir selbst und der Einsamkeit!«

»Und Ihr werdet weitere tausend Jahre dort verbringen«, sagte Themistokles hart, »und noch einmal tausend Jahre und noch einmal. Tausendmal tausend Jahre, wenn es sein muss - so lange, bis Ihr begreift, dass Ihr nicht der ganzen Welt Euren Willen aufzwingen könnt!«

»Nein!«, sagte Kim.

Nicht nur der Magier der Zwei Berge, sondern auch alle anderen sahen Kim erstaunt oder ungläubig an. Themistokles fuhr mit einer zornigen Bewegung herum. Für einen Moment loderte ein Ausdruck in seinen Augen, den Kim bisher nicht nur noch nie darin gesehen, sondern nicht einmal für möglich gehalten hatte: Wut.

Aber wirklich nur für einen Moment. Dann machte er Bestürzung und Scham Platz.

»Du darfst das nicht tun«, fuhr Kim fort. Er deutete auf Kai und Wolf. »Du verlangst, dass sie aus ihren Fehlern lernen? Dann solltest auch du dasselbe tun. Lass ihn frei.«

»Frei?«, vergewisserte sich Themistokles. »Ist dir klar, was du da verlangst? Er ist der Meister der Lüge!«

»Ich bin sicher, auch er hat gelernt«, antwortete Kim, während er sich bereits wieder zu Turock herumdrehte. »Du magst ein Lügner sein, Turock. Du kannst die Menschen betrügen. Du kannst den Menschen Dinge vorgaukeln, die nicht da sind. Du kannst sie glauben lassen, was immer du willst - aber für wie lange? Irgendwann wird jemand kommen, der deine Lügen nicht mehr glaubt, und dann wird das Kämpfen und Morden von neuem beginnen. Wie oft, Turock? Wie viele Male, bis niemand mehr da ist? Was nutzt es dir, König zu sein, wenn du kein Volk mehr hast, über das du herrschen kannst?«

Turock starrte ihn an. Er sagte nichts. Und nach einer Weile drehte sich Kim wieder zu Themistokles herum und sagte: »Lass ihn gehen.«

Für einen endlosen, quälenden Augenblick schwieg auch Themistokles und starrte ihn auf eine Art an, die ihm beinahe Angst machte.

Doch dann nickte er. »So sei es. Geht, Turock. Die Welt ist groß genug für Euch und uns. Aber kehrt nicht zurück, bevor Ihr nicht gelernt habt, dass man Freundschaft und Vertrauen nur mit der Wahrheit erringen kann.«

Turock blickte ihn noch einen Moment lang eindringlich an, aber er sagte nichts mehr. Nach zwei oder drei Sekunden drehte er sich auf dem Absatz herum und verließ das Zelt. Der Pack wimmerte leise, folgte ihm aber nicht.

Kai starrte ihm mit finsterem Gesicht hinterher. »Das war ein schwerer Fehler«, murmelte er.

Kim schüttelte den Kopf. »Man kann nicht jedes Problem mit Gewalt lösen«, sagte er. »So wenig wie ihr euer Problem mit Gewalt lösen könnt.«

»Das ist -«, begann Kai, aber Kim sprach rasch und mit leicht erhobener Stimme weiter:

»Denkt nicht etwa, dass eure Probleme dort, wo ich herkomme, nicht auch bekannt wären. Alt und Jung streiten miteinander, solange die Welt besteht! Ihr solltet einsehen, dass ihr nur gemeinsam überleben könnt.« Er deutete auf Wolf, fuhr aber an Kai gewandt fort: »Du glaubst, er wäre starrsinnig und unbelehrbar, nur weil er alt ist? Auch er war einmal jung. Denkst du, er hätte sich so geändert, nur weil er älter geworden ist? Und du, Wolf! Denkst du, er wäre dumm und alles, was er sagt, falsch, nur weil er jünger ist als du?« Er schüttelte heftig den Kopf. »Ihr braucht euch gegenseitig, ihr Narren! Die einen die Erfahrung und das Wissen der Alten und die anderen die Kraft und die Neugier der Jungen!«

»Worte!«, sagte Kai verächtlich. Das hieß - er wollte verächtlich klingen, aber eigentlich hörte er sich nur ziemlich verunsichert an.

Auch Wolf sah sehr nachdenklich drein, fast verwirrt.

»Es ist gut für jetzt«, sagte Themistokles. »Wir sind alle müde. Es war ein anstrengender Tag. Lasst uns ruhen und das Gespräch morgen fortsetzen. Kim und ich haben noch etwas zu erledigen.«

Kim hatte erwartet, dass Kai und Wolf nun gingen, doch stattdessen wandte sich Themistokles zum Ausgang und verließ das Zelt, sodass Kim ihm folgen musste. Der Pack trippelte hinter ihnen her, hielt aber einen gehörigen Abstand ein und mied auch weiter Kims Blick.

Nach einer Weile kam Twix herbeigeflogen und landete unsicher auf Kims Schulter. Sie war vollkommen erschöpft und zitterte am ganzen Leib. Kim hatte sie während des gesamten Tages nur zwei- oder dreimal gesehen. Die Elfe hatte mit ihrem heilenden Staub geholfen, wo sie nur konnte, aber auch ihre Kräfte waren begrenzt. Sie hatte sich kaum auf Kims Schulter niedergelassen und sich nach seinem Wohlbefinden erkundigt, da sank sie auch schon gegen seinen Hals und war eingeschlafen.

»Wohin gehen wir?«, fragte Kim, nachdem er Themistokles eingeholt hatte.

»Nur ein Stück.« Themistokles deutete zum Ende des Zeltlagers und den Hügel hinauf, auf dem noch am Morgen die Dampfkanonen der Zwerge gestanden hatten. »Es wird Zeit, einen guten Freund zu verabschieden. Ich dachte mir, dass du dabei sein möchtest.«

»Sturm?«

»Seine Eltern sind gekommen«, nickte Themistokles. »Sie wollen ihn nach Hause holen.«

»Ich hoffe, du bist nicht zu streng zu ihm gewesen«, sagte Kim.

»Zu streng? Aber warum ...?« Themistokles schüttelte lachend den Kopf. »Oh, ich verstehe. Du redest von seinem vermeintlichen Ungeschick am Ende der Welt?«

»Vermeintlich?« Kim blieb stehen.

Themistokles drehte sich zu ihm herum. Ein gutmütiges Lächeln erschien in seinen Augen. »Ich gestehe, dass ich zu einem kleinen ... Trick gegriffen habe«, sagte er. »Ich war es, der dafür gesorgt hat, dass ihm die Kugel entglitt und in den Abgrund fiel.«

»Und du hast ihn auch glauben lassen, dass es die echte Zauberkugel war?«, fragte Kim. Er griff in die Tasche und zog die Glaskugel hervor. »Nicht dieses ... Spielzeug.«

»Es war die echte Zauberkugel«, sagte Themistokles.

Kim blinzelte. »Wie?«

»Turock ist der Meister der Lüge, nicht ich«, antwortete Themistokles. »Ich musste ein einziges Mal zu einer List greifen und ich habe mich nicht wohl dabei gefühlt. Alles andere ist wahr.«

»Dann ... hast du deine Zauberkraft wirklich aufgegeben?«, fragte Kim fassungslos.

»Oh, nicht alles. Einen kleinen Rest habe ich behalten. Für den Hausgebrauch, sozusagen.« Themistokles streckte die Hand aus und plötzlich erschien eine schimmernde Lichtkugel über seiner Handfläche, die gleich darauf zu einem wunderschönen Schmetterling wurde, der zweimal mit den Flügeln schlug und dann davonflatterte.

Kim blickte ihm nicht einmal nach. »Aber warum nur?«

Plötzlich wurde Themistokles sehr ernst. Auch die geringste Spur des Lächelns war aus seinen Augen verschwunden. »Damit sich so etwas wie heute niemals mehr wiederholt«, sagte er. »Magie bedeutet eine große Macht, Kim. Aber auch große Verantwortung. Sie ist ein Segen für die Menschen, doch in den falschen Händen vermag sie auch unermesslichen Schaden anzurichten. Nie wieder soll jemand in die Versuchung geraten, diese Macht an sich zu reißen. Deshalb habe ich entschieden, dass die Macht der Fantasie nicht mehr an diesem Ort aufbewahrt werden soll.«

»Aber ... aber ohne die Magie ist Märchenmond verloren!«, stammelte Kim. »Es ist eine magische Welt! Sie braucht den Zauber um zu existieren!«

Themistokles lächelte. »Oh, keine Sorge«, sagte er. »Die Magie ist noch da.«

»Und wo?«

»Am sichersten Ort des Universums«, antwortete Themistokles geheimnisvoll, und allein die Art, wie er das sagte, machte Kim klar, dass er keine genauere Auskunft von ihm bekommen würde, ganz egal, wie nachhaltig er es auch versuchte.

Als sie weitergehen wollten, hörte Kim ein leises Wimmern hinter sich und drehte sich noch einmal um. Der Pack war in drei oder vier Metern Abstand stehen geblieben und sah fast bettelnd zu ihm hoch, wagte es aber nicht, sich ihm weiter zu nähern.

»Du darfst ihm nicht böse sein«, sagte Themistokles. »Er konnte nicht anders, weißt du? Er wurde dazu geschaffen, seinem Herrn zu gehorchen.«

»Böse?« Kim schüttelte den Kopf. »Ich bin ihm nicht böse.« Er streckte die Hand aus und der Pack kreischte vor Freude und sprang ihm mit solchem Ungestüm auf die Arme, dass er um ein Haar sein Gleichgewicht verloren hätte und die Elfe von seiner Schulter fiel.

Während er lachend um seine Balance kämpfte und sich Twix schimpfend im Gras aufrichtete, schüttelte Themistokles nur den Kopf und betrachtete die Szene aus Augen, in denen ein gutmütiger Spott funkelte.

Nebeneinander gingen sie weiter den Hügel hinauf. Das Zeltlager und das Schlachtfeld des vergangenen Morgens fielen langsam hinter ihnen zurück und erneut ergriff ein sehr sonderbares Gefühl Besitz von Kim. Er konnte es nicht richtig in Worte fassen, aber es war, als ... fehle noch etwas. Themistokles hatte ihm noch nicht alles gesagt.

Er stellte jedoch keine Frage, sondern fasste sich in Geduld. Es gab keinen Grund mehr zur Eile. Nun, wo Turock besiegt und das Heer der Zwerge abgezogen war, hatten sie alle Zeit der Welt. Kim wusste ja aus Erfahrung, dass er so lange hier bleiben konnte, wie er wollte, ohne dass in der Welt, aus der er kam, auch nur mehr als eine einzige Sekunde verging.

Twix landete wieder auf seiner Schulter und sie marschierten schweigend den Hügel hinauf, wo Sturm und seine sonderbaren Eltern bereits auf sie warteten. Kim fiel auf, dass alle drei zwar lächelten, als sie ihn erblickten, aber irgendwie ... niedergeschlagen wirkten; als bedrücke sie etwas, was sie sich nicht anmerken lassen wollten.

»Hallo«, sagte Kim, an Sturm gewandt. »Es ist schön, dass wir uns noch einmal sehen.«

Sturm lächelte knapp zurück und warf einen fragenden Blick in Richtung des Magiers.

»Hallo«, antwortete er. Wieso wirkte er dabei verlegen?

Mit einer entschlossenen Bewegung drehte Kim sich herum um endlich Klarheit von Themistokles zu verlangen. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, raschelte es neben ihnen im Gebüsch und die Spinne kam herbeigelaufen.

Genauer gesagt: Sie schleppte sich heran. Ihre Bewegungen hatten das meiste von ihrer natürlichen Eleganz und den Großteil ihrer Schnelligkeit eingebüßt und sie wirkte reichlich mitgenommen. Kim erinnerte sich mit plötzlichem Schrecken daran, dass sie dem flüchtenden Skull am Morgen gefolgt war und er sie seither nicht mehr gesehen hatte.

»Bist du verletzt?«, fragte er besorgt.

»Verletzt?« Die Spinne schüttelte sich. »Wie kommst du denn darauf? Ich bin nicht verletzt - nur vollkommen außer Puste. O je, o je, o je, jetzt hätte ich doch beinahe das Beste verpasst. Ihr wisst doch, wie sehr ich Abschiedsszenen liebe!« Sie humpelte noch ein Stück weiter und ließ sich dann mit einem halb unterdrückten Rülpser ins Gras sinken.

»Abschiedsszenen?«

Themistokles machte ein unbehagliches Gesicht. »Ich habe Sturms Eltern um einen Gefallen gebeten, weißt du?«, sagte er umständlich. »Sie waren so freundlich, ihn mir zu gewähren, um unserer alten Freundschaft willen und weil ich mich bereit erklärt habe, mich ein wenig um die Erziehung ihres Sohnes-«

»Themistokles!«, sagte Kim.

Themistokles räusperte sich nervös. »Ja, du hast ja Recht«, sagte er. »Um es einfach auszudrücken, auch wenn es mir nicht leicht fällt und ich gestehen muss, dass -«

»Sie nehmen dich mit«, murmelte Twix müde.

Kim riss die Augen auf. »Was?!«

»Es ist wahr«, gestand Themistokles. »Sie haben sich bereit erklärt, dich nach Hause zu bringen, obwohl dies einen großen Umweg für sie bedeutet und sie -«

»Aber warum denn nur?«, begehrte Kim auf. »Ich meine, ich ... ich dachte, ich hätte noch ein wenig Zeit und ... und ...«

»Nein, Kim«, sagte Themistokles. »Das hast du nicht. Du bist schon viel zu lange hier. Und eigentlich hättest du gar nicht kommen dürfen. Ich war es auch nicht, der dich gerufen hat, sondern Turock, der die Kraft deiner Fantasie nutzen wollte, um aus seinem Gefängnis zu entkommen.«

»Aber ... aber warum denn?«, stammelte Kim.

Themistokles sah ihn traurig an. »Als du das erste Mal hier warst«, sagte er, »da warst du ein Kind, und der Fantasie eines Kindes sind keine Grenzen gesetzt. Beim zweiten Mal waren wir es, die dich riefen, um unsere Welt vor dem Untergang zu retten. Diesmal...«

»... wäre Märchenmond fast untergegangen, weil ich gekommen bin«, murmelte Kim. »Ist es nicht so?«

Themistokles antwortete nicht sofort darauf, aber sein Schweigen war im Grunde schon viel mehr Antwort, als Kim haben wollte.

»Da ist noch etwas«, sagte Themistokles nach einer Weile. »Du kannst nie wieder zurückkehren.«

»Warum?«, fragte Kim. Seine Stimme brach fast.

»Weil du jetzt fast erwachsen bist, Dummkopf«, sagte die Spinne und Twix fügte in verschlafenem Tonfall hinzu:

»Und Erwachsene haben andere Träume.«

Kim dachte für einen Moment an jenen sonderbaren Ort weit unter dem Rand der Welt, den Friedhof der Träume. In Zukunft würde dort ein weiterer Grabstein stehen.

Ein kühler Wind kam auf und Kim wusste nun, dass es Zeit war, zu gehen. Er ließ sich in die Hocke sinken, umarmte den Pack und strich der Spinne zum Abschied mit der Hand über den Kopf. Dann nahm er die Elfe von der Schulter und wollte sie behutsam ins Gras setzen, aber Twix flatterte hastig in die Höhe, zog zwei oder drei taumelnde Runden um seinen Kopf - und landete dann im Nacken der Spinne!

»Ich wusste, dass ihr mir die ganze Zeit über etwas vorgemacht habt«, sagte Kim.

»Etwas vorgemacht?« Twix klang regelrecht empört. »Von wegen! Ich habe diesem vielbeinigen Scheusal Manieren beigebracht, das ist alles.«

Die Spinne hob die Schultern, wodurch sie Twix um ein Haar abgeworfen hätte. »Du hattest schon Recht«, sagte sie einsichtig. »Man isst nichts, mit dem man sich so lange unterhalten hat...«

»Außerdem ist es manchmal ganz praktisch, reiten zu können, statt ständig selber fliegen zu müssen«, grinste Twix und die Spinne führte ihren begonnenen Satz in übertrieben drohendem Ton zu Ende:

»... außer es wird unverschämt!«

Kim lachte, richtete sich auf und sah, dass hinter ihm ein wirbelnder grauer Nebel entstanden war. Das Tor zurück in die Wirklichkeit.

Aber was war schon Wirklichkeit?

Der Wind nahm zu und würde sich in wenigen Augenblicken zum Sturm steigern. Es wurde Zeit.

Doch bevor er in das graue Wirbeln hineintrat, drehte er sich noch einmal zu Themistokles um.

»Noch eine Frage, Themistokles«, sagte er. »Der Skull.«

»Er war meine Schöpfung«, gestand Themistokles. Es klang fast fröhlich. »Du hast es selbst erlebt: Manchmal bedarf es einer gemeinsamen Bedrohung, um aus Feinden Verbündete zu machen.«

»Aber er war stärker, als du denkst«, vermutete Kim.

»Ich allein hätte ihn nicht besiegen können«, sagte Themistokles, womit er sich geschickt um eine direkte Antwort herummogelte. »Nur die vereinten Kräfte aller haben dazu gereicht.«

»Und was ist aus ihm geworden?«, fragte Kim.

Themistokles antwortete nicht, aber die Spinne rülpste, dass der ganze Hügel zu wackeln schien.

»Fleisch«, flüsterte sie selig.

»Fleisch?« Kim öffnete die Augen und blinzelte in ein fast jugendhaftes Gesicht, das zu einem Mann in einer schwarzen Lederjacke und mit einer Polizeimütze gehörte. Im Moment hielt er sie allerdings in der linken Hand. Die andere brauchte er, um sachte, aber beharrlich, an Kims Schulter zu rütteln. »Fleisch?«, murmelte Kim benommen. »Wieso Fleisch?«

»Das frage ich dich«, antwortete der junge Polizist. Wenn man es recht bedachte, dann hatte er ziemliche Ähnlichkeit mit Kai; einem Kai, wie er vielleicht in fünf oder sechs Jahren aussehen mochte. »Du hast die ganze Zeit Fleisch gemurmelt, bevor du aufgewacht bist.« Er erhob sich ächzend aus der Hocke und machte eine abwehrende Bewegung, als Kim ebenfalls aufstehen wollte.

»Bleib liegen. Du hast vielleicht eine Gehirnerschütterung. Der Krankenwagen ist schon unterwegs.«

»Krankenwagen?« Kim richtete sich benommen auf und schüttelte den Kopf, was er aber schon in der nächsten Sekunde wieder bedauerte. Zwischen seinen Augen explodierte ein dumpfer Schmerz und er musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut aufzustöhnen.

»Ich brauche keinen Krankenwagen«, murmelte er. »Twix bringt das schon wieder in Ordnung.«

Der junge Polizist sah ihn verstört an; dann aber begann er mit beiden Händen in den Jackentaschen zu graben und schüttelte den Kopf.

»Mit einem Schokoriegel kann ich dir leider nicht dienen«, sagte er, »aber wenn du stattdessen einen Kaugummi möchtest ...«

Kim starrte vollkommen verständnislos auf den in Silberpapier eingewickelten Kaugummistreifen, den der junge Beamte ihm hinhielt, und widerstand im letzten Moment der Versuchung den Kopf zu schütteln. Stattdessen machte er eine abwehrende Handbewegung. Während der junge Polizeibeamte seinen Kaugummi wieder einsteckte, versuchte er das Chaos hinter seiner Stirn zu ordnen. Er hatte bohrende Kopfschmerzen. Irgendwo hinter ihm war noch immer ein blaues, hektisches Flackern, als wäre die Schlacht zwischen dem Skull und Sturms Abschiedsgeschenk weiter in vollem Gange, und er hörte aufgeregte Stimmen, Rufe, schnelle Schritte, Geräusche wie von einem Kampf oder einem Handgemenge.

»Was ... ist passiert?«, fragte er zögernd.

Der junge Polizist beäugte ihn misstrauisch. »Du kannst dich nicht erinnern? Das sieht mir aber doch sehr nach einer Gehirnerschütterung aus! Bleib lieber liegen, bis der Krankenwagen hier ist.«

»Ich brauche keinen Krankenwagen, verdammt«, sagte Kim. Um seine Behauptung zu beweisen, stand er ganz auf. Er schaffte es sogar, stehen zu bleiben, wenn auch ein wenig wackelig. Trotzdem fügte er hinzu: »Ich habe mir den Kopf gestoßen, das ist alles.«

»Du hast dir nicht den Kopf gestoßen«, antwortete der Beamte betont, »du bist vom Garagendach gefallen, aus zwei Metern Höhe!«

Kim drehte sich herum, legte den Kopf in den Nacken und stellte endgültig fest, was er im Grunde längst wusste: Er war wieder zurück.

»Oh«, sagte er.

»Anscheinend hast du versucht aus dem Fenster zu klettern, um dich vor den Kerlen in Sicherheit zu bringen.«

»Den Pack«, murmelte Kim.

Der Beamte unterdrückte ein Grinsen. »Nun ja, so ... könnte man sie nennen. Jedenfalls haben die Kerle da drinnen ganz schön gehaust. Aber keine Sorge - wir haben sie alle erwischt. Dank eures Nachbarn. Er hat beobachtet, wie die Burschen ins Haus eingestiegen sind, und hat uns sofort alarmiert.«

Er deutete in die entgegengesetzte Richtung, und als Kims Blick der Geste folgte, sah er gerade, wie zwei Beamte den Punker mit der Piratenbluse in einen Polizeibus bugsierten, auf dessen Dach sich ein flackerndes Blaulicht drehte. Daneben, fest im Griff zweier weiterer Beamten, befanden sich noch der Gepiercte und der Punker mit dem Irokesenschnitt. »Den nicht«, sagte Kim.

Der Polizist sah ihn fragend an. »Wie meinst du das?«

Kim deutete auf den Irokesen. »Der Junge da«, sagte er. »Sie brauchen ihn nicht festzunehmen. Er gehört nicht dazu.«

Im Gesicht des Polizeibeamten erschien eine Spur von Misstrauen. »Wir haben ihn festgenommen, als er gerade aus dem Haus gekommen ist.«

»Das ... mag ja sein«, sagte Kim vorsichtig. »Ich meine: Er war schon dabei, aber er ist anders als die anderen.«

»Wieso?«

»Er hat mir geholfen«, behauptete Kim. »Die anderen haben mir ziemlich übel mitgespielt. Sie hätten mich fertig gemacht, wenn er nicht gewesen wäre. Er hat mir zur Flucht verholfen.« Das Misstrauen in den Augen des Polizisten war noch lange nicht verschwunden. Trotzdem hob er nach einem Moment sein Funkgerät an die Lippen und sagte: »Wolf, bring doch mal den Typen mit den grünen Haaren her.«

Sie warteten, bis ein Beamter den Punker herangebracht und seinen Arm losgelassen hatte, dann sagte der Polizist: »So, und jetzt noch mal. Das ist also der Junge, der dir geholfen hat aus dem Haus zu entkommen?«

Kim nickte und auf dem Gesicht des Punkers zeigte sich nichts anderes als fassungsloses Staunen. Gerade als Kim jedoch etwas sagen wollte, fiel ihm ein sanftes Glitzern im Gras auf: sein Schlüsselbund, der ihm offensichtlich beim Sturz vom Garagendach aus der Tasche gefallen war.

Er wollte sich danach bücken, aber der Punker kam ihm zuvor: So schnell, dass die beiden Polizeibeamten erschrocken zusammenfuhren und die Hände nach ihm ausstreckten, bückte er sich nach dem Schlüsselbund und hob ihn auf. Danach ließ er ihn in Kims ausgestreckte Hand fallen - wobei er ein so verblüfftes Gesicht machte, dass Kim beinahe laut losgelacht hätte. Der arme Bursche verstand offenbar weder, was er gerade getan hatte, noch warum.

Kim grinste über das ganze Gesicht. »Das macht nichts«, sagte er. »Gewöhn dich daran.«

Eine Stunde später kamen seine Eltern und Rebekka zurück. Die Punker waren längst weggebracht worden und Kim hatte seine Aussage, dass der Irokese ihm geholfen hatte, noch einmal bekräftigt.

Kim vertrieb die Zeit bis zur Rückkehr seiner Eltern damit, sich mit dem Fahrer des Krankenwagens, der natürlich doch gekommen war, darüber zu streiten, ob er nun eine Gehirnerschütterung hatte oder nicht und infolgedessen ins Krankenhaus gehörte oder nicht.

Natürlich war die Aufregung groß, als seine Eltern schließlich eintrafen und statt eines friedlich schlafenden Sohnes in seinem Bett eine ganze Abordnung aus Polizei und Krankenwagen, neugierigen Nachbarn und Gaffern auf der Straße vor ihrem Haus fanden. An Schlaf war in dieser Nacht kaum noch zu denken.

Doch am frühen Morgen, nachdem sich die ärgste Aufregung gelegt hatte, nachdem die Polizisten gegangen waren und sich die letzten Neugierigen zerstreut hatten und nachdem endlich auch seine Eltern zu Bett gegangen waren, um wenigstens noch ein paar Stunden Schlaf zu finden, schlich Kim noch einmal in Rebekkas Zimmer hinauf und trat auf Zehenspitzen an ihr Bett heran.

Rebekka schlief. Sie war den Abend über ungewöhnlich still gewesen. Ganz gegen ihre sonstige Art hatte sie Kim nicht mit Fragen gelöchert noch darauf bestanden, dass er seine Geschichte immer und immer erzählte, sondern ihm ganz im Gegenteil mit eher gelangweiltem Gesichtsausdruck gelauscht. Fast als wisse sie längst, was wirklich geschehen war, und amüsiere sich im Stillen über die Dummheit der Erwachsenen, die diese alberne Geschichte von den jugendlichen Einbrechern glaubten.

Kim blickte nachdenklich auf seine schlafende Schwester hinab. Rebekka hatte die Glaskugel, die Vater ihr mitgebracht hatte, von ihrem Platz auf dem Nachttisch genommen und im Schlaf fest an sich gedrückt.

Und für einen Moment, einen winzigen Moment nur, schien sie sich zu verändern. Das billige Kunstglas schimmerte wie purer Diamant und die Miniatur-Nachbildung Gorywynns darin schien zu funkeln wie eingefangenes Sternenlicht. Die plumpe Drachenfigur schimmerte plötzlich wie reines Gold. Sie lebte. Nun wusste er, wo Rangarig war.

Und er wusste noch etwas: Nämlich, dass seine Furcht unbegründet gewesen war. Auf dem Friedhof der Träume in seinem Herzen würde niemals ein Grabstein mit der Inschrift Märchenmond stehen.

Er blinzelte. Als er die Augen wieder öffnete, waren das goldene Schimmern und das Funkeln von eingefangenem Sternenlicht verschwunden, die Kugel war wieder zu dem geworden, als was sein Vater sie gekauft hatte: ein billiges Spielzeug. Aber er wusste, das er sich nicht getäuscht hatte.

Gerade als er sich umwenden wollte, krabbelte eine winzige weiße Spinne unter der Kugel hervor und begann Rebekkas Arm zu erklimmen. Kim beugte sich lautlos vor, streckte die Hand aus und wartete, bis sie auf seinen Finger gekrabbelt war. Dann drehte er sich rasch herum, ging zum Fenster und öffnete es. Behutsam setzte er die Spinne auf das Fensterbrett. »Geh, Kleine«, flüsterte er. »Such dir ein Stück Fleisch, das deiner Größe entspricht.«

Hinter ihm drehte sich Rebekka auf die Seite und murmelte im Schlaf: »Aber sprich nicht mit ihm.«

Kim lächelte. Nun wusste er, wo Themistokles die Magie Märchenmonds hingebracht hatte.

Sie war am sichersten Platz, den es für die Macht der Träume nur geben konnte:

Im Herzen eines Kindes.

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