Der Gedanke ließ ihn erschauern. Vor allem, weil er so aussichtslos erschien. Dass dieses Land mit all seinen Geschöpfen und Wundern die Schöpfung seiner eigenen Träume war, bedeutete nicht, dass er hier die Macht eines Gottes oder überhaupt irgendeine Macht hatte.

Er begrub auch die anderen toten Elfen unter Blättern und suchte den Wald in einigem Umkreis ab, fand zu seiner Erleichterung aber keine weiteren toten Zauberwesen mehr. Schließlich kehrte er zu der Stelle zurück, an der er seinen Schild an den Baum gelehnt hatte.

Es war nicht mehr da.

Kim drehte sich verwirrt einmal im Kreis, dann verfinsterte sich sein Gesicht.

»Hör mit dem Unsinn auf, Pack!«, rief er. »Mir ist im Moment wirklich nicht nach deinen Scherzen zumute.«

Er bekam keine Antwort, aber nach ein paar Augenblicken hörte er das Brechen eines trockenes Zweiges hinter sich und drehte sich herum.

Hinter ihm war tatsächlich eine Gestalt zwischen den Bäumen erschienen. Aber es war nicht der Pack. Es war ein grauhaariger Mann in verschlissener Kleidung, der eine Eisenkeule in der rechten Hand trug und puren Hass in den Augen hatte.

Kim spürte die Gefahr, aber seine Reaktion kam zu spät. Etwas raschelte in den Baumwipfeln über ihm, dann fiel ein schweres, an den Rändern mit Steinen beschwertes Netz auf ihn herab und riss ihn zu Boden. Kim versuchte noch im Fallen sein Schwert zu ziehen, bekam die Waffe aber nicht einmal halb aus dem Gürtel. Praktisch gleichzeitig sprangen zwei, drei Gestalten zwischen den Bäumen hervor und stürzten sich auf ihn.

Kim versuchte trotz der Ausweglosigkeit seiner Lage sein Schwert vollends zu ziehen und sich aus dem Netz herauszuhacken, verstrickte sich aber sofort in den zähen Maschen und einen Augenblick später waren die Angreifer auch schon über ihm. Ein harter Schlag prellte ihm die Waffe aus der Hand, dann wurde er auf die Füße gezerrt und bekam zwei, drei harte Hiebe in Nacken und Leib, die ihm die Luft aus den Lungen trieben und ihm fast das Bewusstsein raubten.

Trotzdem versuchte er weiter sich zu wehren, mit dem einzigen Ergebnis allerdings, dass noch mehr Schläge auf ihn herunterprasselten. Hilflos sank er auf die Knie, bekam einen weiteren, harten Schlag in den Nacken und stürzte mehr ohnmächtig als wach auf die Seite. Er bekam kaum noch Luft und in seinem Mund war der Geschmack seines eigenen Blutes. Und noch immer prasselten Schläge auf ihn herab.

»Hört auf!«, befahl eine scharfe Stimme.

Kim wurde noch von zwei, drei weiteren Schlägen getroffen, aber gerade als er glaubte, nun endgültig das Bewusstsein zu verlieren, hörte es auf.

Für einen Moment hatte er nicht einmal mehr die Kraft, die Augen zu öffnen. Er hörte schwere Schritte, dann stieß ihn jemand grob in die Seite und eine andere Stimme sagte: »Warum hängen wir ihn nicht gleich auf? Genug Bäume sind ja hier.«

»Er hat Recht«, sagte eine dritte Stimme. »Hängen wir ihn auf oder schlagen ihn tot. Er hätte es verdient.«

»Das stimmt sogar«, sagte die erste Stimme. »Aber wir brauchen ihn noch. Wolf wird sehr froh darüber sein, endlich einen Gefangenen zu haben. Schickt einen Boten zu ihm und lasst ihm ausrichten, dass wir endlich einen von ihnen gefangen haben.«

»Ihr ... täuscht... euch«, murmelte Kim. »Ich gehöre nicht ... zu euren Feinden.«

Schnelle Schritte näherten sich, dann traf ihn ein derber Stoß in die Seite und die Stimme herrschte ihn an: »Wer hat dir erlaubt zu reden, Bürschchen?«

Der Stoß war so hart, dass Kim auf den Rücken rollte und einige Sekunden lang qualvoll nach Luft rang. Als sich der pochende Schmerz in seinen Rippen einigermaßen gelegt hatte, öffnete er die Augen und blickte in ein bärtiges, von langem grauem Haar eingerahmtes Gesicht, das mit unverhohlenem Hass auf ihn herabstarrte.

»Ich hoffe, du hast mich verstanden, mein Junge«, fuhr der Mann fort. »Du wirst nur reden, wenn ich dir eine direkte Frage stelle, hast du mich verstanden?«

Kim nickte.

»Gut«, fuhr der Grauhaarige fort. »Wenigstens machst du keine Schwierigkeiten. Ich würde dir auch nicht raten, irgendwelche Dummheiten zu versuchen. Wir werden dich jetzt aus dem Netz holen und dir Hände und Füße fesseln. Wenn du zu fliehen versuchst oder Widerstand leistest, töten wir dich. Ist das klar?«

»Ja«, antwortete Kim. »Aber Sie verwech -«

Ein harter Schlag ins Gesicht ließ ihn verstummen.

»Du sollst nur reden, wenn ich dir eine Frage stelle«, sagte der Grauhaarige.

Kim antwortete nicht laut, sondern nickte nur.

»Gut«, knurrte der Alte. »Wickelt ihn aus und fesselt ihn dann. Aber seid gründlich. Ihr wisst, wie gefährlich diese kleinen Teufel sind.«

Kim wurde grob in die Höhe gerissen und bekam noch einen harten Schlag zwischen die Schulterblätter; wahrscheinlich nur zur Vorsicht. Dabei hätte er sich nicht einmal wehren können, wenn er es gewollt hätte. Seine Hände wurden gepackt und auf dem Rücken zusammengebunden, dann wurde er erneut zu Boden gestoßen und grobe Stricke banden auch seine Füße zusammen.

»So hört mir doch zu!«, stöhnte Kim. »Ich gehöre nicht zu -« Diesmal wurde er nicht geschlagen. Einer der Männer zwang seine Kiefer auseinander, dann wurde ihm ein schmutziger Lappen in den Mund gestopft.

»Anscheinend versteht er unsere Sprache nicht«, sagte der Mann, der ihn geknebelt hatte.

»Gebt Acht, dass er nicht erstickt«, sagte der Grauhaarige, allerdings mit wenig Mitgefühl in der Stimme. »Wolf braucht ihn lebend.«

Kim wurde hochgehoben und ein kleines Stück durch den Wald getragen, bis sie die Stelle erreichten, an der er sein Pferd zurückgelassen hatte. Er wurde quer in den Sattel geworfen, dann griff einer der Männer nach den Zügeln und führte das Tier aus dem Wald hinaus.

Sie gingen den Weg zurück, den Kim vor einer halben Stunde gekommen war - quer über das Schlachtfeld und so nahe an der verwüsteten Ortschaft vorbei, dass er die Hitze der noch immer brennenden Häuser auf dem Gesicht spüren konnte. Der Rauch war so dicht, dass er gehustet hätte, hätte ihn der Knebel nicht daran gehindert. So konnte er nur qualvoll würgen und irgendwie versuchen nicht zu ersticken.

»Gefällt dir der Anblick, Junge?«, fragte der Mann, der sein Pferd am Zügel führte. »Ich hoffe, du genießt ihn. Es wird nämlich das letzte Mal sein, dass du überhaupt irgendetwas genießen kannst. Ich hoffe, du bist stolz auf das, was ihr getan habt.«

»Sei still, Harro«, sagte der Grauhaarige. »Du verschwendest deinen Atem.«

»Wir verschwenden alle nur Zeit«, antwortete Harro. »Er wird sowieso nicht reden. Sie reden nie.«

»Sie lassen sich auch nicht gefangen nehmen«, sagte der Grauhaarige. »Trotzdem haben wir den Burschen gefangen. Wolf wird ihn schon zum Reden bringen.«

»Vor allem nach der vergangenen Nacht«, fügte ein anderer hinzu.

»Wieso?«

»Habt ihr es nicht gehört? Ein Verräter hat versucht ihn zu töten. Hätte er seine Rüstung nicht getragen, hätte der Pfeil sein Herz durchbohrt. So ist er mit einer Fleischwunde davongekommen.«

Kim hätte am liebsten laut aufgeschrien. O ja, dachte er. Wolf würde sich freuen, ihn in die Hände zu bekommen. Ganz besonders, wenn er ihn wieder erkannte ...

Wenn er wenigstens diesen verdammten Knebel loswerden könnte! Kim war sicher, dass er alles aufklären konnte, wenn es ihm nur möglich wäre, mehr als ein halbes Dutzend zusammenhängender Worte zu reden.

»Ich bleibe dabei«, fuhr Harro fort. »Wir sollten den Burschen auf der Stelle aufhängen. Oder besser noch -«

Kim erfuhr nie, welches Schicksal der Mann ihm zugedacht hatte. Ein scharfes Sirren erklang und plötzlich ließ Harro die Zügel los, griff sich an die Brust und brach in die Knie. Noch während er zur Seite kippte, schlossen sich seine Hände um den Schaft des Pfeiles, der ihn getroffen hatte.

Ein gellender Schrei erklang. Das Pferd scheute, stieg auf die Hinterläufe und warf Kim ab. Er versuchte den Kopf einzuziehen und alle Muskeln anzuspannen, um dem Aufprall die ärgste Wucht zu nehmen. Es gelang ihm auch, aber er blieb mit dem Gesicht nach unten liegen, sodass er nicht sah, was weiter geschah. Schreie und das Klirren von Metall waren zu hören und dann wieder das tödliche Sirren von Pfeilen.

Der Kampf dauerte nur ein paar Augenblicke, dann kehrte wieder fast unheimliche Stille ein, die für ein paar Sekunden anhielt. Danach erklangen Schritte, die sich rasch näherten. Kalter Stahl berührte Kims Handgelenke und seine Knöchel, als die Stricke durchgeschnitten wurden, dann durchtrennte ein noch schnellerer Schnitt seinen Knebel. Kim spuckte den schmutzigen Lappen aus, den man ihm in den Mund gestopft hatte, und wälzte sich auf den Rücken.

Über ihm stand ein junger Bursche mit schulterlangem, blondem Haar und durchdringenden hellblauen Augen. Er war in Weiß gekleidet, doch Hemd und Hose waren wie sein weißer Umhang verdreckt und zerschlissen.

»Lebst du noch?«, fragte der Junge spöttisch.

Kim setzte sich mühsam auf, betastete sein Gesicht und vor allem seine Rippen, die so unliebsame Bekanntschaft mit den Stiefelspitzen Harros gemacht hatten, und zuckte zur Antwort mit den Schultern. Selbst diese kleine Bewegung tat weh.

»Ich bin nicht ganz sicher«, sagte er.

Der Steppenreiter zog die linke Augenbraue hoch. Er lachte nicht. »Im Grunde sollten wir dich hier liegen lassen«, knurrte er. »Wer so dumm ist, sich von ein paar alten Tattergreisen einfangen zu lassen, der hat es nicht besser verdient.«

Kim sah den jungen Steppenreiter verwirrt an. Die Erleichterung, die er bei seinem Anblick verspürt hatte, begann sich schon wieder zu legen.

»Wie ist dein Name?«, fuhr der Steppenreiter fort.

»Kim«, antwortete Kim.

»Kim?« Der Steppenreiter schüttelte den Kopf. »Wie auch sonst? Anscheinend nennt jeder alte Tölpel, der einen Sohn bekommt, ihn nach dem großen Helden!« Er zog eine Grimasse.

Kim sah ihn verwirrt an, zog es aber vor zu schweigen.

»Zu welcher Einheit gehörst du?«, fuhr der Steppenreiter fort.

»Einheit?«

Das Gesicht des blonden Jungen verfinsterte sich. »Was ist los mit dir, Kerl?«, fragte er. »Bist du blöde oder willst du mich auf den Arm nehmen?«

»Lass ihn, Kai.« Ein zweiter Steppenreiter erschien neben dem ersten. Er war keinen Tag älter als dieser, aber ein gutes Stück größer. Trotz des spöttischen Tons in seiner Stimme blickten seine Augen gutmütig auf Kim herab. »Vielleicht ist er nur verwirrt.«

»Vielleicht hat er ja einen Schlag auf den Kopf bekommen«, fügte Kai hämisch hinzu. »Wo kommst du her ... Kim?«

Die Art, wie Kai seinen Namen betonte, gefiel Kim ganz und gar nicht. Aber der junge Steppenreiter hatte ihn auch auf eine Idee gebracht. Er starrte ihn einen Augenblick lang nur verständnislos an, dann zuckte er mit den Schultern und sagte schleppend: »Ich ... erinnere mich nicht.«

Kai schüttelte seufzend den Kopf. »Na, das kann ja heiter werden. Kannst du wenigstens reiten oder hast du auch vergessen, wie es geht?«

Statt zu antworten stand Kim auf und ging zu seinem Pferd. Dabei sah er sich verstohlen um. Zu Kai und dem zweiten Steppenreiter hatten sich noch drei weitere Gestalten gesellt. Sie trugen nicht die weißen Umhänge Caivallons, aber alle hatten eines gemeinsam: Sie waren sehr jung.

Kim griff nach dem Sattel, schwang sich hinauf und tätschelte beruhigend den Hals des Pferdes, als der Hengst nervös zu tänzeln begann.

»Ein prachtvolles Tier«, sagte Kai anerkennend. »Woher hast du es?«

Kim sah ihn nur an und Kai zog eine Grimasse und sagte: »Ach ja, richtig. Du erinnerst dich nicht.« Er trat zurück und wandte sich mit erhobener Stimme an die anderen: »Auf die Pferde! Wir haben noch einen langen Weg vor uns!«

Sie passierten den Wald, in dem Kim die toten Elfen gefunden hatte und in Gefangenschaft geraten war. Er machte keine entsprechende Bemerkung und sagte auch sonst nichts, aber er konnte nicht verhindern, dass sein Blick über den Waldrand glitt. Er lag noch immer so still und undurchdringlich da wie vorhin, aber Kim fragte sich jetzt nicht mehr, welche Gefahren oder auch Wunder sich in den Schatten verbergen mochten. Vielmehr beschlich ihn das unheimliche Gefühl, an einer gewaltigen Gruft vorbeizureiten.

Er hatte seinen Irrtum mittlerweile endgültig begriffen. Seit er Turocks Wald verlassen hatte, hatte er stets geglaubt, irgendetwas zu spüren, eine unterschwellige Gefahr vielleicht oder eine Bedrohung.

Das genaue Gegenteil war der Fall.

Er hatte nichts gespürt, er hatte etwas vermisst. Es war stets die Magie gewesen, die dieses Land zu etwas Besonderem gemacht hatte. Die eigenartige Bedrückung, die er empfand, war die Abwesenheit dieses Zaubers.

Seine Gefühle mussten sich wohl ziemlich deutlich auf seinem Gesicht widerspiegeln, denn als er sich schließlich vom Anblick des Waldes losriss und den Kopf drehte, begegnete er Kais Blick und er las in den Augen des jungen Steppenreiters dasselbe Misstrauen, das er in der vergangenen Nacht auf den Gesichtern der Männer im Gasthaus gesehen hatte. Er war längst nicht mehr sicher, ob er wirklich gerettet oder nicht vielmehr vom Regen in die Traufe geraten war.

Kais Blicke begannen ihm immer unbehaglicher zu werden. Eigentlich nur um überhaupt etwas zu sagen, wandte er sich im Sattel um, sah einen Moment zu dem brennenden Dorf zurück und fragte: »Wo kommt ihr überhaupt her? Ich dachte, das Heer wäre weitergezogen.«

»Ist es auch«, antwortete Kai. »Glück für dich, dass wir zurückgeschickt wurden um nach Verfolgern Ausschau zu halten.«

»Habt ihr sie gefunden?«

»Wenn wir das nicht hätten, dann würdest du jetzt nicht neben mir sitzen und eine so dumme Frage stellen können«, antwortete Kai grob. Er schüttelte den Kopf. »Diese alten Tölpel lernen es nie.«

»Wie meinst du das?«, fragte Kim. Im nächsten Moment hätte er sich am liebsten selbst auf die Zunge gebissen, denn das Misstrauen in Kais Augen verstärkte sich.

»Weil sie immer auf dieselbe Weise vorgehen«, antwortete der zweite Steppenreiter, dessen Namen Kim nicht kannte. Er schüttelte lachend den Kopf. »Sie verstecken sich irgendwo im Gebüsch und versuchen uns auszuspionieren. Das haben sie schon immer so gemacht -«

»- und deshalb machen sie es auch jetzt so!«, fügten alle anderen im Chor hinzu. Danach brachen sie in grölendes Gelächter aus.

Nur Kim blieb ruhig. Er verstand den Witz nicht.

»Ihr kommt aus Caivallon?«, fragte er nach einer Weile.

»Wieso fragst du?«, wollte Kai wissen.

»Nur so«, antwortete Kim. »Ich war einmal dort.«

»In Caivallon?«, vergewisserte sich Kai und auch der zweite junge Steppenreiter blickte überrascht in seine Richtung. Kim hatte plötzlich das Gefühl, einen Fehler begangen zu haben.

»Es ist lange her«, fügte er hinzu. »Ich erinnere mich kaum noch.« Er lachte nervös. »Deswegen habe ich ja auch gefragt. Ich dachte, einer von euch könnte mir von Caivallon erzählen. Es war sehr schön dort... glaube ich.«

»War ist das richtige Wort«, sagte Kai. »Es muss zehn Jahre her sein, dass wir es niedergebrannt haben.«

»Das ... wusste ich nicht«, sagte Kim stockend. Er war vollkommen schockiert. Caivallon und niedergebrannt? Das war lächerlich! Er sprach mit zwei Steppenreitern! Caivallon war ihre Heimat!

»Du weißt wirklich eine Menge nicht«, sagte Kai nachdenklich. »Wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich glauben, dass du uns etwas vormachst.«

»Ich bin ... noch nicht lange dabei«, antwortete Kim und flehte, dass Kai nicht sofort fragte, wobei.

»Und wo warst du vorher?«, wollte Kai wissen.

»Im Osten«, antwortete Kim ausweichend. »Sehr weit im Osten. In der Nähe des Schattengebirges.«

»Das erklärt vieles«, sagte der zweite Steppenreiter. »Es heißt, dass dort seltsame Dinge vorgehen.«

»Was hast du dort erlebt?«, fragte Kai.

»Nichts, was wirklich von Bedeutung ist«, antwortete Kim. Er zog eine Grimasse und griff sich demonstrativ an den Kopf. »Lasst uns später darüber reden - bitte. Ich fühle mich nicht besonders.«

»Du kannst von Glück sagen, dass du noch lebst«, sagte Kai, aber der andere Steppenreiter sagte:

»Er hat Recht. Heute holen wir das Heer sowieso nicht mehr ein. Lasst uns eine Rast einlegen.«

»In diesem Wald?« Kai schüttelte den Kopf. »Das gefällt mir nicht.«

»Was soll schon passieren?«, fragte der Steppenreiter.

»Ich glaube auch, dass es dort drinnen nicht geheuer ist«, sagte Kim. »Ich habe einige tote Elfen gefunden, bevor ich überwältigt worden bin.«

»Elfen!« Kai zog eine Grimasse. »Ich dachte, dieses Ungeziefer wäre ausgerottet.«

Sie ritten noch eine gute Stunde weiter. In dieser Zeit näherten sie sich der Staubwolke, die Kim schon zuvor bemerkt hatte, und als es zu dämmern begann, glaubte er eine dunkle, formlose Masse an ihrem unteren Ende auszumachen. Wenn das das Heer war, dann war es kein Trupp von ein paar hundert Reitern, wie Kim bisher angenommen hatte, sondern eine gewaltige Armee, die wirklich nach Tausenden zählen musste, wenn nicht mehr.

»Wir rasten hier«, entschied Kai, als die Dämmerung immer rascher hereinbrach. »Dieser Ort gefällt mir nicht, aber es ist immer noch besser als bei Dunkelheit weiterzureiten.«

Kim hütete sich, nach dem Warum dieses Befehles zu fragen. Während der letzten Stunde war er immer schweigsamer geworden und Kai und die vier anderen hatten auch keine weiteren Fragen gestellt. Das allein war schon wieder ein neues Rätsel: Obwohl seine Geschichte streng genommen wenig glaubhaft klang, schienen die fünf Jungen ihn ganz selbstverständlich als einen der ihren akzeptiert zu haben. Ebenso selbstverständlich, wie ihn alle anderen bisher als Feind behandelt hatten. Dabei gab es eigentlich nichts, was er mit diesen Jungen gemeinsam hatte, abgesehen davon vielleicht, dass sie alle ungefähr im selben Alter waren.

Sie saßen ab. Kai und die anderen schlugen ein provisorisches Nachtlager auf, während Kim sich darauf herausredete, noch immer Kopfschmerzen zu haben, und sich am Waldrand niederließ.

Es wurde rasch dunkel. Seine neuen Begleiter entzündeten kein Feuer, sondern zogen trockenes Brot und kaltes Dörrfleisch aus ihren Satteltaschen, das sie mit ein paar Schlucken Wasser verspeisten.

Kim wartete darauf, dass es richtig dunkel wurde. Gegen seine Erwartung stellte Kai keine Wache auf, sondern legte sich ebenso wie alle anderen zum Schlafen hin. Kim würde eine Stunde verstreichen lassen und dann in aller Heimlichkeit verschwinden.

Es fiel ihm sehr schwer nicht einzuschlafen. Die Anstrengungen des zurückliegenden Tages forderten ihren Preis und natürlich verging die Zeit umso langsamer, je mehr er darauf wartete, dass sie verstrich.

Schließlich aber war er der Meinung, dass es genug sei. Neben ihm schnarchten Kai und die vier anderen um die Wette. Tiefer als jetzt würden sie nicht mehr schlafen.

Kim richtete sich lautlos auf und lauschte einen Moment mit angehaltenem Atem. Das Schnarchen der anderen hatte sich nicht verändert. Wenn man bedachte, dass die fünf Angehörige eines Heeres waren, das gerade eine ganze Ortschaft verwüstet hatten, dann hatten sie einen ziemlich guten Schlaf.

Er stand ganz auf, stieg mit einem vorsichtigen Schritt über den schlafenden Steppenreiter hinweg und versuchte das Gebüsch am Waldrand auseinander zu rücken ohne dabei ein verräterisches Geräusch zu verursachen. Er bedauerte es sehr, das Pferd zurücklassen zu müssen, aber das Risiko, quer durch das ganze Lager zu schleichen und den Hengst loszubinden, war einfach zu hoch.

Kim drang drei, vier Schritte weit in den Wald ein, blieb wieder stehen und lauschte. Er hörte nur das Hämmern seines Herzens. Der Wald war noch immer unheimlich still. Mehr denn je hatte er das Gefühl, sich in einer Gruft zu befinden, in der nicht nur nichts mehr lebte, sondern in der seine Gegenwart sogar störend war; schon fast so etwas wie ein Frevel.

»Darf ich fragen, was du hier suchst?«

Kim fuhr so erschrocken herum, dass er um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte. Kai war vollkommen lautlos hinter ihm aufgetaucht. Obwohl er kaum zwei Schritte von ihm entfernt war, konnte er ihn nur als hellen Schemen in der Dunkelheit erkennen.

»Wie?«, fragte Kim hilflos.

Kais Stimme wurde schärfer. »Was du hier tust, will ich wissen.«

»Was wird man schon vorhaben, wenn man im Dunklen allein ein paar Schritte in den Wald geht?«, fragte Kim. »Willst du mitkommen und zusehen?«

Kai machte eine ärgerliche Geste. »Dann beeil dich«, sagte er. »Wir müssen früh weiter. Ich möchte das Heer erreichen, bevor es aufbricht.«

Kim antwortete nur mit einem wortlosen Nicken darauf. Er ging noch ein paar Schritte tiefer in den Wald hinein, zählte in Gedanken bis zwanzig und ging dann zu Kai und den anderen zurück. Kai verlor kein Wort über den Zwischenfall, sah ihn aber mit unverhohlenem Misstrauen an, während Kim sich wieder auf dem Boden ausstreckte und nach seiner Decke griff. Einen Moment später ließ auch er sich wieder zurücksinken, schloss die Augen und schien in derselben Sekunde einzuschlafen.

Seine neuen Weggefährten weckten ihn am nächsten Morgen, lange bevor die Sonne aufging. Er fühlte sich, als hätte er überhaupt nicht geschlafen, und war so benommen, dass er im ersten Moment nicht einmal auf Kais Worte reagierte, sondern ihn nur verständnislos ansah.

Kai sagte noch etwas, in noch schärferem Ton, für Kims schlaftrunkenen Geist aber ebenso unverständlich, schüttelte dann ärgerlich den Kopf und stiefelte davon. Kim rieb sich benommen die Augen, gähnte und setzte sich dann auf. Kai und die anderen waren bereits dabei, die Pferde aufzuzäumen. Freundlicherweise hatten sie seinen schwarzen Hengst bereits gesattelt und auch die Fußfesseln waren schon gelöst.

Hinter ihm raschelte es ihm Gebüsch und für einen kurzen Moment lugte das haarige Gesicht des Pack zu ihm heraus. Das Wesen gestikulierte wild, gab aber nicht den geringsten Laut von sich, sondern verschwand nach einigen Sekunden wieder im Wald. Offensichtlich mochte der Pack seine neuen Freunde genauso wenig wie er.

Kim stand ganz auf, reckte sich ausgiebig und sah sich weiter verstohlen um. Die Jungen waren mit den Pferden fertig und begannen nun das Lager abzubauen. Sie sagten nicht viel, aber Kim entgingen auch nicht die ärgerlichen Blicke, die sie ihm immer wieder zuwarfen. Vermutlich nahmen sie es ihm übel, dass er faul dabeistand, während sie sich abmühten.

Er sah nach Süden. Am Horizont brannten zahlreiche Feuer. Sie waren dem Heer doch schon näher gekommen, als er gehofft hatte. Kim schätzte, dass sie allerhöchstens noch eine Stunde reiten mussten um es zu erreichen. Er ärgerte sich jetzt über sich selbst, dass er in der Nacht keinen zweiten Fluchtversuch unternommen hatte. Im Wald hätte er es nur mit Kai zu tun gehabt. Jetzt musste er gleich fünf misstrauischen Augenpaaren entkommen.

Aber es hatte keinen Zweck, über gemachte Fehler zu jammern.

Eine Bewegung bei den Pferden erweckte seine Aufmerksamkeit. Er sah hin und erkannte gerade noch eine haarige Gestalt mit langen pendelnden Armen, die blitzartig im Unterholz verschwand.

»Was war das?«, fragte Kai alarmiert. Seine Hand senkte sich auf das Schwert, das er am Gürtel trug. Er wirkte angespannt, als hätte er etwas gesehen, wäre aber nicht ganz sicher, was.

Kim zuckte nur mit den Schultern, bückte sich nach seiner Decke und rollte sie zusammen. Mit klopfendem Herzen, aber ohne äußere Hast, ging er zu seinem Pferd, befestigte die Decke hinter dem Sattel und stieg auf.

»Seid ihr so weit?«, fragte er.

Kai blickte ihn böse an. »Du hast einen komischen Humor«, sagte er. »Erst lässt du uns die ganze Arbeit machen und dann drängelst du auch noch.«

»Ich habe es eben eilig«, antwortete Kim. Und damit stieß er dem Hengst mit solcher Kraft die Absätze in die Flanken, dass das Tier mit einem erschrockenen Wiehern lospreschte.

»He!«, brüllte Kai. »Was -? Er haut ab! Hinterher!«

Die letzten Worte hatte er geschrien. Der zweite Steppenreiter und einer der anderen Jungen ließen sofort alles fallen, was sie in den Händen hatten, und rannten zu ihren Pferden. Kim erschrak, als er sah, mit welcher Schnelligkeit sie sich auf die Rücken der Tiere schwangen.

Und auf der anderen Seite zusammen mit den Sätteln wieder herunterfielen.

Kai brüllte vor Wut, schwang sich ebenfalls in den Sattel und sprengte los.

Er kam immerhin zwei Schritte weit, bevor er zusammen mit dem Sattel und der dazugehörigen Decke rückwärts vom Pferd rutschte und ziemlich unsanft im Gras landete.

Jetzt wusste Kim, was der Pack bei den Pferden gemacht hatte. Er hatte die Sattelriemen gelöst um ihm auf diese Weise einen gewissen Vorsprung zu verschaffen.

Und Kim gedachte ihn auszunutzen. Obwohl er in der fast vollkommenen Dunkelheit nur wenige Schritte weit sehen konnte, ritt er mit halsbrecherischer Geschwindigkeit weiter und überließ es den schärferen Sinnen des Pferdes einen sicheren Weg zu finden. Er musste das Tier auch kaum antreiben. Der Hengst griff ganz von selbst immer rascher aus und gewann sogar noch an Geschwindigkeit, obwohl das Gelände immer schwieriger wurde. Der Pack war außer ihm offensichtlich nicht der Einzige, der Kai und seine Freunde lieber von weitem sah.

Der Hengst sprengte einen Hang hinab und setzte mit einem gewaltigen Sprung über einen schmalen Bachlauf hinweg. Der Aufprall war so hart, dass Kim aus dem Sattel geworfen wurde und einen zweifachen Salto in der Luft schlug, ehe er reichlich unsanft im Gras landete.

Einige Sekunden lang blieb er mit geschlossenen Augen liegen und lauschte in sich hinein. Jeder einzelne Knochen im Leib tat ihm weh, aber er schien sich wenigstens nichts gebrochen zu haben.

Benommen setzte er auf und schüttelte den Kopf und neben ihm sagte eine dünne, piepsige Stimme: »Autsch! Das hat wehgetan, wie?«

Kim blinzelte und blickte sich erschrocken um. Er war allein. Das Gras, auf dem er gelandet war, war nicht einmal hoch genug um eine Katze darin zu verbergen. Wer also sprach da zu ihm?

»Du bist unhöflich«, fuhr die Stimme fort. »Ich habe mit dir geredet. Normalerweise antwortet man, wenn man etwas gefragt wird.«

Kim sah sich immer verwirrter um. Im Gras glitzerte der erste Morgentau, aber nirgendwo zeigte sich auch nur die Spur von Leben.

»Entschuldige bitte«, murmelte Kim. »Aber ich ... wer bist du?«

»Ist das bei euch so üblich, auf eine Frage mit einer Gegenfrage zu antworten?«, nörgelte die Stimme.

»Nein«, antwortete Kim. »Es ist nur ... ich kann dich nicht sehen.«

»Du sitzt auf mir, um genau zu sein.«

Kim sprang hoch und sah nach unten. Aber da war nichts. Nur feuchtes Gras. »Wer ... bist du?«, fragte er. Dann fügte er - obwohl er sich dabei selbst ein bisschen komisch vorkam - hinzu: »Bist du ... das Gras?«

Es war eine alberne Frage und die Antwort fiel auch entsprechend aus: »Das Gras? Willst du mich auf den Arm nehmen, Kerl? Bin ich grün im Gesicht?«

»Natürlich nicht«, antwortete Kim hastig. »Aber wenn ich ehrlich sein soll, weiß ich es nicht. Wer bist du?«

»Du bist wirklich der begriffstutzigste Langlebige, der mir jemals untergekommen ist«, seufzte die Stimme. »Du trampelst gerade auf mir herum, wenn du es genau wissen willst. Ich bin der Tau.«

»Der Tau?!«

»Der Tau.« Die Stimme seufzte wieder. »Hast du auch was an den Ohren?«

»Tau«, murmelte Kim. Sein Blick tastete verstört über die Millionen glitzernder Tautröpfchen im Gras.

»Offensichtlich stottert er auch noch«, stellte die Stimme fest. »Nein, das ... das ... das stimmt nicht«, stotterte Kim. »Ich war nur ... nur so überrascht, das ist alles. Ich habe so etwas wie dich noch nie gesehen, weißt du.«

»Du hast noch nie Tau gesehen?«

»Doch, sicher, natürlich!«, sagte Kim hastig. »Es ist nur ...«

»Ja?«

»Ach, vergiss es«, sagte Kim. Er massierte sich seinen schmerzenden Rücken und humpelte zu seinem Pferd, das nur noch ein paar Schritte weitergelaufen und dann stehen geblieben war. »Und entschuldige mich bitte. Ich muss weiter.«

»Weiter, so, so«, sagte der Tau. »Willst du dich mit den anderen treffen?«

Kim blieb stehen. »Welchen anderen?«

»Woher soll ich das wissen?«, nörgelte der Tau. »Du kannst es dir aussuchen: Die drei, vier, die auf der anderen Seite des Hügels warten, oder die beiden, die um den Bach herumgeritten sind und jetzt aus der anderen Richtung herankommen.« Kim sah sich erschrocken um. Die Dämmerung hatte begonnen den Horizont im Osten grau zu färben, aber das Licht reichte noch lange nicht aus, weiter als ein paar Schritte zu sehen.

»Lass mich raten«, fuhr die Stimme des Taus fort. Sie klang jetzt unüberhörbar spöttisch. »Die fünf sind nicht unbedingt deine Freunde.«

»Das könnte man so sagen«, antwortete Kim. »Wie kommst du darauf?«

»Ich könnte dir verraten, was sie mit dir vorhaben, wenn sie dich zu fassen bekommen«, antwortete der Tau. »Aber ich glaube nicht, dass du das wirklich hören willst.«

»Woher weißt du das?«, wunderte sich Kim.

»Na, woher werde ich das wohl wissen?!«, fauchte der Tau. »Diese Tölpel trampeln genauso auf mir herum wie du. Wie alle, nebenbei bemerkt.«

»Ach so«, sagte Kim, machte einen weiteren Schritt auf das Pferd zu und blieb dann wie angewurzelt wieder stehen.

»Moment mal!«, murmelte er. »Soll das heißen, dass du ... dass du alle Menschen überall belauschen kannst? In welcher Entfernung?«

»Entfernung? Ich bin überall.«

»Oh«, sagte Kim.

»Oh - was?« Der Tau lachte spöttisch. »Also, ich nehme an, du willst die anderen treffen. Sie sind nämlich gleich da.«

»Lieber nicht«, antwortete Kim. »Du kannst mir nicht zufällig ein gutes Versteck verraten?«

»Natürlich«, antwortete der Tau. »Was bekomme ich dafür?«

»Bekommen?«

»Du willst etwas von mir«, sagte der Tau. »Dafür steht mir doch eine gewisse Gegenleistung zu, oder?«

Kim sah hoch. Wahrscheinlich war es nur seine eigene Nervosität, aber für einen Moment glaubte er tatsächlich bereits das Geräusch eisenbeschlagener Hufe auf dem nassen Gras zu hören. »Können wir das vielleicht später besprechen?«, fragte er. »Ich meine ... es könnte sonst sein, dass dein Angebot nicht mehr von besonderem Wert für mich ist, weißt du?«

»Reite einfach weiter geradeaus«, sagte der Tau. »Nach einer Weile kommt ein Waldstück. Es gibt eine Höhle, nur ein paar Schritte vom Waldrand entfernt. Sie gehen nicht dort hinein. Sie glauben, dass ein Skull darin wohnt.«

Kim ersparte sich die Frage, was ein Skull war. Wenn Kai und seine vier Begleiter sich davor fürchteten, einem solchen Wesen zu begegnen, dann wollte er gar nicht so genau wissen, worum es sich handelte.

»Also gut«, sagte er. »Wo ist diese Höhle?«

»Was ist mit der Gegenleistung?«, fragte der Tau.

Kim wollte antworten, aber in diesem Moment hörte er tatsächlich ein Geräusch. »Du bekommst sie«, sagte er hastig. »Was immer du auch verlangst.«

»Den Tag«, antwortete der Tau.

»Den ... Tag?« Kim verstand nicht, was die körperlose Stimme meinte. Aber die Geräusche, die durch die Dunkelheit zu ihm drangen, wurden immer lauter. Jetzt war nicht die Zeit zum Diskutieren. »Meinetwegen.«

»Reite einfach den Bach entlang«, sagte der Tau. »An der großen Eiche biegst du nach Westen ab. Du kannst die Höhle nicht verfehlen. Der Eingang liegt zwischen zwei Felsen am Waldrand.«

»Weiter am Bach entlang?« Aber genau von dort kamen die Geräusche der sich nähernden Reiter!

»Ich lenke sie ab«, erklärte der Tau. »Denk an dein Versprechen.«

Kim schwang sich in den Sattel, drehte das Pferd in die angegebene Richtung und ritt los. Das Geräusch der Hufschläge wurde jetzt schnell lauter, aber plötzlich hörte er einen Schrei, dann das erschrockene Wiehern eines Pferdes und mehrere Schreie. Nur einen Augenblick später sah er die beiden Jungen, die er bisher nur gehört hatte. Der eine lag auf dem Rücken im Gras, hatte beide Hände schützend über das Gesicht gehoben und versuchte verzweifelt nicht von den trampelnden Hufen des Pferdes getroffen zu werden, das ihn abgeworfen hatte und sich wie toll gebärdete. Das zweite Tier war vollends durchgegangen und schleifte seinen Reiter hinter sich her.

Kim sprengte ohne anzuhalten weiter, erreichte nach wenigen Augenblicken den Baum, von dem der Tau gesprochen hatte, und wandte sich nach Westen. Kaum eine Minute später tauchte der Waldrand vor ihm auf und gleich danach entdeckte er die beiden Felsen. Er beugte sich tiefer über den Hals des Pferdes und jagte in gestrecktem Galopp in die Höhle hinein. Dumpfe Luft umgab ihn und der Lärm der hämmernden Pferdehufe klang auf unheimliche Weise verzerrt.

Er ritt noch ein Stück weiter, glitt dann aus dem Sattel und lauschte mit angehaltenem Atem. Von draußen drangen Lärm und wütende Stimmen herein.

Das Pferd schnaubte nervös und begann dann unmutig mit den Hufen am Boden zu scharren. Der Laut wurde als verändertes, vielfaches Echos zurückgeworfen, aber Kim hatte plötzlich das Gefühl, dass noch etwas Neues hinzugekommen war. Etwas wie ein schweres, rasselndes Atmen. Vielleicht das Schaben von Schuppen auf Stein oder ein Geräusch, wie es gewaltige Krallen verursachen mochten, die über harten Fels schrammten. Er verscheuchte den Gedanken. Es war bestimmt nur Einbildung.

Die zornigen Stimmen draußen jedenfalls kamen näher. »Er muss hier irgendwo sein!«, rief Kai. »Verdammt noch mal! Sucht ihn!«

»Aber er ist verschwunden!«, antwortete eine andere Stimme. »Ich schwöre, er war gerade noch da!«

Kims Herz schlug schneller, als die Stimmen näher kamen. Einen Augenblick später sah er schattenhafte Bewegungen in der Dunkelheit jenseits des Höhleneingangs.

»Er kann doch nicht vom Erdboden verschwunden sein!«, fuhr die Stimme des zweiten Steppenreiters fort. »Hier sind überhaupt keine Spuren!«

»Aber ich habe ihn doch gerade noch gesehen!«, sagte eine andere Stimme.

Kim fuhr erschrocken zusammen, als einer der verschwommenen Schemen draußen die Hand hob und direkt zu ihm hereindeutete. »Und wenn er dort hineingeritten ist?«

»Dann müssten wir seine Spuren sehen«, antwortete Kai. »Außerdem ist das eine Skull-Höhle. So verrückt kann nicht einmal er sein.«

»Und wenn er es war, dann ist er jetzt schon tot«, fügte die andere Stimme hinzu. »Wenn er Glück hat...«

»Kommt«, sagte Kai. »Vielleicht ist er doch auf der anderen Seite des Hügels. Wir kriegen ihn schon. Und dann werden wir seinem Gedächtnis ein wenig auf die Sprünge helfen, das garantiere ich euch.«

Die Stimmen und Geräusche entfernten sich. Aber es wurde nicht still. Hinter ihm waren noch immer diese unheimlichen Laute, von denen er nicht wusste, was sie bedeuteten, denen seine Fantasie aber alle möglichen erschreckenden Bedeutungen beimaß. Er brauchte sehr viel mehr Mut, als ihm selbst lieb war, um sich herumzudrehen und wieder in die Dunkelheit zu blicken.

Kim erschrak zutiefst. Das Pferd stand nur einen Schritt hinter ihm und allein sein Anblick ließ Kims Herz noch schneller schlagen. Jeder Muskel des Tieres war angespannt. Seine Ohren waren angstvoll zurückgelegt und es hatte die Augen so weit aufgerissen, dass man fast nur noch das Weiße sehen konnte. Die Dunkelheit dahinter war so vollkommen, dass das schwarze Fell des Tieres regelrecht damit zu verschmelzen schien. Und trotzdem bildete er sich für einen Moment ein, eine Bewegung in dieser Dunkelheit zu erkennen, etwas wie das Kriechen eines mächtigen, formlosen Schattens ...

Kim schüttelte den Gedanken mit aller Mühe ab, ergriff die Zügel des Pferdes und führte das Tier rückwärts gehend weit genug zurück, bis er es herumdrehen konnte. Das Tier zitterte am ganzen Leib. Es stank regelrecht nach Angst.

Auch Kim zitterte spürbar, als er endlich den Ausgang erreichte. Am liebsten hätte er sich sofort in den Sattel geschwungen um so schnell und so weit davonzupreschen, wie es nur ging. Stattdessen blieb er jedoch noch einen Moment unter dem Höhleneingang stehen und ließ seinen Blick über das Gras schweifen. Er sah etwas höchst Erstaunliches: Die Spuren Kais und der beiden anderen waren im taufeuchten Gras deutlich zu sehen. Sie hatten sich der Höhle bis auf vielleicht zehn Meter genähert. Jenseits dieser imaginären Grenze jedoch war das Gras unberührt. Der Tau glitzerte wie Millionen winziger scharf geschliffener Glassplitter. Kims eigenes Pferd hatte nicht die geringste Spur im Gras hinterlassen.

Er machte zwei weitere Schritte aus der Höhle hinaus, blieb noch einmal stehen und lauschte. Von Kai und den anderen war nichts mehr zu hören. Nur aus der Höhle hinter ihm drangen weiter diese unheimlichen Laute.

»Du hattest tatsächlich Recht, Tau«, sagte er. »Sie haben sich nicht getraut, in die Höhle zu gehen, weil sie sich vor diesem ... Skull gefürchtet haben.« Er stieg in den Sattel. Hinter ihm scharrte etwas. Es klang wie ein Schwert, das über Stein schrammte. »Was ist überhaupt ein Skull?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete der Tau. »Ich kann nicht in die Höhle sehen.«

Natürlich nicht, dachte Kim. Es war eine dumme Frage gewesen. Der Boden dort drinnen war staubtrocken und das vermutlich seit einer Million Jahre.

»Aber du solltest dich ein wenig beeilen«, fuhr die körperlose Stimme fort. »Ich meine nur: Falls du nicht unbedingt Wert darauf legst, es selbst herauszufinden.«

»Wie bitte?!«

Das Scharren und Kratzen kam näher und Kim konnte regelrecht spüren, wie sich hinter ihm etwas Riesiges, unvorstellbar Gefährliches zum Sprung spannte. Eine halbe Sekunde lang war er vor Schrecken so gelähmt, dass er keinen klaren Gedanken fassen konnte.

Es war sein Pferd, das sie beide rettete. Das Tier schrie in Panik auf, machte einen Satz und sprengte so schnell los, dass Kim sich nur noch ein paar Augenblicke im Sattel halten konnte, ehe er den Halt verlor und zum zweiten Mal an diesem Morgen reichlich unsanft im Gras landete.

»Steigst du eigentlich immer so vom Pferd?«, erkundigte sich der Tau.

»Bist du vollkommen wahnsinnig?«, keuchte Kim. »Du hast gesagt -«

»- dass sie glauben, dass ein Skull in der Höhle lebt«, fiel ihm der Tau ins Wort. »Und das stimmt ja auch, oder? Sie hatten solche Angst, dass sie es nicht gewagt haben, die Höhle zu betreten.«

»Ja, weil in der Höhle auch wirklich ein Skull ist!«, keuchte Kim.

»Ich habe niemals behauptet, dass keiner da wäre«, sagte der Tau. »Ich habe lediglich gesagt, dass sie Angst haben, dass einer da sein könnte.«

»Du solltest Politiker werden«, maulte Kim, während er umständlich aufstand. Das Pferd war ein paar Schritte weitergelaufen und wirkte noch immer sehr nervös. Kim näherte sich ihm nur sehr vorsichtig um es nicht zu erschrecken.

»Auf jeden Fall habe ich Wort gehalten«, behauptete der Tau. »Jetzt bist du dran.«

»Was meinst du damit?«, fragte Kim.

»Du hast mir den Tag versprochen.«

»Den Tag.« Kim hatte das Pferd erreicht und stieg in den Sattel. »Also, um ehrlich zu sein, ich ... ich habe gar nicht richtig verstanden, was du gemeint hast.«

»Der Tag«, beharrte der Tau. »Ich höre immer, wie sie davon reden. Von den warmen Mittagsstunden. Den Sonnenuntergängen am Abend. Dem Flüstern des Windes in einem Kornfeld an einem Sommernachmittag. Der -«

»Ja, ich hab's kapiert«, sagte Kim. Er schwieg einen Moment, ehe er fortfuhr: »Es gibt da nur ein Problem, weißt du?«

»Wieso? Ich habe meinen Teil des Abmachung gehalten und jetzt -«

»Es geht nicht«, sagte Kim.

»Was soll das heißen?« Die körperlose Stimme klang scharf.

»Es ist meine Schuld«, gestand Kim. »Ich fürchte, ich habe nicht richtig darüber nachgedacht. Was du dir wünscht, ist unmöglich.«

»Wieso?«

»Weil der Morgentau verschwindet, wenn die Sonne aufgeht«, antwortete Kim. »So ist es nun einmal. Ich kann es dir erklären. Tau entsteht, wenn sich die Luftfeuchtigkeit -«

»Deine Erklärungen interessieren mich nicht!«, unterbrach ihm der Tau, »ich weiß, wo ich herkomme. Und ich weiß, dass ich bald sterben muss. Du hast gut reden! Du lebst ganze Tage, vielleicht sogar Wochen! Ich darf nur eine halbe Stunde existieren! Das ist nicht gerecht!«

»Aber es ist nun einmal so«, antwortete Kim. »Es tut mir ja Leid, aber ich kann es nicht ändern!«

»Dass ich niemals den Tag sehen werde? Das ist nicht gerecht! Du weiß ja nicht, wie das ist, wenn man immer nur im Zwielicht existiert. Ich sehe den Morgen, aber immer, wenn das Leben gerade richtig beginnt, dann ist es für mich schon zu Ende.«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Kim leise. »Uns Menschen ergeht es genauso.«

»Euch? Aber ihr lebt so lange!«

»Das spielt keine Rolle, glaub mir«, antwortete Kim traurig. »Es macht keinen Unterschied, ob du eine Stunde lebst, einen Tag oder hundert Jahre. Wenn es zu Ende geht, dann ist das Leben immer zu kurz gewesen.«

»Du lügst«, antwortete der Tau. »Du hattest nie vor, dein Wort zu halten. Du bist genau wie alle anderen.«

»Das ist nicht wahr!«, protestierte Kim. »Ich wollte dich nicht belügen, das musst du mir glauben.«

Aber er bekam keine Antwort mehr. Kim rief noch zwei- oder dreimal nach dem Tau, doch es blieb still.

Erst nachdem die Sonne ganz aufgegangen war, ritt er weiter. Sein geheimnisvoller Helfer hatte sich nicht mehr gemeldet, obwohl Kim noch mehrmals nach ihm gerufen und ihm versichert hatte, dass es nicht seine Absicht gewesen war, ihn zu betrügen. Selbst der Pack hatte sich nicht mehr gezeigt. Kim fühlte sich sehr allein.

Er war nach wie vor unschlüssig, wohin er sich wenden sollte. Je weiter er sich Gorywynn und dem ihm vertrauten Teil Märchenmonds näherte, desto bestürzender schienen die Veränderungen zu sein, die mit dieser Welt und vor allem ihren Bewohnern vor sich gegangen waren. Er mußte endlich jemanden finden, der ihm sagen konnte, was hier eigentlich passiert war!

Wenigstens sein treues Pferd war ihm geblieben. Nachdem die Sonne vollends aufgegangen war und mit ihren wärmenden Strahlen die letzten Schatten der Nacht vertrieben hatte, schwang er sich in den Sattel und ritt in westlicher Richtung los. Er kam jetzt nicht mehr so schnell voran wie in den vergangenen Tagen, denn er vermied es nach Möglichkeit, über offene Flächen zu reiten oder in die Nähe menschlicher Ansiedlungen zu kommen - was natürlich für sich genommen ziemlich absurd war: Er konnte kaum damit rechnen von jemandem Aufklärung über die erschreckende Veränderung zu erhalten, wenn er gleichzeitig jedem menschlichen Wesen aus dem Weg ging, und ...

Der Fehler in diesem Gedanken kam ihm mit solcher Plötzlichkeit zum Bewusstsein, dass Kim sein Pferd mitten in der Bewegung verhielt und geschlagene zehn Sekunden lang fassungslos ins Leere starrte.

Er war sehr wohl in der Lage, das Geheimnis zu lüften ohne mit einem Menschen zu sprechen. Schließlich waren Menschen nicht die einzigen Bewohner dieser Welt, die des Redens mächtig waren. Es gab ganz im Gegenteil zahllose andere Geschöpfe, mit denen er reden konnte. Er musste sie nur finden...

Das war allerdings leichter gesagt als getan. Er war jetzt seit guten zwei oder drei Stunden unterwegs ohne auch nur einem einzigen lebenden Wesen begegnet zu sein. Und allein bei dem Gedanken noch einmal in diesen unheimlichen, toten Wald zu gehen, kroch ihm schon wieder ein eisiger Schauer über den Rücken.

Als es Mittag wurde, kam der Pack zurück. Das kleine Wesen tauchte wie üblich wie aus dem Nichts mitten auf der Straße auf, legte einen Leinenbeutel auf den Boden und zog sich dann ein paar Schritte weit zurück, ohne allerdings wieder ganz zu verschwinden. Kim war kein bisschen überrascht, als er aus dem Sattel stieg und feststellte, dass der Beutel frisches Obst und eine Hand voll Beeren enthielt. Er verzehrte beides mit Heißhunger, ließ aber genug übrig, damit sich auch der Pack satt essen konnte. Allerdings war er umsichtig genug, dem bissigen Knirps seinen Anteil zwar hinzuschieben, seine Finger aber nicht in die Reichweite des Pack zu bringen.

»Es ist wirklich zu schade, dass du nicht reden kannst«, sagte er, während er dem Pack beim Essen zusah. »Alles wäre so einfach, wenn du mir nur ein paar Fragen beantworten könntest.«

Der Pack hörte auf, auf einer Birne herumzukauen, und starrte Kim aus seinen hervorstehenden Augen an. Birnensaft lief aus seinen Mundwinkeln und tropfte auf seine Brust, wo er eine glitzerne Spur in dem struppigen Fell hinterließ.

»Wenn ich wenigstens wüsste, ob du mich verstehst«, sagte Kim.

Der Pack legte den Kopf auf die linke Seite und blinzelte.

»Du ... verstehst, was ich sage?«, fragte Kim zögernd.

Der Pack legte den Kopf auf die andere Seite. Er blinzelte wieder.

»Du verstehst mich«, sagte Kim. Plötzlich war er sehr aufgeregt. Seine Gedanken überschlugen sich schier. Er war fast sicher, dass der kleine Kerl ihn wirklich verstand. Außerdem: Was hatte er zu verlieren?

Trotzdem überlegte er sich seine nächsten Worte sehr genau, ehe er fortfuhr. »Pass auf, Pack«, sagte er. »Ich mache dir einen Vorschlag: Aus irgendeinem Grund scheinst du ja zu glauben, dass du mir etwas schuldig bist. Wenn du mich zu jemandem bringst, mit dem ich reden kann, dann sind wir quitt.«

Der Pack kaute ein einzelnes Mal und starrte ihn dann weiter an.

»Ich meine: Du brauchst danach nicht mehr bei mir zu bleiben«, fuhr Kim fort, »oder mir ständig etwas zu essen zu bringen. Du kannst wieder nach Hause gehen oder wohin du sonst willst. Ich will nur mit jemandem reden, der weiß, was hier los ist. Aber es darf kein Mensch sein, hast du das verstanden?«

Natürlich bekam er keine Antwort. Aber nach einigen weiteren Augenblicken schluckte der Pack den Bissen, den er im Mund hatte, mit sichtlicher Anstrengung hinunter, warf die angebissene Birne in hohem Bogen davon und stand auf. Er trippelte ein paar Schritte davon, blieb stehen um einen auffordernden Blick über die Schulter zurück in Kims Richtung zu werfen und schlurfte dann weiter. Eindeutiger ging es schon kaum noch.

»Also gut«, sagte Kim. »Wir sind im Geschäft.«

Er folgte dem Pack. Das Wesen schlurfte einige Zeit weiter die Straße hinab und bog dann nahezu im rechten Winkel davon ab - wie Kim voller Unbehagen bemerkte in direkter Richtung auf ein kleines Waldstück zu, das vielleicht eine halbe Meile entfernt war. Aber nun konnte er nicht mehr zurück. Die Gegenleistung, die er dem Pack für seine Hilfe versprochen hatte, war reichlich hoch. Es war gut möglich, dass er die nächsten Tage mit knurrendem Magen zubrachte. Wenn, dann sollte es wenigstens nicht umsonst gewesen sein.

Im Inneren des Waldes war es so dunkel und still, wie er erwartet hatte. Er musste nur ein paar Schritte weit sehen um zu spüren, dass dieser Wald ebenso ausgestorben war wie der, in dem er die toten Elfen gefunden hatte.

Kim blieb stehen und warf einen ärgerlichen Blick zum Waldrand zurück. Warum zum Teufel hatte der Pack ihn hierher geführt? Hier gab es absolut nichts und gar niemanden, mit dem er reden konnte! Nichts als Bäume und abgestorbenes Unterholz.

Und das größte Spinnennetz, das Kim jemals gesehen hatte.

Es war so gewaltig, dass Kim es nicht einmal als das wahrnahm, was es war, sondern die Gefahr erst begriff, als er im wahrsten Sinne des Wortes hineinstolperte. Plötzlich fand er sich in einem Gewirr fingerdicker, klebriger grauer Stränge verstrickt. Kim keuchte vor Schreck und Ekel, riss instinktiv die Hände in die Höhe und versuchte sich aus dem klebrigen Gespinst zu befreien, erreichte damit aber nicht mehr, als sich noch tiefer in das Gewirr einander überschneidender Fäden zu verwickeln.

Für einen Augenblick drohte er in Panik zu geraten. Er schrie laut auf, schlug um sich und riss und zerrte mit aller Gewalt an den dünnen Fäden. Sie erwiesen sich jedoch als nicht annähernd so zerbrechlich, wie sie aussahen. Es gelang ihm nicht einmal einen einzigen davon zu zerreißen. Dafür hinterließ die klebrige Flüssigkeit, mit der sie beschichtet waren, brennende rote Striemen auf seiner Haut und je mehr er sich wehrte, desto enger wickelten sich die Fäden um seine Glieder und seinen Körper. Nach kaum einer Minute hatte er sich so hoffnungslos in das Netz verstrickt, dass er nur noch den Kopf und den rechten Arm bewegen konnte.

Mit heftig hämmerndem Herzen sah er sich um.

Das Netz spannte sich zwischen zwei Bäumen, die mindestens zehn Meter auseinander standen, und es war wirklich perfekt getarnt. Die meisten Stränge verbargen sich zwischen Ästen und Unterholz und viele andere waren mit Moos oder Blättern getarnt. Es musste sehr alt sein, denn ein großer Teil war so staubig, dass er eher wie ein zerrissenes graues Segel aussah, und je länger Kim es betrachtete, desto mehr graue, staubverklebte Kokons entdeckte er darin; die Opfer, die die Besitzerin des Netzes eingesponnen hatte. Einige davon waren ziemlich groß, was Rückschlüsse auf die Größe besagter Besitzerin zuließ. Von der Spinne selbst war gottlob nichts zu sehen. Kim legte auch keinen besonderen Wert darauf, die Erbauerin dieses Kunstwerks kennen zu lernen. Vielleicht war sie ja auch gar nicht mehr da. So wie das Netz aussah, war es gut möglich, dass es schon vor langer Zeit aufgegeben worden war.

Das war vielleicht ein kleiner Trost, half ihm im Moment aber nicht viel weiter. Er musste sich befreien, wenn er nicht Gefahr laufen wollte jämmerlich zu verhungern oder zu verdursten. Er zerrte mit aller Gewalt an den Stricken, die sich um sein linkes Handgelenk gewickelt hatten. Es half nicht. Die Fäden waren so fest wie Drahtseile.

»Das hat keinen Zweck«, piepste ein dünnes Stimmchen. »Du tust dir nur selbst weh. Und außerdem könntest du Sie anlocken. Das wäre nicht gut.«

Kim verdrehte den Kopf, so weit er konnte. Er sah nirgendwo eine Bewegung, geschweige denn das Wesen, das zu ihm gesprochen hatte.

»Wer bist du?«, fragte er. »Wo bist du?«

»Genau neben dir«, piepste die Stimme.

Kim sah genauer hin, erblickte aber immer noch nichts - abgesehen von einem staubigen grauen Kokon in der Größe zweier nebeneinander gelegter Hände. »Bist du ... da drin?«, murmelte er stockend.

»Ich fürchte«, antwortete die Stimme. »Wenn auch wahrscheinlich nicht mehr sehr lange. Ich kriege nämlich kaum noch Luft. Könntest du vielleicht...?«

Kim streckte den rechten freien Arm aus. Er konnte den Kokon gerade mit den Fingerspitzen berühren. Die Spinnenseide fühlte sich unter seinen Fingern täuschend zerbrechlich an, aber als er mit den Fingernägeln daran kratzte, spürte er, dass sie in Wirklichkeit so widerstandsfähig wie Stahl war. Irgendetwas bewegte sich im Inneren des Kokons, das konnte er fühlen.

»Gut«, piepste die Stimme. »Mach weiter so.«

Weiter? dachte Kim verblüfft. Aber er tat doch gar nichts. Trotzdem ließ er die Fingerspitzen, wo sie waren. Die Bewegung im Inneren des Kokons schien stärker zu werden. Es vergingen noch einige Augenblicke, dann riss der obere Teil des Kokons plötzlich auf und ein schwacher, goldfarbener Schimmer drang heraus. Kim beobachtete verblüfft, wie die Spinnenseide regelrecht schmolz, als sie von dem goldenen Licht berührt wurde. Nach kaum einer Minute hatte sich das gesamte obere Drittel des Kokons aufgelöst und in der Öffnung erschien eine schlanke, kaum handgroße Gestalt mit silberfarbenem Haar und bunt schillernden Libellenflügeln.

»Du bist... eine Elfe!«, sagte Kim verblüfft.

»Ja, im Allgemeinen nennt man uns so«, antwortete der Winzling und schüttelte sich. Noch mehr goldenes Licht stob von seinen Flügeln hoch und Kim sah jetzt, dass es nicht wirklich Licht war, sondern ein feiner, goldschimmernder Staub. Überall, wo er die Spinnenseide berührte, löste sie sich in Windeseile auf.

»Aber ich dachte, ihr wärt alle tot!«, sagte Kim verblüfft.

»Beinahe wäre ich das auch gewesen«, antwortete die Elfe. »Wenn du nicht gekommen wärst ... vielen Dank auch noch einmal.«

»Aber was habe ich denn getan?«, fragte Kim.

»Du gibst mir Kraft«, antwortete die Elfe. Sie schüttelte sich wieder und ein weiterer Schwall golden leuchtender Staub senkte sich auf den Kokon und zersetzte die Spinnenseide. Die Elfe war jetzt beinahe frei.

»Das verstehe ich nicht«, sagte Kim.

»Jeder, der an uns glaubt, gibt uns Kraft«, belehrte ihn die Elfe, aber Kim schüttelte nur den Kopf.

»Das meine ich nicht«, sagte er. »Der Staub. Er löst ja das Netz auf!«

»Natürlich löst er das Netz auf«, antwortete die Elfe. »Wir sind Geschöpfe des Guten. Elfenstaub ist gut gegen jede Gefahr. Na ja ... gegen fast jede.«

»Und wie bist du überhaupt in dieses Netz geraten?«, fragte Kim.

»Nun ja...« Die Elfe druckste einen Moment herum. »Ich war anscheinend ... ein bisschen unaufmerksam. Aber Gott sei Dank bist du ja noch im richtigen Moment gekommen. Mein Name ist übrigens Twix, falls es dich interessiert, wem du das Leben gerettet hast.«

Die Elfe hatte sich mittlerweile vollkommen befreit. Jetzt reckte sie sich, bewegte die Flügel und machte ein paar Schritte auf der Stelle, wie um sich davon zu überzeugen, dass ihr Körper auch noch wirklich funktionierte.

»Vielleicht könntest du ja jetzt mich befreien«, schlug Kim vor. »Es ist nämlich nicht besonders bequem. Wenn du zufällig noch etwas von deinem Staub übrig hast...«

»Klar«, antwortete die Elfe. »Lass mich nur noch einen Moment - ach du heilige Sch ... !«

Die letzten dreieinhalb Worte hatte sie geschrien und dann war sie wie der Blitz verschwunden. Kim wollte ihr erbost nachrufen, aber in diesem Moment geschah etwas, was ihn die Elfe augenblicklich vergessen ließ.

Das Netz, in dem er gefangen war, begann zu zittern. Nicht hektisch und unregelmäßig, wie vorhin, als er versucht hatte, sich aus den schier unzerreißbaren Seilen zu befreien, sondern sacht, gleichmäßig und rhythmisch, als käme etwas herangelaufen, etwas mit ziemlich vielen Beinen ...

Kim drehte mit einem Ruck den Kopf und sein Herz machte einen jähen Satz bis in seinen Hals hinauf um dort mit zehnfacher Schnelligkeit weiterzuhämmern.

Die Spinne war nicht ganz so gigantisch, wie es angesichts des Netzes möglich gewesen wäre, aber sie war trotzdem riesig. Jedes ihrer Beine war länger als Kims Unterarm und der Körper, der mit feinem, weißem Fell bewachsen war, war mindestens so groß wie ein Fußball. Trotz ihrer enormen Größe turnte sie mit erstaunlicher Schnelligkeit und verblüffendem Geschick über das Netz heran.

»Nein!«, keuchte Kim in schierer Todesangst. »Verschwinde! Komm mir bloß nicht zu nahe!« Gleichzeitig ballte er die freie Hand zur Faust und hob den Arm.

Die Spinne verharrte.

Sie war nur noch einen guten Meter von Kim entfernt und somit gerade außerhalb seiner Reichweite. Der Blick ihrer sechs daumennagelgroßen, schwarzen Augen war vollkommen undeutbar, aber es kam Kim so vor, als taxiere sie abwechselnd ihn und seine drohend erhobene Faust.

»Komm mir bloß nicht zu nahe!«, sagte Kim mit zitternder Stimme. Er musste all seine Willenskraft aufbieten um die Spinne auch nur anzusehen. Er hatte keine übermäßig große Angst vor Spinnen und er gehörte auch ganz bestimmt nicht zu denen, die beim Anblick eines solchen Tieres schreiend davonliefen oder auf den nächsterreichbaren Tisch sprangen. Aber er hatte noch nie eine Spinne von solcher Größe gesehen!

»Warum nicht?«, fragte eine Stimme.

Für zwei oder drei Sekunden vergaß Kim sogar die Gefahr, in der er schwebte. Vollkommen fassungslos starrte er die weiße Riesenspinne an. »Wie?«, krächzte er.

»Ich habe gefragt: warum nicht«, wiederholte die Spinne.

Sie sprach tatsächlich! Kim hatte sich nicht getäuscht. Aber schließlich hatte er den Pack ja auch gebeten ihn zu jemandem zu bringen, mit dem er reden konnte. Und er hatte sogar ausdrücklich darauf bestanden, dass es kein Mensch war.

Trotzdem: Sobald er hier heraus war, würde er ein längeres Gespräch mit dem Pack führen müssen ...

»Ich war nur erschrocken«, antwortete er mit einiger Verspätung. »Du bist... nicht besonders hübsch, weißt du?«

»Das sagt man mir öfter«, antwortete die Spinne. Ihre Augen taxierten erneut Kims Faust. »Aber man gewöhnt sich an alles. Hör auf an meinem Netz herumzuzerren. Du machst es noch kaputt.«

»Dann mach mich los«, antwortete Kim. Allein bei dem Gedanken, dass das achtbeinige Ungeheuer ihn berühren könnte, drehte sich ihm schon der Magen um. Aber er hatte wohl gar keine andere Wahl. Seine eigenen Kräfte würden nie ausreichen die klebrigen Fäden zu zerreißen.

»Dich losmachen?«, fragte die Spinne. »Aber warum sollte ich so etwas tun?«

»Warum wohl? Weil ich aus eigener Kraft nicht loskomme, darum.«

»Das ist der Sinn meines Netzes«, antwortete die Spinne. »Wie soll ich dich fressen, wenn du so einfach davonlaufen kannst?«

»Fressen?!«

»Fressen, aussaugen, verputzen, verspeisen ... such dir ein Wort aus«, flötete die Spinne.

»Moment mal«, sagte Kim. »Du willst mich fressen?«

»Selbstverständlich«, antwortete die Spinne. Sie klang ein bisschen genervt.

»Aber das geht doch nicht!«, protestierte Kim.

»Wieso nicht? Was in mein Netz gerät, das fresse ich«, antwortete die Spinne. »Und du bist in meinem Netz, oder?«

»Aber ... aber das ist doch etwas anderes«, stammelte Kim. »Ich meine, ich ... ich bin ein Mensch.«

»Und?«

»Ich ... ich kann denken«, sagte Kim. »Und reden. Wir können uns unterhalten.«

»Ach, du meinst, man darf nur Beute fressen, die nicht sprechen kann?«

»Nein«, antwortete Kim. »Oder ...«

»Oder?« Die Spinne kam ein winziges Stückchen näher. Kim sah jetzt, dass unter ihrem Maul zwei winzige, nadelspitze Zähne herausschauten.

»Ich meine, man isst doch nichts, mit dem man sich gerade noch unterhalten hat!«, sagte Kim verzweifelt.

»Vielleicht hast du Recht«, sinnierte die Spinne. »Vielleicht sollten wir lieber aufhören zu reden.«

Sie sprang warnungslos vor, aber Kim reagierte trotzdem schnell genug. Seine Faust sauste herab und traf die Spinne mit solcher Wucht, dass sie ein gehöriges Stück zurückgeschleudert wurde und glatt aus dem Netz gefallen wäre, hätte sie nicht im letzten Moment einen glitzernden Faden abgeschossen, an dem sie sich festhielt.

»Aua!«, protestierte sie. »Das hat wehgetan!«

»Und es wird noch viel mehr wehtun, wenn du mir zu nahe kommst«, drohte Kim. Seine Gedanken rasten.

»Du bist ziemlich störrisch, wie?«, zischte die Spinne, während sie auf das Netz zurückkletterte und dann in eine sichere Position ein Stück über ihm turnte. »Dabei bin ich nicht einmal ganz sicher, ob ich dich wirklich fressen soll.«

»Ich bin viel zu groß für dich«, sagte Kim. Er zerrte wieder mit aller Kraft an den Seidenfäden, aber es gelang ihm nicht, sie auch nur zu lockern, geschweige denn zu zerreißen.

»Das stimmt«, sagte die Spinne. »Du bist groß. Du reichst für eine Woche. Vielleicht sogar für zwei.« Sie kroch wieder ein Stück näher, hielt aber sofort an, als Kim drohend die Faust ballte.

Sein Hieb hatte sie mit Sicherheit nicht verletzt, ihr aber anscheinend ziemlich wehgetan.

Kims Gedanken rasten noch immer. Er glaubte nicht, dass er sich das Ungeheuer auf Dauer vom Leib halten konnte, jedenfalls nicht so hilflos, wie er nun einmal war. Hätte er die Elfe doch nur einen winzigen Moment früher befreit!

»Hör mal«, sagte er. »Wir sind doch beide zivilisierte Wesen. Wir können doch miteinander reden!«

»Du hast doch selbst gesagt, dass sich das nicht gehört«, sagte die Spinne. »Man redet nicht mit etwas, was man frisst.«

»Man frisst nichts, mit dem man geredet hat«, antwortete Kim. »Das habe ich gesagt!«

»Haarspalterei«, antwortete die Spinne.

»Auf jeden Fall müssen wir eine Lösung finden«, beharrte Kim. »Ich meine: Es ist eine blöde Situation, oder? Ich komme hier nicht weg und du kommst nicht an mich heran.«

»Das sehe ich anders«, antwortete die Spinne. »Ich brauche nur zu warten. Ihr kommt nicht sehr lange ohne Essen und Trinken aus, stimmt's? Ich schon.«

»Und welchen Sinn soll das haben?«, fragte Kim. »Wenn ich verhungert bin, ist an mir nicht mehr viel dran.«

»Ich bin genügsam«, sagte die Spinne. Und wie um ihre Worte noch zu bekräftigen, knickte sie die Beine ein und machte es sich offensichtlich gemütlich. »Und ich habe Zeit.«

»Aber ich nicht!«, sagte Kim wütend. Er begann wieder mit aller Kraft an seinen Fesseln zu zerren, diesmal so nachhaltig, dass das gesamte Netz bebte.

»He!«, protestierte die Spinne. »Pass doch auf! Hast du überhaupt eine Ahnung, wie viel Arbeit es ist, so ein Netz zu weben?«

»Mach mich los!«, befahl Kim. »Auf der Stelle oder ich reiße dein wunderschönes Netz in tausend Stücke!«

»Na, da bin ich aber mal gespannt«, sagte die Spinne spöttisch. »Ich glaube, ich werde dich doch fressen. Später. Wenn du eingeschlafen bist. Oder wenn du -«

Es war ein Trick und er hätte um ein Haar sogar funktioniert. Während die Spinne sprach, hatte sie sich ganz langsam herumgedreht und plötzlich schoss ein dünner, seidig glänzender Faden aus ihrem Hinterleib und wickelte sich wie ein Lasso um sein freies Handgelenk.

Kim riss instinktiv den Arm zurück. Die Spinne kreischte erschrocken, als sie jäh den Halt verlor, flog in hohem Bogen davon und landete meterweit entfernt in einem Gebüsch.

»Kein Grund, gleich grob zu werden!«, keifte sie. »Es ist doch nicht persönlich gemeint!«

»Was? Dass du mich fressen willst?«

Das achtbeinige weiße Scheusal kam auf etwas wackeligen Beinen aus dem Gebüsch heraus und schüttelte sich. »Die Zeiten sind schlecht. Man muss nehmen, was man kriegt.«

»Mich kriegst du jedenfalls nicht«, sagte Kim.

»Das werden wir sehen.«

Diesmal kam der Angriff so überraschend, dass Kim ihn nur noch mit allerletzter Mühe abwehren konnte. Die Spinne verwandelte sich in einen wirbelnden Ball aus Beinen und weißem Fell, raste auf ihn zu und schlug einen blitzschnellen Haken, als Kim nach ihr trat. Er verfehlte sie, aber die Spinne stolperte in ihrer Hast über ihre eigenen Beine und landete ein zweites Mal ziemlich unsanft im Gebüsch. Sie war nicht besonders geschickt.

»He!«, rief Kim. »Komm schon raus.«

»Damit du mich wieder treten kannst?« Die Stimme drang nur gedämpft aus dem Gebüsch und diesmal verging deutlich mehr Zeit, ehe die Spinne zurückkam. Sie humpelte sichtbar. »Du bist gemein«, nörgelte sie. »Findest du es vielleicht fair, so auf mich loszugehen! Du bist schließlich zehnmal so groß wie ich!«

»Findest du es fair, mich fressen zu wollen?«

»Es tut bestimmt nicht weh«, sagte die Spinne. »Mein Gift wirkt ziemlich schnell.«

»Wie tröstlich.« Kim seufzte. »Wir müssen einen anderen Ausweg finden.«

»Warum?«

Statt zu antworten riss Kim wieder mit aller Kraft an den Fäden. Das Netz bebte und zitterte und die Spinne begann zornig mit einem ihrer vielen Beine auf den Boden zu trommeln. Hätte sie einen Kopf besessen, hätte sie ihn wahrscheinlich missbilligend geschüttelt.

»Wie viel Arbeit, sagtest du, steckt in diesem Netz?«, fragte Kim, während er immer heftiger an den Fäden riss und zerrte. »Zu viel!« fauchte die Spinne. »Also gut. Wenn du unbedingt Ärger haben willst...«

Kim war auf den nächsten Angriff vorbereitet, sodass es ihm nicht schwer fiel, die Spinne davonzuschleudern. Sie rappelte sich jedoch sofort wieder auf und stürzte sich auf ihn. Offensichtlich war sie entschlossen die Sache jetzt zu Ende zu bringen.

Kim versetzte ihr einen Hieb, der sie davonkugeln ließ, und zog blitzschnell den Kopf ein, als die Spinne einen Faden auf ihn abschoss. Er griff danach, zerrte mit aller Kraft daran und wurde mit einem Anblick belohnt, der vielleicht sogar komisch gewesen wäre, hätte er sich in der Situation befunden ihn zu genießen: Die Spinne knickte in den beiden vorderen Beinpaaren ein und wurde ein gutes Stück auf ihn zugezerrt, ehe sie endlich auf den Gedanken kam, ihren Faden loszulassen; leider außerhalb seiner Reichweite.

»Damit kommst du nicht durch!«, zeterte sie, während sie sich aufrichtete und benommen davonwackelte. »Ich lasse mir schon etwas einfallen! Warte nur ab.«

Und es war keine leere Drohung. Die Spinne wackelte eine Weile unsicher umher, hielt dann plötzlich an und drehte sich zu ihm herum. Ihre Augen funkelten tückisch. Plötzlich raffte sie einen Stein vom Boden auf und warf ihn in Kims Richtung. Er ging fehl, aber dem ersten Wurfgeschoss folgten ein zweites und drittes, die Kim schmerzhaft an Schulter und Handgelenk trafen. Er schrie vor Schmerz und Schreck auf und der Steinhagel wurde noch schlimmer.

Schließlich traf einer der gemeinen Wurfgeschosse seine Schläfe und Kim sackte benommen in seinen Fesseln zusammen. Die Spinne stieß ein triumphierendes Zischeln aus, hörte auf mit Steinen nach ihm zu werfen und wetzte auf ihren dünnen Beinen auf ihn zu. Kim trat schwächlich nach ihr, aber die Spinne wich seinem Fuß mit einer mühelosen Bewegung aus und kletterte an ihm empor. Ihre Giftzähne blitzten.

»Jetzt bist du dran!«, keifte sie. »Übrigens: Ich habe gelogen. Mein Gift wirkt sehr langsam!«

Als sie zubeißen wollte, brach das Unterholz hinter ihr auseinander und der Pack stürzte hervor. Er schwenkte einen armlangen Knüppel in der rechten und etwas Kleines, heftig Zappelndes in der linken Hand. Mit einem einzigen Satz war er heran, schwang seinen Knüppel und ließ ihn wuchtig auf den Leib der Spinne hinuntersausen. Die Spinne ächzte, fiel zu Boden und rappelte sich benommen wieder auf. Der Pack schlug ein zweites Mal zu, verfehlte die Spinne aber und das Tier kletterte hastig an seinem Netz empor.

Kims Kopf dröhnte noch immer wie eine Glocke. Er hatte Mühe klar zu sehen, geschweige denn wirklich zu verstehen, was vorging. Wie durch einen grauen, wattigen Nebel hindurch sah er, wie der Pack vor ihm einen grotesken Tanz aufzuführen schien. Mit dem Knüppel in seiner rechten Hand hielt er die heftig keifende Spinne auf Distanz, während er mit dem linken Arm schüttelnde Bewegungen machte. Kim begriff nicht, was er tat.

Aber nach einigen Augenblicken spürte er, wie sich seine Fesseln zu lockern begannen. Mit einem Male war auch sein linker Arm frei, dann lösten sich die Fäden auf, die seine Schultern und seinen Brustkorb fesselten, und er stürzte haltlos nach vorne. Der Pack fuhr fort wedelnde Bewegungen mit dem linken Arm zu machen und endlich sah Kim auch, was er in der Hand hielt.

Es war die Elfe. Der Pack schüttelte das kleine Geschöpf wie einen Pfefferstreuer hin und her und bei jeder Bewegung rieselte goldleuchtender Staub von seinen Flügeln. Wo er die Spinnenseide berührte, löste sie sich auf. Nach wenigen weiteren Augenblicken war Kim vollends frei.

Langsam richtete er sich auf, presste die Hand gegen die schmerzende Schläfe und taumelte ein paar Schritte davon, ehe er wieder stehen blieb und sich herumdrehte.

Die Spinne saß hoch oben in der Mitte ihres Netzes, schoss ab und zu einen Seidenfaden auf den Pack ab und zeterte und keifte, was das Zeug hielt. Aber sie wagte es nicht, dem Pack und seinem Knüppel - und vor allem dem goldenen Elfenstaub - nahe zu kommen.

Der Pack ließ die Elfe los. Twix flatterte schimpfend davon, flog aber keineswegs weg, wie Kim erwartet hätte, sondern umkreiste den Pack ein paar Mal, flog dann senkrecht in die Höhe - und begann das riesige Spinnennetz methodisch mit ihrem Staub zu berieseln!

»He!«, brüllte die Spinne. »Aufhören! Bist du wahnsinnig!?« Twix hörte nicht auf. Ganz im Gegenteil: Sie schoss immer schneller hin und her, bestäubte hier einen Faden, dort einen - und plötzlich fiel das gesamte, riesige Netz in sich zusammen und begrub seine Besitzerin unter sich. Sofort sprang der Pack vor und hob seinen Knüppel.

»Halt!«, sagte Kim scharf.

Der Pack erstarrte mitten in der Bewegung, drehte den Kopf und sah ihn verwirrt an. Kim war mit zwei, drei schnellen Schritten bei ihm, nahm ihm den Knüppel aus der Hand und bedeutete dem Pack mit einer Geste zurückzutreten.

In dem Haufen aus halb zerschmolzenen Spinnfäden vor ihm raschelte es und dann tauchte ein reichlich mitgenommener weißer Ball vor ihm auf.

»Das war nicht fair«, nörgelte die Spinne. »Drei gegen einen!«

»Zusammengenommen haben wir immer noch weniger Beine als du«, antwortete Kim. »Ich habe dir doch gesagt, dass wir eine andere Lösung finden müssen. Mich kann man nicht essen.«

»Jetzt sieh dir an, was ihr mit meinem Netz gemacht habt!«, beschwerte sich die Spinne. »Was soll ich jetzt tun? Ich werde elend verhungern ohne Netz!«

»Kaum«, antwortete Kim. »Wie war das? Du kannst wochenlang ohne Essen auskommen? Dann hast du ja Zeit genug, dir ein neues Netz zu bauen.«

»Pah!«, machte die Spinne.

»Und nimm noch einen guten Rat von mir an«, sagte Kim. »Versuche nicht irgendetwas zu essen, mit dem du dich vorher unterhalten hast.«

Twix landete auf seiner Schulter. »Und leg dich nicht mit Elfen an!«, piepste sie. »Das nächste Mal kommst du nicht so leicht davon!«

»Pah!«, sagte die Spinne noch einmal.

Kim grinste, ließ seinen Knüppel sinken und trat zwei Schritte zurück, ehe er sich zu dem Pack herumdrehte.

»Und jetzt zu dir«, sagte er. »Ich bin dir zwar dankbar, dass du mich gerettet hast, aber wir müssen an unserer Kommunikation arbeiten.«

»Ihr müsst vor allem an euren Manieren arbeiten!«, keifte die Spinne. »Man zerstört nicht das Netz anderer Leute!«

Kim setzte zu einer scharfen Antwort an, überlegte es sich dann aber anders und drehte sich betont ruhig noch einmal zu der Spinne herum. Das Tier hatte mittlerweile schon wieder einen einzelnen, langen Faden zu den Baumwipfeln hinaufgeschossen.

»Beantwortest du mir trotzdem eine Frage?«

»Klar«, sagte die Spinne feindselig. »So nett, wie du bist, kann ich dir keinen Wunsch abschlagen, das weißt du doch.«

Kim grinste. Er fand die achtbeinige weiße Kreatur noch immer alles andere als hübsch, aber schon lange nicht mehr so abstoßend wie am Anfang. Und im Grunde konnte er ihr ihr Verhalten nicht einmal übel nehmen. Sie tat nur, was ihre Natur ihr vorschrieb.

»Du hast gesagt, die Zeiten sind schlecht«, sagte er. »Wie hast du das gemeint?«

»Es gibt kaum noch was zu essen«, maulte die Spinne. »Ich mache seit Monaten kaum noch Beute.«

»Und was ist deine normale Beute?«, fragte Kim.

Die Spinne schwieg, aber Twix sagte: »Elfen.«

»Oh«, sagte Kim.

»Ja, oh«, giftete die Spinne. »Aber es gibt kaum noch welche. Seit die Magie erlischt, verschwinden sie.«

Kim wurde hellhörig. »Die Magie erlischt?«

»Die Magie erlischt, die Magie erlischt«, keifte die Spinne. »Hast du einen Sprachfehler? Natürlich erlischt die Magie. Wäre es anders, dann würdest du jetzt nicht dastehen und Sprüche klopfen, das kann ich dir sagen! Wenn ich noch meine ganze Kraft hätte, würden wir jetzt schon zusammen zu Mittag essen.«

»Erklär mir das«, bat Kim. »Die Magie erlischt? Wieso?«

»Wieso, wieso, wieso?! Weil dumme Tölpel wie du glauben, sie nicht mehr zu brauchen, darum! Und wo wärst du jetzt ohne Magie?« Sie blinzelte zu Twix hinauf, die grinsend mit den Flügeln schlug. Ein goldener Schimmer stob auf und berührte flüchtig den gerade gesponnen Faden. Er zerschmolz dicht über dem Boden und verschwand mit einem peitschenden Knall in den Baumwipfeln.

»Lustig«, grollte die Spinne. »Sehr, sehr lustig.«

»Twix!«, sagte Kim streng. Dann wandte er sich wieder an die Spinne. »Bitte entschuldige. Aber das ist jetzt wirklich wichtig. Auch für dich. Was geht hier vor?«

»Hab ich doch gesagt«, antwortete die Spinne, während sie Twix feindselig musterte. »Die Jungen kämpfen gegen die Alten. Mehr weiß ich auch nicht. Aber seit es begonnen hat, erlischt die Magie. Sie ist schon fast ganz verschwunden. Geh doch los und frag die Dummköpfe, die schuld daran sind.«

»Und wo finde ich sie?«

»Das weiß ich nicht«, behauptete die Spinne. Kim hatte das sichere Gefühl, dass das nicht die Wahrheit war, aber er spürte auch, dass er nicht mehr erfahren würde. Wenn er bedachte, was sie der Spinne angetan hatten, hatte er ohnehin schon viel mehr erfahren, als er eigentlich erwarten konnte.

Er sah der Spinne noch einige Augenblicke lang dabei zu, wie sie einen neuen Faden in die Baumwipfel hinaufschoss und mit geschickten Bewegungen daran emporzuklettern begann, dann drehte er sich herum und ging zu seinem Pferd zurück. Er traf weder an diesem noch an den beiden darauf folgenden Tagen auf Menschen. Twix, die Elfe, blieb weiter bei ihm - aus einem Grund, den er nicht ganz nachvollziehen konnte, glaubte sie anscheinend, dass seine Nähe ihr Kraft verlieh. Kim selbst glaubte nicht, dass das wirklich so war, aber er war ganz froh ein wenig Gesellschaft zu haben.

Sehr viele Antworten auf seine Fragen bekam er allerdings nicht, aber das hatte er auch nicht erwartet. Elfen waren dafür bekannt, drollige kleine Kerle zu sein - die manchmal zu ziemlich derbem Schabernack aufgelegt waren - aber sehr viel mehr auch nicht. Twix wusste nicht, was in diesem Land wirklich vorging, und sie wusste erst recht nichts über die Gründe dieser unheimlichen Veränderung. Und selbst die Worte der Spinne hatten das Rätsel eher noch vergrößert.

Auch der Pack blieb weiter bei ihm. Kim sah ihn tagsüber nur selten, doch sobald die Sonne unterging, erschien der Gnom pünktlich und brachte auch jedes Mal etwas zu essen mit; weshalb Kim sich auch hütete ihn noch einmal daran zu erinnern, dass er ihn ja eigentlich freigegeben hatte.

Auf seinem Weg nach Westen stieß er auf immer neue Spuren der Zerstörung und des Krieges, der Märchenmond offensichtlich heimsuchte. Sie waren nicht mehr so dramatisch wie das verheerte Dorf, in dessen Nähe er auf Kai und die beiden anderen getroffen war, aber auf ihre Art fast noch erschreckender. Zwei- oder dreimal fand er niedergebrannte Gehöfte und sehr viel öfter Bauernhöfe oder kleine Ortschaften, die von ihren Bewohnern offensichtlich in aller Hast verlassen worden waren.

Und schließlich, am Abend des vierten Tages, stieß er auf die Ruinen von Caivallon.

Er war gegen Mittag auf einen Fluss gestoßen, dessen Ufer er in westlicher Richtung folgte; der Richtung, von der er wenigstens hoffte, dass sie ihn nach Gorywynn führen würde. Das Flussufer war verlassen, aber er fand überall die Spuren von Menschen: kleine Fischerhütten, die von ihren Besitzern verlassen worden waren, aufgegebene Höfe und verwaiste Anlegestellen, an denen noch Boote im Wasser dümpelten.

Dann fand er die Stadt.

Im ersten Moment erkannte er die Festung der Steppenreiter nicht einmal. Es war wenig mehr als ein Schatten, der vor ihm am Flussufer auftauchte, und zuerst glaubte nur einen bewaldeten Hügel zu sehen, der sich inmitten der endlosen Steppe erhob. Doch je näher er kam, desto weniger hielt diese Illusion an. Was wie ein bizarr geformter Hügel aussah, das entpuppte sich bald als ein gigantisches Gewirr zerborstener Mauern und verkohlter Balken, das sich zu schier unvorstellbarer Höhe auftürmte.

Kim wurde langsamer, je mehr er er sich dem näherte, was einmal die stolze Festung der Steppenreiter gewesen war, und schließlich hielt er das Pferd an und stieg aus dem Sattel.

Er hatte gewusst, dass Caivallon zerstört war. Kai und die anderen hatten es ihm gesagt. Aber es war ein Unterschied, etwas zu hören oder es mit eigenen Augen zu sehen.

Wie oft war er hier gewesen? Wie viele glückliche Tage hatte er in den Mauern der gewaltigen Festung verbracht? Seine Augen füllten sich mit Tränen, ohne dass er es auch nur merkte. Caivallon war der Stolz Märchenmonds gewesen und seine Bewohner das Sinnbild von Tapferkeit und Stärke. Nichts, rein gar nichts, so hatte er immer geglaubt, vermochte dieser gewaltigen Festung und ihren wehrhaften Bewohnern gefährlich zu werden.

Nun lag sie in Trümmern.

Kim wagte es nicht, sich den Ruinen Caivallons weiter zu nähern, und so schlug er sein Nachtlager am Ufer des Flusses auf, obwohl er noch mehr als genug Tageslicht gehabt hätte um die Stadt zu erreichen.

Er war sehr niedergeschlagen. Twix, die seine Stimmung natürlich spürte, versuchte ihn nach Kräften aufzuheitern, aber Kim nahm die Späße der Elfe gar nicht zur Kenntnis und er registrierte auch kaum, wie der Pack kurz vor Einbruch der Dunkelheit kam und ihm etwas zu essen brachte.

Als es dunkel wurde, entzündete er ein Feuer und rollte sich unter seiner Decke zum Schlafen zusammen, aber es dauerte lange, sicherlich Stunden, bis er wirklich einschlief.

Tief in der Nacht wachte er wieder auf.

Albträume und eine quälende Unruhe hatten ihn geplagt, aber er spürte auch sofort, dass er nicht von selbst erwacht war. Etwas hatte ihn geweckt.

Aber was?

Kim richtete sich vorsichtig auf die Ellbogen auf und sah sich um. Es war fast unheimlich still. Das Feuer war heruntergebrannt und zu einem Häufchen dunkelroter Glut geworden, das kaum noch Licht und keine spürbare Wärme mehr abgab. Er sah nach links, dorthin, wo sich der Pack zum Schlafen zusammengerollt hatte. Der Kobold war verschwunden und auch von Twix war nichts mehr zu sehen. Das Gefühl jedoch, dass irgendetwas nicht stimmte, wurde immer stärker. Kim richtete sich ganz auf und lauschte einen Moment mit angehaltenem Atem und schließlich hörte er tatsächlich etwas: Eine Reihe gedämpfter, nicht genau zu deutender Laute, die aber äußerst beunruhigend wirkten. Er stand auf, bewegte sich ein paar Schritte in die Richtung, aus der die Geräusche kamen, und ging dann noch einmal zu seinem Lagerplatz zurück. Er nahm Turocks Bogen, den dazugehörigen Köcher und hängte sich beides über die Schulter, bevor er sich endgültig auf den Weg machte.

Die Geräusche wurden rasch lauter. Bald identifizierte er hastiges Hufgetrappel, aber auch zwei, vielleicht drei Stimmen. Sie lachten, aber es war kein besonders angenehmes Lachen, fand Kim. Noch vorsichtiger schlich er weiter, nahm den Bogen von der Schulter und legte einen der schwarzen Pfeile auf die Sehne.

Eine Minute später war er sehr froh, so vorsichtig gewesen zu sein.

Vor ihm befanden sich vier Reiter, die mit unübersehbarer Begeisterung dabei waren, einen fünften, unberittenen Mann zwischen sich herumzustoßen. Die vier Reiter waren bewaffnet - zwei mit Schwertern, einer mit einem Speer und der vierte mit einer Armbrust, die er dazu benutzte, sein Opfer zwischen sich und den drei anderen hin und her zu schubsen.

Das Opfer der vier jungen Burschen - keiner von ihnen war älter als Kim - war ein alter, bärtiger Mann in zerschlissener Kleidung. Er war unbewaffnet und die nackte Todesangst stand ihm im Gesicht geschrieben.

Der Anblick erfüllte Kim mit solchem Zorn, dass er nicht einmal auf den Gedanken kam, er könnte sich mit seiner Handlung vielleicht selbst in Gefahr begeben, sondern mit einem entschlossenen Schritt vortrat und rief: »Was geht hier vor?« Für einen Moment waren die vier Reiter so überrascht, dass sie von ihrem Opfer abließen und sich allesamt in seine Richtung wandten. Der alte Mann nutzte die unerwartete Chance, die sich ihm bot, um auf der Stelle herumzufahren und zu flüchten, kam aber nur wenige Schritte weit, denn einer der Burschen riss sein Pferd herum, gab ihm die Sporen und ritt ihn kurzerhand über den Haufen.

»Aufhören!«, sagte Kim scharf. »Seid ihr wahnsinnig geworden?«

Seine Worte lösten bei den vier Jungen unübersehbare Verwirrung aus. Drei von ihnen lenkten ihre Pferde langsam näher, während der Junge mit der Armbrust in einiger Entfernung stehen blieb und Kim misstrauisch anstarrte.

»Wer bist du?«, fragte einer der Jungen.

»Das spielt keine Rolle«, antwortete Kim zornig. »Seid ihr verrückt geworden? Was hat euch der Mann getan?«

»Wie?«, fragte der Junge mit dem Speer. Kim war sicher, dass er den Sinn seiner Frage wirklich nicht verstanden hatte. Aber er sah, wie der andere verstohlen einen Bolzen auf seine Armbrust legte und die Sehne zu spannen begann. Wenn er die Waffe auf ihn anlegt, dachte Kim entschlossen, dann werde ich ihn ins rechte Bein schießen. Oder es wenigstens versuchen.

»Was mischt du dich ein?«, fragte einer der anderen. »Wer bist du überhaupt und wo kommst du her?«

»Lasst den Mann gehen und wir können reden«, antwortete Kim stur. Seine Gedanken überschlugen sich. Vielleicht hatte er doch etwas vorschnell eingegriffen oder ein wenig zu unüberlegt. Die vier Jungen sahen nicht so aus, als ließen sie sich durch selbstbewusstes Auftreten allein einschüchtern. Und wenn es zu einem Kampf kommen würde, dann standen seine Chancen nicht sehr gut. Immerhin waren sie zu viert.

Er warf einen raschen Blick zu dem alten Mann hin. Der hatte sich aufgesetzt, versuchte aber nicht noch einmal zu fliehen, sondern blickte Kim völlig fassungslos an.

Etwas berührte so sacht wie ein fallendes Blatt seine Schulter und der goldene Schimmer, den er für einen Moment aus den Augenwinkeln heraus wahrnahm, verriet ihm, dass Twix wieder aufgetaucht war - im denkbar ungünstigsten Moment, wie Kim fast im selben Augenblick erkannte.

Auf den Gesichtern der vier Jungen erschien ein Ausdruck, der zwischen Verblüffung und Zorn schwankte. »He!«, schrie einer von ihnen. »Das ... das ist doch eine Elfe!«

»Stimmt«, sagte Kim. »Und?«

»Das muss der sein, von dem Kai erzählt hat«, sagte einer der Jungen. »Schnappt ihn!«

Alles geschah gleichzeitig. Kim spürte einen harten Schlag gegen die Schulter, taumelte zurück und entging so mehr durch Glück als alles andere einem gemeinen Schwerthieb. Gleichzeitig hörte er einen gellenden Schrei und sah, wie der Junge mit der Armbrust seine Waffe fallen ließ und mit schmerzverzerrtem Gesicht aus dem Sattel fiel. Kims Pfeil hatte seine rechte Wade durchbohrt.

Ihm blieb jedoch nicht viel Zeit, sich über seinen Sieg zu freuen. Er hatte es noch immer mit drei Gegnern zu tun und die Jungen schienen es nicht unbedingt darauf angelegt zu haben, ihn unverletzt gefangen zu nehmen. Der Speer stocherte in seine Richtung und hinterließ eine hässliche, heftig brennende Schramme an seiner Seite und ein zweiter Schwerthieb verfehlte ihn buchstäblich um Haaresbreite.

Kim versuchte sich mit einem verzweifelten Satz in Sicherheit zu bringen, wurde von einem Pferd gerammt und fiel hilflos auf die Knie herab. Trotzdem hatte er plötzlich einen neuen Pfeil aufgelegt und es war, als sage der Bogen ihm, was zu tun sei, und nicht umgekehrt: Noch während er aufsprang, flog der Pfeil von der Sehne, beschrieb einen engen Bogen und nagelte die Wade eines der Jungen an den Sattel. Der Bursche brüllte vor Schmerz, fiel vom Pferd und wälzte sich auf dem Boden und das Schicksal ihrer Kameraden ließ die beiden anderen Jungen einen Moment zögern.

Das brachte die Entscheidung. Hätten sie sofort angegriffen, so hätten sie Kim wahrscheinlich trotz seiner Wunderwaffe niedergemacht. Aber ihr Zögern gab Kim Gelegenheit, einen weiteren Pfeil auf die Sehne zu legen und zu schießen.

Der letzte verbliebene Angreifer riss sein Pferd herum und suchte sein Heil in der Flucht. Kim registrierte mit einem Gefühl hilflosen Entsetzens, wie seine Hand in den Köcher griff und einen weiteren Pfeil hervorzog. Er wollte es nicht. Er versuchte mit aller Macht die Bewegung zurückzuhalten, aber er konnte nicht anders als den Pfeil aufzulegen und zu schießen. Der Junge war längst in der Dunkelheit verschwunden, aber es nutzte ihm nichts: Aus der Nacht ertönte ein keuchender Schmerzensschrei und erst jetzt war Kim in der Lage seine Finger zu öffnen und den schwarzen Bogen fallen zu lassen.

Erschöpft drehte er sich herum, überzeugte sich mit einem raschen Blick davon, dass die drei Jungen in seiner Nähe zwar verwundet, aber nicht in Lebensgefahr waren und ging dann zu dem alten Mann hinüber.

Der saß noch immer in derselben Haltung wie zuvor da und starrte Kim aus fassungslos aufgerissenen Augen an. »Du... du ... du hast mir ... geholfen«, krächzte er.

»Ja, das stimmt«, antwortete Kim. Jetzt, als die unmittelbare Gefahr und damit die Anspannung vorüber war, begann er am ganzen Leib zu zittern. Seine linke Schulter pochte.

»Was ist mit Ihnen?«, fragte er. »Sind Sie verletzt?«

»Nein«, murmelte der Alte. Der Ausdruck auf seinem faltigen Gesicht blieb unverändert.

»Was wollten die vier von Ihnen?«, fragte Kim. »Was haben Sie ihnen getan?«

»Nichts«, antwortete der Alte. »Sie wollten, was alle wollen. Aber du ... du hast mir geholfen! Warum hast du das getan?«

»Wie?«, fragte Kim. »Ich verstehe nicht ... ich konnte doch nicht einfach zusehen, wie die vier Kerle Sie quälen.«

»Aber du bist jung!«, antwortete der Alte. Dann weiteten sich seine Augen und ein Ausdruck neuerlichen Erschrecken trat in seinen Blick. »Du bist ja verletzt!«

Kim drehte den Kopf um dem Blick des alten Mannes zu folgen. Aus seiner linken Schulter ragte der gefiederte Schaft eines Armbrustbolzens. Sein Hemd hatte sich dunkelrot gefärbt.

»Oh«, sagte er. »Tatsächlich. Das ist komisch. Es tut überhaupt nicht weh.«

Seine Knie wurden weich. Er sah noch, wie der alte Mann aufsprang und hastig die Arme ausstreckte. Dann nichts mehr.

Als er erwachte, lag er in einem weichen Bett und der Duft von frischer Hühnerbrühe stieg ihm in die Nase. Etwas kitzelte seine linke Wange und noch bevor er die Augen aufschlug, drang ein schwacher goldener Schimmer durch seine geschlossenen Lider.

Er öffnete die Augen, versuchte sich aufzusetzen und sank mit einem Aufschrei wieder zurück. Seine linke Schulter schmerzte erbärmlich.

Kim blieb einige Augenblicke lang reglos liegen, wartete darauf, dass der pochende Schmerz abklang, und versuchte dann sehr viel vorsichtiger sich aufzurichten. Es tat immer noch weh, aber das brennende Pochen war wenigstens nicht mehr unerträglich. Und es hatte zumindest ein Gutes: Es brachte die Erinnerungen zurück. Er besann sich jetzt wieder auf die vergangene Nacht und er hatte sogar eine Ahnung, wo er war.

Wenigstens hoffte er, dass er nicht schon wieder eine unangenehme Überraschung erleben würde...

Behutsam setzte er sich vollends auf, schwang die Beine aus dem Bett und sah sich um. Das Zimmer, in dem er aufgewacht war, war sehr klein und äußerst spartanisch eingerichtet. Der wenig vorhandene Platz reichte gerade für das Bett und einen wuchtigen, roh gezimmerten Schrank. Die Wände bestanden aus weiß verputztem Lehm und hätten schon vor mindestens zehn Jahren einen neuen Anstrich nötig gehabt und es gab nur ein einziges, schmales Fenster. Durch die Ritzen des vorgelegten Ladens schimmerte helles Sonnenlicht. In seiner Einfachheit erinnerte das Zimmer Kim an Turocks Turm im Schattenwald, aber er verscheuchte den Gedanken hastig. Schließlich konnte er ja nicht immer Pech haben.

Als er aufstand, erhob sich auch Twix von ihrem Platz, surrte wie eine zu groß geratene Libelle zweimal um seinen Kopf und ließ sich dann auf seiner Schulter nieder. Die Elfe war buchstäblich federleicht. Trotzdem tat die Berührung so weh, dass er schmerzhaft die Luft zwischen den Zähnen einsog.

»Au!«, sagte Kim. »Pass doch auf!«

»Ja, ich freue mich auch, dich wieder zu sehen«, piepste Twix. »Ich dachte schon, du wirst nie mehr wach. Schläfst du immer so lange?«

»Nur, wenn ich angeschossen worden bin«, antwortete Kim und fügte in Gedanken hinzu: Woran du nicht ganz unschuldig bist. Aber er sprach diesen Gedanken nicht laut aus. Es hatte keinen Sinn, der Elfe Vorwürfe zu machen. Sie hatte es ja nur gut gemeint und wahrscheinlich sogar geglaubt, ihm zu helfen. Stattdessen fragte er: »Wo sind wir?«

»In Grendels Haus«, antwortete Twix.

»Grendel? Ist das der Mann, den ich am Fluss getroffen habe?«

Die Elfe nickte so heftig, dass sie fast von seiner Schulter gefallen wäre, und klammerte sich hastig fest. Kim biss erneut die Zähne zusammen um nicht vor Schmerz aufzustöhnen. »Er hat dich hergebracht«, fuhr die Elfe fort, »und dich gepflegt, als du Fieber hattest. Er ist nicht wie die anderen. Die anderen sind schlecht. Er ist gut.«

»Ich hoffe es«, murmelte Kim. »Wenn nicht, sind wir in Schwierigkeiten.«

Twix sah ihn fragend an, aber Kim sparte sich die Mühe der Elfe erklären zu wollen, wie seine Worte gemeint waren. Stattdessen betrachtete er einige Sekunden lang eingehend seine linke Schulter. Sein Arm hing in einer einfachen, aber sehr zweckmäßigen Schlinge und auch seine Schulter war auf ähnliche Weise verbunden. Er konnte den Arm kaum bewegen und die Schulter tat noch immer ziemlich weh. Und trotzdem hatte er wahrscheinlich noch Glück gehabt. Hätte ihn der Bolzen auch nur wenige Zentimeter tiefer getroffen ...

Kim schauderte, als er an die Entschlossenheit der vier Jungen zurückdachte - und vor allem an ihre Brutalität und Rücksichtslosigkeit. Keiner der vier Jungen war älter gewesen als er und doch hätten sie ihn ohne zu zögern getötet. Dabei wusste Kim nicht einmal, wer sie waren!

Aber vielleicht würde Grendel ihm ja helfen endlich Licht in dieses Dunkel zu bringen.

Er sah sich nach seinen Kleidern um, fand aber nur eine zerschlissene Decke, in die er sich notdürftig hüllte, bevor er das Zimmer verließ.

Der angrenzende Raum war sehr viel größer, aber so hoffnungslos mit Möbeln und anderen Dingen voll gestopft, dass er Kim im ersten Moment fast kleiner vorkam. Das Zimmer schien den gesamten Rest des Hauses zu beanspruchen, denn es gab in drei von vier Wänden Fenster. Grendel stand mit dem Rücken zu ihm am Herd und rührte in einem gusseisernen Topf, aus dem der verlockende Duft kam, und noch bevor Kim ein Wort sagen konnte, hob er die freie Hand und deutete auf den Tisch.

»Setz dich hin. Die Suppe ist gleich fertig. Ich habe gehört, wie du aufgestanden bist.«

Kim ersparte sich eine Antwort, sondern näherte sich dem Tisch in einem komplizierten Slalom um dem Durcheinander auszuweichen, mit dem der alte Mann sein Haus voll gestopft hatte. Zum größten Teil war es Mobiliar - genug, um mindestens drei Häuser dieser Größe einzurichten, schätzte Kim -, aber es gab auch zahlreiche Kisten und Truhen, in denen sich wohl Grendels restliche Habseligkeiten verbargen.

Als er sich gesetzt hatte, hob der alte Mann den Topf vom Herd und trug ihn ohne sichtbare Anstrengung zum Tisch. Kims Magen knurrte hörbar, als ihm der verlockende Duft in die Nase stieg, was von Grendel mit einem flüchtigen Lächeln quittiert wurde.

»Greif nur zu«, sagte er. »Du musst hungrig sein.«

Das ließ Kim sich nicht zweimal sagen. Er langte kräftig zu, verputzte insgesamt vier Teller der kräftigen, mit kleinen Fleischstückchen verfeinerten Suppe und aß dazu fast einen halben Laib Brot, den Grendel ihm auftischte. Der alte Mann sah ihm wortlos dabei zu, aber das warme Lächeln, das Kim schon vorhin in seinen Augen gesehen hatte, verstärkte sich noch.

Kim seinerseits nutzte die Gelegenheit, seinen Wohltäter etwas genauer zu betrachten. Er war nicht ganz so alt, wie er gestern Abend geglaubt hatte; vielleicht gerade so alt wie Kims Vater. Aber das Leben und Wind und Sonne hatten tiefe Spuren in seinem Gesicht hinterlassen und trotz des Lächelns in seinen Augen glaubte Kim auch einen Ausdruck tiefer Verbitterung darin zu erkennen. Er hatte schulterlanges, graues Haar und kräftige Hände, die von schwerer Arbeit vernarbt und schwielig geworden waren.

Endlich war Kim so satt, dass er beim besten Willen keinen Bissen mehr hinunter bekam. Mit einem zufriedenen Nicken schob er seinen Teller zurück und sagte: »Das war köstlich. Vielen Dank.«

»Es war nichts«, antwortete Grendel, lächelte dabei aber. »Ich hätte dir gerne ein gutes Essen vorgesetzt, aber die Zeiten sind schlecht. Es ist nicht mehr viel da, was ich teilen könnte.«

»Mir hat es hervorragend geschmeckt«, behauptete Kim.

»Das ist mir aufgefallen«, antwortete Grendel grinsend. »Du musst wirklich sehr hungrig gewesen sein. Aber das ist ja eigentlich auch kein Wunder, nach all der Zeit.«

»All der Zeit?« Kim sah Grendel fragend an und blickte dann zum Fenster. Auch in diesem Zimmer waren alle Läden vorgelegt, aber er glaubte nicht, dass es schon später als Mittag war.

»Du hast drei Tage und Nächte geschlafen«, sagte Grendel, der seinen Blick bemerkt und richtig gedeutet hatte.

Kim riss erstaunt die Augen auf. »Drei -?«

»Du hattest hohes Fieber«, fuhr Grendel fort. »Ich war für eine Weile in großer Sorge um dich. Ich glaube, der Bolzen war vergiftet.«

»Und Sie haben mich die ganze Zeit über gepflegt?«

»Das war das Mindeste, was ich tun konnte«, antwortete Grendel. »Du hast mir das Leben gerettet. Wenn du nicht gekommen wärst, dann hätten sie mich wahrscheinlich getötet.«

»Und ohne Sie wäre ich jetzt wahrscheinlich tot«, sagte Kim. Grendel schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht viel dazu getan«, sagte er. »Deine kleine Freundin da.« Er deutete auf Twix. »Ohne sie hätte ich es nicht geschafft. Wie ich bereits sagte: Der Bolzen war vergiftet.«

»Du?« Kim starrte Twix an. Die Elfe kicherte und schlug mit den Flügeln und goldener Staub senkte sich auf Kims linke Schulter. Vielleicht war es Einbildung - aber es kam ihm so vor, als wäre der Schmerz jetzt schon nicht mehr so schlimm. »Ich sehe es«, fuhr Grendel kopfschüttelnd fort, »und trotzdem fällt es mir schwer, es zu glauben. Ich hätte nie zu hoffen gewagt, so etwas noch einmal zu sehen.«

»Eine Elfe?«, fragte Kim.

Grendel schüttelte abermals den Kopf. »Einen Jungen wie dich, zusammen mit einem magischen Wesen«, sagte er. »Der Zauber ist rar geworden in unserer Welt. Warum hast du mir geholfen?«

Die Frage kam so unvermittelt, dass Kim sie im ersten Moment nicht einmal wirklich verstand. »Wieso?«, murmelte er. Die ehrliche Antwort wäre gewesen, dass er es nicht wusste. Er hatte einfach reagiert, ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken. Stattdessen sagte er: »Ich konnte doch nicht einfach zusehen, wie sie ihr grausames Spiel mit Ihnen trieben.«

»Jeder andere an deiner Stelle hätte es getan«, antwortete Grendel düster. »Oder er hätte mitgemacht.«

»Bestimmt nicht jeder«, widersprach Kim, aber Grendel blieb bei seiner Meinung.

»Jeder in deinem Alter«, sagte er. »Du bist jung.«

Zu Kims Enttäuschung machte er keine Anstalten, diese Behauptung irgendwie zu erklären, aber sein Gesicht hatte sich weiter verdüstert, während er sprach. Offensichtlich bereitete ihm das, worüber er redete, großes Unbehagen. Kim lagen mindestens eine Million Fragen auf der Zunge, aber er stellte in diesem Moment keine einzige davon. So schwer es ihm auch fiel, spürte er doch, dass er im Moment sehr vorsichtig sein musste. Grendel war innerlich nicht annähernd so ruhig, wie er sich gab. Statt also noch weiter in den alten Mann zu dringen, zwang er sich zu einem - leicht verunglückten - Lächeln und fragte betont beiläufig: »Ich hatte ... noch einen Begleiter.«

»Dieses kleine grünhaarige Scheusal?« Grendel sah ihn fragend an. Packs Fell war zwar unbedingt grün, aber ansonsten passte die Beschreibung hundertprozentig.

»Ich habe ihn davongejagt«, fuhr Grendel fort. »Du hast komische Freunde.«

»Manchmal kann man sie sich nicht aussuchen«, antwortete Kim. »Und wir sind auch nicht direkt Freunde.« Er kam sich bei diesen Worten nicht ganz ehrlich vor, aber immerhin war Pack ja nicht da und konnte ihn somit auch nicht hören.

Grendel zog die linke Augenbraue hoch, sagte aber nichts mehr, sondern brach sich ein kleines Stück Brot ab und begann darauf herumzukauen. Kim hatte nicht den Eindruck, dass er wirklich hungrig war. Vielmehr schien Grendel darauf zu warten, dass er nun von sich aus zu erzählen begann. Als eine Minute verstrich, ohne dass dies geschah, und bald darauf noch eine und noch eine, fragte er: »Wie ist dein Name, Junge, und woher kommst du?«

»Kim«, antwortete Kim.

Seltsamerweise lächelte Grendel, als er dies hörte, und Kim fragte: »Was ist daran so komisch?«

»Oh, nichts«, sagte Grendel. »Aber alle nennen ihre Söhne Kim, seit damals.«

»Damals?«

»Jetzt sag nicht, dass du nicht von dem Helden aus der Schlacht um Gorywynn gehört hast«, sagte Grendel. »Immerhin haben deine Eltern dich nach ihm genannt.« Er seufzte und wieder trat dieser sonderbare, bittere Ausdruck in seine Augen. Sehr viel leiser und fast nur an sich selbst gewandt fuhr er fort: »Manchmal wünschte ich mir, er wäre wieder hier. Vielleicht wäre dann alles anders geworden.«

»Ich habe meine Eltern kaum gekannt«, log Kim. »Wer war dieser Junge, dessen Name ich trage?«

»Du musst wirklich von sehr weit her kommen, Junge«, sagte Grendel kopfschüttelnd. »Jeder hier kennt die Geschichte von Kim und seiner Schwester Rebekka. Sie wurde vom Herrscher des Schattenreiches gefangen gehalten, weißt du? Kim war ein ganz normaler Junge, aber er stellte sich allein den finsteren Heerscharen aus Morgon entgegen. Und er hat sie ganz allein besiegt.«

Es lag Kim auf der Zunge zu antworten, dass er in Wahrheit nicht ganz so allein gewesen war, aber er schluckte die Bemerkung in letzter Minute herunter. Die Verlockung, Grendel zu erklären, dass er die Legende von Kim nicht nur sehr gut kannte, sondern sie am eigenen Leib erlebt hatte, war ziemlich groß, aber er sah auch ein, dass es im Moment wohl klüger war, dieses Geheimnis noch für sich zu behalten.

»Ich glaube, ich ... sollte mich jetzt besser wieder auf die Beine machen«, sagte er zögernd. »Ich habe noch einen ziemlich weiten Weg vor mir.«

Grendel blickte ihn eine Sekunde lang verblüfft an, dann begann er schallend zu lachen.

»Was ist daran so komisch?«

»Du wirst nirgendwo hingehen, Junge«, antwortete Grendel. »Nicht in den nächsten Tagen. Ich bin kein Heilkundiger, aber ich erkenne eine schwere Verletzung, wenn ich sie sehe. Du brauchst mindestens noch eine Woche Ruhe.«

»Das ist unmöglich«, widersprach Kim. »Ich muss nach Gorywynn.«

»Das ist wirklich ein weiter Weg«, bestätigte Grendel. »Aber du wirst es nicht schaffen, wenn du dich überanstrengst. Außerdem streifen immer noch Patrouillen der Jungen durch die Gegend. Ich glaube, sie suchen dich.«

»Mich?«

»Sie waren nicht sehr begeistert darüber, was du mit ihren Kameraden angestellt hast«, antwortete Grendel, wobei sich in seine Stimme ein Ausdruck unüberhörbarer Schadenfreude schlich. »Aber ich glaube, das ist nicht der einzige Grund.«

»Wieso?«

Grendel zuckte mit den Schultern, aber es wirkte irgendwie nicht echt. »Ich rede nicht viel mit ihnen«, antwortete er. »Aber man hört so das eine oder andere. Es heißt, sie suchen einen Verräter, der aus dem Osten gekommen ist.«

»Oh«, sagte Kim. So schnell änderten sich die Dinge. Vor einer Minute war er noch ein Held gewesen, um dessen Namen sich Legenden rankten. Jetzt galt er als Verräter. »Ein Verräter?«

»Ein Junge, der die neue Ordnung nicht anerkennt«, bestätigte Grendel. Er versuchte möglichst gleichmütig zu klingen, aber Kim entging nicht, dass er ihn bei diesen Worten sehr aufmerksam im Auge behielt. Schließlich fragte er geradeheraus: »Bist du dieser Junge?«

»Vielleicht«, sagte Kim leise. »Ich meine: Wenn ich wüsste, wie diese neue Ordnung aussieht, dann könnte ich die Frage vielleicht besser beantworten.«

Grendel lächelte und brach sich ein weiteres Stück Brot ab. »Du bist der, den sie suchen«, sagte er. »Keine Angst - ich werde dich nicht verraten. Immerhin verdanke ich dir mein Leben. Wenn du nicht gekommen wärst... Du hast einen Zauberbogen benutzt, nicht wahr?«

Kim nickte. »Ich glaube schon. Aber ich wusste vorher selbst nicht, dass es einer ist.«

»Anscheinend weißt du ohnehin ziemlich wenig«, sagte Grendel mit gutmütigem Spott, aber Kim blieb ernst.

»Das stimmt«, sagte er. »Ich komme von sehr weit her, wissen Sie? Ich weiß nicht, was hier geschieht. Als ich Sie getroffen habe, da war ich ehrlich gesagt auf der Suche nach jemandem, der es mir erklären könnte.«

»So einfach ist das nicht«, sagte Grendel. »Aber ich werde es gerne versuchen. Nur jetzt nicht. Wir haben viel Zeit.« Er stand auf. »Ich muss arbeiten. Es wird einige Stunden dauern, bis ich zurück bin. Fühl dich wie zu Hause - aber geh bitte nicht nach draußen. Es wäre nicht gut, wenn man dich hier sieht.«

Kim schwieg. Grendels Worte erfüllten ihn mit jäh aufkeimendem Misstrauen, aber er sagte nichts. Nach dem, was er mit Turock erlebt hatte, war es nur verständlich, dass er so reagierte. Wahrscheinlich tat er Grendel damit bitter Unrecht. Immerhin hatte der alte Mann ihn drei Tage lang gepflegt, ihm vielleicht sogar das Leben gerettet.

All dies hinderte Kim jedoch nicht daran, das zu tun, wovon Grendel ihm so dringlich abgeraten hatte, kaum dass er allein war: Er ging zur Tür, zögerte noch einmal und drückte dann mit einer entschlossenen Bewegung die Klinke hinunter.

Kim wusste selbst nicht genau, was er eigentlich erwartet hatte, doch vor ihm lag eine ganz normale, wenn auch sehr kleine Ortschaft.

Und eine sehr verlassene Ortschaft dazu. Das halbe Dutzend kleiner Gebäude, das er von seinem Standort aus sehen konnte, war von seinen Bewohnern verlassen und stand leer. Türen standen offen, in vielen Fenstern fehlte das Glas und in einigen der kleinen Katen hatte es gebrannt; die Strohdächer waren verschwunden und die Dachsparren zu einem schwarzen Gerippe verkohlt. Die Stille war schon fast unheimlich. Kim konnte regelrecht spüren, dass es in weitem Umkreis nichts Lebendes mehr gab. Grendels Warnung kam ihm plötzlich fast absurd vor. Wer sollte ihn sehen, wenn es weit und breit niemanden gab, der ihn sehen konnte?

Aber er sah auch etwas, was ihn ungemein beruhigte: Hinter den verlassenen Häusern erstreckte sich nichts als die endlose wogende Steppe, die typisch für diesen Teil des Landes war. Kein magischer Wald, in dem er eingesperrt war, und auch keine andere Barriere. Sein Misstrauen war unbegründet gewesen.

Derart beruhigt ging Kim wieder ins Haus zurück und legte sich hin; eigentlich nur, um ein wenig auszuruhen, aber natürlich schlief er praktisch auf der Stelle ein. Als er wieder erwachte, war es draußen dunkel geworden. Nur der schwache, goldfarbene Schimmer, der von Twix' Flügeln ausging, erfüllte noch den Raum. Es war aber nicht still: Er konnte Grendel im Nebenzimmer rumoren hören, und als er sich aufsetzte, sah er einen dünnen leuchtenden Streifen, der unter der Tür hindurchschimmerte.

Kim war immer noch müde. Trotzdem stand er vollends auf, wickelte sich wieder in seine Decke und verließ das Zimmer. Grendel war nebenan damit beschäftigt, hektisch durch das Zimmer zu stapfen, hier und da etwas in die Hand zu nehmen und wieder wegzulegen, Schubladen zu öffnen, Truhendeckel hochzuheben und wieder zuzuwerfen.

Kim sah ihm eine Weile verständnislos bei seinem Treiben zu, dann fragte er: »Was tun Sie?«

Grendel hielt mitten in der Bewegung inne und drehte mit einem Ruck den Kopf. Als er sich wieder aufrichtete, hielt er einen Stapel säuberlich zusammengelegter Kleider im Arm.

»Hier«, sagte er und reichte sie Kim. »Die müssten dir eigentlich passen. Ihr hattet ungefähr die gleiche Größe.«

Kim sah Grendel fragend an, griff aber wortlos nach den Kleidern und faltete sie auseinander. Es handelte sich um schmal geschnittene Hosen aus braunem, seidenweichem Leder, dazu passende Stiefel aus demselben Material, ein weißes Hemd und eine dünne lederne Weste - abgesehen von dem fehlenden weißen Umhang die typische Kleidung eines Steppenreiters. Sie hatten tatsächlich nicht nur ungefähr, sondern perfekt seine Größe. Als Kim hineinschlüpfte, hatte er das Gefühl, als wären diese Kleider ganz allein für ihn gemacht.

»Vielen Dank«, sagte er, während er die Schlinge wieder überstreifte und seinen verletzten Arm vorsichtig hineinlegte. »Das sind wunderschöne Kleider.«

Grendel sah ihn auf sonderbare Weise an. »Sie haben meinem Sohn gehört«, sagte er leise. »Er ist fort, schon seit langer Zeit.«

Die Art, auf die er das sagte, machte Kim klar, dass er nicht weiter über das Thema reden wollte. Kim respektierte das. Er spürte den Schmerz, den Grendel allein bei diesem Anblick empfand.

»Ich habe Neuigkeiten«, fuhr Grendel nach einer Weile und mit festerer Stimme fort. »Sie suchen dich tatsächlich, aber du bist nicht in Gefahr. Sie glauben, dass du bereits weitergezogen bist.«

»Und wenn sie hierher kommen?«, fragte Kim. »Ich möchte nicht, dass Sie in Gefahr geraten ... meinetwegen.«

»Niemand wird mir etwas tun«, behauptete Grendel. »Du bist hier sicher. Kurier deine Wunde aus und in einer Woche oder zwei, wenn du wieder zu Kräften gekommen bist, kannst du Weiterreisen. Du willst nach Gorywynn, sagst du?«

»Ja.«

»Das ist ein weiter Weg.« Grendel machte ein nachdenkliches Gesicht. »Zwei Wochen, mit einem schnellen Pferd, wenn nicht drei. Und auch das nur, wenn du den Strapazen einer solchen Reise überhaupt gewachsen bist.«

»Deshalb kann ich ja nicht so lange bleiben«, antwortete Kim eindringlich. »Ich muss in die gläserne Stadt, so schnell wie möglich.«

Grendel schüttelte seufzend den Kopf. »Warum könnt ihr Jungen nicht einfach einmal zuhören?«, fragte er. »Ich wollte dir gerade erklären, dass in einer Woche ein Fährschiff hier vorbeikommt, das nach Gorywynn fährt. Sie nehmen eigentlich keine Passagiere mit, aber wenn ich ein gutes Wort für dich einlege, werden sie sicher eine Ausnahme machen. Du kannst morgen bei Sonnenaufgang losreiten, wenn du das willst. Vielleicht schaffst du es wirklich bis Gorywynn, aber vielleicht stirbst du auch unterwegs oder fällst denen in die Hände, die nach dir suchen. Oder du bleibst hier, bis das Schiff kommt, und erreichst Gorywynn in derselben Zeit, nur viel sicherer und bequemer.« Er hob die Schultern. »Es ist deine Entscheidung. Heute Nacht kannst du jedenfalls nicht weiter.«

Grendel öffnete einen Schrank, nahm ein hölzernes Tablett mit Brot und nicht mehr ganz frischem, aber noch genießbarem Obst hervor und bedeutete Kim mit einer Kopfbewegung, am Tisch Platz zu nehmen. Kim gehorchte, doch als auch sein Gastgeber selbst Platz nehmen wollte, erscholl an der Tür ein scharrendes Geräusch.

Grendel richtete sich alarmiert auf, machte eine rasche Geste in Kims Richtung, sich nicht zu rühren, und eilte mit raschen Schritten zur Tür. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern drückte er die Klinke herunter und riss die Tür auf.

Draußen stand der Pack, der gerade die Hand gehoben hatte um erneut an der Tür zu kratzen und offensichtlich ebenso überrascht war wie sein Gegenüber. Aber Grendel überwand seine Verblüffung weit schneller; wenn auch auf eine Art, mit der Kim am allerwenigsten gerechnet hätte.

Der alte Mann schrie wütend auf, prallte einen halben Schritt zurück und trat nach dem Pack. Der Kobold versuchte dem Angriff zwar auszuweichen, aber er war viel zu langsam. Er wurde getroffen und flog in hohem Bogen und kreischend davon.

»Nein!«, schrie Kim. »Grendel! Nicht!«

Grendel schien seine Worte gar nicht zu hören. Mit einem Wutschrei stürzte er aus dem Haus und hinter dem Pack her. Kim hörte ihn draußen brüllen, unterbrochen vom wütenden Keifen und Schnattern des Pack.

Er sprang auf, eilte um den Tisch herum, kam aber nur zwei oder drei Schritte weit, denn plötzlich schoss ein jäher, so heftiger Schmerz durch seine Schulter, dass ihm übel wurde und er hastig an der Tischkante Halt suchte.

Mit letzter Kraft schleppte er sich zu seinem Platz zurück, ließ sich darauf niedersinken und atmete konzentriert ruhig und tief ein und aus. Alles drehte sich um ihn. Für einige Augenblicke hatte er ernsthaft Angst, wieder das Bewusstsein zu verlieren.

Als sich seine Gedanken wieder klärten, da war Grendels Geschrei draußen verstummt und im Haus herrschte eine fast unheimliche Stille. Er war vollkommen allein. Nicht einmal Twix war zu sehen.

Kim richtete sich behutsam auf, wartete darauf, dass die Übelkeit zurückkam, und stellte erleichtert fest, dass das nicht geschah. Seine Schulter tat allerdings immer noch weh. Als die Elfe in seiner Nähe gewesen war, war es nicht so schlimm gewesen. Er hätte fast Twix' Namen gerufen, besann sich aber dann doch eines Besseren. Nach jemandem zu rufen, der ihm eigentlich gehörig auf die Nerven ging, wäre ihm selbst albern vorgekommen.

Er richtete sich weiter auf, schwang die Beine aus dem Bett und wollte gerade ganz aufstehen, als er das Kratzen hörte, einen sachten, aber durchdringenden Laut; und einen von der unangenehmen Sorte. Wie Kreide auf einer Schiefertafel oder eine Gabel auf einem Topfboden.

Das Geräusch kam vom Fenster. Kim drehte sich herum und runzelte verwirrt die Stirn. Ein langer, ein wirklich sehr langer, dünner weißer Finger mit entschieden zu vielen Gelenken kratzte von außen an der Scheibe. Er war länger als Kims Arm und nur einen Moment später gesellten sich ein zweiter und dritter Finger hinzu, die mit scharrenden Geräuschen über das Glas fuhren.

Und natürlich waren es keine Finger.

Kim stand auf, öffnete mit einem Ruck das Fenster und starrte mit dem finstersten Gesichtsausdruck hinaus, den er zustande brachte. »Was willst du?«

»Na, du kannst vielleicht Fragen stellen!«, keifte die Spinne. »Ist das deine Art, alte Freunde zu begrüßen? Da renne ich mir fast die Beine in den Hintern um dich einzuholen und dein einziger Kommentar ist: Was willst du?!«

»Wir sind keine Freunde«, sagte Kim.

»Stimmt«, antwortete die Spinne. »Freunde lassen einander nicht verhungern. Und schon gar nicht erfrieren. Lass mich rein!«

Sie wartete seine Antwort auf dieses Ansinnen gar nicht erst ab, sondern begann unverzüglich an der Wand emporzukrabbeln. Kim prallte zurück. Griff rasch nach dem Fensterflügel und knallte ihn so heftig zu, dass die Spinne entsetzt die Beine zurückzog und zu Boden fiel. Was Kim schon einmal festgestellt hatte, bestätigte sich: Sie war wirklich nicht besonders geschickt.

»Kommt nicht in Frage«, sagte er, nachdem er das Fenster wieder geöffnet hatte. »Du kannst hier nicht rein.«

Die Spinne antwortete nicht gleich. Sie war voll und ganz damit beschäftigt, ihre Beine zu entwirren. Während sie das tat, nutzte Kim die Gelegenheit, sie genauer zu betrachten.

Es war sonderbar: Früher hatte er sich vor Spinnen immer ein wenig geekelt, aber davon war nun nichts mehr geblieben. Im Gegenteil. Ob er es wollte oder nicht, er musste zugeben, dass die langen, schlanken Beine und das seidig glänzende Fell dem Tier eine gewisse Eleganz verliehen - auch wenn sie sich alles andere als elegant bewegte. Er fragte sich nur, wer sich verändert hatte: Die Spinne oder seine Art, sie zu sehen.

»Du bist nicht nett«, sagte die Spinne, nachdem sie endlich wieder auf allen acht Beinen stand und zu ihm heraufstarrte. »Was willst du?«, fragte Kim zum wiederholten Mal.

»Na, du bist gut!«, sagte die Spinne. »Das fragst du im Ernst? Ich bin fast verhungert!«

»Und was kann ich dafür?«

»Immerhin hast du zusammen mit deinen sauberen Freunden mein Netz zerstört«, sagte die Spinne. »Also ist es deine Schuld, dass ich mir nichts mehr zu Essen fangen kann.«

»Wenn du gekommen bist um mich zu essen, muss ich dich enttäuschen«, seufzte Kim.

»Dich?« Die Spinne klang regelrecht empört. »Na hör mal! Was hältst du von mir?«

»Willst du das wirklich wissen?«

Die Spinne blinzelte mit drei oder vier Augen zugleich und wechselte das Thema. »Tatsache ist, dass ihr mein Netz zerstört habt«, beharrte sie. »Und ich kann mir auch kein neues bauen. Also bist du schuld, dass ich hungern muss.«

»Du kannst mich trotzdem nicht fressen«, sagte Kim.

»Das habe ich auch gar nicht vor! Ich fresse doch niemanden, mit dem ich mich unterhalten habe ... Aber du könntest mir die Elfe geben.«

»Wie bitte?«, fragte Kim überrascht.

»Ich hatte sie schon«, sagte die Spinne. »Du hast sie mir gestohlen. Wo ist sie überhaupt?« Ihre Stimme wurde lauernd. »Hast du sie am Ende etwa selbst gegessen? Das wäre hundsgemein!«

»Das wäre allerhöchstens Mundraub«, grinste Kim. »Aber ich kann dich beruhigen. Ich esse keine Elfen. Und außerdem -« Er hörte ein Geräusch im Nebenzimmer, warf einen hastigen Blick über die Schulter zurück und fuhr leise und in gehetztem Ton fort: »Grendel kommt! Verschwinde! Er darf dich nicht sehen!«

»Aber ich habe -«

Kim knallte das Fenster zu und ließ sich wieder aufs Bett sinken und im selben Moment ging die Tür auf und Grendel kam herein. Er sah sehr müde aus, fragte aber übergangslos: »Mit wem hast du geredet?«

»Geredet?«

Grendel nickte bekräftigend. Er sah sehr misstrauisch drein. »Ich habe es ganz genau gehört. Du hast mit jemandem gesprochen.«

»Ach so«, sagte Kim. »Das. Es war nur eine Spinne.«

»Eine Spinne?« Grendel blinzelte.

»Es ist ziemlich langweilig hier«, sagte Kim achselzuckend. Er musste sich beherrschen um nicht zum Fester hochzusehen und schickte gleichzeitig ein Stoßgebet zum Himmel, dass die Spinne nicht ausgerechnet jetzt wieder an der Scheibe kratzte. Grendel würde glatt der Schlag treffen, wenn plötzlich eine medizinballgroße, weiße Riesenspinne an sein Fenster klopfte und um etwas zu essen bat.

»Ja, das kenne ich«, sagte Grendel. »Manchmal ist es wirklich sehr einsam hier.« Er lachte leise. »Ich habe mich schon dabei ertappt, mit den Möbeln zu reden.«

»Wieso bleiben Sie hier?«, fragte Kim impulsiv. »Ich meine: Wenn doch alle weggegangen sind?«

»Jemand muss schließlich die Arbeit tun«, sagte Grendel achselzuckend, erklärte aber nicht, um was für eine Art von Arbeit es sich handelte, sondern wechselte übergangslos das Thema: »Ich habe Neuigkeiten vom Handelsboot. Es kommt in genau sechs Tagen vorbei. Zeit genug für dich deine Schulter auszukurieren. Ich bin jetzt müde und muss ein wenig schlafen, aber morgen früh können wir uns unterhalten. Du hast doch bestimmt eine Menge interessanter Geschichten zu erzählen.«

»Es geht«, sagte Kim ausweichend. Irgendetwas stimmte nicht mit Grendel. Der alte Mann war ungewohnt redselig. Sein Blick irrte unentwegt durch den Raum, suchte jeden Winkel, jede noch so kleine Ecke ab. Er sah wirklich in jede Richtung. Nur nicht zum Fenster ...

Hatte er etwas gemerkt?

»Also, ich geh jetzt zu Bett«, sagte Grendel noch einmal. »Gute Nacht.«

Kim antwortete mit einem Kopfnicken und wartete, bis Grendel den Raum verlassen und die Tür hinter sich zugezogen hatte. Dann aber sprang er auf und war mit einem einzigen Satz am Fenster. Hastig riss er es auf.

»Spinne«, flüsterte er. »Wo bist du?«

»Wo soll ich schon sein?«, nörgelte eine Stimme aus der Dunkelheit. »Ich sitze hier und habe Hunger! Eigentlich hättest du das Knurren meines Magens hören -«

»Hör mit dem Unsinn auf!«, unterbrach sie Kim. »Du musst dich verstecken! Schnell! Grendel kommt!«

»Ist er groß?«, fragte die Spinne hoffnungsvoll.

»Nein«, antwortete Kim. »Aber sehr alt und ziemlich zäh. Versteck dich! Er darf dich auf keinen Fall sehen!«

Er bekam keine Antwort, aber er hatte kaum zu Ende gesprochen, da näherten sich Schritte und Grendel kam in raschem Tempo um die Ecke gebogen. In der rechten Hand hielt er einen armlangen Knüppel.

»Dachte ich es mir doch!«, sagte er in einem Ton, der zwischen Triumph und Ärger schwankte. »Du hast also nur mit einer Spinne gesprochen, wie?«

»Aber ich -«

»Lüg mich nicht an, verdammter Bengel!«, unterbrach ihn Grendel. »Es war dieses kleine haarige Scheusal, das ständig um das Haus schleicht, habe ich Recht?«

»Du meinst den Pack?« Kim war erleichtert. Grendel hatte die Spinne offenbar nicht gesehen.

»Es ist mir egal, wie du ihn nennst«, grollte Grendel. »Ich will ihn hier nicht haben. Diese kleinen Scheusale bringen nur Ärger!«

»Pack ist mein Freund«, widersprach Kim. »Er hat mir das Leben gerettet und -«

Grendel schnitt ihm mit einer herrischen Bewegung das Wort ab: »Unsinn! Solange du unter meinem Dach wohnst, wirst du tun, was ich sage. Wenn ich deinen haarigen Freund noch einmal hier sehe, schlage ich ihm den Schädel ein, basta!«

Und damit ging er. Kim sah ihm verdattert nach, bis er wieder hinter der Hausecke verschwunden war. Grendels Wutausbruch war nicht nur vollkommen überraschend gekommen, er verstand ihn auch nicht. Soweit er wusste, hatte der Pack dem alten Mann nichts getan.

Die Spinne trippelte aus der Dunkelheit heran und blickte versonnen in die Richtung, in der Grendel verschwunden war. »Du hast gelogen«, sagte sie.

»Wie?«

»Er sieht nicht zäh aus. Er reicht mindestens für zwei oder drei Wochen.«

Kim seufzte. »Spinne«, sagte er, »du kannst nicht... wie heißt du eigentlich? Ich finde es lästig, dich immer nur Spinne zu nennen.«

»Heißen?«

»Dein Name«, erklärte Kim.

»Name?« Die Spinne überlegte einen Moment. »Ich habe keinen Namen«, sagte sie dann.

»Quatsch«, behauptete Kim. »Jeder hat einen Namen.«

»Ich nicht«, sagte die Spinne. »Wozu brauche ich einen Namen? Niemand spricht mit mir.«

Der letzte Satz klang ein wenig traurig, fand Kim. »Also gut, dann eben nicht«, sagte er. »Aber das ändert nichts daran, dass du nicht jeden auffressen kannst, den du siehst.«

»Jeden? Jetzt übertreib aber mal nicht!«

»Ich gebe dir nachher etwas zu essen«, sagte Kim. »Ich finde bestimmt ein Stück Brot oder etwas Obst -«

»Brot?«, kreischte die Spinne. Sie klang eindeutig entsetzt. »Ich bin doch kein Karnickel! Ich brauche Fleisch!«

Die Tür ging auf und Grendel streckte den Kopf herein. »Also doch!«

»Ich ... ich sage ihm nur, dass er dem Haus fernbleiben soll!«, stotterte Kim erschrocken. »Ehrlich!«

Grendel blickte eine Sekunde lang zum Fenster und Kim fürchtete schon, dass er zu ihm kommen und einen Blick nach draußen werfen würde, aber dann nickte er nur grimmig und sagte: »Also gut. Aber er täte besser daran, auf dich zu hören. Was das angeht, verstehe ich keinen Spaß!«

Er knallte die Tür zu. Kim atmete erleichtert auf, dann drehte er sich noch einmal zum Fenster. »Du hast ihn gehört.«

»Komische Freunde hast du«, sagte die Spinne.

»Ja«, seufzte Kim. »Da hast du Recht. Du ahnst ja nicht, wie.« Er schloss das Fenster, ließ sich wieder auf das Bett fallen und versuchte das soeben Erlebte irgendwie zu verstehen. Dass Grendel ein alter Sonderling war, war ihm schon lange klar. Trotzdem hatte er ihn bisher für einen recht freundlichen Mann gehalten. Aber das ...

Konnte es sein, dass er ... Angst vor dem Pack hatte?

Und wenn ja, warum?

Mit diesem Gedanken schlief er ein.

Er erwachte kurz vor Sonnenaufgang, weil irgendetwas auf seiner Schulter zappelte. Der sanfte, goldene Schimmer, der durch seine geschlossenen Augenlider drang, verriet ihm, dass Twix zurückgekommen war. Als er die Augen öffnete, sah er, dass die Elfe auf seiner verletzten Schulter saß.

Sie zappelte jedoch nicht herum, sondern blickte aus erschrocken aufgerissenen Augen zum Fenster hoch und zitterte am ganzen Leib.

Als Kims Blick dem der winzigen Elfe folgte, verstand er auch, warum.

Die Spinne hockte vor dem Fenster, presste sich das Gesicht an der Scheibe platt und sabberte vor Gier. »Fleisch!«

»Lass den Quatsch«, murmelte Kim verschlafen. Er setzte sich auf, unterdrückte ein Gähnen und fuhr an die Elfe gewandt fort: »Keine Angst. Sie tut dir nichts.«

»Du hast gut reden«, piepste die Elfe. »Du hast ja auch noch nicht in ihrem Kokon gesessen.«

Kim zog es vor, die Diskussion nicht fortzusetzen, sondern stand ganz auf. Es war kalt. Seine Schulter tat nicht mehr so weh wie am Abend, was wahrscheinlich an Twix' Anwesenheit lag.

»Wo ist Grendel?«, fragte er gähnend.

»Der ist schon zur Arbeit«, antwortete Twix mit einem nervösen Blick zum Fenster empor. »Aber das Frühstück ist fertig.«

»Wie schön«, murmelte Kim. Er stand auf und setzte die Elfe behutsam auf das Bett um sich anzuziehen. Es war wie gestern: Die Kleider passten hervorragend, aber er fühlte sich nicht wirklich wohl dabei, die Kleidung von Grendels verschwundenem Sohn zu tragen. Er fragte sich, wie sich Grendel dabei fühlen mochte ihn darin zu sehen.

Er verließ das Zimmer, verzehrte das reichliche Frühstück, das Grendel für ihn bereitgestellt hatte, und überlegte, wie er den Tag hinter sich bringen konnte. Sein Erlebnis in der vergangenen Nacht hatte ihm gezeigt, dass Grendel vollkommen Recht hatte: Er war eindeutig nicht in der Verfassung, einen Ritt von einer Woche zu bewältigen. Er würde wohl oder übel auf das Schiff warten müssen.

Was wahrscheinlich nichts anderes hieß, als dass er sich eine Woche lang schier zu Tode langweilen würde.

»Grendel ist zur Arbeit?«, wandte er sich an Twix.

Die Elfe nickte nervös und sah zum Fenster.

»Kannst du mir sagen, wo das ist?«

»Schon«, antwortete Twix. »Aber dann müssten wir ... raus. Und ich glaube nicht, dass Grendel das möchte.«

»Er wird dir schon nicht den Kopf abreißen«, sagte Kim lächelnd. »Und die Spinne tut dir auch nichts, keine Angst.« Er stand auf, setzte die Elfe vorsichtig auf seine Schulter und ging zur Tür.

Die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen, aber es war bereits hell, wenn auch noch kalt. Wieder fiel ihm die Stille auf. Der kleine Ort lag vollkommen ausgestorben da und mit seinen Bewohnern schienen auch alle Geräusche gegangen zu sein. Selbst die Laute, die seine Schritte verursachten, kamen ihm irgendwie ... falsch vor. Als verschlucke etwas ihre Echos. Kim hatte eigentlich vorgehabt, sich noch einmal in aller Ruhe in den leerstehenden Häusern umzusehen, aber mit einem Mal hatte er es sehr eilig, den Ort zu verlassen.

Twix dirigierte ihn in Richtung Fluss. Er fand Grendel nicht am Ufer, aber das lag nicht etwa daran, dass die Elfe die Unwahrheit gesagt hätte: Grendel befand sich nahezu auf der anderen Seite des Flusses.

Er hatte Kim nie verraten, was er arbeitete, aber nun sah er es: Quer über den Fluss war ein fast handgelenkstarkes Tau gespannt, an dem entlang Grendel ein großes, plump aussehendes Floß hangelte. Trotz der großen Entfernung konnte Kim sehen, wie schwer die Arbeit dem alten Mann fiel.

Es dauerte fast eine Stunde, bevor Grendel das Floß wieder ans diesseitige Ufer gehievt hatte. Er war am ganzen Leib in Schweiß gebadet und atmete schwer.

»Was tust du hier?«, fragte er. »Ich hatte dich gebeten, im Haus zu bleiben. Was, wenn dich jemand sieht?«

»Es ist niemand in der Nähe«, antwortete Kim. »Und im Haus sterbe ich vor Langeweile.«

»Besser als mit einem Pfeil im Rücken«, antwortete Grendel. Er schien noch mehr sagen zu wollen, beließ es aber dann bei einem bloßen Kopfschütteln. Kim hatte das Gefühl, dass Grendel einfach zu müde war um den Streit fortzusetzen.

»Du bist der Fährmann hier«, sagte er. »Deshalb tut dir auch niemand etwas zuleide.«

»Fast niemand«, verbesserte ihn Grendel. »Aber du hast Recht. Jede Seite braucht dann und wann meine Dienste. Ich mische mich nicht ein und sie lassen mich dafür in Frieden.«

Kim betrachtete nachdenklich die Fähre. Das plumpe Gefährt verdiente diesen Namen im Grunde gar nicht. Es war kaum mehr als ein roh zusammengezimmertes Floß mit einem brusthohen Geländer an den beiden langen Seiten, das mittels eines Taues über den Fluss gezogen wurde. Es musste Tonnen wiegen. Kim schauderte allein bei der bloßen Vorstellung, dieses Floß Tag für Tag - womöglich mehrmals - von einem Ufer zum anderen ziehen zu müssen.

»Das ist ein ziemlich schwerer Beruf«, sagte er.

Grendel hob die Schultern. »Man gewöhnt sich daran«, sagte er. »Ich habe mein Leben lang nichts anderes getan, so wie mein Vater vor mir und dessen Vater vor ihm.« Er atmete hörbar ein. »Aber nun solltest du wirklich wieder ins Haus gehen. Ich muss mich auf den Weg machen. In einer Stunde kommt eine Karawane am anderen Ufer an.«

»Eine Karawane?«

Grendel schüttelte den Kopf. »Sie zieht nicht in deine Richtung.« Und damit trat er auf das Floß, griff nach dem Tau und begann mit aller Kraft zu ziehen. Kim sah, wie sich die Muskeln unter seinem Hemd spannten und sich sein Gesicht vor Anstrengung verzerrte. Trotzdem setzte sich das Floß nur zentimeterweise in Bewegung.

Er sah gute zehn Minuten lang zu, wie sich Grendel damit abmühte, das tonnenschwere Floß gegen die Kraft der Strömung auf den Fluss hinauszuziehen.

Dann wusste Kim, was zu tun war.

Er brauchte drei Tage, um seinen Plan in die Tat umzusetzen, und er gestaltete sich wesentlich schwieriger, als er es sich vorgestellt hatte - zumal er ständig auf der Hut war, um nicht von Grendel überrascht zu werden. Schließlich wollte er sich nicht den Spaß verderben lassen.

Kim nutzte jede Minute, in der Grendel nicht da war oder schlief, um die verlassenen Häuser zu durchstöbern und nach passenden Materialien zu suchen. Dieser Teil seines Planes erwies sich sogar als leichter als erwartet, denn die früheren Bewohner hatten ihre Häuser wirklich Hals über Kopf verlassen und offenbar nur mitgenommen, was sie am Leib trugen. Er fand sowohl eine Werkstatt als auch eine Schmiede und ausreichend Zimmermannswerkzeug; und somit alles, was er brauchte.

Danach begannen die Schwierigkeiten aber erst. Es war eine Sache sich eine höchst komplizierte Gerätschaft wie die, die er brauchte, auszudenken, aber eine ganz andere, sie dann auch zu bauen.

Kim war nicht gerade ungeschickt, aber während der zwei Tage, die er heimlich in der Werkstatt verbrachte, war er mehr als einmal nahe daran einfach aufzugeben. Seine verletzte Schulter machte die Sache auch nicht gerade leichter.

Schließlich aber hatte er es geschafft. Ein paar Stunden vor Sonnenaufgang des vierten Tages schlich er aus dem Haus und zum Fluss und machte sich an die Arbeit. Twix hockte wie fast immer auf seiner Schulter und selbst die Spinne hatte sich bereit erklärt sie zu begleiten und darauf Acht zu geben, dass Grendel sie nicht überraschte; auch wenn Kim argwöhnte, dass sie wohl eher mitkam um die Elfe im Auge zu behalten. Den Pack hatte er seit dem Abend, an dem Grendel ihn davongejagt hatte, nicht mehr gesehen.

Kim beeilte sich, so gut er konnte. Als die Spinne auf ihren langen Beinen herangeflitzt kam um ihn vor Grendels Herannahen zu warnen, war er nicht nur fertig, sondern fand sogar noch Zeit, sich gemächlich am Ufer auszustrecken und einen Grashalm zwischen die Lippen zu nehmen, so als läge er schon eine ganze Weile hier herum und langweile sich.

Grendel kam in gewohnt scharfem Tempo heran, verhielt dann plötzlich mitten im Schritt und runzelte überrascht die Stirn. Eigentlich sah er sogar ein bisschen erschrocken drein, fand Kim.

»Was ... machst du denn hier?«, fragte er.

Kim stemmte sich auf die Ellbogen hoch, nahm den Grashalm aus dem Mund und schauspielerte ein Gähnen. »Ich konnte nicht schlafen«, sagte er, »deshalb habe ich ein wenig gebastelt um mir die Zeit zu vertreiben.«

Er stand auf, schlenderte an Grendel vorbei und sprang mit einem kurzen Satz auf das Floß. Grendel sah ihm nach und zog überrascht die Augenbrauen hoch, als er die Konstruktion sah, die Kim in den letzten Stunden angebracht hatte.

»Was ist das?«, fragte er scharf.

Kim grinste und legte die linke Hand auf den einfachen Flaschenzug, den er an Grendels Floß angebracht hatte. »Also, ich gebe zu, die Konstruktion sieht ein bisschen abenteuerlich aus, weil ich sie aus dem Gedächtnis nachbauen musste, aber sie funktioniert.«

»Was ist das, habe ich gefragt«, sagte Grendel.

Sein Ton überraschte Kim. Er klang nicht verblüfft oder gar erfreut, sondern beinahe ... wütend!

»Das ist ein Flaschenzug«, antwortete Kim leicht verwirrt. »Da, wo ich herkomme, benutzt man sie um schwere Lasten zu heben, aber sie funktionieren auch in der Horizontalen. Du kannst damit -«

»Wer hat dir erlaubt, das anzubringen?«, unterbrach ihn Grendel. »Mach es ab!«

»Ich wollte dir nur helfen«, sagte Kim verständnislos.

»Indem du mein Floß zerstörst?«

»Ich habe nur beobachtet, wie schwer es dir gefallen ist, das Floß über den Fluss zu ziehen«, antwortete Kim. »Ich habe nichts kaputt gemacht, wenn du das meinst. Damit geht es viel leichter. Warte, ich zeige es dir!«

Er griff nach dem Seil und zog mit nur einer Hand daran und das Floß setzte sich zwar langsam, aber auch beinahe mühelos in Bewegung. »Siehst du?«, fragte er triumphierend.

»Hör sofort auf!«, schrie Grendel. Außer sich vor Wut sprang er zu Kim auf das Floß. »Verschwinde!«, schrie er. »Verschwinde sofort von meiner Fähre und nimm deinen ... neumodischen Kram mit!«

Er riss und zerrte mit aller Kraft an der Konstruktion aus Seilrollen und Kabeln, die Kim am Floß angebracht hatte, war aber so aufgeregt, dass es ihm nicht gelang, sie ernsthaft zu beschädigen.

»Aber ...«, begann Kim hilflos. »Aber ich wollte dir doch nur-«

»Es ist mir gleich, was du wolltest!«, fuhr Grendel ihn an. Er hörte auf an Kims Flaschenzug herumzuzerren, fuhr plötzlich herum und versetzte Kim einen Stoß, der ihn rücklings über das Floß taumeln und beinahe stürzen ließ.

»Runter von meinem Floß!«, schrie er außer sich vor Zorn. »Diese Fähre hat schon meinem Urgroßvater gehört! Sie hat seinen Lebensunterhalt gesichert, den meines Großvaters und meines Vaters und auch meinen und nie musste irgendetwas daran verändert werden! Ich dulde es nicht! Geh ins Haus zurück! Sofort!«

Aus seinem Zorn war mittlerweile rasende, kaum noch zu bezähmende Wut geworden und in seinen Augen flackerte etwas, was beinahe an Hass grenzte. Auf jeden Fall hielt es Kim nachhaltig davon ab, das Gespräch fortzuführen oder Grendel gar noch einmal darauf hinzuweisen, dass er ihm nur einen Gefallen tun wollte. Stattdessen zog er es vor, sich rasch herumzudrehen und an das Ufer zu springen.

Bevor er über die Deichkrone stürmte, sah er noch einmal zur Fähre hinab. Das Floß war bereits ein gutes Stück auf den Fluss hinausgetrieben und Grendel war noch immer dabei, wie von Sinnen an der Flaschenzug-Konstruktion herumzureißen, die Kim so mühsam angebracht hatte.

Was um alles in der Welt hatte er nur falsch gemacht?

Grendel kam erst am späten Nachmittag zurück. Er sagte kein Wort, sondern maß Kim nur mit finsteren Blicken und trat dann immer noch wortlos an den Herd um eine Mahlzeit zuzubereiten. Kim konnte den Groll, den der alte Mann ausstrahlte, regelrecht fühlen - aber er verstand ihn einfach nicht. Den ganzen Tag lang hatte er sich den Kopf darüber zerbrochen, was er denn falsch gemacht haben konnte, aber er konnte es sich einfach nicht erklären.

Grendels Laune war auf jeden Fall noch immer so miserabel, dass er es nicht wagte, ihn anzusprechen, sondern es vorzog, nach ein paar Minuten aufzustehen und sich in sein Zimmer zu trollen.

Eine weitere halbe Stunde verging, in der er Grendel draußen in einer Lautstärke hantieren hörte, die mehr als genug über seine Laune aussagte. Dann aber öffnete Grendel - noch immer wortlos - die Tür und bedeutete Kim zum Essen zu kommen.

Kim hatte überhaupt keinen Appetit, aber er wollte Grendel nicht noch mehr verärgern. Also stand er auf, folgte seinem sonderbaren Wohltäter und nahm an dem bereits gedeckten Tisch Platz.

Sie aßen schweigend, aber schließlich hielt es Kim nicht mehr aus. »Grendel, ich möchte dir etwas sagen«, begann er.

Grendel starrte ihn über den Rand seines Löffels hinweg an, schwieg aber.

»Ich werde gehen«, sagte Kim geradeheraus. »Meine Schulter ist schon wieder ganz in Ordnung, sodass ich reisen kann. Ich habe deine Gastfreundschaft lange genug in Anspruch genommen.«

»Das ist dumm«, sagte Grendel. »Das Boot kommt in zwei Tagen. Mit dem Pferd würdest du eine Woche brauchen um Gorywynn zu erreichen.« Er legte den Löffel aus der Hand und sah Kim durchdringend und nicht sehr freundlich an. »Es ist wegen heute Morgen, nicht wahr?«

Kim nickte. »Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe«, begann er. »Der Flaschenzug funktioniert. Er hätte dir deine Arbeit sehr erleichtert.«

»Und wer sagt dir, dass ich das will?«, fragte Grendel. Seine Miene verfinsterte sich noch mehr. »Woher nehmt ihr Jungen euch das Recht, die Welt nach euren Vorstellungen zu gestalten, ganz egal, ob es uns gefällt oder nicht?«

»Aber so war das doch nicht gemeint!«

»O doch, das war es!« Grendel schlug mit der geballten Faust auf den Tisch, sodass Kim erschrocken zusammenfuhr. »Du hast mich nicht einmal gefragt, ob ich das will. Ich wette, du hast nicht einmal darüber nachgedacht, ob ich es möchte! Du hast es einfach getan!«

»Aber doch nur, um dir zu helfen!«

»Ich brauche keine Hilfe!«, sagte Grendel finster. »Ich tue meine Arbeit, wie ich sie immer getan habe, und ich bin zufrieden damit. Man muss nicht alles verändern, nur weil man es kann!«

»Und man muss etwas nicht für alle Ewigkeiten weiter so machen, nur weil man es immer schon so gemacht hat!«, konterte Kim. »Wenn die Menschen immer so gedacht hätten, würden wir heute noch in Höhlen leben!«

Grendel seufzte. »Du bist wie alle anderen«, sagte er. »Ich dachte, du wärst anders, aber ich habe mich wohl geirrt.«

»Dann ist es vielleicht besser, wenn ich gehe«, sagte Kim. Er machte Anstalten aufzustehen und seine Ankündigung auf der Stelle in die Tat umzusetzen, aber Grendel streckte plötzlich die Hand aus und hielt ihn fast grob zurück.

»Warte!«

Kim hätte sich leicht losreißen können, aber Grendel sah ihm auf eine so sonderbare Weise an, dass er sich nach einer Sekunde wieder auf seinen Stuhl sinken ließ.

»Es ... es tut mir Leid«, sagte Grendel. Sein Blick wich dem Kims aus und Kim spürte, wie schwer ihm dieses Eingeständnis fiel.

»Ich war vielleicht ein bisschen heftig«, fuhr Grendel fort. »Aber du musst das verstehen. So ... so hat es angefangen.«

»Was?«, fragte Kim.

»Die Veränderung. Es ist ... es war normal, dass die Jugend ungestüm ist und nach Veränderung strebt und dass die Alten an ihren Werten festhalten. Aber dann fingen sie an die Veränderungen mit Gewalt durchsetzen zu wollen. Und wir umgekehrt...«

»Ihr habt euch mit Gewalt dagegen gewehrt«, vermutete Kim, als Grendel nicht weitersprach.

Der alte Mann nickte.

»Und dann?«

»Du hast es erlebt«, sagte Grendel.

»Ich habe erlebt, dass sie Krieg gegeneinander führen«, sagte Kim ungläubig. »Aber das ... das ist doch nicht möglich! Was ich gesehen habe, das war ein ausgewachsener Krieg! Ich habe niedergebrannte Städte gesehen und Heere, die sich bis auf den letzten Mann niedergemacht haben! Und das alles völlig grundlos? Das kann nicht sein!«

»Vielleicht gibt es einen Grund«, antwortete Grendel. »Wenn ja, kenne ich ihn nicht. Alle sind geflohen, als der Sturm auf Caivallon begann. Die, die geblieben sind, wurden getötet. Alle außer mir. Weil sie mich brauchen.«

Und endlich verstand Kim. »Niemand will als Fährmann arbeiten, weil die Arbeit so schwer ist«, vermutete er.

Grendel nickte.

»Und mit meinem Flaschenzug -« Könnte jeder die Fähre selbst über den Fluss ziehen, führte er den Satz in Gedanken zu Ende. Er sprach ihn nicht aus, aber er las die Antwort überdeutlich in Grendels Augen. Um ein Haar hätte er mit seiner Hilfe etwas wirklich Schlimmes angerichtet.

»Ich muss wirklich dringend mit Themistokles reden«, sagte er.

»Dann solltest du hier bleiben«, sagte Grendel. »Das Handelsboot ist die schnellste Verbindung von hier nach Gorywynn. Und du könntest mir noch zwei Tage Gesellschaft leisten. Es ist wirklich sehr einsam hier, weißt du?«

Kim überlegte einige Sekunden, aber schließlich nickte er.

Obwohl sie sich mehr oder weniger versöhnt hatten, verlief der Rest des Tages in einer so unangenehmen, angespannten Atmosphäre, dass Kim regelrecht froh war, sich am Abend schlafen legen zu können. Bevor er es tat, warf er noch einen langen, forschenden Blick aus dem Fenster, aber weder von der Spinne noch von dem Pack war auch nur eine Spur zu sehen. Kim fragte sich, ob er den Pack überhaupt noch einmal zu Gesicht bekommen würde. Vielleicht hatte Grendel seinen sonderbaren kleinen Weggefährten ja endgültig verscheucht. Zu seiner eigenen Überraschung empfand er bei dieser Vorstellung ein heftiges Bedauern. Irgendwie hatte er sich mittlerweile an den kleinen Kerl gewöhnt.

Da er sehr früh aufgestanden war, war er müde genug um praktisch auf der Stelle einzuschlafen. Aber auch diese Nacht war sehr viel kürzer als erwartet.

Er erwachte lange vor Sonnenaufgang, weil er einen üblen Traum hatte, in dem er unter einer Steinlawine begraben worden war, deren Tonnengewicht ihm den Atem abschnürte. Ein Teil dieses Traumes folgte ihm hinüber in die Wirklichkeit: Er glaubte jetzt nicht mehr unter Felsmassen begraben zu sein, aber er bekam immer noch kaum Luft. Mit einen Keuchen öffnete er die Augen - und blickte in ein haariges Gesicht mit hässlichen Glubschaugen, einem vorspringenden Unterkiefer und spitzen Ohren.

»Pack!«, murmelte er verschlafen, aber auch angenehm überrascht. »Was machst du denn hier?«

Der Pack legte den Kopf auf die Seite und blinzelte ihn aus seinen kleinen, boshaften Augen an. Kim verstand jetzt immerhin den Grund seines Traumes. Auf seiner Brust lagen keine Felsbrocken, aber das Gewicht des Pack allein reichte schon aus um ihm den Atem abzuschnüren.

»Würdest du vielleicht freundlicherweise von mir runtergehen?«, fragte er kurzatmig. »Am besten, bevor ich erstickt bin?«

Natürlich reagierte der Pack nicht sofort, sondern blieb noch ein paar Sekunden lang reglos auf seiner Brust hocken, ehe er gemächlich von ihm herunterstieg. Er bewegte sich irgendwie ... sonderbar, fand Kim.

Gähnend stemmte er sich auf die Ellbogen hoch, blinzelte ein paar Mal und musterte den Pack aus verschlafenen Augen.

»Ich hätte zwar nicht geglaubt, dass ich das noch einmal sage«, sagte er, »aber ich freue mich, dich zu sehen. Du bist...« Er brach ab und riss die Augen auf. Wenigstens sah er jetzt, warum sich der Pack so sonderbar bewegt hatte ...

»He!«, fragte er. »Was willst du mit der Bratpfanne?«

Es war eine ziemlich dumme Frage.

Nachdem sein Kopf aufgehört hatte wie eine Glocke zu dröhnen, stemmte er sich zum zweiten Mal aus dem Kissen hoch und versuchte die wirbelnden Funken vor seinen Augen wegzublinzeln. Der Pack war um sein Bett gehüpft und hatte sich vorsichtshalber bis zur Tür zurückgezogen. Die Bratpfanne, mit der er ihn geweckt hatte, hielt er noch immer in der rechten Hand.

»Sehr witzig«, maulte Kim. »Das war wirklich ungeheuer komisch. Was sollte das?«

Der Pack warf die Bratpfanne in die Ecke, öffnete die Tür und trippelte hinaus, kam aber nach einem Moment schon zurück und starrte ihn herausfordernd an. Nachdem er dieses Manöver insgesamt dreimal wiederholt hatte, begriff Kim endlich.

»Du willst, dass ich mit dir komme«, sagte er. »Warum? Willst du mir etwas zeigen?«

Der Pack trippelte abermals aus dem Zimmer und kam zurück. Kim, der noch immer leichte Kopfschmerzen hatte, stand auf, schlüpfte rasch in seine Kleider und verließ das Zimmer. Er war nicht besonders überrascht, dass Grendel nicht da war. Wäre der alte Mann zu Hause gewesen, hätte sich Pack vermutlich nie hereingetraut.

»Und jetzt?«, fragte Kim.

Der Pack durchquerte rasch das chaotische Zimmer, öffnete die Haustür und huschte hinaus, nur um gleich darauf wieder zurückzukommen.

»Ich verstehe«, seufzte Kim. »Was hast du da draußen? Eine Fallgrube voller spitzer Stöcke, in die ich hineinstolpern soll?« Trotz dieser Worte folgte er dem Pack nach draußen. Es war wirklich noch sehr früh und entsprechend kalt. Kim schätzte, dass bis zum Sonnenaufgang noch mindestens drei, wenn nicht vier Stunden vergehen würden. Er konnte sich kaum vorstellen, dass Grendel um diese Zeit schon zur Arbeit gegangen war. Wer um alles in der Welt brauchte mitten in der Nacht eine Fähre?

Der Pack führte ihn jedoch geradewegs zum Fluss. Erst als sie nur noch einen Steinwurf vom Deich entfernt waren, blieb er stehen, gestikulierte einen Moment lang heftig zum Fluss hin und verschwand dann in der Dunkelheit.

Durch das sonderbare Verhalten des Pack gewarnt, legte Kim den Rest der Strecke sehr vorsichtig zurück. Auf den letzten Metern ließ er sich sogar auf Hände und Knie nieder, bis er die Deichkrone erreichte.

Er war sehr froh, so vorsichtig gewesen zu sein.

Grendel stand auf der anderen Seite des Deiches am Ufer und er war nicht allein. Im Schein einer blakenden Fackel, die am Geländer seines Floßes befestigt war, zählte Kim vier schlanke Gestalten in weißen Hemden und eng anliegenden, wildledernen Hosen. Keiner von ihnen war älter als Kim.

Und zumindest einen der Jungen kannte Kim.

»Du bist also sicher, dass er nichts gemerkt hat?«, fragte Kai in diesem Moment. »Unterschätz den Burschen nicht. Er ist ziemlich raffiniert.«

»Bestimmt nicht«, versicherte Grendel. Er schien nicht in der Lage, länger als eine Sekunde still zu stehen. Kim konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber seine Stimme verriet Grendels Nervosität umso deutlicher.

»Ich will es hoffen«, sagte Kai. »Für dich, alter Mann. Du weißt, was passiert, wenn er uns wieder entwischt.«

»Dann siehst du deinen Sohn nie wieder«, fügte einer der anderen Jungen hinzu.

»Wie geht es ihm?«, fragte Grendel rasch. »Wo ist er?«

»Bei uns«, antwortete Kai. »Und da bleibt er auch, bis du deinen Teil der Abmachung eingehalten hast. Es bleibt also dabei: Du sorgst dafür, dass er auf das Schiff geht. Sobald wir ihn haben, schicken wir deinen Sohn zu dir zurück.«

Kim hatte genug gehört. Vorsichtig schob er sich rücklings die Böschung hinab, richtete sich auf und lief schnell, aber so gut wie lautlos, weit genug davon um vor einer zufälligen Entdeckung sicher zu sein.

Seine Gedanken waren in hellem Aufruhr. Er weigerte sich einfach zu glauben, dass Grendel ihn derartig hintergangen haben sollte. Aber was er gehört hatte, das ließ keinen Zweifel aufkommen: Das Fährboot, von dem Grendel seit einer Woche sprach, war eine Falle.

Er ging zum Haus zurück, war aber viel zu aufgeregt um sich wieder schlafen zu legen. Er hätte es gar nicht gewagt, schon aus Angst, dass Grendel es sich vielleicht anders überlegen und auf Nummer sicher gehen könnte, indem er etwa gleich mit Verstärkung zurückkam oder ihn fesselte und knebelte, damit er nicht im letzten Moment noch floh.

Vielleicht sollte er genau das machen, überlegte er. Er sollte einfach seine Sachen packen und verschwinden, am besten, noch bevor Grendel von seinem konspirativen Treffen zurückkam.

Er war zutiefst enttäuscht. Er hatte Grendel gewiss nicht für einen Freund gehalten, aber von ihm derart verraten zu werden, das war hart. Trotzdem konnte er Grendel sogar verstehen. Ganz offensichtlich hielten Kai und die anderen Grendels Sohn als Geisel zurück; Kim hätte sich an seiner Stelle nicht anders entschieden.

Seine Sachen waren rasch zusammengesucht. Mit Ausnahme des Zauberbogens und seiner Satteltaschen hatte er ja praktisch nichts mitgebracht. Er trug alles in den Stall, zäumte sein Pferd auf und hatte eigentlich vor, dann wieder ins Bett zu gehen und den Schlafenden zu spielen, bis Grendel zurückkam und anschließend wieder ganz normal zur Arbeit ging. Die fünf oder sechs Stunden, die dann bis zu seiner abermaligen Rückkehr vergehen mochten, mussten als Vorsprung eben reichen.

Doch es kam anders.

Er befand sich gerade wieder auf dem Rückweg zum Haus, als Grendel plötzlich wie aus dem Boden gewachsen vor ihm auftauchte. Ein einziger Blick in sein Gesicht machte Kim klar, dass es vollkommen sinnlos war, ihm irgendetwas vormachen zu wollen.

Trotzdem versuchte er es. »Oh, hallo!«, sagte er, den Ahnungslosen spielend; allerdings konnte er es nicht sehr gut. »Ich konnte nicht schlafen und da dachte ich mir -«

»Dass du klammheimlich deine Sachen packst und verschwindest«, unterbrach ihn Grendel mit steinernem Gesicht. »Warum?«

»Ich wollte nicht verschwinden«, behauptete Kim. »Ich wollte nur -«

»Lüg mich nicht an«, fiel ihm Grendel ins Wort. »Ich habe dich in mein Haus aufgenommen. Ich habe mein Essen mit dir geteilt, dir Kleider gegeben und dich vor deinen Feinden versteckt und zum Dank willst du dich bei Nacht und Nebel davonschleichen.«

Kim sah ein, dass es keinen Sinn mehr hatte zu lügen. Und er hatte auch gar keine Lust dazu. »Ich war am Fluss«, sagte er. Grendel antwortete nicht sofort. Er sah Kim nur an und eine Mischung aus Trauer und Resignation machte sich auf seinem Gesicht breit.

»Warum?«, fragte Kim schließlich.

»Wenn du am Fluss warst, dann hast du das ja auch gehört«, antwortete Grendel. »Es geht um meinen Sohn. Ich verrate dich nicht gerne, aber ich habe keine Wahl. Ich bekomme ihn zurück, wenn ich dich ausliefere.«

»Haben sie ihn entführt?«, fragte Kim.

»Entführt?« Grendel schüttelte den Kopf. »O nein. Er ist mit ihnen gegangen, nachdem sie Caivallon niedergebrannt hatten. Er ist jetzt bei dem großen Heer.«

»Und du glaubst wirklich, er wird freiwillig zu dir zurückkommen?«, fragte Kim.

»Er wird es tun, wenn Kai es ihm befiehlt«, antwortete Grendel und der Ton, in dem er es tat, machte Kim klar, wie sinnlos es war, ihm erklären zu wollen, dass Kai wahrscheinlich nicht Wort halten würde; und wenn, dass Grendels Sohn wahrscheinlich nicht zurückkommen wollte. Grendel glaubte daran, weil er es glauben wollte.

»Wer ist dieser Kai eigentlich?«, fragte er.

»Er war der beste der jungen Steppenreiter«, antwortete Grendel. »Und ein guter Freund meines Sohnes - bevor sich alles verändert hat. Heute ist er einer der Heerführer. Und die rechte Hand des Magiers der Zwei Berge.«

»Der Magier der Zwei Berge?«

Grendel hob die Schultern. »Man sagt, dass er die Armee aufgestellt und den Krieg vom Zaun gebrochen hat. Niemand weiß, wer es wirklich ist. Und ich schon gar nicht.« Er seufzte. »Du willst also gehen. Aber das wäre vollkommen sinnlos. Sie durchstreifen die ganze Gegend, weißt du? Du kämst keine Stunde weit.«

»Ich werde es trotzdem versuchen«, sagte Kim.

»Nein«, antwortete Grendel. »Ich fürchte, das kann ich nicht zulassen.«

Seine Bewegung kam so schnell, dass Kim nicht einmal eine Chance hatte ihr auszuweichen. Grendels Rechte schoss vor und schloss sich mit solcher Kraft um sein Handgelenk, dass er vor Schmerz aufschrie.

»Es tut mir Leid«, sagte Grendel. »Aber ich habe keine Wahl.«

Kim wehrte sich mit aller Gewalt, aber Grendels Griff war wie ein Schraubstock. Der alte Mann war stärker, als er aussah. Die harte Arbeit, die er ein Leben lang ausgeführt hatte, war nicht spurlos an ihm vorbeigegangen.

Kim zerrte und riss mit aller Kraft, aber es war aussichtslos. Schließlich ließ er alle Rücksicht fahren und versuchte nach Grendel zu schlagen und zu treten, aber auch das erwies sich als zwecklos. Grendel wich seinen Hieben geschickt aus, ergriff ihn schließlich ohne sichtbare Mühe und hob ihn einfach hoch. Ohne Kims verzweifelte Gegenwehr oder sein lautes Schreien auch nur zur Kenntnis zu nehmen, trug er ihn zum Pferdestall zurück, warf ihn in hohem Bogen auf einen Heuhaufen und knallte die Tür zu. Der Riegel wurde polternd vorgelegt, noch bevor Kim sich aufrappeln konnte.

Wütend rannte er zur Tür zurück und hämmerte mit den Fäusten dagegen. Die Tür bebte, gab aber keinen Millimeter nach.

»Gib dir keine Mühe«, drang Grendels Stimme von draußen herein. »Wir haben früher wilde Pferde dort drinnen gehalten. Du kommst nicht heraus.«

Kim musste zugeben, dass Grendel vermutlich Recht hatte. Die Tür war massiv genug, um selbst dem Ansturm eines wütenden Stieres standzuhalten, und die Fenster waren so schmal, dass selbst der Pack Mühe gehabt hätte, sich hindurchzuquetschen. Der einzige Schwachpunkt schien die Decke zu sein, die nur aus einfachen Holzschindeln bestand. Aber sie befand sich gute drei Meter über ihm und es gab keine Möglichkeit hinaufzuklettern. In seiner Verzweiflung versuchte Kim sogar sich einen Weg unter der Tür hindurchzugraben, aber der Boden war hart wie Stein. Er saß in der Falle.

Es verging eine gute halbe Stunde, bis er draußen wieder Geräusche hörte. Kim rief Grendels Namen, bekam aber keine Antwort. Die Geräusche hielten jedoch an und nach ein paar weiteren Sekunden identifizierte er sogar die Richtung, aus der sie kamen: von oben. Jemand war auf dem Dach.

Kim hatte diesen Gedanken kaum gedacht, da musste er sich auch schon mit einem hastigen Satz in Sicherheit bringen, weil es von oben zerbrochene Holzschindeln regnete. Binnen weniger Augenblicke entstand auf diese Weise ein gut meterbreites Loch im Dach, durch das ein pelziges Gesicht auf ihn herabblickte.

»Pack!«, rief er erleichtert. »Dich schickt der Himmel! Schnell! Besorg ein Seil!«

Der Pack schnatterte eine unverständliche Antwort und nutzte die Gelegenheit um Kim eine Dachschindel an den Kopf zu werfen, verschwand dann aber prompt und gleich darauf wurde ein dünnes, weißes Seil durch das Loch herabgelassen.

Eigentlich war es gar kein richtiges Seil, sondern nur eine Art Faden, dünn wie ein Haar und seidig glänzend. Noch während Kim es verdattert anstarrte, erschien ein weißes Gesicht mit zwei nadelspitzen Fangzähnen und einem halben Dutzend glänzender Knopfaugen in der Öffnung im Dach und eine dünne Stimme sagte ungeduldig: »Worauf wartest du? Auf einen roten Teppich?«

»Du?«, sagte Kim verwirrt. Dann blickte er wieder zweifelnd auf den Spinnfaden.

»Jetzt stell dich nicht so an«, keifte die Spinne. »Es hält schon. Vor allem ein Fliegengewicht wie dich!«

Kim war da nicht so sicher, aber welche Wahl hatte er schon? Er griff nach dem Faden und zog ein paar Mal daran und zu seiner Überraschung stellte er fest, dass es sein Gewicht tatsächlich zu halten schien. Also kletterte er daran empor - was sich allerdings als gar nicht so einfach erwies. Der Seidenfaden war zwar so stabil wie ein Drahtseil, aber einfach zu dünn, um vernünftig daran emporklettern zu können. Er zerschnitt sich übel die Hände und war vollkommen außer Atem, als er endlich oben auf dem Dach war.

Die Spinne betrachtete ihn spöttisch. »Geschickt«, sagte sie hämisch. »Ich frage mich, wie es eure Rasse jemals von den Bäumen herunter geschafft hat.«

»Das kann ich dir sagen«, knurrte Kim. Er richtete sich ärgerlich auf, verlor auf dem abschüssigen Dach prompt den Halt und schlitterte hilflos mit den Armen rudernd über den Rand. Mit einem Schrei stürzte er in die Tiefe, schlug schwer auf dem Boden auf und verletzte sich nur wie durch ein Wunder nicht schwer.

Als er sich benommen wieder aufrichtete, lugte die Spinne über den Rand des Daches zu ihm herab.

»Aha«, sagte sie. »So also.«

Kim schenkte ihr einen bösen Blick, beließ es aber dabei und rappelte sich hoch um zur Tür zu humpeln. Grendel hatte gottlob nur einen Riegel vorgelegt, den er mit einiger Mühe zur Seite wuchten konnte.

Als er die Tür öffnete, kam Twix auf wirbelnden goldenen Flügeln herangesaust und piepste in höchster Panik: »Schnell! Sie sind gleich da!«

»Fleisch!«, krächzte die Spinne vom Dach aus. Die Elfe erschrak so sehr, dass sie für einen Moment nicht Acht gab und in vollem Tempo gegen die Wand flog.

Kim fing sie auf, steckte sie in die Hemdtasche und rannte in den Stall. Mit einem Satz war er im Sattel, beugte sich tief über den Hals des Pferdes und sprengte aus der Tür.

So schnell er auch war - möglicherweise war er doch nicht schnell genug. Im selben Moment, in dem er den Stall verließ, tauchten Kai und zwei andere junge Steppenreiter am Ende der kurzen Straße auf.

Kai reagierte sofort, während die beiden Jungen Kim nur verblüfft anstarrten. Der junge Steppenreiter trieb seinem Pferd rücksichtslos die Absätze in die Flanken, worauf das Tier erschrocken aufschrie und einen regelrechten Satz in Kims Richtung machte.

Die beiden Tiere prallten mit solcher Wucht zusammen, dass Kim beinahe und Kai tatsächlich den Halt verlor. Er kippte mit einem überraschten Schrei aus dem Sattel, schlug aber noch im Fallen einen Salto und landete mit artistischer Geschicklichkeit auf den Füßen, während Kim noch damit beschäftigt war, um sein Gleichgewicht zu kämpfen und sein bockendes Pferd wieder unter Kontrolle zu bekommen.

Kai zog sein Schwert, schwang die Waffe mit beiden Händen und hieb nach Kims linkem Bein. Im allerletzten Moment riss Kim den Fuß aus dem Steigbügel und entging dem gemeinen Hieb, aber die Schwertspitze streifte die Flanke des Pferdes und fügte ihm eine tiefe, heftig blutende Wunde zu.

Das Pferd bäumte sich mit einem Schmerzensschrei auf und schlug mit den Vorderläufen aus. Kai wurde getroffen, stolperte ein paar Schritte nach hinten und ließ sein Schwert fallen und Kim stürzte endgültig aus dem Sattel.

Sofort war er wieder auf den Füßen. Aber er sah, dass nun auch die beiden anderen Jungen ihre Überraschung überwunden hatten und herangesprengt kamen. Er hatte nicht die geringste Chance, rechtzeitig wieder auf sein Pferd zu kommen. Die beiden Jungen mussten in zwei oder drei Sekunden hier sein.

Sie hätten ihn auch garantiert erwischt, hätten sie in ihrer Hast nicht den dünnen, glitzernden Faden übersehen, der sich plötzlich quer über die Straße spannte.

Kim zog erschrocken den Kopf zwischen die Schultern, als die beiden plötzlich reiterlosen Pferde rechts und links an ihm vorbeipreschten. Die beiden Jungen lagen drei oder vier Meter entfernt auf dem Boden und versuchten vergeblich zu verstehen, was eigentlich passiert war.

Trotzdem hatte er keine Zeit zu verlieren, denn auch Kai richtete sich bereits wieder auf und tastete benommen nach der gewaltigen Beule, die mitten auf seiner Stirn wuchs.

Kim bückte sich hastig nach dem Schwert, das Kai fallen gelassen hatte, schob es unter seinen Gürtel und humpelte zu seinem Pferd. Das Tier tänzelte unruhig auf der Stelle und stieß schnaubende, schmerzerfüllte Laute aus. Die Wunde an seiner Seite war wirklich tief und sie blutete heftig.

»Gib auf, du Dummkopf!«, stöhnte Kai hinter ihm. »Du kannst nicht entkommen.«

Kim drehte sich zu ihm herum. Kai hatte sich auf Hände und Knie erhoben, aber offensichtlich fehlte ihm die Kraft, ganz aufzustehen. Trotzdem grinste er, als er Kim ansah.

»Du bist wirklich gut, das muss man dir lassen«, sagte er. »Du machst deinem Namen alle Ehre.«

Für einen kurzen Moment empfand Kim beinahe Hass auf den blonden Jungen und er hätte nichts lieber getan als seinen Bogen vom Sattel zu lösen und Kai einen Pfeil mitten in sein hämisches Grinsen zu schießen. Aber in derselben Sekunde schämte er sich dieses Gedankens auch schon wieder.

»Du wirst dich noch wundern, wie sehr!«, sagte er grimmig, griff nach den Zügeln und schwang sich in den Sattel. Das Pferd keuchte vor Schmerz, hielt aber trotzdem gehorsam still, bis er aufgestiegen war.

»Das hat doch keinen Sinn!«, rief Kai. »Du hast nichts zu befürchten! Unser Herr will mit dir sprechen, das ist alles!«

Kim ignorierte ihn. Vorsichtig drehte er das Pferd herum und ließ es lostraben. Das Tier zitterte heftig, setzte sich aber trotzdem gehorsam in Bewegung. Doch er spürte, wie schwer ihm jeder Schritt fiel. Seine Kraft würde nicht mehr lange vorhalten. Langsam ritt er aus dem winzigen Dorf und wandte sich nach Westen. Die Ruinen Caivallons ragten riesenhaft und irgendwie bedrohlich vor ihm empor, aber vermutlich war die niedergebrannte Stadt die einzige Chance, die er hatte. Mit diesem verwundeten Tier würde er nicht weit kommen. Und wenn Kai und die anderen erst einmal anfingen nach ihm zu suchen, dann musste sein Vorsprung rasch dahinschmelzen. Er brauchte ein Versteck, in dem er sich um die Verletzung des Pferdes kümmern - und vor allem einen Plan entwickeln konnte.

Kim war erst wenige Minuten unterwegs, als er eine Staubwolke vor sich sah. An ihrem Beginn, noch winzig klein, aber deutlich zu erkennen, schimmerte ein halbes Dutzend weißer Punkte.

Es gehörte nicht besonders viel Fantasie dazu, sich auszurechnen, was sie darstellten.

Kim hielt an, griff in die Hemdtasche und zog die Elfe hervor. Sie wirkte noch immer benommen. Ihre Flügel waren zerknittert.

»O Mann«, murmelte sie. »Das war vielleicht ein -«

»Dafür ist jetzt keine Zeit, Twix«, sagte Kim rasch. »Kannst du fliegen?«

»Natürlich kann ich fliegen«, piepste Twix. »Ich bin eine Elfe!«

»Ich meine, ob du jetzt fliegen kannst«, sagte Kim.

»Jetzt?« Twix schlug prüfend mit den Flügeln, erhob sich ein paar Zentimeter von seiner Hand und plumpste zurück.

»Es wird schon gehen«, behauptete sie. »Wohin soll ich denn fliegen?«

»Nicht weit.« Kim deutete steil nach oben. »Sag mir nur, aus welcher Richtung sie kommen.«

»Wird gemacht, Chef«, antwortete die Elfe. Ein wenig wackelig, aber schneller werdend, schraubte sie sich in engen Spiralen in die Höhe und verschwand schon nach zwei Sekunden aus Kims Gesichtsfeld.

Die Staubwolke vor ihm war noch nicht sehr viel näher gekommen, aber das lag wahrscheinlich nur daran, dass die Jungen ihn noch nicht entdeckt hatten. Kim machte sich nichts vor: Auch mit einem gesunden Pferd hatte er keine Chance, ein Wettrennen gegen ein oder zwei Dutzend Verfolgern zu gewinnen. Zurück konnte er auch nicht, denn dort warteten Kai und zwei vermutlich höchst miserabel gelaunte Steppenreiter auf ihn, und zur Rechten befand sich der Fluss, der eine unüberwindliche Barriere bildete. Im Grunde konnte er nur nach Norden.

Trotzdem wartete er, bis Twix zurückkam und sich wieder auf seiner Schulter niederließ. »Nun?«

»Also, der Pack schleicht gar nicht weit entfernt heran und diese widerwärtige verfressene ungehobelte Spinne kriecht irgendwo durchs Gras und denkt wohl, dass ich -«

»Twix!«

»Ja?«

»Die anderen«, sagte Kim. »Kai und seine Kumpanen! Wo sind sie?«

»Oh«, machte Twix. »Darauf habe ich nicht geachtet. Du hast nichts von ihnen gesagt.«

Kim schloss die Augen, zählte in Gedanken langsam bis drei und sah dann nach Norden. Dieser eine Blick machte jede weitere Frage überflüssig.

Durch das hüfthohe Gras kam ein halbes Dutzend Reiter herangejagt und diese Reiter hatten ihn gesehen, daran bestand gar kein Zweifel. Nun blieb ihm nur noch der Weg zum Fluss. Kim fluchte lautlos in sich hinein, wendete das Pferd und ließ es antraben. Der Weg war nicht weit. Er würde das Ufer wahrscheinlich erreichen, ehe die Verfolger ihn einholten, aber er hatte nicht die geringste Ahnung, was er dann tun sollte. In der reißenden Strömung war an Schwimmen gar nicht zu denken; ganz davon zu schweigen, dass er viel zu breit war. Selbst Grendels Fähre brauchte fast eine Stunde, um ...

Die Fähre!

Warum hatte er denn nicht gleich daran gedacht? Es gab ja einen Weg über den Fluss!

Von diesen Gedanken mit neuer Hoffnung erfüllt, ritt Kim schneller und erreichte binnen weniger Minuten den Deich. Bevor er ihn in Angriff nahm, drehte er sich noch einmal im Sattel herum und sah zu seinen Verfolgern zurück.

Was er sah, gefiel ihm ganz und gar nicht! Die Reiter waren doch viel schneller näher gekommen, als er gehofft hatte. Er konnte sich nicht mehr einbilden auf die Fähre zu kommen, ohne dass sie es merkten. Und als wäre das allein noch nicht genug, hatte mittlerweile auch die zweite Gruppe, die sich ihm von Caivallon her näherte, gehörig an Tempo zugelegt. Sie mussten ihn entdeckt haben. Kim schätzte, dass sie ungefähr gleichzeitig wie die anderen eintreffen würden.

Er lenkte das Pferd die Böschung hinauf und stellte fest, dass er zumindest in einem Glück gehabt hatte: Er war nicht sehr weit von der Anlegestelle entfernt und die Fähre lag auf dieser Seite des Ufers. Grendel war nicht da.

Kim unterdrückte den Impuls, noch einmal zu seinen Verfolgern zurückzusehen, sondern lenkte das Pferd in raschem Tempo den Deich hinab und auf die Fähre zu.

Am liebsten hätte er laut gejubelt, als er die Fähre genauer sah. Grendel hatte sich zwar enorm über seinen Flaschenzug aufgeregt, ihn aber trotzdem nicht komplett abgebaut, sondern einfach nur ausgehängt.

Kim sprang aus dem Sattel, kaum dass die Hufe des Pferdes das Holz berührten. Mit fliegenden Fingern machte er sich an die Arbeit.

Die Zeit schien plötzlich zu rasen. Er würde nicht lange brauchen um den Flaschenzug wieder einzuhängen und mit dem Führungsseil der Fähre zu verbinden. Aber vielleicht würde er diese wenige Augenblicke nicht mehr haben, denn auf der anderen Seite des Deiches wurde das Dröhnen zahlreicher Pferdehufe laut.

Als er den Blick hob, sah er, dass seine schlimmsten Befürchtungen wahr wurden: Nicht nur eine, sondern beide Verfolgertruppen erschienen gleichzeitig auf dem Kamm der Düne. Aber etwas stimmte nicht. Bei der Gruppe, die er zuerst entdeckt hatte, handelte es sich um Jungen - aber auch etliche Mädchen -, die vornehmlich die weiße Kleidung der Steppenreiter trugen. Der zweite, kleinere Trupp jedoch bestand aus wesentlich älteren Männern. Kriegern, um genau zu sein. Sie trugen ausnahmslos Rüstungen und Schilde. Angeführt wurden sie von dem bärtigen Mann, den Kim bereits in der Gastwirtschaft kennen gelernt hatte.

Kaum hatten sich die beiden unterschiedlichen Gruppen erblickt, da brandete auch schon auf beiden Seiten ein wütendes Gebrüll auf; sie zogen ihre Waffen und gingen unverzüglich aufeinander los.

»He!«, piepste Twix. »Sind das Freunde von dir?«

Kim schwieg gute fünf Sekunden, ehe er antwortete; leise und beinahe zögernd. »Ich fürchte, nein«, sagte er.

»Aber sie greifen sich doch gegenseitig an!«

»Das stimmt«, gab Kim zu. »Aber ich fürchte, sie prügeln sich darum, wer mich umbringen darf...«

Trotzdem war das unerwartete Auftauchen dieses zweiten Heeres vielleicht genau die Chance, die er brauchte. Vor seinen Augen entbrannte eine regelrechte Schlacht, bei der die Chancen nur scheinbar ungleich verteilt waren. Die Reiter aus Caivallon waren ihren Gegnern an Zahl zwar hoffnungslos überlegen, aber sie waren trotz allem Kinder, und ihre Feinde waren viel besser bewaffnet - und sie nahmen nicht besonders viel Rücksicht auf die Jugend ihrer Gegner. Der Ausgang der Schlacht war völlig offen.

Kim sah nicht weiter zu, sondern beeilte sich, den Flaschenzug anzubringen und das Seil wieder einzuhängen. Als er fast damit fertig war, gewahrte er eine Bewegung aus den Augenwinkeln und griff erschrocken zur Waffe. Aber es war nur der Pack. Er sah ziemlich mitgenommen aus. Er verzichtete sogar darauf, Kim einen Tritt in die Kniekehlen zu versetzen, als er an ihm vorbeiging. Kim arbeitete mit fliegenden Fingern weiter.

Beinahe hätte er es sogar geschafft. Der Kampf wogte hin und her, ohne dass eine Seite einen entscheidenden Vorteil erringen konnte, und Kim beendete unbehelligt seine Arbeit und griff nach dem Seil. Das Floß setzte sich zitternd in Bewegung. Als er zwei oder drei Meter vom Ufer entfernt war, lösten sich ein halbes Dutzend Gestalten aus dem Kampf und stürmten in seine Richtung. Es waren zwei Männer aus dem Heer der Erwachsenen und vier Jungen.

Kim zerrte mit verzweifelter Kraft am Seil, griff mit der anderen Hand nach Turocks Bogen - und zog die Hand wieder zurück. Die Bewegung fiel ihm unendlich schwer und er hatte das Gefühl, dass der schwarze Bogen am Sattel zitterte, als könne er es gar nicht erwarten, in seine Hand zu springen und seine Arbeit zu tun.

Er wagte es nicht, den Zauberbogen zu benutzen, denn er musste daran denken, was das letzte Mal passiert war. Er hatte nur flüchtig daran gedacht, seinem Gegner ins Bein zu schießen, und die Pfeile hatten mit unheimlicher Präzision ihr Ziel getroffen, selbst als er es gar nicht mehr wollte.

Vorhin, als er in Kais Gesicht geblickt hatte, hatte er nicht an sein Bein gedacht...

Statt die Waffe zu benutzen, griff er mit beiden Händen nach dem Seil und zerrte mit aller Gewalt. Der Fluss wurde schneller, zumal er jetzt in die Strömung geriet.

Aber nicht schnell genug.

Seine Verfolger waren ins Wasser gewatet und begannen nun mit raschen Zügen zu schwimmen. Mindestens zwei oder drei würden die Fähre erreichen, erkannte Kim. Er zerrte und zog weiter, griff aber mit einer Hand nach dem Schwert.

Zwei Verfolger gaben auf und schwammen zum Ufer zurück, dann noch zwei: Die beiden übrig gebliebenen jedoch schwammen weiter. Und sie kamen näher.

Kim zog das Schwert, schwang die Waffe mit beiden Händen hoch über dem Kopf und schlug mit aller Gewalt zu. Das Führungsseil des Fährfloßes zersprang mit einem peitschenden Knall. Das Floß zitterte, schien einen Moment lang still zu stehen und begann sich auf der Stelle zu drehen. Die beiden Schwimmer kamen rasch näher und Kim bereitete sich innerlich darauf vor, nun doch um sein Leben kämpfen zu müssen. Er war jetzt gute zehn Meter vom Ufer entfernt und bewegte sich immer schneller, aber auch die Schwimmer wurden von der Strömung erfasst und holten weiter auf.

Sie hatten die Fähre beinahe erreicht, als am Ufer ein gut fußballgroßer weißer Ball auftauchte, der auf mehr als einem halben Dutzend wirbelnder Beine durch das Gras flitzte - und ohne innezuhalten einfach über das Wasser lief!

Die Spinne verlor nicht einmal an Geschwindigkeit, sondern rannte einfach über die Wasseroberfläche, sprang auf den Rücken eines der Schwimmer und schoss einen glitzernden Faden nach den Beinen des anderen ab. Zielsicher wie ein Lasso wickelte er sich um das Fußgelenk des Mannes und die Spinne kappte den Faden, wirbelte blitzschnell herum und knotete das andere Ende um das Handgelenk des anderen Mannes.

Der Schwimmer begann vor Entsetzen zu kreischen, als er sah, was auf seinem Rücken saß, vergaß prompt zu schwimmen und ging unter und die Spinne lief weiter und krabbelte dicht neben Kim auf das Floß. Twix kreischte erschrocken und verschwand nahezu mit Lichtgeschwindigkeit in Kims Brusttasche und der Pack klappte aufmerksam die Ohren hoch und zog sich ans andere Ende des Floßes zurück.

Kim machte eine beruhigende Geste, konzentrierte sich aber ganz auf die beiden Schwimmer. Die Männer hatten ihren Rhythmus wieder gefunden, aber sie hatten jetzt ein anderes Problem als ihn zu verfolgen. Aneinander gebunden, wie sie waren, würden sie von Glück sagen können, wenn sie das Ufer wieder erreichten.

Kim atmete erleichtert auf. Der Kampf am Ufer neigte sich seinem Ende zu, aber er konnte noch immer nicht sagen, welche Seite gewonnen hatte. Vielleicht keine. Und selbst wenn - die Schlacht war vollkommen sinnlos geworden. Der Preis, um den es ging - er -, war nicht mehr da.

»Das war verdammt knapp«, murmelte er.

»Ja, gerne geschehen«, sagte die Spinne. »Freunden tut man doch gerne einen Gefallen.«

»Freunden?!«, piepste eine Stimme aus seiner Tasche.

»So ein Stück harte Arbeit macht hungrig«, fuhr die Spinne fort. Sie kam unauffällig näher und linste zu Kims Brusttasche hoch. »Meinst du nicht, dass du mir einen kleinen Happen schuldig bist?«

»Ich habe nichts«, sagte Kim. Er drehte sich einmal im Kreis und versuchte die Richtung abzuschätzen, in der sich das Floß bewegte, aber es gelang ihm nicht.

»Du lügst«, sagte die Spinne.

»Du hörst doch, er hat nichts!«, piepste Twix aus seiner Tasche heraus.

»Tut mir Leid«, antwortete die Spinne. »Aber ich darf nicht mit dir reden.« Sie berührte Kim mit drei Beinen am Fuß. »Fleisch?«

»Nein«, sagte Kim.

»Fang dir doch einen Fisch«, fügte Twix hinzu.

»Ach, und womit? Habe ich etwa eine Angel in der Tasche?«

»Web dir doch ein Netz«, riet Twix. Sie streckte vorsichtig den Kopf ins Freie, sah auf die Spinne hinab - und blies eine Wolke von goldfarbenem Staub auf sie. Die Spinne kreischte, war mit einem einzigen Hüpfer am anderen Ende der Fähre und handelte sich prompt einen Fußtritt des Pack ein.

»Schluss jetzt!«, sagte Kim streng. »Das ist ja schlimmer als im Kindergarten. Ihr benehmt euch oder ihr könnt hinterher schwimmen.«

»Ich kann nicht schwimmen«, sagte die Spinne übellaunig. »Nicht mit leerem Magen.«

Kim zog es vor, nichts mehr zu sagen.

Das Floß trieb im Laufe der folgenden Stunden bis in die Flussmitte hinaus und geriet dabei immer mehr in den Sog der Strömung. Es wurde immer schneller, bis es regelrecht dahinschoss, aber es machte keine Anstalten sich etwa dem jenseitigen Ufer zu nähern.

Kim begann sich zu fragen, wie er seine Fahrt beenden sollte. Es gab an Bord der Fähre weder ein Ruder noch irgendeine andere Möglichkeit, den Kurs des Floßes zu beeinflussen.

Aber diese Frage hatte Zeit. Wenn er sich richtig erinnerte, dann waren es fast drei Tage bis zu Themistokles' gläserner Stadt. Schlimmstenfalls konnte er Twix vorausschicken, damit sie den Zauberer alarmierte und er Hilfe schickte.

Heute hatte er eine andere Aufgabe für die Elfe.

Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass die Spinne in sicherer Entfernung dahockte, nahm er die Elfe aus der Brusttasche und ging mit ihr zu seinem Pferd. Die Wunde in der Flanke des Tieres hatte aufgehört zu bluten, aber sie sah sehr schlimm aus.

»Kannst du ihm helfen?«, fragte er.

Twix legte die winzige Stirn in noch winzigere Falten und betrachtete die hässliche Schnittwunde eine ganze Weile. Dann erhob sie sich auf wirbelnden Flügeln in die Luft und ließ goldenen Elfenstaub auf das Tier herabrieseln.

Die Wirkung war nicht so dramatisch, wie Kim erwartet hatte. Das Tier tänzelte weiter nervös auf der Stelle und die Wunde schloss sich auch nicht. Nach einer guten halben Stunde ließ sich Twix wieder auf seine Schultern sinken. »Mehr kann ich nicht tun«, sagte sie erschöpft. »Jedenfalls heute nicht. Ich habe all meinen Zauberstaub aufgebraucht. Vor morgen früh kommen meine Kräfte nicht zurück.«

Die Spinne öffnete zwei oder drei Augen und spannte sich ein bisschen. Kim warf ihr einen drohenden Blick zu und wandte sich dann wieder an die Elfe. »Aber du hast ihm helfen können?«

»Das Pferd wird wieder gesund«, sagte Twix müde. »Aber es wird eine Weile dauern. Wäre ich noch im Vollbesitz meiner Kräfte...«

»Und ich erst«, murmelte die Spinne.

Kim ignorierte sie. »Wieso hast du sie eigentlich nicht mehr?«, fragte er.

»Das weiß niemand«, antwortete Twix. »Die Magie erlischt eben. Keiner weiß, warum.«

»Wann hat es angefangen?«, erkundigte sich Kim.

Twix sah ihn fragend an. »Wann?«

Kim hatte ganz vergessen, dass Elfen so gut wie kein Zeitgefühl hatten. »Das große Sterben«, sagte er. »Alle deine Schwestern sind gestorben, nicht wahr?«

»Die meisten«, sagte Twix. »Ich glaube, ich wäre auch gestorben, wenn du nicht gekommen wärst.« Sie warf der Spinne einen schrägen Blick zu. »Seit du da bist, fühle ich mich besser.«

»Und warum?«

Kim rechnete nicht wirklich mit einer Antwort, aber er bekam sie. »Vielleicht, weil du an mich glaubst«, sagte Twix.

»Wie?«

»Ja weißt du denn nicht, wie Magie funktioniert?«, fragte die Elfe blinzelnd.

»Nein«, sagte Kim. Woher auch? »In meiner Welt gibt es keine Magie.«

»Weil ihr nicht an sie glaubt«, sagte Twix. »So einfach ist das. Ihr glaubt an eure Technik und an eure Wissenschaft und deshalb funktionieren sie auch. Würdet ihr an Zauberei glauben, dann würde sie auch funktionieren.«

»Kaum«, sagte Kim lächelnd. »Bei uns funktionieren die Dinge etwas anders.«

»Ihr steigt ja auch anders von den Dächern«, meinte die Spinne. Kim ignorierte ihre Bemerkung.

»Ich muss dringend mit Themistokles reden«, murmelte er.

»Themistokles, der Zauberer?« Die Spinne kicherte. »Bist du sicher, dass er noch zaubern kann?«

»Klar«, antwortete Kim. »Schließlich glaube ich an ihn.«

Die Spinne machte ein abfälliges Geräusch. »Du spinnst doch«, sagte sie.

Den ganzen Tag über schoss das Floß in der stärker werdenden Strömung dahin. Einige Male glitt eine Stadt am Flussufer vorbei und mindestens eine davon stand in hellen Flammen.

Sie kamen dem Ufer niemals nahe genug um Menschen zu sehen, sodass Kim nicht sagen konnte, ob die Städte und Gehöfte, an denen sie vorüberkamen, von ihren Bewohnern verlassen worden waren oder nicht. Kim war aber davon überzeugt.

Und noch etwas fiel ihm auf. Es war vollkommen windstill. Die sanfte Brise, die ihm ins Gesicht blies, war nur der Fahrtwind. Nicht nur die Magie Märchenmonds hatte sich geändert. Diese ganze Welt schien anders geworden zu sein.

Als die Sonne sank, rollte sich Kim in der Mitte des Floßes zusammen und schlief auf der Stelle ein.

Kurz nach Einbruch der Dämmerung wachte er auf, weil ihn etwas sanft wie eine Feder an der Schulter berührte. Kim stellte sich weiter schlafend, öffnete aber die Augen einen halben Millimeter.

Der Anblick, der sich ihm bot, war verblüffend.

Die Spinne balancierte auf nur vier Beinen neben ihm. Zwei weitere Beine benutzte sie dazu, Kims Brusttasche aufzuhalten, und mit den restlichen beiden versuchte sie hineinzugreifen.

»Guten Morgen«, sagte Kim.

Die Spinne machte einen erschrockenen Satz, stolperte über ihre eigenen Beine und fiel nicht zum ersten Mal, seit Kim sie kennen gelernt hatte, aufs Gesicht. Vielleicht war es ja deshalb so flach.

In seiner Tasche raschelte es, dann tauchte ein verschlafenes Gesicht von der Größe eines Fingernagels darüber auf. Twix gähnte, rieb sich die Augen und blinzelte in das graue Licht des erwachenden Tages.

»Wieso bist du denn schon wach?«, fragte sie gähnend.

»Ich weiß auch nicht«, antwortete Kim, während er der Spinne einen schrägen Blick zuwarf. »Ich glaube, wir haben einen Frühaufsteher unter uns.«

»Pfff«, machte die Spinne und trollte sich.

Twix krabbelte umständlich aus seiner Tasche, richtete sich auf und begann sich ausgiebig zu recken. »Wenn ich schon mal da bin, dann kann ich genauso gut einen kleinen Rundflug machen.«

»Tu das«, maulte die Spinne. »Aber verflieg dich nicht. Wir brauchen dich noch.«

Auch Kim stand auf. Er war alles andere als ausgeschlafen, aber er war nun einmal wach und konnte ruhig aufstehen. Auch wenn er selbst nicht sagen konnte, wozu eigentlich. Vor ihm lagen noch gute anderthalb Tage Floßfahrt, in denen er zu nichts anderem als eben Nichtstun verdammt war. Er trat an die einfache Reling des Floßes und blickte gelangweilt in die Strömung hinab. Sie schien seit gestern noch zugenommen zu haben und für einen Moment... erinnerte ihn der Anblick an etwas.

Der Gedanke entschlüpfte ihm, bevor er ihn richtig fassen konnte. Aber er hinterließ ein leises, ungutes Gefühl. Es war einfach zu lange her, dass er das letzte Mal auf diesem Fluss gefahren war.

Der Pack lag auf der anderen Seite des Floßes und schnarchte, was das Zeug hielt, und die Spinne hockte reglos da und suchte mit gierigen Blicken den Himmel ab. Schon jetzt begann sich Langeweile breit zu machen. Und der weitaus längere Teil der Reise lag noch vor ihnen!

Er sah wieder auf den Fluss hinab. Er war jetzt sicher, dass die Strömung zugenommen hatte. Dann fiel ihm noch etwas auf: In der Luft lag ein ganz schwaches, aber hörbares Geräusch. Ein sonderbares, dunkles Vibrieren und Grollen; wie die Atemzüge eines gigantischen Drachen, der dicht hinter dem Horizont schlief.

Kim verscheuchte den Gedanken und suchte den Himmel ab. Es verging noch eine gute Viertelstunde, ehe die Elfe zurückkam, sichtlich wach und im Vollbesitz ihrer Kräfte. Sie raste im Tiefflug heran, sauste dicht über den Kopf der Spinne hinweg und bestäubte sie dabei ganz aus Versehen mit ihrem Gold, bevor sie sich auf Kims Schulter niederließ.

»Das hat gut getan«, sagte sie. »Ich bin schon lange nicht mehr so toll geflogen! Danke.«

»Aber ich habe doch gar nichts getan«, sagte Kim.

»Doch«, behauptete die Elfe. »Du bist hier.«

»Fragt sich nur, wie lange noch«, sagte die Spinne giftig.

Kim verdrehte seufzend die Augen. Das konnte ja noch heiter werden.

»Hast du irgendetwas Interessantes entdeckt?«, wandte er sich an die Elfe.

»Nichts«, antwortete Twix. »Eine Stadt, ein Stück flussabwärts. Aber sie ist verlassen. Wie es aussieht, schon lange.«

Kim sah hoch. Das Grollen schien stärker geworden zu sein. Nicht unbedingt lauter, aber ... machtvoller.

»Keine Möglichkeit, ans Ufer zu kommen?«, fragte er ohne besondere Hoffnung.

Die Elfe schüttelte so heftig den Kopf, dass der goldene Staub nur so flog. »Nein. Die pure Langeweile, kann ich dir sagen. Es ist noch ein weiter Weg bis Gorywynn.«

»Jaja«, sagte die Spinne.

Kim wollte auch diese Bemerkung ignorieren, entschied sich aber dann doch anders. »Jetzt hört mir mal zu«, sagte er ernst. »So geht das nicht weiter.«

»Was?«, fragte die Spinne.

»Das mit euch beiden.« Kim sah zuerst Twix, dann die Spinne mahnend an. »Du solltest endlich begreifen, dass du Twix nicht essen kannst. Und du -« Er wandte sich an die Elfe. »- hörst auf, sie zu ärgern.«

»Ich tue doch gar nichts!«, protestierte Twix. »Sie ärgert uns die ganze Zeit!«

»Wir müssen die nächsten Tage miteinander auskommen, ob uns das nun passt oder nicht«, fuhr Kim unbeeindruckt fort. »Also wäre es hilfreich, wenn ihr euch benehmen würdet.«

»Tue ich doch«, behauptete die Spinne. »Hätte ein gewisser Jemand nicht mein Netz demoliert, dann wäre ich gar nicht hier.«

»Pah«, machte Twix. »Fang gefälligst Fliegen, wie es jede anständige Spinne tut.«

»Mit dir rede ich nicht«, konterte die Spinne. »Außerdem bist du für mich nicht mehr als eine Fliege. Klein, mit Flügeln und ziemlich beschränkt.«

»Immerhin schlau genug um dir -«

»Schluss!«, brüllte Kim.

Zu seiner eigenen Überraschung verstummten die ungleichen Streithähne augenblicklich. Für zwei oder drei Sekunden wurde es fast unnatürlich still. Alles, was zu hören war, waren das Rauschen des Wassers und dieses unheimliche, grollende Geräusch, das abermals an Intensität zugenommen hatte.

»Was um alles in der Welt ist das nur?«, murmelte Kim.

»Was meinst du?«, fragte Twix. »Das Geräusch der Wasserfälle?«

Kim starrte sie an. »Was?«

»-serfälle«, sagte Twix. »Nicht nur was.«

»Wasserfälle?«, krächzte Kim. »Hier? Auf diesem Fluss?« Er sprang mit einem Ruck auf und starrte nach Westen. »Aber es gibt hier keine Wasserfälle! Ich bin schon einmal auf diesem Fluss gefahren! Ich weiß das! Hier hat es niemals einen Wasserfall gegeben!«

»Jetzt schon«, sagte Twix gleichmütig. »Das hier ist der alte Teil des Flusses, weißt du? Weiter vorne hat er sich ein neues Bett gesucht. Und der liegt ein Stück tiefer.«

»Ein Stück?«, fragte Kim. »Was heißt: ein Stück?«

Twix betrachtete ihn einen Moment lang nachdenklich. »Vielleicht fünfzig.«

»Fünfzig was?«, fragte Kim nervös. »Zentimeter?«

»Fünfzigmal so hoch wie du«, sagte Twix. »Kann aber auch ein bisschen mehr sein.«

»Und wie weit ... ist es noch?«, fragte Kim mit klopfendem Herzen.

Wieder zuckte die Elfe mit den Schultern. »Nicht weit«, sagte sie. »Zehn Minuten. Vielleicht auch nur fünf.«

»Und das sagst du mir erst jetzt?!«

»Du hast nicht danach gefragt«, antwortete Twix beleidigt.

»Ich habe gerade eben gefragt -«

»Ob ich etwas Interessantes entdeckt habe«, fiel ihm die Elfe ins Wort. »Du hast nicht nach einem Wasserfall gefragt.«

»Gib es auf«, sagte die Spinne. »Elfen sind blöd.«

»Aber nicht blöd genug um sich von Spinnen fangen zu lassen«, konterte Twix.

»Hört auf!«, sagte Kim. »Seid ihr verrückt? Begreift ihr eigentlich nicht, dass wir in Lebensgefahr sind?«

»Wir?«, fragte die Spinne.

»Wieso wir?«, wollte auch Twix wissen.

Kim war beinahe in Panik. Das Floß wurde nun spürbar schneller und das Grollen des Wasserfalls war längst zu einem Dröhnen und Donnern geworden. Er musste irgendetwas tun! Sie mussten irgendwie von diesem Fluss herunter!

Er sah nach Westen. Der Fluss hatte sich nicht verändert, aber dicht vor dem Horizont glaubte er nun eine Nebelbank zu erkennen. Aber es war kein Nebel. Es war eine gigantische Gischtwolke, die vom unteren Ende des Wasserfalls emporstieg.

»Spinne!«, sagte er. »Kannst du das Ufer erreichen?«

»Klar«, sagte die Spinne.

»Dann lauf so schnell wie möglich hin. Wir brauchen einen deiner Fäden!«

»Wozu?«

»Um das Floß daran festzubinden!«, antwortete Kim. »Du und Twix, ihr seid ja vielleicht nicht in Gefahr, aber der Pack, das Pferd und ich werden ertrinken oder uns alle Knochen brechen! Wir brauchen deinen Faden!«

»Auf die Entfernung?«, fragte die Spinne. »Und bei dieser Strömung? Keine Chance. Wenn ich nicht halb verhungert und vom Fleisch gefallen wäre, könnte ich es ja vielleicht versuchen, aber so ...«

»Bitte!«, sagte Kim. »Es ist unsere einzige Chance!«

Er sah wieder nach vorne. Die Wolke aus brodelnder Gischt war näher gekommen. Sie hatten allerhöchstem noch fünf Minuten.

»Ich kann es ja mal versuchen«, sagte die Spinne. »Aber garantieren kann ich nichts.«

Kim nickte nervös. Mittlerweile war auch der Pack aufgestanden und blickte aus weit aufgerissenen Augen nach Westen und selbst das Pferd begann unruhig auf der Stelle zu tänzeln. Die Spinne produzierte einen Faden und verknotete ihn sorgfältig am Geländer. Dann trippelte sie zum Rand des Floßes, sah einen Moment lang prüfend ins Wasser und meinte: »Die Strömung ist wirklich stark.«

»Du bist ja angeseilt«, flötete Twix. »Keine Angst. Zur Not retten wir dich.«

Die Spinne warf ihr einen bösen Blick zu, setzte vorsichtig vier oder fünf Beine aufs Wasser - und wurde von der Strömung ergriffen und wie der Blitz davongetragen.

»Ui«, kreischte sie überrascht. »Das ist - au verdammt!«

Die beiden letzten Worte hatte sie geschrien, aber Kim verstand sie über dem Grollen des Wasserfalls kaum noch. Außerdem entfernte sie sich immer schneller vom Floß, wobei sie sich ständig wie ein Kreisel um ihre eigene Achse drehte und sich dabei in ihren eigenen Faden verstrickte, den sie ja noch immer hinter sich herzog. Innerhalb weniger Sekunden nur hatte sie sich gute zwanzig oder dreißig Meter vom Floß entfernt.

Kim griff hastig nach dem Faden und hielt ihn fest und selbst der Pack sprang auf und packte kräftig mit zu. Die Spinne kreischte und tobte vor ihnen, stolperte ein paar Mal über ihren eigenen Faden und versank nur wie durch ein Wunder nicht in den Fluten.

»Festhalten!«, schrie Kim. »Wir ziehen dich rein!«

Er bezweifelte, dass die Spinne seine Worte überhaupt hörte. Sie war mittlerweile gute vierzig Meter vom Floß entfernt und Kim registrierte voller Entsetzen, dass er sich verschätzt hatte. Der Wasserfall war viel näher, als er geglaubt hatte. Die Gischtwolke ragte wie eine grauweiße Mauer vor ihnen empor, die unmittelbar bis zum Himmel zu reichen schien, und der Lärm war zu einem Dröhnen und Poltern angewachsen, als fiele ein ganzes Gebirge zusammen.

Kim und der Pack zogen mit aller Kraft. Der Seidenfaden war so straff gespannt wie ein Stahlseil und er surrte wie eine Gitarrensaite in ihren Händen. Trotzdem gelang es ihnen nicht, die Spinne wieder auf das Floß zu ziehen. Die Kraft der Strömung war unvorstellbar. Das Wasser schoss mittlerweile so schnell dahin, dass seine Oberfläche wie Glas aussah.

Und dann war die Spinne plötzlich verschwunden.

Der Faden in Kims Händen war nach wie vor straff gespannt, aber die Spinne war einfach nicht mehr da. Und Kim begriff beinahe zu spät, was diese Beobachtung wirklich bedeutete ... »Festhalten!«, schrie er.

Eine Sekunde später war nicht nur die Spinne, sondern der ganze Fluss verschwunden, und vor ihnen gähnte ein gewaltiger Abgrund, über dessen Rand das Wasser mit solcher Gewalt schoss, dass es sich in Staub zu verwandeln schien. Kim klammerte sich mit verzweifelter Kraft am Geländer fest und wartete darauf, den Boden unter den Füßen zu verlieren und den tödlichen Sturz in die Tiefe zu beginnen.

Stattdessen wurde das Floß von einem so heftigen Schlag getroffen, dass Kims Stirn gegen das Geländer krachte und er für einen Moment nur Sterne sah. Alles schien gleichzeitig zu geschehen: Das Floß bäumte sich auf. Holz splitterte. Der Pack kreischte und wurde gegen das Pferd geschleudert, das ebenfalls erschrocken aufschrie und auf die Hinterläufe stieg. Twix war einfach verschwunden und Kim taumelte benommen zurück und fiel unsanft zu Boden.

Als er wieder einigermaßen klar denken konnte, bot sich ihm ein geradezu bizarrer Anblick: Das Floß war nicht in die Tiefe gestürzt, sondern hatte sich in einer Ansammlung spitzer Felsen verkeilt, die nur Zentimeter unter der Wasseroberfläche lauerten. Vier oder fünf Balken waren geborsten und ein Teil des Geländers war ebenfalls weggebrochen. Das Floß ragte schräg aus dem Wasser, das sich schäumend an seinem Heck brach, und die ganze Fähre zitterte und bebte ununterbrochen, als würde sie von Hammerschlägen getroffen.

Kim richtete sich behutsam auf, kroch auf Händen und Knien nach vorne und spähte in die Tiefe.

Er schauderte.

Elfen verstanden wirklich nichts von Zahlen. Der Wasserfall war nicht fünfzig, sondern mindestens fünfhundert Meter tief. Der mächtige See, der sich an seinem unteren Ende gebildet hatte, war so weit entfernt, dass er nur wie eine winzige silberne Münze glänzte, aber Kim konnte selbst über die große Distanz die Gewalt spüren, mit der das Wasser unten aufschlug. Das Floß zitterte und ächzte. Eines der fingerdicken Taue, mit dem die Balken zusammengebunden waren, zersprang knallend, gleich darauf ein zweites. Kim fragte sich, wie lange das Floß diese Belastung noch aushalten konnte.

Aus der Tiefe wehte ein dünner, vom Grollen des Wasserfalls nahezu übertönter Schrei zu ihm empor. Kim schob sich behutsam noch ein kleines Stück weiter vor, bis er senkrecht nach unten sehen konnte.

Die Spinne pendelte am Ende ihres Fadens gute dreißig Meter weit unter ihm hin und her. Sie versuchte immer wieder, mit ihren dünnen, geschickten Beinen Halt an ihrem eigenen Faden zu finden, schaffte es aber einfach nicht, weil sie von den auf sie niederprasselnden Wassermassen so gebeutelt wurde, dass es Kim schon fast wie ein Wunder vorkam, dass sie nicht schon längst mitgerissen worden war. Wie es ihre Art war, zeterte und keifte sie dabei so wütend, dass ihre Stimme selbst über das Dröhnen des Wasserfalls hinweg noch zu hören war.

»Halt aus!«, schrie Kim. »Ich ziehe dich hoch!«

Er griff nach dem Faden und versuchte die Spinne daran in die Höhe zu ziehen, aber seine Kraft reichte nicht aus dazu. Erst als der Pack an seine Seite trat und ebenfalls mit Zugriff, gelang es ihnen, die Spinne zu sich heraufzuziehen, wenn auch buchstäblich zentimeterweise. Sie brauchten fast zehn Minuten , um die Spinne ganz nach oben zu ziehen.

Kim war so erschöpft, dass er beinahe zusammenbrach, und selbst der Pack wankte für einen Moment. Die Spinne zog sich keifend und lauthals fluchend über den Rand des Floßes, schoss einen weiteren Faden ab und wickelte ihn an einem Dutzend Stellen um die Reling, bis sie sich nahezu selbst eingesponnen hatte.

»Das wurde aber auch Zeit!«, nörgelte sie. »Muss man denn hier alles selbst machen?«

»Immerhin wissen wir jetzt, dass wir so nicht von hier wegkommen«, sagte Kim niedergeschlagen. Er sah einige Sekunden lang konzentriert nach rechts, dann in die entgegengesetzte Richtung. Das Ergebnis dieser Musterung war niederschmetternd.

Der Fluss schien an dieser Stelle ganz besonders breit zu sein. Das Ufer war auf beiden Seiten mindestens zweihundert Meter entfernt, wenn nicht noch mehr. Nicht einmal der beste Schwimmer der Welt hätte eine Chance zum Ufer zu schwimmen. Nicht bei dieser Strömung.

»Und was tun wir jetzt?«, fragte die Spinne. »Ich meine: Hast du noch mehr so geniale Ideen?«

Bevor Kim antworten konnte, tauchte die Elfe aus der stäubenden Gischt auf, ließ sich auf Kims Schulter herab und schüttelte sich das Wasser aus den Flügeln.

»Sie ist nicht da«, sagte sie schwer atmend. »Ich habe den ganzen See abgesucht, aber es gibt keine Spur von ihr. Sie muss ertrunken sein.«

»Wer?«, fragte die Spinne.

Twix drehte sich herum um zu antworten, starrte die Spinne aber dann nur wortlos und aus aufgerissenen Augen an.

»Hat sich da jemand vielleicht zu früh gefreut?«, fragte die Spinne.

»Bitte!«, sagte Kim müde. »Nicht schon wieder. Wir haben im Moment wirklich andere Sorgen!«

»Meine größte Sorge ist und bleibt mein leerer Magen«, sagte die Spinne.

Kim ging gar nicht darauf ein, sondern wandte sich mit ernstem Gesichtsausdruck an Twix. »Hör zu«, sagte er. »Wir brauchen deine Hilfe. Du bist die Einzige, die von diesem Floß herunterkommt. Du musst losfliegen und irgendwo Hilfe holen.«

»Hilfe?« Twix schüttelte den Kopf. »Aber hier in der Gegend lebt niemand.«

»Versuch es trotzdem«, bat Kim. »Aus eigener Kraft kommen wir nie hier weg - und ich weiß nicht, wie lange das Floß noch durchhält.«

Die Elfe wirkte nicht überzeugt. Trotzdem zuckte sie nach einem Moment mit den winzigen Schultern, schüttelte die letzten Tropfen Wasser von ihren Flügeln und verschwand dann ohne ein weiteres Wort.

Kim sah noch einen Augenblick in die Richtung, in der sie davongeflogen war, und ließ seinen Blick dann nachdenklich über das Floß schweifen. Das Ergebnis dieser Bestandsaufnahme war alles andere als ermutigend. Das Floß hatte sich in einem Winkel von gut dreißig Grad zwischen den Felsen verkeilt. Trotz der schweren Schäden, die es davongetragen hatte, schien es relativ fest zu sitzen, sodass im Moment wenigstens nicht die Gefahr bestand, dass sie vollends abstürzen würden. Das vordere Drittel der Fähre hing buchstäblich im Nichts.

»Ich stelle ja ungern zweimal dieselbe Frage«, sagte die Spinne. »Aber hast du vielleicht eine Idee, was wir jetzt tun sollen?«

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