»Das wollte ich auch«, sagte Sturm. »Aber dann wäre ich fast auf Kais Heer gestoßen. Ich musste einen großen Umweg machen um ihnen nicht geradewegs in die Arme zu laufen. Unterwegs hörte ich dann von den Zwergen.« Seine Stimme wurde leiser. Ein Ausdruck von Trauer trat auf seine Züge. »Sie stehlen überall auf der Welt magische Dinge, wisst ihr? Ich dachte, wenn ich einen Teil davon erbeute und zu Themistokles zurückbringe, dann könnte das vielleicht den Schaden wieder wettmachen, den ich in meinem Leichtsinn angerichtet habe.«

»Aus demselben Grund sind wir auch hier«, sagte Kim. Er deutete in die Richtung, in der die Elfe verschwunden war. »Twix hat die Magie gespürt, die an diesem Ort versammelt ist. Aber es nutzt nichts, weißt du? Die Zwerge werden uns nie helfen. Und wir sind nicht stark genug ihnen ihren Schatz mit Gewalt wegzunehmen.«

»Hätte auch nichts genutzt«, fügte die Spinne hinzu. »Sie ist verdorben, jetzt, wo hundert Zwergenhintern darauf herumgerutscht sind.«

Der Pack meckerte zustimmend und selbst Kim nickte noch einmal. Er hätte es sicher etwas weniger drastisch ausgedrückt, aber in der Sache hatte die Spinne Recht. Selbst er hatte gespürt, dass die Zwerge die Magie zu etwas ... anderem gemacht hatten. Vielleicht nicht einmal etwas Schlechtem, wie die Spinne annahm, aber auf jeden Fall zu etwas, was ihnen nicht mehr helfen würde.

»Wie konnten sie dich überhaupt fangen?«, fragte er.

Sturm senkte unbehaglich den Blick. »Sie haben mich ... überrumpelt«, gestand er. »Anscheinend kann ich überhaupt nichts richtig machen.«

Kim spürte, wie unangenehm Sturm das Thema war, aber er zog es vor, gar nicht darauf zu antworten. Jeder Versuch, Sturm irgendwie zu trösten, hätte die Situation für ihn nur noch schlimmer gemacht.

Zu seiner Erleichterung kam in diesem Moment Twix zurück. »Du hattest Recht«, piepste sie. »Da oben geht es raus.«

Kim wollte unverzüglich aufstehen, aber die Elfe winkte ab. »Der Weg ist nicht leicht für euch. Ihr müsst ein gutes Stück klettern. Ruht euch lieber noch einen Moment aus. Ich schaue nach, ob die Luft rein ist!«

Sie verschwand in dem Gang, durch den sie gekommen waren, und Kim ließ sich wieder zurücksinken. Selbst wenn sie hier heraus waren, lag noch ein anstrengender Weg vor ihnen. Immerhin befanden sie sich mitten im unwegsamsten Teil des Schattengebirges.

»Und was tun wir jetzt?«, fragte Sturm. »Ich meine, wenn wir hier heraus sind? Märchenmond ist verloren und es ist alles meine Schuld. Warum habt ihr mich nicht bei den Zwergen gelassen? Das wäre nur gerecht gewesen.«

»Heulsuse«, sagte die Spinne.

»Märchenmond wird untergehen und es ist alles meine Schuld!«, beharrte Sturm.

»Es gibt immer einen Weg«, beharrte Kim. »Ich war schon mehr als einmal in einer Situation, die völlig aussichtslos erschien. Und es hat immer einen Ausweg gegeben.«

»Irgendwann ist immer das erste Mal«, unkte Sturm. »Du kannst es nicht wissen, denn du warst ja schon fort, aber Gorywynn ist so gut wie ausgestorben. Fast alle seine Bewohner sind gegangen um sich dem einen oder anderen Heer anzuschließen. Themistokles sind nur eine Hand voll Verbündete geblieben. Und seine Kräfte schwinden von Tag zu Tag, während die des Magiers der Zwei Berge im gleichen Maße zuzunehmen scheinen.«

»Der Magier der Zwei Berge.« Kim schüttelte den Kopf. »Immer wieder er! Wieso folgen Kai und die anderen ihm eigentlich, wenn sie jede Art von Magie doch angeblich so verabscheuen?«

»Er ist kein richtiger Magier«, antwortete Sturm. »Er nennt sich nur so. Aber er ist ein uralter und sehr, sehr böser Mann. Und er hat großen Einfluss auf Menschen. Vor allem auf junge Menschen.«

»Woher weißt du so viel über ihn?«, fragte Kim.

Sturm hob die Schultern. »So viel ist es nicht«, sagte er. »Nicht viel mehr, als ich gerade erzählt habe. Es heißt, er besitzt die Gabe, sich in die Herzen und Köpfe der Menschen zu schleichen und ihre Gedanken zu verdrehen - was immer damit auch gemeint sein mag. Er ist unsterblich und kann sein Aussehen verändern, aber damit hören seine magischen Kräfte auch schon auf. Allerdings soll er in der Lage sein sich die Magie anderer zunutze zu machen. Das war wohl auch der Hauptgrund, aus dem Themistokles all seine Zauberkraft in die Kugel gebannt hat - um sie vor seinem Zugriff zu schützen.«

»Wenn er so gefährlich ist, wieso habe ich dann noch nie von ihm gehört?«, wunderte sich Kim.

»Er ist uralt«, antwortete die Spinne an Sturms Stelle. »Er wurde schon vor langer, langer Zeit von Themistokles und einigen anderen Magiern überwältigt und eingesperrt. Es heißt, er wäre jahrhundertelang eingesperrt gewesen.«

Kim beschlich ein seltsames Gefühl, das er gar nicht genau begründen konnte. »Und dann?«, fragte er.

»Und dann ist er wohl aus seinem Gefängnis entkommen, sonst wäre er kaum hier«, antwortete die Spinne patzig.

»Aber wie? Ich meine ...«

»Zwerge!« Twix kam lauthals kreischend aus dem Tunnel herausgeflogen. »Zwerge! Hunderte, wenn nicht Tausende! Verschwindet!«

Hastig sprangen sie auf die Füße und stürmten los. Kaum hatten sie es getan, da hörten sie auch schon das Trappeln zahlreicher Schritte hinter sich, aufgeregtes Stimmengewirr und das Klappern von Metall. Es waren sicher nicht Tausende von Zwergen, wie Twix behauptet hatte, aber vermutlich mehr als genug.

Schrecken und Furcht verliehen selbst Sturm zusätzliche Kräfte, sodass sie ihn nicht mehr stützen mussten. Die Spinne fiel ein kleines Stück zurück um ein paar Stolperdrähte zu spannen.

Nur wenige Augenblicke später verkündete ein gewaltiges Scheppern und Krachen und ein Chor wütender Stimmen hinter ihnen, dass sie ihre Wirkung getan hatten. Die Spinne wiederholte ihr Manöver, aber die Zwerge fielen offensichtlich nicht noch einmal darauf herein.

Sie rannten, so schnell sie nur konnten. Der Weg führte immer steiler nach oben und es vergingen nur noch wenige Augenblicke, bis es vor ihnen hell wurde. Das musste der Ausgang sein, von dem Twix gesprochen hatte.

Der Anblick gab Kim noch einmal zusätzliche Kraft. Er sprintete ein Stück voraus - und blieb enttäuscht stehen.

Der Tunnel endete in einer großen, halbrunden Höhle. Es gab keinen zweiten Ausgang, sondern nur ein rundes, vielleicht einen Meter messendes Loch in der Decke unmittelbar über ihren Köpfen, durch das helles Sonnenlicht hereinfiel. Das also hatte Twix gemeint, als sie sagte, es würde eine anstrengende Kletterei werden.

Auch die anderen stürmten herein. Die Spinne keuchte entsetzt, als sie die Falle sah. »Das war's dann wohl«, sagte sie.

»Nicht für dich.« Kim deutete nach oben. »Twix und du, ihr könnt verschwinden.«

»Vergiss es«, sagte Twix. Die Spinne würdigte ihn nicht einmal einer Antwort und auch Kim sagte nichts mehr.

Ihm wäre auch gar keine Zeit dazu geblieben. Aus dem Gang, durch den sie selbst gekommen waren, stürmten Zwerge. Fünf, sechs, ein Dutzend ...

Kim zog sein Schwert, Sturm hob die linke Hand und plötzlich fauchte aus dem Nichts eine Windböe über die Zwerge hinweg und wirbelte sie wie trockenes Herbstlaub durcheinander. Etliche verschwanden wieder in dem Stollen, aus dem sie gerade erst herausgestürmt waren, andere wurden gegen die Wand geschleudert und sanken benommen zu Boden.

Aber Kims Freude über diese unerwartete Hilfe währte nicht lange. Die Böe verschwand ebenso plötzlich wieder, wie sie gekommen war, und Sturm taumelte mit einem erschöpften Seufzer zurück.

»Es tut mir Leid«, murmelte er. »Meine Kräfte sind erschöpft.«

Kim packte mit grimmiger Entschlossenheit sein Schwert fester. Aus der Tunnelöffnung stürmten immer mehr und mehr Zwerge, die aber nicht sofort angriffen, sondern sich vor der gegenüberliegenden Wand zusammenrotteten, vermutlich, um sich alle gemeinsam auf sie zu stürzen. Kim schätzte, dass es mindestens dreißig waren. Keine Chance. Aber er würde sein Leben so teuer wie möglich verkaufen.

Endlich hörte der Zustrom an Zwergen auf, aber sie griffen immer noch nicht an, sondern gruppierten sich umständlich ein paar Mal um, wobei sie ununterbrochen stritten; wie Kinder, die ein kompliziertes Spiel spielten, sich über die Regeln aber nicht einigen konnten. Schließlich hatten sie eine Art wackelige Schlachtformation eingenommen, bei der ungefähr die Hälfte ihrer Speere auf Kim und die anderen, der Rest auf ihre eigenen Kameraden wies.

Dann spürte Kim, dass die Zwerge endlich bereit waren anzugreifen. Doch bevor es dazu kam, begann der Boden unter ihren Füßen zu zittern. Ein unheimliches Grollen und Knirschen erklang - und plötzlich zerbarst die Wand direkt hinter den Zwergen wie unter einem Hammerschlag. Tonnen von Felsen und Steintrümmern regneten herab und begruben den größten Teil der Zwerge unter sich. Die wenigen, die davonkamen, ließen ihre Waffen fallen und suchten ihr Heil in der Flucht. Ein ungeheueres, zorniges Brüllen erklang und inmitten einer Wolke aus wirbelndem Staub und noch immer herabregnenden Steinen erschien der Drachenschädel in der Öffnung, die er selbst in die Wand gebrochen hatte.

»Hab ich euch endlich!«, brüllte er. »Ich habe euch gesagt, dass ihr damit nicht davonkommt. Jetzt seid ihr dran!«

Er warf sich mit einem neuerlichen, noch wütenderen Brüllen vor. Seine Kiefer schlugen mit einem dumpfen Laut nur eine Handbreit vor Kims Gesicht aufeinander und der gesamte Berg schien in seinen Grundfesten zu erbeben, als der Drache gegen den Felsen anrannte um das von ihm selbst geschaffene Loch noch mehr zu erweitern.

Es gelang ihm nicht, aber in der Decke über ihren Köpfen entstand ein breiter, gezackter Riss, der in rasender Geschwindigkeit wuchs und schmalere, fein verästelte Seitentriebe in alle Richtungen sandte wie ein gewaltiger Blitz, der den gesamten Nachthimmel spaltete.

Der Drache rannte noch einmal gegen den Felsen an und ein einzelner Stein löste sich von der Decke und prallte von seiner Nase ab.

Einen Moment später folgte ihm der Rest der Höhlendecke nach und begrub den Drachen unter sich.

Kim riss schützend die Hände vor das Gesicht und drehte sich zur Seite. Der Staub wirbelte so dicht, dass er kaum noch Luft bekam und gegen den qualvollen Hustenreiz ankämpfte, und die Höhle war plötzlich voller hellem Sonnenlicht, das den hochgewirbelten Staub aufleuchten ließ und ihre an stundenlanges Halbdunkel gewöhnten Augen für einen Moment fast blind machte. Praktisch die gesamte Höhlendecke war eingestürzt. Die Felstrümmer hatten nicht nur den Drachen unter sich begraben, sondern bildeten auch einen schrägen Geröllhügel, über den sie beinahe bequem nach oben klettern konnten.

Kim war der Letzte, der ins Freie kroch. Während er sich erschöpft auf einen Felsen sinken ließ, sah er sich nach den anderen um. Abgesehen von Twix waren sie allesamt von einer grauen, puderigen Staubschicht bedeckt. Aber allem Anschein nach waren sie wohl alle mit dem Schrecken davongekommen, sah man von ein paar Kratzern und Schrammen ab.

»Weiter!«, sagte die Spinne. »Nichts wie weg hier!«

»Bitte!«, stöhnte Kim. »Nur fünf Minuten! Ich brauche einfach eine kleine Pause.«

»Warum wirfst du nicht einen Blick hinter dich?«, schlug die Spinne vor. »Ich bin sicher, das muntert dich auf.«

Mit einem ziemlich unguten Gefühl tat Kim, was die Spinne vorgeschlagen hatte.

Es erwies sich als nur zu berechtigt.

Inmitten der Felstrümmer richteten sich immer mehr und mehr kleine Gestalten in schwarzen Umhängen auf, die wütend durcheinander schnatterten und zerbrochene Waffen in ihre Richtung schüttelten. Die Spinne hatte Recht: Dies war eindeutig nicht der Moment um eine Rast einzulegen.

Er blickte in die andere Richtung - und erlebte eine Überraschung. Obwohl sie eine gute Stunde ununterbrochen bergauf gelaufen waren, befanden sie sich nun wieder fast am Fuße des Schattengebirges. Unter ihnen lag ein aus Felsspat und Stein gebildeter steiler Hang, der nach wenigen hundert Schritten in die geröllübersäte Ebene überging, die dem eigentlichen Gebirge vorgelagert war. Die Hinrichtungshöhle der Zwerge musste sich tief unter der Erde befinden. Und es war früher Morgen. Es war nicht das erste Mal, dass Kim erlebte, wie gründlich die Zwergenwelt sein Empfinden für Raum und Zeit durcheinander brachte, aber das Gefühl war jetzt so unheimlich wie beim allerersten Mal.

Sie standen auf und begannen in raschem Tempo den Hang hinunterzulaufen. Kim musste gegen den Impuls ankämpfen loszurennen, so schnell er konnte. Das Gehen auf dem abschüssigen Boden war schwer genug. Rennen würde nicht viel nutzen, ihnen aber auch noch das letzte bisschen Kraft nehmen.

Immer wieder drehte er den Kopf und sah in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Der Anblick wurde jedes Mal schlimmer. Der Berghang war übersät mit Gestalten in schwarzen Umhängen. Es mussten jetzt schon weit über hundert sein und ihre Zahl nahm immer noch zu. Offenbar wollten die Zwerge dieses Mal auf Nummer sicher gehen. Sie würden erst angreifen, wenn sie genügend waren um sie gleich beim ersten Mal einfach zu überrennen.

»Das gefällt mir nicht«, sagte Sturm neben ihm. »Warum verfolgen sie uns nicht?«

»Nur keine Sorge«, sagte die Spinne. »Das kommt schon noch früh genug. Du kannst es wohl gar nicht abwarten, deine kleinen Freunde wieder zu sehen, wie? Hast du sie so sehr ins Herz geschlossen?«

Kim musste Sturm jedoch insgeheim beipflichten. Die Zwerge warteten möglicherweise auf Verstärkung, denn sie waren mindestens ebenso feige wie gemein, aber sie waren jetzt schon mehr als genug um es mit ihnen aufnehmen zu können. Und ihre Chancen sie einzuholen, sanken mit jedem Schritt, den sie sich von ihnen entfernten. Hatten sie erst einmal die Geröllebene erreicht, so waren ihre Aussichten tatsächlich gar nicht so schlecht davonzukommen. Die Zwerge waren in großer Anzahl, aber auf ihren kurzen Beinen konnten sie nicht besonders schnell laufen. Trotzdem wuchs das Zwergenheer zwar immer weiter, rührte sich aber nicht von der Stelle. Unbehelligt erreichten sie die Ebene und stürmten weiter.

Als sie zwanzig oder dreißig Schritte zurückgelegt hatten, begann der Boden unter ihren Füßen zu zittern. Ein dumpfes, immer lauter werdendes Grollen erklang.

Kim sah sich erschrocken um. Die Ebene war mit Felstrümmern und Steinen übersät, die von der Größe einer Kinderfaust bis zu der eines kleinen Fässchens schwankten. Und sie alle hatten zu zittern begonnen. Das Beben war jetzt so stark, dass sie sich kaum noch auf den Füßen zu halten vermochten. Dann brach der Boden zwanzig Meter vor ihnen ein und in der Öffnung erschien der geschuppte Schädel eines alten Bekannten.

»Jetzt seid ihr dran!«, brüllte der Drache. »Jetzt ist Schluss mit lustig! Jetzt wird abgerechnet!« Gleichzeitig hörte Kim hinter sich das johlende Gebrüll aus Hunderten von Zwergenkehlen. Er sah sich erschrocken um und registrierte, dass sich das Zwergenheer wie ein Mann in Bewegung gesetzt hatte. Über die große Entfernung betrachtet sah es aus, als strömten Ameisen den Hang herab. Aber es waren entsetzlich viele Ameisen und sie hatten Speere, Keulen und Schwerter ...

Der Pack brüllte wütend und stürzte sich mit erhobenen Fäusten auf den Drachen, aber der geschuppte Gigant hatte aus seiner ersten Begegnung gelernt: Er fegte den Pack mit einem Prankenhieb zur Seite, stemmte sich weiter aus dem Loch heraus und drehte sich blitzschnell, als die Spinne ein hastig geflochtenes Netz nach ihm warf. Das Netz ging vorbei und der Pack landete fünfzig Meter entfernt zwischen den Felsen und blieb benommen liegen. Der Drache brüllte triumphierend, stemmte sich mit beiden Vorderpfoten gegen den Rand des Loches, das er in den Boden gebrochen hatte, und arbeitete sich weiter heraus.

Das hieß - er versuchte es ...

Irgendetwas hielt ihn fest.

Der Drache grunzte, wandte unwillig den Kopf, um hinter sich zu blicken, und stützte sich mit noch größerer Kraft auf. Der Boden zitterte wieder. Kim konnte das Knirschen und Bersten gewaltiger Felsen tief unten in der Erde hören und der Drache keuchte nun vor Anstrengung und stemmte sich zentimeterweise weiter aus der Erde heraus. Vielleicht hing er ja irgendwo fest.

Dann begriff Kim, was es wirklich war.

»O nein«, flüsterte er.

»Was hast du?«, fragte Sturm erschrocken.

Kim kam nicht mehr dazu, zu antworten. Der Drache stieß ein ungeheuerliches Brüllen aus und stemmte sich in einer letzten, gewaltigen Anstrengung ins Freie und in derselben Sekunde schrien sie alle ebenfalls vor Schreck laut auf.

Der Drache hatte sich nicht zwischen den Felsen verkeilt. Etwas hatte ihn tatsächlich festgehalten und es hing nun an seinem Schwanz, hässlich, bleich und nur unwesentlich kleiner als der Drache selbst. Der eisige Atem der Hölle schien Kims Seele zu berühren.

Der Skull stieß eine Folge zischender, unheimlicher Laute aus, als der Drache mit dem Schwanz zu schlagen begann, wodurch er immer wieder hoch in die Luft gewirbelt und dann mit unheimlicher Gewalt auf den Boden geschmettert wurde. Die Erschütterungen waren so heftig, dass Kim und Sturm von den Füßen gerissen wurden und selbst die Zwerge auf dem entfernten Berghang ihren Halt verloren und den Rest des Weges auf eine weit unsanftere Art fortsetzten, als sie sich vorgestellt hatten, nämlich stürzend und übereinander kugelnd. Doch selbst das Auftauchen des Ungeheuers hinderte sie nicht daran, sich sofort wieder aufzurappeln und johlend weiterzustürmen.

»Fleisch!«, krähte die Spinne.

Kim verstand im ersten Moment nicht, was sie meinte. Erst als er sich mühsam hochstemmte und sah, dass sie aus weit aufgerissenen Augen den Skull anstarrte und vor lauter Gier zu sabbern begonnen hatte, wurde es ihm klar.

»Das würde ich an deiner Stelle nicht versuchen«, sagte er. »Du könntest dir den Magen verderben.«

Gehetzt sah er sich um. Das Zwergenheer stürzte am Fuße des Berges zu einem gewaltigen Knäuel aus Gliedmaßen und Leibern zusammen und auf der anderen Seite war es dem Drachen endlich gelungen den Skull abzuschütteln. Unverzüglich fuhr er herum und stürzte sich mit Zähnen und Klauen auf die fahle Kreatur. Es gelang Kim immer noch nicht, den Skull wirklich zu erkennen. Er sah nur etwas Großes, Bleiches, das irgendwie insektenhaft zu sein schien und sich seinen Blicken auf geheimnisvolle Weise immer wieder entzog.

»Den Kerl kauf ich mir!«, piepste Twix. »Den mach ich fertig!«

»Nein!«, schrie Kim. »Twix! Tu das -«

Es war zu spät. Die Elfe flog los, wobei sie vor lauter Aufregung bereits einen Schweif aus goldschimmerndem Staub hinter sich herzog.

Sie erreichte den Skull jedoch nicht. Der Drache und sein unheimlicher Gegner hatten sich regelrecht ineinander verkeilt und hieben mit Zähnen, Krallen und Scheren aufeinander ein. Als Twix über die Kämpfenden hinwegflog, schlug der Drache mit dem Schwanz aus und traf die Elfe. Twix wirbelte kreischend und sich überschlagend davon und schlug wie ein Funken sprühender Meteor weit entfernt zwischen den Felsen auf. Auf der anderen Seite hatten sich die Zwerge wieder zu einer schiefen Schlachtreihe formiert und begannen vorzurücken.

»Sturm«, sagte Kim nervös. »Jetzt wäre vielleicht der passende Moment um auszuprobieren, ob deine Kräfte wieder zurückgekehrt sind.«

Sturm antwortete nicht. Als sich Kim zu ihm herumdrehte, sah er, dass er sich aufgerichtet hatte und aus weit aufgerissenen Augen in den Himmel starrte. Über ihnen waren Wolken aufgezogen, graue, bauchige Gebilde, in denen es ununterbrochen brodelte und wogte.

Auf der anderen Seite tobte der Kampf der Giganten weiter. Die Erde bebte. Steinsplitter, Funken und Staub spritzten in alle Richtungen, während die beiden Riesen mit der Kraft entfesselter Naturgewalten aufeinander einschlugen. Der Drache kämpfte brüllend, der Skull mit stummer, unheimlicher Verbissenheit. Es war nicht zu erkennen, welches der beiden Ungeheuer die Oberhand gewann. Aus der entgegengesetzten Richtung rückten die Zwerge näher. Kim konnte nicht einmal mehr schätzen, wie viele es waren. Was sich da schwankend auf sie zubewegte, das schien eine einzige, kompakte Mauer aus keifender Schwärze zu sein, aus der ein ganzer Wald von Speerspitzen und Schwertern ragte.

»Sturm!«, sagte er nervös.

Der Junge rührte sich noch immer nicht, sondern starrte nur weiter konzentriert in den Himmel hinauf. Die Wolken waren dunkler geworden, beinahe schwarz. Ihre Schatten lasteten wie riesige unregelmäßige Flecken ewiger Dämmerung auf der Ebene und tief in ihrem Inneren blitzte es unheimlich auf. Es wurde spürbar kälter.

»Sturm!«, schrie Kim.

Er bekam keine Antwort und ihm blieb auch keine Zeit sich noch einmal zu Sturm umzudrehen.

Die Zwerge waren heran und der Kampf brach los.

Die Spinne schleuderte den Zwergen ein Fangnetz entgegen, bückte sich blitzschnell nach den Waffen, die die erschrockenen Zwerge fallen ließen, und drosch plötzlich mit drei Schwertern, zwei Keulen und etwas, das wie eine zu groß geratene Fliegenklatsche mit eisernen Dornen aussah, auf ihre völlig überraschten Gegner ein. Kim schwang sein Schwert und kappte mit einem einzigen Hieb vier oder fünf Speere, die in seine Richtung stocherten, und auch der Pack ließ die Fäuste fliegen. Er schien als Einziger wirklich Spaß an der ganzen Sache zu haben.

Im ersten Moment schienen sie sogar tatsächlich in der Lage den Ansturm der Zwergenarmee aufzuhalten, denn die Angreifer hatten ganz offensichtlich nicht mit einem so entschlossenen Widerstand gerechnet. Aber es nutzte nichts. So viele Zwerge Kim und die anderen auch niederstreckten, von hinten drängten immer mehr und mehr nach und sie mussten zurückweichen, zwar nur Schritt für Schritt, aber unaufhaltsam.

Kim wehrte einen weiteren, gemeinen Speerstoß ab, hatte seine eigene Kraft aber unterschätzt und wurde nach vorne gerissen. Mit einem hastigen Schritt zurück versuchte er sein Gleichgewicht wieder zu finden, stolperte über einen Stein und fiel auf den Rücken. Sofort waren die Zwerge über ihm. Ein Speer mit einer langen, rasiermesserscharfen Spitze stieß auf seine Kehle herab und zwei oder drei Schwerter gleichzeitig versuchten sich in seinen Leib zu bohren. Kim schrie gellend auf.

Und dann waren die Waffen, die nach ihm stießen, plötzlich nicht mehr da - zusammen mit den Zwergen, die daran gehangen hatten.

Wo sie und ein Großteil der restlichen Zwergenarmee gewesen waren, da tobte eine graue, kochende Wand, in der Eiskristalle und faustgroße Hagelkörner schimmerten. Ein ungeheures Brüllen und Dröhnen marterte Kims Ohren und die Luft war plötzlich so kalt, dass selbst das Atmen wehtat.

Kim richtete sich benommen auf. Wohin er auch blickte, er sah überall dasselbe: Eine graue, tosende Wand, in der Schatten und blitzendes Eis durcheinander wirbelten und die aus Hunderten und Aberhunderten kleiner Windhosen zu bestehen schien, die ineinander griffen und so einen gewaltigen Orkan bildeten, dem nichts widerstehen konnte. Sturms Kräfte waren endlich zurückgekehrt. Und er machte reichlich Gebrauch davon.

Kim stemmte sich weiter hoch und sah sich nach den anderen um.

Nur noch ein einziger Zwerg war zu sehen - und der hätte in diesem Moment wahrscheinlich gerne mit seinen Kameraden getauscht, die der Sturm davongewirbelt hatte: Der Pack hielt seinen dürren Hals mit der einen Hand umklammert und versetzte ihm mit der anderen eine Backpfeife nach der anderen und das mit sichtlichem Vergnügen. Selbst der Drache und sein unheimlicher Gegner waren nicht mehr zu sehen. Wo sie gewesen waren, war nur noch ein riesiger, verschwommener Schatten zu erkennen. Sturm stand noch immer reglos und mit weit in den Nacken gelegtem Kopf da und starrte in den Himmel. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck allerhöchster Konzentration.

Der Wirbelsturm nahm immer noch an Gewalt zu. Kim und die anderen befanden sich in einem kleinen Bereich vollkommener Ruhe, dem Auge des Orkans, aber rings um sie herum tobten die entfesselten Elemente mit unvorstellbarer Gewalt. Kim sah Felsbrocken von der Größe eines kleinen Hauses, die wie Spielzeuge herumgewirbelt wurden, und der Boden zitterte immer heftiger. Es wurde auch immer kälter. Die Luft, die er atmete, schien nur noch aus Eis zu bestehen und das Fell des Pack war plötzlich weiß.

»Sturm«, sagte Kim. »Ich glaube, das reicht.«

Sturm reagierte nicht. Er starrte weiter in den Himmel hinauf, der mittlerweile fast schwarz vor brodelnden Gewitterwolken war. Dann fuhr ein erster, grellweißer Blitz nieder. Er traf die Spitze des Berges hinter ihm und ließ sie für den Bruchteil einer Sekunde in blauem, unheimlichem Licht aufleuchten. Kim konnte spüren, wie sich der Boden unter ihnen mit knisternder elektrischer Spannung auflud. Ein zweiter Blitz hämmerte in den Berg, dann ein dritter, vierter ... Die Bergspitze wurde ununterbrochen von Blitzen getroffen und begann allmählich rot, dann gelb und schließlich weiß zu glühen. Der Boden knisterte jetzt ununterbrochen vor elektrischer Spannung und Kim sah, dass winzige, blaue Flämmchen über das Fell des Pack und der Spinne liefen und dann zu Boden sprangen.

»Sturm!«, sagte er noch einmal. »Das reicht jetzt wirklich.«

Wie zur Antwort fuhr ein noch heftigeres Bombardement von Blitzen in den Berggipfel. Plötzlich lag ein scharfer, durchdringender Geruch in der Luft und Kim sah, wie sich dünne Ströme aus weiß glühendem, geschmolzenem Stein vom Gipfel zu lösen begannen um auf scheinbar willkürlichen Bahnen zum Tal zu rasen. Mehr als eine von ihnen deutete in ihre Richtung.

»Sturm!«, keuchte er. »Bist du verrückt geworden?!«

Er fuhr entsetzt herum. Sturm stand noch immer in derselben Haltung wie bisher da, scheinbar erstarrt, aber der Ausdruck auf seinem Gesicht hatte sich vollkommen verändert. Es war nun eindeutig der Ausdruck von Furcht.

»Sturm!«, schrie Kim und diesmal mit vollem Stimmaufwand. Endlich erwachte der rothaarige Junge aus seiner Erstarrung. Mit sichtlicher Mühe riss er sich vom Anblick des brodelnden Chaos am Himmel los und wandte sich zu Kim um. »Ich... ich bin das nicht«, sagte er zögernd.

Kim starrte ihn ungläubig an. »Du bist das nicht? Was soll das heißen?«

Sturm antwortete nicht. Vielleicht tat er es doch, aber das Heulen des Orkans hatte sich mittlerweile zu einem wahrhaftigen Weltuntergangsgetöse gesteigert, das jeden anderen Laut einfach verschluckte. Die gesamte Bergspitze glühte mittlerweile in einem düsteren, schmutzigen Gelb und immer mehr und mehr Blitze hämmerten nun auch in die Flanke des Berges, ließen Steine explodieren und ganze Felsplatten einfach verdampfen. Hier und da flogen dunkle, zappelnde Umrisse durch die Luft; Zwerge, die dem Toben der entfesselten Naturgewalten nichts entgegenzusetzen hatten.

Nach Minuten, die Kim wie Stunden vorgekommen waren und die sie angstvoll zusammengekauert im Schütze einiger Felsen verbracht hatten, ließ das Toben des Gewitters allmählich nach. Immer weniger Blitze schlugen in den Berg ein und schließlich hörte das blaue Flackern und Glühen ganz auf. Auch der Wirbelsturm büßte ein wenig an Kraft ein und zerfiel schließlich in zwei gewaltige, sich in rasendem Tempo um sich selbst drehende Luftsäulen, die bis zu den Wolken hinaufzureichen schienen und alles zertrümmerten, was in ihre Bahn geriet. Eine der beiden Windsäulen raste den Hang hinauf, raste nach links, rechts, vor und zurück - es dauerte eine geraume Weile, bis Kim wirklich begriff, was er da sah: Der Sturm machte Jagd auf die Zwerge!

Der zweite Tornado wechselte plötzlich seine Richtung, raste kaum einen Meter an Kim und dem Pack vorbei und ergriff den Skull. Das unheimliche Geschöpf wurde blitzartig in die Höhe gerissen und verschwand in den Wolken. Nur einen Augenblick später wechselte der Wirbelsturm abermals seine Richtung, steuerte das Loch an, aus dem der Drache und der Skull hervorgebrochen waren, und verschwand darin. Die Erde begann wieder zu beben.

Der Berg und die vorgelagerte Ebene sahen aus wie nach einer Generalprobe für den Weltuntergang. Ein Großteil der Bergspitze war regelrecht weggeschmolzen und auch auf der Flanke des Berges glühte der Fels noch an zahllosen Stellen in einem dunklen, unheimlichen Rot. Bizarrerweise war der Fels da, wo er nicht geschmolzen oder von den Blitzen zu schwarzer Schlacke verkohlt worden war, von Schnee und glitzerndem Eis bedeckt.

Der Boden bebte noch immer und Kim konnte regelrecht hören, wie tief unter ihren Füßen Gänge und gewaltige Höhlen zusammenbrachen.

Ein dunkles, qualvolles Stöhnen ließ ihn sich herumdrehen. Der Skull war verschwunden, aber der Drache lag noch immer dort, wo er gegen das Ungeheuer gekämpft hatte. Er war auf die Seite gefallen und blutete aus einem Dutzend schrecklicher Wunden und ein einziger Blick machte Kim klar, dass er sich von seinen Verletzungen nicht mehr erholen würde.

Ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, setzte er sich in Bewegung und lief auf ihn zu. Die Spinne kreischte entsetzt und der Pack stieß ein erschrockenes Schnattern aus, aber Kim achtete weder auf das eine noch auf das andere. So laut er konnte, rief er nach der Elfe. Er bekam keine Antwort, glaubte aber ein flüchtiges Aufblitzen von Gold hinter einem Felsbrocken nicht sehr weit entfernt wahrzunehmen.

Der Drache öffnete stöhnend ein Auge, als Kim ihn erreichte. Es war blutunterlaufen und sein Blick trüb. Er musste große Schmerzen haben.

»Was ... willst ... du?«, fragte er mühsam. Er konnte kaum sprechen. Einer seiner gewaltigen Hauer war abgebrochen und jeder Atemzug wurde von einem schrecklichen Rasseln begleitet. Trotzdem fuhr er fort: »Bist du gekommen um dich an meiner Niederlage zu weiden?«

Twix kam herangeflattert. Sie sah ziemlich mitgenommen aus. Ihre Flügel hatten fast ihren gesamten goldenen Glanz eingebüßt und waren zerknittert und ihr Gesicht und ihre Glieder waren zerschunden. »Du hast gerufen?«

Kim deutete auf den Drachen. »Kannst du etwas für ihn tun?« Twix bedachte den Drachen nur mit einem einzigen Blick und schüttelte dann traurig den Kopf. »Nicht einmal, wenn ich noch meine ganze Kraft hätte«, sagte sie. »Die Wunden, die der Skull schlägt, heilen nicht. Aber ich kann seine Schmerzen ein wenig lindern.«

»Dann tu das«, bat Kim.

Die Elfe flatterte gehorsam davon. Der Drache versuchte den Kopf zu heben um ihr nachzublicken, doch seine Kraft reichte dazu nicht aus. Stöhnend ließ er den Kopf wieder sinken und sah Kim an.

»Warum tust du das?«, fragte er. »Wir sind Feinde!«

»Nein«, sagte Kim. »Das sind wir nicht. Genau das wollte ich dir ja die ganze Zeit über sagen. Wir müssen keine Feinde sein.«

»Du bist ein Mensch«, antwortete der Drache. »Alle Menschen hassen Drachen - oder fürchten sie, was auf dasselbe hinausläuft.«

»Nicht alle«, beharrte Kim. »Einer meiner besten Freunde ist ein Drache. Rangarig, der Golddrache aus Gorywynn. Hast du schon einmal von ihm gehört?«

»Ob ich schon einmal von Rangarig gehört habe? Was für eine Frage.« Der Drache schwieg einen Moment, dann fuhr er leiser und in verändertem Ton fort: »Jetzt weiß ich, wer du bist. Und ich hätte dich ohne zu zögern getötet!«

»Du hast es ja nicht getan«, sagte Kim. »Und es spielt auch keine Rolle mehr. Der Kampf ist vorbei.«

»Es scheint wohl wahr zu sein, was man sich über dich erzählt, kleiner Held«, sagte der Drache. »Es ist mir eine Ehre, dich vor meinem Tode noch kennen gelernt zu haben. Mit mir geht es zu Ende.«

»Ich weiß«, sagte Kim. Plötzlich war ein bitterer Kloß in seinem Hals und er musste ein paar Mal schlucken. Obwohl dieses Wesen noch vor wenigen Minuten versucht hatte ihn und seine Freunde zu töten, verspürte er doch nicht den mindesten Groll. Alles, was er empfand, war ein tiefes, ehrliches Mitleid. »Und es tut mir Leid.«

»Das muss es nicht«, sagte der Drache. »Es ist gut so. Ich bin alt. Sehr alt, selbst für einen Drachen. Ein Jahrhundert mehr oder weniger in den finsteren Höhlen der Zwerge macht keinen Unterschied. Ich fühle mich geehrt dich kennen gelernt zu haben.« Er schloss die Augen. Seine Stimme wurde leiser und sank schließlich zu einem Flüstern herab. »Wenn du Rangarig triffst, dann grüße ihn von mir.«

Und damit starb er.

Es ging ganz schnell und auf sonderbare Weise undramatisch. Kim konnte spüren, wie sein gewaltiges Herz aufhörte zu schlagen. Seinem letzten Atemzug folgte kein weiterer mehr und plötzlich wurde es still, unheimlich still. Das Heulen des Sturmes hatte aufgehört. Unter ihren Füßen stürzten keine Höhlen mehr zusammen.

Für ein paar Sekunden musste Kim mit aller Macht gegen die Tränen ankämpfen. Selbst im Tode und mit all seinen schrecklichen Verletzungen erschien ihm der Drache mit einem Male unglaublich schön; ein gewaltiges, majestätisches Geschöpf, vielleicht das edelste, das die Natur jemals hervorgebracht hatte. Dass dieses Wesen von einer seelenlosen Kreatur wie dem Skull getötet worden war, erschien ihm einfach nicht gerecht. Es durfte nicht sein. Und es durfte sich nie, nie wiederholen.

Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen, zog geräuschvoll die Nase hoch und drehte sich herum.

Sie waren nicht mehr allein.

Nachdem die beiden Wirbelstürme verschwunden waren, waren ein Mann und eine Frau neben ihnen aufgetaucht und es bedurfte nur eines einzigen Blickes, um Kim davon zu überzeugen, dass es sich um Sturms Eltern handelte.

Der Mann war ein Riese, mindestens so groß wie Gorg, wenn nicht größer, und mit silbernem Haar, in dessen Spitzen winzige, elektrische Funken tanzten. Seine ganze Kleidung bestand aus geflochtenen Silberfäden, in denen es ebenfalls ununterbrochen blitzte und knisterte, und er hatte ein schmales, eben geschnittenes Gesicht mit intensiv blau leuchtenden Augen.

Die Frau schien das genaue Gegenteil zu sein. Sie war eher klein, hatte ein gutmütiges, rundes Gesicht und eisgraues Haar und gleichfarbige Kleidung. Sie war über und über mit Eiskristallen und Schnee bedeckt. Dampfende graue Kälte stieg von ihrer Gestalt auf.

»Das ist sonderbar«, sagte der Mann. Seine Stimme war leise, aber so machtvoll wie ein entferntes Gewittergrollen. »Dieses Wesen war dein Todfeind und doch sehe ich Tränen der Trauer in deinen Augen.«

»Es ist niemals schön, wenn ein lebendes Wesen stirbt«, antwortete Kim. Sein Blick wanderte über die verwüstete Flanke des Berges. Schwarze, reglose Gestalten bedeckten den Fels wie verbranntes Herbstlaub.

»Ihr hättet sie nicht zu töten brauchen«, sagte er.

»Sie haben versucht unseren Sohn zu töten«, antwortete der Mann.

»Ich weiß«, antwortete Kim. »Ich war dabei.«

»Und du hast ihn gerettet.« Nun war es die Frau, die sprach. Ihre Stimme war so leise wie die ihres Mannes und so frostig wie das Heulen des Nordwindes in einer mondlosen Novembernacht. »Dafür schulden wir dir auf immer Dankbarkeit.« Sie tauschte einen Blick mit ihrem Mann und fuhr erst fort, nachdem er mit einem fast unmerklichen Nicken darauf geantwortet hatte. »Wir werden dir einen Wunsch erfüllen. Was es ist, es sei dir gewährt, solange es in unserer Macht steht.«

»Dann beendet das alles hier«, sagte Kim. »Den Krieg! Das Töten und Zerstören muss ein Ende haben.«

»Du verlangst das Unmögliche«, antwortete der Mann, »und du weißt es. Wir könnten es tun. Es wäre ein Leichtes für uns, ihre Armeen zu zerstreuen und ihre Festungen zu zerstören, so wie wir das Reich der Zwerge zerstört haben. Aber waren es nicht deine eigenen Worte, dass der Frieden nicht befohlen werden kann?«

»Ich weiß«, murmelte Kim. »Aber ich musste es wenigstens versuchen.«

Sturms Mutter lächelte und trotz ihres eisigen Äußeren und des Frostes in ihrer Stimme war es ein warmes und sehr wohl tuendes Lächeln. »Hast du sonst einen Wunsch?«

»Nein«, sagte Kim leise. »Ihr habt uns gerettet. Damit sind wir quitt.«

»Dann wird es Zeit, zu gehen«, sagte Sturms Vater. Er wandte sich an seinen Sohn. »Verabschiede dich von deinen Freunden.«

Sturm senkte den Blick und begann unbehaglich mit dem Fuß zu scharren. »Ich bleibe hier«, sagte er leise.

Sein Vater zog die Augenbrauen zusammen. Die elektrischen Funken in seinem Haar knisterten heller. »Wie?«

Mit großer Überwindung hob Sturm den Kopf und sah seinem Vater in die Augen. »Ich ... möchte bei ihnen bleiben«, sagte er noch einmal mit sehr leiser, aber jetzt fester Stimme.

Sein Vater schüttelte den Kopf. Die Luft schien plötzlich vor elektrischer Spannung zu knistern. »Es ist uns verboten, uns in die Angelegenheiten der Menschen zu mischen«, sagte er, »und das mit gutem Grund. Hast du noch nicht genug Schaden angerichtet?«

»Mehr als genug«, antwortete Sturm niedergeschlagen, aber trotzdem in entschlossenem Ton. »Deshalb will ich ja bleiben. Vieles von dem, was hier geschehen ist, ist meine Schuld. Ich will mithelfen es wieder gutzumachen.«

Sein Vater wollte auffahren, aber seine Frau legte ihm rasch die Hand auf den Unterarm und antwortete ruhig: »Wir könnten dich zwingen uns zu begleiten. Aber wir werden es nicht tun. Wenn es dein fester Wille ist, mit deinen neuen Freunden zu gehen, dann kannst du es tun.«

»Doch du weißt, was es bedeutet«, fügte ihr Mann hinzu. »Wenn du bleibst, so als ganz normaler Mensch. Du wirst sterblich sein, so verwundbar und schwach wie sie.«

»Ich weiß«, antwortete Sturm. »Aber ich bin es ihnen schuldig.«

»Zu sterben?«, mischte sich Kim ein. »Sei kein Narr!«

Sturm schüttelte entschlossen den Kopf. »Ich bleibe.«

»So sei es«, sagte sein Vater. Sturms Mutter schien noch etwas hinzufügen zu wollen, ließ es dann aber bei einem wortlosen Seufzer und schloss ihren Sohn zum Abschied kurz und heftig in die Arme. Als sie sich wieder voneinander lösten, hatte Kim den Eindruck, dass Sturm irgendetwas rasch in der Tasche verschwinden ließ, war aber nicht sicher.

Sturms Eltern traten zwei, drei Schritte zurück. Plötzlich kam Wind auf, ein so eisiger, schneidender Wind, dass Kim erschrocken den Kopf senkte und schützend die Hände vor das Gesicht hielt.

Die Böe verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Als Kim die Hände wieder herunternahm, waren Sturms Eltern verschwunden.

»Das war ziemlich tapfer von dir«, sagte Kim.

Sturm deutete ein verlegenes Achselzucken an und die Spinne sagte in keifendem Ton: »Das war unbeschreiblich dämlich! Kannst du mir sagen, was er uns nutzen soll ohne seine Kräfte? Selbst mit ihnen war er bisher keine besondere Hilfe. Kannst du dir vorstellen, was für ein Klotz am Bein er ohne sie ist?«

Sturm fuhr unter diesen Worten sichtbar zusammen und Kim warf der Spinne einen bösen Blick zu und sagte: »Nimm sie nicht ernst! Sie meint es nicht so.«

»Und ob ich es so meine!«

Kim wollte auffahren, aber Sturm hob rasch die Hand und schüttelte den Kopf. »Sie hat ja Recht«, sagte er. »Bisher habe ich mehr Schaden als Nutzen verursacht, und nun, ohne meine Kräfte ...« Er hob die Schultern. »Aber etwas gibt es noch, was ich vielleicht für euch tun kann.«

»Was?«, fragte Kim.

»Willst du immer noch die Zauberkugel zu Themistokles zurückbringen?«, fragte Sturm.

»Natürlich.«

»Dann zeige ich euch, wo ich sie verloren habe«, sagte Sturm. »Es ist nicht einmal sehr weit von hier. Ein Tag mit einem schnellen Pferd. Drei oder vier zu Fuß.«

»Bis zum Ende der Welt?« Kim schüttelte den Kopf. »Du musst dich täuschen. Ich war schon einmal dort. Es liegt in der anderen Richtung. Viele, viele Tagesreisen entfernt.«

»Dann muss es wohl ein anderes Ende der Welt sein als das, von dem ich rede«, beharrte Sturm und deutete über die Ebene nach Westen. »Es liegt dort. Ich kann euch hinführen.«

»Auf jeden Fall solltest du uns von hier wegführen«, sagte die Spinne. »Im Moment haben die Zwerge wahrscheinlich alle Hände voll zu tun, aber sobald sie die größten Trümmer zur Seite geräumt haben, tauchen sie garantiert hier auf.«

Natürlich hatte die Spinne damit Recht, aber Kim glaubte nicht, dass sie so schnell hier auftauchen würden. Er hatte das unheimliche Dröhnen und Bersten, das aus der Tiefe heraussprang, nicht vergessen. Ein großer Teil der Zwergenhöhlen musste zusammengebrochen sein. Trotzdem war es besser, wenn sie auf der Hut blieben.

Sein Blick tastete misstrauisch in die Runde, aber er sah keine Zwerge mehr - mit Ausnahme des einen, den der Pack noch immer mit der linken Hand festhielt um ihn mit der anderen Hand zu ohrfeigen.

»Pack, lass ihn los!«, sagte er scharf.

Der Pack ließ den Zwerg nicht los, hörte aber wenigstens auf, ihn zu ohrfeigen. Einen Moment lang wirkte er ziemlich unentschlossen - dann hielt er Kim mit einer Hand den Zwerg hin, machte mit der anderen eine eindeutige Geste und gab kleine, bettelnde Laute von sich.

»Nein«, sagte Kim kopfschüttelnd. »Du kannst ihn nicht mitnehmen.«

Der Pack wimmerte geradezu herzzerreißend, aber Kim blieb hart. »Bitte, lass ihn los«, sagte er.

»Du kannst dir ja einen anderen fangen«, unkte die Spinne. »Wir werden bestimmt noch vielen begegnen. Mehr, als uns lieb ist!«

Der Pack sah Kim noch einmal bittend an, aber Kim blieb bei seinem Kopfschütteln und schließlich setzte der Pack den Zwerg grob zu Boden - wenn auch nicht ohne ihm vorher noch eine kräftige Kopfnuss verpasst zu haben.

Der Zwerg taumelte kraftlos und wäre gestürzt, hätte Kim ihn nicht aufgefangen.

»Verstehst du mich?«, fragte Kim.

Er bekam nicht sofort eine Antwort. Der Zwerg war nur noch halb bei Bewusstsein. Erst als Kim ihn ein paar Mal schüttelte, öffnete er mühsam die Augen und sagte: »Nicht mehr schlagen!«

»Das habe ich auch nicht vor«, sagte Kim. »Aber ich gebe dich an den Pack zurück, wenn du nicht tust, was ich von dir verlange. Hast du das verstanden?«

Der Zwerg nickte wortlos. In seinen Augen flackerte die nackte Panik.

»Gut«, sagte Kim. »Dann hör mir zu: Du wirst jetzt zu deinem König oder Häuptling oder wie auch immer ihr euren Anführer nennt, zurückgehen und ihm erzählen, was hier passiert ist. Und du wirst ihm sagen, dass das nur ein kleiner Vorgeschmack auf das war, was passiert, wenn ihr uns noch einmal in die Quere kommt! Hast du das verstanden? Wenn ihr uns verfolgt, uns angreift oder eine Falle stellt oder wir auch nur den Schatten eines Zwerges sehen, dann bekommt ihr gewaltigen Ärger. Noch einmal kommt ihr nicht so glimpflich davon!«

Er ließ los. Der Zwerg taumelte, drohte zu stürzen und fand im letzten Moment sein Gleichgewicht wieder. Zuerst langsam und heftig torkelnd, dann immer schneller werdend entfernte er sich und war plötzlich zwischen den Felsen verschwunden. »Glaubst du, dass das eine gute Idee war?«, fragte Sturm.

Kim hob die Schultern. »Was sollte ich tun? Ihn umbringen?« Er schüttelte den Kopf. »Kommt. Verschwinden wir von hier.«

Den ganzen Tag über marschierten sie in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Eine sehr niedergeschlagene, trübe Stimmung hatte von der kleinen Gruppe Besitz ergriffen. Die meiste Zeit liefen sie schweigend nebeneinander her und jeder hing seinen eigenen düsteren Gedanken nach. Kim, Sturm und die Spinne bildeten eine kleine Gruppe, die dichter beieinander blieb, als nötig war, fast als suchten sie wie zur Antwort auf die unendliche Weite der Felsebene ringsum nun umso mehr die Nähe der anderen. Twix flog dann und wann ein Stück voraus um das Gelände zu erkunden und nach eventuellen Fallen und Hinterhalten Ausschau zu halten und der Pack, der noch immer beleidigt war, dass er sein Spielzeug nicht hatte mitnehmen dürfen, trottete ein gutes Stück hinter ihnen her.

Da sie durch die unheimliche Zeitverschiebung im Reich der Zwerge einen unnatürlich langen Tag hinter sich hatten, machten sie mit dem ersten Anzeichen der Dämmerung Halt. Der Pack verschwand, um sich auf die Suche nach etwas Essbarem zu machen, kam aber nach einer halben Stunde mit leeren Händen zurück, sodass sie an diesem Abend mit knurrenden Mägen einschliefen - und frierend dazu, denn so unerträglich heiß die Tage hier am Fuße des Schattengebirges sein mochten, so grausam kalt wurden die Nächte. Sie kuschelten sich eng aneinander, um sich gegenseitig mit ihrer Körperwärme zu helfen.

Selbst Twix überwand ihr Misstrauen gegen die Spinne und vergrub sich halb in das seidige Fell in ihrem Nacken - wenn auch erst, nachdem die Spinne einen heiligen Eid geschworen hatte sie unbehelligt zu lassen. Kim achtete streng darauf, dass die Spinne dabei nicht etwa die Beine hinter dem Rücken kreuzte.

Tief in der Nacht wachte er auf. Er hatte schlecht geträumt. Themistokles war an seinem Lager erschienen und hatte lange und schweigend auf ihn herabgeblickt und obwohl an seiner Gegenwart etwas ungemein Wohltuendes und Beschützendes war, hatte sie ihn zugleich doch zutiefst beunruhigt. Wenn Themistokles Gorywynn verließ, die Stadt, deren Einwohner er zu beschützen versucht hatte, so musste dort etwas Schreckliches geschehen sein.

Kim versuchte den Gedanken zu verscheuchen. Wahrscheinlich lag es nur an dem, was Sturm erzählt hatte. Von ihm wusste er ja, dass die meisten Menschen Gorywynn bereits verlassen hatten, und in seinem Traum hatte er den Gedanken zu Ende gesponnen und seinen geheimen Wunsch wahr gemacht, nach dem Themistokles ihnen gefolgt war um ihnen beizustehen.

Aber war es überhaupt ein Traum gewesen?

Kim sortierte behutsam drei lange Spinnenbeine von seiner Brust, setzte sich auf und sah sich mit klopfendem Herzen um. Es war vollkommen still (sah man von dem gewaltigen Schnarchen des Pack ab) und auch die Dunkelheit war beinahe vollkommen. Alles, was weiter als drei oder vier Schritte entfernt lag, war hinter einem Vorhang aus Schatten und lastender Schwärze verborgen.

Trotzdem - bewegte sich da nicht etwas? Schlich nicht eine Gestalt durch die Dunkelheit, ein Umriss aus noch tieferem Schwarz vor dem Hintergrund der Nacht?

Kim griff nach seinem Schwert, zog die Waffe aber nicht aus dem Gürtel, sondern ließ die rechte Hand griffbereit auf dem Knauf liegen, während er aufstand und vorsichtig ein paar Schritte in die Dunkelheit hinein machte. Er hörte noch immer nichts. Seine zum Zerreißen angespannten Nerven begannen ihm einen bösen Streich nach dem anderen zu spielen. Er wusste nicht, was wahr war und was Illusion.

»Themistokles?«, rief er.

Keine Antwort. Die Dunkelheit schien den Klang seiner Stimme einfach aufzusaugen. Nicht das geringste Echo kam zurück.

Er rief noch einmal nach Themistokles und bekam auch jetzt keine Antwort, aber nach zwei oder drei Sekunden sagte Sturm hinter ihm: »Du hast auch von ihm geträumt, wie?«

Kim drehte sich halb zu ihm herum. »Ich wollte dich nicht wecken«, sagte er.

»Das hast du nicht.« Sturm winkte ab und kam mit langsamen Schritten näher. »Ich war schon vor dir wach. Ich bin nur nicht aufgestanden um euch nicht zu stören.«

»Was für ein löblicher Vorsatz«, nuschelte die Spinne verschlafen. »Dann wäre es doch nett, wenn ihr zwei Quatschköpfe euren Kaffeeklatsch woanders halten könntet, damit wenigstens einer von uns ausschlafen kann.«

Absurderweise richtete sie sich nach diesen Worten auf und gähnte ausgiebig. Twix rutschte von ihrem Rücken und landete mit einem erschrockenen Piepsen auf dem felsigen Boden und die Spinne fuhr gähnend fort: »Nur falls es euch interessiert: Ich habe auch von ihm geträumt.«

»Ich bin nicht sicher, dass es ein Traum war«, sagte Kim. Er blickte weiter konzentriert in die Dunkelheit hinein, konnte aber noch immer nichts als Schatten erkennen. Sie schienen tiefer geworden zu sein; als zöge sich die Nacht zu einem Belagerungsring um sie herum zusammen.

»Es war ein Traum«, beharrte die Spinne. Mit einem Bein hob sie die Elfe auf, schnüffelte prüfend an ihr und setzte sie dann mit einem enttäuschten Seufzer wieder zu Boden. Twix trat ihr wütend vors Bein und stolzierte mit in den Nacken geworfenem Kopf davon und die Spinne fuhr fort: »So verrückt, freiwillig hierher zu kommen, ist er nicht. Ich kenne nur einen...« Sie verbesserte sich. »... vier, die so bekloppt sind.«

»Fünf«, verbesserte sie Twix aus der Dunkelheit heraus.

»Vier, Schätzchen«, säuselte die Spinne. »Ich bin nicht freiwillig hier. Ich passe auf mein Essen auf.«

Ein daumennagelgroßer Stein kam aus der Nacht geflogen und traf zielsicher zwischen die Augen der Spinne und Kim sagte hastig: »Es kann kein Zufall sein, dass wir alle den gleichen Traum geträumt haben, oder?«

»Wohl kaum«, murmelte Sturm. »Vielleicht hat uns Themistokles auf diese Weise eine Warnung geschickt?«

»Und wovor?«, fragte Kim. Schaudernd strengte er die Augen an, um die Dunkelheit zu durchdringen. Er konnte noch immer nichts sehen, aber da war irgendetwas.

Der Skull?

Nein. Das Gefühl war ... ähnlich. Aber nicht dasselbe.

»Wenn wir sowieso schon wach sind«, schlug die Spinne vor, »können wir genauso gut auch weitergehen. Ich kann sowieso nicht mehr einschlafen. Ich bin zu hungrig dazu.«

Sie klang ein bisschen nervös, fand Kim. Möglicherweise war er nicht der Einzige, der den unheimlichen Hauch spürte, der durch die Nacht zu ihnen wehte.

»Einverstanden«, sagte Sturm. »Je eher wir weitergehen, desto schneller erreichen wir unser Ziel.«

»Was für eine scharfsinnige Feststellung«, spöttelte die Spinne und Twix fügte hinzu: »Das sagt er ja nur, damit sogar du es verstehst.«

»Also gut«, sagte Kim. »Aber seid vorsichtig. Ein einziger Fehltritt kann hier üble Folgen haben.«

»Und erst acht!«, kicherte Twix.

Sie brachen auf. Das Gehen auf dem mit Steinen übersäten Boden war schon tagsüber schwierig genug gewesen. Bei Dunkelheit wurde jeder Schritt zu einem unkalkulierbaren Risiko. Aber sie hatten großes Glück. Mit Ausnahme der Elfe machten sie zwar alle mehrmals unliebsame Bekanntschaft mit dem Boden, kamen aber auch alle mehr oder weniger glimpflich davon. Und nach endlos erscheinenden Stunden begann sich der Himmel über ihnen langsam wieder grau zu färben.

Ihre Umgebung hatte sich zu verändern begonnen, während sie durch die Nacht marschiert waren. Nun, als es hell wurde, sah Kim, dass sie das Schlimmste hinter sich hatten. Zwischen den Felsen lugte hier und da ein blasser Grashalm hervor, manchmal ein Busch oder eine stachelige Blume und vor ihnen, allerhöchstens noch eine halbe Stunde entfernt, erhob sich eine sanft gerundete, baumbestandene Hügelkette.

Der Anblick spornte sie noch einmal an. In raschem Tempo legten sie das letzte Stück Weg zurück, liefen den ersten Hügel hinauf und ließen sich zwischen den Bäumen niedersinken. Kim war nicht einmal sonderlich müde, aber es tat ungemein wohl, wieder einmal Bäume und lebendes Grün zu sehen, statt steinigen Boden und harten Fels.

Der Pack verschwand augenblicklich, wohl um etwas Essbares aufzutreiben, und Kim bat Twix vorauszufliegen, um die nähere Umgebung zu erkunden. So angenehm ihm diese veränderte Landschaft auch war, hatte er noch immer das unheimliche Gefühl, dass etwas da war, was nicht hierher gehörte.

Sie gönnten sich eine wohlverdiente Rast, während sie auf die Rückkehr der Elfe und des Pack warteten. Kim schlief sogar für einen Moment ein, spürte aber sofort das Nahen eines Albtraums und schrak wieder hoch. Er stand auf und ging ein paar Schritte. Zwischen den letzten Bäumen blieb er stehen und sah nach Osten, zu den Bergen hin.

Er konnte sie jetzt nur noch als bloße Schatten erkennen, verschwommene Schatten, die wie ein düsteres Versprechen auf kommendes Unheil vor dem Horizont lasteten und viel weiter entfernt schienen, als sie in Wirklichkeit waren. Es war nicht das erste Mal, dass Kim die Berge so sah. Genau diesem unheimlichen Effekt hatten sie ihren Namen zu verdanken. Aber man konnte sie ansehen, so oft und so lange man wollte - das Bild verlor nichts von seinem Schrecken.

Die Ebene davor schien eine sonnendurchglühte, endlose Einöde aus verbranntem Fels, über der die Luft vor Hitze flimmerte. Es erschien Kim plötzlich fast unglaublich, dass es ihnen gelungen sein sollte, diese Felswüste in einem einzigen Tag und einer Nacht zu durchqueren.

Weit entfernt, vielleicht auf halber Strecke zwischen ihm und den Bergen, bewegte sich etwas. Im ersten Augenblick dachte Kim, es wäre nur eine Täuschung, hervorgerufen durch die hitzeflimmernde Luft und die Entfernung, aber schon beim zweiten Hinsehen erkannte er, dass das nicht so war. Etwas bewegte sich tatsächlich dort draußen. Etwas unvorstellbar Großes ...

»Sturm!«, rief er.

Der sommersprossige Junge stand auf und kam mit schnellen Schritten näher und auch die Spinne trippelte herbei. Kim sagte nichts, sondern deutete nur schweigend nach Osten und für eine Weile blickten sie alle wortlos und besorgt zu den näher kriechenden Schatten hin.

»Zwerge«, sagte Sturm schließlich.

»Bist du sicher?«, fragte Kim. Auf der Ebene war immer noch nichts als eine gewaltige dunkle Masse zu erkennen. »Ganz sicher«, sagte Sturm düster. »Wer die Gastfreundschaft der Zwerge einmal so ausgiebig genossen hat wie ich, der vergisst sie nie wieder.«

Kim blickte auf Sturms Handgelenke. Dank der Elfe waren die Wunden fast vollkommen verheilt, aber er würde wahrscheinlich immer in Erinnerung behalten, was die bösartigen Gnome ihm angetan hatten.

»Aber es sind so ... so viele«, murmelte er.

»Ich schätze, es sind alle«, sagte Sturm. »Sie sind zornig. Meine Eltern haben den größten Teil ihres Reiches zerstört. Sehr viele sind tot. Die Überlebenden sinnen auf Rache.«

»Und wahrscheinlich wissen sie, wer ich bin«, fügte Kim leise hinzu. Er sah die Spinne an. »Du hattest Recht. Es war ein Fehler, den Zwerg laufen zu lassen. Er muss gehört haben, was der Drache gesagt hat.«

»Wir sollten von hier verschwinden«, sagte die Spinne.

Nichts hätte Kim in diesem Moment lieber getan. Trotzdem schüttelte er nach einem kurzen Augenblick den Kopf. »Nein. Wir brauchen eine Pause. Und wir müssen essen.«

»Stimmt«, sagte die Spinne. »Wo ist die Elfe?«

»Wir werden nicht sehr weit kommen, wenn wir vor Erschöpfung zusammenbrechen«, fuhr Kim ungerührt fort. »Außerdem sind die Zwerge nicht besonders schnell. Und die Hitze macht ihnen garantiert noch mehr zu schaffen als uns.«

So geduldeten sie sich, bis der Pack und wenige Augenblicke darauf auch die Elfe zurückkamen. Der Pack brachte ein wenig Obst und eine Hand voll Beeren, eine Mahlzeit, die kaum ausreichte um ihren Hunger zu stillen. Die Elfe allerdings brachte ausnahmsweise gute Nachrichten. Nur zwei oder drei Stunden entfernt, so verkündete sie, gäbe es ein großes Gehöft, das zwar von seinen Bewohnern verlassen, ansonsten aber unbeschädigt war. Dort würden sie Pferde und auch alles andere an Ausrüstung finden, was sie benötigten.

Bevor sie aufbrachen, warfen sie noch einen Blick auf das Zwergenheer. Es schien noch nicht sichtbar näher gekommen zu sein, war aber größer geworden. Es mussten buchstäblich unzählige Zwerge sein, dachte Kim schaudernd. Sturm hatte Recht. Die Zwerge hatten tatsächlich jeden Krieger aufgeboten, den sie besaßen, um ihrer habhaft zu werden.

Der Einzige, den der Anblick nicht vor Schrecken erstarren ließ, war der Pack. Er klatschte vor Freude in die Hände und begann aufgeregt auf und ab zu hüpfen, was die Spinne zu einer spöttischen Bemerkung und Sturm zu einem stummen Kopfschütteln veranlasste.

Wortlos drehten sie sich herum und brachen auf. Sie legten ein scharfes Tempo vor um das Gehöft zu erreichen.

Nicht einmal eine Stunde später liefen sie in die Falle, die die Zwerge für sie vorbereitet hatten.

Das Gelände war immer unwegsamer geworden. Das wuchernde Grün, das ihnen am Anfang wie ein Labsal für Auge und Seele vorgekommen war, begann bald hinderlich zu werden. Die Bäume rückten immer enger zusammen und immer mehr und mehr düsteres Unterholz begann die Zwischenräume zu blockieren, sodass sie sich bald nur noch mühsam hindurchzuzwängen vermochten und sich ihren Weg auf dem letzten Stück mit roher Gewalt bahnen mussten.

Nicht nur Kim atmete erleichtert auf, als sie plötzlich aus dem Wald heraustraten und sich vor ihnen eine weite, an drei Seiten von Gebüsch und an der vierten von einer steil aufragenden, fünf Meter hohen Felswand begrenzte Lichtung auftat. Er schätzte, dass sie nahezu die halbe Strecke bis zu dem Gehöft, von dem Twix berichtet hatte, bereits hinter sich gebracht hatten. Die Sonne war höher gestiegen und selbst im Wald war es bereits sehr warm. Draußen auf der Ebene musste es unerträglich heiß geworden sein. Die Zwerge in ihren schwarzen Umhängen mussten demnach gerade gekocht werden. Sie konnten es sich leisten, eine kleine Rast einzulegen.

Keiner der anderen erhob Einwände, als Kim einen entsprechenden Vorschlag machte. Sie suchten sich eine schattige Stelle am Waldrand und ließen sich ins niedrige Gras sinken und Kim schloss für einen Moment die Augen. Er wollte nicht schlafen, nur einen Moment ausruhen.

»Es ist jetzt nicht mehr weit«, murmelte Sturm, fast als hätte er seine Gedanken gelesen. Auch seine Stimme klang müde und Kim fragte sich, ob er vielleicht mehr darunter litt, plötzlich ein sterblicher Mensch mit allen seinen Fehlern, Unzulänglichkeiten und Schwächen zu sein, als er selbst zugeben mochte.

Träge öffnete er ein Auge und sah Sturm an. Der Junge hatte sich nicht weit entfernt ins Gras gesetzt und den Kopf gegen einen Baumstamm gelehnt. Er war sehr blass. Ohne Kim anzusehen fuhr er fort: »Wenn wir dort Pferde finden, sind wir heute Abend am Ziel. Spätestens morgen früh.«

»Und dann?«, fragte die Spinne. Sie saß nur ein paar Meter entfernt im Gras und kaute auf irgendetwas herum. Kim sah erschrocken hoch, entdeckte Twix aber dann nicht weit entfernt auf einem niedrig hängenden Ast sitzen und ließ sich beruhigt wieder ins Gras sinken.

Sturm hob die Schultern. »Wir müssen versuchen die Zauberkugel wieder zu finden«, sagte er.

»Reizend, wie du immer wir sagst! Wo wir sie doch auch verloren haben, nicht wahr?« Sie spuckte den Stock aus, auf dem sie bisher herumgekaut hatte, und warf einen sehnsüchtigen Blick zu Twix hinauf.

»Und wenn wir sie wieder gefunden haben, was tun wir dann damit?«, fuhr sie fort.

»Wir bringen sie zu Themistokles«, antwortete Kim rasch. »Er wird schon wissen, was er damit anzufangen hat.«

»Was für eine tolle Idee«, sagte die Spinne hämisch. »Habt ihr beiden Meisterstrategen dabei nicht nur eine Kleinigkeit vergessen? Ich meine: Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, dann war es doch Themistokles selbst, der seine Zauberkraft überhaupt erst in die Kugel gebannt hat, damit sie dort sicher ist, oder?«

»Damals hat er aber noch nichts von dem Skull gewusst«, sagte Sturm. »Ohne seine Zauberkraft sind wir alle verloren.«

»Der Skull wird ganz Märchenmond zerstören«, stimmte Twix zu. »Ganz gleich, welche Seite gewinnt.«

Der Pack setzte sich auf, drehte mit einem Ruck den Kopf und starrte aus zusammengekniffenen Augen in den Wald hinein. Kim sah ihn einige Augenblicke lang aufmerksam an, ehe er fortfuhr: »Twix hat Recht. Es ist mittlerweile gleich, welche Seite den Sieg davonträgt. Auch die Sieger werden untergehen, wenn der Skull...«

Er sprach nicht weiter. Auch die Elfe hatte den Kopf gedreht und starrte konzentriert in die gleiche Richtung wie der Pack. »Was ist?«, fragte Kim. »Was habt ihr?«

»Ich weiß nicht«, murmelte Twix. »Aber etwas stimmt hier nicht...«

Noch bevor Kim eine weitere Frage stellen konnte, stieß der Pack einen zischenden Laut aus, griff plötzlich mit beiden Händen in das Gebüsch hinter sich und zerrte ein zappelndes, grün und braun geflecktes Bündel heraus.

Es war ein Zwerg. Statt eines schwarzen Umhanges trug er jedoch gefleckte Tarnkleidung. Sein Schädel war kahl geschoren - was den Pack jedoch nicht daran hinderte, die geballte Faust darauf niedersausen zu lassen. Der Zwerg quietschte, verdrehte die Augen und erschlaffte in Packs Griff.

»Dummkopf!«, schimpfte die Spinne. »Was nutzt er uns jetzt noch? Wir hätten ihn verhören sollen! Falsche Reihenfolge, verstehst du? Erst verhören, dann verprügeln, nicht umgekehrt!«

»Lass ihn«, sagte Kim besorgt. »Er hätte sowieso nichts gesagt.«

»Da wäre ich nicht so sicher«, sagte die Spinne. »Ich habe da so meine Methoden...«

»Seid still!«, sagte Sturm hastig. »Das gefällt mir nicht! Wo einer ist, da sind bestimmt auch noch mehr!«

Seine Worte wären kaum nötig gewesen, so wenig wie seine Warnung. Überall rings um sie herum raschelte und knisterte es plötzlich. Kim konnte keine Einzelheiten erkennen, aber es war fast, als wäre der gesamte Wald rings um sie herum plötzlich zum Leben erwacht. Überall bewegte es sich, huschten gefleckte Schatten hin und her. Die Zwerge waren in ihrer Tarnkleidung beinahe unsichtbar, aber es mussten viele sein.

»Nichts wie weg hier!«, kreischte die Spinne.

Ihre Warnung wäre beinahe sogar für sie selbst zu spät gekommen. Aus den Baumwipfeln über ihr fiel ein mit Steinen beschwertes Netz, in das sie sich augenblicklich verstrickte. Während die Spinne empört aufschrie und vergeblich versuchte sich aus den engen Maschen zu befreien, zog Kim sein Schwert und sprang auf. Twix und Sturm eilten sofort zu der Spinne, um sie aus ihrer misslichen Lage zu befreien, während er selbst und der Pack sich gegen den erwarteten Ansturm wappneten.

Der ganze Wald hinter ihnen schien mit einem Schlag zum Leben zu erwachen. Mindestens ein Dutzend Zwerge in gefleckten Anzügen brachen johlend aus dem Unterholz hervor und griffen Kim und den Pack mit Speeren, Schwertern und Keulen an. Kim und der Pack hielten dem ersten Ansturm stand, aber es wurde nur zu schnell klar, dass sie nur wenige Augenblicke erfolgreich sein konnten. Immer mehr und mehr Zwerge sprangen aus den Büschen hervor und auch überall sonst raschelte und huschte es.

»Sturm!«, keuchte Kim. »Beeilt euch!«

Sturm antwortete etwas, das er nicht verstand, und ihm wäre auch gar keine Zeit geblieben, auf seine Antwort zu achten, denn die Zwerge verdoppelten nun die Wucht ihres Angriffs. Drei, vier Speere stocherten gleichzeitig nach ihm und ein Schwert zog eine brennende Linie über seine Wade. Kim kappte die Speere mit einem einzigen, weit ausholenden Schlag, entriss dem Zwerg das Schwert und schlug ihn mit der flachen Seite seiner eigenen Waffe nieder. Neben ihm verteilte der Pack Nasenstüber und Maulschellen, die die Zwerge durcheinander taumeln ließ. Trotzdem mussten sie Schritt für Schritt zurückweichen.

Endlich war es Sturm und der Elfe gelungen, die Spinne aus dem Netz zu befreien, und sie konnten sich hastig in die Mitte der Lichtung zurückziehen. Sonderbarerweise verzichteten die Zwerge darauf, den strategischen Vorteil auszunutzen und ihnen zu folgen. Nur der Pack schleifte den Zwerg, den er am Anfang aus dem Gebüsch gezerrt hatte, weiter an einem Fuß hinter sich her, warf ihn dann aber in hohem Bogen zurück in den Wald, als Kim ihn drohend ansah.

Rücken an Rücken nahmen sie in der Mitte der Lichtung Aufstellung. Sie waren umzingelt. Dutzende und Aberdutzende von Zwergen waren aus dem Wald herausgetreten und schüttelten drohend ihre Waffen, griffen sie aber noch immer nicht an.

»Mich mit einem Netz zu fangen!«, keifte die Spinne. »Das ist ja wohl das Letzte! Ich habe ja schon viel erlebt, aber eine solche Unverschämtheit ist mir ja noch nie untergekommen! Wenn ich die Kerle zu fassen kriege, dann können sie was erleben, das schwöre ich!«

»Nur keine Bange«, sagte Sturm grimmig. »Dazu bekommst du gleich Gelegenheit.«

Er deutete auf den Waldrand. Die Spinne keifte unbeeindruckt weiter, folgte seiner Geste mit Blicken und brach dann plötzlich ab.

»Oh«, sagte sie.

»Treffender hätte ich es auch nicht ausdrücken können«, kommentierte Twix.

»Ich verstehe nicht, warum sie nicht angreifen!«, sagte Sturm. »Worauf, zur Hölle, warten sie denn noch?«

Kim hob die Schultern. Immer wieder sah er sich um, aber wohin er auch blickte, es war überall dasselbe: Vor dem Waldrand war eine massive Mauer von Zwergen erschienen. Sie waren an drei Seiten eingekreist. Und genau in diesem Moment erschienen auch auf der Felswand, die das letzte Viertel der Lichtung begrenzte, zahlreiche Gestalten.

»Da hast du deine Antwort«, murmelte er mit einer entsprechenden Geste. »Darauf.«

Sturm sog erschrocken die Luft ein. Die meisten Gestalten oben auf dem Fels waren Zwerge, aber vier von ihnen waren etwas größer und trugen schwarze, zerbeulte Eisenrüstungen. »Die Schwarze Garde«, murmelte Kim.

»He, Leute!«, brüllte die Spinne. »Habt ihr Lust auf eine zweite Runde?«

Die vier schwarzen Krieger reagierten nicht, sondern starrten weiter drohend auf sie herab. Sturm fragte: »Wer ist das?«

»Die Schwarze Garde«, sagte Kim noch einmal. »Wo sie sind, da ist Kai auch nicht weit.«

»Kai?«, fragte Sturm ungläubig. »Du meinst, er hat sich mit den Zwergen zusammengetan? Das kann ich mir nicht vorstellen!«

Im Grunde konnte Kim das auch nicht. Die Zwerge waren - wenn auch auf vollkommen andere Weise als zum Beispiel Twix oder Themistokles - magische Wesen und versinnbildlichten somit alles, was Kai und seine Anhänger verabscheuten. Es erschien ihm geradezu unmöglich.

Aber vielleicht gab es ja auch noch eine andere Erklärung. Genau genommen stellte die Schwarze Garde ja nicht Kais Leibwache dar, sondern die des ...

Die vier eisernen Krieger traten paarweise auseinander, um Platz für eine fünfte Gestalt zu machen.

Es war nicht Kai.

Kim war nicht einmal sicher, ob es ein Mensch war.

Die Gestalt war gut zwei Meter groß und trug dieselbe Art von schwarzem, bis zum Boden reichenden Mantel wie das Kleine Volk. Ihr Gesicht verbarg sich im Schatten der weit nach vorne gezogenen Kapuze. Aber das war nicht der einzige Grund, aus dem Kim es nicht genau erkennen konnte. Etwas wie eine körperlose Dunkelheit hüllte sie ein.

»Wer ... ist das?«, flüsterte Sturm.

»Das«, antwortete Kim mit belegter Stimme, »ist der Magier der Zwei Berge. Habe ich Recht?«

Die letzten drei Worte hatte er mit erhobener Stimme zu der Gestalt oben auf dem Felsen gerufen.

Zwei, drei Sekunden lang geschah gar nichts, dann nickte der schwarze Riese. »Du bist klug, Kim. Aber das habe ich erwartet.«

Seine Stimme klang unheimlich. Kim konnte nicht sagen, ob sie einem Mann oder einer Frau gehörte, alt oder jung war, fremd oder vertraut.

»Und was willst du?«, fragte er.

»Dich«, antwortete der Magier der Zwei Berge.

»Mich?« Kim blinzelte verwirrt. »Aber was -«

»Ich brauche deine Hilfe«, unterbrach ihn die schwarze Riesengestalt.

»Meine Hilfe.« Kim hätte um ein Haar laut aufgelacht. »Wie kommst du denn auf die Idee, dass ich dir helfen würde - ganz egal, wobei?«

»Du möchtest doch das Leben deiner Freunde retten, oder?« Eines konnte man dem Magier der Zwei Berge nicht nachsagen, dachte Kim: Dass er lange um die Dinge drum herumredete.

»Dabei haben wir aber auch noch ein Wörtchen mitzureden, oder?«, fragte Sturm.

Der Magier der Zwei Berge würdigte ihn keiner Antwort. »Du hast meine Pläne gestört, Kim«, fuhr er fort. »Nun wirst du mir helfen, den Schaden wieder gutzumachen, den du angerichtet hast - oder deine Freunde bezahlen mit dem Leben dafür.«

»Schaden angerichtet?«, zischelte die Spinne. »Du hast ja keine Ahnung! Wir haben noch nicht einmal richtig damit angefangen, Schaden anzurichten!«

Kim starrte den schwarzen Giganten durchdringend an. Obwohl er mitten im hellen Sonnenlicht stand, schien er trotzdem von einer Aura der Düsternis und Kälte eingehüllt zu sein. Es gelang Kim immer noch nicht, einen Blick unter die schwarze Kapuze zu werfen. Es war, als ... als wäre gar kein Gesicht darunter.

»Wissen Kai und seine Krieger, dass du dich mit den Zwergen zusammengetan hast?«, fragte er.

»Nein«, antwortete der Magier. »Doch selbst wenn, wäre es gleich. Ich brauche die Zwerge nicht mehr. Jetzt, wo ich dich habe.«

Und endlich verstand Kim. »Du warst es«, murmelte er. »Die Zwerge haben all diese magischen Dinge in deinem Auftrag gestohlen, nicht wahr?«

Der Magier der Zwei Berge lachte anerkennend. »Ich sagte doch bereits: Du bist klug. Klug und mutig. Es ist besser, dich nicht zum Feind zu haben.«

Kim konzentrierte sich auf die Schwärze unter der Kapuze. Gleichzeitig versuchte er, seine rechte Schulter unauffällig ein wenig herabsinken zu lassen. Im ersten Moment geschah gar nichts, dann jedoch spürte er, wie der Bogen, den er darüber trug, ganz allmählich ins Rutschen kam.

»Was willst du von mir?«, fragte er laut. Er ahnte die Antwort, aber er musste irgendwie Zeit gewinnen. Turocks Zauberbogen rutschte Millimeter um Millimeter weiter.

»Durch eure Schuld wurde das Zwergenreich zerstört«, antwortete der Magier der Zwei Berge, »und mit ihm die Magie, die das Kleine Volk in meinem Auftrag gesammelt hat. Nun wirst du zu dem Ort gehen, an dem Themistokles' Zauberkugel liegt. In ihr ist alle magische Macht des alten Mannes gefangen. Wer sie besitzt, der besitzt die Macht über die Welt.«

»Ich verstehe«, sagte Kim. Noch ein winziger Ruck und er würde den Bogen in der rechten Hand halten. Jetzt musste er nur noch irgendwie an den einzigen verbliebenen Pfeil in seinem Köcher herankommen. »Und danach brauchst du auch Kai und seine nützlichen Krieger nicht mehr.«

»Ich habe mit dem Aufstand der Jungen nichts zu tun«, antwortete der Magier der Zwei Berge. Seltsamerweise glaubte Kim ihm. »Ich bin selbst alt, kleiner Held. Älter, als du dir auch nur vorstellen kannst. Warum sollte ich einen Aufstand der Jungen gegen die Alten unterstützen? Es spielt keine Rolle, wer siegt. Am Schluss werde ich der Sieger sein.«

»Dann kannst du dir deine Zauberkugel ja auch selbst holen«, knurrte Kim.

»Nein, das kann ich nicht«, antwortete der Magier der Zwei Berge. »Kein Bewohner dieser Welt kann den Ort erreichen, an dem die Kugel liegt. Nur du allein kannst es. Und du wirst es tun!«

»Und wenn nicht?«, fragte Kim. »Was bringt dich auf die Idee, dass wir alle hier ohne zu zögern unsere Leben opfern würden, um Märchenmond zu retten? Ich?« Er deutete auf sich. »Sie?« Seine Hand wies auf die Spinne. »Er und er?« Er deutete nacheinander auf Sturm und den Pack. »Und sogar sie?« Damit hob er die Hand und wies auf die Elfe, die auf seiner Schulter saß. Aber damit führte er die Bewegung fort, griff nach dem gefiederten Ende des Pfeiles in dem Köcher auf seinem Rücken und zog ihn heraus. Gleichzeitig ließ er die rechte Schulter fallen. Der Bogen verlor endgültig seinen Halt, fiel zielsicher in seine geöffnete Rechte und Kim riss den anderen Arm in die Höhe und legte den Pfeil auf die Sehne, alles in einer einzigen, fließenden Bewegung, so schnell, dass das Auge ihr kaum folgen konnte. Noch während Sturm neben ihm ein überraschtes Keuchen ausstieß, spannte er den Bogen und ließ den Pfeil fliegen.

Der Magier der Zwei Berge machte nicht die kleinste Bewegung um dem Geschoss auszuweichen. Der schwarze Pfeil raste mit tödlicher Präzision auf die Dunkelheit unter der Kapuze zu - und hindurch!

Der Pfeil schien auf keinen Widerstand zu treffen. Lautlos und ohne auch nur an Geschwindigkeit zu verlieren, durchschlug er den schwarzen Mantel des Magiers, raste noch ein Stück weiter und kehrte nach einer weit geschwungenen Schleife zurück!

Seine Spitze wies genau auf Kims Herz.

Kim wollte sich zur Seite werfen, aber er war wie gelähmt. Seine Muskeln versagten ihm einfach den Dienst. Hilflos musste er zusehen, wie der Pfeil genau auf ihn zuschoss. In der nächsten Sekunde musste er ihn erreichen und sein Herz durchbohren.

Der Pack schrie gellend, warf sich mit weit ausgebreiteten Armen vor und fing den Pfeil mit seinem eigenen Körper auf. Der Schlag war so gewaltig, dass der Pack gegen Kim geschleudert wurde und ihn mit sich zu Boden riss. Die Pfeilspitze, die zwischen seinen Schulterblättern hervorragte, verletzte Kim an der Schulter, sodass er nicht nur vor Schreck, sondern auch vor Schmerz aufschrie, als sie beide zusammen rücklings in Gras geschleudert wurden.

»Was für eine noble Geste«, sagte der Magier der Zwei Berge abfällig. »Und wie sinnlos! Packt sie!«

Die beiden letzten Worte, die er geschrien hatte, galten den Zwergen. Während seine vier in Eisen gehüllten Leibwächter ohne zu zögern von der fünf Meter hohen Felswand heruntersprangen, setzten sich die Zwerge johlend in Bewegung.

Kim wälzte den wimmernden Pack von sich herunter, ergriff den Pfeil und brach die Spitze mit einem entschlossenen Ruck ab. Er wusste ja, dass der Pfeil den kleinen Kobold nicht töten konnte, aber er musste ihm große Schmerzen bereiten. Trotzdem zögerte er keine Sekunde, nach dem abgebrochenen Ende zu greifen und mit einem einzigen, harten Ruck herauszuziehen. Der Pack kreischte und fiel in Ohnmacht und Kim hob sein Schwert auf und wandte sich den Angreifern zu.

Die Schwarze Garde war nahezu heran und das galt auch für die Zwerge. Die Spinne hatte sich kampfeslustig auf die Hinterbeine erhoben und selbst Twix summte wie eine gereizte Hornisse.

Nur Sturm hatte seine Waffe nicht wieder aufgehoben. Stattdessen griff er in die Tasche, zog etwas Kleines, Glitzerndes heraus und schrie plötzlich: »Augen zu!«

Kim gehorchte ganz instinktiv - er presste die Augen zusammen und warf die Hände vor das Gesicht.

Trotzdem schrie er vor Schreck und Schmerz wie alle anderen schrill auf, als ein unerträglich heller, gleißender Blitz über ihnen aufflammte. Ein gewaltiges Dröhnen und Heulen erklang und im Bruchteil einer Sekunde wurde es fast unerträglich kalt.

Als Kim vorsichtig die Hände herunternahm und die Augen öffnete, bot sich ihm ein schier unglaubliches Bild.

Die Lichtung war weiß geworden. Gras, Büsche und selbst die Bäume am Waldrand waren geknickt und mit einem schimmernden weißen Eispanzer überzogen, als wäre der Urvater aller Polarstürme über sie hinweggefaucht. Die Zwerge, die Schwarze Garde und selbst der Magier der Zwei Berge oben auf seinem Felsen waren zu bizarren weißen Eisstatuen geworden, mitten in der Bewegung erstarrt und unter schimmerndem weißen Eis verborgen. Nichts regte sich. Die Luft knisterte vor Kälte.

»Hö?«, machte die Spinne.

»Was ... wie hast du das gemacht?«, fragte Kim stockend.

»Eine kleine Überraschung, die mir meine Mutter zugesteckt hat, ohne dass mein Vater es merkte«, sagte Sturm grimmig. »Ich war nicht sicher, ob es funktioniert ... aber manchmal muss man eben ein Risiko eingehen.«

Plötzlich grinste er über das ganze Gesicht, drehte sich herum und verpasste dem nächsten Zwerg einen Tritt, der ihn sich zweimal überschlagen und dann in den Schnee stürzen ließ.

Kim grinste ebenfalls, schüttelte aber trotzdem den Kopf und sagte: »Tu das nicht. Bitte.«

»Bist du verrückt?«, fragte Sturm. »Sie hätten uns ohne zu zögern in Stücke gerissen. Um genau zu sein: Sie wollten mich in Stücke reißen!«

»Ich weiß«, antwortete Kim. »Aber es ist nicht ihre Schuld.« Er deutete zu der erstarrten Gestalt des Magiers der Zwei Berge hinauf. »Erinnerst du dich, was du mir über ihn erzählt hast? Er kann anderen seinen Willen aufzwingen. Und nach allem, was ich bisher erlebt habe, nehme ich an, dass er ziemlich gut darin ist.«

Sturm starrte den Magier an. In seinen Augen blitzte es regelrecht hasserfüllt auf. Aber er sagte nichts mehr und nach ein paar Sekunden wandte sich auch Kim um und ließ sich neben dem Pack in die Hocke sinken.

Das kleine Wesen lag auf der Seite und wimmerte leise. Der Anblick brach Kim fast das Herz. Er wusste, dass der Pack nicht sterben würde, weder an dieser noch an irgendeiner anderen Verletzung, aber das änderte nichts daran, dass er sein Freund war und dass er litt. Er hätte viel darum gegeben, seine Schmerzen zu lindern, aber das konnte er nicht.

»Twix!«

»Ich weiß, was du sagen willst.« Die Elfe schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich kann ihm nicht helfen. Meine Magie hilft nur Geschöpfen aus unserer Welt. Bei ihm ist sie wirkungslos. Aber er wird sich bald erholen.«

»Mir hast du doch auch geholfen.« Kim deutete auf Sturm. »Und ihm!«

»Das war etwas anderes«, behauptete Twix. »Er ist ein Geschöpf jeder Welt. Und du bist...« Sie suchte nach Worten. »... eben du«, sagte sie schließlich.

»Der kleine Knirps kommt schon durch«, sagte auch die Spinne. Sie kam näher und stieß den Pack fast zärtlich mit einem ihrer langen Beine an. »Er hat dir das Leben gerettet. Das hätte ich nicht gedacht.« Sie seufzte, dann drehte sie sich zu einem der erstarrten Zwerge herum und musterte ihn nachdenklich.

»Wenn man einen dieser Speere benutzt ...«, murmelte sie. Fragend sah sie zu Kim hoch. »Was meinst du, wie Zwerg am Stiel schmeckt?«

»Bestimmt nicht gut«, antwortete Kim. Gegen seinen Willen musste er grinsen. Kopfschüttelnd drehte er sich um, zögerte einen Moment und ging dann zu den vier gepanzerten Gestalten der Schwarzen Garde hinüber.

»Was hast du vor?«, piepste Twix.

»Ich will endlich wissen, was unter diesen Rüstungen ist«, sagte er. Er versuchte auch unverzüglich seine Worte in die Tat umzusetzen, aber das erwies sich als gar nicht so einfach. Die Helmvisiere der Ritter waren so festgefroren, dass er eine Brechstange gebraucht hätte um sie zu öffnen.

Kim versuchte einen Teil der Rüstungen zu entfernen, doch das war ebenso unmöglich. Die ledernen Riemen, mit denen die einzelnen Rüstungsteile aneinander befestigt waren, waren selbst zur Härte von Stahl erstarrt. Aber er musste wissen, was unter diesen Rüstungen war!

»Sturm!«, rief er. »Ich könnte ein wenig Hilfe gebrauchen!« Er bekam keine Antwort, zerrte noch einen Moment vergebens an der Rüstung herum und drehte sich schließlich fast verärgert zu Sturm herum.

Sturm war nicht mehr da.

Kim blickte nach rechts, nach links, drehte sich schließlich einmal im Kreis - und sog erschrocken die Luft ein.

Sturm war die Felswand hinaufgeklettert und richtete sich genau in diesem Moment neben der riesigen Gestalt des Magiers der Zwei Berge auf. In beiden Händen hielt er einen Felsbrocken, der so schwer war, dass er ihn kaum hochzustemmen vermochte.

»Sturm!«, schrie Kim. »Nein! Tu das nicht!«

Sturm musste seine Worte hören, aber er reagierte nicht. Mühsam und mit vor Anstrengung verzerrtem Gesicht stemmte er den Felsbrocken höher.

»Haltet ihn auf!«, schrie Kim.

Twix raste wie der Blitz los und die Spinne schoss einen Faden in Sturms Richtung, aber es war zu spät: Der Felsbrocken krachte auf den Magier der Zwei Berge herab und ließ seine Gestalt wie Glas zerbersten.

Kim keuchte vor Entsetzen. Der schwarze Mantel explodierte regelrecht. Schwarze, eisverkrustete Splitter flogen in alle Richtungen, prasselten wie Hagel in den Schnee hinab und bohrten sich wie gefährliche, rasiermesserscharfe Glasscherben in den Boden. Aber es waren nur die Scherben des steinhart gefrorenen Mantels.

Der Umhang war vollkommen leer gewesen!

Kim bückte sich nach einem der schwarzen Splitter und drehte ihn hilflos in den Händen. Es war tatsächlich nur das Kleidungsstück gewesen, sonst nichts!

Sturm kletterte von seinem Felsen herunter und kam mit trotzig versteinertem Gesicht auf ihn zu.

»Warum hast du das getan?«, fragte Kim.

»Aus demselben Grund wie du«, antwortete Sturm. »Ich wollte sehen, was darunter ist.«

»Du hättest ihn umgebracht!«

»Und?«, fragte Sturm kalt. »Hast du dich etwa nicht gewehrt, als die Zwerge uns angegriffen haben?«

»Das war etwas anderes!«, verteidigte sich Kim.

»Wieso?«

»Du hast es selbst gesagt: Ich habe mich gewehrt. Sie haben uns angegriffen!«

»So wie er«, sagte Sturm grimmig. »Es gibt mehr Arten, jemanden anzugreifen, als mit dem Schwert auf ihn loszugehen. Außerdem ist nichts passiert, oder? Er war nicht einmal da.« Sein Gesicht verdüsterte sich. »Es sieht ganz so aus, als hätten wir uns mit einem Mantel gestritten.«

»Ja«, stimmte ihm Kim zu. »Anscheinend hast du bei seiner Beschreibung noch etwas vergessen. Er ist ein Meister der Illusion.«

Ein Wassertropfen fiel in Kims Nacken und lief eisig seinen Rücken hinunter. Kim fuhr schaudernd herum und sah einen zweiten Tropfen auf seine Schulter herunterfallen.

»Das Eis schmilzt«, sagte er besorgt.

»Ja. Wir sollten nicht mehr zu lange hier bleiben«, sagte Sturm. »Früher oder später werden die Zwerge aufwachen.«

Ein weiterer Wassertropfen fiel auf Kims Schulter. Und noch einer. »Ich fürchte, eher früher«, murmelte er. »Hilfst du mir den Pack zu tragen?«

Die Spinne hatte etwas geflochten, was wie eine Mischung aus einer Trage und einer Hängematte aussah, aber weitaus stabiler war, sodass sie den Pack einigermaßen bequem transportiert hatten. Es war allerdings nur während der ersten halben Stunde nötig. Der Pack erholte sich mit zwar schon gewohnter, aber trotzdem unheimlicher Schnelligkeit und war schon bald wieder in der Lage aus eigener Kraft zu gehen.

Nach einer weiteren Stunde erreichten sie das Gehöft, von dem Twix gesprochen hatte. Ganz wie es die Elfe behauptet hatte, war es offensichtlich schon vor geraumer Zeit von seinen Bewohnern verlassen worden, aber noch in gutem Zustand. Sie fanden ausreichend Nahrungsmittel, um sich zum ersten Mal seit langem wieder satt zu essen, und auf den Koppeln Dutzende von kräftigen Pferden, dazu Zaumzeug und Sättel in ausreichender Zahl, um eine kleine Armee auszurüsten. Das Verlockendste aber waren die frisch bezogenen Betten in dem halben Dutzend Schlafzimmern des großen Haupthauses.

Kim hätte eine Menge darum gegeben, einmal wieder in einem richtigen Bett zu schlafen. Und für einige Augenblicke war er sogar tatsächlich versucht diesem Wunsch nachzugeben, und sei es nur für zwei oder drei Stunden. Von Twix wussten sie, dass die Armee der Zwerge zwar immer noch näher kam, aber nur sehr langsam vorrückte. Das Kleine Volk war wirklich nicht sehr gut zu Fuß und die Hitze auf der Ebene musste ihnen zusätzlich zu schaffen machen. Dazu kam, dass sie nun über Pferde verfügten und den Zwergen einfach davonreiten konnten. Zumindest aus dieser Richtung also drohte ihnen keine unmittelbare Gefahr mehr. Allerdings waren die Zwerge auch ihre kleinste Sorge.

Auch Sturm, mit dem er darüber sprach, schüttelte nur den Kopf. »Wir haben weniger Zeit denn je«, sagte er. »Der Magier hat eine Niederlage erlitten, aber er ist nicht besiegt. Und er weiß jetzt, wohin wir wollen. Schließlich hat er es uns selbst gesagt. Er wird alles in seiner Macht Stehende tun um vor uns am Rande der Welt zu sein.«

»Wenn er nicht schon da ist«, fügte die Spinne hinzu.

Sturm schüttelte den Kopf. »Der Weg ist sehr weit. Selbst wenn wir sofort aufbrechen und ohne Pause durchreiten, könnten wir frühestens beim nächsten Sonnenaufgang dort sein. Er ist kein wirklicher Magier, vergesst das nicht. Er ist ein Meister der Lüge, aber er kann nicht zaubern. Wir haben eine gute Chance, vor ihm dort zu sein. Wenn wir sofort aufbrechen.«

Damit war die Entscheidung gefallen. Sie diskutierten zwar noch eine Zeit lang, suchten sich schließlich aber die beiden besten Pferde heraus und sattelten sie. Nicht einmal eine Stunde, nachdem sie den Gutshof erreicht hatten, brachen sie wieder auf.

Für den Rest des Vormittags ritten sie geradewegs nach Westen, dann legten sie eine weitere kleine Rast ein und änderten ihren Kurs ein wenig in südliche Richtung, als sie weiterzogen - also genau in die entgegengesetzte Richtung zu der, die Kim eingeschlagen hatte, als er damals zum Rande der Welt gereist war.

Und noch etwas wurde Kim allmählich fast unheimlich: Je weiter sie ritten, desto bekannter kam ihm ihre Umgebung vor. Sie ritten geradewegs den Weg zurück, den er genommen hatte, als er von Kais Heer in Richtung Caivallon geflohen war.

Twix brachte es auf den Punkt, als sie am späten Nachmittag eine weitere Rast einlegten.

»Wir sind fast zu Hause«, sagte sie. »In dem Wald, in dem du mich damals ...« Sie warf einen schrägen Blick auf die Spinne. »... gefunden hast.«

»Ich weiß«, sagte Kim unbehaglich. Er wandte sich an Sturm. »Und du bist ganz sicher, dass wir auf dem richtigen Weg sind?«

Sturm sah sich mit gerunzelter Stirn eine Weile um, nickte aber dann umso überzeugter.

»Ich bin damals auf ... einem anderen Weg hierher gekommen«, sagte er zögernd. »Aber ich bin trotzdem sicher, ja. Ich kann es schon spüren. Du nicht?«

Kim verneinte. »Wovon sprichst du?«

»Du wirst es verstehen, wenn wir da sind«, sagte er und stand auf. »Kommt. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«

Auch Kim stieg wieder in den Sattel. Er bedauerte mittlerweile fast, Sturm diese Frage gestellt zu haben. Die Antwort hatte ihn sehr viel mehr beunruhigt, als sie seine Neugier besänftigt hatte. Und schlimmer noch: Er hatte immer mehr und mehr das Gefühl, dass Sturm ihm etwas verheimlichte.

Aber was?

Sie ritten bis weit in die Nacht hinein. Zwei, wenn nicht drei Stunden, nachdem es dunkel geworden war, kam Twix von einem ihrer regelmäßigen Erkundungsflüge zurück und erklärte eine große Anzahl von Kais Reitern entdeckt zu haben, die zwar noch sehr weit entfernt waren, aber unmittelbar auf sie zuhielten.

»Anscheinend hast du Recht«, wandte er sich an Sturm. »Der Magier der Zwei Berge versucht alles um uns aufzuhalten. Er schickt seine besten Männer. Ich wette, Kai selbst ist auch dabei.«

»Ich hätte ihn fressen sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte«, maulte sie Spinne.

»Vielleicht«, murmelte Kim. Er schüttelte den Kopf. »Ich verstehe immer weniger, was für ihn so wichtig an der Zauberkugel ist. Er kann doch überhaupt nichts damit anfangen. Ich meine, er ist nicht einmal ein richtiger Magier!«

»Vielleicht hofft er ja, es zu werden«, sagte Sturm.

»Man kann nicht lernen Zauberer zu sein«, sagte die Spinne. »Vielleicht will er ja nur verhindern, dass Themistokles seine alte Macht zurückbekommt. Wenn die Magie erlischt, dann wird bald niemand mehr da sein, der sich seinen Lügen und Täuschungen widersetzt.«

Kim schwieg. Es hatte keinen Sinn, wild herumzuraten. In wenigen Stunden würden sie die Wahrheit wissen.

Oder tot sein.

»Gibt es noch einen anderen Weg?«, fragte er.

Sturm schüttelte erst den Kopf, nickte aber dann. »Ja«, sagte er. »Er ist ein wenig weiter. Und ...«

»Ja?«, fragte Kim, als Sturm nicht weitersprach.

»Wir müssen ein Stück zurück«, sagte Sturm unbehaglich. »Wir könnten den Zwergen nahe kommen. Ich weiß nicht, wie groß unser Vorsprung noch ist.«

»Nicht allzu groß«, sagte Twix. »Sie haben aufgeholt. Wenigstens einige.«

»Und was genau heißt einige?«, erkundigte sich Kim.

»Oh, nicht viele. Kaum ein paar hundert.«

»Wie beruhigend«, murmelte Sturm. »Also los, worauf warten wir noch?«

Sie verfielen in einen schnellen Trab, dann in einen gleichmäßigen, schließlich immer rascheren Galopp, was angesichts der herrschenden Dunkelheit und des immer unwegsamer werdenden Geländes nicht nur riskant war, sondern schier an Wahnsinn grenzte. Trotzdem spornten Kim und Sturm ihre Pferde zu immer größerer Schnelligkeit an. Twix flog ihnen wieder voraus um nach den Zwergen Ausschau zu halten und sie brachte keine guten Nachrichten: Ihre Feinde kamen immer schneller näher, jetzt, wo sie ihnen zu allem Überfluss auch noch entgegenritten. Sturm behauptete zwar nach wie vor, dass sie nun nicht mehr weit von ihrem Ziel entfernt seien, aber Kim blieb skeptisch. Möglicherweise würden sie es schaffen, aber es würde knapp werden, entsetzlich knapp.

Sie sprengten durch ein dichtes Waldstück, setzten in gestrecktem Galopp über einen Bach hinweg und rasten eine mit hüfthohem Gras und Buschwerk bestandene Böschung herab, an deren unterem Ende eine Felsgruppe von bizarrer Form aufragte.

»Die erkenne ich wieder!«, schrie Sturm und begann gleichzeitig aufgeregt zu gestikulieren. »Es ist jetzt nicht mehr weit!«

Ohne ihr Tempo auch nur einen Deut zurückzunehmen, hielten sie auf eine schmale Lücke zwischen den Felsen zu und sprengten hindurch.

Die Ebene auf der anderen Seite war schwarz vor Zwergen.

Kim riss sein Pferd mit einem so harten Ruck zurück, dass das Tier wiehernd auf die Hinterläufe stieg und ihn um ein Haar abgeworfen hätte. Neben ihm brachte Sturm sein Pferd mit einem kaum weniger rüden Manöver zum Stehen und selbst Twix, die bisher genau zwischen ihnen geflogen war, bremste so schnell ab, dass sie ins Taumeln geriet und sich zweimal in der Luft überschlug, ehe es ihr gelang, anzuhalten.

»Ups!«, sagte sie, während sie hastig zu ihnen zurückgeflattert kam. »Da habe ich mich wohl kräftig verschätzt.«

Kim biss die Zähne zusammen und schluckte die scharfe Antwort hinunter, die ihm auf der Zunge lag. Ihm war nicht nach Scherzen zumute. Im schwachen Sternenlicht war es schwer, die Anzahl der Zwerge auch nur zu schätzen, aber es musste wohl so sein, wie Twix gesagt hatte: Es waren nur ein paar hundert. Ein paar hundert zu viel, um es mit ihnen aufzunehmen ...

»Zurück«, sagte er. »Wir müssen einen anderen Weg finden.«

»Ich fürchte, das ... geht nicht«, sagte Sturm gepresst.

Kim drehte sich verwirrt im Sattel um - und erstarrte.

Auch vor dem Waldrand waren Reiter erschienen. Ihre Zahl war noch schwerer zu schätzen als die der Zwerge, da sie mit dem dunklen Hintergrund regelrecht zu verschmelzen schienen, aber es mussten viele sein; vermutlich nicht sehr viel weniger als die Zwerge auf der anderen Seite.

Neben ihnen raschelte es im hohen Gras, dann tauchten ein pelziges Gesicht und ein Stück daneben ein Durcheinander schlanker haariger Beine auf. Der Pack und die Spinne hatten mit ihnen Schritt gehalten, obwohl sie ein wahrhaft mörderisches Tempo vorgelegt hatten. Kim fragte sich für einen Moment vergeblich, wie.

»Was ist?«, fragte die Spinne. »Ich dachte, ihr hättet es eilig. Worauf warten wir?«

Kim deutete auf die Zwerge, die zwei- oder auch dreihundert Meter vor ihnen zu einer erstaunlich geraden, vielfach gestaffelten Schlachtenreihe Aufstellung genommen hatten. Ein ganzer Wald von Speeren deutete in ihre Richtung. »Wir überlegen nur, von wem wir uns lieber umbringen lassen wollen«, sagte er. »Von denen da -« Er drehte sich im Sattel herum und wies zum Waldrand hinauf. »- oder lieber von denen.«

»Oh«, sagte die Spinne. Dann gab sie einen überraschten Laut von sich. »He, Moment mal! Das sind keine -«

Der Rest ihrer Worte ging in einem dröhnenden Kriegsgeschrei aus Hunderten rauer Zwergenkehlen unter. Kim fuhr abermals im Sattel herum und sah, dass sich die Zwerge in Bewegung gesetzt hatten und wie eine einzige, gewaltige Masse aus Stahl und Dunkelheit auf sie zugestürmt kamen.

Eine Sekunde später begann die Erde unter ihnen zu zittern, als auch die Reiter in kampflustiges Geschrei einfielen und losgaloppierten.

»Das war's dann wohl«, sagte Sturm. »Es hat mich gefreut, dich kennen gelernt zu haben.«

»Gleichfalls.« Kim zog sein Schwert und drehte sein Tier herum. Die Reiter galoppierten in scharfem Tempo heran. In der Nacht waren sie immer noch nicht klar zu erkennen, aber immerhin sah er, dass ihre Reihen nicht annähernd so tief gestaffelt waren wie die der Zwerge; vielleicht vier oder fünf hintereinander. Und wenn die Ehrfurcht der jungen Krieger vor dem Helden aus der Schlacht um Gorywynn nur noch ein wenig anhielt... wer weiß ...

»Bleibt dicht bei mir!«, rief er. »Vielleicht können wir durchbrechen!«

Sturm starrte ihn verdutzt an, zog aber gehorsam sein Schwert und schloss sich ihm an. In gestrecktem Galopp sprengten sie den Angreifern entgegen.

Als sie noch fünfzig Meter von den Reitern entfernt waren, hoben die Männer in der ersten Reihe ihre Bogen und feuerten eine ganze Wolke von Pfeilen auf sie ab. Kim duckte sich so tief über den Hals seines Pferdes, wie es nur ging, biss die Zähne zusammen und wartete darauf, getroffen zu werden.

Die Salve flog in hohem Bogen über sie hinweg und senkte sich auf das Zwergenheer hinab. Aus dem johlenden Kriegsgebrüll der Zwerge wurde ein Chor gellender Schmerz- und Schreckensschreie.

Kim richtete sich verwirrt im Sattel auf, zügelte sein Pferd und brachte es irgendwie zum Halten. Neben ihm hielt Sturm an und auch auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck tiefster Verwirrung.

Zwanzig Meter, bevor sie sie erreicht hätten, feuerten die Reiter eine zweite Pfeilsalve auf die Zwerge ab, die in noch höherem Bogen über Kims und Sturms Köpfe hinwegflog. Dann ließen sie wie ein Mann ihre Bogen fallen und brachten stattdessen überlange Lanzen in Anschlag, die bisher an ihrem Sattelzeug befestig gewesen waren. Die Reiter in der zweiten Reihe hoben Schwerter und Schilde, während die hinter ihnen Folgenden eine letzte Pfeilsalve auf die Zwerge abschössen, die diesmal tief in den hinteren Reihen der Zwerge niederging und dort verheerenden Schaden anrichtete. Der Angriff war offenbar hervorragend geplant und bis ins Kleinste hinein koordiniert.

Die Reiter sprengten weiter heran. Vielleicht eine Sekunde, bevor sie sie endgültig erreicht hätten, teilten sich ihre Reihen und sie galoppierten rechts und links an Kim und seinen Freunden vorbei. Um weiter auf das Zwergenheer zuzuhalten. Und erst in diesem Moment begriff Kim seinen Irrtum.

Keiner der Reiter war jünger als zwanzig Jahre. Es war nicht Kais Heer.

Es waren Wolf und seine Männer!

Hundert Meter hinter ihnen prallten die beiden Heere zusammen, dass die Erde erzitterte.

Die Zwerge hatten gegen die anstürmenden Reiter nicht die geringste Chance.

Es war, als schlüge eine gepanzerte Faust in eine Wand aus Glas. Das Zwergenheer zersplitterte regelrecht. Die langen Lanzen der Reiter mähten sie gleich reihenweise nieder und wer ihnen entging, der wurde von den Pferden niedergetrampelt oder fiel unter den Schwerthieben der nachdrängenden Krieger. Die Zwerge kamen nicht einmal dazu, irgendeine geordnete Form des Widerstandes zu leisten. Der Schwung des angreifenden Heeres war so gewaltig, dass die Zwergenarmee nahezu in zwei Hälften gespalten wurde, ehe die Reiter in der wimmelnden schwarzen Masse stecken blieben und ihre Lanzen wegwarfen um mit Schwertern und Keulen weiterzukämpfen.

Kim wandte sich schaudernd ab. Zwerge waren hinterlistige und durchaus gefährliche Gegner, wie sie es ja schon am eigenen Leibe gespürt hatten, aber gegen eine Armee schwer gepanzerter Reiter waren sie chancenlos, ganz gleich, wie viele sie auch sein mochten.

Ein einzelner Reiter näherte sich ihnen. Er war sehr groß, trug einen schwarzen Vollbart und hatte ein gewaltiges Schwert auf den Rücken geschnallt. Wolf.

»Mir scheint, wir sind gerade noch im richtigen Moment gekommen«, sagte er grinsend. »Wärt ihr nicht vor uns davongelaufen, hätten wir uns alle eine Menge Ärger erspart.«

»Ruf deine Männer zurück«, sagte Kim.

Wolf machte ein überraschtes Gesicht, bildete dann aber mit beiden Händen einen Trichter vor dem Mund und schrie: »Rückzug!«

Natürlich reagierte niemand. Seine Krieger waren viel zu weit entfernt und seine Stimme ging einfach im Schlachtenlärm unter.

Mit einem noch breiteren Grinsen nahm er die Hände wieder herunter. »Du siehst, ich habe es versucht«, sagte er, »aber sie hören nicht auf mich.«

»Ihr habt gewonnen«, sagte Kim. »Dieses Gemetzel ist nicht nötig.«

Wolfs Grinsen verschwand wie weggeblasen. »Vielleicht nicht«, sagte er. »Aber ich kann sie nicht aufhalten, selbst wenn ich es wollte. Wir haben zu lange darauf gewartet, dass sich die Zwerge endlich aus ihren unterirdischen Rattenlöchern hervorwagen. Unter meinen Kriegern ist nicht einer, der nicht einen Familienangehörigen oder einen Freund an die kleinen Teufel verloren hätte. Wir haben eine Rechnung mit ihnen zu begleichen.«

»Dann solltet ihr eure Kräfte lieber aufsparen«, sagte Sturm. »Das hier ist nämlich nur die Vorhut. Es kommen noch mehr. Noch viel mehr.«

Wolf sah den rothaarigen Jungen einen Herzschlag mit ausdruckslosem Gesicht an, dann zuckte er mit den Schultern. »Sie werden es sich zweimal überlegen, ob sie uns angreifen nach dieser Niederlage«, sagte er. »Und selbst wenn - wir sind vorbereitet. Vielleicht ist es an der Zeit, endgültig mit dieser Plage aufzuräumen.«

Seine Worte ließen Kim frösteln. Er konnte den Hass spüren, der an Wolf fraß, und fast zu seinem eigenen Erschrecken konnte er ihn sogar verstehen. Gleichzeitig spürte er auch, wie falsch dieses Gefühl war und wie gefährlich. Hass und Zorn hatten dieser Welt schon einmal fast den Untergang gebracht. »Meinst du nicht, dass du im Moment andere Probleme hast?«, fragte er.

Wolf nickte mit düsterem Gesicht. »Ja«, sagte er. »Wie zum Beispiel, dir und deinen sonderbaren Freunden das Leben zu retten. Begreifst du nun endlich, zu wem du gehörst?«

Kim wollte widersprechen, aber Wolf schnitt ihm mit einer herrischen Geste das Wort ab und deutete dorthin, wo seine Krieger noch immer Jagd auf die flüchtenden Zwerge machten. »Du beklagst dich darüber? Du hast Recht! Es ist grausam und vielleicht sogar unnötig, aber es wäre nicht geschehen, wenn du gleich mit uns geritten wärst!«

Seine Worte taten weh, zumal sie einen größeren Kern an Wahrheit enthielten, als Kim sich selbst eingestehen wollte. Trotzdem schüttelte er den Kopf. »Wir werden nicht mit euch reiten, Wolf«, sagte er. »Ich bin dir dankbar, dass du uns gerettet hast, aber -«

»Du schuldest uns etwas!«, unterbrach ihn Wolf. »Viele meiner Männer sind tot und noch mehr verwundet. Und alle haben ohne zu zögern ihr Leben riskiert um euch zu retten. Zählt das etwa nicht?«

»Wir wären erst gar nicht in diese Situation geraten, wenn wir nicht vor euch hätten fliehen müssen«, giftete die Spinne.

Wolf blickte einen Moment lang stirnrunzelnd auf sie hinab, als bemerke er sie erst jetzt und überlege, ob sie einer Antwort würdig sei. Dann zuckte er mit den Schultern, als wäre er in Gedanken zu einem klaren Nein gekommen, und sagte in Kims Richtung: »Nun gut. Aber vielleicht stimmt dich das ja um.«

Er hob die Hand. Vier weitere Reiter näherten sich aus der Dunkelheit und Kim erschrak bis ins Mark, als er sie erkannte. Zwei von ihnen gehörten zu Wolfs Kriegern, finstere, bärtige Gestalten in zerschrammten Kettenhemden und Helmen, der dritte überragte seine Begleiter gleich um mehrere Haupteslängen, hatte verfilztes graues Haar und einen ebensolchen, bis auf die Brust reichenden Bart. Seine Hände waren mit Ketten aneinander gefesselt. Es war Gorg.

Bei dem vierten Reiter handelte es sich um niemand anderen als Themistokles. Anders als Gorg war er nicht gefesselt, blickte aber mit einem Gesichtsausdruck in die Runde, als begreife er gar nicht, was mit ihm geschah.

Kim hätte um ein Haar nach seinem Schwert gegriffen. »Ihr habt sie ... gefangen genommen?«, murmelte er ungläubig. »Ihr habt den Palast angegriffen?«

»Da war nicht mehr viel anzugreifen«, sagte Wolf. »Der Palast war leer, als wir eintrafen. Alle Bewohner der Stadt haben sich endlich entschieden, zu welcher Seite sie gehören. Nur dieser alte Mann und sein tölpelhafter Beschützer waren noch da. Wir kamen nicht als Feinde.«

»Und warum ist Gorg dann in Ketten?«, fragte Kim zornig.

»Weil dieser Tölpel zwei Dutzend meiner Männer grün und blau geschlagen hat, bevor wir ihn endlich überwältigen konnten!«, antwortete Wolf. »Themistokles wollte die Stadt nicht verlassen und er hat geschworen, bei ihm zu bleiben.«

»Und warum habt ihr ihn nicht gelassen?«

»Weil Gorywynn untergeht, du Narr!« Wolf schrie fast.

»Er hat Recht«, sagte Gorg leise. »Die Stadt lebt vom Lachen und der Fröhlichkeit der Menschen. Nun, wo sie fort sind, kann auch sie nicht überleben.«

»Es ist eine hübsche Stadt«, sagte Themistokles. Kim erschrak, als er seine Stimme hörte. Sie war zu einem albernen Kichern geworden, die Fistelstimme eines alten Mannes. »So groß! So viele leere Häuser. Man könnte Blumen darin züchten. Oder Fische.«

Er schnippte mit den Fingern. Ein blaues Funkeln erschien vor ihm in der Luft, dann stürzten ungefähr fünfhundert Liter Wasser aus dem Nichts zur Erde, in denen Dutzende von silbernen Fischen zappelten. Twix piepste entsetzt und brachte sich in letzter Sekunde in Sicherheit, aber der Pack und die Spinne bekamen den ganzen Guss ab. Die Spinne krabbelte lauthals schimpfend davon, während sich der Pack einen der Fische schnappte und ihn schmatzend herunterschlang.

In Wolfs Augen blitzte es amüsiert auf, aber Kim war ganz und gar nicht zum Lachen zumute. Im Gegenteil. Er musste plötzlich fast gegen die Tränen ankämpfen. Themistokles, das war bisher der Inbegriff von Alter und Weisheit gewesen, ein uralter, gütiger Magier, der die Macht hatte, das Schicksal ganzer Welten zu lenken.

Jetzt war er eine Witzfigur. Ein vertrottelter alter Zauberer, der noch zu ein paar billigen Tricks imstande war und nicht einmal mehr das wirklich gut.

»Verstehst du jetzt, warum wir dich brauchen?«, fragte Wolf, jetzt in ruhigem Ton. »Wir brauchen dich, Kim. Nicht dein Schwert. Nicht die übermenschlichen Kräfte, die man dir zuspricht. Aber wir brauchen jemanden, dem wir folgen können. Bisher war Themistokles stets der Garant für unsere Sicherheit. Aber du siehst selbst, was aus ihm geworden ist. Er kann uns nicht mehr beschützen.«

»Und ich noch weniger«, sagte Kim. »Aber ich kann -«

»Wir sind dabei diesen Krieg zu verlieren«, fiel ihm Wolf ins Wort. »Es wird zur Entscheidungsschlacht kommen, Kim. Kai hat all seine Krieger zusammengezogen und ist auf dem Weg hierher. Nichts kann den Zusammenstoß noch verhindern. Wir aber sind nur noch wenige. Wir werden ihnen nicht standhalten. Die meisten meiner Krieger haben die Waffen niedergelegt und sind gegangen. Sie ziehen es wohl vor, in Ruhe das Ende abzuwarten, statt die Waffen gegen ihre eigenen Kinder zu erheben. Wir können diesen Kampf nicht gewinnen.«

»Warum verheizt du deine Männer dann in diesem sinnlosen Krieg gegen die Zwerge?«, fragte Sturm.

»Es ist nicht sinnlos«, antwortete Wolf. »Die Zwerge waren eine Bedrohung für uns, solange wir denken können. Vielleicht ist das Letzte, wozu wir noch imstande sind, das, diese Gefahr zu beseitigen. Als letztes Geschenk an unsere Kinder.«

»Der Mord an einem ganzen Volk?«, ächzte Kim.

»Niemand hat sie gezwungen, hierher zu kommen«, antwortete Wolf hart. »Wir haben diesen Krieg jedenfalls nicht angefangen!«

»Aber ihr könnt ihn beenden«, sagte Kim. »Reite zurück zu Kai und sag ihm, dass du diesen Krieg nicht willst!«

»Glaubst du denn, das hätten wir nicht schon versucht?«, fragte Wolf zornig. Er ballte die Faust und öffnete sie mit einem Ruck wieder. »Ich habe ein Dutzend Boten zu ihm geschickt. Keiner von ihnen ist auch nur zurückgekommen! Kai will diesen Kampf. Er will uns nicht besiegen - er will uns auslöschen!«

»So wie ihr die Zwerge«, sagte Sturm.

Wolfs Gesicht verdüsterte sich noch weiter, aber bevor er etwas sagen konnte, mischte sich Gorg ein:

»Auch wenn es mir schwer fällt - aber ich muss Wolf Recht geben«, sagte er. »Kai ist völlig verrückt geworden. Er hat seinen Kriegern eingeredet, dass sie ihre schöne neue Welt nur gründen können, wenn sie alles Alte hinter sich zerstören. Und dazu gehören auch seine Anhänger.«

»Kai?«, murmelte Kim. »Da wäre ich nicht so sicher.«

»Wie meinst du das?«, fragte Wolf.

Kim winkte ab. »Nichts. Ich verstehe euch gut, Wolf. Und ich würde auch lieber als alles andere auf der Welt helfen. Ich werde -«

»Dann reite mit uns!«, unterbrach ihn Wolf. »Ich verlange nicht, dass du an der Schlacht teilnimmst. Wenn du das Schwert nicht gegen deinesgleichen erheben willst, so verstehen wir das. Reite einfach mit uns!«

»Sie sind nicht meinesgleichen«, sagte Kim scharf. »Und dieses Gespräch haben wir schon einmal geführt, wenn ich mich nicht irre.« Er hob die Hand. Diesmal schnitt er Wolf das Wort ab. »Ich werde euch helfen. Wenn es in meiner Macht steht, heißt das. Aber ich werde nicht an der Seite eines Heeres in eine Schlacht reiten. Ganz egal, auf welcher Seite.«

»Nein«, warf Wolf dazwischen. »Das überlässt du lieber anderen, wie?«

»Hör doch, was er zu sagen hat«, sagte Gorg. »Was hast du vor, Kim?«

»Was wir vom ersten Moment an hätten tun sollen«, sagte Kim. Er machte eine Kopfbewegung auf Sturm. »Wir holen die Zauberkugel zurück. Mit ihrer Hilfe wird Themistokles vielleicht wieder der Alte.«

»Dann begleite ich euch«, sagte Gorg, hob die Hände und riss die daumendicken Ketten durch, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Wolf riss ungläubig die Augen auf, aber er machte gleichzeitig eine abwehrende Geste, als die beiden Reiter rechts und links neben Gorg nach ihren Waffen greifen wollten.

»Ich wollte, du könntest es«, sagte Kim traurig. »Aber kein Bewohner dieser Welt kann dort hingehen.«

»Ich weiß«, sagte Gorg. »Aber ich war es dir wenigstens schuldig, dir das Angebot zu machen, oder?«

Kim lachte, wurde aber sofort wieder ernst und wandte sich an Wolf. »Lässt du uns gehen?«

»Welche Wahl habe ich denn?«, grollte Wolf. Er schüttelte zornig den Kopf. »Also gut. Reitet los und versucht euer Glück. Aber lasst euch nicht zu viel Zeit damit. Kais Heer ist uns dicht auf den Fersen und ich weiß nicht, wie lange wir sie aufhalten können.«

Sturm hatte nicht übertrieben. Der Weg war nicht mehr besonders weit. Sie hatten das Schlachtfeld vor vielleicht einer halben Stunde hinter sich gelassen, als der Boden leicht, aber beständig anzusteigen begann. Die Nacht wurde kühler und auf eine schwer greifbare Weise düsterer. Ihre Pferde trabten gehorsam weiter, aber Kim konnte ihnen ansehen, wie unwohl sie sich in dieser fremdartig werdenden Umgebung fühlten, und insbesondere der Pack wurde zusehends nervöser. Die Anzahl der Bäume nahm beständig ab und zwischen den kahlen Stämmen wogte jetzt ein grauer, das Atmen schwer machender Nebel.

»Es ist jetzt nicht mehr weit«, sagte Sturm. Sein Atem ging schwer. Der Nebel dämpfte seine Stimme; nicht in der Lautstärke, aber in der Tonlage, sodass sie sich viel älter, zugleich aber auch kraftvoller anhörte, als Kim es gewohnt war.

»Ich weiß«, murmelte Kim. Er deutete auf eine Reihe verkrüppelter Bäume, die wie die gichtigen Hände uralter Männer aus dem Nebel vor ihnen herausgriffen. »Gleich dort, nicht wahr?«

Sturm blickte ihn erstaunt an. »Aber woher -?«

»Ich war doch schon einmal hier«, antwortete Kim. Sturm blickte ihn einen Moment lang zweifelnd an, zuckte dann mit den Schultern und beließ es dabei.

Kim blickte verstohlen auf den Pack hinab. Der pelzige kleine Kerl war jetzt nicht mehr nervös - er zeigte alle Anzeichen von Angst.

Sie erreichten den Waldrand. Obwohl es noch aus zwei Metern den Anschein gehabt hatte, dass vor ihnen eine undurchdringliche Mauer aus Blättern und dornigem Gebüsch aufragte, fanden die Pferde doch eine schmale Lücke, durch die sie hintereinander hindurchreiten konnten.

»Sei vorsichtig«, sagte Sturm nervös. »Es kann jetzt wirklich nicht mehr weit sein.«

»Ich weiß«, sagte Kim noch einmal. Sein Herz hämmerte. Er betete, dass er sich täuschte. »Noch fünf Schritte.«

»Fünf... Woher willst du das wissen?«

Kim antwortete nicht. Das Pferd machte noch drei Schritte, vier, fünf - und dann hörte der Wald wie abgeschnitten auf. Vor ihm lag noch ein knapp meterbreiter Streifen felsigen, vegetationslosen Bodens und dann nichts mehr.

Kim schloss mit einem nicht mehr vollkommen unterdrückten Stöhnen die Augen. So grausam konnte das Schicksal einfach nicht sein!

Aber es konnte!

Nach einer Weile öffnete er die Augen wieder und sah sich um und er erblickte dasselbe, furchtbare Bild wie zuvor.

Über ihm spannte sich ein Himmel, der keiner war. Nicht ein einziger Stern funkelte am Firmament. Der Himmel hätte ebenso gut ein Gewölbe aus schwarzem Eisen sein können, auf dem sich das rote Licht der Tiefe widerspiegelte.

Kim stieg aus dem Sattel und trat schaudernd an den gewaltigen Abgrund heran, der vor ihnen klaffte. Er war buchstäblich bodenlos. Wenn er einen Grund hatte, dann war er nicht zu erkennen. Alles, was er sah, war blutrotes, waberndes Licht, als blicke er direkt in den tiefsten Schlund der Hölle hinab.

Mühsam riss er sich von dem unheimlichen Bild los und sah nach vorne. Auf der anderen Seite des Abgrundes gähnte das Nichts, eine saugende, schwarze Leere, die etwas in seiner Seele zu berühren und mit eisiger Kälte zu verbrennen schien. Nur weit, unendlich weit entfernt, wuchs eine Säule aus rotem, wie geronnenes Blut schimmerndem Fels in die Höhe. Auf dem flachen Plateau, das ihre Spitze bildete, erhob sich ein wuchtiger Turm aus schwarzen Felsquadern, der von einem schmalen Ring dicht wuchernder Bäume umgeben war. Diesmal gab es keine Felsbrücke, die über den Abgrund führte.

Kim stand da wie erstarrt. Er fühlte sich vom Schicksal betrogen, auf die schlimmste nur denkbare Art an der Nase herumgeführt. Benutzt. Gegen seinen Willen.

Sturm deutete seine Erstarrung falsch. »Ein furchtbarer Ort, nicht wahr?«

Kim nickte. Er brauchte all seine Kraft um zu fragen: »Erzähl mir noch einmal, was du über den Magier der Zwei Berge weißt. Das Gefängnis, in den die anderen Zauberer ihn verbannt haben ... war das ein Ort... ein Ort jenseits der Welt?« Sturm nickte verblüfft. »Aber das habe ich dir doch gar nicht...« Er brach ab, sah mit einem Ruck auf und starrte die Felsnadel an, die vor ihnen in der Unendlichkeit zu schwimmen schien.

»Du meinst...?«

»Nein«, verbesserte ihn Kim. »Ich meine nicht. Ich weiß,.« Er zögerte einen Moment, drehte sich herum und fügte ganz leise und bitter hinzu: »Und ich kann dir jetzt sogar sagen, wer ihn aus seinem Gefängnis befreit hat. Und du glaubst, du hättest Schaden angerichtet?!«

Sturm starrte ihn nur an. Kim war nicht sicher, ob er wirklich begriff, was er gerade gehört hatte, und wenn, ob er es überhaupt verstehen wollte. Er gab ihm auch keine Gelegenheit, eine weitere Frage zu stellen, sondern ließ sich auf die Knie herabsinken und betrachtete konzentriert die Felswand unter sich. Der Stein war so glatt wie poliertes Glas und schimmerte unheimlich in dem roten Licht. Kim spürte einen sachten, aber unheimlichen Hauch trockener Hitze auf dem Gesicht. Dort unten war die Hölle.

»Du willst nicht wirklich dort hinunter, oder?«, fragte Sturm nervös.

»Nein«, antwortete Kim. »Ich bin nur hergekommen um die Aussicht zu genießen.« Er sah sich nach dem Pack um. Das kleine Wesen war am Waldrand zurückgeblieben und zitterte am ganzen Leib. Als Kim jedoch die Hand hob und winkte, kam er gehorsam, wenn auch zögernd, herangetrippelt.

»Keine Angst«, sagte Kim. »Ich verlange nicht von dir, dass du mich begleitest. Aber jemand muss mir schließlich den Weg zeigen.«

Der Pack gab leise, wimmernde Laute von sich, und auch wenn Kim sie nicht verstand, so war ihm doch die Bedeutung dieser Laute ohne den mindesten Zweifel klar. Der Pack war schon dort unten gewesen, vermutlich unzählige Male. Er war dort unten geboren worden, in dem brodelnden roten Chaos des Ungeformten, und er wollte um nichts auf der Welt noch einmal dort hinab.

Kim verlangte es auch nicht. Wo immer die Zauberkugel auch lag, es musste ein Ort sein, der selbst für den Pack unerreichbar war. Wäre es anders gewesen, so hätte der Magier der Zwei Berge seine Schwarze Garde losgeschickt um sie zu holen.

Kim spürte abermals ein Frösteln, diesmal aber begleitet von einer deutlichen Aufwallung von Zorn, die dem Magier galt, zu einem Gutteil aber auch ihm selbst. Er hatte ihn praktisch mit der Nase darauf gestoßen und er hatte es einfach nicht gemerkt! Der Magier der Zwei Berge! Turock! Was für ein Narr war er doch gewesen!

Etwas landete weich wie eine Feder auf seiner Schulter und ein goldenes Schimmern blendete für einen Moment seine Augenwinkel.

»Keiner von uns kann dir dorthin folgen, wohin du gehst, kleiner Held«, sagte Twix.

»Und wir hätten übrigens auch gar keine Lust dazu«, fügte die Spinne hinzu. Kim wusste, dass das gelogen war. Ein einziges Wort hätte gereicht und sie alle wären ihm freiwillig in den Abgrund gefolgt, selbst wenn es ihren sicheren Tod bedeutete. Der Pack winselte wie ein verängstigtes Hündchen. Er ergriff ihn am Arm und zupfte an seinem Hemd um ihn von dem furchtbaren Abgrund fortzuziehen, aber Kim streifte seine Hand mit sanfter Gewalt ab.

»Ich weiß«, sagte er. »Und ich danke euch, dass ihr mir so weit gefolgt seid. Ohne euch hätte ich es nie so weit geschafft.«

»Schnief«, sagte die Spinne. »Was für eine herzzerreißende Abschiedsszene! Oh, wie ich so etwas liebe! Engelschöre!«

Kim lächelte. »Ich muss jetzt los. Wenn ich nicht zurückkomme, dann ... passt auf euch auf.«

»Überlege es dir gut«, sagte die Elfe. »Niemand weiß, was dort unten ist. Schreckliche Gefahren könnten dort auf dich lauern! Das Unbekannte!«

»Wahrscheinlich«, antwortete Kim. Dann schüttelte er den Kopf. »Aber so schlimm wird es schon nicht werden. Wisst ihr - ihr könnt es nicht verstehen, aber das alles hier ist... irgendwie Teil von mir. Diese Welt, ihr... selbst ich, in der Gestalt, in der ich euch hier erscheine. Und auch alles, was dort unten sein mag.«

Aber vielleicht stimmt das auch nicht, flüsterte eine Stimme hinter seiner Stirn. Was, wenn er sich irrte? Wenn er mit dem, was Sturm als das Ende der Welt bezeichnet hatte, auch das Ende seiner Vorstellungskraft erreicht hatte und nun in eine vollkommen fremde, unverständliche und tödliche Fantasiewelt eindrang, die nicht die seine war, eine Welt, in der Kreaturen wie der Skull herrschten?

Dann kam ihm noch ein schrecklicherer Gedanke: Was, wenn es nicht so war und auch der Skull seiner Vorstellung entsprang? Welche anderen, womöglich noch unbeschreiblicheren Schrecken mochten dann noch dort unten auf ihn warten? »Das sagst du nur, um dir selber Mut zu machen«, behauptete die Spinne.

Kim seufzte. »Wenn du Gedanken lesen könntest«, sagte er, »dann hättest du das jetzt nicht gesagt.«

Er drehte sich herum, und kaum hatte er es getan, da erschienen vor ihm wie aus dem Nichts die ersten Stufen einer schmalen, steil in die Tiefe führenden Treppe.

Vor ihm waren immer genau vier Stufen und hinter ihm auch. Machte er einen Schritt, so löste sich eine der Stufen hinter ihm auf und vor ihm erschien wie aus dem Nichts eine neue. Wenn er zwei Stufen auf einmal nahm, dann waren es jeweils zwei und der Vorgang wiederholte sich sogar in umgekehrter Richtung, wenn er wieder nach oben lief. Kim hatte es ausprobiert, schon um sicher zu sein, dass er nicht etwa sein Ziel erreichte nur um festzustellen, dass es keinen Rückweg mehr gab. Er hatte auch versucht die Stufen zu zählen, war aber schon nach wenigen Augenblicken durcheinander gekommen und hatte es aufgegeben. Wie tief war die Treppe bis ans Ende der Fantasie?

Das Gehen auf diesen unheimlichen Stufen, auf denen er sich mehr und mehr vorkam wie ein Hamster in einem bizarren Laufrad, kostete enorme Kraft. Die Treppe war so schmal, dass er mit der linken Schulter am rauen Fels entlangschrammte, während sein rechter Fuß mehr als einmal fast ins Leere getreten war. Und es wurde immer heißer. Längst war er am ganzen Leib in Schweiß gebadet und selbst das Atmen bereitete ihm Mühe. Unter ihm loderten die Feuer der Hölle. Kim bedauerte es längst, den Pack nicht mitgenommen zu haben. Vielleicht hätte er ihn nicht bis zu seinem Ziel begleiten können, aber doch wenigstens ein Stück weit. Das Schlimmste auf seinem Weg war nicht die Anstrengung des Laufens oder die erstickende Hitze. Es war die Angst. Und selbst die größte Furcht ließ sich leichter ertragen, wenn jemand da war, mit dem man sie sich teilen konnte.

Er hätte viel darum gegeben, eine Pause zu machen. Der Gedanke, sich auf die Stufen zu setzen, den Kopf gegen die Wand zu lehnen und die Augen zu schließen, und sei es nur für einen Moment, war ungemein verlockend. Aber er widerstand ihm. Er hatte Sturm und den anderen versprochen, so schnell wie möglich zurückzukommen. Außerdem bestand die Gefahr, dass er tatsächlich einschlafen und auf den schmalen Stufen die Balance verlieren würde. Kim zweifelte nicht daran, dass sich die Treppe auch dann noch treu und brav vor ihm abspulen würde, wenn er sie kopfüber hinunterfiel, statt zu gehen, aber was würde passieren, wenn er neben die Treppe fiel? Rechts von ihm war nichts, eine ganze Menge Nichts. Er verspürte keine besondere Lust auszuprobieren, was geschah, wenn er in dieses Nichts hineinfiel.

Während dieser Gedanken waren seine Schritte immer schneller geworden und plötzlich glaubte er tief unter sich eine Veränderung wahrzunehmen, etwas wie ein vielleicht erst im Entstehen begriffenes, aber schon spürbares Muster in dem roten Chaos. Er beschleunigte seine Schritte noch weiter und die Veränderung hielt an. Er konnte noch immer keine Einzelheiten erkennen, aber unter ihm war etwas.

Kim rannte die Stufen mittlerweile fast hinunter, wobei er mit der linken Hand an der Wand entlangstrich, vielleicht nur um das Gefühl zu haben, dass da überhaupt so etwas wie ein fester Halt war. Weit unter ihm war nun etwas wie ein verschwommener Schatten zu erkennen, wie ein schmaler Sims, der sich an der gesamten Felswand entlangzog. Er wagte es nicht, seine Schritte noch weiter zu beschleunigen, aber nun, nachdem er einmal ein Ziel vor Augen hatte, schien es immer rascher Gestalt anzunehmen. Der schmale Sims wuchs an, gewann an Form und Substanz und begann das unheimliche rote Licht aus der Tiefe allmählich zu verdrängen. Es verschwand nicht ganz, doch als Kim schließlich am Ende der bizarren Treppe angekommen war, da war es zu einem fingerbreiten, düsterrot leuchtenden Streifen rechts von ihm geworden, wie ein ferner Sonnenaufgang.

Er war enttäuscht, als die Stufen endlich aufhörten unablässig unter seinen Füßen zu verschwinden und neu aufzutauchen und er endlich wieder festen Boden spürte.

Links von ihm erhob sich immer noch die gewaltige Wand, die jetzt nicht mehr rot schimmerte, sondern in dem tiefsten Schwarz, das man sich nur vorstellen konnte. Auf der anderen Seite, aber auch vor und hinter ihm, erstreckte sich eine unvorstellbar weite, vollkommen leere Ebene aus demselben Material, das vielleicht Felsen war, vielleicht auch nur zu schwarzer Härte erstarrtes Nichts. Nirgends war auch nur die geringste Unterbrechung zu sehen, nicht die kleinste Unebenheit, nicht einmal die Andeutung einer Form.

Und schon gar keine Spur von Themistokles' Zauberkugel.

Kim sah sich unschlüssig nach allen Richtungen um und ging dann wahllos weiter. Eine Richtung erschien ihm so gut wie die andere. Wenn die Zauberkugel hier war, dann würde er sie auch finden und es war keine Frage der Entfernung. Lange Zeit marschierte er an der himmelhoch reichenden Wand entlang. Dann und wann blieb er stehen und warf einen Blick in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Die Treppe war längst in der Entfernung verschwunden und hinter ihm erstreckte sich dasselbe, konturlose Nichts wie vor ihm. Aber Entfernungen spielten hier keine Rolle, das hatte er schon beim ersten Mal gelernt, als er über den Rand der Welt hinausgegangen war. So wenig wie Zeit. Er konnte eine Woche hier unten verbringen, ohne dass mehr als ein Augenblick verging, aber es mochte auch genau anders herum sein.

Er konnte nicht ewig über diese schwarze Ebene laufen!

Und kaum hatte er diesen Gedanken gedacht, da sah er sehr weit vor sich am Horizont einen verschwommenen Umriss. Kim atmete erleichtert auf - und blieb jäh wieder stehen.

War es das?

Als er sich nichts mehr gewünscht hatte als das Ende der Treppe zu erreichen, da war es unter ihm erschienen. Und als er sich mit aller Macht gewünscht hatte, das Ende seiner Wanderung zu erreichen, da war es vor ihm aufgetaucht. Musste er sich nur etwas wünschen, um es zu bekommen, hier, in diesem unheimlichen Reich zwischen der Realität und dem Ungeformten?

Kim konzentrierte sich auf die Zauberkugel, schloss für einen Moment die Augen und streckte die Hand aus.

Als er die Lider wieder hob, war seine Hand so leer wie zuvor. Dieser kleine Misserfolg entmutigte ihn jedoch nicht. Er wäre im Gegenteil wohl eher erstaunt gewesen, wäre es wirklich so einfach. Es war wohl eher so, wie er selbst vor ein paar Tagen erst gesagt hatte: In gewissem Sinne war dies alles hier seine Schöpfung. Märchenmond mit all seinen Geschöpfen, Rätseln und Wundern war die Welt seiner Fantasie, aber das bedeutete nicht, dass er die Macht eines Gottes hatte. Offensichtlich musste er sich nach seinen eigenen Spielregeln richten. Unheimlich war allenfalls, dass er sich mit einem Teil seiner eigenen Fantasie auseinander setzen musste, der ihm selbst fremd und unbekannt war.

Er ging weiter. Der Umriss am Horizont wuchs allmählich heran und wurde schließlich zu einer gut drei Meter hohen, moosbewachsenen Mauer aus schwarzen Steinquadern, über der die blattlosen Äste schwarzer, abgestorbener Bäume emporragten, die auf der anderen Seite standen. In der Mitte dieser Mauer befand sich ein gewaltiges Tor aus geschmiedeten Eisenstäben, an denen der Rost nagte. Das Tor wurde von zwei gewaltigen Steinstatuen flankiert, die Teufelsgestalten darstellten, wie man sie manchmal über den Türen alter Kirchen sah. Der Anblick erinnerte Kim mehr als alles andere an einen Friedhof.

Er fröstelte. So hatte er sich sein Ziel nicht vorgestellt. Er hatte mit großen Gefahren gerechnet, vielleicht mit einer Falle, die ihm der Magier der Zwei Berge stellte, vielleicht mit einem tödlichen Gegner, aber das hier ... Es machte ihm Angst, auf eine vollkommen neue, unbekannte Art. Es kostete ihn fast seine ganze Kraft, den Arm zu heben und das große Gittertor zu öffnen. Zögernd trat er hindurch.

Er hatte sich nicht getäuscht. Es war ein Friedhof.

»O Mann«, murmelte Kim. »Ich glaube, ich muss mir einen guten Psychoanalytiker suchen.«

Die Worte schienen in dem grauen Nebel zu versickern, der knöcheltief auf dem Boden lastete, und sie vertrieben die unheimliche Stimmung nicht, die von ihm Besitz ergriffen hatte, sondern schienen sie im Gegenteil nur noch zu verstärken. Mit klopfendem Herzen trat er vollends durch das Tor und sah sich um. Es war sehr kalt, so kalt, dass sein eigener Atem als grauer Dampf vor seinem Gesicht gefror. Vor ihm reihten sich graue, niedrige Grabsteine, flache Erdhügel und einfache Holzkreuze und weit, weit entfernt, fast mehr zu erahnen als wirklich zu sehen, erhob sich etwas wie eine gemauerte Gruft. Ein unwirkliches, graues Licht lag über der ganzen Szenerie, ein Licht, das alle Farben auslöschte und den Friedhof noch bizarrer aussehen ließ; als betrachte er einen uralten, in Schwarzweiß gedrehten Horrorfilm.

Aber wieso ein Friedhof? Wenn Themistokles wirklich seine ganze Zauberkraft, alles, was die Wunder und die Magie Märchenmonds ausmachte, an diesen Ort verbannt hatte, wieso dann ausgerechnet auf einen Friedhof - den traurigsten aller nur denkbaren Orte?

Langsam begann er zwischen den verfallenen Grabreihen entlangzugehen. Anfangs vermied er es, die Gräber allzu genau anzusehen. Trotzdem fiel ihm auf, dass sie ausnahmslos sehr alt zu sein schienen und in keinem guten Zustand waren. Niemand schien sich um diesen Friedhof zu kümmern. Er fragte sich, wer hier wohl begraben lag.

Schließlich überwand er seine Scheu und trat an eines der Gräber heran. Es war sehr klein, fast wie für ein Baby, und halb eingesunken. Graues, kränklich aussehendes Moos hatte sich wuchernd darauf ausgebreitet und die einfache Steinplatte, mit der es abgedeckt war, war geborsten. Weder ein Name noch ein Datum waren auf dem Grabstein zu lesen.

Kim beugte sich weiter vor. Durch die Risse in der Platte konnte er einen Blick in das eigentliche Grab werfen. Es war noch kleiner, als er erwartet hatte, allenfalls so groß wie ein Schuhkarton, und es enthielt keinen Sarg.

Kim riss ungläubig die Augen auf, ließ sich auf die Knie fallen und stemmte die zerbrochene Grabplatte mit einem Ruck zur Seite. Sein Atem stockte. Eine geschlagene Minute hockte er völlig reglos da und starrte in das geöffnete Grab hinab.

Unter ihm lag ein kleiner, abgegriffener Teddybär. Er hatte nur ein Ohr und sein Fell war an vielen Stellen so dünn, dass die Holzwolle, mit der er ausgestopft war, hier und da schon hervorschaute.

Und es war nicht irgendein Teddybär.

Es war sein Teddy. Er hatte Kim gehört, als er noch ein kleiner Junge gewesen war, und später hatte er ihn an seine Schwester Rebekka weitergegeben, auf deren Regal er noch heute seinen Platz hatte.

Kim verspürte ein neuerliches, kaltes Frösteln. Was bedeutete das?

Er stand auf, trat an das nächste Grab und öffnete es ebenfalls. Wie er erwartet hatte, enthielt auch dieses Grab keinen Sarg. Stattdessen fand er ein kleines, nicht besonders gut zusammengebautes Modell der ENTERPRISE, des Raumschiffes aus der STAR-TREK-Serie, deren Folgen er vor noch gar nicht einmal so langer Zeit regelrecht verschlungen hatte. Er hatte dieses Modell eigenhändig zusammengebaut, vor drei oder vier Jahren. Es hatte eine Zeit gegeben, da war er in seinen Träumen mit der ENTERPRISE geflogen.

Kim öffnete das nächste Grab und fand einen Stapel zerfledderter Comic-Heftchen, die er auswendig kannte.

Und so ging es weiter.

In keinem der Gräber war das, was man in einem Grab zu finden erwartete. Er fand Spielzeug und Bücher, Fotografien und Videokassetten, selbst gemalte Bilder und alte Stofftiere und einmal sogar eine Fotografie seines Vaters. Es war kein Bild, das seinen Vater so zeigte, wie er wirklich war, sondern so, wie er ihn in einem gewissen Alter gesehen hatte: als einen gütigen, weisen Riesen, allwissend und unfehlbar. Alle Kinder sehen ihre Väter so für eine Weile, bis sie begreifen, dass auch sie Menschen sind und Fehler machen.

Am meisten aber schockierte ihn der Inhalt eines Grabes, das sich nahezu am Ende der langen Reihe befand. Es enthielt eine dreißig Zentimeter große Action-Figur, die einen Drachen mit weit gespreizten Flügeln darstellte. Er hatte ihn eigenhändig mit Goldbronze angemalt. Es war Jahre her und er erinnerte sich, dass er ihn weggeworfen hatte - vorgeblich, weil einer der Flügel abgebrochen war, in Wirklichkeit aber vielmehr, weil es ihm irgendwann peinlich geworden war, ein Kinderspielzeug auf seinem Schreibtisch stehen zu haben, wenn seine Freunde in sein Zimmer kamen.

Und endlich begriff Kim, wo er wirklich war.

Er dachte an den zerschlissenen Teddybären, den er im allerersten Grab gefunden hatte, und dann an Gorgs Worte, wonach Kelhim, der Bär, schon seit vielen Jahren tot sei.

Vor wie vielen Jahren hatte er aufgehört an Kelhim zu glauben?

Langsam ließ er den zerbrochenen Plastikdrachen wieder in sein Grab zurücksinken, richtete sich auf und sah über den Friedhof seiner Träume, bis sein Blick schließlich an der gemauerten Gruft am Ende der Grabreihen hängen blieb. Er machte einen Schritt und blieb wieder stehen. Sein Herz begann zu klopfen. Er wagte es nicht, weiterzugehen. Er hatte auf dem Friedhof alle seine vergessenen Träume wieder gefunden, Dinge aus seiner frühesten Kindheit, die er längst vergessen gehabt hatte, Märchen, die er geglaubt, Tiere, die er geliebt hatte. Träume lebten nicht ewig. Sie starben, wurden wahr oder vergingen einfach, und hier, an jenem unheimlichen Ort jenseits der Zeit, waren sie begraben. Während der letzten Minuten war er durch seine eigene Vergangenheit gewandert. Was würde ihn erwarten, wenn er die Gruft am Ende des Friedhofes betrat? Die Träume seiner Zukunft, gestorben, bevor sie auch nur geträumt werden konnten?

Immer langsamer werdend legte er die letzten Schritte zurück. Bevor er endlich die Hand ausstreckte, um die Tür zu öffnen, zögerte er sicherlich eine Minute. Sein Herz hämmerte und seine Finger zitterten wie die eines uralten Mannes. Er hatte fürchterliche Angst vor dem, was er sehen mochte.

Die Tür besaß keine Klinke und im Grunde genommen war es nicht einmal eine richtige Tür, eher eine gewaltige, aufrecht stehende Steinplatte, in deren Oberfläche unheimliche, verschlungene Symbole eingraviert waren. Sie musste eine Tonne wiegen, wenn nicht mehr.

Trotzdem bewegte sie sich leicht wie eine Feder, als Kim mit nur zwei Fingern dagegen drückte - was nichts daran änderte, dass sich das Geräusch, das dabei entstand, anhörte, als versuche jemand die Spitze der Cheops-Pyramide wegzuschieben.

Im Inneren der Gruft brannte ein halbes Dutzend rußender Fackeln, aber ihr Licht war weder rot noch gelb, sondern tauchte den asymmetrisch geformten Raum in tausend unterschiedliche Grauschattierungen auf. Er war in einer Schwarzweiß-Welt. Mit klopfendem Herzen drang er Schritt für Schritt weiter in die Gruft ein.

Ihr Inneres bot einen noch viel unheimlicheren Anblick als ihr Äußeres. Die Wände waren dick mit Spinnweben und Staub verkrustet. Spinnen, Asseln und anderes Ungeziefer huschten erschrocken davon, aufgescheucht vom Geräusch seiner Schritte, das die ewige Ruhe der Gruft störte, und in einer Ecke verschwand eine Ratte piepsend in einem Loch. Soweit das unter all dem Staub und verkrusteten Schmutz überhaupt noch zu erkennen war, waren die Wände mit den gleichen sonderbaren Reliefarbeiten geschmückt wie die Tür. Ein seltsamer Geruch lag in der Luft: eine Mischung aus Staub, Moder, Alter und Feuchtigkeit, zudem durchdrungen vom harzigen Brandaroma der prasselnden Fackeln.

Genau in der Mitte der Gruft stand ein gewaltiger, steinerner Sarkophag. Kim näherte sich ihm vorsichtig, mit langsamen, kleinen Schritten. Seine Hände zitterten so stark, dass er sie gegen die Oberschenkel pressen musste, um sich zu beruhigen.

Der Deckel des Sarkophags lag zerbrochen auf dem Boden. Auch er war mit den gleichen Symbolen geschmückt wie alles hier und die Bruchstellen sahen ziemlich frisch aus, als wäre es noch nicht allzu lange her, dass ihn jemand heruntergestoßen hatte. Kim schenkte ihm jedoch nur einen flüchtigen Blick, ehe er sich vorbeugte und unsicher in den Sarkophag hineinsah.

Was immer er auch erwartet hatte, es war nicht darin. Der steinerne Sarkophag war fast zur Hälfte mit Laub, Ästen und Blättern gefüllt, in denen es hier und da raschelte; wahrscheinlich weiteres Ungeziefer, das sich schon durch seine Anwesenheit gestört fühlte. Kim wollte sich schon wieder abwenden, als ihm doch etwas auffiel: Unter all dem Laub und den Ästen schimmerte etwas.

Zögernd streckte er die Hand aus und grub in dem trockenen Laub. Seine Finger berührten etwas Hartes, Kühles. Er griff entschlossen zu, richtete sich auf und sah ohne die mindeste Überraschung auf eine schimmernde Glaskugel von der Größe eines Tennisballes hinab, die er in der Hand hielt. Sie wurde von einem stilisierten Drachen gehalten und in ihrem Inneren war eine winzige Nachbildung Gorywynns zu sehen. Es war die Glaskugel, die sein Vater Rebekka mitgebracht hatte an jenem Tag, als alles begann. Zum ersten Mal, seit er den Friedhof der Träume betreten hatte, sah er wieder Farben: der Drache, der die Kugel umschlang, schimmerte in mattem Gold, und die winzige Nachbildung der gläsernen Stadt in ihrem Inneren in blassem Rosa, Blau und Grün, den auch in Gorywynn vorherrschenden Farben.

Es war Themistokles' Zauberkugel. Kim zweifelte keine Sekunde daran.

Mit einer entschlossenen Bewegung schob er die Glaskugel in die Tasche, drehte sich herum und verließ die Gruft. Nun, nachdem er gefunden hatte, was zu suchen er hierher gekommen war, wurde es Zeit, von hier zu verschwinden. Er verzichtete darauf, die Tür wieder hinter sich zu schließen, und ging mit schnellen Schritten den Weg zurück, den er gekommen war.

Kim hatte ungefähr die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als er ein Geräusch hörte. Es war nicht besonders laut, in der vollkommenen Stille, die auf dem Friedhof herrschte, aber trotzdem nicht zu überhören. Und es war unheimlich: Ein helles Scharren und Kratzen, als führen Fingernägel über altes Holz oder mürbe gewordenen Stein.

Kim sah sich unsicher um, überlegte einen Moment und wandte sich dann nach rechts. Es war wohl so, wie Themistokles gesagt hatte: Das Geräusch machte ihm Angst, aber die schlimmste Furcht, die ein Mensch haben konnte, war noch immer die vor dem Unbekannten. Er musste einfach herausfinden, was diesen Laut verursachte.

Kim ging langsam weiter und nach einigen Augenblicken glaubte er zu wissen, woher das Geräusch kam.

Das unheimliche Kratzen drang aus einem der Gräber, die er noch nicht untersucht hatte.

Wie die meisten Grabstätten war auch diese mit einer schweren Steinplatte verschlossen. Sie war jedoch größer als die meisten und es kostete Kim all seine Kraft, sie zur Seite zu schieben. Er brauchte gute fünf Minuten dazu, und als er es geschafft hatte, sank er schwer atmend und vollkommen erschöpft neben dem Grab auf die Knie.

Abgesehen von seiner Größe unterschied sich das Grab auch noch in anderer Hinsicht von allem anderen: In diesem Grab gab es einen Sarg. Er war uralt, schmucklos und aus schweren, groben Bohlen gefertigt... als hätte jemand ganz sichergehen wollen, dass das, was darin begraben war, auch wirklich darin blieb.

Kim schauderte. Hatte er einen Fehler gemacht? Wenn dies hier der Friedhof der Träume war, wer sagte dann, dass hier nicht auch seine Albträume begraben waren, Dinge, die er mit gutem Grund vergessen hatte und an die er sich ganz bestimmt nicht mehr erinnern wollte?

Das Scharren und Kratzen hielt immer noch an und war jetzt, nachdem er die Grabplatte entfernt hatte, sogar deutlich lauter geworden. Es kam eindeutig aus dem Inneren des Sarges. Kim kam endgültig zu dem Schluss, dass er besser nicht wissen wollte, was die Ursache des unheimlichen Lautes war. Er setzte dazu an, sich aufzurichten und zu verschwinden, so schnell er nur konnte.

In diesem Moment traf ein gewaltiger Schlag den Sargdeckel. Holz splitterte. Ein fingernagelbreiter, gezackter Riss entstand in den Bohlen und Kim erschrak so sehr, dass er mitten in der Bewegung das Gleichgewicht verlor und nach hinten kippte. Noch während er stürzte, ertönte ein zweiter, noch heftigerer Schlag. Der Sargdeckel zersplitterte endgültig und eine gewaltige, mit grauem Lehm verkrustete Faust schoss durch das Loch. Einen Moment später zog sie sich wieder zurück und schlug erneut von innen gegen den Sargdeckel.

Kim keuchte vor Entsetzen und kroch hastig auf Händen und Knien durch den Schlamm davon.

Immer mehr und heftigere Schläge trafen den Sargdeckel. Die Hand erschien erneut, flankiert von einer zweiten, nicht minder großen, die sich beide um den Rand des Risses krallten und das Holz mit einer gewaltigen Kraftanstrengung zerteilte. Kim versuchte verzweifelt schneller zu kriechen, aber der aufgeweichte Morast schien sich plötzlich regelrecht an ihm festzusaugen, als hätte sich sogar die Natur selbst gegen ihn verschworen und versuchte ihn mit aller Macht festzuhalten.

Vor ihm wurde der Rest des Sargdeckels in Stücke gerissen und dann richtete sich ein brüllender Gigant im Inneren des Sarges auf, der Schlamm und Holzsplitter in alle Richtungen schleuderte und mit schweren Schritten aus dem aufgebrochenen Sarg herausstampfte.

Kim schrie in schierer Todesangst auf, hob schützend die Hände vor das Gesicht - und riss verblüfft die Augen auf.

Die Gestalt vor ihm war kein Riese. Und schon gar kein zum Leben erwachter Toter...

Seine Angst hatte die Proportionen verzerrt und ihm etwas vorgegaukelt, was nicht da war. Unter all dem Schmutz und Morast verbarg sich ein Gesicht, das Kim nur zu gut kannte ... »Kai!«, murmelte er.

Obwohl er noch immer vor Wut und Anstrengung keuchte, schien Kai den vertrauten Klang seines Namens verstanden zu haben, denn er drehte sich herum und runzelte die Stirn.

»Woher -?«

Weiter kam er nicht.

Zorn und an Raserei grenzende Wut fegten Kims Furcht einfach beiseite. Mit einem einzigen Satz war er auf den Füßen und stürzte sich auf Kai.

Der junge Steppenreiter versuchte noch die Arme hochzureißen, aber er war viel zu langsam. Kim prallte gegen ihn, riss ihn einfach von den Füßen und begann mit den Fäusten auf ihn einzudreschen. Er traf Kai hart im Gesicht, im Leib und in den Rippen, aber sein Zorn kannte keine Grenzen. Er war nicht so weit gekommen, hatte nicht das Ende der Welt erkundet und sich nicht all seinen gestorbenen Träumen gestellt um sich jetzt noch im allerletzten Moment alles zunichte machen zulassen!

Sein Angriff war so ungestüm, dass Kai in den ersten Sekunden nicht einmal auf die Idee kam, sich zu wehren. Dann aber musste er ihn wirklich hart getroffen haben, denn Kai heulte plötzlich vor Schmerz schrill auf - und in der nächsten Sekunde fühlte sich Kim gepackt und meterweit durch die Luft geschleudert.

Er landete hart auf dem Rücken und blieb eine oder zwei Sekunden liegen um wieder zu Atem zu kommen. Dann aber sprang er mit einem Schrei wieder auf die Füße und warf sich abermals auf seinen Gegner.

Kai, der die Gelegenheit genutzt hatte, ebenfalls aufzustehen, empfing ihn mit einer Bewegung, die Kim nicht einmal richtig sah, die aber zur Folge hatte, dass Kim zum zweiten Mal binnen weniger Sekunden den Boden unter den Füßen verlor und sich mehrmals überschlagend über Kais Kopf hinwegsegelte.

Diesmal war der Aufprall so hart, dass er buchstäblich Sterne sah und mehr als nur ein paar Sekunden benommen liegen blieb.

Als sich seine Sinne wieder klärten, kniete Kai mit einem Bein auf seiner Brust und schnürte ihm damit fast die Luft ab. Die linke Hand hatte er in sein Haar gekrallt und drückte seinen Kopf in den Nacken, die andere hatte er erhoben und auf sonderbare Weise zur Faust geballt. Kim zweifelte nicht daran, dass ein einziger Schlag damit reichen würde ihm das Genick zu brechen.

Kai zögerte aber. Sein Blick glitt über Kims Gesicht und ein nachdenklicher, gleichzeitig aber auch leicht verwirrter Ausdruck erschien auf seinen Zügen.

»Worauf wartest du?«, fragte Kim trotzig. Er hatte Mühe, überhaupt zu sprechen. »Mach endlich Schluss!«

Kai machte nicht Schluss. Ganz im Gegenteil. Er ließ plötzlich Kims Haar los, zögerte noch einen Moment und richtete sich dann auf. Kim sog erleichtert die Luft in die Lungen und Kai sagte nachdenklich: »Ich ... kenne dich ... oder?«

»Du wirst mich gleich richtig kennen lernen!«, knurrte Kim.

Er trat nach Kai. Der junge Steppenreiter fing seinen Fuß mit einer fast spielerischen Bewegung auf und verdrehte ihn so, dass Kim vor Schmerzen aufschrie, bevor er ihn wieder losließ, und sagte: »Sei so gut und hilf mir auf die Sprünge. Wo haben wir uns schon einmal gesehen?«

Kim rappelte sich mühsam auf, starrte Kai finster an und schoss eine rechte Gerade nach seinem Kinn ab, in die er all seine Kraft legte.

Diesmal landete er mit dem Gesicht voran im Morast und richtete sich hustend und spuckend wieder auf. Noch in der Bewegung wirbelte er herum und versuchte Kai die Handkante gegen den Kehlkopf zu schmettern, und noch während er durch die Luft segelte und betete, nicht mit dem Kopf gegen einen Stein zu prallen, sagte Kai: »He! Jetzt erinnere ich mich! Du bist der Junge, den wir an jenem Abend im Elfenwald gefunden haben, stimmt's?«

Kim richtete sich hustend und spuckend wieder auf, wischte sich den Schlamm aus den Augen und zog sein Schwert. Wenn Kai es auf die harte Tour haben wollte - nun gut!

Kai machte sich nicht die Mühe, sein eigenes Schwert zu ziehen. Stattdessen griff er blitzschnell nach Kims Schwert.

»Wieso bist du so schnell verschwunden?«, fragte er. »Ich hätte mich gerne noch ein wenig mit dir unterhalten, weißt du?« Er drehte das Schwert in den Händen. »Eine schöne Waffe. Aber sei vorsichtig damit. So etwas ist kein Spielzeug, weißt du? Man kann sich ziemlich übel damit verletzen.«

»Warum verhöhnst du mich auch noch?«, fragte Kim schwer atmend. »Wenn du mich umbringen willst, dann tu es! Aber mach dich nicht noch über mich lustig!«

»Dich umbringen?« Kai schüttelte den Kopf - und reichte ihm sein Schwert zurück! »Warum sollte ich das tun? Du hast mir nichts getan. Im Gegenteil ...« Er deutete auf das offene Grab, aus dem er herausgekommen war. »So, wie ich die Sache sehe, hast du mich gerettet.«

Kim griff verwirrt nach dem Schwert, drehte es einen Moment lang hilflos in den Händen und schob es dann in die Scheide an seinem Gürtel zurück. Spielte Kai nun ein besonders grausames Spiel mit ihm oder konnte es wirklich sein, dass ...

»Willst du mich verarschen?«, fragte er düster.

Kai sah ihn mit überzeugend gespielter Verwirrung an. »Ich weiß nicht, was dieses Wort bedeutet«, sagte er, »aber ich glaube, die Antwort lautet nein.«

Kim spuckte noch einen Rest Schlamm aus, bevor er fortfuhr: »Wie kommst du hierher?«

»Wenn ich das wüsste!«

»Dann erzähl mir bitte noch einmal, was das Letzte ist, woran du dich erinnerst«, verlangte Kim.

»Erzähl du mir doch erst einmal -«

Kim hob die Hand. »Es ist einfacher so herum«, sagte er. »Glaub mir. Du kannst dich nicht erinnern, dass wir uns noch ein paar Mal begegnet sind? Am Fluss und später in Gorywynn, in Themistokles' Palast?«

»In Gorywynn?« Kai sah ihn mit schräg gehaltenem Kopf fragend an. »Ich war in meinem ganzen Leben noch nie in Gorywynn.«

»Und du hast es auch nicht mit deinem Heer belagert?«

»Nein!«, sagte Kai heftig. »Die gläserne Stadt ist heilig! Sie hat mit unserem Krieg nichts zu tun! Niemand käme auf die Idee die Hand gegen die Zitadelle des Zauberers zu erheben!«

Kim starrte ihn eine geraume Weile einfach nur an. Dann drehte er den Kopf, sah sich nach einem halbwegs trockenen Platz um, an den sie sich setzen konnten, und machte eine auffordernde Geste. »Ich glaube, ich habe dir eine Menge zu erzählen«, sagte er. »Und ich fürchte, das meiste davon wird dir nicht gefallen...«

»Und wer führt dann an meiner Stelle das Heer?«, fragte Kai, nachdem Kim zu Ende erzählt hatte. Seine Stimme bebte ganz leicht.

»Ist das so schwer zu erraten?«, fragte Kim.

Kais Miene verdüsterte sich noch weiter. »Das ist... ungeheuerlich«, flüsterte er. »Sich vorzustellen, dass er in meinem Namen den Angriff auf Gorywynn befohlen hat! Dafür wird er bezahlen!«

Es waren die ersten Worte, die er überhaupt sprach, seit Kim mit seinem Bericht begonnen hatte - was bestimmt eine halbe Stunde her war. Er hatte schweigend zugehört, anfangs voller Skepsis, später dann mit wachsendem Entsetzen und Zorn im Gesicht. »Dafür wird er bezahlen! Und all diese Dummköpfe, die ihm gefolgt sind, ebenso!«

»Es ist nicht ihre Schuld«, sagte Kim. »Und schon gar nicht deine! Der Magier der Zwei Berge ist ein Meister der Illusion und der Lüge. Wenn überhaupt jemanden die Schuld trifft, dann mich. Immerhin habe ich ihn aus dem Gefängnis befreit, in das die anderen Zauberer ihn gesperrt haben.«

»Du konntest nicht wissen, mit wem du es zu tun hattest«, antwortete Kai. »Ich an deiner Stelle hätte nicht anders gehandelt.« Er machte eine abwehrende Bewegung, als Kim etwas sagen wollte. »Es ist nicht besonders hilfreich, über einmal gemachte Fehler zu lamentieren. Viel wichtiger ist die Frage: Was tun wir jetzt?«

Kim schlug mit der flachen Hand auf die Tasche, in der er die Zauberkugel trug. »Damit wird es uns möglich sein, Themistokles einen Großteil seiner alten Macht zurückzugeben. Ich bin sicher, dass er den Magier der Zwei Berge aufhalten kann.« Kai lachte hart. »Das wird kaum nötig sein«, sagte er. »Meine Krieger werden ihn in Stücke reißen, wenn sie begreifen, dass sie einem Betrüger aufgesessen sind. Ausgerechnet ihm! Einem uralten Mann!«

Kim sah ihn voller Trauer an. Nach allem, was in den letzten Stunden geschehen war, hatte er fast vergessen, dass es da noch immer ein anderes Problem gab ...

»Und dann?«, fragte er.

»Was - dann?«

»Ich meine: Selbst wenn wir ihn wirklich besiegen ... wollt ihr diesen sinnlosen Krieg fortsetzen?«

»Er ist nicht sinnlos!«

»Er nutzt niemandem«, widersprach Kim. Kai ließ ihn jedoch gar nicht zu Ende sprechen, sondern schnitt ihm mit einer herrischen Geste das Wort ab.

»Wir haben ihn nicht angefangen! Die Alten waren es, die uns ihre Art zu leben aufzwingen wollten! Wir verlangen nur die Freiheit so zu leben, wie wir es wollen! Das ist nichts Unrechtes!«

Er sprang mit einem Ruck auf. »Ich schlage vor, dass wir uns darüber später streiten.« Plötzlich lachte er. »Und falls wir uns nicht einig werden, kannst du mich ja immer noch zu einem fairen Zweikampf herausfordern. Wir beide klären die Sache dann in einem ritterlichen Duell.«

»Sehr witzig«, maulte Kim und stand ebenfalls auf. Kai grinste, enthielt sich aber jedes weiteren Kommentars und sah stattdessen zum Ausgang hin.

»Nach allem, was du erzählt hast, haben wir nicht mehr sehr viel Zeit«, sagte er. »Wenn mein Doppelgänger auch nur halb so gut ist wie ich, dann ist er jetzt wahrscheinlich schon dabei, eine hübsche kleine Falle für deinen Freund Wolf aufzustellen.«

»Würdest du das tun?«, fragte Kim.

»Ich sagte: Wenn er halb so gut ist wie ich«, belehrte ihn Kai. »Ich würde in aller Ruhe abwarten, bis sie auf das Zwergenheer gestoßen sind, und mir dann die Überlebenden vorknöpfen.«

Ohne ein weiteres Wort brachen sie auf.

Sie verließen den Friedhof der Träume und marschierten eine ganze Weile in die Richtung zurück, aus der Kim gekommen war. Auf halber Strecke trafen sie auf einen schmalen, kristallklaren Bach, an dem sie sich waschen und ihre Kleider vom gröbsten Schmutz reinigen konnten. Er war auf dem Hinweg nicht da gewesen, aber was war hier schon logisch? Als sie weitergingen und Kim sich nach wenigen Schritten noch einmal umdrehte, war er wieder verschwunden.

Endlich stießen sie auf die Treppe. Kai staunte nicht schlecht, als er das knappe Dutzend Stufen sah, das vor ihnen aufragte und buchstäblich im Nichts endete, und noch mehr, als Kim ohne zu zögern hinauftrat. Aber er folgte ihm rasch - zumal die untersten Stufen zu verblassen begannen, kaum dass Kim die Mitte der Treppe erreicht hatte.

Hatte der Abstieg Stunden gedauert (wie es ihm vorgekommen war), so erlebte er eine Überraschung, als sie den Weg in umgekehrter Richtung hinaufgingen. Es vergingen nämlich nur wenige Minuten (wie es ihm vorkam), bis der obere Rand des Abgrundes vor ihnen auftauchte. Kim legte das allerletzte Stück mit einem Sprung zurück und stellte mit einem einzigen Blick fest, dass alle seine Weggefährten noch da waren, wo er sie zurückgelassen hatte: Der Pack und die Spinne hockten reglos im Gras und Sturm saß mit dem Rücken gegen einen Baum gelehnt da und kaute auf einem Grashalm. Twix hockte auf seiner Schulter, schien sich dort aber nicht besonders wohl zu fühlen, denn kaum hatte sie Kim erblickt, schwang sie sich mit einem erleichterten Piepsen in die Luft und flog auf ihn zu.

»Das wurde aber auch Zeit!«, rief sie. »Wir dachten schon, du -«

Sie brach mit einem erschrockenen Laut ab, als Kai dicht hinter Kim aus dem Abgrund kletterte. Die Spinne sprang mit einem Ruck auf und zischte drohend und auch der Pack erhob sich und kam mit gebleckten Zähnen und halb erhobenen Fäusten näher.

»Was macht denn der hier?«, zischelte die Spinne.

»Lasst ihn in Ruhe!«, sagte Kim hastig. Er drehte sich zu Kai herum und winkte. »Keine Angst. Ich werde ihnen alles erklären.«

»Na, da bin ich ja mal gespannt«, giftete die Spinne.

Kai kam zögernd näher. Sein Blick wanderte misstrauisch von einem zum anderen und blieb vor allem auf dem fußballgroßen Leib der Spinne immer wieder hängen. Auf seinem Gesicht war nicht die Spur von Furcht zu erkennen, aber er wirkte angespannt und seine rechte Hand lag griffbereit auf dem Schwert.

Kim sah aus den Augenwinkeln, dass auch Sturm aufgestanden war und langsam näher kam.

»Regt euch nicht auf«, sagte er rasch. »Er ist nicht der, nach dem er aussieht ... ich meine: Er ist schon der, nach dem er aussieht, aber ... aber der andere ist nicht der, wonach er aussieht, und ... also ... ähm ...«

»Aha«, sagte Twix.

»Danke für diese erschöpfende Auskunft«, fügte Sturm hinzu und die Spinne kroch näher, schnüffelte ausgiebig an Kais Bein und sagte schließlich: »Er riecht auch anders. Und besser.«

»Danke«, murmelte Kai.

»Ich glaube nicht, dass ich mit dir reden sollte«, sagte die Spinne. Kai wirkte nun vollends irritiert.

»Ich weiß, es ist schwer zu verstehen«, begann Kim von neuem, »aber wisst ihr: Das hier ist der echte Kai.«

»Der echte?« Twix legte den Kopf schräg. Der Pack kam näher, sah Kai einen Moment lang aus misstrauisch zusammengekniffenen Augen an und drehte sich dann wieder herum - allerdings nicht ohne Kim im Vorbeigehen noch einen kräftigen Tritt vor die Kniescheibe zu verpassen.

»Also, nach allem, was ich herausgefunden habe, ist er wirklich Kai«, sagte Kim noch einmal. »Er kann sich an nichts erinnern, was nach unserem allerersten Zusammentreffen geschehen ist.«

»Dann Sollte er Möhren essen«, sagte Twix. »Möhren sind gut für das Gedächtnis.«

»Du verwechselst da etwas, glaube ich«, sagte Kai. Er wollte sich von der Kante entfernen, hatte aber Mühe zu gehen, weil sich die Spinne an sein rechtes Bein klammerte und allen Ernstes Anstalten machte daran herumzuknabbern. Aus seinem Gehen wurde ein ungeschicktes Hoppeln und Springen, bei dem er die Spinne hinter sich herzerrte.

»Bitte!«, sagte Kim. »Lass doch den Unsinn!«

»Unsinn?«, ächzte Kai. Er versuchte sein Schwert zu ziehen, aber die Spinne war schneller und schoss einen klebrigen Faden ab, der Kais Hand um den Schwertgriff und das Schwert zugleich um seine Leibesmitte wickelte.

»Was soll das heißen, er ist nicht der, der er zu sein scheint?«, fragte nun auch Sturm. Er sah Kim an, deutete aber auf Kai, der mühsam auf einem Bein balancierend um sein Gleichgewicht kämpfte und vergebens versuchte seine Hand vom Schwertgriff zu lösen. »Ich meine: Wenn er nicht er ist, beziehungsweise wenn er nicht der er ist, der das Heer anführt, wer ist dann der er, der an seiner Stelle die Armee anführt?«

Für eine Sekunde war es vollkommen still. Ausnahmslos alle starrten Sturm an.

»Kannst du das noch einmal sagen?«, fragte Twix schließlich. Kai riss sich endgültig los, verlor auf einem Bein die Balance und schlug der Länge nach hin und die Spinne war mit einem einzigen Satz über ihm und ließ die Zähne blitzen.

»Aufhören!«, sagte Kim streng. »Verdammt, wir haben wirklich keine Zeit für diesen Quatsch!«

Die Spinne warf ihm einen herzzerreißenden Blick zu, hob aber dann alle Schultern auf einmal und machte sich langsam und vor sich hin grummelnd von dannen. Kai versuchte aufzustehen, was aber mit einer an die Hüfte gefesselten Hand gar nicht so einfach war, sodass Twix schließlich herbeiflatterte und seine Hand mit einem Nebel aus goldenem Elfenstaub befreite. Kai machte ein sehr erstauntes Gesicht.

»Tja, manchmal ist es ganz praktisch, ein magisches Wesen bei sich zu haben«, sagte Kim. Dann wandte er sich an Sturm. »Wie lange war ich weg?«

»Ziemlich lange«, antwortete Sturm. »Sieh selbst.« Er deutete nach Osten und Kim erschrak, als sein Blick der Geste folgte. Es begann zu dämmern. Er war die ganze Nacht über fort gewesen.

Wenigstens hoffte er, dass es nur eine Nacht gewesen war. Als er jedoch eine entsprechende Frage stellte, nickte Sturm nur beruhigend. »Es war nur eine Nacht«, sagte er, »aber sie war lang genug.« Er deutete auf Twix. »Sie hat ein paar Erkundungsflüge unternommen. Und sie hat keine guten Nachrichten gebracht.«

»Von welcher Seite?«, fragte Kim.

»Von keiner«, sagte Twix. »Wolf, dieser Narr, hat seine Drohung wahr gemacht und die Zwerge angegriffen.«

»Und?«, fragte Kim.

»Nichts und«, antwortete die Elfe. »Es war wohl nicht ganz so einfach, wie er es sich vorgestellt hat. Als ich vor einer Stunde zurückgekehrt bin, war die Schlacht noch in vollem Gange. Keine Seite schien die Oberhand gewinnen zu können.«

»Die Zwerge haben Wolfs Lanzenreitern standgehalten?«, fragte Kim zweifelnd.

»Das wundert mich kein bisschen«, sagte Kai. »Die meisten unterschätzen die Zwerge. Mit dem Schwert in der Hand sind sie nicht einmal für ein Kind eine Gefahr -«

Kim blinzelte beleidigt, aber Kai fuhr mit einem bekräftigenden Nicken fort: »Sie sind verschlagene kleine Teufel. Sie beherrschen eine Menge gemeiner Tricks und sie haben mächtige Kriegsmaschinen. Ich würde es mir zweimal überlegen, sie anzugreifen.«

»Das hat sich dein Doppelgänger wohl auch gedacht«, sagte Twix. »Er hat seine Truppen zurückgezogen -«

»Und wartet in aller Ruhe ab um die siegreiche Partei anzugreifen«, führte Kai den Satz zu Ende. »Nichts anderes würde ich an seiner Stelle tun.«

»Worauf warten wir dann noch?«, fragte Sturm. »Nichts wie los!«

»Und wohin, wenn ich fragen darf?«, erkundigte sich Kai.

»Zu Wolf und Themistokles«, antwortete Kim. Er deutete auf Sturm. »Er hat Recht. Wenn sie die Wahrheit erkennen, dann geben sie diesen sinnlosen Kampf vielleicht auf.«

»Genau!«, krähte die Spinne. »Wir wollen doch mal sehen, was für ein Gesicht der falsche Kai macht, wenn er es plötzlich mit beiden Heeren zu tun bekommt.«

»Ich wüsste, was ich täte«, antwortete Kai gelassen.

»Schön«, sagte Twix. »Behalt es für dich.«

Kai runzelte die Stirn und Kim sagte hastig: »Wir haben ein Pferd zu wenig.«

»Das macht nichts«, sagte Kai. »Ich kann stundenlang laufen, wenn es sein muss.« Und vermutlich schneller, als du reiten kannst.

Das sagte er zwar nicht, aber Kim las die Worte so deutlich in seinen Augen, dass er die Zähne zusammenbiss und schweigend eine Faust in der Tasche ballte. Einen Moment lang erfreute er sich an der albernen Vorstellung, dass Kai in den Sattel springen und prompt auf der anderen Seite wieder herunterfallen könnte.

Er vertrieb den kindischen Gedanken, ging schweigend zu seinem Pferd und stieg auf.

Sie ritten los. Kim war nicht im Geringsten überrascht, als Kai schon nach wenigen Schritten in einen schnellen, gleichmäßigen Trab verfiel, der ihn tatsächlich ohne besondere Schwierigkeiten mit dem Pferd mithalten ließ.

Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie die volle Schnelligkeit der Pferde ja nicht ausspielen konnten, da sie auf die Spinne und den Pack Rücksicht nehmen mussten.

Eine geraume Weile bewegten sie sich auf diese Weise schnell nach Westen, fort von dem unheimlichen Schattenwald mit seinem Nebel, den abgestorbenen Bäumen, der gigantischen Schlucht und vor allem den Erinnerungen, die er beherbergte. Nachdem sich ihre Umgebung wieder einigermaßen normalisiert hatte, änderten sie ihre Richtung ein wenig um dorthin zu gelangen, wo Twix' Worten nach die Schlacht zwischen den Zwergen und Wolfs Lanzenreitern tobte.

Sie hörten den Lärm schon von weitem. Vor ihnen am Horizont wetterleuchtete es. Manchmal zuckten Flammen über die Baumwipfel und in fast regelmäßigen Abständen loderten grelle, bläuliche Blitze hinter dem Wald. Jedes Mal, wenn das geschah, glaubte Kim unmittelbar danach einen Chor gellender Schreie zu hören; Schreie, die eindeutig nicht aus Zwergenkehlen stammten. Er musste plötzlich wieder daran denken, was Kai über die Kriegsmaschinen der Zwerge erzählt hatte.

Twix tauchte vor ihnen aus der Dämmerung auf, schrie aus Leibeskräften und schwenkte hektisch beide Arme. »Zur Seite!«, brüllte sie. »Nach rechts! Sie kommen!«

Ganz egal, wer kam - Kim und Sturm rissen ihre Pferde nach rechts und auch Kai schwenkte in die entsprechende Richtung.

Twix' Stimme überschlug sich fast. »Seid ihr verrückt?!«, kreischte sie. »Ihr lauft ihnen ja genau in die Arme! In die andere Richtung!«

Kim zügelte sein Pferd und blickte die Elfe an. »Das ist rechts«, sagte er betont.

»Von euch aus gesehen, vielleicht«, antwortete Twix. »Von mir aus betrachtet ist es links.«

Kim wollte antworten, doch in diesem Moment drang das dumpfe Hämmern zahlloser, eisenbeschlagener Hufe vor ihnen durch das Dickicht. Kai ließ sich erschrocken ins hüfthohe Gras sinken und auch Kim und Sturm glitten hastig aus den Sätteln und duckten sich hinter ihre Pferde - eine geradezu lächerliche Deckung, die aber trotzdem ihren Dienst tat. Vor ihnen brach ein Tross von etwa drei- oder vierhundert Reitern durch den Wald. Das gewaltige Reiterheer stampfte alles nieder, was in seinen Weg geriet: Büsche, Sträucher, Unterholz, ja, selbst kleine Bäume. Nicht einer der Reiter nahm auch nur Notiz von ihnen.

Dafür sog Kai hörbar die Luft ein, als er den Reiter erkannte, der das Heer anführte. Es war ebenfalls Kai. Der falsche Kai. »Dieser verdammte ...!« Kais Hand fuhr zum Schwert, aber Kim drückte rasch seinen Arm herunter.

»Nicht jetzt!«, sagte er hastig. »Bitte, Kai - ich kann dich verstehen, aber wir haben nur diese eine Chance!«

Kai starrte ihn hasserfüllt an und kurz kreuzten sich ihre Blicke. Kais Augen schienen Flammen zu sprühen und Kim spürte den maßlosen Zorn, der in ihm kochte, während er dem Magier nachstarrte, der die Unverschämtheit besaß, sich in seiner Gestalt an die Spitze des Heeres zu setzen.

Dann aber entspannte er sich. »Du hast Recht«, murmelte er. »Aber ich kriege den Kerl, das verspreche ich dir.« Er deutete nach links. »Hinterher!«

Kim zögerte. »Was glaubst du, was er vorhat?«, fragte er.

»Ich weiß, was er vorhat«, antwortete Kai. »Er hat das Heer geteilt. Sie werden die Zwerge umgehen und sie von zwei Seiten gleichzeitig angreifen, gerade lange und ernsthaft genug, um Wolfs Vertrauen zu erringen.«

»Und dann wechseln sie die Seiten und greifen Wolf an?«, fragte Sturm.

»Nein.« Kai schüttelte den Kopf. »Sie löschen sein Heer aus. Mit einem einzigen Schlag. Glaube mir: Wolf und seine Reiter haben keine Chance.«

»Da wäre ich nicht so sicher«, sagte Kim, aber Kai schüttelte heftig den Kopf.

»Wolf und seine Männer mögen tapfer sein«, sagte er, »aber sie sind nur einfache Bauern und Handwerksleute, die sich bewaffnet haben. Seine Leute sind ausgebildete Krieger, die ihr Handwerk verstehen. Sie werden Wolfs Armee auslöschen und danach, wenn sie sich in eine gute Position gebracht haben und die Zwerge noch im Siegestaumel sind, werden sie die Kriegsmaschinen der Zwerge zerstören. Der Rest ist dann nur noch ...« Er zuckte mit den Schultern. »... Fleißarbeit.«

Kim schauderte vor der Kälte, die plötzlich aus Kais Stimme sprach.

»Lasst uns weiterreiten«, schlug Sturm vor.

Kai hob beruhigend die Hand. »Wir haben Zeit. Er wird mindestens eine Stunde brauchen, um sein Heer in Position zu bringen, und ich glaube nicht, dass er es damit sehr eilig -«

Das Gebüsch hinter ihm explodierte. Erdreich, Steine und zerfetztes Geäst und Blätter regneten auf sie herab. Kai wurde zu Boden geschleudert und hinter ihm richtete sich etwas Kolossales, Bleiches mit gewaltigen Zangen und riesigen starrenden Augen auf.

»Der Skull!«, brüllte Kim.

»Fleisch!«, kreischte die Spinne.

Sie wollte unverzüglich losrennen, aber Kim grub gedankenschnell die Hand in ihren Nacken und riss sie zurück. Einen Augenblick später landete er selbst reichlich unsanft auf dem Hinterteil, als sich sein Pferd erschrocken aufbäumte und in Panik mit den Vorderhufen ausschlug.

Sturms Pferd ging ebenfalls durch und riss seinen Besitzer zu Boden, während Kai sich hastig aufrichtete und auf Händen und Knien vor der grotesken Kreatur davonkroch. Einzig Twix stieß ein kampflustiges Pfeifen aus und machte Anstalten sich unverzüglich auf den Skull zu stürzen.

Kim richtete sich umständlich auf, hielt mit der linken Hand die Spinne zurück und fischte mit der anderen die Elfe aus der Luft.

»Lass mich los!«, kreischte Twix. »Den Kerl kauf ich mir! Den mach ich fertig! Fix und alle mach ich ihn!«

»Nichts da!«, keifte die Spinne. »Du lässt die Pfoten von ihm! Er gehört mir! Fleisch!«

Kim riss die beiden unsanft zurück und sprang mit einem Ruck auf. »Seid still!«, sagte er streng. »Beide!«

Er wartete, bis sich Twix und die Spinne halbwegs beruhigt hatten, dann ließ er sie los und wandte sich vollends zu dem Skull um. Seine Hand glitt in die Tasche, in der er die Zauberkugel trug.

»So«, sagte er. »Ich glaube, es wird Zeit, dass wir zwei die Sache zu Ende bringen.«

Der Skull stieß ein tiefes, drohendes Knurren aus. Seine Kieferzangen näherten sich Kims Gesicht und der Blick seiner schwarzen, seelenlosen Augen bohrte sich tief in den von Kim, dass dieser für einen Moment erstarrte, als er der höllischen Kälte darin begegnete. Es kostete ihn enorme Kraft, sich aus dem hypnotischen Bann dieser unheimlichen Augen zu lösen und fortzufahren: »Du magst also keine Magie, wie? Na, dann wollen wir doch einmal sehen, wie dir das gefällt!«

Und damit zog er die Zauberkugel aus der Tasche und hämmerte sie dem Skull mit aller Gewalt auf die Nase.

Nichts geschah. Der Skull starrte weiter aus seinen kalten, gefühllosen Augen auf ihn herab und Kim seinerseits starrte fassungslos die Zauberkugel in seiner Hand an. Nach dem erstaunlichen Ergebnis, das Twix' erster magischer Angriff auf den Skull gehabt hatte, hatte er eigentlich damit gerechnet, dass sich das Ungeheuer vor seinen Augen in Rauch und Flammen auflöste oder etwas ähnlich Dramatisches geschah. Das unheimliche Geschöpf schien den Hieb jedoch nicht einmal gespürt zu haben.

Kim holte aus um es ein zweites Mal und mit noch größerer Kraft zu versuchen, und noch bevor er die Bewegung auch nur halb beendet hatte, versetzte ihm der Skull einen Hieb mit einer seiner Kiefernzangen, der ihn meterweit davonschleuderte.

Wie durch ein Wunder ließ er die Zauberkugel nicht fallen, aber als er die Augen wieder öffnete, war der Skull über ihm. Seine gewaltigen Kiefer blitzen. Kim konnte seinen eisigen, nach Alter und unwirklicher Kälte riechenden Atem spüren. Dann traf ein goldener Funkenschauer die Augen des Skull und Twix stürzte sich mit einem lauthals hervorgestoßenen »Bonsaiiii!« auf die unheimliche Kreatur.

Der Skull bäumte sich in lautloser Agonie auf und schlug mit allen Gliedmaßen um sich, die er besaß. Eines davon musste wohl die Elfe getroffen haben, denn Twix segelte kreischend und Funken sprühend über ihn hinweg und verschwand irgendwo in der Dämmerung.

Die winzige Ablenkung hatte Kim jedoch gereicht. Er war zwei, drei Meter von dem Ungeheuer davongekrochen, hatte sich aufgerichtet und sprintete auf sein Pferd zu. Unterwegs las er noch mit einer Hand die Spinne auf, die tatsächlich schon wieder Anstalten machte, sich auf den Skull zu stürzen. Ohne auf ihr protestierendes Geschrei zu achten, warf er sie in den Sattel, sprang selbst hinterher und griff gleichzeitig nach den Zügeln.

Kim sah aus den Augenwinkeln, wie auch Sturm wieder in den Sattel sprang und selbst Kai auf das Pferd zulief und hinter ihm auf den Rücken des Tieres flankte.

Aber auch der Skull hatte sich bereits wieder in Bewegung gesetzt. Er raste mit einer Schnelligkeit heran, die seiner scheinbaren Größe und Schwerfälligkeit Hohn sprach. Die Elfe hatte sich wieder aufgerappelt und umkreiste den Skull wie ein Miniatur-Kampfflugzeug, wobei sie ununterbrochen goldenen Staub auf die Kreatur herunterregnen ließ; diesmal allerdings aus sicherer Entfernung.

Ihr Bombardement zeigte trotzdem Wirkung. Der Skull bewegte sich immer noch schnell, taumelte nun aber sichtbar hin und her und ihr Abstand wuchs langsam, aber in zunehmendem Maße.

»Twix!«, schrie Kim. »Hör auf mit dem Vieh zu spielen und komm her!«

Twix bedachte den Skull zum Abschied noch einmal mit einer besonders ergiebigen Ladung Elfenstaub, schraubte sich aber dann in die Höhe und kam rasch heruntergeflogen.

Kim musterte den Skull noch einen Moment lang misstrauisch, ehe er sich im Sattel herumdrehte. Der letzte Angriff schien den Skull ernsthaft geschwächt zu haben. Er war noch immer schnell, torkelte nun aber immer deutlicher. Twix' Elfenstaub setzte ihm deutlich zu. Wieso also hatte ihn die ungleich stärkere Magie der Zauberkugel nicht einmal gestört?

Trotz dieses sichtbaren Erfolges wurden sie jedoch nicht langsamer, sondern legten im Gegenteil noch einmal kräftig an Tempo zu, als sie auf die Spur gerieten, die Kais Reiter durch das Unterholz gebrochen hatten.

»Es kann jetzt nicht mehr weit sein«, schrie Sturm. »Ich kann den Lärm der Schlacht schon hören!«

Tatsächlich drang immer lauter werdendes Schlachtgetöse durch den Wald zu ihnen und Kim sah es jetzt fast unmittelbar hinter den nächsten Bäumen aufblitzen. Er drehte sich noch einmal im Sattel um, stellte befriedigt fest, dass der Skull überhaupt nicht mehr zu sehen war, und deutete dann nach vorne. »Weiter!«, schrie er. »Wir müssen Wolf warnen!«

Sie folgten der Bresche, die die Reiter in den Wald gebrochen hatten, bis zur Kuppe des Hügels und auf der anderen Seite wieder hinab. Dann war der Wald plötzlich zu Ende und das Schlachtfeld lag unter ihnen. Die Spur der Reiter knickte plötzlich nach rechts ab, aber sie selbst sprengten geradewegs weiter den Hügel hinab und auf die beiden ineinander verbissenen Heere zu.

Selbst im blassen Licht des Morgens war der Angriff Furcht einflößend. Kim schätzte, dass Wolf mindestens fünf- bis sechshundert Krieger um sich geschart hatte, eine gewaltige Streitmacht.

Aber sie standen auch einer mindestens zehnfachen Übermacht gegenüber. Genauer gesagt: Sie waren nahezu von ihr eingeschlossen.

»Dieser Narr!«, schrie Kai. »Er ist auf den ältesten Trick der Welt hereingefallen! Die Zwerge haben ihm Platz gemacht, bis er genau da war, wo sie ihn haben wollten! Und dann haben sie die Falle zuschnappen lassen!«

»Dann wird es Zeit, dass wir Wolf ein paar Tipps geben!«, schrie Kim zurück. Zugleich fragte er sich aber, was an Wolfs Lage eigentlich so fatal war. Es stimmte zwar, dass sie von allen Seiten eingekreist waren, aber selbst über die große Entfernung und bei dem schwachen Licht konnte er erkennen, dass es sich mit den Zwergen ganz genau so verhielt, wie Kai gesagt hatte: Im Freien und bei einem fairen Kampf Mann gegen Mann hatten sie keine Chance gegen Wolfs Reiter! Die Krieger bildeten mit ihren Speeren einen nahezu undurchdringlichen Wall, den weder eine zehn- noch eine fünfzigfache Übermacht überwinden konnte. Die wenigen Zwerge, die dumm genug waren, es trotzdem zu versuchen, spießten sich einfach an der Barriere auf.

Trotzdem fiel Kim die große Anzahl reiterloser Pferde auf, die sich zwischen Wolfs Truppen bewegten; und auf den zweiten Blick eine fast ebenso große Anzahl regloser Gestalten, die zwischen ihnen am Boden lagen.

Nur einen Moment später erhielt er auch die Erklärung dafür. Auf dem Hügel auf der anderen Seite des Schlachtfeldes erklang ein dumpfer, sonderbar weicher Knall. Eine gewaltige Dampfwolke erhob sich zischend in die Luft und plötzlich erscholl ein schrilles, immer lauter und lauter werdendes Heulen, das dann ebenso jäh abbrach.

Zwischen Wolfs Reitern stob ein riesiger Pilz aus Staub, aufgewirbeltem Erdreich und Steinsplittern in die Höhe und fast ein Dutzend Reiter stürzten schreiend aus den Sätteln oder brachen mit ihren Tieren zusammen.

Die Zwerge hatten eine Kanone abgefeuert.

Als sich der Dampf auf dem gegenüberliegenden Hügel verzog, konnte Kim sie auch sehen. Es war eine fast groteske Konstruktion. Der Lauf war kurz, dafür übermäßig dick, wie eine jener albernen Kanonen, die man manchmal in Comic-Heftchen sieht, und mit zahlreichen Runen und Reliefarbeiten übersät. Und wenn Kim sich nicht sehr täuschte, dann brannte unter ihrem hinteren Ende ein Feuer!

Drei weitere dieser sonderbaren Konstruktionen standen neben dieser ersten Kanone, und bevor Kim auch nur ein Wort herausbringen konnte, stob eine weitere, zischende Dampfwolke auf und im nächsten Moment schlug eine zweite Kanonenkugel zwischen Wolfs Reitern ein!

»Dieser Dummkopf!« Kai heulte, als hätte ihn das Geschoss getroffen. »Wenn er seine Männer nicht verteilt, schießen sie sie in aller Ruhe aus den Sätteln!«

Kim erkannte bestürzt, dass das stimmte. Zwar hatten mittlerweile auch Wolfs Reiter die Gefahr erkannt, die ihnen von den Dampfkanonen der Zwerge drohten, und versuchten sich in ihre Richtung durch das Zwergenheer zu kämpfen, aber das konnten sie unmöglich schaffen. Sie hätten das gesamte Tal dazu durchqueren müssen - und so nebenbei die gesamte Zwergenarmee.

Sie galoppierten weiter. Auf halbem Weg kamen ihnen ein paar reiterlose Pferde entgegen. Kai stieß einen trällernden Laut aus, woraufhin sich eines der Tiere zu ihnen gesellte und in gestrecktem Galopp neben ihnen einhersprengte. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, schwang sich Kai in vollem Galopp auf seinen Rücken und griff nach den Zügeln. Kim konnte sehen, wie Kai regelrecht aufblühte, als er endlich wieder einen Sattel unter sich spürte.

Einen Augenblick später hatten sie das Schlachtfeld erreicht. Die Zwerge, die nicht mit einem Angriff aus dieser Richtung gerechnet hatten, waren vollkommen überrascht und versuchten nicht einmal Widerstand zu leisten. Die, die ihnen nicht schnell genug ausweichen konnten, wurden einfach niedergeritten, aber der Großteil der kleinen, in schwarze Mäntel gehüllten Gestalten wich einfach vor ihnen zur Seite. Und warum sollten sie sie auch aufhalten? Sie ritten ja genau dorthin, wo sie sie haben wollten.

Ohne langsamer zu werden und ohne auch nur ein einziges Mal ernsthaft angegriffen zu werden, erreichten sie Wolfs Heer. Allein in dieser Zeit schlugen drei weitere Geschosse der Zwergenkanone inmitten von Wolfs Reiterschar ein.

Die letzten Zwerge sprangen vor ihnen zur Seite und dann hatten sie es geschafft. Auch der Wald aus Lanzen teilte sich, um sie passieren zu lassen, und Kim sah einen Ausdruck von Verblüffung, dann von freudigem Wiedererkennen auf den Gesichtern der Reiter unmittelbar vor sich. Kai duckte sich instinktiv im Sattel um nicht sofort erkannt zu werden und Kim war sehr erleichtert, dass er dies tat.

Nach allem, was sie gemeinsam durchgestanden hatten, wäre es nachgerade lächerlich, wenn er nun von einem ihrer eigenen Verbündeten erschlagen würde, der ihn für den anderen Kai hielt.

Jetzt näherten sie sich dem Zentrum des Heeres. Es war nicht zu übersehen: Gorg ragte wie ein Felsen aus der Brandung über den anderen empor und dicht bei ihm erblickte Kim Wolf und Themistokles' weiß gekleidete Gestalt.

Gorg, der neben ihm ritt, war nicht gefesselt, sondern trug einen gewaltigen Schild und ein noch gewaltigeres Schwert, machte aber ganz gegen seine Art keine Anstalten, an dem Kampf teilzunehmen, der unweit von ihm tobte, sondern folgte offensichtlich seinem Befehl, das Leben des Magiers zu beschützen.

»Wolf!«, schrie Kim. »Themistokles!«

Die beiden Angesprochenen, aber auch Gorg und ein gutes Dutzend weiterer Reiter, wandten sich überrascht in den Sätteln um. Gorg wirkte erleichtert, während Themistokles nur flüchtig lächelte; so als hätte er nichts anderes erwartet. Wolf hingegen riss ungläubig die Augen auf und begann dann regelrecht zu strahlen.

»Kim!«, rief er. »Du bist -«

Sein Lächeln gefror, als er Kai erblickte. Er wurde blass. »Kai...«, murmelte er.

»Zieh keine voreiligen Schlüsse, Wolf«, sagte Kim rasch. »Das hier ist der echte Kai. Der Junge, der das Heer führt, ist ein Betrüger!«

»Er sagt die Wahrheit, Wolf«, sagte Themistokles.

Ein zischender Knall kam von den Hügeln zu ihnen herab und einen Augenblick später schlug eine weitere Kanonenkugel ein; diesmal so nahe, dass Kim sich erschrocken duckte. Gorg riss gedankenschnell seinen Schild in die Höhe und hielt ihn schützend über Kim und im selben Moment prasselte ein Hagelschauer aus Erdreich, Steinen und Splittern auf den hölzernen Schild herab. Fünf oder sechs Männer in ihrer unmittelbaren Nähe stürzten aus den Sätteln, Pferde bäumten sich auf und warfen ihre Reiter ab. Der Lärm war unbeschreiblich. »Verteile deine Männer, du Narr!«, schrie Kai. »Sie sollen kleine Gruppen zu zehn oder zwölf bilden!«

»Damit sie uns aufreiben können?«, schrie Wolf.

»Ist es dir lieber, sie schießen euch in aller Gemütlichkeit zusammen?«, schrie Kai zurück.

Wie um seine Worte zu unterstreichen schlug wieder eine Kanonenkugel ein, diesmal weiter entfernt, aber begleitet von einem Chor gellender Schreie. Wolf überlegte noch einen Moment, dann nickte er. »Also gut. Wir -«

»Warte!«, unterbrach ihn Kim. Er löste den Bogen von der Schulter und streckte die Hand aus. »Ich brauche einen Pfeil.« Mehr als ein Dutzend Pfeile wurden ihm hingehalten. Während Kim einen davon nahm und auf die Sehne legte, starrte ihn Kai aus großen Augen an. »Was hast du vor?«

»Die Kanonen«, antwortete Kim. »Es sind Dampfkanonen, stimmt's?« Kai nickte. »Erklär mir, wie sie funktionieren! Wie sind sie konstruiert? Schnell!«

»Es ist ein großer Kessel, in dem Wasser erhitzt wird«, antwortete Kai. »Wenn der Druck hoch genug ist, löst er ein Überdruckventil aus und die Kugel wird abgeschossen.«

»Ein Ventil?« Kim spürte, wie der Pfeil in seiner Hand zu vibrieren begann.

»Ja, zum Teufel, aber was hast du vor?«, antwortete Kai aufgebracht. »Du willst doch nicht auf sie schießen? Kein Bogen auf der Welt trägt so weit!«

»Dieser schon«, antwortete Kim. Eine weitere Kanonenkugel schlug in ihrer Nähe ein. Kim duckte sich, wartete mit zusammengebissenen Zähnen, bis der Regen aus Steinbrocken und Schrapnellsplittern aufhörte, richtete sich dann wieder auf und ließ den Pfeil fliegen praktisch ohne zu zielen.

»Was tust du da?!«, schrie Kai noch einmal.

Kim antwortete gar nicht, sondern legte rasch einen weiteren Pfeil auf die Sehne und ließ ihn fliegen.

Als er den dritten Pfeil abschoss, schlug eine Kanonenkugel so dicht neben ihm ein, dass sich sein Pferd aufbäumte und sicherlich durchgegangen wäre, hätte es nur genug Platz dazu gehabt. Kim wurde nach hinten und gleich darauf mit solcher Wucht nach vorne geworfen, dass er sich nur noch mit Mühe im Sattel halten konnte und den Bogen fallen ließ.

»Du Dummkopf!«, schrie Kai. Er hatte einen Splitter abbekommen und blutete aus einer kleinen Schnittwunde an der Stirn. »Was soll das? Wir verlieren nur Zeit!«

Ein gewaltiger Knall schnitt ihm das Wort ab. Sie alle fuhren in den Sätteln herum und sahen gerade noch, wie eine der Zwergenkanonen oben auf dem Hügel in einer gewaltigen Explosion auseinander flog. Kais Augen quollen vor Unglauben fast aus den Höhlen.

Kim grinste. »Dampfmaschinen sind eine praktische Sache«, sagte er. »Aber nicht ungefährlich. Vor allem, wenn das Ventil verklemmt ist.«

Er beugte sich im Sattel zur Seite, angelte nach seinem Bogen und ließ sich einen weiteren Pfeil reichen.

Kai starrte den schwarzen Bogen in seiner Hand an. Oben auf dem Hügel explodierte die zweite Kanone und Kim grinste noch breiter: »Sagte ich schon, dass Magie manchmal ganz nützlich sein kann?«

Die dritte Kanone explodierte und Kim spannte den Bogen und wollte sich auf das Bild des Überdruckventils konzentrieren, als er einen mahnenden Blick aus Themistokles' Augen auffing. Der Magier schüttelte fast unmerklich den Kopf.

Verwirrt ließ Kim den Bogen wieder sinken.

»Worauf wartest du?«, fragte Kai. »Da ist immer noch eine Kanone!«

Bevor Kim antworten konnte, kam hinter ihnen ein gewaltiger Lärm auf. Hastig drehte er sich im Sattel herum.

Ein Trupp von gut hundert Reitern sprengte den gleichen Hügel herab, den auch sie vor gut zehn Minuten heruntergekommen waren. Die meisten von ihnen waren weiß gekleidet und nicht besonders groß. Eine weiße Fahne mit zwei schlichten, grünen Dreiecken flatterte über ihnen im Wind. Angeführt wurde die Truppe von Kais Doppelgänger, der seinerseits von vier in zerbeultes schwarzes Eisen gehüllten Gestalten flankiert wurde. Hatte der Magier der Zwei Berge erkannt, dass sein Plan nicht aufgehen würde, und versuchte die Situation nun in einem Verzweiflungsangriff zu retten?

Eine Sekunde später beantwortete Kim seine eigene Frage mit einem klaren Nein.

Kais Reiter kamen nicht freiwillig den Hügel herab. Sie griffen auch nicht an. Sie wurden gejagt.

Der Skull war hinter ihnen aus dem Unterholz gebrochen und raste wie ein zum Leben erwachter Albtraum hinter den Reitern her.

Der Anblick war so Grauen erregend, dass die gesamte Schlacht für einen Moment ins Stocken geriet. Dann erhob sich ein erschrockener Aufschrei aus Tausenden von Kehlen und aus der Schlacht wurde endgültig eine panische Flucht. Der Anblick der gigantischen, fahlen Bestie reichte aus, die Furcht selbst in die Herzen der Tapfersten zu tragen.

Die Reiter und das sie verfolgende Ungeheuer rasten weiter heran. Die Zwerge versuchten zur Seite zu weichen, um nicht einfach über den Haufen geritten zu werden, hatten aber auch dafür nicht den nötigen Raum. Kais Reiter krachten wie eine einzige, kompakte Masse in das Zwergenheer und verkeilten sich regelrecht darin.

Nur einen Moment später war der Skull heran.

Das Ungeheuer machte keine Anstalten, sein Tempo zu mindern, sondern raste einfach in das Heer aus Reitern und Zwergen hinein, wobei es mehr als ein Dutzend von Kais jungen Kriegern und zahlreiche Zwerge zu Boden riss oder kurzerhand unter sich begrub. Dann brach am Fuße des Hügels ein verzweifelter, wenn auch hoffnungsloser Kampf aus. Zwerge und Reiter, die keine Möglichkeit zur Flucht mehr hatten, wandten sich um und griffen den Skull an.

Dutzende von Speeren und Pfeilspitzen zerbrachen an den gepanzerten Flanken des Skull. Schwerter zersplitterten wie Glas, Keulen prallten wirkungslos von der blassen Haut des Monsters ab. Die Zwerge warfen sich mit dem Mut der Verzweiflung auf den Koloss und strömten wie kleine, schwarze Ameisen über seinen gewaltigen Körper, versuchten mit Schwertern, Messerspitzen und Speeren eine Lücke in seiner Panzerung zu finden und wurden abgeworfen, als sich das Ungeheuer zischend aufbäumte. Oben auf dem Hügel feuerte die letzte Zwergenkanone, aber auch die Kugel prallte wirkungslos vor dem Ungeheuer ab, riss aber noch einige weitere Zwerge und zwei von Kais Reitern zu Boden.

Auch Kim hob seinen Bogen und schoss. Er hatte auf das linke Auge des Skull gezielt und der Pfeil traf auch, prallte aber ebenso ergebnislos ab wie alles andere. Der Skull arbeitete sich wütend und beharrlich durch das Heer, wobei er eine Spur der Vernichtung hinter sich herzog. Er wurde jetzt ununterbrochen angegriffen. Tausende von Pfeilen regneten auf ihn herab und die Dampfkanone der Zwerge schoss, so schnell es ihre Konstruktion zuließ. Nichts von alledem vermochte das Ungeheuer aufzuhalten.

Und endlich begriff Kim.

»Er kommt hierher«, murmelte er. »Er ... er will mich!«

Einen Moment lang fragte er sich verblüfft, wieso es ihm nicht gleich aufgefallen war. Der Skull war bisher stets nur dann aufgetaucht, wenn er in der Nähe gewesen war. Was, so fragte er sich, wenn dieses Ungeheuer tatsächlich nur aus diesem einen Grund erschienen war, nämlich um ihn zu vernichten?

Die Antwort war ganz einfach, aber fürchterlich: Dann wäre das alles hier seine Schuld ...

»Nur über meine Leiche!«, grollte Kai. »Ich werde -«

»Gar nichts wirst du«, unterbrach ihn Themistokles. Kim sah überrascht auf, als er seine Stimme hörte. Jegliche Spur von Schwäche war daraus verschwunden, und als er sich zu Themistokles umdrehte und ihn ansah, da blickte er auch wieder ins Gesicht des alten, weisen Magiers, in dessen Händen das Schicksal ganzer Welten lag.

»Du wirst dich zurückhalten, Kai«, fuhr er ruhig fort. »Ein Schwert mehr oder weniger macht keinen Unterschied, aber du bist der Einzige, der den Betrüger entlarven kann. Wir kümmern uns um das Ungeheuer.«

»Du verlangst von mir, dass ich tatenlos zusehe, wie ihr in den Kampf zieht?« Kai klang empört. »Ich bin kein Feigling, alter Mann!«

»Manchmal gehört eine Menge Mut dazu, feige zu sein«, lächelte Themistokles. »Warte hier auf uns. Und ... du solltest dich tarnen. Viele unserer Krieger sind etwas irritiert, dich zweimal zu sehen.«

Kim blickte sich um. Themistokles hatte Recht. Kais Doppelgänger war mittlerweile nahe genug herangekommen um wirklich von jedermann in Wolfs Heer erkannt zu werden. Mochten die Krieger bisher noch geglaubt haben, dass sich Kai - warum auch immer - im letzten Moment doch noch auf ihre Seite geschlagen hatte, so musste sie der Anblick eines gleich zweimal vorhandenen Kai vollkommen verwirren.

Gorg beugte sich im Sattel vor, angelte mit seinen langen Armen am Boden und hob einen Zwergenumhang auf. Sein Besitzer hing noch darin. Gorg schüttelte ihn heraus und der Zwerg fiel zu Boden und rannte keifend davon. Noch bevor Kai recht wusste, wie ihm geschah, stülpte Gorg ihm den Umhang über und zog die Kapuze weit in sein Gesicht.

»Das ... das ist entwürdigend!«, beschwerte sich Kai.

»Stimmt«, grinste Kim. Kai hatte Recht - es war entwürdigend und es sah durch und durch lächerlich aus. Der Mantel bedeckte kaum seine Schultern.

»Ich finde, es steht dir«, sagte er.

»Es ist peinlich«, grollte Kai.

»Ich weiß«, sagte Kim. »Und weißt du: Ich kenne das Gefühl.« Er zwang sein Pferd herum. »Warte hier. Wir sind bald zurück.«

Sie sprengten los. Wolfs Reiter machten ihnen Platz, so gut es ging, und der Skull verkürzte den Weg noch, in dem er ihnen entgegenkam, noch immer attackiert von Zwergen, Steppenreitern und mittlerweile auch Wolfs Kriegern. Auch wenn alle diese Angriffe wenig bewirkten, so ließ allein der Anblick doch Kims Herz höher schlagen. Es war gleich, ob es etwas nutzte oder nicht - die drei unterschiedlichen Heere hatten ihre Feindschaft vergessen und sich zusammengetan, um einen gemeinsamen Feind zu bekämpfen, der sie alle drei bedrohte.

Kim sah sich verstohlen um. Die Spinne war irgendwann auf dem Weg zu Wolf von seinem Sattel gesprungen und verschwunden und den Pack hatte er schon eine geraume Weile nicht mehr gesehen. Vielleicht würden wenigstens diese beiden überleben, wenn es ihnen nicht gelang, den Skull zu besiegen. Der Gedanke hatte etwas Tröstliches.

Er ließ seinen Blick wieder über die gewaltige Menge aus Kriegern und Zwergen rings um sich herum wandern und plötzlich wurde ihm klar, dass sie eben nicht nur eine riesige Masse gesichtsloser, Schwert schwingender Gestalten waren, sondern viel, viel mehr. Jeder Einzelne von ihnen war ein denkendes, fühlendes Wesen, hatte ein Leben wie er, voll von Träumen und Wünschen, von Tränen und Enttäuschungen, aber auch von Lachen, von Momenten des Glücks und der Zufriedenheit, von Erinnerungen. Sie waren nicht einfach nur Krieger; Soldaten, die zum Sterben da waren und zu sonst nichts. Jeder Einzelne von ihnen hatte ein Leben, das so einzigartig und erfüllt war wie sein eigenes. Wenn es sein Leben kosten mochte, all diese anderen zu retten, dann war das ein geringer Preis.

Und trotzdem hatte er unvorstellbare Angst vor dem Moment, an dem er ihn vielleicht würde zahlen müssen ...

Er spürte etwas, und als er sich im Sattel herumdrehte, da wurde ihm klar, dass es nichts anderes als Themistokles' Blick gewesen war. Der alte Zauberer ritt unmittelbar neben ihm, auf der anderen Seite flankiert von Gorg, dem Riesen. Das Gesicht des Magiers war wie Stein. Wenn er ebenfalls Angst hatte, so zeigte er es nicht. Aber in seinem Blick lag etwas, das Kim beunruhigte.

Sie hatten den Skull erreicht. Vor ihnen wichen die letzten Krieger zur Seite und dann standen sie dem Titanen Auge in Auge gegenüber.

Es gab kein Zögern, kein letztes Anstarren und Sich-Abschätzen. Der Kampf brach sofort und mit gnadenloser Kompromisslosigkeit los.

Wie Kim beinahe erwartet hatte, stürzte sich der Skull sofort auf ihn. Seine riesigen Scheren schnappten zu und hätten ihn vermutlich mit einer einzigen Bewegung sauber zweigeteilt, wäre Kim nicht gedankenschnell aus dem Sattel gesprungen und ein paar Schritte fortgerannt. Sein Pferd ging mit einem schrillen Kreischen durch und galoppierte davon und neben ihm sprangen auch Sturm und Themistokles aus den Sätteln, einen Moment später gefolgt von Gorg, der sein Schwert nun gegen eine gewaltige Stachelkeule getauscht hatte, die er mit aller Kraft gegen die gepanzerte Schnauze des Skull krachen ließ.

Das Wesen reagierte mit einem wütenden Zischen und schleuderte den Riesen zu Boden, aber in diesem Moment war auch Themistokles heran. Mit hoch erhobenen Händen trat er dem Koloss entgegen. Seine Lippen formten lautlose Worte und plötzlich sprühte blaues Feuer aus seinen Fingerspitzen, das den Kopf und die vorderen Gliedmaßen des Skull einhüllte.

Die bleiche Kreatur richtete sich mit einem ungeheuerlichen Brüllen auf. Einer ihrer langen, mit scharfen Widerhaken und Dornen bewehrten Gliedmaßen traf den Magier vor die Brust und schleuderte ihn meterweit davon, aber noch während Themistokles fiel, sprühten seine Fingerspitzen weiter blaue, knisternde Flämmchen, die in einem irrsinnig schnellen Hin und Her über die Panzerplatten des Skull sprangen und dem Wesen grausame Qual zu bereiten schienen, denn es bäumte sich immer weiter und weiter auf und schrie mit einer Stimme, die wie das Dröhnen eines Gewitters in einem schmalen Bergtal war.

Kim stemmte sich endlich auf die Füße, riss den Bogen von der Schulter und schoss ohne zu zielen. Er wusste, dass es sinnlos war: Der Pfeil musste einfach von den Panzerplatten abprallen wie alles andere zuvor.

Stattdessen durchschlug er sie und drang fast bis zu seinem gefiederten Schaft in den Hals des Ungeheuer ein.

Kim riss ungläubig die Augen auf und es dauerte noch fast eine Sekunde, bis er zu begreifen begann, was wirklich geschehen war: Themistokles' Hände hatten aufgehört Funken zu sprühen, aber das blaue Feuer lief noch immer über den Panzer des Skull.

Themistokles' Magie nahm dem Monster seine Unverwundbarkeit!

Oben auf dem Hügel krachte wieder die Zwergenkanone. Das Geschoss kam pfeifend herangeflogen und traf die Flanke des Skull.

Diesmal prallte es nicht davon ab, sondern zerschmetterte ein gewaltiges Stück der weißen Panzerplatten und der Skull bäumte sich noch weiter auf und schrie, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben, vor wirklichem Schmerz.

Im nächsten Augenblick schon ging das Gebrüll des Skull im Triumphgeschrei zahlloser Kehlen unter. Jedermann hatte gesehen, was Kims Pfeil und vor allem die Kanonenkugel dem Skull angetan hatten, und der Anblick gab dem schon in Auflösung begriffenen Heer noch einmal neuen Mut. Gorg schwang mit einem gewaltigen Brüllen seine Keule, Kim schoss Pfeil auf Pfeil auf den tobenden Giganten ab. Dutzende von Kriegern und Zwergen attackierten den Skull Schulter an Schulter. Die Dampfkanone feuerte wieder und schlug einen weiteren, gewaltigen Krater in die Panzerplatten und ein wahrer Hagel von Pfeilen und geschleuderten Speeren senkte sich auf das Ungeheuer herab.

Aber obwohl nun verwundbar, stellte der Skull noch immer eine schreckliche Gefahr dar. Er war so groß wie ein Drache und ungleich gefährlicher. Mehr als einer der Angreifer bezahlte mit einem fürchterlichen Hieb oder einem blitzartigen Zuschnappen gewaltiger Kiefer und Zähne dafür, dem Ungeheuer zu nahe gekommen zu sein. Und der Koloss kroch immer noch näher!

Kim feuerte einen weiteren Pfeil auf ihn ab, fuhr herum und war mit zwei, drei gewaltigen Sätzen bei Themistokles.

Der alte Magier lag reglos im niedergetrampelten Gras. Kim konnte auf den ersten Blick keine Verwundung erkennen und Themistokles war auch bei Bewusstsein. Aber seine Augen waren trüb, und nachdem Kim ihn halbwegs aufgesetzt hatte, musste er ein paar Mal an seiner Schulter rütteln, damit er überhaupt reagierte.

»Themistokles!«, schrie er. »Themistokles! Du musst uns helfen! Er ist zu stark für uns!«

Themistokles stöhnte. Er wäre wieder gestürzt, hätte Kim ihn nicht gehalten. »Ich ... kann nicht«, murmelte er. »Meine Kräfte ... sind erschöpft.«

Kim warf einen hastigen Blick über die Schulter zurück. Der Skull kam näher. Er war langsamer geworden und trotzdem schien er noch immer unaufhaltsam. Seine Panzerplatten waren zerschlagen. Er blutete aus zahllosen schrecklichen Wunden - und doch schien alles, was sie ihm anhaben konnten, ein paar oberflächliche Kratzer zu sein. Das Ungeheuer war einfach zu groß, als dass sie ihm ernsthaft Schaden zufügen konnten, geschweige denn, es aufzuhalten. Sie befanden sich in der Lage von Kindern, die versuchten, mit Kuchengabeln und Taschenmessern einen wütenden Elefantenbullen aufzuhalten.

»Mein Gott«, murmelte Themistokles. »Ich habe ihn unterschätzt! Es ... es tut mit so Leid! Was habe ich getan?«

Kim verstand nicht, was Themistokles damit meinte, und jetzt war auch nicht der Moment, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Hastig grub er die Zauberkugel aus der Tasche und reichte sie Themistokles.

»Hier«, sagte er. »Vielleicht reicht das, um deine Kräfte wieder zu erneuern!«

Themistokles blickte die Kugel einen Moment lang so verwirrt an, als wisse er überhaupt nicht, um was es sich dabei handle, geschweige denn, was er damit anfangen sollte.

»Oh«, sagte er dann, »du hast sie gefunden. Aber ich fürchte, so funktioniert das nicht.«

Und damit gab er dem vollkommen überraschten Kim die Kugel zurück.

Ein gewaltiger Schatten senkte sich über sie. Kim hob erschrocken den Kopf und sah, wie sich zwei gewaltige, weit geöffnete Kieferzangen auf ihn herabsenkten. Er schrie auf, ließ die Zauberkugel fallen und warf sich zur Seite. Aber er spürte selbst, dass die Bewegung viel zu langsam war.

Eine halbe Sekunde, bevor die Zangen zuschnappen konnten, schoss ein silberweißes Gespinst heran und klebte sie zusammen. Es bereitete dem Skull keine Mühe, die Fäden zu zerreißen, aber Kim gewann dadurch die eine kostbare Sekunde, um sich zur Seite zu werfen und den zuschnappenden Zangen zu entgehen. Er kam mit einer Rolle wieder auf die Füße, stolperte noch ein paar Schritte weiter und fuhr dann wieder zu dem Skull herum.

Die Kreatur war für einen Moment erstarrt. Sie wirkte fast irritiert, als verstünde sie nicht, wie ihr ein schon so sicher geglaubtes Opfer doch noch hatte entkommen können. Dann senkte sich sein gewaltiger Schädel langsam auf Themistokles hinab. Die schrecklichen Kiefernzangen öffneten sich. Themistokles riss schützend die Hände vor das Gesicht, aber alles, was noch aus seinen Fingerspitzen kam, waren ein paar jämmerliche Funken. Seine Kräfte waren endgültig aufgebraucht. »Nein!«, schrie Kim und dann mit vollem Stimmaufwand: »Nein, du Ungeheuer! Ich bin hier! Nimm mich!«.

Der Skull wandte mit einem zischenden Knurren den Kopf. Sein Blick bohrte sich in den Kims und seine gewaltigen Kiefer öffneten sich. Ein tiefes, drohendes Knurren drang aus seiner Brust. Es verlor schlagartig das Interesse an Themistokles und begann sich auf Kim zuzubewegen.

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